Gefangen in Kanada: Zur Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen während des Zweiten Weltkriegs 9783839436196

Captivity as a transnational space of possibility - this volume impressively shows why numerous German sailors wanted to

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German Pages 546 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort und Dank
1. Zugänge
2. Quellen und Methoden
3. Die Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen während des Zweiten Weltkriegs
4. Eine temporäre Kontaktzone: Die Internierung deutscher Seeleute in Kanada
5. Raum
6. Zeit
7. Identität
8. Resümee
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Gefangen in Kanada: Zur Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen während des Zweiten Weltkriegs
 9783839436196

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Judith Kestler Gefangen in Kanada

Kultur und soziale Praxis

Judith Kestler, geb. 1982, ist Kulturanthropologin/Volkskundlerin und promovierte 2015 an der Universität Hamburg. Zuvor studierte sie Europäische Ethnologie/ Volkskunde, Musikwissenschaft und Germanistik in Würzburg und Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Internierung und Kriegsgefangenschaft, Krieg und Gesellschaft, Narrationsanalyse, Maritime Kultur sowie Ethnographie.

Judith Kestler

Gefangen in Kanada Zur Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen während des Zweiten Weltkriegs

Gedruckt mit Unterstützung der Gesellschaft für Kanada-Studien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Comité international de la Croix-Rouge/Canada Guerre 1939-1945. Farnham. Camp no. 40 de prisonniers de guerre allemands. Equipage du M./S. »Lech« (Bezeichnung der Fotografie in der Photothèque des CICR, Fotograf namentlich nicht bekannt). Korrektorat, Lektorat & Satz: Petra Schäfter Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3619-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3619-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort und Dank | 7 1. Zugänge | 9

Stand der Forschung | 11 Internierung als kulturelle Praxis – Internierung als Contact Zone | 19 Raum, Zeit und Identität als Zugänge zur Analyse von Internierung | 24 Einordnung der Arbeit | 34 Aufbau der Arbeit | 35 2. Quellen und Methoden | 37

Archivalische Quellen | 37 Interviews | 61 Bildquellen | 83 3. Die Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen während des Zweiten Weltkriegs | 89

Zum sozialen Profil der internierten deutschen Seeleute | 89 Die Situation deutscher Handelsschiffsbesatzungen nach Kriegsbeginn | 100 Vom Rettungsboot in die Gefangenschaft | 110 Exkurs: Zur Situation von Frauen an Bord aufgebrachter Handelsschiffe | 120 Die Anzahl internierter Seeleute – Zum Problem der Quantifizierung | 121 Die völkerrechtliche Stellung der internierten Handelsschiffsbesatzungen | 125 4. Eine temporäre Kontaktzone: Die Internierung deutscher Seeleute in Kanada | 131

Zur Einstufung deutscher Schiffsbesatzungen in der kanadischen Internierung | 131 Die Verlegung der internierten Seeleute nach Kanada ab 1940 | 134 »Seekriegsverwicklungen« und ein »most eventful trip« | 137 Internierungslager für deutsche Seeleute in Kanada | 144 Die Veterans Guard of Canada als Wachen in den Internierungslagern | 162 Strafen und Disziplinargewalt | 164 Lagerselbstverwaltung und Kantinen | 165 Die humanitären Helfer als Akteure der Contact Zone | 167 Arbeit | 186 Reorientation und Reeducation deutscher Seeleute in Kanada | 193 Die Repatriierung deutscher Seeleute aus Kanada | 197

5. Raum | 203

»A Liminal Space«: Das Lager | 203 Öffnungen und Schließungen: Der Zaun | 244 Entgrenzungen und Verortungen: Räume außerhalb des Lagers | 278 6. Zeit | 323

Zeitstrategien als Machtstrategien | 324 Zeitstrategien als Bewältigungsstrategien | 337 Geschenkte Zeit? Deutungskonstitution und Erzählstrategien | 364 7. Identität | 381

Differenzproduktion in der Contact Zone der Internierung | 381 Vergemeinschaftung und Konstruktionen kollektiver Identität | 403 Internierung als Grenzsituation und Transformationserfahrung | 448 8. Resümee | 487 Anhang | 497

Summary | 497 Transkriptionszeichen | 498 Abkürzungsverzeichnis | 499 Abbildungsverzeichnis | 501 Tabellenverzeichnis | 503 Quellen- und Literaturverzeichnis | 505

Interviews und Gespräche | 505 Korrespondenz | 505 Filme | 505 Quellen aus Privatsammlungen | 505 Archivalien | 506 Gedruckte und online verfügbare Quellen | 507 Literatur | 511

Vorwort und Dank

Die vorliegende Publikation ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die im August 2014 an der Universität Hamburg eingereicht und im April 2015 verteidigt wurde. Als ich einige Jahre zuvor mit den Forschungen begonnen habe, die nun in das vorliegende Buch münden, konnte ich nicht ahnen, wie viele Personen mir in dieser Zeit mit Rat und Tat zur Seite stehen würden. Ihnen allen danke ich herzlich. Für intensiven fachlichen Austausch danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des CIERA-Seminars ›Travailler le Biographique‹ in Moulin d’Andé, der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Doktorandentagung 2009, des Doktorandenkolloquiums am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg und des gemeinsamen Kolloquiums mit dem Seminar für Europäische Ethnologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, besonders Inga Klein und Markus Tauschek. Frauke Brammer und John Woitkowitz danke ich für Hinweise zur kanadischen Militärgeschichte, Serge Durflinger für wichtige Anregungen und Hinweise auf Quellenmaterial in kanadischen Archiven. Ich bin dankbar, dass ich bei zwei Workshops von Jan Kruses (†) immensem Wissen und seiner Begeisterung für qualitative Interviews profitieren durfte. Was ich dabei von ihm und den anderen TeilnehmerInnen gelernt habe, ist in hohem Maße in diese Arbeit eingeflossen. Das Gleiche gilt für die Mitglieder der Tübinger Supervisionsgruppe, die mein Nachdenken über Interviewtexte maßgeblich geprägt haben. MitarbeiterInnen verschiedener Institutionen haben mich bei der Recherche unterstützt, vor allem Sabine Schafferdt und Mareike Fossenberger (Berlin), Simon Kursawe (Bremerhaven), Fabrizio Bensi und Daniel Palmieri (Genf) sowie das Personal von Library and Archives Canada (Ottawa). Mein Dank gilt außerdem Ed Caissie und Amy Clinch vom New Brunswick Internment Camp Museum (Fredericton), sowie David J. Carter (Elkwater) für die Überlassung von Bildmaterial, Ron Ridley für seine Gesprächsbereitschaft, die Überlassung von Material und eine beeindruckende Führung durch Fort Henry sowie Wayne Mullins und Beverley Darville für Auskünfte über William Irving Hearst. Ich danke Peter Kiehlmann für Einblicke in seine imposante Sammlung zur Schifffahrtsgeschichte und die Erlaubnis, das Material aus dem Nachlass von Harald Wentzel auszuwerten. Für die Vermittlung von Gesprächspartnern danke ich Erik Hoops und Günther Spelde. Allen Interviewpartnern – Hans Peter Jürgens, Albert Peter, Bruno Pichner, Hans Plähn, Karl-Heinz Ricklefs, Franz Renner und Herbert Suhr – danke ich für ihr Vertrauen, ihre Offenheit und Gesprächsbereitschaft. Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht in dieser Form scheiben können. Ein herzlicher Dank gilt auch Karin Pichner für die Erlaubnis, die Zeichnungen ihres Mannes zu verwenden.

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Vielen FreundInnen und KollegInnen danke ich für Zuspruch, Gastfreundschaft und inhaltliche Anregungen: Ursula Feldkamp verdanke ich wertvolle Hinweise auf Quellen, Hilfe bei der Suche nach Interviewpartnern und gute Gespräche in Bremen und Bremerhaven. Großzügig Unterkunft gewährt haben mir auf meinen Reisen Erich Baur, Anna Kelber, Jakob Heller, Ninja Anderlohr-Hepp und Hildegard Josten. Ich danke Katja Fleischmann für die Transkription der Interviews und akribisches Korrekturlesen, Franz Blaschko und Patricia Kemmer für kritische Lektüre, Eike Lossin und Monika Schäfer für vielfältige moralische Unterstützung, Raphael Reichel für Korrektorat und Bildbearbeitung, Agnes Jess-DePlonty für die gemeinsame Zeit in Kanada sowie Constanze Köppe und Christina Ramsenthaler für nie versiegenden Zuspruch aller Art. Sr. M. Dorothea Körper OCist fand während meines Schreib-Endspurts immer die richtigen Worte zur Ermutigung. Franziska und Thomas Kühn danke ich für ihre (Gast-)Freundschaft und Thomas Kühn für sein immer waches Interesse an meiner Arbeit, sein unnachgiebiges Fragen und seine unbezahlbaren Dienste als akademischer ›advocatus diaboli‹. Der größte Dank gilt Sabine Kienitz für ihre spontane Bereitschaft, diese Arbeit zu betreuen, für ihre treffenden Hinweise und ihr kritisches Lesen und Mitdenken. Ich danke Silke Göttsch-Elten, die die Zweitbetreuung übernommen hat, und Norbert Fischer, der sich bereit erklärt hat, die Prüfungskommission als drittes Mitglied zu vervollständigen. Ich danke Petra Schäfter, die aus meinem Text das vorliegende Buch gemacht und dabei stets den Überblick über das Heer aus Fußnoten und Bildunterschriften bewahrt hat. Für großzügige finanzielle Förderung von Forschungsreisen sowie der Drucklegung dieser Arbeit danke ich der Jubiläumsstiftung zum 400-jährigen Bestehen der Universität Würzburg, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Gesellschaft für Kanada-Studien. Ich danke meiner Familie, die das Wachsen dieser Arbeit meist aus der Ferne, aber mit großer Anteilnahme verfolgt hat. Am längsten und intensivsten mit dieser Arbeit gelebt hat (außer mir) mein Mann Sebastian. Alle Krisen, Ausnahmezustände und Glücksmomente dieser Zeit hat er mit mir geteilt – dafür danke ich ihm.

1. Zugänge

Indischer Ozean, 4. März 1941. Die Besatzung des deutschen Frachtschiffs COBURG war gerade damit beschäftigt, die Bordwand ihres Schiffes zu streichen, als sich ein australischer Kreuzer näherte und das Feuer eröffnete, um die COBURG zu stoppen; wenige Stunden später sank das Schiff, nachdem Kapitän Woltemade die Versenkung angeordnet hatte. Zehn Tage nach dem Auslaufen aus dem Hafen von Massaua in Eritrea war die Reise der COBURG damit endgültig vorbei. Anderthalb Jahre lang hatte das Schiff dort gelegen, seitdem es Ende August 1939 aufgrund des drohenden Kriegsbeginns seine Fahrt nach Ostasien abbrechen musste.1 Nun stiegen die Besatzungsmitglieder der COBURG in die Rettungsboote und wurden an Bord des Kreuzers geholt – als Gefangene. Einer der Seeleute berichtete später seinen Eltern: »Wurden untersucht. Dann bekamen wir sofort Essen, Tee, Eiswasser, Tabak, Zigaretten. Konnten auch baden. Waren ja ganz voll schwarzer Farbe.«2 Internierungslager Monteith, Kanada, 14. November 1941. Der Kommandant des Lagers, Lieutenant Colonel Bull, sowie mehrere seiner Offiziere waren der Einladung des Internierten-Boxclubs gefolgt, am Abend einen Boxkampf im Speisesaal der internierten Seeleute zu besuchen. Die kanadischen Soldaten genossen die Abwechslung und waren sich anschließend einig, dass es aufgrund der spannenden Boxkämpfe und der guten Organisation ein ausnehmend unterhaltsamer Abend gewesen war.3 Bremen, 24. Mai 2008. In einer kleinen Wohnung in Bremen-Schwachhausen erzählt ein älterer Herr im eleganten dunklen Anzug angeregt von seinen Kriegserlebnissen. Immer wieder tauchen im Gespräch Namen bekannter Persönlichkeiten auf, die »zwischen die Seeleute geraten«4 waren. Der pensionierte Kapitän und Seelotse holt mehrere Bücher und schließlich auch ein Album aus dem Regal, in dem er Bil-

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Bericht über die Rückführung deutscher Schiffe aus Massaua, 20. April 1941. BArch-MA, RM 7/109. Zur COBURG und den anderen in Massaua liegenden deutschen Schiffen siehe auch Dinklage, Ludwig/Witthöft, Hans Jürgen: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945. Handelsschiffe, Blockadebrecher, Hilfskriegsschiffe. 2 Bände. Hamburg 2001, Bd. 2, S. 61-65. Schreiben eines Besatzungsmitglieds der COBURG (Norddeutscher Lloyd) aus dem Internierungslager Baviaanspoort in Südafrika, Dezember 1941 (Auszug). PA AA, R 127.894. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 1, Vol. 11, 14. November 1941. LAC, RG 24, 15392. Interview Franz Renner, Z. 292-293.

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der aus Kanada aufbewahrt: Eines der Fotos zeigt ihn neben seinem besten Freund, beide lässig gegen die Außenwand einer Wohnbaracke im Lager Mimico gelehnt, auf einem anderen posieren die beiden stolz in neuerworbenen Parkas, ein weiteres Bild entstand während der Mittagspause mit Kollegen aus der Gerberei Donnell & Mudge, Toronto. Während nach dem ersten Kriegsjahr die Lebensbedingungen in Deutschland zunehmend schwieriger wurden und unzählige Bürger ihre Wohnung durch Luftangriffe verloren, fand sich eine wachsende Anzahl deutscher Seeleute in abgelegenen Regionen Kanadas hinter Stacheldraht wieder, wo sie auf Post von ihren Angehörigen warteten, lasen, Kurse besuchten, Sport trieben, musizierten oder sich mit Gartenbau beschäftigten. Sie alle waren bei Kriegsbeginn auf einem deutschen Handelsschiff gefahren und irgendwo auf der Welt von der Nachricht überrascht worden, dass Deutschland sich im Krieg befand. Viele hatten monate- oder jahrelang auf ihrem Schiff in einem neutralen Land abgewartet, in der Hoffnung, doch noch nach Hause zu kommen. Früher oder später erhielten die meisten von ihnen den Befehl, nach Deutschland zurückzukehren. Denn die wertvolle Ladung sollte nicht in Übersee verderben, sondern der heimatlichen Kriegswirtschaft zugute kommen. Das Risiko, auf der Überfahrt von einem feindlichen Schiff entdeckt zu werden und in Gefangenschaft zu geraten, mussten die Besatzungsmitglieder in Kauf nehmen. Unter ihnen waren Kapitäne, von denen viele bereits im Ersten Weltkrieg interniert gewesen waren, Schiffsoffiziere, die eines Tages selbst Kapitän werden wollten, Ingenieure, Matrosen, Leichtmatrosen, Heizer, Maschinisten und Schiffsjungen. Ihre Kriegserfahrung steht im Mittelpunkt der vorliegenden Studie. Die eingangs skizzierten Szenen markieren einige Ansatzpunkte der Untersuchung: So wird in der gesamten Studie die Perspektive der Internierten in enger Verbindung mit derjenigen der Bewacher sowie weiterer Akteure der Internierung betrachtet. Dieser multiperspektivische Ansatz trägt der Tatsache Rechnung, dass Internierung in hohem Maße von Verflechtungen und Wechselwirkungen zwischen den beteiligten Akteuren und Akteursgruppen geprägt ist. Daher wird in dieser Arbeit auch von Internierung als Kontaktzone die Rede sein. Dementsprechend basiert die Untersuchung auf einem Quellenkorpus, das diese Perspektivenvielfalt widerspiegelt und anhand dessen Alltagspraktiken, Strategien und Deutungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in ihrer wechselseitigen Bedingtheit greifbar werden. Dabei geht es nicht nur um die Kriegsjahre von 1939 bis 1945, sondern auch um retrospektive Deutungen und Zuschreibungen; der behandelte Zeitraum erstreckt sich bis zu den Gesprächen mit ehemaligen Internierten, die in den Jahren 2007 und 2008 stattfanden. Die Konzentration der Untersuchung auf kanadische Lager folgt aus dem Umstand, dass dort – im Auftrag Großbritanniens – über die Hälfte aller zwischen 1939 und 1946 weltweit internierten deutschen Seeleute untergebracht waren.5 Kein anderes Land hielt während des Zweiten Weltkriegs eine auch nur annähernd ähnlich große Anzahl deutscher Seeleute in Gewahrsam. Nicht zuletzt zielt die vorliegende Studie darauf ab, kultur-

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Dies lässt sich aus der Auswertung verschiedener Akten überschlagen: ACICR, G 17/29; PA AA, R 127.882, R 127.951 und R 127.941. Vgl. dazu auch Tabelle 7 auf S. 123. Zu den Beweggründen für die Verlegung der Seeleute von Großbritannien nach Kanada siehe Kapitel 4, S. 134-143.

Z UGÄNGE

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analytische Zugänge zum Themenfeld ›Internierung‹ zu öffnen und exemplarisch anhand der Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen in Kanada auszuloten.

S TAND

DER

F ORSCHUNG

Überraschenderweise hat die Internierung deutscher Schiffsbesatzungen bisher weder in die Darstellung der Kriegszeit durch die Reedereien noch in die wissenschaftliche Schifffahrtsgeschichtsschreibung oder die zeitgeschichtliche Kriegsgefangenenforschung nennenswerten Eingang gefunden. Angesichts der hervorragenden Quellenlage ist der Stand der Forschungen zur Internierung deutscher Seeleute während des Zweiten Weltkriegs bestenfalls als spärlich zu bezeichnen. Obwohl dieses Thema im Schnittfeld mindestens dreier Disziplinen liegt – Schifffahrtsgeschichte, Zeitgeschichte und Volkskunde/Kulturanthropologie, in der die vorliegende Studie verortet ist –, ist es bisher kaum ins Blickfeld der Forschung gerückt. Die volkskundlich-kulturanthropologische Beschäftigung mit Einsperrung bzw. mit Lagern im Zweiten Weltkrieg kam nach Kriegsende nur schwer in Gang, obwohl (oder vielleicht gerade weil) prominente Vertreter der Nachkriegsvolkskunde vor allem die sowjetische Kriegsgefangenschaft aus eigener Erfahrung kannten. Gottfried Korff geht sogar so weit, das Fach als »kriegsabstinent«6 zu bezeichnen, zumindest was den Zeitraum von Kriegsende bis in die 1970er und 1980er Jahre hinein betrifft. Nach Albrecht Lehmanns Forderung aus dem Jahr 1982, das Militär als Forschungsproblem der Volkskunde ernst zu nehmen,7 hat sich dieser Bereich in den vergangenen dreißig Jahren tatsächlich langsam etabliert,8 und besonders in den letzten Jahren war eine stärkere Hinwendung zu kriegsbezogenen Themen festzustellen.9 Kriegsgefangene Soldaten haben vor allem durch Lehmanns Arbeiten über sowjetische Lager10 als (wenn auch randständiges) Forschungsthema Eingang in die Volkskunde ge-

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Korff, Gottfried: Vorwort. In: Ders. (Hg.): KriegsVolksKunde. Zur Erfahrungsbindung durch Symbolbildung. Tübingen 2005, S. 9-28, hier S. 21. 7 Lehmann, Albrecht: Militär als Forschungsproblem der Volkskunde. Überlegungen und einige Ergebnisse. In: Zeitschrift für Volkskunde 78 (1982), H. II, S. 230-245. 8 Schröder, Hans Joachim: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten. Tübingen 1992; Löffler, Klara: Zurechtgerückt. Der Zweite Weltkrieg als biographischer Stoff. Berlin 1999. 9 Korff, Gottfried (Hg.): KriegsVolksKunde. Zur Erfahrungsbindung durch Symbolbildung. Tübingen 2005. 10 Lehmann, Albrecht: Erzählen im Gefangenenlager. Über Formen und Funktionen des Erzählens in einer extremen Lebenssituation. In: Fabula 25 (1984), S. 1-17; Ders.: Leitlinien des Erzählens bei ehemaligen Kriegsgefangenen. In: Franz, Hans-Werner (Hg.): Soziologie und gesellschaftliche Entwicklung. 22. Deutscher Soziologentag 1984. Beiträge der Sektions- und Ad-hoc-Gruppen. Opladen 1985, S. 81-82; Ders.: Gefangenschaft und Heimkehr. Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion. München 1986; Ders.: Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft. In: Wette, Wolfram/Ueberschär, Gerd R. (Hg.): Stalingrad. Mythos

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funden.11 Insgesamt betrachtet, stehen heute jedoch in der volkskundlich-kulturanthropologischen Forschung meist andere Formen von Einsperrung12 oder andere Gruppen internierter Personen13 im Vordergrund. Abseits der KZ-Forschung sind internierte Zivilisten als Forschungsgegenstand der Volkskunde nach wie vor rar und von wenigen Ausnahmen abgesehen hat sich das Fach noch nicht mit Internierungs-

und Wirklichkeit einer Schlacht. Frankfurt am Main 1992, S. 178-189; Ders.: Die Kriegsgefangenen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 7-8 (1995), S. 13-19. 11 Sauermann, Dietmar/Brockpähler, Renate: »Eigentlich wollte ich ja alles vergessen …«. Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft 1942-1955. Münster 1992. 12 Z.B. die nationalsozialistischen Konzentrationslager im Kontext der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Holocaust-Forschung: Braun, Karl: Die Bibliothek in Theresienstadt 1942-1945. Zur Rolle einer Lesesituation in der »Endlösung der Judenfrage«. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 40 (1999), H. 2, S. 367-386; Ders.: Das Ghetto Theresienstadt 1941-1945. In: Koschmal, Walter (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. München 2001, S. 124-133; Daxelmüller, Christoph: Kultur gegen Gewalt. Das Beispiel Konzentrationslager. In: Brednich, Rolf Wilhelm/ Hartinger, Walter (Hg.): Gewalt in der Kultur. Vorträge des 29. Deutschen Volkskundekongresses in Passau 1993. Teilband 1. Passau 1994, S. 223-269; Ders.: Kulturelle Formen und Aktivitäten als Teil der Überlebens- und Vernichtungsstrategie in den Konzentrationslagern. In: Dieckmann, Christoph/Herbert, Ulrich/Orth, Karin (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. Band 2. Göttingen 1998, S. 9831005; Fackler, Guido: »Des Lagers Stimme« – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/Mediographie. Bremen 2000; Ders.: Panoramen von Macht und Ohnmacht. KZ-Bilder als ikonisierte Erinnerung und historisches Dokument. In: Gerndt, Helge/Haibl, Michaela (Hg.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft. Münster 2005, S. 251-274; Haibl, Michaela: »Baumhängen«. Zu Authentizität und Wirklichkeit einer Fotografie. In: Dachauer Hefte 14 (1998), S. 272-288; Dies.: Konzentrationslager oder »Künstlerkolonie«? Zur Problematik der Rezeption und Präsentation von Artefakten aus Konzentrationslagern. In: Gerndt, Helge/Haibl, Michaela (Hg.): Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft. Münster 2005, S. 275-296; Sedlaczek, Dietmar: »… das Lager läuft Dir hinterher«. Lebensgeschichtliche Untersuchungen zum Umgang mit nationalsozialistischer Verfolgung. Berlin/Hamburg 1996; Ders.: Biographiebruch. Lebensgeschichtliche Untersuchungen zu nationalsozialistischer Verfolgung. In: Volkskunde in Niedersachsen 14 (1997), Nr. 1, S. 3-18; Seidl, Daniella: »Zwischen Himmel und Hölle«. Das Kommando »Plantage« des Konzentrationslagers Dachau. München 2008. 13 Z.B. Flüchtlinge, vgl. Carstens, Uwe: Die Füchtlingslager der Stadt Kiel. Sammelunterkünfte als desintegrierender Faktor der Flüchtlingspolitik. Marburg 1992, sowie Wellisch, Tanja: »Du musst nicht immer sagen, Du wohnst im Lager«. Leben im Lager Salzgitter 1945-1965. In: kulturen. Volkskunde in Niedersachsen 1 (1997), H. 1, S. 19-38, oder katholische Geistliche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, vgl. Lossin, Eike: Katholische Geistliche in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Frömmigkeit zwischen Anpassung, Befehl und Widerstand. Würzburg 2011.

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lagern für Deutsche während beider Weltkriege beschäftigt.14 Die kriegsbedingte Internierung ziviler deutscher Seeleute während des Zweiten Weltkriegs ist bislang nur in meiner Magisterarbeit, einer biografischen Mikrostudie zu den Erlebnissen eines deutschen Seemannes, ihrer visuellen Verarbeitung und kommunikativen Verhandlung,15 aus volkskundlicher Perspektive genauer untersucht worden. Dass Seeleute in Internierungslagern bislang auch von der Schifffahrtsgeschichte vernachlässigt wurden, mag zunächst überraschen, wäre doch zu vermuten, dass sich diese Disziplin von Haus aus für Seeleute als Forschungsgegenstand zuständig fühlt. Doch fällt bei näherem Hinsehen schnell die stark technik- und wirtschaftsgeschichtliche Ausrichtung der deutschen Schifffahrtsgeschichtsschreibung auf, die von Sozialhistorikern verschiedentlich kritisiert worden ist.16 Doch auch die Sozialgeschichte der Schifffahrt hat ›den Seemann‹ vor allen Dingen auf See im Blick, in seiner Eigenschaft als Mitglied der Schiffsbesatzung,17 als Vertreter einer bestimmten seemännischen Berufsgruppe,18 als Gewerkschaftsmitglied19 oder schlichtweg als Rädchen im Getriebe eines globalen Industriezweigs.20 Ohne Arbeit, ohne Schiff und außerhalb des Einflussbereiches seiner Reederei verschwindet der Seemann in Friedens-, stärker aber noch in Kriegszeiten nahezu spurlos aus dem Themenspektrum der schifffahrtsgeschichtlichen Forschung. In Publikationen über die Handelsschifffahrt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs finden sich so zwar reichhaltige Daten über Schiffsverluste, aber keine Angaben über die Zahl der Internierten oder der kriegsbedingten Todesopfer unter den Schiffsbesatzungen.21 Die Frage nach dem Verbleib der

14 Brednich, Rolf Wilhelm: Enemy Aliens. Internierungslager für Deutsche in den beiden Weltkriegen. Eine Problemskizze am Beispiel Neuseelands. In: Hengartner, Thomas/SchmidtLauber, Brigitta (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Festschrift für Albrecht Lehmann. Berlin 2005, S. 249-276, hier S. 249-250. 15 Kestler, Judith: Kriegsgefangenschaft und Weltreise. Untersuchungen zur Biographie eines unfreiwilligen Teilnehmers am Zweiten Weltkrieg. Bremen 2010. 16 Rübner, Hartmut: Lebens-, Arbeits- und gewerkschaftliche Organisationsbedingungen chinesischer Seeleute in der deutschen Handelsflotte. Der maritime Aspekt der Ausländerbeschäftigung vom Kaiserreich bis in den NS-Staat. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 33 (1997), S. 1-41, hier S. 1. 17 Z.B. Weibust, Knut: The crew as a social system. Oslo 1958; Gerstenberger, Heide: Die Schiffsgemeinschaft. In: Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Schiffahrts- und Marinegeschichte e.V. 5 (2000), S. 73-78. 18 Z.B. Henningsen, Henning: Der Schiffskoch im Wandel der Zeiten. In: Hansestadt Rostock (Hg.): Auf See und an Land. Beiträge zur maritimen Kultur im Ostsee- und Nordseeraum. Rostock 1997, S. 59-68. 19 Z.B. bei Nelles, Dieter: Widerstand und internationale Solidarität. Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Essen 2001; H. Rübner: Lebens-, Arbeits- und gewerkschaftliche Organisationsbedingungen; Weihe, Ruth: Bibliographie zur Geschichte der Gewerkschaftsbewegung der Seeleute. O.O. 1989. 20 Fink, Leon: Sweatshops at Sea. Merchant Seamen in the World’s First Globalized Industry, from 1812 to the Present. Chapel Hill 2011. 21 Kraus, Herbert: Unterstützung von Kriegshandlungen in »Übersee« durch die Handelsschiffahrt. In: Klüver, Hartmut/Hammer, Peter (Hg.): Das Zusammenwirken von Handels-

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im Frühjahr 1940 noch knapp 10.000 Besatzungsmitglieder auf deutschen Schiffen im Ausland22 rückte bislang vor einer zugleich heroisierenden und verharmlosenden Darstellungsweise der Handelsflotte im Zweiten Weltkrieg weitgehend in den Hintergrund.23 Diese Problematik zeigt sich auch an dem in seinem Umfang unbestritten singulären Nachschlagewerk von Ludwig Dinklage und Hans Jürgen Witthöft zur deutschen Handelsschifffahrt zwischen 1939 und 1945.24 Dinklage war Mitarbeiter der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Oberkommandos der Kriegsmarine (OKM) und in dieser Funktion während des Krieges an zentraler Stelle mit der gesamten Seeschifffahrt befasst.25 Offenbar hatte er den dort geltenden militaristischen Ehrenkodex auch nach dem Krieg noch verinnerlicht: Sein Text löst sich nicht vom Referenzsystem der damaligen Befehlslage, wahrt kaum Distanz zum NS-Sprachgebrauch (»der Feind«), verurteilt Befehlsverweigerungen26 und verschleiert widerständige Akte einzelner Kapitäne durch Charakterzuschreibungen wie »zagend«27 oder »unentschlossen«.28 Geglückte »Durchbruchsversuche« werden hingegen – ebenfalls mit auffallend wenig Distanz zum Sprachgebrauch der ersten Kriegsjahre – ausführlich gewürdigt und beispielsweise als »vorzügliche Leistung eines energischen, pflichtbewußten Kapitäns«29 bezeichnet. Weniger überraschend als dieser Befund ist vielleicht die Tatsache, dass die Internierung deutscher Seeleute auch in der zeitgeschichtlichen Kriegsgefangenenforschung als Thema noch nicht angekommen ist, war doch die Kriegsgefangenschaftsforschung insgesamt lange kein zentraler Gegenstand der Zeitgeschichte. Die französische Historikerin Annette Becker sieht die Ursachen dafür in der Gefangenschaft

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schiffahrt und Seestreitkräften in Deutschland vom Kaiserreich bis heute. Vorträge des 4. Hamburger Symposiums zur Schiffahrts- und Marinegeschichte vom 13.-14. Mai 2004. Düsseldorf 2005, S. 67-80, hier S. 79. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 48. Besonders deutlich wird dies in Darstellungen zur Geschichte einzelner Reedereien. Der Zweite Weltkrieg wird dort in der Regel auf die Beiträge der jeweiligen Reederei zum Kriegsgeschehen sowie auf die Verluste von Schiffen reduziert, ansonsten jedoch übersprungen. Ein typisches Beispiel für diese Art der Nicht-Thematisierung des Zweiten Weltkriegs ist etwa Prager, Hans Georg: DDG Hansa. Vom Liniendienst bis zur Spezialschiffahrt. Herford 1976. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte. Schmelzkopf, Reinhart: Die deutsche Handelsschiffahrt 1919-1939. Band I. Chronik und Wertung der Ereignisse in Schiffahrt und Schiffbau. Oldenburg 1974, S. 252. Wie etwa im Fall der deutschen Schiffe, die nach Kriegsbeginn den Hafen von Aruba angesteuert hatten, um dort die weiteren Ereignisse abzuwarten: »Kurzum, der Befehl aus Berlin sollte nicht ausgeführt werden und jeder Kapitän beschloß, nach eigenem Ermessen zu handeln. Daß man damit einen außerordentlich schweren Fehler beging, sollte sich sehr bald zeigen.« L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte, Bd. 1, S. 328. Ebd., S. 306. Ebd. Vgl. die Darstellung der Rückkehr des Dampfers CONSUL HORN der Hamburger Reederei H.C. Horn: Ebd., S. 301.

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selbst: »So effective was this process of exclusion that such individuals have virtually disappeared from the memory of the war and its historiography«.30 Der Beginn nachkriegsdeutscher geschichtswissenschaftlicher Kriegsgefangenenforschung lässt sich auf das Jahr 1957 datieren, als die von der Bundesregierung eingesetzte »Wissenschaftliche Kommission für die Dokumentation des Schicksals der deutschen Kriegsgefangenen des 2. Weltkriegs« (WK, auch als Maschke-Kommission bekannt) ihre Arbeit aufnahm. Neben der schieren Größe des Vorhabens führten vor allem restriktive politische Vorgaben dazu, dass die Veröffentlichungen der Kommission erst im Jahr 1975 im Buchhandel erhältlich und so für die (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich waren.31 Die bis heute mangelnde Rezeption der Bände wird innerhalb der Disziplin als unmittelbare Folge der starken politischen Einflussnahme und der späten Freigabe für die Öffentlichkeit gesehen.32 Wo sie zur Kenntnis genommen wurden, haben die Bände der Maschke-Kommission das Forschungsfeld jedoch inhaltlich stark geprägt. So lässt sich beispielsweise die häufig eher passive Darstellung von Kriegsgefangenen auch als Resultat dieses zwar verspäteten, aber umso gewichtigeren Werks und seines Deutungsmonopols verstehen. Eine weitere Auswirkung der WK-Bände ist die starke Gewichtung der Sowjet-Gefangenschaft mit all ihren negativen Auswirkungen auf Körper und Psyche der Gefangenen. Dies entspricht auch den pathologisierenden Anfängen der medizinisch-psychologischen Kriegsgefangenschaftsforschung in den frühen Nachkriegsjahren. Es scheint, als diente ein gewisser Leidensfaktor auch in der Folgezeit noch zur Legitimation von Forschungen über Gefangenschaft. Dementsprechend blieben vor allen Dingen in der deutschsprachigen Forschung vermeintlich weniger leidvolle Internierungssituationen wie die der deutschen Seeleute in Kanada zunächst außen vor.33 Inhaltliche Zugänge bisher geleisteter Arbeiten aus dem weiteren Forschungsfeld der Kriegsgefangenschaft bzw. Internierung kreisen vor allem um die Themenkomplexe Gewalterfahrung, Überlebensstrategien, Stress- und Traumabewältigung, um (völker-)rechtliche Aspekte, Arbeit und Zwangsarbeit, Kollaboration bzw. politische Auseinandersetzungen im Lager, um Reeducation, Umerziehung und kollektives Gedächtnis. Bestimmte Phasen der Gefangenschaft, etwa die Gefangennahme oder die Repatriierung, sind ebenso Thema wie Gefangenschaft in bestimmten geografischen Gewahrsamsbereichen. Besonders in Bezug auf die sowjetische Kriegsgefangenschaft sind bereits zahlreiche Detailaspekte bearbeitet, auch die US-amerikanische

30 Becker, Annette: Art, Material Life and Disaster: Civilian and Military Prisoners of War. In: Saunders, Nicholas J. (Hg.): Matters of Conflict: Material culture, memory and the First World War. London/New York 2004, S. 26-34, hier S. 26. 31 Schwelling, Birgit: Zeitgeschichte zwischen Erinnerung und Politik. Die Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte, der Verband der Heimkehrer und die Bundesregierung 1957 bis 1975. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), H. 2, S. 227-264, hier S. 261. 32 Ebd., S. 262. 33 Darauf verweist z.B. auch Ilse Dorothee Pautsch in ihrem bibliografischen Überblicksartikel: Pautsch, Ilse Dorothee: Prisoners of War and Internees in the Second World War – a Survey of Some Recent Publications. In: Contemporary European History 12 (2003), H. 2, S. 225-238, hier S. 226.

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Kriegsgefangenschaft ist ähnlich intensiv erforscht. Die Bandbreite an Darstellungsweisen beinhaltet dabei reine Oral-History-Dokumentationen (vorwiegend im englischsprachigen Raum) ebenso wie eher politik- und ereignisgeschichtliche Darstellungen, monoperspektivische Beschreibungen des Alltags in Lagern oder – an den populärwissenschaftlichen Rändern des Forschungsfelds – anekdotische Sammlungen spektakulärer Fluchtversuche.34 Dass Seeleute der deutschen Handelsmarine und ihre Kriegserlebnisse dabei bislang nicht untersucht worden sind, mag auch auf eine eingeschränkte Auffassung von Kriegserfahrung und der infrage kommenden Akteure zurückzuführen sein.35 Wie der Historiker Rüdiger Overmans betont, »scheint ein Konsens dahingehend zu bestehen, daß unter ›Kriegsalltag‹ und ›Kriegserfahrung‹ nur die aktive Dienstzeit zu verstehen ist, nicht jedoch die Zeit der Gefangenschaft. Die Berechtigung dieser Sichtweise wäre zu hinterfragen, zumindest die damaligen Akteure, hätten – wären sie gefragt worden – einer solchen Unterscheidung wohl keineswegs zugestimmt.«36 Die Negierung der Kriegserfahrung von Handelsschiffsbesatzungen lässt sich jedenfalls nicht damit rechtfertigen, dass sie quantitativ nur von geringer Bedeutung gewesen sei, wie George J. Billy in seiner Studie über US-amerikanische Seeleute im Zweiten Weltkrieg nachdrücklich vor Augen führt: »Waterborne transport was never more vital than during World War II, and men serving in the merchant marine suffered a higher rate of casualties, one in twenty-six, than in any other service during that global conflict.«37 Bei der Ausklammerung der Schiffsbesatzungen aus der Historiografie des Zweiten Weltkriegs mag darüber hinaus auch ein terminologisches Problem eine Rolle spielen: So arbeitet beispielsweise der Historiker Arnold Krammer in seinem 2008 erschienenen und mit umfassendem Anspruch auftretenden »Reference Handbook« zum Thema Kriegsgefangene mit einem sehr engen Begriff des Prisoner of War als ehemaligem Mitglied der kämpfenden Truppe, ohne darauf hinzuweisen, dass weitere Personengruppen in ähnliche Situationen geraten sind.38 Einige englischsprachige Historiker jedoch haben sich punktuell mit der Internierung von Handelsschiffsbesatzungen befasst, so etwa John Joel Culley, der die Internierung der COLUMBUS-Besatzung in den USA ausführlich untersucht hat, oder der kanadische

34 Z.B. Burt, Kendal/Leasor, James: The One That Got Away. Morley 1973; Melady, John: Escape from Canada. The untold story of German POWs in Canada 1939-1945. Toronto 1981; Wentzel, Fritz: Single or Return? The story of the only German POW to escape from the West and get home. London 1954; Ders.: Die Flucht des Franz von Werra. Gerhard H. Rudolf: Vom Jagdflieger zum Urwaldpiloten. München 1960. 35 Zu dieser Problematik in Bezug auf die Kriegsgefangenschaft siehe Overmans, Rüdiger: Ein Silberstreif am Forschungshorizont? Veröffentlichungen zur Geschichte der Kriegsgefangenschaft. In: Ders. (Hg.): In der Hand des Feindes. Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg. Köln 1999, S. 483-506, hier S. 485. 36 Ebd. 37 Vorwort von James C. Bradford und Gene Allen Smith in Billy, George J.: Merchant mariners at war. An oral history of World War II. Foreword by James C. Bradford and Gene Allen Smith. Gainesville 2008, S. VII. 38 Krammer, Arnold: Prisoners of War. A Reference Handbook. Westport 2008, S. 1.

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Historiker Jonathan F. Vance, der den Besatzungen von Handelsschiffen einen Eintrag in seiner Encyclopedia of Prisoners of War and Internment widmet.39 Was die Internierung in Kanada und ihre Rahmenbedingungen betrifft, so kann sich die vorliegende Arbeit auf einige Studien stützen, die das Kriegsgefangenenund Zivilinterniertenwesen in Kanada behandeln und die Schiffsbesatzungen dabei zumindest punktuell ansprechen.40 Neben einigen populärwissenschaftlich-journa-

39 Culley, John Joel: A Troublesome Presence: World War II Internment of German Sailors in New Mexico. In: Prologue 28 (1996), H. 4, S. 278-295; Vance, Jonathan Franklin William: Merchant Seamen. In: Ders. (Hg.): Encyclopedia of Prisoners of War and Internment. Millerton 2006, S. 259. In dieser Reihe ließe sich auch die Studie von John Christgau ergänzen, der en passant ebenfalls die Besatzung der COLUMBUS sowie deutsche Seeleute von Schiffen der amerikanischen Reederei Standard Oil thematisiert. Christgau, John: »Enemies«. World War II Alien Internment. Ames 1985. 40 Zu jüdischen Internierten bzw. deutschen Flüchtlingen in kanadischen Lagern vgl. Carter, David J.: POW – behind Canadian barbed wire. Alien, refugee and prisoner of war camps in Canada, 1914-1946. Elkwater 1998; Draper, Paula Jean: The accidental immigrants. Canada and the interned refugees (part 1). In: Canadian Jewish Historical Society Journal 2 (1978), S. 1-38; Dies.: The accidental immigrants. Canada and the interned refugees (part 2). In: Canadian Jewish Historical Society Journal 3 (1978), S. 80-112; Dies.: The accidental immigrants. Canada and the interned refugees (Doctoral Thesis, University of Toronto). Toronto 1983; Dies.: The Camp Boys. Refugees from Nazism interned in Canada, 1940-1944. In: Iacovetta, Franca/Perin, Roberto/Principe, Angelo (Hg.): Enemies within. Italian and Other Internees in Canada and Abroad. Toronto u.a. 2000, S. 171-193; Farges, Patrick: Nous les Camp Boys. Constructions de la masculinité dans les récits des réfugiésinternés au Canada. In: Migrance 27 (2006), S. 62-69; Ders.: Le trait d’union ou l’intégration sans l’oubli. Itinéraires d’exilés germanophones au Canada après 1933. Paris 2008; Gillman, Peter/Gillman, Leni: »Collar the Lot!« How Britain interned and expelled its wartime refugees. London/Melbourne/New York 1980; Iacovetta, Franca/Perin, Roberto/Principe, Angelo (Hg.): Enemies within. Italian and Other Internees in Canada and Abroad. Toronto u.a. 2000; Keyserlingk, Robert H.: The Canadian government’s attitude toward Germans and German Canadians in World War II. In: Canadian Ethnic Studies/Études ethniques au Canada 16 (1984), H. 1, S. 16-28; Koch, Eric: Deemed suspect. A Wartime Blunder. Toronto 1980; Moon, Barbara: The welcome enemies. The story of the happy accident by which 972 interned aliens became some of the liveliest immigrants Canada ever had. In: Maclean’s, 10. Februar 1962, S. 14-15 und 36-39; Puckhaber, Annette: Ein Privileg für wenige. Die deutschsprachige Migration nach Kanada im Schatten des Nationalsozialismus. Münster 2002; Seyfert, Michael: »His Majesty’s Most Loyal Internees«: Die Internierung und Deportation deutscher und österreichischer Flüchtlinge als »enemy aliens«. Historische, kulturelle und literarische Aspekte. In: Hirschfeld, Gerhard (Hg.): Exil in Großbritannien. Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Stuttgart 1983, S. 155-182; Zimmermann, Lothar: Those Other POWs: German-Canadian Civilians behind Canadian Barbed Wire and Prison Bars. In: German-Canadian Yearbook/Deutschkanadisches Jahrbuch 16 (2000), S. 67-91. Zu kriegsgefangenen Soldaten bzw. zu einzelnen Lagern, in denen nur Wehrmachtsangehörige interniert waren vgl. Auger, Martin F.: Prisoners of the home front. German POWs and »Enemy Aliens« in Southern Quebec,

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listischen bzw. heimatkundlichen Veröffentlichungen41 zu Kriegsgefangenen- und Internierungslagern in Kanada gibt es wenige explizit wissenschaftliche Studien zu internment operations in Kanada. So ist beispielsweise der Fall von 2284 jüdischen Deutschen,42 die als Verfolgte des NS-Regimes in andere Länder geflohen waren und dort aufgrund ihrer Herkunft als »enemy aliens« eingesperrt wurden,43 vor allem von kanadischen Wissenschaftlern seit den 1980er Jahren verhältnismäßig gut erforscht. Beispielsweise durch die Arbeit von Chris M. Madsen44 ist auch die Internierung von deutschen Angehörigen der kämpfenden Truppe in ihren Grundzügen bearbeitet. Madsen konzentriert sich auf militärische Gefangene, auf Angehörige des AfrikaKorps und der Luftwaffe sowie auf U-Boot-Besatzungen, allerdings ohne diese Eingrenzung des Forschungsfeldes transparent zu machen. Weite Teile seiner Arbeit basieren auf der Annahme, dass auch das Lagerleben maßgeblich durch die militärische Organisation geprägt war, wie sie die Gefangenen aus der Zeit vor der Gefangennahme kannten. Zwar thematisiert Madsen ausführlich Kontaktfelder zwischen Deutschen und Kanadiern wie etwa die Arbeit in der Landwirtschaft oder Beziehungen zwischen kanadischen Frauen und deutschen Gefangenen; er kommt am Ende seiner Untersuchung erstaunlicherweise aber dennoch zu dem Schluss, dass die deutschen Kriegsgefangenen sich nur für ihre Mitgefangenen und die innere Organisation der

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1940-46. Vancouver 2005; Bernard, Yves/Bergeron, Caroline: Trop loin de Berlin. Des prisonniers Allemands au Canada (1939-1946). Sillery 1995; Carter, David J.: The legislature ghost. Echoes of the past. Featuring watercolours created by German prisoners of war during World War Two. Elkwater 2007; Endres, Stefan: Zwischen nationalistischer Verweigerung und integrativer Kooperation: Zur Situation der deutschen Kriegsgefangenen in kanadischen prisoners of war-Lagern von 1940 bis 1948. In: Zeitschrift für Kanada-Studien 17 (1997), H. 1, S. 159-166; Fooks, Georgia Green: Prairie prisoners. POWs in Lethbridge during two world conflicts. Lethbridge 22003; Kelly, John Joseph: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947 (M.A. Thesis, University of Windsor). Windsor, ON 1976; Ders.: Intelligence and Counter-Intelligence in German Prisoner or War Camps in Canada During World War II. In: Dalhousie Review 58 (1978), H. 2, S. 285-294; Madsen, Chris M./ Henderson, Robert J.: German prisoners of war in Canada and their artifacts, 1940-1948. Regina 1993; J. Melady: Escape from Canada; Porter, Cecil James: The Gilded Cage. Gravenhurst German Prisoner of War Camp 20, 1940-1946. Gravenhurst 1999; Riedel, Walter: Hinter kanadischem Stacheldraht: Erinnerungen von drei deutschen Kriegsgefangenen an ihre Gefangenschaft. Ausschnitte aus einem Tonband. In: German-Canadian Yearbook/Deutschkanadisches Jahrbuch 9 (1986), S. 85-96; Waiser, Bill: Park Prisoners. The Untold Story of Western Canada’s National Parks, 1915-1946. Saskatoon/Calgary 1995. Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin; D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire; Duliani, Mario/Mazza, Antonino: The city without women. A chronicle of internment life in Canada during the Second World War. Oakville 1994; Jones, Ted: Both Sides of the Wire. The Fredericton Internment Camp. Fredericton 1989. Zu erwähnen ist außerdem der Dokumentarfilm »The Enemy Within« (2003) der Regisseurin Eva Colmers, deren Vater als Kriegsgefangener in Kanada war und später dorthin emigrierte. P.J. Draper: The accidental immigrants (1983), S. 1. Vgl. E. Koch: Deemed suspect; P.J. Draper: The accidental immigrants (1978a und 1978b). C.M. Madsen/R. Henderson: German prisoners of war in Canada.

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Lager interessierten.45 Einige kanadische Untersuchungen vertiefen Einzelaspekte wie etwa den Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen in Ontario46 oder ihre geheimdienstliche Überwachung.47 Andere beschäftigen sich mit einzelnen Lagerorten48 oder der Internierung in bestimmten Regionen. Hier ist vor allem die fundierte Studie von Martin F. Auger über Lager im Süden der Provinz Quebec hervorzuheben,49 die den Aufbau, die Entwicklung und die administrative Seite der Internierungslager ebenso thematisiert wie das Alltagsleben in den Lagern, Arbeitseinsätze und ReeducationMaßnahmen. Insgesamt geht es Auger um eine Überblicksdarstellung mit regionalem Fokus, die alle beteiligten Personengruppen erwähnt, jedoch vor allen Dingen bei Zivilinternierten und kriegsgefangenen Offizieren ins Detail geht. Alle genannten kanadischen Publikationen nehmen immer wieder Bezug auf die unveröffentlichte Masterarbeit von John Joseph Kelly aus dem Jahr 1976, die die politisch-administrativen Hintergründe der Internierung sowie die Vorgänge in den beteiligten Regierungsstellen und Behörden umfassend beleuchtet.50

I NTERNIERUNG I NTERNIERUNG

ALS KULTURELLE P RAXIS ALS C ONTACT Z ONE



Während ältere volkskundliche Arbeiten zum Thema Kriegsgefangenschaft sich überwiegend auf die Perspektive der Insassen konzentrierten,51 einzig diese als Produzenten von »Lagerkultur«52 betrachteten und das Lager dabei als a priori gegebenen Ort von Gefangenschaftserfahrung untersuchten,53 will die vorliegende Studie diese Fokussierung durch einen praxeologischen Ansatz auflösen. Internierung wird

45 Ebd., S. 93-94. 46 Cepuch, Stefania Halyna: ›Our guests are busy‹: The internment and labour of German prisoners of war in Ontario, 1940-1946. MA Thesis Queen’s University at Kingston. Kingston, ON 1993. 47 J.J. Kelly: Intelligence and Counter-Intelligence. 48 T. Jones: Both Sides of the Wire. 49 M. Auger: Prisoners of the home front. 50 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada. 51 A. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr; D. Sauermann/R. Brockpähler: »Eigentlich wollte ich ja alles vergessen«. Dass im Rahmen dieser Studien keine sowjetischen Quellen ausgewertet wurden, war sicher auch den politischen Umständen in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren geschuldet. 52 A. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr, S. 41. 53 Deutlich wird dies beispielsweise in Lehmann, Albrecht: Zwangskultur – Hungerkultur. Zur Kultur der Kriegsgefangenen des 2. Weltkriegs in der Sowjetunion. In: Bringéus, NilsArvid u.a. (Hg.): Wandel der Volkskultur in Europa. Festschrift für Günter Wiegelmann zum 60. Geburtstag. Band I. Münster 1988, S. 205-215, hier S. 206. Lehmanns Fokussierung auf das Lager geht einher mit der von Erving Goffman selbst vorgeschlagenen Anwendung seines Konzepts der »totalen Institution« auf Kriegsgefangenenlager. Vgl. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main 1972.

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im Folgenden nicht vom Lager als Institution der Einsperrung und »Ort des Ausnahmezustands«54 her gedacht, sondern von den beteiligten Akteuren aus, die ›Internierung‹ durch konkrete Praktiken und Strategien herstellen. Diese Perspektive auf Internierung als kulturelle Praxis55 im Sinne eines doing internment setzt zunächst bei den beteiligten Akteuren an: Dazu gehören nicht nur die internierten Seeleute und ihre Bewacher, sondern zahlreiche weitere Personen und Institutionen, wie etwa kanadische Zivilisten oder humanitäre Helfer. Für die Dauer der Internierung und zum Teil auch darüber hinaus bildeten sie ein komplexes Netzwerk aus Beziehungen und Interaktionen, das sich in den Lagern und im zugehörigen Verwaltungsapparat manifestierte und materialisierte, jedoch nicht darauf beschränkt war. Als theoretischer Rahmen der vorliegenden Analyse von Internierung bietet sich deshalb das Konzept der »Contact Zone« von Mary Louise Pratt an.56 Unter einer Kontaktzone versteht sie »the space and time where subjects previously separated by geography and history are co-present«.57 Pratt entwickelt diesen Begriff im Zusammenhang mit der Analyse von historischen europäischen Reiseberichten über die ›Neue Welt‹, wobei sie besonderes Gewicht auf Prozesse der transculturation legt, die sie in der Kontaktzone verankert sieht.58 Obwohl das Konzept bei Pratt ursprünglich zur Beschreibung kolonialer und imperialistischer Begegnungen diente, wurde es bereits verschiedentlich auf andere Zusammenhänge angewendet.59 Auch für die Analyse von Internierung – verstanden als Segregation einer durch ihre Nationalität als feindlich bestimmten Personengruppe – lässt es sich heranziehen,60 ohne dass

54 Rother, Ralf: Lager in Demokratien. In: Schwarte, Ludger (Hg.): Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas. Bielefeld 2007, S. 144-161, hier S. 145. 55 Entsprechend einem praxistheoretischen Ansatz, der »Kultur in ihrem praktischen Vollzug« untersucht. Siehe Hörning, Karl H./Reuter, Julia: Doing Culture: Kultur als Praxis. In: Dies. (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld 2004, S. 9-15, hier S. 10. 56 Erstmals entwickelt in Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London/New York 1992, S. 5-6. Zweite, überarbeitete Auflage: Pratt, Mary Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London/New York 2008, S. 7-8. 57 M.L. Pratt: Imperial Eyes (2008), S. 8. 58 M.L. Pratt: Imperial Eyes (1992), S. 6. 59 So wurde es beispielsweise von James Clifford auf museale Kontexte bezogen: Clifford, James: Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century. Cambridge, MA/London 1997. 60 Während andere Internierungs- und Lagerforscher wie etwa Holger Köhn (mit Bezug auf Lager für Displaced Persons in Nachkriegsdeutschland) von bestimmten Kontakträumen sprechen und damit klar umgrenzte räumliche Zonen wirtschaftlichen Austausches wie etwa den Schwarzmarkt meinen, wird im Kontext der vorliegenden Arbeit die gesamte Internierung als Kontaktzone begriffen. Vgl. Köhn, Holger: Die Lage der Lager. Displaced Persons-Lager in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands. Essen 2012, S. 336-343. Die Perspektive auf Lager als interkulturelle Zonen ist in den letzten Jahren auch in der Geschichtswissenschaft anhand exemplarischer Studien thematisiert worden. Vgl. Caucanas, Sylvie/Cazals, Remy/Payen, Pascal (Hg.): Contacts entre peuples et cultures. Les pri-

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damit eine strukturelle Verwandtschaft zwischen Internierung und kolonialen bzw. imperialistischen Begegnungen impliziert wäre. Doch die Konstellation, die Pratt aus dem Begriff der colonial frontier herleitet und als Contact Zone bezeichnet, teilt wesentliche Merkmale mit Internierungssituationen im Krieg:61 Beide bilden »social spaces where disparate cultures meet, clash, and grapple with each other, often in highly asymmetrical relations of domination and subordination«.62 Menschen, die sich unter anderen historischen Umständen niemals begegnet wären, sind in beiden Fällen gezwungen, für eine gewisse, von den Beteiligten nicht absehbare Zeit miteinander zu kommunizieren und zu interagieren. In der Kontaktzone der Internierung spielten die humanitären Helfer die Rolle von »cultural brokers«63, die zwischen den Internierten und ihren Bewachern als »bikulturell kompetente Vermittler«64 agierten. Die Auffassung der Internierung als Contact Zone ermöglicht es auch, die Tätigkeit der humanitären Helfer nicht als bloße Zutat zu einer bestehenden Struktur der Einsperrung zu betrachten, sondern sie als substanziellen Teil der Praktiken zu begreifen, die Internierung konstituieren.65 Pratt zufolge liegt der Mehrwert der KontaktPerspektive darin, dass sie die Beziehungen zwischen den Beteiligten »not in terms of separateness« behandelt, »but in terms of co-presence, interaction, interlocking understandings and practices, and often within radically asymmetrical relations of

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sonniers de guerre dans l’histoire. Toulouse 2003; Reiß, Matthias: »Die Schwarzen waren unsere Freunde«. Deutsche Kriegsgefangene in der amerikanischen Gesellschaft 19421946. Paderborn 2002. Die Arbeiten von Albrecht Lehmann zur Kriegsgefangenschaft thematisieren zwar die Gefangenschaft als Anlass für Kulturkontakt, verfolgen diesen Ansatz jedoch nicht weiter. A. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr, S. 96. In einigen Punkten ist Pratts Konzept eng verwandt mit Jürgen Osterhammels Theorie der kulturellen Grenze: Osterhammel begreift kulturelle Grenzen als »Kontaktzonen«, deren interkulturelle Komplexität in vielschichtigen Prozessen zum Ausdruck kommt. Osterhammel, Jürgen: Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas. In: Saeculum 46 (1995), S. 101-138, hier S. 107, 117. M.L. Pratt: Imperial Eyes (2008), S. 7. Im Umkehrschluss bedeutet das freilich nicht, dass Internierung eine paradigmatische imperialistische bzw. koloniale Situation darstellt. Doch als ein verkehrtes, quasi-koloniales Setting mit einem starken Machtgefälle lässt sich die Internierung durchaus verstehen, wenn man die Beziehungen zwischen Internierten und Bewachern betrachtet: Die Ortsansässigen sind in diesem Fall die Mächtigen, die als Bewacher die Internierten dominieren, überwachen, disziplinieren und erziehen können. Bailyn, Bernard/Morgan, Philip D.: Introduction. In: Dies. (Hg.): Strangers within the Realm. Cultural Margins of the First British Empire. Chapel Hill 1991, S. 1-31, hier S. 21. J. Osterhammel: Kulturelle Grenzen, S. 125. Das trifft insbesondere für die im Auftrag des Roten Kreuzes und der Young Men’s Christian Association (YMCA) agierenden Deutschschweizer Hermann Boeschenstein und Ernest L. Maag zu, die bereits jahrzehntelang in Kanada lebten. Vgl. hierzu auch Buffinga, John O.: The war prisoners’ aid of the YMCA and Hermann Boeschenstein’s role as an ethnic mediator (1943-1947). In: Canadian Ethnic Studies/Études ethniques au Canada 20 (1988), H. 2, S. 53-70. Ausführlich hierzu siehe Kestler, Judith: Internierung und humanitäre Hilfe. Perspektiven auf eine kulturelle Praxis. In: Zeitschrift für Volkskunde 112 (2016), H. 2, S. 253-276.

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power«.66 Gerade bei der Untersuchung von Internierung erlaubt es das Konzept der Contact Zone, die antagonistische Struktur aus Bewachten und ihren Bewachern aufzubrechen und dadurch auch Verhaltensweisen, kulturelle Prozesse und Handlungsmuster zu erfassen, die quer dazu liegen.67 Betrachtet man Internierung als Kontaktzone, so erscheint sie nicht nur als begrenzter und begrenzender, sondern auch als Möglichkeitsraum, in dem – in mancher Hinsicht ähnlich wie in einem Labor – soziale und kulturelle Ordnungen »Rekonfigurationsprozesse«68 durchlaufen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Perspektive der Contact Zone unweigerlich zu einer harmonisierenden Darstellung des Untersuchungsgegenstandes führt – im Gegenteil: Auch Pratt verkennt nicht, dass in der Kontaktzone Spannungen entstehen, welche die Beziehungen zwischen den Akteuren unterschwellig beeinflussen oder sich in offenen Konflikten entladen können.69 Am Beispiel der Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen in Kanada während des Zweiten Weltkriegs untersucht die vorliegende Arbeit die vielschichtigen Interaktionen innerhalb dieser Contact Zone und fragt danach, welche Rolle das Ineinandergreifen verschiedener Prozesse für die Konstituierung von Internierung durch die Akteure spielte. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei die These, dass Internierung sich als kulturelle Praxis begreifen lässt, die aus unzähligen situativen Aushandlungen besteht. Im Einzelnen zielt die Arbeit auf die Klärung folgender Fragen: Inwieweit lassen sich Kommunikation und Interaktion in der Contact Zone der Internierung als Positionierungen einzelner Akteure zu anderen Akteuren sowie zu zeit- und kontextspezifischen Regeln, Normen und Diskursen verstehen und analysieren? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang wechselseitige Zuschreibungen sowie konkrete und symbolische Handlungen? Zu untersuchen sind dabei insbe-

66 M.L. Pratt: Imperial Eyes (2008), S. 8. 67 Eine Beschränkung der Betrachtung auf das reine Lagerterritorium liefe auf eine ethisch fragwürdige Komplexitätsreduktion hinaus. Ein extremes Beispiel für eine solche einseitige Untersuchung bildet etwa die Forschung des US-amerikanischen Ethnologen Weston LaBarre, der während des Zweiten Weltkriegs unter ideologischen Vorzeichen in den teils stark überfüllten Internierungslagern für Japaner und japanischstämmige Amerikaner zu dem Schluss kam, alle Japaner seien neurotisch veranlagt. Eine kritische Diskussion dieser ›Forschungen‹ findet sich bei Bräunlein, Peter J.: Ethnologie an der Heimatfront: zwischen Heilslehre, Kriegswissenschaft und Propaganda. Margaret Mead, die amerikanische cultural anthropology und der II. Weltkrieg. In: Ders./Lauser, Andrea (Hg.): Krieg & Frieden. Ethnologische Perspektiven. kea-Sonderband II. Bremen 1995, S. 11-64, hier S. 32. 68 Knorr Cetina, Karin: Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt am Main 2002, S. 45. Der Sichtweise vom Lager als Labor folgt auch der französische Psychologe und Psychoanalytiker Jean Cazeneuve. Durch die Beobachtung von Menschen in Gefangenschaft lassen sich, Cazeneuve zufolge, nachhaltige Verhaltensänderungen untersuchen. Vgl. Cazeneuve, Jean: Essai sur la psychologie du prisonnier de guerre. Paris 21945, S. 5. Patrick Farges geht in seiner Analyse kanadischer Lager für enemy aliens während des Zweiten Weltkriegs ebenfalls von der Idee eines Labors aus, in dem sich sozialpsychologische Prozesse abspielen; vgl. P. Farges: Nous les Camp Boys, S. 64. 69 M.L. Pratt: Imperial Eyes (1992), S. 55.

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sondere widerständiges Verhalten, Konflikte und situativ-strategische Allianzen: Wo waren die Strategien gegenläufig, wo griffen sie aber auch ineinander und erzeugten Verflechtungen?70 Hier ist auch zu fragen, inwieweit die Akteure dabei als Repräsentanten wechselnder Kollektive agierten und wahrgenommen wurden. Mit Rückgriff auf Sherry B. Ortners Konzept von Agency71 soll zudem geklärt werden, wie die Akteure für sich Handlungsmacht in Anspruch nahmen und welche Strategien der (Selbst-)Ermächtigung sie dabei einsetzten: Durch welche Praktiken wurden innerhalb der Contact Zone der Internierung situativ Handlungsräume konstituiert? Darüber hinaus steht die Frage nach der Konstitution von Deutungen im Blickpunkt: Welche Faktoren beeinflussten die Wahrnehmung der Internierung und welche spezifischen Bedingungen führen dazu, dass unterschiedliche Akteure situativ je unterschiedliche Deutungen artikulieren? Wie hängt die Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren mit der Konstituierung von Internierungserfahrung zusammen? Dabei geht es nicht nur um Thematisierungen der Internierung, die während des Krieges formuliert und reformuliert wurden, sondern auch um retrospektive Deutungen und ihre jeweiligen medialen Kontexte. So stellt sich etwa die Frage, welche Beziehungen zwischen der Entstehung und der subjektiven retrospektiven Verhandlung von Internierungserfahrung in Interviews und autobiografischen Quellen bestehen. Dabei geht es auch um die Strategien, die ehemalige Internierte in diesen narrativen Kontexten einsetzen, um das für sie Wesentliche der Internierungserfahrung zu unterstreichen. Ziel der Studie ist es, am konkreten Beispiel die Eigenlogik von Internierung zu rekonstruieren und diese Form der Einsperrung vor dem theoretischen Hintergrund der Contact Zone als komplexen Interaktionsraum analysierbar zu machen. Daraus ergibt sich eine multiperspektivische Herangehensweise, die Alltagsstrategien, Positionierungen und Deutungen der beteiligten Akteure zueinander in Beziehung setzt. Eine Besonderheit der Arbeit liegt dabei in der Kombination von historischer Kulturanalyse und Narrationsanalyse. Durch diese doppelte zeitliche Perspektivierung nimmt die Studie subjektive retrospektive Deutungen sowie deren Wandel in den Blick und macht auf diese Weise auch Verknüpfungen zwischen verschiedenen Zeitebenen sichtbar.

70 Vgl. Birgit Neumann zum Strategie-Begriff bei Michel de Certeau: »Während die Strategie eine kalkulierte Handlung bezeichnet, die von autoritätsgesicherten Institutionen bzw. Produzenten mit dem Ziel einer fortschreitenden Kontrolle von Raum und Zeit ausgeführt wird, beschreibt die Taktik die instabilen und stets fluktuierenden Praktiken der Aneignung kulturell zirkulierender Produkte […].« Neumann, Birgit: de Certeau, Michel. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2008, S. 114. 71 Ortner, Sherry B.: Anthropology and Social Theory. Culture, power, and the acting subject. Durham/London 2006, S. 131-153.

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R AUM , Z EIT UND I DENTITÄT ALS Z UGÄNGE ZUR ANALYSE VON I NTERNIERUNG Um diese Herangehensweise zu systematisieren und zu operationalisieren, werden mit Raum, Zeit und Identität drei untersuchungsleitende Dimensionen verwendet, die sich sowohl aus den Bedingungen der Internierung herleiten als auch an volkskundlich-kulturanthropologische Fachperspektiven rückbinden lassen. Sie eignen sich dazu, die komplexe »everyday interaction«72 in der Kontaktzone der Internierung zu untersuchen und zu verstehen, wie Internierung als kulturelle Praxis konfiguriert wird. Diese drei analytischen Achsen, die generell als (eng miteinander verflochtene)73 Kernkategorien volkskundlich-kulturanthropologischer Forschung gelten, ermöglichen im Kontext dieses Projekts einen differenzierten Zugriff auf Internierung und erlauben es, die Konfiguration von Internierung auf einer Mikroebene zu erfassen.74 Denn die Kategorien lassen nicht nur Rückschlüsse auf wesentliche Erfahrungsmodi und Handlungsfelder der Internierten zu, sondern auch auf Strategien und Praktiken der Gewahrsamsmacht und der Hilfsorganisationen innerhalb der Contact Zone.

72 M.L. Pratt: Imperial Eyes (1992), S. 43. 73 Vgl. etwa Hengartner, Thomas: Zeit-Fragen. In: VOKUS. Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Schriften 10 (2000), H. 1, Sonderheft »Zeit«, S. 5-18, hier S. 16. 74 Hinsichtlich des Verständnisses der drei Konzepte orientiert sich die Arbeit an akteurs- und handlungszentrierten Perspektiven, die sich in Begriffsdiskussionen der letzten Jahre als theoretischer Kernbestand kulturanthropologischer Forschung herauskristallisiert haben: Zusammenfassend zum Thema Zeit vgl. etwa: Ebd., S. 14; Wehr, Laura: Alltagszeiten der Kinder. Die Zeitpraxis von Kindern im Kontext generationaler Ordnungen. Weinheim, Bergstr 2009, S. 18; zu Raum: Henri Lefebvres Raumtheorie beispielsweise betont den Konstruktcharakter des Raumes, siehe Lefebvre, Henri: The Production of Space. Oxford/ Cambridge 1991. Zusammenfassend vgl. Schroer, Markus: »Bringing space back in« – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie. In: Thielmann, Tristan/Döring, Jörg (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2009, S. 125-148, hier S. 137-138. Ähnliches gilt – verknappt gesagt – für die raumtheoretischen Überlegungen von Michel de Certeau, vgl. Certeau, Michel de: Praktiken im Raum (1980). In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2007, S. 343-353; viele aktuelle Überlegungen zum Thema Identität beziehen sich im Kern auf das prozesshafte Identitätsverständnis von Erik Erikson, z.B. auch die Studie von Gerber, David A.: Authors of Their Lives: The Personal Correspondence of British Immigrants to North America in the Nineteenth Century. New York 2006, S. 69. Im Begriff des doing identity, der in vielen volkskundlich-kulturanthropologischen Studien zu identitätsbezogenen Fragestellungen als Rahmenkonzept fungiert, findet sich dieser Ansatz praxeologisch gewendet wieder.

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Raum Im Zuge des sogenannten spatial turn75 ist Raum vom Forschungsobjekt zur Analysekategorie der Sozial- und Kulturwissenschaften geworden.76 Mittlerweile spiegeln Arbeiten aus den verschiedensten kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern den in den letzten zwei Jahrzehnten vollzogenen Wandel des Raumverständnisses wider: An die Stelle des zuvor in erster Linie territorial verstandenen Begriffs trat die Auffassung von Raum als Konstrukt und relationale Größe. Heute wird Raum »als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung, eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation«77 untersucht. Dabei steht in verschiedenen Kontexten besonders »die Verflechtung von Raum und Macht«78 im Mittelpunkt – auch in der Volkskunde/Kulturanthropologie:79 So betont Johanna Rolshoven, dass das Konzept des Raumes eine Analyse »machtvolle[r] Konstellationen«80 erlaubt. Die Stärke von Raum »als beobachtungsleitende Kategorie der empirischen Kulturanalyse«81 liegt Rolshoven zufolge darin, dass er einen Zugang zu vielfältigen Kulturprozessen erschließt. Raum ist für sie daher nicht nur »ein begriffliches Instrument (Theorem), um Wirklichkeit zu denken und zu analysieren«, sondern auch »Bedingung und Resultat kultureller Prozesse«.82

75 Der Begriff geht auf den Geografen Edward W. Soja zurück (1989), erhielt jedoch erst 1996 durch Soja selbst paradigmatisches Gewicht; Soja, Edward W.: Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London/New York 1989 sowie Ders.: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places. Cambridge/ Oxford 1996. Vgl. außerdem Döring, Jörg/Thielmann, Tristan: Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen. In: Dies. (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2009, S. 7-45, hier S. 8-9. 76 Das wäre nach Doris Bachmann-Medick als Zeichen dafür aufzufassen, dass der spatial turn tatsächlich ein Paradigmenwechsel ist und nicht nur eine wissenschaftliche Mode. Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Spatial turn. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2008, S. 664-665, hier S. 665. 77 Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 22007, S. 292. 78 Ebd. 79 Wichtige Impulse kommen dabei aus den Postcolonial Studies und aus globalisierungskritischen Forschungen. Vgl. Muri, Gabriela: Pause! Zeitordnung und Auszeiten aus alltagskultureller Sicht. Frankfurt am Main 2004, S. 24-25. 80 Rolshoven, Johanna: Zwischen den Dingen: der Raum. Zum dynamischen Raumverständnis der empirischen Kulturwissenschaft. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 108 (2012), H. 2, S. 156-169, hier S. 166. 81 Ebd. 82 Ebd.

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Tenor der volkskundlichen Rezeption von Raumtheorien aus anderen Fächern ist, den Raum »vom Menschen her«83 zu untersuchen, »in seinem Denken, Handeln und Deuten, im Aneignen, Umgehen und Bewerten, im Erfahren und in der Praxis«.84 Diese Sichtweise basiert auf einem konstruktivistischen und prozessual-handlungsorientierten Verständnis von Raum.85 Johanna Rolshoven zufolge ist demnach »der Alltagsraum ein auf den Menschen bezogener, vom Menschen her gedachter und erschlossener Raum. Er konstituiert sich durch das räumliche Erleben, über das Handeln im Raum sowie über die Raumvorstellung; die physisch-räumliche Umwelt bleibt dabei Rahmenhandlung.«86 Wie viele andere KulturwissenschaftlerInnen im Zuge des spatial turn nimmt auch Rolshoven damit Bezug auf Michel de Certeau und Henri Lefebvre, deren Theorien der Diskussion um ›Raum‹ als kulturwissenschaftlich relevante Kategorie wichtige Impulse gaben und intensiv rezipiert wurden.87 Lefebvre konzentriert sich auf Formen sozialer Praxis, die Räume produzieren und in Räumen produziert werden.88 Aufbauend auf Lefebvres Überlegungen untersucht Michel de Certeau vor allem praktische Umgangsweisen mit dem Raum, die »pratiques de l’espace«89. Dabei verfolgt er ein handlungstheoretisches Raumkonzept und versteht Raum, kurz gefasst, als »Ort, mit dem man etwas macht«90. Zentral in de Certeaus Denken ist die Auffassung, dass alltägliche Raumpraktiken Räume der Erfahrung konstruieren, Fakten schaffen sowie Macht- und Wissensordnungen konstituieren oder brechen können.91 Nach Regina Bormann ist der so konzeptualisierte Raum »daher nicht als statische, feste Materialität zu betrachten, sondern als eine variable Sphäre, die permanent symbolisch neu ausgehandelt und definiert wird«92.

83 Hengartner, Thomas: Zur Ordnung von Raum und Zeit. Volkskundliche Anmerkungen. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98 (2002), H. 1, S. 27-39, hier S. 27. 84 Ebd. 85 T. Hengartner: Zeit-Fragen, S. 14; Crang, Mike: Zeit : Raum. In: Thielmann, Tristan/Döring, Jörg (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2009, S. 409-438, hier S. 416. 86 Rolshoven, Johanna: Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung. Theoretische Herausforderungen an eine Kultur- und Sozialwissenschaft des Alltags. In: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), H. II, S. 189-213, hier S. 203. 87 H. Lefebvre: The Production of Space; M. de Certeau: Praktiken im Raum. 88 H. Lefebvre: The Production of Space, S. 73. Eine Zusammenfassung dieser Perspektive gibt Bormann, Regina: Raum, Zeit, Identität. Sozialtheoretische Verortungen kultureller Prozesse. Opladen 2001, S. 302-303. 89 M. de Certeau: Praktiken im Raum. 90 Ebd., S. 345. Damit kehrt de Certeau den in der Geografie bis dato üblichen Gebrauch der Begriffe ›Ort‹ und ›Raum‹ um. Vgl. hierzu auch M. Crang: Zeit : Raum, S. 415. 91 Dünne, Jörg: Einleitung [Teil IV Soziale Räume]. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2007, S. 289-303, hier S. 299-300. 92 R. Bormann: Raum, Zeit, Identität, S. 269.

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Diese dem Raumkonzept inhärente Deutungsvielfalt93 hat sicher auch dazu beigetragen, de Certeaus Überlegungen »zur theoretischen Grundlage schlechthin einer Wissenschaft des Alltäglichen«94 zu machen, die sich stets auch für Widersprüche und Mehrdeutigkeiten interessiert. Auch für die vorliegende Arbeit bilden die Theorien von Henri Lefebvre und Michel de Certeau wichtige Bezugspunkte. Daneben werden weitere, insbesondere raumsoziologische Theorien herangezogen, die ihrerseits in Teilen auf de Certeau und Lefebvre rekurrieren,95 etwa Benno Werlens Theorie der alltäglichen Regionalisierung,96 die auf der Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens basiert.97 Giddensʼ Konzept fokussiert Regionalisierung als »bedeutende Ressource, welche sowohl die Mächtigen als auch die weniger Mächtigen reflexiv in Anschlag bringen können, um sich in ihren eigenen Deutungen sozialer Prozesse von den ›offiziell‹ vorgeschriebenen Deutungsmustern distanzieren zu können«98. In Werlens Fortführung dieser Überlegungen spielen vor allem diejenigen Praktiken eine Rolle, die »zur Regelung sozialer Problemsituationen und zur Aufrechterhaltung sozialer Praktiken« dienen, »insbesondere zur Aufrechterhaltung und Generierung von Macht über Personen«99. Diese Theorien können für eine raumbezogene Untersuchung von Internierung fruchtbar gemacht werden. Denn Internierung konfrontiert alle beteiligten Akteure vom ersten Augenblick an mit dem Thema ›Räumlichkeit‹. Dementsprechend begreifen die Internierungsarchäologen Gabriel Moshenska und Adrian Myers diese Form der Einsperrung als »the practice of organizing material culture and space to control and restrict the movement of a person or a group of people«100. Diese Relevanz des Räumlichen berücksichtigt auch Jan Philipp Reemtsmas Konzept von Internierung als Form »lozierender«101 oder »captiver Gewalt«102, die sich »auf den Körper als verschiebbare Masse«103 richtet. In der Kontaktzone der Internierung ist Raum

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Rolshoven, Johanna: Übergänge und Zwischenräume. Eine Phänomenologie von Stadtraum und ›sozialer Bewegung‹. In: Kokot, Waltraud/Hengartner, Thomas/Wildner, Kathrin (Hg.): Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Berlin/Hamburg 2000, S. 107-122, hier S. 109. J. Rolshoven: Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung, S. 209. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001; Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt am Main 2006. Werlen, Benno: Globalisierung, Region und Regionalisierung. Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 2. Stuttgart 22007. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Mit einer Einführung von Hans Joas. Frankfurt am Main/New York 1988. Ebd., S. 178. B. Werlen: Globalisierung, Region und Regionalisierung, S. 191. Moshenska, Gabriel/Myers, Adrian: An Introduction to Archaeologies of Internment. In: Dies. (Hg.): Archaeologies of Internment. New York u.a. 2011, S. 1-19, hier S. 2. Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2009, S. 106. Ebd., S. 108. Ebd., S. 106.

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also einerseits eine politische Größe, über die die Gewahrsamsmacht unter Einsatz »autoritativer Ressourcen«104 Macht etabliert und Überwachung realisiert.105 Andererseits stehen aber auch den Internierten bestimmte räumliche Strategien und Praktiken zur Verfügung. Allgemein gesprochen, erschließt sich der empirische Bereich des Räumlichen »über Territorialität, über räumliche Verfaßtheit, über Verortung, über raumbezogenes Handeln, Denken und Deuten, über Sich-In-Bezug-Setzen zu Räumen«106. Im Hinblick auf die Internierung geht es hier insbesondere um alle Arten raumbezogenen Handelns und raumkonstituierender Praktiken der beteiligten Akteure, die Ordnungen herstellen und Modi der Raumerfahrung definieren und die mit Rückgriff auf Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung auch als regionalisierende Alltagspraktiken bezeichnet werden können.107 Dazu zählen Aneignung,108 Beheimatung,109 replacing,110 place-making,111 re-territorializing112 bzw. Territorialisierung113 und Zonierungen,114 also sowohl Kontrolle, Überwachung und Durchsetzung von Raumordnungen als auch das eigen-sinnige Unterlaufen und Durchbrechen dieser Regionalisierungen. Dabei ist ebenso nach neu entstehenden oder in der Internierung modifizierten Raumpraktiken der Internierten wie auch nach der Beziehung zwischen Räumlichkeit und Konfliktaushandlung zu fragen. Ob das Internierungslager an sich letztendlich als »totale Institution«115, als »Heterotopie«116, als im Limbus situierte

104 Werlen, Benno: Kulturelle Räumlichkeit: Bedingung, Element und Medium der Praxis. In: Hauser-Schäublin, Brigitta/Dickhardt, Michael (Hg.): Kulturelle Räume – räumliche Kultur. Zur Neubestimmung des Verhältnisses zweier fundamentaler Kategorien menschlicher Praxis. Münster u.a. 2003, S. 1-12, hier S. 10. 105 Nowotny, Helga: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt am Main 1989, S. 151. 106 T. Hengartner: Zeit-Fragen, S. 13-14. 107 B. Werlen: Globalisierung, Region und Regionalisierung, S. 194. 108 Jaeggi, Rahel: Aneignung braucht Fremdheit. In: Texte zur Kunst 46 (2002), S. 60-69. 109 Vgl. hierzu Binder, Beate: Beheimatung statt Heimat: Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Seifert, Manfred (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ›Heimat‹ als Argument im Prozess der Moderne. Leipzig 2010, S. 189-204, hier S. 203. 110 Dusselier, Jane Elizabeth: Artifacts of Loss. Crafting Survival in Japanese American Concentration Camps. New Brunswick u.a. 2008, S. 14. 111 Ebd., S. 48. 112 Ebd., S. 168. 113 B. Werlen: Globalisierung, Region und Regionalisierung, S. 193. 114 Ebd., S. 154-155. 115 Erving Goffman bezeichnet in seiner klassischen Studie Kriegsgefangenenlager als dritten der fünf Typen totaler Institutionen; vgl. E. Goffman: Asyle, S. 16. 116 Michel Foucault zufolge setzen »Heterotopien […] immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht. Im allgemeinen ist ein heterotopischer Plan nicht ohne weiteres zugänglich. Entweder wird man zum Eintritt gezwungen […], oder man muß sich Riten und Reinigungen unterziehen.« Vgl. Foucault, Michel: Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis.

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neue Gesellschaft117 oder als liminaler Raum118 adäquat zu beschreiben ist, sei zunächst einmal dahingestellt, da es weniger als Ort der Einsperrung betrachtet wird denn als Materialisierung der Contact Zone Internierung. Zeit Die zweite Analysedimension zur Untersuchung von Internierung als kultureller Praxis ist Zeit, die als kulturelles Ordnungskonzept119 eng mit den genannten räumlichen Aspekten verknüpft ist.120 Im Zentrum des diesbezüglichen volkskundlich-kulturanthropologischen Erkenntnisinteresses stehen die durch konkrete Handlungen und Bedeutungszuschreibungen konstituierten »Alltagszeiten«121 verschiedener Akteure, denn, so Laura Wehr, aus »kulturwissenschaftlicher Sicht interessiert Zeit […] nicht als abstrakte Grundkategorie oder unabhängige Größe, sondern immer in Zusammenhang mit menschlichem Denken, Erfahren, Handeln, Deuten, Aneignen, Umgehen und Bewerten«122. Thomas Hengartner plädiert dafür, die »Beschäftigung mit Zeit und Raum […] für die von der Mikroanalyse kultureller Erfahrungen und Praxen her argumentierende Volkskunde am sinnvollsten über die Ermittlung raum- und zeitbezogenen Handelns und Denkens«123 anzugehen. Dabei knüpft die Volkskunde/ Kulturanthropologie vor allem an soziologische Zeittheorien an,124 im Hinblick auf Zeiterfahrung beispielsweise an wissenssoziologische Überlegungen.125 Volkskundlich-kulturanthropologische Zugriffe auf das Thema Zeit werden vor allem von der Annahme geleitet, dass Zeit – wie Raum – »kulturell und sozial konstruiert«126 ist. Dies betrifft auch die »Verfügungsgewalt über Zeit, Wertungen und Vorstellungen

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Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1992, S. 34-46, hier S. 44. Vgl. dazu Michael Walzer, der den von Flüchtlingen und Kriegsgefangenen besetzten bzw. ihnen zugewiesenen Raum als »just beyond the state« liegenden »limbo« bezeichnet: Walzer, Michael: Prisoners of War. Does the Fight Continue after the Battle? In: The American Political Science Review 63 (1969), S. 777-786, hier S. 777. Vgl. Annette Becker: »Prisoners are spatially and mentally uprooted, occupying a liminal space – neither at the Front nor at home, but ›elsewhere‹.« Becker: Art, Material Life and Desaster, S. 28. Schilling, Heinz: Welche Farbe hat die Zeit? In: Ders. (Hg.): Welche Farbe hat die Zeit? Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens. Frankfurt am Main 2002, S. 9-14, hier S. 9. Dies betont beispielsweise T. Hengartner: Zeit-Fragen, S. 16. L. Wehr: Alltagszeiten der Kinder. Ebd., S. 18. T. Hengartner: Zeit-Fragen, S. 17-18. Zusammenfassend: G. Muri: Pause, S. 24-25. Luckmann, Thomas: Zeit und Identität: Innere, soziale und historische Zeit. In: Fürstenberg, Friedrich/Mörth, Ingo (Hg.): Zeit als Strukturelement von Lebenswelt und Gesellschaft. Linz 1986, S. 135-174. T. Hengartner: Zeit-Fragen, S. 14.

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von Zeit, Zeitkategorien und Zeitstrukturen«127. Begreift man Zeit als »zutiefst kollektiv gestaltetes Produkt menschlicher Bedeutungszuschreibung«,128 so kann sie als »Interpretationskategorie wissenschaftlicher wie alltagsreflexiver Zugriffe«129 fungieren. Zur Internierung gehören neben spezifischen räumlichen auch eine Reihe von zeitlichen Erfahrungsmodi, Praktiken und Strategien. Angesichts der Verfügungsgewalt der Gewahrsamsmacht über die Lebenszeit der Insassen ist aus Sicht der Internierten zunächst der Verlust von Zeitsouveränität130 prägend, außerdem eine Verunsicherung der individuellen Zeit- und Zukunftsperspektive,131 möglicherweise auch in Verbindung mit dem punktuellen subjektiven Empfinden einer »Zeitstrukturkrise«,132 das durch das Außerkraftsetzen bisher gültiger Zeitordnungen ausgelöst wird. Ähnlich wie bei Langzeitarbeitslosen lassen sich bei Internierten »Zukunftsungewißheit, unausgefüllte Zeit und letztlich eine Entdifferenzierung des Zeiterlebens«133 beobachten, hervorgerufen durch den Bruch des Zeiterlebens mit der Gefangennahme. Dies wirft die Frage nach individuellen oder kollektiven zeitbezogenen Bewältigungsstrategien auf, in deren Rahmen Zeit eine Möglichkeit zur Steuerung sozialer Interaktion in der Contact Zone darstellt.134 Vom Standpunkt der Gewahrsamsmacht betrachtet, ergibt sich eine komplementäre Perspektive auf die benannten Problemfelder. Dabei wird »deutlich, daß Zeit eine zentrale Dimension von Macht darstellt, die sich äußert in den Zeitordnungen, die Prioritäten und Geschwindigkeiten, Anfang und Ende, Inhalt und Form der in der Zeit zu erfüllenden Tätigkeiten vorschreiben«135. Der analytische Blick richtet sich auf Thematisierungen verschiedener Aspekte von Zeit und Zeitlichkeit, auf zeitbezo-

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G. Muri: Pause, S. 26. Ebd., S. 64. Ebd. Vgl. zum Begriff der Zeitsouveränität Herrmann-Stojanov, Irmgard/Stojanov, Christo: Zeit als Ordnungsprinzip des individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesses. In: Fürstenberg, Friedrich/Mörth, Ingo (Hg.): Zeit als Strukturelement von Lebenswelt und Gesellschaft. Linz 1986, S. 111-132, hier S. 124. Die beiden Autoren begreifen Zeitsouveränität als »Voraussetzung für die Selbstgestaltung der zeitlichen Organisation des alltäglichen individuellen Lebens« (ebd.). Vgl. hierzu die Begriffsdefinition bei Irmgard Vogt: »Zeitperspektive erscheint vielfach als Zukunftsperspektive, wenn sie in dieser auch nicht vollständig aufgeht. Erfahrungen aus der Vergangenheit gehen zwar in die Zukunftsvisionen mit ein, sie determinieren diese aber nur in begrenztem Umfang.« Vogt, Irmgard: Zeiterfahrung und Zeitdisziplin. Sozialpsychologische und soziologische Aspekte individueller Zeitperspektiven. In: Fürstenberg, Friedrich/Mörth, Ingo (Hg.): Zeit als Strukturelement von Lebenswelt und Gesellschaft. Linz 1986, S. 209-235, hier S. 213-214. Zum soziologischen Konzept der Zeitstrukturkrise vgl. Heinemeier, Siegfried: Zeitstrukturkrisen. Biographische Interviews mit Arbeitslosen. Opladen 1991, S. 7-8. Ebd., S. 15. Zu Zeit als Medium sozialer Interaktion siehe T. Luckmann: Zeit und Identität, S. 138. H. Nowotny: Eigenzeit, S. 108.

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gene Praktiken, Strategien und »Gegen-Strategien«.136 Die zeitliche Konfiguration von Internierung lässt sich also als Aushandlungsfeld von Macht und Disziplinierung begreifen, das sowohl auf der praktisch-organisatorischen Ebene als auch auf der Ebene von Deutungen empirisch greifbar wird. Eine zeitbezogene Analyse von Internierung erschließt somit genau diese Felder, die zum Kern des Themas gehören: Macht, Disziplinierung, Widerständigkeit sowie konkurrierende Deutungen.137 Denn zu den Charakteristika der Contact Zone ›Internierung‹ gehört auch die Notwendigkeit zur zeitlichen Taktung von Interaktion und zur zeitlichen Organisation aller Abläufe, die Internierung konstituieren. Der Blick richtet sich also auf temporale Praktiken wie die Durchsetzung von Zeitordnungen und -strukturen zum Zweck der Kontrolle und Disziplinierung, auf Konflikte zwischen Zeitordnungen und »Eigenzeiten«138, die Entwicklung von Zeitstrategien, die im Sinne eines »consuming time«139 der Bewältigung dienen, sowie den Wandel von Zeitperspektiven.140 Diese Aspekte sind vor dem Hintergrund des temporären und vorläufigen Charakters von Internierung zu untersuchen. Darüber hinaus geht es um die Frage nach Deutungen der Internierungsphase seitens der Gefangenen und um die damit verbundenen pro- und retrospektiven Perspektiven auf Lebenszeit. Identität Irene Götz zufolge lässt sich die dritte Analysedimension Identität »im Sinne einer Arbeitsdefinition als Integral aus Selbst- und Gruppenbildern verstehen, die im stetigen Prozess der Auseinandersetzung mit Rollen, Fremdbildern und anderen kulturellen Zuschreibungen […] sowie persönlichen und kollektiven Erfahrungen, Erinnerungen und Zukunftserwartungen situativ aktiviert werden«141. Vor allem in sozialkonstruktivistischen und interaktionistischen Identitätstheorien gilt Identität »als der von der oder dem Einzelnen immer wieder zu bewerkstelligende, am Schnittpunkt von gesellschaftlicher Interaktion und individueller Biographie

136 Vgl. hierzu Helga Nowotny: »Zeit wird von Menschen gemacht und hat mit Macht zu tun, die Menschen übereinander mit Hilfe von Strategien der Zeit ausüben. […] Wie bei jeder Form von Macht, gibt es eine Gegen-Macht, und jede Strategie findet ihre GegenStrategie.« Ebd., S. 146. 137 Je nachdem, welchem Kategorisierungsmodell von Zeit man folgt, ließe sich das, was durch diese analytischen Fragen erfasst wird, auch als Thematisierung subjektiver und objektiver bzw. individueller und kollektiver Zeit bezeichnen, vgl. G. Muri: Pause, S. 2829. 138 H. Nowotny: Eigenzeit. 139 Carr, Gillian: Engraving and Embroidering Emotions Upon the Material Culture of Internment. In: Myers, Adrian/Moshenska, Gabriel (Hg.): Archaeologies of Internment. New York u.a. 2011, S. 129-145, hier S. 140. 140 H. Nowotny: Eigenzeit; I. Vogt: Zeiterfahrung und Zeitdisziplin, S. 216. 141 Götz, Irene: Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989. Köln 2011, S. 77.

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stattfindende Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern«142. Identität wird deshalb auch als »a continuous writing and rewriting of the text of oneʼs self«143 verstanden. Das konstruktivistische Verständnis von Identität hat insbesondere dazu beigetragen, den Begriff der kollektiven Identität zu ›ent-essenzialisieren‹.144 Heute begreift man kollektive Identität in den Kulturwissenschaften – nicht umsonst meist im Plural – als »Diskursformationen«,145 als »Identifikationsangebote«146 oder als »symbolisch aktivierte, emotional besetzte Beziehungsnetzwerke zwischen Individuen«.147 Versteht man kollektives Handeln nicht (nur) als Handeln eines Kollektivs, sondern als »koordiniertes Handeln Einzelner im Hinblick auf eine mehr oder weniger geteilte Vorstellung«,148 so ist konsequenterweise danach zu fragen, wie und von wem solche kollektiven Identitäten hergestellt und verteidigt werden, wie es dazu kommt, dass Einzelne sich mit einer Gruppe identifizieren149 und welche Instanzen und Institutionen kollektive Identitäten stärken und verstetigen.150 Für die Präzisierung von Identität als untersuchungsleitender Kategorie ist zunächst zu fragen, wo und wie Identität generell und im konkret vorliegenden Fall überhaupt empirisch greifbar wird. Irene Götz betont, dass sich Identität als »kulturelle Praxis«151 zeigt, »als Prozess situativ wechselnder Identifikationen«,152 der »immer nur situativ im Sinne eines ›doing identity‹ erfassbar«153 ist, etwa in Sprechbzw. Kommunikationsakten und Handlungen. Identität besitzt also eine »soziale Dimension«154, sie entsteht »durch und in Interaktion mit anderen«.155 Ina-Maria Greverus

142 Glomb, Stefan: Identität, persönliche. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2008, S. 306-307, hier S. 307. 143 Brockmeier, Jens: Identity. In: Jolly, Margaretta (Hg.): Encyclopedia of life writing. Autobiographical and biographical forms. London 2001, S. 455-456, hier S. 456. 144 A. Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, S. 223. 145 Ebd. 146 Bausinger, Hermann u.a.: Grundzüge der Volkskunde. Mit einem Vorwort zur vierten Auflage von Kaspar Maase. Darmstadt 41999, S. 208-209. 147 R. Bormann: Raum, Zeit, Identität, S. 243. 148 Ebd. 149 Supik, Linda: Dezentrierte Positionierung. Stuart Halls Konzept der Identitätspolitiken. Bielefeld 2005, S. 94. 150 Horatschek, Annegreth: Identität, kollektive. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2008, S. 306, hier S. 306; Straub, Jürgen: Identität. II. In der Psychologie. In: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 269-272, hier S. 271. 151 I. Götz 2011: Deutsche Identitäten, S. 69-70. 152 Ebd. 153 Ebd. 154 H. Bausinger u.a.: Grundzüge der Volkskunde, S. 205. 155 Ebd.

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bringt diesen Sachverhalt kurz und bündig auf folgende »Identitätsformel«:156 Identität heißt »sich Erkennen, Erkannt- und Anerkanntwerden«,157 Identität braucht also immer auch ›Andere‹.158 Gerade für die Analyse von Internierung als Contact Zone kann Identität somit eine wichtige Ebene erschließen. Verschiedene Wissenschaftler haben beobachtet, dass Identität durch krisenhafte Erfahrungen der Reflexion zugänglich und dadurch artikulierbar wird.159 Auch Internierungssituationen können für Betroffene einen lebensgeschichtlichen Bruch bedeuten. Dass Gefangenschaft Identitätsprozesse beeinflusst, ist mehrfach beschrieben worden.160 Identität(en), konkreter »the formation and re-formation of individual and group identities«,161 waren jedoch in der Contact Zone der Internierung nicht nur für die Internierten selbst ein zentrales Thema. Auch die Vertreter der Gewahrsamsmacht waren in ihrer alltäglichen Arbeit damit konfrontiert: Sie waren einerseits gezwungen, sich zu den Formierungen von Identität seitens der Gefangenen zu positionieren, setzten sie andererseits aber auch strategisch für konkrete Ziele ein. Identität als Dimension zur Analyse von Internierung lenkt den Blick also auf »Identitätsarbeit«162 bzw. -politik auf der personalen wie kollektiven Ebene, auf den strategischen Einsatz von Identitäten und damit verbunden auch auf die Abgrenzung von ›Anderen‹. Institutionen und Agenturen, die im nichtinternierten Leben Identitätsentwürfe vermitteln (wie etwa Nation, Glaubensgemeinschaft, Geschlecht, Generationszugehörigkeit, Familie, Beruf etc.) verloren mit der Internierung nicht automatisch an Relevanz. Machtstrukturen und Gestaltungsspielräume allerdings veränderten sich, sodass bestimmte Aspekte von Identität in der Internierung an Gewicht verlieren konnten, während andere Bedeutungen erlangten, die sie vorher nicht besessen hatten. Bezogen auf Identität als Analyseheuristik lassen sich alle Handlungen analysieren, die in jüngeren Diskussionen unter dem Begriff des »doing identity«163 subsumiert werden: Identifikationen, Abgrenzungen, Zuschreibungen, Strategien des »othering«,164 der Inklusion und Exklusion, identitäts- und alteritätsbezogene Argumenta-

156 Greverus, Ina-Maria: Die Anderen und Ich. Vom Sich Erkennen, Erkannt- und Anerkanntwerden. Kulturanthropologische Texte. Darmstadt 1995, S. 1. 157 Ebd. 158 Ebd., S. 29-30. 159 I. Götz: Deutsche Identitäten, S. 70. Ähnlich äußert sich auch Weyers, Stefan: Narrative Konstruktionen von Identität und Alterität am Beispiel biografischer Selbstdarstellungen inhaftierter Jugendlicher. In: Schmidt-Lauber, Brigitta/Schwibbe, Gudrun (Hg.): Alterität. Erzählen vom Anderssein. Göttingen 2010, S. 111-135, hier S. 111. 160 So unter anderem von dem französischen Psychologen und Psychoanalytiker Jean Cazeneuve, der dabei von von seiner eigenen Gefangenschaft in einem deutschen Stalag ausging. J. Cazeneuve: Essai sur la psychologie du prisonnier de guerre. 161 G. Moshenska/A. Myers: An Introduction to Arachaeologies of Internment, S. 10. 162 Keupp, Heiner u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek 22002, S. 189. 163 I. Götz: Deutsche Identitäten, S. 69-70. 164 Jensen, Sune Qvotrup: Othering, identity formation and agency. In: Qualitative Studies 2 (2011), H. 2, S. 63-78.

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tionen,165 Interaktionen und Konflikte. Die Contact Zone bildet ein Aushandlungsfeld für Identitäten, eine Arena für Identitätsprozesse, die nicht nur situative Relevanz, sondern auch über einen längeren Zeitraum hinweg transformatorisches Potenzial besitzen. Das zeigt sich auch in der Rückschau, wenn die Internierten mit großer zeitlicher Distanz von mehreren Jahrzehnten über ihre Erlebnisse reflektieren.

E INORDNUNG DER ARBEIT Indem die vorliegende Studie am Beispiel der kanadischen Internierung deutscher Seeleute kulturanthropologische Perspektiven auf Gefangenschaft und Internierung entwickelt, leistet sie einen Beitrag zur Erforschung historischer Alltagskultur des Krieges. Sie lässt sich daher einerseits in das während der letzten Jahre stark angewachsene Forschungsfeld einer »Kriegsvolkskunde«166 einordnen. Andererseits berührt sie aber auch Problemfelder, die in verschiedenen inter- und transdisziplinären Forschungskontexten verhandelt werden; neben den Cultural Memory Studies167 sowie den Canadian Studies168 sind hier besonders die seit Kurzem unter dieser Selbstbezeichnung firmierenden POW Cultural Studies zu nennen.169 Letztere rücken bei-

165 Vgl. Schwibbe, Gudrun: Erzählungen vom Anderssein. Linksterrorismus und Alterität. Münster u.a. 2013. 166 G. Korff: Vorwort. Besonders in den letzten Jahren ist im institutionellen Zusammenhang mit dem Tübinger Sonderforschungsbereich 437 Kriegserfahrungen eine Reihe von volkskundlichen Studien aus diesem Themenfeld erschienen. Eine Übersicht gibt Lipp, Carola: Perspektiven der historischen Forschung und Probleme der kulturhistorischen Hermeneutik. In: Hess, Sabine/Moser, Johannes/Schwertl, Maria (Hg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin 2013, S. 205-246, hier S. 229. 167 Vgl. Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Cultural memory studies. An international and interdisciplinary handbook. Berlin 2008. 168 Die Betrachtung des Aufenthaltsstaates Kanada im Rahmen der Arbeit ergibt sich zwangsläufig aus einer konsequenten Perspektivierung der Internierung als Contact Zone. Dementsprechend wurden Teilergebnisse dieser Arbeit auch in einem kanadistischen Forschungskontext diskutiert und publiziert: Kestler, Judith: »Travel only when you must«. Remembering the Internment of German Merchant Seaman in Canada during World War II. In: Bruti-Liberati, Luigi (Hg.): Interpreting Canada: New Perspectives from Europe/ Interpréter le Canada: Nouvelles Perspectives du côté de l’Europe. Brno 2012, S. 97-111. 169 Diese Bezeichnung taucht meines Wissens erstmals in einem Sammelband aus dem Jahr 2012 auf: Carr, Gilly/Mytum, Harold: The Importance of Creativity Behind Barbed Wire. Setting a Research Agenda. In: Dies. (Hg.): Cultural heritage and prisoners of war. Creativity behind Barbed Wire. New York u.a. 2012, S. 1-15, hier S. 1. Auch abseits der Kriegsgefangenenforschung scheinen sich Untersuchungen zu Einsperrungskontexten derzeit stärker interdisziplinär und international zu vernetzen und die »gemeinsame analytische Betrachtung« von »Orten der Einsperrung« voranzutreiben. Vgl. hierzu auch das Programm einer internationalen Konferenz über »Praktiken, Akteure und Räume der Einsperrung. Zirkulationen und Transfers« im Dezember 2011 in Berlin. Online unter http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=17652.

Z UGÄNGE

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spielsweise mit der Untersuchung von Alltagspraktiken und Bewältigungsstrategien sowie der materiellen Seite von Internierung Aspekte ins Zentrum, die auch in der vorliegenden Arbeit betrachtet werden.170 Nicht zuletzt jedoch schließt die Arbeit eine Lücke, die vor allem die ehemaligen Internierten selbst thematisieren: Da die Kriegserfahrung des seemännischen Berufsstandes in beiden Weltkriegen bislang von der Forschung nicht wahrgenommen wurde, stammen diesbezügliche Publikationen bislang hauptsächlich aus den eigenen Reihen der ehemaligen Internierten. Dies korrespondiert mit der gängigen Selbstzuschreibung von Frachtschiffsbesatzungen, traditionell eine Gruppe ›ohne Lobby‹ zu sein. Für den ehemaligen Kapitän Rudolf Becker beispielsweise war dies der Hauptbeweggrund, seinen Nachlass mit einem umfangreichen Briefkonvolut aus der Internierung noch zu Lebzeiten dem Archiv des Deutschen Schiffahrtsmuseums in Bremerhaven zu übergeben. Er verband damit die Hoffnung, dass diese Dokumente eines Tages als Quelle für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Internierung deutscher Seeleute von Nutzen sein könnten.171

AUFBAU

DER

ARBEIT

Im Mittelpunkt des folgenden zweiten Kapitels steht zunächst die Beschreibung der verwendeten Quellen und Methoden. Neben dem jeweiligen Quellenwert werden hier auch die Entstehungskontexte reflektiert und diskutiert. Das dritte Kapitel dient der historischen Kontextualisierung der Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen während des Zweiten Weltkriegs. Dabei geht es sowohl um das soziale Profil der untersuchten Akteursgruppe als auch um Gründe und Umstände der Gefangennahme sowie den völkerrechtlichen Status der Internierten. Der Hauptteil der Studie ist in vier Abschnitte gegliedert. Um zu zeigen, wie in der kanadischen Internierung eine temporäre Kontaktzone entstand, befasst sich das vierte Kapitel mit den konkreten Internierungsbedingungen sowie den Aktivitäten der humanitären Helfer in den kanadischen Lagern. Darauf aufbauend werden im fünften bis siebten Kapitel einzelne Aspekte dieser Kontaktzone unter den oben dargestellten Blickwinkeln Raum, Zeit und Identität untersucht. Das fünfte Kapitel stellt zunächst räumliche Praktiken und Strategien innerhalb des Lagers in den Mittelpunkt und geht vor allem der Frage nach, wie sie innerhalb des geteilten Erfahrungsraums von Internierten und Bewachern aufeinander bezogen und miteinander verflochten waren. Anschließend wird der Zaun als Grenze zwischen Innen und Außen und als Materialisierung von Einsperrung und Überwachung betrachtet. In diesem Zusammenhang geht es besonders um die Frage, welche Rolle die Zone um den Zaun in den All-

170 G. Carr: Engraving and Embroidering, S. 143. Siehe dazu auch den Band von Carr, Gilly/ Mytum, Harold (Hg.): Cultural heritage and prisoners of war. Creativity behind Barbed Wire. New York u.a. 2012. Auch die Studie der Anthropologin Jane Dusselier zur Internierung japanischstämmiger Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs lässt sich in dieses Forschungsfeld einordnen: J. Dusselier: Artifacts of Loss. 171 So die Auskunft der seinerzeit mit der Übernahme befassten Wissenschaftlerin Dr. Ursula Feldkamp am Deutschen Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven. E-Mail vom 11. Juni 2012.

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tagspraktiken der Internierten und der Wachen spielte und welche Bedeutungszuschreibungen damit verbunden waren. Die Beschäftigung mit Räumen jenseits des Zaunes bildet den Abschluss dieses Kapitels. Hier werden Kontexte der Raumerfahrung analysiert und zu Narrationen in Beziehung gesetzt, die verschiedene Aspekte von Raumerfahrung repräsentieren und dadurch verschiedene Räume konstituieren. Das sechste Kapitel untersucht die Entwicklung zeitbezogener Bewältigungs- und Kompensationsstrategien durch die Internierten und geht dabei auch der Frage nach, inwiefern die Internierung von den Betroffenen als Zeitstrukturkrise erlebt wurde. Am Beispiel des roll call, der täglich mehrmals erfolgenden Zählung der Gefangenen, werden zeitbezogene Konflikte zwischen den Internierten und der Gewahrsamsmacht analysiert, bevor abschließend die Frage nach der Konstitution von Deutungen der Internierungsjahre als lebenszeitliches Ereignis im Mittelpunkt steht. Das siebte Kapitel schließlich konzentriert sich auf das Spannungsfeld zwischen Identität und Alterität im Kontext der Internierung. Exemplarische Konstruktionen kultureller Differenz zwischen den Internierten und der kanadischen Öffentlichkeit werden in Beziehung gesetzt zu Praktiken des Othering und dem strategischen Einsatz von Identitäten. Anschließend wird die Rolle unterschiedlicher Wir-Gruppierungen für die Konstruktion kollektiver Identitäten und ihre Auswirkungen auf die Internierung untersucht. Dabei geht es vor allem um konfliktträchtige Konstellationen. Überlegungen zum transformatorischen Potenzial von Internierung für das »Identitätsgefüge«172 der Internierten bilden den Abschluss dieses Kapitels. An Beispielen aus Interviews mit ehemaligen Internierten lässt sich zeigen, wie die Internierungserfahrung in Interviews mit eigenen Identitätsentwürfen verknüpft wird. Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung gebündelt und kontextualisiert, wobei besonders die Implikationen des multiperspektivischen Ansatzes und des theoretischen Zugangs kritisch reflektiert werden.

172 I. Götz: Deutsche Identitäten, S. 78.

2. Quellen und Methoden

ARCHIVALISCHE Q UELLEN Die Quellen, auf denen die vorliegende Studie basiert, spiegeln eine Vielfalt von Perspektiven auf Internierung wider. Neben amtlichen und privaten Briefen wurden publizierte und unveröffentlichte autobiografische Texte, offizielle Besuchsberichte, amtliche Lager- und Kriegstagebücher, Fotografien, Zeichnungen und Interviews mit ehemaligen Internierten ausgewertet. Ihre unterschiedlichen Entstehungskontexte kommen in der starken formalen Heterogenität innerhalb des Quellenkorpus zum Ausdruck und müssen bei der Analyse berücksichtigt werden.1 Der Diagnose von Nikolaus Buschmann und Horst Carl zufolge entsteht während des Krieges ein »gesteigertes Informations- und Kommunikationsbedürfnis«.2 Die aus dieser Beobachtung resultierende Auffassung von Krieg als Auslöser »eines komplexen Kommunikationsprozesses«3 lässt sich auch anhand der Internierung deutscher Seeleute während des Zweiten Weltkriegs nachvollziehen: Internierung als eine Form »autoritativer Herrschaft mittels Territorialkontrolle«4 benötigt neben der physisch-materiellen Einschließung der Insassen auch die Erhebung und Speicherung von Informationen über die Internierten. Dabei sind, wie Benno Werlen argumentiert, »Listen und Schrift […] die zentralen Mittel zur Ausdehnung der Reichweite autoritativer Ressourcen«5. In den hier untersuchten Internierungslagern des Zweiten Weltkriegs wurden die Insassen immer wieder gezählt, beobachtet und nach bestimmten Kriterien erfasst. Zahlreiche Facetten des Alltags wurden von verschiedenen Akteuren zu unterschiedlichen Zwecken und in unterschiedlicher Form protokolliert. Verfasser solcher Dokumente waren nicht nur die Herrschenden und Kontrollierenden,

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Vgl. Göttsch, Silke: Archivalische Quellen und die Möglichkeiten ihrer Auswertung. In: Dies./Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der europäischen Ethnologie. 2., überarb. u. erw. Auflage. Berlin 2007, S. 15-32, hier S. 25. Buschmann, Nikolaus/Carl, Horst: Zugänge zur Erfahrungsgeschichte des Krieges. In: Dies. (Hg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn 2001, S. 11-26, hier S. 21. Ebd. B. Werlen: Globalisierung, Region und Regionalisierung, S. 327. Ebd.

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sondern auch die Internierten selbst. Daneben bilden die für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz oder die Young Men’s Christian Association (YMCA) tätigen externen Beobachter eine dritte Partei, zusammen mit den diplomatischen Vertretern der Schweiz, die als Schutzmacht Deutschlands fungierte. All diese Akteure agierten und kommunizierten innerhalb ihres jeweiligen institutionellen Rahmens und entsprechend der situativen Bedingungen, die maßgeblich durch den Krieg beeinflusst waren. Die auf den ersten Blick unübersichtlich wirkende Überlieferungslage ist durch strukturell vorgegebene Kommunikationswege zu erklären, die in einigen Fällen zu Parallel- bzw. Doppelüberlieferung führten.6 Manche der Schriftstücke zogen Vorgänge nach sich, die wiederum zum Teil in anderen Akten nachvollzogen oder weiterverfolgt werden können. Andere dienten der bloßen Sicherung von Daten. Die allermeisten verweisen auf Verwaltungsabläufe, auf die Dokumentation und Kommunikation administrativ relevanter Informationen, kurz: auf Wissensmanagement im Kontext der Internierung deutscher Seeleute. Entsprechend ihrer Entstehung werden die ausgewerteten Akten heute in verschiedenen Archiven verwahrt. Verwaltungsschriftgut wurde in den Beständen des Bundesarchiv-Militärarchivs in Freiburg im Breisgau (BArch-MA),7 des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin (PA AA), des Archivs des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf (ACICR), des schweizerischen Bundesarchivs in Bern (BAR) sowie der Library and Archives Canada in Ottawa (LAC) erhoben und ausgewertet. Besonders aufschlussreich waren dabei Quellen aus kanadischen Institutionen und Behörden, Dokumente aus der Arbeit der Hilfsorganisationen bzw. die Korrespondenz zwischen den Hilfsorganisationen und den Regierungen des Herkunfts- und des Aufenthaltsstaates, Quellen der Schutzmachtvertretung sowie Akten der deutschen Seekriegsleitung. Diese Art von Schriftgut ist bislang kaum für volkskundlich-kulturanthropologische Fragestellungen herangezogen worden.8 Aussage-

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So ist beispielsweise die Schnittmenge zwischen Akten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA) und den Akten des Comité International de la Croix-Rouge (CICR) oder der YMCA recht hoch. Obwohl die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Seeleute Zivilisten waren, standen sie zumindest zeitweise im Fokus der deutschen Seekriegsleitung. Deshalb wurden als Quellen eine Reihe relevanter Akten über die deutsche Handelsschifffahrt vor und nach Kriegsbeginn aus dem Freiburger Bundesarchiv-Militärarchiv herangezogen. Neben dem Bestand RM 7 (Seekriegsleitung) wurde auch der Bestand RM 12 II (Marineattachés, 1933 bis 1945) ausgewertet. In beiden Aktenbeständen ist das Interesse der militärischen Führung an der Handelsschifffahrt und an den Schiffsbewegungen im Kriegsfall spätestens ab 1938 greifbar. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden Handelsschiffsangelegenheiten im Kriegstagebuch der Seekriegsleitung mit erfasst, da Handelsschiffe prinzipiell auch zu militärischen Zwecken herangezogen werden konnten. Vgl. hierzu auch Kuckuk, Peter: Die Ostasienschnelldampfer SCHARNHORST, POTSDAM und GNEISENAU des Norddeutschen Lloyd. Ein Beitrag zur Schiffbau- und Schiffahrtsgeschichte des Dritten Reichs. Bremen 2005, S. 226. Im Zusammenhang mit bewährten Zugängen archivalischer Forschung in der Volkskunde nennt Silke Göttsch vier Quellengattungen, nämlich Gerichtsprotokolle, Inventare und Nachlassverzeichnisse, Visitationsprotokolle sowie Ego-Dokumente: S. Göttsch: Archiva-

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kräftiger aber als die Klassifikation der Quellen entlang dieser Kategorien ist es, den Status der jeweiligen Quelle zur Zeit ihrer Entstehung zu klären, wie Silke Göttsch vorschlägt.9 Dies bedeutet vor allem, sich die Bedingungen der Wissensproduktion und des Wissensmanagements im untersuchten Kontext zu vergegenwärtigen: Um welche Art von Information geht es? In welchem Kontext wurde sie erfasst? Was waren die Beweggründe dafür? Welche (institutionell oder persönlich bedingte) Perspektive nahm der Verfasser dabei ein? Welcher Adressat sollte angesprochen werden? Welchen Weg nahm die erfasste Information weiterhin? Wer hatte Zugang zu ihr? Hatte sie konkrete Auswirkungen und wenn ja, welche? Kommandanten und Zensoren: Interne Beobachter Die umfangreiche behördliche Korrespondenz, die auf kanadischer Seite durch den Unterhalt und die Verwaltung der Internierungslager anfiel, ist im kanadischen Nationalarchiv in Ottawa nachzuvollziehen. Sie spiegelt die »countless bureaucratic headaches«10 wider, die der Aufenthalt von Internierten und Kriegsgefangenen in kanadischen Lagern nach Einschätzung des Historikers Don Page für die dortigen Behörden verursacht hat. Verantwortlich für die Verwaltung, die Unterbringung und die Sicherheit der Kriegsgefangenen und Internierten war das Directorate of Internment Operations im Department of National Defence, später umbenannt in Directorate of Prisoners of War.11 Die entsprechenden Archivbestände des Department of National Defence sind heute unter der Signaturengruppe RG 24 einzusehen. Neben den so genannten War Diaries enthalten diese Akten Berichte des Zensors (Intelligence Reports), Beschwerdebriefe, Korrespondenz der Hilfsorganisationen mit den Gefangenen, Listen, Pläne sowie Camp Standing Orders. Die Bandbreite der Unterlagen reicht also von dokumentarisch-berichtenden Quellen über normative Texte bis hin zu argumentierenden und quantifizierenden Darstellungen. Besonders aufschlussreich für das tägliche Leben in den Internierungslagern sind die War Diaries, die in allen Lagern geführt werden mussten. In der Regel war dafür der Camp Adjutant oder ein anderer Mitarbeiter des Kommandanten zuständig. In zwei Spalten wurden das jeweilige Datum und einige Stichworte zum jeweiligen Tag notiert; in der dritten und letzten Spalte zeichnete der Kommandant den Eintrag ab. Durch die Verwendung einheitlicher Vordrucke in allen Lagern wirken die Lagertagebücher äußerlich zunächst homogen, doch Inhalt, Genauigkeit und Stil können im

lische Quellen, S. 20-21. Im Sinne der Einteilung von Johann Gustav Droysen und Ernst Bernheim wären die in der vorliegenden Arbeit benutzten Akten überwiegend als sogenannte Überreste zu bezeichnen. Vgl. hierzu die ausführliche Diskussion dieser und anderer Quelleneinteilungen bei Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Stuttgart 162003, S. 52-64. 9 S. Göttsch: Archivalische Quellen, S. 25. 10 Page, Don: Tommy Stone and Psychological Warfare in World War Two. Transforming a POW Liability into an Asset. In: Journal of Canadian Studies 16 (1981), H. 3-4, S. 110120, hier S. 110. 11 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24.

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Einzelnen sehr unterschiedlich ausfallen. In manchen Journalen besteht ein Eintrag nur aus den aktuellen Wetterdaten und der momentanen Belegungsstärke des Lagers, in anderen wird ausführlicher über die gerade anfallenden Tätigkeiten, aktuelle Ereignisse und die Stimmung im Lager berichtet, je nachdem, was der jeweilige Protokollant für bemerkenswert hielt.12 Als Beispiel für einen vergleichsweise knappen Eintrag mag hier eine Notiz aus dem War Diary des Lagers Petawawa vom 20. August 1942 dienen: »Temp. High 92 - Low 54 degrees. Fine and Warm. Usual working parties. 2nd Lieut. Stuart reported for duty as interpreter. Engineers preparing to erect new power house. P/W count 751 - 2 in Petawawa Hospital.«13 In diesem Zitat zeigt sich auch ein typisches terminologisches Problem: Quellen aus dem Umfeld der kanadischen Regierung unterscheiden oft nicht zwischen den Bezeichnungen »internee« und »POW« bzw. »P/W« oder »PW« für »Prisoner of War«, obwohl mit diesen Begriffen durchaus unterschiedliche Gruppen gemeint sein konnten.14 Im Anhang der Lagertagebücher sind üblicherweise die sogenannten Camp Standing Orders enthalten, also die Anordnungen und Befehle, die innerhalb des Lagers dauerhaft galten und zusammengenommen eine Art ›Betriebsordnung‹ des Lagers darstellten. Während die War Diaries punktuelle Einblicke in das tägliche Geschehen in den Lagern ermöglichen, sind die Camp Standing Orders normative Texte, die idealtypische Abläufe und Verhaltensregeln vorschreiben. Neben vielen anderen Aspekten des Lagerlebens ist in den Camp Standing Orders auch die Umsetzung der durch die Genfer Konvention von 192915 vorgegebenen völkerrechtlichen Rahmenbedingungen der Internierung durch die Gewahrsamsmacht niedergelegt. Ebenfalls im Lager entstanden die Intelligence Reports, die Berichte des Zensors. Die Zensoren waren Übersetzer und Dolmetscher, die als Zivilisten in den Lagern arbeiteten und in diesem Rahmen sowohl Übersetzungsaufgaben für den Kommandanten übernahmen als auch die Post lasen, übersetzten und zensierten.16 Außerdem erhielten sie von den Wachen, die innerhalb des Lagers als Scouts fungierten, Informationen über Vorgänge im Lager und glichen diese Informationen mit der ausgehenden Post ab. Die von den Zensoren verfassten Berichte wurden an den Director of Prisoners of War sowie an das War Office und an das Home Office weitergeleitet.17

12 Zum Themenspektrum können Krankheits- oder Todesfälle unter den Internierten, Feiertage, Arbeitseinsätze, Besuche von Hilfsorganisationen im Lager, Verlegungen, Ankünfte, Abreisen, Bauarbeiten im Lager oder auch größere sportliche oder kulturelle Aktivitäten der Internierten gehören. 13 War Diary Camp Sherbrooke (N/42) = War Diary Camp Fort Henry (F/31). Vol. 34 der Akte enthält Einträge aus dem Lager Petawawa. In: LAC, RG 24, 15394. 14 Zu diesem unklaren Sprachgebrauch siehe auch S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 4. 15 Convention conclue à Genève le 27 juillet 1929 et relative au traitement des prisonniers de guerre. In: Les Conventions de Genève. Genf 1949, S. 20-59. 16 Das es nicht leicht war, geeignetes Personal für die Posten der Zensoren zu finden, geht aus dem Abschlussbericht über die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen und Internierten in Kanada hervor, Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 25. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 17 LAC, RG 24, 11250, File 10-2-3-31.

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Im Februar 1942 wies der Director of Naval Intelligence im kanadischen Verteidigungsministerium den mit der Internierung von Deutschen befassten Lieutenant Colonel H.N. Streight darauf hin, dass seine Abteilung ein besonderes Interesse an Informationen habe, die sich aus der Korrespondenz gefangener Marine- bzw. internierter Handelsmarineangehöriger entnehmen ließen.18 Grundsätzlich bezog sich das kanadische Interesse an Gefangenenbriefen auf verschiedene Aspekte: Einerseits war man an jeglichen Informationen über die Lage in Deutschland interessiert, die einen strategischen Wert besitzen konnten, besonders an Kommentaren zum bisherigen und weiterhin erwarteten Kriegsverlauf in der aus Deutschland eingetroffenen Post. Dabei wurde auch die Arbeitsweise der deutschen Zensoren genau unter die Lupe genommen; in den Intelligence Reports notierten die kanadischen Zensoren Bemerkungen über Kommentare, Nummern oder Zeichen, die die deutsche Zensur in den Briefen hinterlassen hatte.19 Andererseits sollte die Zensur der ausgehenden Post die Kontrolle der deutschen Internierten vor Ort optimieren. Unter anderem half die aus Briefen gewonnene Information dabei, die Lagerinsassen hinsichtlich ihrer Weltanschauung und politischen Überzeugung differenzierter einzuschätzen. Aus den Intelligence Reports geht das Ziel der kanadischen Zensur hervor, bestehende Machtverhältnisse und Fraktionierungen sowie potenzielle Konfliktfelder kennenzulernen, um dadurch politisch motivierten Auseinandersetzungen innerhalb eines Lagers vorzubeugen. Auf Basis der Briefe versuchten die Wachen, den unerwünschten Einfluss bestimmter Gruppen auf die Lagerbelegschaft frühzeitig zu erkennen und, wenn möglich, einzudämmen.20 Kam es doch zu Auseinandersetzungen, so sollte das aus der Post gewonnene Wissen den Wachen die Separierung der Internierten nach weltanschaulichen Fraktionen erleichtern und eine schnelle Auflösung des Konflikts ermöglichen. Konsuln und Delegierte: Externe Beobachter Im Rahmen seiner humanitären Hilfe für Kriegsgefangene entsandte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (Comité International de la Croix-Rouge, CICR) regelmäßig Delegierte in Internierungs- und Gefangenenlager.21 Nach eigener Auffassung und nach der vieler Krieg führender Staaten war das CICR »the agency best qualified to collect information on the prisonersʼ conditions of employment, as on their living conditions«22. Als Begründung für diese Einschätzung und um sich zu-

18 Schreiben des Director of Naval Intelligence, Department of National Defence, an Lieutenant Col. H.N. Streight, Internment Operations, vom 16. Februar 1942. LAC, RG 24, 11249, File 10-2-1. 19 Vgl. hierzu etwa LAC, RG 24, 11250, File 10-2-3-23. Daneben übernahmen die Intelligence Reports auch die in Briefen aus Deutschland erwähnten Zahlen bezüglich der bei Kampfhandlungen getöteten oder verwundeten Soldaten, Bemerkungen über Gefangenenlager in Deutschland, über die Ernährungslage oder über Bombardierungen deutscher Städte, zum Teil mit Zitaten aus den entsprechenden Briefen belegt. 20 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 3. 21 Ausführlich zur Kriegsgefangenenhilfe des CICR vgl. Kapitel 4, S. 167-170. 22 The Condition of Employment of Prisoners of War. In: International Labour Review 47 (1943), H. 2, S. 169-196, hier S. 176.

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gleich von der Arbeit der Schutzmacht abzugrenzen, führte das CICR selbst seine Neutralität und Unabhängigkeit ins Feld. Diese wurde jedoch von deutscher Seite mitunter infrage gestellt: Die Delegierten könnten nicht völlig neutral sein, da sie als Auslandsschweizer in engem und keineswegs unabhängigen Verhältnis zum Aufenthaltsstaat stünden.23 Eine Quellenkritik der Berichte aus der Feder der CICRDelegierten muss sich deshalb unter anderem mit der Frage auseinandersetzen, ob die postulierte Neutralität auch in den Dokumenten bzw. in dem Begutachtungsvorgang zutage tritt, der der Dokumentation vorausging. Die Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz überprüften in den Lagern die Einhaltung der Genfer Konvention. Sie mussten ihren Besuch anmelden und hielten sich üblicherweise etwa einen knappen Tag im Lager auf.24 Im Anschluss an das obligatorische Gespräch mit dem Lagerkommandanten ließen sie sich die von den Insassen genutzten Gebäude und Räumlichkeiten zeigen. Danach durften sie in der Regel ohne Zeugen mit dem Vertrauensmann der Gefangenen und mit dem Leiter des Lagerkrankenhauses sowie auch mit dem gegebenenfalls vorhandenen Geistlichen sprechen.25 Abschließend folgte eine Unterredung mit dem Lagerkommandanten oder dessen Vertreter, bei der etwaige Probleme sofort besprochen wer-

23 Diese Vorwürfe bezogen sich insbesondere auf den CICR-Delegierten Ernest L. Maag, zeitigten jedoch keine Reaktion seitens des CICR. Vgl. Wylie, Neville: Das »Internationale Komitee vom Roten Kreuz« und die Kriegsgefangenen. In: Bischof, Günter/Karner, Stefan/ Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Zehn Jahre Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Wien/München 2005, S. 249-266, hier S. 261. 24 Dies lässt sich aus den Einträgen in den Lagertagebüchern rekonstruieren, in denen oft Beginn und Ende solcher Besuche mit Uhrzeiten vermerkt wurden, zum Beispiel am 11. September 1943 im War Diary von Camp 33 (Petawawa), Folder 2, Vol. 47: »Mr. L. Magg [sic] International Red Cross arrived in camp 0630 hrs., visited Ps.O.W. in enclosure and departed at 1430 hrs., for Ottawa.« LAC, RG 24, 15396. Die Voranmeldung des Besuchs hatte für die Helfer einige Vorteile, die im Vergleich zu unangekündigten Kontrollbesuchen überwogen: Der Delegierte konnte davon ausgehen, alle wichtigen Gesprächspartner im Lager anzutreffen und gab ihnen durch die rechtzeitige Ankündigung die Chance, sich gezielt auf das Treffen vorzubereiten. Siehe auch Böhme, Kurt: Die Berichte der IKRKDelegierten über ihre Lagerbesuche. In: Maschke, Erich (Hg.): Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs. Eine Zusammenfassung. München 1974, S. 85-101, hier S. 94. 25 Im Rahmen solcher Besuche fanden auch Gespräche mit einzelnen Internierten statt; die Erlaubnis, diese Unterredungen ohne Zeugen zu führen, musste vom Director of Internment Operations, dem Leiter der zuständigen kanadischen Behörde, erteilt werden. Im Mai 1941 erging eine solche Erlaubnis an den Delegierten des CICR, Ernest L. Maag. Dies geht aus einem Schreiben von Col. Stethem, Director of Internment Operations, an das Department of External Affairs vom 27. Mai 1941 hervor. In diesem Schreiben wird die Erlaubnis als »matter of grace« bezeichnet, was deutlich macht, dass die Delegierten kein prinzipielles Anrecht darauf hatten. LAC, RG 24, 11248, File 9-5-1, Vol. 1.

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den konnten.26 Der Delegierte »could thus carry away from his visits a complete picture: equipment of the camp, discipline, relations between the authorities and the men, etc.«27. Nach jedem Lagerbesuch erstellten die CICR-Delegierten einen Bericht, dessen Schwerpunkt auf den Internierungsbedingungen, auf eventuellen Problemen und Beschwerden der Lagerinsassen und auf den wichtigsten Ergebnissen der Gespräche lag.28 Wenn die Berichte der CICR-Delegierten im Vergleich etwa zu denen der YMCA-Sekretäre eher schematisch und hölzern wirken, liegt es daran, dass die Verfasser nach einem festgelegten Fragenkatalog vorgingen. Dieser war »ein Spiegelbild des Genfer Kriegsgefangenenabkommens von 1929«29 und sollte, wie Kurt Böhme betont, nicht nur zur Systematisierung und Vereinheitlichung der Berichte beitragen, sondern auch sicherstellen, dass den Delegierten nichts Wichtiges entging: »Der Leitfaden war […] zugeschnitten auf die Berichterstattung der Delegierten. Er fächerte die Bestimmungen auf und machte sie dadurch durchsichtiger, vor allem, indem er an den Delegierten Fragen stellte, so daß kaum etwas übersehen werden konnte, wenn man sich um die Antworten hierauf bemühte.«30 Dieser Bericht bildete eine wichtige Entscheidungs- und Handlungsgrundlage für Hilfeleistungen und musste daher sehr detailliert sein. Er gliederte sich in eine allgemeine Beschreibung des Lagers einschließlich der Schlaf- und Aufenthaltsräume sowie Beobachtungen zu Verpflegung, Kleidung, Hygiene und medizinischer Betreuung, zu religiösen Angeboten sowie Sport- und Freizeitaktivitäten, zu Arbeit und finanzieller Versorgung der Gefangenen, zur Lagerkantine (einschließlich Warenangebot und Preisliste), zum Postverkehr und zu etwaigen eingegangenen Hilfslieferungen sowie zur Disziplin der Insassen, beispielsweise zu Fluchtversuchen. Eine Zusammenfassung der seitens der Internierten vorgebrachten Beschwerden sowie der Gesprächsthemen in den Unterredungen mit dem Lagerkommandanten schloss den Bericht ab.31 Die fertigen Berichte wurden nach Genf zum Hauptsitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz gesandt, in dessen Archiv sie heute aufbewahrt werden.32 Erst dann wurden sie an die beteiligten Regierungen weitergeleitet, denn das CICR »wollte und mußte als erstes informiert sein, um etwaige Rückfragen der Regierungen beantworten zu können […]. Ohne erst die Reaktion der Regierungen abzuwarten, sorgte Genf jedoch dafür, daß die Bitten um Hilfeleistungen für die Kriegsgefan-

26 Bugnion, François: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre. Genf 1994, S. 204. 27 XVIIth International Red Cross Conference (Hg.): Report of the International Committee of the Red Cross on its activities during the Second World War (September 1, 1939 - June 30, 1947). Volume I: General Activities. Genf 1948, S. 232. 28 F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge, S. 204. 29 K. Böhme: Die Berichte der IKRK-Delegierten, S. 94-95. 30 Ebd., S. 95. 31 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 233-238. 32 ACICR, Signaturengruppe C SC, Canada. Einen guten Überblick über die Bestände des Archivs gibt Daniel Palmieri: Archives d’une institution humanitaire en guerre: le Comité international de la Croix-Rouge (CICR). In: Pathé, Anne-Marie/Théofilakis, Fabien (Hg.): La captivité de guerre au XXe siècle. Des archives, des histoires, des mémoires. Paris 2012, S. 41-43.

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genen […] in Gang gesetzt wurden, soweit hierfür Gelder und Transportmittel vorhanden waren.«33 Das Vorgehen, die Berichte in identischen Ausfertigungen gleichzeitig an beide beteiligten Regierungen zu schicken, unterschied das CICR von der Schutzmachtvertretung, die nur nach Deutschland berichtete.34 Der CICR-Delegierte »was able to follow closely the progress of any steps taken and, according to their importance, to arrange to return to the camp concerned within a short time«35. Die Mitarbeiter des CICR verteidigten dieses Verfahren vehement gegen Versuche der Einflussnahme von außen. So erteilte der Delegierte Ernest L. Maag dem kanadischen Vorschlag, doch eine Entwurfsfassung des Berichts an die Abteilung Internment Operations zu senden, eine klare Absage, indem er auf die Neutralität als unumstößliches Prinzip seiner Arbeit verwies: »[…] this request cannot be acceded to on my part with a clear conscience. Such a procedure would inevitably have the result that my reports would be written under duress and would no longer be the representative opinion of a truly neutral observer.«36 Maag bot an, wie bisher zeitgleich mit dem Versand des Berichts nach Genf eine Kopie an Internment Operations zu senden, betonte jedoch mit Nachdruck: »this would have to be regarded as a courtesy copy, giving your Department an opportunity to check into conditions criticized or requests made by the prisoners before an official protest or request has to be made«37. Erich Maschke zufolge war es jedoch auch ohne Eingriffe von außen bei der Verschriftlichung der Beobachtungen »nicht zu vermeiden, daß in den endgültigen, der Gewahrsamsmacht und dem Herkunftsland der Kriegsgefangenen zugeleiteten Berichten […] gewisse Rücksichtnahmen geübt und gewisse Umformulierungen vorgenommen worden waren«38. Das Problem, »daß ihre Verfasser von außen her und jeweils nur für kurze Zeit an ihr Objekt herantreten konnten«,39 haben die CICR-Berichte mit denjenigen anderer

33 K. Böhme: Die Berichte der IKRK-Delegierten, S. 98. 34 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 238; wichtig war dabei die Frage der Berichtssprache: »An exception of a slightly different kind, but which also did the PW a service, was allowed, on the request of the German Government. Reports sent to that country in French were translated into German in Berlin by the Ministry of Foreign Affairs. Towards the end of the war, there was a shortage of staff in the Berlin offices, and the Ministry proposed to the ICRC to have the reports for Germany done at Geneva by a translator supplied by the German Consulate. Later on, the ICRC itself did part of the translations; the French text was however always attached to the translated version, identical with that forwarded to the adverse Power, and the only one which was authentic.« Ebd., S. 239. Ein weiterer Unterschied zwischen den Berichten der Schutzmachtvertreter und denen des CICR lag darin, dass Ersteren von deutscher Seite ein höherer Stellenwert beigemessen wurde. N. Wylie: »Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz«, S. 255. 35 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 242. 36 Aus einem Schreiben Maags an das Department of the Secretary of State, Internment Operations, Ottawa. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4. 37 Ebd. 38 Maschke, Erich: Quellen und Methoden. In: Ders. (Hg.): Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs. Eine Zusammenfassung. München 1974, S. 39-59, hier S. 52. 39 Ebd.

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Organisationen gemeinsam. Auch die kanadischen Sekretäre der YMCA, die sich als Repräsentanten der War Prisoners’ Aid of the World’s Alliance der YMCA in der Kriegsgefangenenhilfe engagierten,40 konnten meist nur wenige Stunden in den Lagern verbringen. Dr. Jerome Davis, der als Vertreter des YMCA zahlreiche kanadische Internierungslager besuchte, äußerte sich im November 1941 bedauernd über diese Beschränkung: »One gets to know the men so well that in spite of differences in political outlook, one feels that they are close friends. I get almost as interested in planning the educational and other activities in camp as though I were confined there myself. In fact, sometimes one wishes he could be stationed in one camp alone so that he might come to know all the men in the camp more intimately.«41 Fast in der Art eines going native zeigt Davis hier seine starke persönliche Identifikation mit den Internierten, verbunden mit dem Wunsch, mehr Zeit mit ihnen verbringen zu können. Auch Berichte anderer YMCA-Sekretäre spiegeln diese rege Anteilnahme am Leben in den Lagern wider. Anders als die Delegierten des CICR waren die YMCASekretäre nicht an einen Fragenkatalog gebunden und konnten deshalb ihre persönlichen Eindrücke beim Besuch eines Lagers sehr viel freier schildern, sodass die Berichte deutlich vom Stil und den Interessen des jeweiligen Berichterstatters geprägt sind. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass die YMCA-Sekretäre in Friedenszeiten ganz unterschiedlichen Berufen nachgingen; Hermann Boeschenstein beispielsweise, einer der aktivsten Lagerbesucher, hatte in Deutschland studiert und arbeitete seit 1930 am Department of German der University of Toronto.42 Im Unterschied zum CICR fertigte die YMCA Sammelberichte über mehrere besuchte Lager an.43 In diesen Texten gab der Sekretär nach einer Auflistung der im Berichtszeitraum besuchten Lager seine Beobachtungen zusammenfassend wieder. Meist wurden nur wenige Besonderheiten einzelner Lager erwähnt, die mit der Arbeit der YMCA in diesem Lager in Verbindung standen. Über Größe und andere Merkmale des Lagers wurde in einem Sammelbericht nur geschrieben, wenn dies in irgendeinem Zusammenhang zu der durch die YMCA geförderten Bildungsarbeit stand, beispielsweise wenn zu wenige Klassenzimmer vorhanden waren. Anders als die Schutzmachtvertreter durften die YMCA-Sekretäre auch nicht ohne Zeugen mit den Internierten sprechen. Aus diesen Berichten kann man zwar auf das generelle Vorhandensein bestimmter Phänomene schließen, nicht unbedingt aber darauf, in welchem Lager diese Beobachtungen gemacht wurden, es sei denn, ein Eintrag im Kriegstagebuch oder ein Schreiben zwischen dem Vertrauensmann und der YMCA thematisiert den betreffenden Sachverhalt ebenfalls.

40 Vgl. zur Struktur der YMCA und zu ihrem Engagement in der Kriegsgefangenenhilfe Kapitel 4, S. 170 ff. 41 Vertraulicher Bericht von Jerome Davis über die Arbeit der YMCA in den kanadischen Internierungslagern, November 1941. LAC, MG 28, I 95, 272, File 11. 42 1948 wurde er dort zum ordentlichen Professor ernannt. Zu Hermann Boeschenstein (19001982) siehe Froeschle, Hartmut: Hermann Boeschenstein in memoriam. In: Zeitschrift für Kanada-Studien 4 (1983), H. 1, S. 5-7; Gallati, Ernst: Hermann Boeschenstein. Eine Biographie. Bern u.a. 1995. 43 Beispielsweise in LAC, MG 28, I 95, 273, File 3.

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Die YMCA-Berichte unterscheiden sich nicht nur formal und inhaltlich, sondern auch hinsichtlich der Einflussnahme weiterer Akteure von denjenigen des CICR. Anders als die CICR-Delegierten sandten die YMCA-Sekretäre eine Entwurfsfassung des Berichts an das Directorate of Internment Operations in Ottawa. Dort trug man gegebenenfalls Änderungen ein, wenn es politisch opportun erschien, wie ein Schreiben von Colonel H.N. Streight, Commissioner of Internment Operations, an Jerome Davis vom 25. Juni 1942 zeigt: »I am returning draft of your report forwarded in your letter of June 20th. I have deleted one sentence on page 5, which I feel might create a bad impression with the United Kingdom authorities. […] Apart from these points, I have no objection to the report going forward in its present form.«44 Das Ziel der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe war allerdings nicht in erster Linie die Meldung von Missständen, sondern konkrete Hilfestellung für die Internierten. An den Berichten wird deutlich, dass die Besuche der YMCA-Sekretäre auch Raum für persönliche Begegnungen des jeweiligen Sekretärs mit den Internierten schaffen und so die Basis für vertrauensvolle Beziehungen bilden sollten; sie enthalten weniger ›harte‹ Fakten als die des CICR oder der Schutzmachtvertreter.45 Neben den CICR-Delegierten und den YMCA-Sekretären waren es die diplomatischen Vertreter der Schweiz, die als externe Beobachter Berichte verfassten. Seit Kriegsbeginn hatte die Schweiz im Rahmen ihrer ›guten Dienste‹ die Interessenvertretung für das Deutsche Reich übernommen.46 Dazu gehörte auch die Beobachtung der Verhältnisse in den Kriegsgefangenenlagern und nötigenfalls die Vermittlung im Interesse deutscher Internierter oder Kriegsgefangener, etwa wenn diese sich vor einem Zivilgericht des Gewahrsamsstaates verantworten mussten.47 Über ein Budget, das sie zugunsten der deutschen Kriegsgefangenen hätten verwenden können, verfügten die Schweizer Diplomaten nicht. Ihre Lagerbesuche konzentrierten sich daher auf die Berichterstattung und Meldung etwaiger Missstände und Auffälligkeiten an den Mandatsstaat. Normalerweise wählten die Schweizer Diplomaten selbst aus, welche Lager sie in welcher Reihenfolge besuchten, es sei denn, die deutsche Regierung oder

44 Schreiben des Commissioner of Internment Operations an den YMCA-Sekretär Jerome Davis vom 25. Juni 1942. In: LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 45 Alle YMCA-Lagerbesuchsberichte, die Kanada betreffen, sind im kanadischen Nationalarchiv in den Akten der kanadischen YMCA (Bestand MG 28) zugänglich. Einige wenige Berichte von YMCA-Sekretären sind auch im PA AA überliefert, teilweise in deutscher Übersetzung. PA AA, R 127.548. 46 ›Gute Dienste‹ ist ein völkerrechtlicher Fachbegriff, der das Engagement eines dritten Staates für Vermittlung und Schlichtung zwischen zwei Staaten bezeichnet. Dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg als Schutzmacht für Deutschland agierte, ist Teil der ›guten Dienste‹. Stamm, Konrad Walter: Die guten Dienste der Schweiz. Aktive Neutralitätspolitik zwischen Tradition, Diskussion und Integration. Bern/Frankfurt am Main 1974. 47 Das kam vor allen Dingen dann vor, wenn ein Internierter nach einem Fluchtversuch auf kanadischem Territorium eine Straftat begangen hatte. Einblick in die juristischen Schwierigkeiten eines solchen Falls gibt etwa das Gerichtsverfahren gegen August Kaehler und Otto Stolski, die auf der Flucht einen Truck gestohlen hatten. Vgl. BAR, E2200.15001#1000/219#5*.

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die Lagerinsassen selbst hatten um den Besuch eines bestimmten Lagers gebeten.48 Mit der behördlichen Erlaubnis des Gewahrsamsstaates konnte der Besuch (nach Voranmeldung) durchgeführt werden.49 Der nach London entsandte Schweizer Konsul William Preiswerk empfahl seinen kanadischen Kollegen im Herbst 1940, zu zweit in die Lager zu fahren.50 Neu eröffnete Lager sollten so bald wie möglich besucht und nach einem erstmaligen Besuch idealerweise mindestens alle acht Wochen begutachtet werden.51 Ähnlich wie bei den Lagerbesuchen der CICR-Delegierten eröffnete ein Gespräch mit dem Lagerkommandanten die Visite. Daran schloss sich der Rundgang durch das Lager an, in dessen Rahmen auch Insassen des Lagers zu Wort kamen, und zwar ohne Zeugen aus der kanadischen Lagerverwaltung, sodass für die Internierten keine Notwendigkeit bestand, bestimmte Sachverhalte mit Rücksicht auf die Wachen abgeschwächt darzustellen. Ob dabei der deutsche Vertrauensmann (spokesman) anwesend sein durfte, konnte der Konsulatsbeamte selbst entscheiden.52 In jedem Fall spielte der spokesman eine wichtige Rolle: »After tabling his points and complaints, if any, the spokesman was made to answer the questionnaire of 50 questions prepared for the guidance of the delegates of the Protecting Power on the basis of the Geneva Convention.«53 Aus verschiedenen Einträgen in Lagertagebüchern geht hervor, dass die Besuche des Schweizer Konsuls meist nur wenige Stunden dauerten.54 Konsul Oertly beschreibt die Begegnungen im Rahmen seiner Tätigkeit rückblickend als »business-like […], frank, free and open all around. Wherever possible little time was wasted on side issues or lengthy discussions, on abstract matters not directly connected with a complaint or a request. Only once or twice from July 1940 to April 1945 did my business in any one camp extend to a second day.«55 Die geschäftsmäßige Eile ist auch darauf zurückzuführen, dass die Schweizer Diplomaten die reise-

48 Im zweiten Fall bemühte sich die Schutzmachtvertretung, möglichst schnell einen Besuch im jeweiligen Lager einzuschieben. Vgl. zur Besuchspraxis Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 56-57. 49 Vgl. zur Auswahl der zu besuchenden Lager und zur Bewilligung der Besuche Frey, Dominique: Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«. Die Schweizer Schutzmachttätigkeit für Grossbritannien und Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Nordhausen 2006, S. 35-36. 50 Schreiben der Schweizerischen Gesandtschaft in Großbritannien an das Schweizerische Generalkonsulat in Montreal, 17. September 1940. BAR, E2200.150-01#1000/219#13*. 51 Ebd.; dem »Summary Report« ist zu entnehmen, dass die Lager mindestens fünfmal pro Jahr besucht wurden; vgl. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 56-57. 52 Das geht aus einem Schreiben des Acting Commissioner of Internment Operations, Lieut.Col. E.H. Minns, an den Lagerkommandanten des Camps 22 vom 14. Oktober 1941 hervor. LAC, RG 24, 11248, File 9-5-1, Vol. 2. 53 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 57. 54 So etwa am 17. Dezember 1941 in Fort Henry, wo sich der Schweizer Konsul Oertly und sein Begleiter Sembinelli von 10 bis 14 Uhr im Lager aufhielten. LAC, RG 24, 15394, Vol. 19. 55 Bericht Oertlys über seine Tätigkeit für die deutsche Interessenvertretung vom 10. Juli 1945. BAR, E2200.150-01#1000/219#13*.

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intensiven Lagerbesuche mit einem relativ kleinen Mitarbeiterstab bewältigen mussten.56 Bei der anschließenden Formulierung der Berichte orientierten sich die Diplomaten an einem Fragebogen, den die deutsche Regierung erstellt hatte. Ähnlich wie der Leitfaden der CICR-Delegierten sollte dieser Fragenkatalog Vollständigkeit garantieren.57 Kanadische Behörden bekamen den Bericht in der Regel nicht zu lesen.58 Wie Dominique Frey beschreibt, wurde der Bericht zunächst nach Bern an die schweizerische Abteilung für fremde Interessen geschickt, die ihn an die dortige deutsche Gesandtschaft weiterleitete.59 Diese berichtete nach Berlin an das Auswärtige Amt.60 Frey weist darauf hin, dass es sich bei den Besuchsberichten »um diplomatische Dokumente handelt. Die Sprache bleibt selbst bei Unstimmigkeiten dem höflich-formellen Ton der Diplomatie verpflichtet.«61 Abweichend sei »in erster Linie die Sprache Preiswerks – einer der wenigen Nicht-Berufsdiplomaten – der seine Meinung meist unmissverständlich durchblicken liess«62. Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 endete die Interessenvertretung der deutschen Kriegsgefangenen und Internierten in britischem Gewahrsam und, mit der Einstellung der Berichterstattung durch die Schweizer Diplomaten im Frühsommer 1945, auch der durch Akten der Schutzmachtvertretung abgedeckte Zeitraum.63 Bittsteller oder Querulanten? Die Korrespondenz der Internierten mit den humanitären Helfern Laut Artikel 42 der Genfer Konvention standen den Kriegsgefangenen (und in der Praxis auch den Internierten)64 verschiedene Wege offen, wenn sie ihre Meinung zu bestimmten Aspekten der Gefangenschaft äußern wollten. Sie konnten sich direkt an

56 Außer dem Generalkonsul Dr. Gaston E. Jaccard waren mit den Lagerbesuchen betraut: Isidor Sembinelli und A.F. Somm, Vizekonsuln, Ernst Baeschlin und Johannes (John) Oertly, Honorarkonsuln, sowie Max Hauri, Amtierender Konsul. Sie alle gehörten dem schweizerischen Generalkonsulat in Montreal bzw. den übrigen Konsulaten in Vancouver, Toronto und Winnipeg an. Siehe Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 56. 57 D. Frey: Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«, S. 36. Dort finden sich auch Details zum Ablauf der Besuche. 58 K. Böhme: Die Berichte der IKRK-Delegierten, S. 98. 59 D. Frey: Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«, S. 37. 60 Heute bilden sowohl die von der deutschen Gesandtschaft Bern nach Berlin gesandten Berichte als auch deren übrigen Akten einen Teil der Aktenüberlieferung des PA AA. 61 D. Frey: Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«, S. 14. 62 Ebd. 63 Das teilte der Schweizer Konsul den deutschen Internierten in Kanada am 8. Juni 1945 brieflich mit. BAR, E2200.150-01#1000/219#11*. 64 Knellwolf, Jean-Pierre: Die Schutzmacht im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Verhältnisse. Inauguraldissertation zur Erlangung der Würde eines Doctor iuris der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern. Bern 1985, S. 234.

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die Behörden des Gewahrsamsstaates wenden oder ihr Anliegen einem Vertreter der Schutzmacht übermitteln. Die Vermittlung durch den Vertrauensmann war eine Möglichkeit, aber nicht zwingend.65 Der Schweizer Konsul trat also nicht nur als Beobachter in Erscheinung, sondern nahm auch Beschwerden von Internierten entgegen. Obwohl das CICR in der Genfer Konvention nicht explizit als Beschwerdestelle erwähnt ist, wandten sich viele Internierte oder deren Angehörige auch direkt oder über einen spokesman an die Vertreter des Roten Kreuzes.66 Aufgrund von Zensurbestimmungen durften jedoch die Schweizer Diplomaten wie alle übrigen Besucher keine Schriftstücke der Internierten mit aus dem Lager nehmen.67 Daher mussten die Internierten ihre Anfragen auf dem Postweg an das Schweizerische Generalkonsulat senden. Auf einem vorgedruckten Briefbogen konnten die Internierten einen sogenannten Prisoner of War business letter schreiben. Etliche dieser an den Schweizer Konsul in Montreal adressierten Schriftstücke finden sich in den Akten der kanadischen Regierung, die von den Schweizer Diplomaten in allen Beschwerdefällen informiert wurde.68 Wollte ein Internierter das Beschwerderecht politisch instrumentalisieren, so wandte er sich am besten an die Schutzmacht. Denn Beschwerdebriefe an den Schweizer Generalkonsul waren eine einfache Möglichkeit für die Internierten, indirekt Druck auf die kanadischen Behörden auszuüben, indem sie sich das Prinzip der Reziprozität zunutze machten, das aus dem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zwischen Herkunfts- und Gewahrsamsstaat von Kriegsgefangenen entstand. Als wichtigster Grundsatz in der Behandlung von Kriegsgefangenen und in der Kriegsgefangenenhilfe schützte das Prinzip der Gegenseitigkeit die Internierten vor Willkür und Vergeltungsmaßnahmen seitens der Gewahrsamsmacht.69 Da der Schweizer Konsul die deutsche Regierung von den Klagen der Internierten in Kenntnis setzen

65 Ebd., S. 233. 66 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 341. 67 William Preiswerk von der Schweizerischen Gesandtschaft in London wies seine kanadischen Kollegen eindringlich auf dieses Verbot hin. Schreiben vom 17. September 1940 an das Schweizerische Generalkonsulat in Montreal. BAR, E2200.150-01#1000/219#13*. 68 Zum weiteren Weg der Beschwerden durch die Institutionen berichten die Schweizer Konsulatsbeamten rückblickend: »Complaints from prisoners of war and internees about their treatment under the provisions of the Geneva Convention had to be drawn up in accordance with the administrative regulations of Internment Operations. These regulations prescribe the use of POW stationery; required number of copies; signature of the complainant or the spokesman; etc. The complaints were duly forwarded to their destination, be this the Detaining Power (Camp Commandant or central authority) or the representative of the Detaining Power in Canada, unless they were found to be entirely without foundation. If a communication, coming under this article of the Convention, did not reach the Protecting Power, the sender would become aware of it by virtue of the acknowledgment-of-receipt form which would normally reach him.« Vgl. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 39-40. 69 Exemplarisch lassen sich die Auswirkungen des Reziprozitätsprinzips in Kapitel 5 ab S. 232 verfolgen.

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musste,70 hätte eine Verschlechterung der Internierungsbedingungen in Kanada eine entsprechende Verschlechterung der Bedingungen für kriegsgefangene Kanadier in deutschen Lagern zur Folge gehabt, sobald sie in Deutschland bekannt geworden wäre. Also mussten die Kanadier strikt darauf achten, dass die deutschen Internierten in Kanada so wenig wie möglich zu beanstanden hatten, was die Internierten genau wussten: »In their acts of rebellion, internees exploited the Canadian governmentʼs fear of German reprisals against Canadian POWs. Retaliatory measures were common between belligerents and the Canadian government remained committed to the principle of reciprocity.«71 Wie Martin Auger zeigt, waren Vergeltungsmaßnahmen jedoch trotzdem gebräuchlich, obwohl sie verboten waren.72 Zuweilen äußerten die Empfänger dieser complaints die Vermutung, es sei ein regelrechter Sport unter den Internierten, die kanadische Bürokratie durch Beschwerden aller Art auf Trab zu halten. So bezeichnete der Lagerkommandant von Fort Henry einen Beschwerdebrief als »just another charge in an effort on the part of the prisoners to cause annoyance«73. Für manche Internierte mag die Vorstellung, durch ihre Eingaben Kapazitäten und Ressourcen innerhalb des kanadischen Verwaltungsapparats zu binden und sich damit für die Internierung zu ›rächen‹, vielleicht tatsächlich reizvoll gewesen sein.74 Im rückblickenden Tätigkeitsbericht der Schweizer Schutzmachtvertreter wird diese Problematik recht abgeklärt betrachtet: »Complaints showed a mixture of justified claims and unreasonable demands by the prisoners of war and the internees, and to go into detail would be a chapter by itself, full of the human element and the characteristics of the life of a prisoner. It was at times hard to distinguish between wishes, grievances and complaints or protests. […] It must be pointed out that grievances in the eyes of prisoners can assume the proportions of complaints and be just as irksome in the end.«75

70 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 59. 71 Ebd., S. 57. Anhand eines Beispiels aus den Jahren 1942/43 zeigt Mackenzie eindrucksvoll, wie Lappalien sich zu einer monatelangen und höchst verwickelten diplomatischen Angelegenheit auswachsen konnten. Vgl. hierzu Mackenzie, S.P.: The Shackling Crisis. A Case-Study in the Dynamics of Prisoners-of-War Diplomacy in the Second World War. In: International History Review 17 (1995), H. 1, S. 78-98. 72 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 46. 73 Schreiben des Director of Internment Operations an das Department of External Affairs, 29. April 41. LAC, RG 24, 11248, File 9-1-5. 74 Belegt ist ein Vorfall unter kriegsgefangenen deutschen Wehrmachtsangehörigen in Kanada, die Massenbeschwerden organisierten. Dominique Frey schreibt: »In den Klageschriften waren zum Teil Dutzende Aussagen über völlig verschiedene Vorfälle gesammelt worden, die aber kaum je die Lagerbedingungen in Kanada betrafen. Eine Beschwerdeschrift aus dem Camp 20 enthielt beispielsweise 42 Meldungen, die Vorfälle deckten die ganze Bandbreite von angeblichem Mord bis zum Verschwinden von vier Tafeln Schokolade ab. Sämtliche Beschwerden betrafen die Zeit der Festnahme in Nordafrika und die Überfahrt nach Kanada.« D. Frey: Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«, S. 38. Für internierte Seeleute lässt sich eine derartige Aktion bislang nicht nachweisen. 75 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 39-40.

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Vor allem viele der an das CICR gerichteten Briefe geben aber auch Aufschluss über dringliche und belastende Angelegenheiten, die die Internierten auf diesem Weg zu klären versuchten. Dabei konnte es sich um Anfragen von Personen handeln, die schon jahrelang nichts mehr von ihrer Ehefrau oder der Familie gehört hatten und die über das CICR versuchten, den Kontakt wiederherzustellen. Andere Gesuche betrafen Ferntrauungen oder Fernscheidungen. Bei den Verfassern konnte es sich um Internierte mit speziellen medizinischen Bedürfnissen oder um Einzelpersonen handeln, die Lehrbücher aus einem speziellen Fachgebiet zum Selbststudium oder für einen der Kurse brauchten, die im Lager angeboten wurden. Zu den weniger existenziellen Inhalten solcher Briefe zählen Anfragen von Freizeitclubs und Interessensgruppen in den Lagern, die bestimmte Materialien zur Ausübung ihrer Hobbies benötigten, beispielsweise Schminke oder Kostüme für Theateraufführungen. Häufig bezogen sich Beschwerden auf die Versorgung mit Nahrungs- und Genussmitteln, auf die finanzielle Situation sowie auf die Ausstattung mit Sportartikeln oder Musikinstrumenten. Besonders zahlreich waren Beschwerden über verspätete oder verloren gegangene Post,76 was – nach Einschätzung der Schweizer Diplomaten – in den meisten Fällen eher auf Transportschwierigkeiten zurückzuführen war als auf das Zensurverfahren, wie von den Gefangenen vermutet wurde.77 Unklar bleibt im Zusammenhang mit Beschwerde- und Bittbriefen vor allem die Rolle des Vertrauensmannes bzw. Lagerführers als filternde Instanz. Sicherlich nicht frei von Idealisierung bilanzierte das CICR nach Kriegsende über das Amt des Vertrauensmannes: »Thanks to his experience and his influence with the PW, he was able to make a judicious selection of complaints addressed to him, dismissing those which had no foundation.«78 Der Idee nach sollte der Vertrauensmann gegenüber den Mitgefangenen gerecht und unparteiisch sein und durch seine Vorauswahl gleichzeitig den Behörden Arbeit abnehmen. Doch die tatsächlichen Machtverhältnisse unter den Internierten und ihre Auswirkungen auf die alltägliche Interaktion sind in den seltensten Fällen zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund sind Beschwerdebriefe als Quellen zu Internierung besonders erhellend,79 wenn man sie nicht nur auf der Inhaltsebene interpretiert, sondern auch als Dokumente strategischen Sprechens und damit als Ausdruck widerständigen Verhaltens in Betracht zieht. Das Auswärtige Amt als Sammelstelle für Informationen Ein wichtiger Knotenpunkt im Kommunikationsnetz zwischen deutschen Regierungsstellen, der Schutzmacht, verschiedenen Hilfsorganisationen, den Reedereien und den Angehörigen der Internierten war das Auswärtige Amt. Im Politischen Ar-

76 C.M. Madsen/R. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 55. 77 »Complaints referring to overdue and presumably lost mail, addressed to the Protecting Power were usually accompanied by a detailed statement from the Detaining Power as to what letters and postcards had actually been received by the latter. It often happened that individual claims turned out to be inaccurate or false.« Summary report, BAR, E2200.15001#1000/219#2*, S. 38. 78 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 345. 79 R.W. Brednich: Enemy Aliens, S. 261.

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chiv des Auswärtigen Amtes ergibt sich daraus eine komplexe Überlieferungssituation, die auch als Abbild einer instabilen Zeit verstanden werden kann. Für die vorliegende Untersuchung wurde insbesondere der Bestand PA AA, RZ 512 ausgewertet, der Akten aus dem Referat Kult E/Nf enthält. Dieses Referat gehörte zur Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes und war für das Auswanderungswesen und seit 1929 auch für Nachforschungen nach im Ausland befindlichen Deutschen zuständig.80 Seitdem mit Kriegsbeginn die Zahl der Nachforschungsaufträge stark angestiegen war, bildete das Sammeln von Informationen und das Erteilen von Auskünften sowie die Nachrichtenübermittlung zwischen Deutschen im feindlichen Ausland und ihren Angehörigen das Hauptaufgabenfeld des Referates Kult E/Nf.81 Um Anfragen beantworten zu können, stand das Referat regelmäßig in Kontakt mit der deutschen Gesandtschaft in Bern, die ihrerseits in Schutzmachtangelegenheiten mit dem Eidgenössischen Politischen Departement (EPD) korrespondierte. Neben dem Bestand Kult E/Nf wurden daher ergänzend Akten der deutschen Gesandtschaft Bern ausgewertet, die neben allgemeinen Informationen über die Internierung Deutscher in Kanada auch lagerspezifische Sammlungen von Besuchsberichten und sonstigem Schriftverkehr enthalten. Wie Erich Maschke betont, »enthielt das Archiv des Auswärtigen Amtes aus dem Schriftverkehr mit den Schutzmächten sehr reiche Unterlagen über die deutschen Kriegsgefangenen in der Hand vor allem der angelsächsischen Mächte«82. Gerade für Fragen der Zivilinternierung in Kanada befindet sich im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes vielfältiges Quellenmaterial, etwa behördliche Schreiben, in denen Informationen über Zahl und Aufenthaltsorte von Internierten ausgetauscht wurden. Verstreut in den Akten finden sich auch immer wieder Namenslisten der Insassen eines bestimmten Lagers, Abschriften von Besuchsberichten verschiedener Hilfsorganisationen, Schreiben von Reedereien und Angehörigen mit der Bitte um Auskunft, Kopien privater Briefe einzelner Internierter oder Zeitungsausschnitte aus den Gewahrsamsländern, die die Internierung betrafen. Einige der im PA AA archivierten Unterlagen spiegeln vor allem die völkerrechtliche Seite der Internierung, andere repräsentieren stärker die Nachforschungs- und Vermittlungstätigkeit des Amtes. Nicht auf einen Verwaltungsvorgang im engeren Sinne zurückzuführen sind die aus eigener Initiative nach Deutschland gesandten Berichte mancher Kapitäne über die Selbstversenkung ihrer Schiffe sowie die Gefangennahme und den Weitertransport der Besatzung, die teils auch über die Reedereien an das Auswärtige Amt gelangten.

80 Im Zuge der Umorganisation des Auswärtigen Amtes wurde im Jahr 1936 aus der Vorgängerabteilung VI E das Referat Kult E gebildet, das für Wanderung, Siedlung, Nachforschungen und das Russlanddeutschtum zuständig war. Im Jahr 1937 verteilten sich die Zuständigkeiten wie folgt: Angelegenheiten der Aus- und Rückwanderung, der Auslandssiedlung, des Russlanddeutschtums sowie der Fürsorge für deutschstämmige Russlandflüchtlinge waren beim Referat Kult E angesiedelt, für Nachforschungen nach reichsdeutschen und fremden Staatsangehörigen war das Referat Kult Nf zuständig. 81 Im September 1943 wurde das Referat als R XII (ZV) in die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes eingegliedert und zog aus dem gefährdeten Berlin nach Liebenau um, wo es bis zum Kriegsende blieb. 82 E. Maschke: Quellen und Methoden, S. 42.

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Die zahlreichen Zuschriften von Angehörigen internierter Seeleute lassen teilweise weitreichende Rückschlüsse sowohl über die Auskunftsfreudigkeit von Bürgern gegenüber den deutschen Behörden als auch über kriegsspezifische Kommunikationsstrategien zu. So zeigt ein durch Angehörige an das Auswärtige Amt weitergeleiteter Brief eines Internierten Schreibstrategien, die dazu dienten, die Zensur zu umgehen. Der Brief enthält verdeckte Angaben über die bevorstehende Verlegung des Schreibers von England nach Kanada. Gegenüber dem Auswärtigen Amt erläuterte der Übersender des Briefes den benutzten ›Code‹: »Wie ich Ihnen […] mitteilte, hat mein Sohn versteckte Anspielungen dahingehend gemacht, daß sie nach Kanada kämen. Er schreibt nämlich folgendes: ›Nun zu dem armen Ulrich Bübchen (damit meint er sich selbst). Er ist ja wieder weggeholt worden von Tante Helen (das ist eine Freundin von uns in Schottland). Bübchen wohnt jetzt in der Hälfte, wo Barre wohnt (Barre ist ein Freund von uns in Amerika). Über das neue Lager kann ich Euch nichts weiter berichten.‹ Aus diesen Bemerkungen habe ich geschlossen, daß er von dem Camp 12 zu dem Camp 11 gekommen ist und daß dieses dann nicht mehr in Schottland ist. Er schrieb neulich übrigens auch einmal, ›vielleicht besucht Ulrich Bübchen demnächst ja auch einmal Heia?‹ (Ein junger befreundeter Seeoffizier, der in Kanada ist). […]«83

Der Adressat legt hier gegenüber dem Auswärtigen Amt den Referenzrahmen des Briefes offen und entschlüsselt so die verborgene Botschaft. Auf ähnlichen Wegen gerieten weitere Privatbriefe in den Aktenbestand des Auswärtige Amtes, wo sie nun einen wichtigen Teil der Überlieferung zur Internierung von Seeleuten bilden. Zusammenfassend lassen sich zu den administrativen Quellen vor allem folgende Überlegungen festhalten: Besonders bei den vorgestellten Dokumenten, die in den Lagern selbst entstanden, stellt sich die Frage, welche Eskalationsstufe bzw. welcher Grad des Außergewöhnlichen erreicht werden musste, damit etwas aktenkundig wurde. Die wöchentliche Filmvorführung eines Lagers beispielsweise wurde im Tagebuch erst erwähnt, als der Projektor kaputtging und der Filmabend deshalb entfallen musste.84 Selbstverständliches oder allgemein Bekanntes wurde häufig, wie in vielen anderen Kontexten auch, im Internierungslager weder dokumentiert noch näher erläutert. Der oben zitierte Eintrag aus einem War Diary etwa expliziert nicht, was an den »usual working parties« so »usual« war.85 Diese Quellen zeigen dadurch aber auch die Veralltäglichung einer Ausnahmesituation. Bei allen individuellen Bemühungen um Neutralität können sie kein umfassendes Abbild der Realität in einem Lager zeichnen. Gerade die Besuchsberichte des CICR, der YMCA und der Schweizer Diplomaten spiegeln neben der Person des Verfassers vor allem die mandatsbedingt unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte und Perspektiven der drei Organisationen bzw. Institutionen wider.

83 Brief an das Auswärtige Amt vom 24. Februar 1942. PA AA, R 127.908. 84 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 42, 30. März 1944: »Pʼs.O.W. had to return their weekly picture as their projector is broken.« Zuvor ist nicht erwähnt, dass überhaupt Filmvorführungen stattfanden. LAC, RG 24, 15400. 85 War Diary Camp Petawawa (P/33), Vol. 34, 20. August 1942. LAC, RG 24, 15394.

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Private Briefe aus dem Nachlass Rudolf Becker Eine zentrale Quelle der vorliegenden Arbeit ist die Sammlung von Briefen aus dem Nachlass des internierten Schiffsoffiziers Rudolf Becker.86 Dieses Konvolut dürfte hinsichtlich seiner Homogenität, seines Umfangs und des abgedeckten Zeitraumes von mehr als sieben Jahren einzigartig sein, zumindest was Bestände in öffentlich zugänglichen Archiven betrifft.87 Die Tatsache, dass Rudolf Becker selbst dem Briefkonvolut so große Bedeutung beimaß, dass er es dem Deutschen Schiffahrtsmuseum übergab, passt zu der Beobachtung von Irene Götz, Klara Löffler und Birgit Speckle, wonach vor allem »Briefe, die im Zusammenhang mit lebensgeschichtlichen Höhepunkten oder Krisen stehen, […] der Aufbewahrung und des Weitergebens für wert befunden werden«88. Rudolf Becker wurde am 6. September 1911 in Duisburg geboren und begann seine seemännische Ausbildung im Alter von 19 Jahren. Im Jahr 1936 erwarb er an der Seefahrtsschule Altona das A6-Kapitänspatent und fand wenig später eine Stellung bei der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrtsgesellschaft (kurz: Hamburg-Süd) als Schiffsoffizier.89 Für einen Kapitänsposten musste er noch Fahrzeit sammeln. Bei Kriegsbeginn befand er sich auf der Ausreise auf dem Dampfer ANTONIO DELFINO, der Anfang September 1939 im brasilianischen Bahia vor Anker ging, um dort die weitere politische Entwicklung abzuwarten. Im Zuge einer Umverteilung von Besatzungsmitgliedern meldete sich Becker im November für einen Offi-

86 DSM, III A 3324 a und b. 87 Im Gegensatz zu den massenhaft überlieferten Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg erlaubt die Überlieferungslage von Briefen aus der Internierung nach dem heutigen Stand der Forschung keine flächendeckende Erfassung und Auswertung, da keine größeren Bestände in öffentlichen Archiven existieren. Zur hervorragenden Überlieferungslage von Feldpost siehe Latzel, Klaus: Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 1-30, hier S. 1. 88 Götz, Irene/Löffler, Klara/Speckle, Birgit: Die veröffentlichte Intimität des Privatbriefes. Bemerkungen am Rande eines Forschungsfeldes. In: Kuckuck. Notizen zu Alltagskultur und Volkskunde 8 (1993), H. 1, S. 20-27, hier S. 23. Zu Briefen als »Medium der Reflexion und des Archivierens« siehe auch Hickethier, Knut: »Der Drang nach Menschen, Unterhaltung, Erleben ist so groß in einem« – Mediensituationen im Zweiten Weltkrieg. In: Karmasin, Matthias/Faulstich, Werner (Hg.): Krieg – Medien – Kultur. Neue Forschungsansätze. München 2007, S. 105-130, hier S. 112. Hickethier verweist hier auch auf das absichtliche Aufbewahren von Kriegsbriefen »als Erinnerungsstütze«. 89 Kurz vor dem Krieg war die Hamburg-Südamerikanische Dampfschiffahrtsgesellschaft die drittgrößte deutsche Reederei nach Bruttoregistertonnen (BRT) Schiffsraum. Am 1. September 1939 gab es drei deutsche Reedereien, die über mehr als 200.000 BRT Schiffsraum verfügten: An erster Stelle stand die Hamburg-Amerika-Linie mit 739.608 BRT, an zweiter Stelle der Norddeutsche Lloyd mit 569.687 BRT und an dritter Stelle die Hamburg-Südamerikanische Dampfschiffahrtsgesellschaft mit 385.327 BRT, verteilt auf 52 Schiffe. Siehe Schmelzkopf, Reinhart: Die deutsche Handelsschiffahrt 1919-1939. Band I. Chronik und Wertung der Ereignisse in Schiffahrt und Schiffbau. Oldenburg 1974, S. 247.

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ziersposten auf dem in Pernambuco liegenden Frachtdampfer URUGUAY. Anfang Februar 1940 versuchte die URUGUAY nach dem Fahrbefehl der deutschen Seekriegsleitung, nach Deutschland zu gelangen, traf jedoch nach etwa einem Monat Reisezeit nördlich von Island auf den englischen Kreuzer BERWICK. Der deutsche Kapitän ordnete weisungsgemäß die Versenkung seines Schiffes durch die eigene Besatzung an, die dadurch in englische Gefangenschaft geriet.90 Nach kurzem Aufenthalt in England wurden die Seeleute im Sommer 1940 nach Kanada weitertransportiert, wo Rudolf Becker bis Ende 1946 in verschiedenen Lagern blieb. Das letzte Jahr seiner Internierung verbrachte er als Farmarbeiter in Ontario.91 Nach dem Krieg war Becker federführend für die Gewerkschaft ÖTV an der Erarbeitung eines neuen Seemannsgesetzes beteiligt.92 Ab Mitte der 1950er Jahre war er als Berater für ausländische Reedereien und als freiberuflicher Sachverständiger bei Schadensfällen tätig, unter anderem auch nach dem Untergang der estnischen Fähre ESTONIA im Jahr 1994. Er veröffentlichte zahlreiche Texte zum Seerecht, war Dauersachverständiger für verschiedene Landes- und Oberlandesgerichte und spielte eine zentrale Rolle bei etlichen Schiedsgerichts- und Schlichtungsverfahren nach Seeunfällen.93 Rudolf Becker starb 2003 im Alter von 92 Jahren. Das Konvolut aus seinem Nachlass umfasst 118 Briefe, Postkarten und Telegramme aus dem Zeitraum zwischen Juli 1939 und Dezember 1946, die Becker hauptsächlich an seinen Vater (105 Briefe), aber auch an Verwandte und Freunde schickte.94 Am dichtesten ist die Überlieferung innerhalb des Konvoluts für das Jahr 1940, in dem Becker in Gefangenschaft geriet. Bis zum Kriegsende nimmt die Zahl der jährlich geschriebenen Briefe stetig ab und steigt erst danach wieder an. Aus insgesamt 15 über den Gesamtzeitraum verteilten Monaten liegen gar keine Briefe vor. Der kürzeste Abstand zwischen zwei Briefen beträgt drei Tage. Anhand der Nummerierung bzw. der Erwähnung der versendeten und empfangenen Briefe im Text kann man nachvollziehen, dass das Konvolut die von Becker an den Vater geschickten Briefe vollständig beinhaltet. Die Antwortbriefe sind nicht erhalten. An Beckers Briefen lassen sich die Schreibbedingungen der kanadischen Internierung exemplarisch veranschaulichen. Denn obwohl Rudolf Becker ein sehr geüb-

90 Vgl. ausführlich zum Dampfer URUGUAY L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte, Bd. 1, S. 418-419. 91 Im Brief vom 25. August 1945 an den Vater berichtete Rudolf Becker, dass er seit einigen Wochen auf einer Farm arbeite. Er verlängerte dieses Arbeitsverhältnis bis Ende Oktober 1946. DSM, III A 3324 b. 92 Schiffahrts-Streik. Offiziere von Bord. Der Spiegel 32 vom 08.08.1956, S. 18-19, hier S. 19. 93 Ein Überblick über Beckers Biografie findet sich in einem Zeitungsartikel anlässlich seines 80. Geburtstages: Persönliches. Kapitän Rudolf Becker, in Hamburg lebender Cap Hornier und Schiffahrtssachverständiger, wird heute 80 Jahre alt. In: THB Täglicher Hafenbericht. Deutsche Schiffahrtszeitung vom 06.09.1991, S. 14-16. 94 Wie viele internierte Schiffsoffiziere und Kapitäne korrespondierte Rudolf Becker darüber hinaus auch weiterhin mit seiner Reederei, etwa um sich für zugesandte Fachbücher zu bedanken. Die Reederei gab solche Briefe an die jeweiligen Angehörigen weiter, sodass das Konvolut der Becker-Briefe auch Abschriften der Briefe enthält, die er an die Reederei Hamburg-Süd gerichtet hatte.

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ter Schreiber war, der über differenzierte und eher überdurchschnittliche sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten verfügte, zeigen die Briefe doch eine Reihe typischer Merkmale, die sich auch in anderen Briefen aus der kanadischen Internierung und teilweise auch in Kriegsbriefen aus anderen Kontexten finden. Das betrifft beispielsweise die Zensur sowie Strategien des Umgangs mit ihr, Probleme des Referenzrahmens sowie Techniken, die der Schreiber aus der Krisen- und Unsicherheitserfahrung von Gefangenschaft und Krieg heraus entwickelte. Einige wenige Briefe von Rudolf Becker an seinen Vater enthalten vom Zensor geschwärzte Passagen. Stellenweise erwähnt Becker auch, dass der letzte Brief des Vaters geschwärzt und in manchen Fällen zusätzlich beschnitten war: »Im übrigen war Dein Brief so verschnitten und mit Tusche verschmiert, daß ich nur mit Mühe 10:0 [1%?; JK] entziffern konnte.«95 Diese Bemerkung zeigt, dass der Zensor als dritter Akteur in der Briefbeziehung stets präsent war, da er jederzeit in den Briefwechsel eingreifen konnte, ohne selbst greifbar zu sein. Solche Bezugnahmen auf die Zensur verdeutlichen, dass diese den sonst durch das Briefgeheimnis »geschützten und diskreten Raum«96 des Briefes öffentlich machte. Was ein Internierter an Verwandte und Freunde schrieb, war zugleich dem Auge des Zensors preisgegeben, oder genauer gesagt: den Augen der Zensoren.97 Denn während des Zweiten Weltkriegs wurden Briefe von Kriegsgefangenen und an Kriegsgefangene sowohl durch die Behörden des Gewahrsamsstaates als auch durch deutsche Stellen geprüft. Passagen, die nach Ermessen des jeweiligen Zensors gegen die Vorschriften verstießen, wurden in der Regel, wie es auch aus Beckers Bemerkung über die Zensur hervorgeht, geschwärzt oder aus dem Blatt herausgeschnitten. Besonders streng waren die kanadischen Zensoren, wenn es um die Kontrolle der Vorschriften bezüglich Form und Inhalt des Briefverkehrs ging, wie der Schweizerische Konsul zusammenfasst: »Communications containing untrue statements, harmful information, accusations and slanderous expressions against the Detaining Power were rejected by the Canadian censor. Severe violations of the existing rules resulted in disciplinary punishment for the prisoner involved, by the Camp Commandant.«98 Darüber hinaus durften die Briefe keine Bemerkungen über die Streitkräfte oder die politische Situation enthalten, ebenso wenig wie Code, Geheimschrift, Stenografie, Unterstreichungen oder sonstige Markierungen, die verborgene Mitteilungen hätten transportieren können. Zitate aus Büchern oder Dokumenten waren aus dem gleichen Grund verboten. Beschreibungen des Lagers, aus denen organisatorische Informationen zu entnehmen gewesen wären, fielen ebenso unter dieses Verbot wie Angaben zur Zahl der internierten Deutschen oder direkte Bezugnahmen auf das Verhalten von Mitgefangenen.

95 Rudolf Becker an seinen Vater, 24. Juni 1941. DSM, III A 3324 b. 96 I. Götz/K. Löffler/B. Speckle: Die veröffentlichte Intimität, S. 21. 97 Die Möglichkeit von Zensur gehört zum Wesen der Briefkommunikation, wie Peter Bürgel betont, denn »während des B.[rief]transports [sind] gesellschaftlich bedingte (intendierte oder nicht-intendierte) Eingriffe möglich, die eine ursprünglich gewollte Information nicht zu einer tatsächlichen werden lassen (Zensur, Verfall, Verlust) […].« Vgl. Bürgel, Peter: Brief. In: Faulstich, Werner (Hg.): Kritische Stichwörter zur Medienwissenschaft. München 1979, S. 26-47, hier S. 35. 98 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 35.

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Kritik an den Verhältnissen im Lager war tabu, genauso wie propagandistische Äußerungen oder Textstellen, in denen die Alliierten beleidigt, beschimpft, bedroht oder anderweitig verunglimpft wurden.99 Dabei kam eine nicht ganz unproblematische Kontrollmethode zum Einsatz, die dem jeweiligen Zensor einen großen Ermessensspielraum einräumte. Kurt Böhme beschreibt, dass die kanadischen Zensoren zwischen vorsätzlichen Regelverstößen sowie einmaligen »Entgleisungen«100 des Verfassers zu unterscheiden versuchten. Letztere wurden geschwärzt, erstere führten dazu, dass der Brief an den Absender zurückging.101 Für diesen konnte aufgrund der unklaren Definition der beiden Kategorien leicht der Eindruck entstehen, die Vorgehensweise der Zensoren sei willkürlich. Zur Beschleunigung solcher Überprüfungen mussten die Internierten – für manche Deutsche zunächst schwierig – ihre Briefe in lateinischer Schrift abfassen. Um die Kontrolle der Umfangsbeschränkungen zu erleichtern, wurden Vordrucke mit fester Zeilenzahl eingesetzt.102 Während ihrer Internierung in Kanada durften die Seeleute der deutschen Handelsmarine zweimal im Monat einen Brief von je 24 Zeilen schreiben und viermal im Monat eine Postkarte zu je sieben Zeilen.103 Als Schiffsoffizier war Rudolf Becker pro Monat ein Brief mehr gestattet. Dies entsprach der ebenfalls hierarchisch gestuften Regelung für kriegsgefangene militärische Offiziere und Mannschaftsgrade.104 Nach Kriegsende durften alle Kriegsgefangenen und Internierten nur noch zwei Postkarten pro Monat verschicken; der Grund für diese Beschränkung des Briefverkehrs war der weitgehende Zusammenbruch des Kommunikations- und Transportsystems in Europa.105 Während des Krieges schwankten die Brieflaufzeiten von Kanada nach Deutschland zwischen 18 Tagen beim Versand per Luftpost und acht Monaten beim Transport per Schiff.106 Im Gegensatz zum kostenlosen Standardversand kostete jedoch der schnellere Luftpostweg Porto, das der jeweilige Internierte selbst bezahlen musste.107 Mit diesen Bestimmungen für den Postverkehr der Internierten bewegte sich Kanada durchweg im Rahmen der in der Genfer Konvention festgelegten Regeln. Laut Artikel 36 der Konvention war der Gewahrsamsstaat dazu verpflichtet, den Herkunftsstaat der Gefangenen regelmäßig über

99 Vgl. zu diesen Bestimmungen M. Auger: Prisoners of the home front, S. 64. 100 Böhme, Kurt: Hilfen für die deutschen Kriegsgefangenen 1939-1956. In: Maschke, Erich (Hg.): Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs. Eine Zusammenfassung. München 1974, S. 347-446, hier S. 357. 101 Ebd. 102 Diese Formulare wurden von der Abteilung Internment Operations herausgegeben, so etwa das I.O. 20-Formular für Weihnachts- und andere Postkarten. Vgl. Luciuk, Steven: Season’s Greetings from Behind Barbed Wire. More on Y.M.C.A. Illustrated Post Cards. In: British North America Topics 46 (1989), H. 6, S. 20-25, hier S. 20. Vgl. hierzu auch XVIIth International Red Cross Conference, Report, I; in den meisten Ländern durften die Gefangenen mindestens zwei Briefe und vier Postkarten pro Monat schreiben. Ebd., S. 349. 103 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 34. 104 Zivilinternierte durften vier Briefe pro Monat schreiben. Ebd., S. 34. 105 Ebd., S. 34. 106 Ebd. 107 Ebd., S. 37.

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die geltenden Postbestimmungen zu informieren. Briefe mussten auf dem kürzest möglichen Weg befördert werden; ihr Transport durfte nicht aus disziplinarischen Gründen aufgehalten oder gezielt verlangsamt werden (Artikel 36). Auch die Zensur war gemäß Artikel 40 schnellstmöglich durchzuführen. Beim Lesen einiger Passagen in Rudolf Beckers Briefen wird deutlich, dass für das Verständnis und die Interpretation der Briefe nicht ausreichend Kontextinformationen zur Verfügung stehen, vor allem, da die Briefe des Vaters fehlen. Dies zeigt die Bedeutung eines geteilten Referenzrahmens für Briefbeziehungen und ihre Analyse. Dieser »common fund of knowledge«108 umschließt »die gemeinsamen Erfahrungen, Werte und Vorstellungen«109, also alle Wissensbestände, die in irgendeiner Weise Teil der Beziehung zwischen Schreiber und Empfänger sind. Für die Briefpartner ermöglicht ein geteilter Referenzrahmen aber nicht nur Verstehen, sondern definiert – etwa durch ein bestimmtes Rollenverständnis oder einen Erwartungshorizont110 – auch Grenzen der Kommunikation, die zensierend auf die Briefinhalte einwirken können.111 Dabei besteht, wie in anderen Kommunikationsprozessen auch, das methodologische Problemfeld von Fremdverstehen und Indexikalität nicht nur innerhalb der Briefbeziehung, sondern auch bei der Interpretation durch Dritte.112 Mehr noch als

108 Djupedal, Knut: Personal Letters as Research Sources. In: Ethnologia Scandinavica 19 (1989), S. 51-63, hier S. 60. 109 Götz, Irene/Löffler, Klara/Speckle, Birgit: Briefe als Medium der Alltagskommunikation. Eine Skizze zu ihrer kontextorientierten Auswertung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 89 (1993), H. 2, S. 165-183, hier S. 173. 110 Ebd., S. 177-178. Dieser Erwartungshorizont kann auch wie eine innere Zensur wirken, vor allem im Hinblick auf wechselseitige Rollenerwartungen: »Was über diese Rolle hinausgreift oder gar […] das Rollenbild zu destruieren droht, kann nicht in einem für einen Partner bestimmten Brief mitgeteilt werden.« Vgl. Nickisch, Reinhard M.G.: Brief. Stuttgart 1991, S. 19. 111 Gerber, David A.: Authors of Their Lives: The Personal Correspondence of British Immigrants to North America in the Nineteenth Century. New York 2006, S. 72. Zur sogenannten ›inneren Zensur‹ siehe auch Humburg, Martin: »Jedes Wort ist falsch und wahr – das ist das Wesen des Worts.« Vom Schreiben und Schweigen in der Feldpost. In: Didczuneit, Veit/Ebert, Jens/Jander, Thomas (Hg.): Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Konferenz im Museum für Kommunikation Berlin, 13. bis 15. September 2010. Essen 2011, S. 75-85, hier S. 82. 112 Ausführlich hierzu siehe Kruse, Jan: Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. Mit Gastkapiteln von Christian Schmieder, Kristina Maria Weber sowie Thorsten Dresing und Thorsten Pehl. Weinheim/Basel 2014, S. 59-93. In der Alltagskommunikation regeln Konventionen das Indexikalitätsproblem, die Harold Garfinkel durch die sogenannten »Brechungsexperimente« sichtbar gemacht hat. Vgl. Garfinkel, Harold: Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Band 2. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 189-214, hier S. 206-207. Man muss davon ausgehen, dass trotz der Existenz eines geteilten Referenzrahmens nicht einmal der Erstadressat eines Schreibens den vom Verfasser intendierten Sinn mit allen Bedeutungsebenen und

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für den Adressaten werden Indexikalität und Referenzrahmen für den Forscher zum Problem, wenn er einen Brief aus dem ursprünglichen Beziehungs- und Kommunikationskontext herauslöst und als Quelle untersucht: Weder besteht die Möglichkeit, durch Nachfragen an den Verfasser das semantische Feld einzelner Begriffe aufzufächern und zu differenzieren, noch verfügt ein außenstehender Leser über ausreichend Informationen hinsichtlich des Beziehungsrahmens zwischen den Korrespondenten. Manche Inhalte werden jedoch erst verstehbar, wenn bekannt ist, welche Bedeutung sie im Hinblick auf die Beziehungsebene haben bzw. was die Beziehung zwischen den Korrespondenten überhaupt ausmacht. Ausgehend von den Hinweisen, die der Brief selbst durch Text und Materialität gibt, sollte eine Briefanalyse zwar versuchen, Codes zu entschlüsseln, die für den Empfänger unter Umständen offensichtlich waren,113 und den geteilten Referenzrahmen sowie den gesellschaftlichen oder rollenspezifischen Erwartungshorizont so weit wie möglich zu beschreiben.114 Restlos gelingen kann das jedoch nicht. Der besondere Wert der Briefsammlung von Rudolf Becker liegt vor allem in der Mannigfaltigkeit der darin enthaltenen Konstruktionen von Internierungserfahrung. Über mehr als sieben Jahre hinweg übersetzte Becker schreibend und mit konkretem Adressatenbezug die eigenen Erlebnisse innerhalb einer allgemeinen (Weltkrieg) und persönlichen (Internierung) krisenhaften Ausnahmesituation in Sprache, konstruierte Sinn und produzierte damit Kriegserfahrung.115 Was Martin Humburg mit Bezug auf den Feldpostbrief betont, gilt auch für den Privatbrief aus der Gefangenschaft: Er ist »bei aller Unmittelbarkeit der Schilderungen immer auch eine Konstruktion von Wirklichkeit unter äußeren und inneren zensierenden Bedingungen«116. Die formale Homogenität solcher Konvolute hinsichtlich der Verfasserschaft und des situativen Rahmens ermöglicht es, so Martin Humburg, »über die Heterogenität der Inhalte, über die Vielfältigkeit der Verarbeitung des Kriegserlebnisses, triftige Aussagen zu machen«117. Die Briefsammlung Becker zeigt einen Längsschnitt; wie vergleichbare Feldpostbestände bietet sie deshalb vor allem die Möglichkeit, »Handlungs- und Orientierungskonzepte«118 wie auch »Stimmungswechsel und Deutungsbemühun-

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-nuancen vollends erfassen kann, obwohl auch im Brief solche stillschweigenden Übereinkünfte bestehen. Vgl. Lyons, Martyn: French Soldiers and Their Correspondence: Towards a History of Writing Practices in the First World War. In: French History 17 (2003), S. 79-95, hier S. 94. M. Lyons: French Soldiers and Their Correspondence, S. 94. Vgl. hierzu Dobson, Miriam: Letters. In: Dies./Ziemann, Benjamin (Hg.): Reading primary sources. The interpretation of Texts from Nineteenth- and Twentieth-Century History. London u.a. 2009, S. 57-73, hier S. 62. K. Latzel: Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung, S. 20. M. Humburg: »Jedes Wort ist falsch und wahr«, S. 82. Humburg, Martin: Deutsche Feldpostbriefe im Zweiten Weltkrieg. In: Vogel, Detlef/Wette, Wolfram (Hg.): Andere Helme – andere Menschen? Heimaterfahrung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich. Essen 1995, S. 13-35, hier S. 25. Löffler, Klara: Aufgehoben: Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie zur subjektiven Wirklichkeit des Krieges. Bamberg 1992, S. 71.

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gen«119 in ihrer zeitlichen Entwicklung zu untersuchen. Selbst bei kursorischer Lektüre der Briefe fällt auf, dass bestimmte Themen über den langen Zeitraum hinweg stets in ähnlicher Art und Weise behandelt, andere hingegen in sich wandelnden inhaltlichen und sprachlichen Formen präsentiert werden. Aus dieser Beobachtung und aus der Struktur des Konvoluts ergibt sich fast zwangsläufig eine zunächst einzelfallorientierte Längsschnittauswertung als Methode der Wahl. Nicht nur der einzelne Brief, sondern die gesamte Sammlung wird dabei als Ego-Dokument120 bzw. Selbstzeugnis begriffen. Die Sammlung wird also als ein Text verstanden – eine Sichtweise, die einerseits aus der Beschaffenheit des Konvoluts folgt, andererseits aber auch dem Verwendungszusammenhang und der Fragestellung in der vorliegenden Studie angemessen ist.121 So zeigt beispielsweise die Wiederholung wichtiger Briefinhalte in mehreren aufeinanderfolgenden Einzelschreiben von Rudolf Becker an seinen Vater, dass es wenig zielführend wäre, die einzelnen Brieftexte isoliert zu betrachten. Gerade das Binnenkonvolut der Briefe an den Vater ist untrennbar mit der langjährigen engen Beziehung der beiden Schreiber verbunden, und jeder Brief als »Beziehungsträger«122 verweist auf diesen Rahmen, sodass eine lediglich punktuelle oder stichprobenartige Analyse dem nicht gerecht werden könnte. Die Auswertung des Bestandes folgte daher zunächst einem chronologischsequenziellen Verlauf und orientierte sich dabei an den oben ausgeführten Analyseachsen Raum, Zeit und Identität. In einem zweiten Schritt wurden die Textstellen im Kontext interpretiert und zu anderen Quellen in Beziehung gesetzt. Will man klären, wie Internierung von wem in welchem Kontext ›gemacht‹ und wie sie durch Interaktionen konfiguriert wird, dann sind solche intertextuellen Verweise und Bezüge von entscheidender Bedeutung.123 Um etwaige Relevanz- und Deutungsverschiebungen erkennen und möglicherweise auch erklären zu können, wird die ›Einzelfallstudie‹ Becker in die Quellengesamtheit integriert.124

119 Scherstjanoi, Elke: Als Quelle nicht überfordern! Zu Besonderheiten und Grenzen der wissenschaftlichen Nutzung von Feldpostbriefen in der (Zeit-)Geschichte. In: Didczuneit, Veit/Ebert, Jens/Jander, Thomas (Hg.): Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Konferenz im Museum für Kommunikation Berlin, 13. bis 15. September 2010. Essen 2011, S. 117-125, hier S. 122. 120 Zur Begriffsdiskussion um den Terminus »Ego-Dokument« siehe Greyerz, Kaspar von: Ego-Documents: The Last Word? In: German History 28 (2010), H. 3, S. 273-282. 121 Zudem ist dieser Zugang durch die Tatsache gerechtfertigt, dass der Urheber den Bestand als Ganzes dem Schiffahrtsmuseum übergeben hat. 122 Bürgel, Peter: Der Privatbrief: Entwurf eines heuristischen Modells. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50 (1976), H. 1/2, S. 281297, hier S. 287. 123 Zur Intertextualität archivalischer Quellen vgl. Lipp, Carola: Perspektiven der historischen Forschung und Probleme der kulturhistorischen Hermeneutik. In: Hess, Sabine/ Moser, Johannes/Schwertl, Maria (Hg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin 2013, S. 205-246, hier S. 208. 124 Vgl. zu Kontextinformationen als Auswertungsbasis I. Götz/K. Löffler/B. Speckle: Briefe als Medium der Alltagskommunikation, S. 176.

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I NTERVIEWS Feldzugang und Sample Als ich im Jahr 2007 mit der Suche nach potenziellen Interviewpartnern begann, lag das Kriegsende bereits mehr als 62 Jahre zurück. Ich suchte Seeleute, die während des Zweiten Weltkriegs als Angehörige der deutschen Handelsmarine interniert gewesen waren. Diese Männer mussten also kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zur See gefahren und deshalb mittlerweile mindestens 80 Jahre alt sein. Die Suche vorab regional einzugrenzen, war schwierig, denn bei Weitem nicht alle ehemals internierten Seeleute stammten aus küstennahen Regionen125 und auch nicht alle waren nach dem Krieg wieder zur See gefahren. Trotzdem konnte ich in den folgenden Monaten zehn ehemalige Internierte finden, die sich zu einem Gespräch bereit erklärten. Durch Vermittlung einer Mitarbeiterin des Deutschen Schiffahrtsmuseums in Bremerhaven kam ein erstes Gespräch mit einem ehemaligen Internierten zustande, der den Kontakt zu einem weiteren Gesprächspartner herstellte. Die erhoffte ›Kettenreaktion‹ blieb nach diesem zweiten Interview jedoch aus.126 Auch eine bundesweite Suche über nautische Vereine und Kameradschaften brachte keinen Erfolg. Dank der Unterstützung eines weiteren Mitarbeiters des deutschen Schiffahrtsmuseums konnte ich jedoch im folgenden Jahr in eine zweite Erhebungsphase starten und Kontakt zu vier Interviewpartnern aufnehmen. Einen Gesprächspartner machte ich über seine autobiografische Publikation ausfindig. Die letzte Gruppe von vier Interviewpartnern fand ich im Frühsommer 2008 über Zeitungsaufrufe in verschiedenen norddeutschen Tageszeitungen.127 Dabei kristallisierte sich rasch ein Binnensample derjenigen heraus, die in Kanada interniert gewesen waren: Sechs von zehn Befragten hatten – nach kürzeren Aufenthalten in unterschiedlichen Ländern – dort den Großteil ihrer Gefangenschaft verbracht. Auf diesen Interviews liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit.128 Die übrigen Gesprächspartner waren in Jamaica, Italien, Frankreich und Norwegen interniert; diese Interviews werden nur kursorisch berücksichtigt. Den zehn ehemaligen Seeleuten, die ich interviewen konnte, ist neben der Internierungserfahrung vor allen Dingen die Generationszugehörigkeit und die Tätigkeit im Berufsfeld Seefahrt in der unmittelbaren Vorkriegszeit gemeinsam. Allerdings ist

125 D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 63. 126 Zur Suche nach Interviewpersonen und zum Schneeballprinzip vgl. Schmidt-Lauber, Brigitta: Das qualitative Interview oder: Die Kunst des Reden-Lassens. In: Göttsch, Silke/ Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der europäischen Ethnologie. 2., überarb. u. erw. Aufl. Berlin 2007, S. 169-188, hier S. 173. 127 Neben Interviewpartnern meldeten sich auch zahlreiche Personen, die mir Bücher und Filme empfahlen oder über die Erfahrungen von Seeleuten in ihrer Familie berichteten; ihnen allen sei herzlich gedankt. 128 Die übrigen Gesprächspartner waren in Jamaica, Italien, Frankreich und Norwegen interniert; mit Ausnahme des Interviews mit dem auf Jamaica internierten Seemann werden diese Interviews in der vorliegenden Studie nicht berücksichtigt.

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zum einen zu bedenken, dass sämtliche Interviewpartner zwischen 1912 und 1924 geboren sind. Die meisten lassen sich der sogenannten Hitlerjugend-Generation zuordnen, ohne allerdings typische Vertreter dieser Generation zu sein.129 Zum anderen wurden etliche von ihnen während oder kurz nach ihrer ersten Seereise gefangen genommen. Damit repräsentieren meine Gesprächspartner nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch generational einen sehr kleinen Ausschnitt aus der Gesamtheit der internierten Seeleute, nämlich diejenigen, die bei Kriegsbeginn jung und relativ neu in ihrem Beruf waren. In den Worten eines der Interviewten haben sie ihr »most impressionable age«130, also etwa das Alter zwischen 17 und 25 Jahren,131 im Internierungslager verbracht, und sie gehören zu der Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Handelsschifffahrt Karriere machte. Denn abgesehen von zwei Fällen kommen vor allem diejenigen zu Wort, die in der Nachkriegszeit Kapitäne und

129 Als Hitlerjugend-Generation gilt die Kohorte derjenigen, die in den 1920er Jahren geboren wurden. Vgl. z.B. Plato, Alexander von: The Hitler Youth Generation and its Role in the Two Postwar German States. In: Roseman, Mark (Hg.): Generations in conflict. Youth revolt and generation formation in Germany 1770-1968. Cambridge 1995, S. 210226, hier S. 211; Rosenthal, Gabriele: Erzählbarkeit, biographische Notwendigkeit und soziale Funktion von Kriegserzählungen. Zur Frage: Was wird gerne und leicht erzählt. In: Hartewig, Karin (Hg.): Der lange Schatten. Widerspruchsvolle Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit aus der Mitte Europas. 1939-1989 (= BIOSSonderheft). Leverkusen/Opladen 1993, S. 5-24, hier S. 16; Wierling, Dorothee: The Hitler-Youth Generation in the GDR. Insecurities, Ambitions and Dilemmas. In: Jarausch, Konrad H. (Hg.): Dictatorship as experience. Towards a socio-cultural history of the GDR. New York 2006, S. 307-324, hier S. 307. Im Unterschied zu den typischen Vertretern der Hitlerjugend-Generation hatten viele Seeleute dieser Geburtsjahrgänge durch die langen Seereisen weniger engen Kontakt mit den NS-Jugendorganisationen. Zum Erziehungsaspekt vgl. Rosenthal, Gabriele: Die Hitlerjugend-Generation. Biographische Thematisierung als Vergangenheitsbewältigung. Essen 1986, S. 73. Dies zeigt bereits, dass der Begriff der Hitlerjugend-Generation nicht als eine differenzierte Beschreibungskategorie, sondern eher als ein Sammelbegriff gedacht ist, zumal wenn man diejenigen bedenkt, die niemals der HJ beitraten. Vgl. Jaide, Walter: Generationen eines Jahrhunderts. Wechsel der Jugendgenerationen im Jahrhunderttrend. Zur Sozialgeschichte der Jugend in Deutschland 1871-1985. Opladen 1988, S. 309-310. In Anlehnung an Karl Mannheims Theorie der Generationen kann man davon ausgehen, dass historische Generationen »aufgrund von tiefgreifenden Erfahrungen« entstehen, »die die Angehörigen einer Generation in den prägenden Jahren ihrer Biographien durchlaufen.« Kraft, Andreas/Weißhaupt, Mark: Erfahrung – Erzählung – Identität und die »Grenzen des Verstehens«: Überlegungen zum Generationenbegriff. In: Dies. (Hg.): Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität. Konstanz 2009, S. 17-48, hier S. 25. 130 Interview Albert Peter, Z. 190. 131 Albrecht Lehmann hat im Zusammenhang mit dem Eintritt in die Wehrmacht auf die besonders »impressive« Lebensphase zwischen 18 und 25 Jahren hingewiesen. Lehmann verwendet hier einen Begriff des Soziologen Joachim Breitsamer. Vgl. Lehmann, Albrecht: Militär als Forschungsproblem der Volkskunde. Überlegungen und einige Ergebnisse. In: Zeitschrift für Volkskunde 78 (1982), H. II, S. 230-245, hier S. 233.

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teilweise auch Seelotsen wurden. Ein einziger Gesprächspartner arbeitete nach dem Krieg in einem seefahrtsfernen Beruf. Auch dadurch erfasst das Interviewsample einen relativ engen Ausschnitt aus den Internierungserinnerungen; die zahlreichen ehemaligen Internierten, die nach dem Krieg andere Berufe ergriffen, sind darin kaum vertreten. Innerhalb des homogenen Binnensamples der in Kanada Internierten zeigen sich einige »thematische Gemeinsamkeiten, Erfahrungs- und Erinnerungsmuster«, die Dorothee Wierling als kennzeichnend für die sogenannte »qualitative Repräsentativität« ansieht.132 Zieht man zum Vergleich autobiografische Texte anderer Verfasser über ihre Internierungserfahrungen in Kanada heran, so treten ähnliche inhaltliche Schwerpunkte hervor. Siegfried Lamnek verwendet für diesen Sachverhalt den Begriff des »Typischen«133 und wendet die Frage nach der Repräsentativität in Überlegungen zur »Repräsentanz«134. Anders als bei Untersuchungen, bei denen »Repräsentativität im statistischen Sinne« angestrebt wird, »kommt es bei der Repräsentanz darauf an, dass typische Fälle erfasst werden«135. Der Leitfaden Da Interviews und Archivrecherche von Anfang an parallel verliefen,136 klärten sich durch die Archivrecherche immer wieder Sachverhalte auf, die ein Gesprächspartner im Interview angesprochen hatte und die ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht hatte einordnen können; umgekehrt warfen manche Interviews auch ein neues Licht auf archivalisch dokumentierte Zusammenhänge. Dass Interviews nur »Momentaufnahmen«137 im Forschungsprozess sind, wird besonders am Beispiel der drei verschiedenen Interviewleitfäden deutlich, die in den zehn qualitativen Interviews zum Einsatz kamen und den jeweiligen Stand meines Erkenntnisinteresses widerspiegeln.138

132 Wierling, Dorothee: Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende. Berlin 1987, S. 21. 133 Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. Weinheim/Basel 42005, S. 185. 134 Ebd., S. 187. 135 Ebd. Zu qualitativen Argumenten gegenüber quantitativen Kritiken siehe J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 51-54. 136 Brigitta Schmidt-Lauber weist darauf hin, dass »Planung, Materialerhebung, Auswertung und Analyse nur idealtypisch einander folgende Schritte, realiter indes parallel verlaufende Bestandteile eines Prozesses sind.« B. Schmidt-Lauber: Das qualitative Interview, S. 172. 137 Eisch, Katharina: Grenze. Eine Ethnographie des bayerisch-böhmischen Grenzraums. München 1996, S. 69. 138 Jean-Claude Kaufmann begreift »Interviewtechniken als anpassungs- und entwicklungsfähige Instrumente […]: die Werkzeugkiste ist immer offen, und methodische Innovationen sind stets gefragt.« Kaufmann, Jean-Claude: Das verstehende Interview. Theorie und Praxis. Konstanz 21999, S. 57. Zur weit verbreiteten Annahme, allen Interviewten in einem Projekt müssten die gleichen Fragen gestellt werden, führt Gabriele Rosenthal aus: »Voraussetzung für diese Überlegung ist die Annahme, dass gleich gestellte Fragen glei-

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Der in den beiden ersten Interviews eingesetzte Fragenkatalog bezog sich in Form offener Fragen vor allen Dingen auf die Gefangennahme und das tägliche Leben im Lager. Der zweite, in drei Interviews verwendete Leitfaden zielte stärker auf die persönlich-biografische Ebene ab. Der dritte und letzte Leitfaden schließlich entstand in groben Zügen im Rahmen eines Workshops zur Entwicklung von Leitfäden für qualitative Interviews, der mich zu einer Neuakzentuierung meiner Forschungsfrage anregte und so auch den Interviewfragen eine neue Gestalt gab.139 Dieser Leitfaden ist in drei große Bereiche gegliedert und umfasst 22 einzelne Fragenkomplexe, denen jeweils mehrere mögliche Aufrechterhaltungs- und Nachfragen zugeordnet sind. Den Intervieweinstieg bilden biografische Informationen zur Vorkriegszeit (zwei Fragen), daran schließt die Chronologie der Ereignisse nach Kriegsbeginn an (elf Fragen) sowie deren Kontextualisierung und Wertung durch den Befragten (neun Fragen). Die Fragen sind offen formuliert, um es den Befragten zu ermöglichen, in der Antwort eigene Schwerpunkte zu setzen. Wie Gabriele Rosenthal betont, muss auch die ›Vorgeschichte‹ des zu untersuchenden Themenkomplexes thematisiert werden, wenn man »ein Erlebnis aus der Perspektive des Erlebenden verstehen«140 möchte. Dementsprechend lautete die Einstiegsfrage des dritten Leitfadens: »Erzählen Sie doch bitte mal, wie Sie überhaupt zur Seefahrt gekommen sind!« Manche Gesprächspartner beriefen sich in der Beantwortung dieser Frage auf eine familiäre Seefahrtstradition, andere setzten bei konflikthaften Familienkonstellationen oder alternativen Berufswünschen an, und wieder andere sprangen erzählend mitten hinein in ihre Berufstätigkeit in der Seefahrt kurz vor Kriegsbeginn. Durch die bausteinartige Konzeption des Leitfadens konnte die Reihenfolge der Fragen im Interviewverlauf den Schwerpunktsetzungen der Interviewten angepasst werden. Formal lassen sich die Interviews als teilstandardisiert,141 themenzentriert142

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che Anreize für die Interviewten bedeuten, bzw. dass Menschen die Sprachsymbole, wenn sie richtig formuliert sind, mehr oder weniger einheitlich interpretieren. Die Zuschreibung von Bedeutungen wird jedoch erzeugt durch die subjektiven Perspektiven, die sowohl im lebensgeschichtlichen Prozess als auch in der Interviewsituation auf interaktive Weise entstanden sind […]. Fragen mit gleichem Wortlaut können also sowohl für verschiedene Interviewte als auch für dieselbe Person in verschiedenen Lebens- und Interviewkontexten völlig Unterschiedliches bedeuten.« Rosenthal, Gabriele: Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. Weinheim 32011, S. 142. Für wichtige Anregungen zu meinem Interviewleitfaden danke ich Dr. Jan Kruse (†) und allen TeilnehmerInnen des Workshops im Juni 2008 in Berlin, insbesondere Sylvia von Wallpach, Karin Welling und Katja Witt. Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt am Main 1995, S. 198. Hopf, Christel: Qualitative Interviews – ein Überblick. In: Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek 2000, S. 349359, hier S. 351. Geiger, Klaus F.: Probleme des biographischen Interviews. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung. Vorträge der Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für

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oder halb- bzw. teilstrukturiert143 beschreiben; inhaltlich sind sie als biografisch144 oder teilbiografisch zu bezeichnen.145 Durchführung der Interviews Die meisten Interviews fanden bei meinen Gesprächspartnern zu Hause statt.146 Klara Löffler betont, dass vertrautes Terrain den Interviewten »soziale Sicherheit«147 verleihen kann, da sie sich dort in der gewohnten Rolle des Gastgebers präsentieren können. In den allermeisten Fällen wurde mir denn auch etwas angeboten, von einer Tasse Kaffee bis hin zum mehrgängigen Mittagessen. Die Interviews dauerten zwischen einer Stunde und knapp dreieinhalb Stunden. Gerade die besonders langen Gespräche profitierten von der Wahl des Interviewortes: Aus Regalen und Schränken holten viele Befragte während des Gesprächs Fotos, Dokumente und Bücher, um Bilder von sich selbst oder anderen Personen zu zeigen oder bestimmte Sachverhalte zu illustrieren.148 Bei vier der Interviews waren während des gesamten Gesprächs oder phasenweise weitere Personen anwesend. Zu den möglichen Nachteilen einer solchen Konstellation, die verschiedentlich beschrieben worden sind,149 gehören meiner Er-

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Volkskunde in Freiburg i. Br. vom 16.-18. März 1981. Freiburg 1982, S. 154-181, hier S. 160. Vgl. hierzu das Klassifikationsschema von Cornelia Helfferich: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. Wiesbaden 32009, S. 24. K.F. Geiger: Probleme des biographischen Interviews, S. 156. Wierling, Dorothee: Oral history. In: Maurer, Michael (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften. Band 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Leipzig 2003, S. 81-151, hier S. 131. Ein Interview mit einem in Australien lebenden Herrn konnte nur telefonisch durchgeführt werden, ein anderes fand in einem Vereinshaus statt, das mein Gesprächspartner als Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Löffler, Klara: Entsorgung des Gewissens? Zum interaktiven Entstehungszusammenhang des Erinnerns in lebensgeschichtlichen Befragungen. In: Bönisch-Brednich, Brigitte/Brednich, Rolf Wilhelm/Gerndt, Helge (Hg.): Erinnern und vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991, S. 263-269, hier S. 266. Auf diesen Aspekt weist auch Alexander von Plato hin, wenn er die Wohnung des Befragten als Ort für das Interview empfiehlt; Plato, Alexander von: Zeitzeugen und die historische Zunft. Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss. In: BIOS 13 (2000), H. 1, S. 529, hier S. 24; Albrecht Lehmann nennt diese Praxis »Belegen«, da er davon ausgeht, dass die Befragten dadurch »den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichten unterstreichen wollten«, siehe Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt am Main/New York 1983, S. 71. Lehmann, Albrecht: Autobiographische Methoden. Verfahren und Möglichkeiten. In: Ethnologia Europaea XI (1979/80), S. 36-54, hier S. 44. Auch Werner Fuchs-Heinritz empfiehlt, das Interview unter vier Augen zu führen und vor allen Dingen darauf zu achten, dass eventuelle Ehepartner nicht anwesend sind. Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Wiesbaden 42009, S. 251.

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fahrung nach Versuche besonders von Familienangehörigen, das Gespräch zu lenken bzw. ›Abkürzungen‹ einzuschlagen. Andererseits kann die Interaktion des Befragten mit Dritten während des Interviews das Datenmaterial um Aspekte bereichern, die anders kaum zu erheben wären. Das viel zitierte »gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch«150 wird genau dann beobachtbar, wenn zu der Person, die aus ihrer eigenen Erfahrung berichtet, eine weitere tritt, die diese Erfahrung bereits seit Jahrzehnten aus Erzählungen kennt. Vor allem aber erlauben anwesende Dritte Rückschlüsse darauf, wie die Interviewerin bestehende Beziehungsdynamiken verändert.151 Doch auch abwesende Personen nehmen Einfluss auf den Inhalt und die sprachliche Gestalt des Textes. Glaubt man manchen Autoren, so wird das Aufnahmegerät im Laufe des Gesprächs rasch und nachhaltig »übersehen«.152 Meiner Erfahrung nach ist das nicht der Fall; immer wieder nahmen meine Interviewpartner verbal oder nonverbal Bezug auf das Aufnahmegerät. Die Option, es auszuschalten und heikle Themen ›off the record‹ zu besprechen, stand in einigen Interviews im Raum. Wenngleich diese Möglichkeit meist nur scherzhaft geäußert wurde und niemand darauf bestand, das Gerät auszuschalten, zeigt das doch, dass ein Aufnahmegerät durchaus als »Medium der Öffentlich- und Verwertbarmachung«153 wahrgenommen wird. Das durch das Mikrofon repräsentierte »unsichtbare Publikum«154 beeinflusst Inhalt und Verlauf des Interviews.155 Wie Dorothee Wierling exemplarisch gezeigt hat, kann ei-

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Karl-Heinz Reuband weist nach, dass in vielen Fällen die jeweiligen Partner der Befragten aus eigenem Antrieb zum Interview dazukommen, dass aber fast ebenso oft beide Personen das Interview gemeinsam durchführen möchten. Reuband, Karl-Heinz: Unerwünschte Dritte beim Interview. Erscheinungsformen und Folgen. In: Zeitschrift für Soziologie 16 (1987), H. 4, S. 303-308, hier S. 305. Welzer, Harald: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch. In: Ders. (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 160-178, hier S. 170. In einem der Interviews beispielsweise schaute die Ehefrau des Befragten immer wieder zur Wohnzimmertür herein, um sich zu erkundigen, ob wir »zurecht« kämen. Ihr Mann war von den Unterbrechungen bald so irritiert, dass er den Faden verlor, was sie wiederum zum Anlass nahm, sich während des gesamten Interviews schräg hinter ihn in einen Sessel zu setzen und ihm von dort aus zu soufflieren, was er zunächst abwehrte, dann aber hinnahm. Sie war auch diejenige, die darauf achtete, dass ich – der Störfaktor – pünktlich wieder zur Tür hinaus war: Der lautstark geäußerte Hinweis, die Kartoffeln seien nun gar, man könne dann gleich essen, war offenbar das Signal für ihren Mann, das Interview zu beenden. A. Lehmann: Autobiographische Methoden, S. 39. K. Eisch: Grenze, S. 77. W. Fuchs-Heinritz: Biographische Forschung, S. 258. Das gilt im Übrigen auch für Äußerungen des Interviewers: »In the oral history interview, […] both interviewer and narrator have in the back of their minds the presence of other audiences. Both have a need to articulate a view of their reality consonant with the communities they identify with, and ideology they share.« Vgl. Yow, Valerie: ›Do I like them too much?‹. Effects of the oral history interview on the interviewer and vice-versa. In:

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ne dieser versteckten Öffentlichkeiten die Generation sein, der der Befragte angehört,156 aber auch diejenige des Fragenden. Dies gilt vor allem in intergenerationellen Gesprächssituationen, in denen wie im vorliegenden Fall (NS-)Vergangenheit gegenüber einer jüngeren Interviewerin verhandelt wird. »Wie alt ist denn Ihr Großvater?«: Das Interview als intergenerationelles Gespräch Dass die Art und Weise des Feldzugangs auf die Interaktion im Interview und damit auch auf den entstehenden Text einwirkt,157 ist eine Grundannahme qualitativer Forschung. Sie beruht auf der Einsicht, dass der Forscher als Person aus dem Interview nicht herauszulösen ist.158 Dies zeigte sich auch im vorliegenden Fall: Bei der Kontaktaufnahme mit potenziellen Gesprächspartnern thematisierte ich offen, dass mein Großvater vor Kriegsbeginn zur See gefahren und während des Krieges ebenfalls interniert gewesen war.159 Diese Information wirkte sich positiv auf die Anbahnung des Kontakts und die Durchführung der Interviews aus. Sie schuf eine Vertrauensbasis und stellte rasch Nähe her, was sich besonders in den informellen Gesprächsphasen am Anfang und Ende der Interviews zeigte. Meine Gesprächspartner wollten etwa wissen, wie mein Großvater hieß, bei welcher Reederei er in welcher Funktion beschäftigt und wo er interniert gewesen war.160 Mein Vorwissen bewusst zurückzustellen, wie es Cornelia Helfferich von Interviewern in qualitativen Interviews fordert,161

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Thomson, Alistair/Perks, Robert (Hg.): The Oral History Reader. London/New York 2006, S. 54-72, hier S. 66. Wierling, Dorothee: »Übergänge schaffen«. Zum Erzählen und Beschweigen eines Erfahrungsschatzes. In: Geulen, Christian/Tschuggnall, Karoline (Hg.): Aus einem deutschen Leben. Lesarten eines biographischen Interviews. Tübingen 2000, S. 37-54, hier S. 41. K.F. Geiger: Probleme des biographischen Interviews, S. 168; G. Rosenthal: Interpretative Sozialforschung, S. 140-141; H. Welzer: Das gemeinsame Verfertigen. Johannes Angermüller leitet daraus das Gütekriterium der Transparenz ab: »Comme le chercheur ne se situe pas au-dessus des acteurs et de leurs milieux, la question de qui fait l’étude, cʼest-à-dire la compétence personnelle du chercheur est souvent un facteur nonnégigeable – dʼoù l’importance de rendre transparente la démarche du chercheur. Si aucun autre chercheur ne peut accéder à un terrain donné de la même façon, le défi consiste à expliquer après-coup la façon dont il a produit ses résultats.« Angermüller, Johannes: L’analyse qualitative et quasi qualitative des textes. In: Paillé, Pierre (Hg.): La méthodologie qualitative: postures de recherche et travail de terrain. Paris 2006, S. 225236, hier S. 233. Hervorhebung im Original. Matthias Berek führt zu diesem Problemfeld aus: »Auch wissenschaftlich Forschende sind in ihrem Tun schwerlich entbiographisierbar, sie arbeiten nicht im substanz- und körperlosen Raum ohne biographischen Hintergrund.« Berek, Mathias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Wiesbaden 2009, S. 104. Z.B. im Interview mit Herbert Suhr, Z. 241 oder im Interview mit Hans Peter Jürgens, Z. 1565. C. Helfferich: Die Qualität qualitativer Daten, S. 40.

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hätte die Befragten nach dieser Vorinformation irritiert. Umgekehrt fielen allerdings manche Erläuterungen vielleicht auch dadurch knapper aus, dass die Befragten bestimmte Zusammenhänge als bekannt voraussetzten. Zudem schuf die Information über meinen Großvater eine zusätzliche Beziehungsebene: Sie verortete die Befragten gemeinsam mit ihm in einem generationalen Zusammenhang und positionierte mich in einer quasi-familialen Konstellation, in der ich nicht nur als Forscherin, sondern auch als Enkelin eines Kollegen angesprochen wurde.162 Mein Berichten über den immer wieder von seinen Erlebnissen erzählenden Großvater transportierte möglicherweise auch Erwartungen an das Verhalten der Gesprächspartner im Interview, vergegenwärtigt man sich das sozialpsychologische »Grundaxiom, daß man so spricht, wie man erwartet, daß der andere erwartet, daß man sprechen wird«.163 Auch im weiteren Verlauf des Kontakts und in anderen Belangen war meine Rolle in dieser intergenerationellen Konstellation ähnlich der einer Enkelin: Ich wurde vom Bahnhof abgeholt, bewirtet, beschenkt und durfte mir Geschichten erzählen lassen. Manche Gesprächspartner liehen mir Fotos und andere Unterlagen aus. Ich zeigte das Interesse an den Internierungserfahrungen, das manche Gesprächspartner von ihrer eigenen Familie vielleicht nicht im gewünschten Maß bekamen,164 und wurde daher in manchen Interviews auch als Person betrachtet, die das Vermächtnis dieser Generation von Seeleuten bewahren würde. Ein Interviewpartner beispielsweise trennte mit einem langen Messer ein Foto aus seinem Album und schenkte es mir mit dem Hinweis, diese Dinge würden ja nach seinem Tod sowieso im Müllcontainer landen und da sei es besser, ich behielte sie.165 Dass »zwischen Erzähler und Interviewer ein zunehmendes Maß von Vertrautheit entsteht, ja häufig sogar von Sympathie«,166 gilt als Ideal einer geglückten Interviewsituation. Die große Intimität einer solchen Beziehung, die ein Interview von alltäglicher Kommunikation unterscheidet,167 rührt Dorothee Wierling zufolge daher, dass

162 Zur Entstehung einer quasi-familialen Konstellation im Interview durch Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung siehe V. Yow: ›Do I like them too much‹, S. 65. 163 Welzer, Harald: Erinnern und weitergeben. Überlegungen zur kommunikativen Tradierung von Geschichte. In: BIOS 11 (1998), H. 2, S. 155-170, hier S. 159. 164 Ähnliche Erfahrungen thematisiert K. Eisch: Grenze, S. 72. 165 Es sei dahingestellt, inwieweit die Befragten außerdem ihr Verhalten an dem komplexen Konstrukt von ›Kameradschaft‹ oder an damit verbundenen Werten ausrichteten und dabei mich als Repräsentantin meines Großvaters behandelten, indem sie sich auch mir gegenüber kameradschaftlich verhielten. 166 Hermanns, Harry: Das narrative Interview in berufsbiographisch orientierten Untersuchungen. Kassel 1981, S. 52. 167 Leh, Almut: Forschungsethische Probleme in der Zeitzeugenforschung. In: BIOS 13 (2000), H. 1, S. 64-76, hier S. 69. Im Gegensatz dazu setzt beispielsweise Hans Joachim Schröder in seinen Überlegungen zum Interview dieses mit dem sog. Alltäglichen Erzählen gleich – eine Gleichung, die meines Erachtens nicht aufgeht. Vgl. Schröder, Hans Joachim: Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview: Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten. Tübingen 1992, S. 127 ff.

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»sich vor allem einer der beiden offenbart und entblößt, sich quasi ausliefert, während der andere von sich fast nichts preisgibt«168. Es ist nicht auszuschließen, dass die entstandene Nähe in der intergenerationellen Konstellation meiner Interviews zusammen mit der oben beschriebenen Stellvertretersituation zu dem Phänomen geführt hat, das Valerie Yow beschreibt: »When the feelings between narrator and interviewer are positive, […] I have found myself hesitating to ask some things of narrators for whom I felt affection lest my questions cause them discomfort.«169 Allerdings blieb diese gefühlte Nähe in keinem der hier besprochenen Fälle erhalten, auch weil sich kein längerfristiger Kontakt zu den Befragten ergab. »Ich bin ein Zeitzeuge!«: Autorität und Ermächtigung im Interview Machtverhältnisse zwischen Interviewer und Interviewtem werden in der Methodenliteratur unterschiedlich bewertet. Während in englischsprachigen Publikationen oft egalitäre Ansätze überwiegen, die das Interview als »collaborative effort […] between two searchers of the past and present«170 betrachten und betonen, dass es eine Situation »of shared authority«171 sei, haben deutschsprachige Wissenschaftler die Interviewkonstellation vor allem aufgrund der ihr inhärenten Asymmetrie immer wieder kritisch diskutiert. Dabei werden einerseits Positionen vertreten, die einen Machtüberhang aufseiten des Interviewers sehen. Sie beziehen sich insbesondere darauf, dass in der Regel spätestens mit Beginn der Interpretation die Zusammenarbeit zwischen Interviewer und Befragten endet. Der Befragte »kommt aus seiner Doppelrolle nicht heraus: Er ist Subjekt oder Partner der Quellenproduktion, aber eben auch Gegenstand der Beobachtung des Interviewers, Objekt des Forschungsprozesses.«172 Nach dem Gespräch existiert der Interviewte nur noch ›auf dem Papier‹ bzw. als Stimme auf Tonband, er wird vom »Partner der Quellenproduktion […] nun endgültig zum Objekt«173. Während Interpretation für den Forscher eine Ermächtigung bedeutet, weil er die Deutungshoheit hat, kann sie für den Beforschten eine Entmachtung, zumindest aber eine unerwünschte Festschreibung mit sich bringen.174 Auf der anderen Seite finden sich Auffassungen, denen zufolge der Erzähler in der machtvolleren Position ist. Beispielsweise kann er das Handlungsschema des Interviews durchbrechen und so einen »Machtkampf«175 herbeiführen. Zudem kann er »die For-

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D. Wierling: Oral History, S. 113. V. Yow: ›Do I like them too much‹, S. 65. Ebd., S. 62. Marshall Clark, Mary: Oral History. In: Jolly, Margaretta (Hg.): Encyclopedia of life writing. Autobiographical and biographical forms. London 2001, S. 677-679, hier S. 678. A. Leh: Forschungsethische Probleme, hier S. 68; auch Klaus F. Geiger sowie Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann sehen den Befragten auf der schwächeren Seite, vgl. K.F. Geiger: Probleme des biographischen Interviews, S. 159; Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf: Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Wiesbaden 22004, S. 82. A. Leh: Forschungsethische Probleme, S. 71. D. Wierling: Oral History, S. 90. H. Hermanns: Das narrative Interview, S. 129-130.

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scherin für die Erfüllung selbstbezogener Bedürfnisse wie dem Wunsch nach Anerkennung seiner Lebensleistung, nach Mitleid und Empathie für Leidenserfahrungen, nach Rechtfertigung und Anerkennung seiner Standpunkte in Konflikten etc. in Anspruch nehmen«176. Er kann »eigene Schwerpunkte setzen und die ihm gegebene Zeit überziehen […] – denn einen Zeitzeugen unterbricht man nicht«177. Angesichts dieser Ambivalenzen lässt sich mit Cornelia Helfferich festhalten, dass »beide, Erzählpersonen und Interviewende, ein Machtpotenzial [besitzen] – aber jeweils in unterschiedlichen Formen: […] Die Erzählperson hat die Macht als Informantin, die über Wissen verfügt, die interviewende Person als diejenige, die die Situation definiert und über mehr Hintergrundsinformationen verfügt.«178 Die stillschweigende Übereinkunft zwischen Forscherin und Befragten, die sowohl eine Rollenverteilung impliziert als auch das Vorhaben, das Interview in Übereinstimmung mit diesen Rollen durchzuführen,179 trägt auch dazu bei, den Gesprächspartnern Autorität zu verleihen. Aus der eigenen Lebensgeschichte werden plötzlich »forschungsrelevante Daten«.180 Der Gesprächspartner erfährt eine immense Aufwertung der eigenen Person und kann sich – dank zahlreicher medial vermittelter Vorbilder – mit der Rolle des ›Zeitzeugen‹ identifizieren.181 Ein anschauliches Beispiel dafür, wie potenzielle Gesprächspartner diesen Begriff als Selbstzuschreibung verwenden, bot ein älterer Herr, der sich auf meinen Zeitungsaufruf (in dem der Begriff des ›Zeitzeugen‹ nicht vorkam) meldete. In der Nachricht, die er auf meinem Anrufbeantworter hinterließ, wiederholte er fast mantrahaft: »Ich bin ein Zeitzeuge!«182 Diese Episode illustriert, dass einige Gesprächspartner bereits vor der eigentlichen Interviewsituation ein ausgeprägtes Bewusstsein für »die eigene Bedeutung als

176 G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität, S. 87-88. 177 Wierling, Dorothee: Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen. Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – drei Geschichten und zwölf Thesen. In: BIOS 21 (2008), H. 1, S. 2836, hier S. 31. 178 C. Helfferich: Die Qualität qualitativer Daten, S. 133-134. 179 Harry Hermanns spricht in diesem Zusammenhang auch von einem gemeinsamen Interesse an einer »dritten Sache«, die die Befragten zur Teilnahme am Interview motiviert. Vgl. H. Hermanns: Das narrative Interview, S. 104. 180 Michel, Gabriele: Biographisches Erzählen – zwischen individuellem Erlebnis und kollektiver Geschichtentradition. Untersuchung typischer Erzählfiguren, ihrer sprachlichen Form und ihrer interaktiven und identitätskonstituierenden Funktion in Geschichten und Lebensgeschichten. Tübingen 1985, S. 98. 181 In der amerikanischen Oral History wird häufig betont, dass Interviewprojekte den Erzählenden die Würde und Bedeutung verleihen, die ihnen aufgrund ihrer Erlebnisse (und aufgrund der Tatsache, dass sie überlebt haben) quasi rechtmäßig zustehe. So etwa bei Carlson, Lewis H.: We were each other’s prisoners. An oral history of World War II American and German prisoners of war. New York 1997, S. viii. Zum Thema der Zuwendung vgl. K. Eisch: Grenze, S. 72. 182 Später stellte sich heraus, dass dieser Mann gar nicht interniert gewesen, sondern der Gefangennahme entgangen war. Strenggenommen war seine Selbstbezeichnung als »Zeitzeuge« also durchaus zutreffend.

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Quelle«183 besitzen und das Konzept des Zeitzeugen aufgreifen, um einen daraus abgeleiteten Geltungsanspruch zu vermitteln. Vor allem der im Medienkontext auftretende Zeitzeuge soll »durch seine vermeintliche Authentizität und die Aura seines Leidens oder seiner Taten unmittelbar und eindeutig überzeugen […], indem er im Zuhörer entsprechende Identifikationen auslöst, ihn emotional berührt und vereinnahmt«184. Diese Identifikation basiert auf der Vorstellung »einer unverfälschten, originalen Erinnerung«, von der man annimmt, sie sei »jederzeit wiederherstellbar«.185 Diese Vorstellung wurde in der Gedächtnisforschung jedoch längst ad acta gelegt. Die Erinnerung, die der Zeitzeuge im Fernsehinterview wiedergibt, ist »wie die Rekonstruktion eines Dinosauriers aus Knochenbruchstücken. Für den Paläontologen sind die Knochenstücke, die bei einer archäologischen Ausgrabung gefunden werden, und der Dinosaurier, der am Ende aus ihnen rekonstruiert wird, nicht dasselbe.«186 Aus neurowissenschaftlicher Perspektive wird das Gedächtnis heute als Produktionsmodell konzipiert; jede Erinnerung ist eine Produktion von Inhalten aus der aktuellen Situation heraus.187 Die Erinnerungen, um die es in Interviews üblicherweise geht, sind Teil des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses.188 Dieses reorganisiert sich im Laufe des Lebens mehrfach, es ist nie abgeschlossen oder ›voll‹, sondern immer in Bewegung.189 Denn jedes Aktivieren von Erinnerungen wirkt auf die Figuration des Gedächtnisses zurück und bewirkt, wie Hans J. Markowitsch erläutert, »damit gegenüber der erstmaligen Einspeicherung eine Modifikation in der neuralen Repräsentation«.190 Das Sprechen über Erlebtes spielt daher eine entscheidende Rolle bei der längerfristigen ›Speicherung‹ von Gedächtnisinhalten. Denn die Verbalisierung von Erinnerungen trägt dazu bei, dass das Erlebte überhaupt für längere Zeit erinnert wird.191

183 Seifert, Manfred: Ego-Dokumente im Spannungsfeld von Forschungsperspektiven und Sammlungspraxis. Zum Stellenwert lebensgeschichtlicher Forschung im aktuellen Wissenschaftsdiskurs und ihre Konzeption am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde. In: Ders./Friedreich, Sönke (Hg.): Alltagsleben biografisch erfassen. Konzeptionen lebensgeschichtlicher Forschung. Dresden 2009, S. 11-36, hier S. 14. 184 D. Wierling: Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen, S. 35. 185 M. Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 113. 186 Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 118. 187 M. Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 12. 188 Leh, Almut: Biographieforschung. In: Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/ Weimar 2010, S. 299-311, hier S. 309-310. Zum episodisch-autobiografischen Gedächtnis siehe Markowitsch, Hans J.: Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns. Befunde aus der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 219-239, hier S. 222. 189 Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart/Weimar 2000, S. 86. 190 Markowitsch, Hans J.: Die Erinnerung von Zeitzeugen aus der Sicht der Gedächtnisforschung. In: BIOS 13 (2000), H. 1, S. 30-50, hier S. 46. 191 Vgl. D. Schacter: Wir sind Erinnerung, S. 146.

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Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass das Gedächtnis Erlebnisse unter Stress anders verarbeitet als Erfahrungen aus Phasen von Ruhe und Sicherheit.192 Andererseits geraten »Ereignisse, die mit keinerlei oder wenigen Emotionen gekoppelt sind, […] schneller in Vergessenheit«193 als stark emotional besetzte Erlebnisse. Eine Problematik, die im ›Zeitzeugen‹-Interview unlösbar bleiben muss, entsteht durch die Erkenntnis, dass Erinnern am vollständigsten und leichtesten dann gelingt, wenn die Situation des Erinnerns in möglichst vielen Aspekten mit der ursprünglichen Erlebnissituation übereinstimmt.194 In der künstlichen Situation eines Forschungsinterviews muss also generell davon ausgegangen werden, dass nur Ausschnitte aus der Erinnerung zur Verfügung stehen und dass Erinnerungslücken »anhand diverser Informationsquellen (wie Selbstkonzept, subjektive Wissensschemata, kanonische Lebensereignisse etc.) gefüllt«195 werden. Generell beeinflusst der Rahmen der Interviewsituation, was erinnerbar ist und ob und in welcher Form diese Erinnerungen geäußert werden können.196 Er erstreckt sich nicht nur auf äußere Bedingungen wie etwa den Interviewort, die Tageszeit oder das Wetter, sondern auch auf Stimmungen und Gefühle des Erzählers zum Zeitpunkt des Interviews. Auch Vorerfahrungen aus anderen Erzählsituationen, unter Umständen den gleichen Stoff betreffend, fließen in hohem Maße in die aktuelle Situation mit ein. Bei Interviews mit älteren Menschen wirken sich einige Bedingungen des Erinnerns besonders stark aus. Zum einen erschwert die große Anzahl von Erinnerungen gerade aus der in der vorliegenden Studie erfragten Adoleszenzphase die Auswahl dessen, was erzählt werden soll. Der sogenannte reminiscence bump bezeichnet die Häufung von Erinnerungen aus der Zeit zwischen dem 15. und dem 30. Lebensjahr.197 Erlebnisse aus diesem Fundus, die noch nicht oft oder noch nie erzählt wurden, sind möglicherweise schwierig zu verbalisieren.198 Erinnerungen, die bereits oft geschildert wurden, sind hingegen leichter abzurufen und wiederzugeben. Die Formulierungen, die hierzu verwendet wurden, können das eigentliche Erlebnis nach und nach

192 H.H. Markowitsch: Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 40-41. 193 M. Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 51. 194 H.H. Markowitsch: Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 46; das Phänomen des state dependent retrieval zeigt sich Harald Welzer zufolge auch darin, dass »auf Kameradschaftsabenden oder Heimattreffen eine größere Reichhaltigkeit von ereignisspezifischen Erinnerungen vorfindlich ist, als wenn im Rahmen anderer Settings, also etwa in Forschungsinterviews, lebensgeschichtliche Erinnerungen abgefragt werden.« Welzer, Harald: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung. In: BIOS 13 (2000), H. 1, S. 51-63, hier S. 58. 195 Pohl, Rüdiger: Das autobiographische Gedächtnis. In: Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010, S. 75-84, hier S. 75-76. 196 M. Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 74; Robinson, John A.: Perspective, meaning and remembering. In: Rubin, David C. (Hg.): Remembering our past. Studies in autobiographical memory. Cambridge 1999, S. 199-217, hier S. 205-206. 197 R. Pohl: Das autobiographische Gedächtnis, S. 79. 198 D. Schacter: Wir sind Erinnerung, S. 134.

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überlagern.199 Konfabulation als »Ausschmücken von Geschichten im Zuge ihres wiederholten Erzählens«200 gehört zu den gängigen Refigurationseffekten, die altersunabhängig beim Erinnern auftreten. So können verfestigte, »kanonisierte«201 Geschichten entstehen, die aber für den Interviewer nicht immer leicht zu erkennen sind. Zum anderen muss man davon ausgehen, dass sich der erzählende Mensch in der Zeit, die seit dem Erlebnis verstrichen ist, psychisch und physisch verändert hat. Durch altersbedingte Veränderungen im Gehirn etwa kann das sogenannte Quellengedächtnis in Mitleidenschaft gezogen werden und »die Zuordnung von erinnerten Informationen zur Situation, in der diese Information aufgenommen wurde oder von wem sie stammt, wird immer unzuverlässiger«202. Daneben kann beim Erinnern ein weiterer altersunabhängiger Refigurationseffekt auftreten, nämlich die vermeintliche Erinnerung an etwas, das man in Wahrheit jedoch nie selbst erlebt hat.203 Dieses Phänomen wird auch als false memory syndrome bezeichnet.204 Zudem kann sich durch Ereignisse oder Faktoren, die der Forscher zum größten Teil wohl gar nicht erfährt und die den Erzählern selbst vielleicht nicht einmal bewusst sind, die Bewertung von Erlebnissen im Laufe des Lebens ändern.205 Gerade die »Erinnerung an den Krieg ist […] keine stabile Größe, die unverändert weiterwirkt. Sie unterliegt […] den Kriegsfolgen, die die Erinnerung an den Krieg überformen, verdrängen, kanalisieren, kurzum verändern können. Vieles wird vergessen, anderes bleibt hartnäckig wie ein Stachel im Bewußtsein stecken. Vieles wird verdrängt, anderes glorifiziert.«206 Gegenüber einer pessimistischen Einschätzung von Kriegserinnerungen als lückenhaft oder verfälscht kann eine konstruktivistische Perspektive auf diese Erinnerungen »als situationsgebundene Variation immer neuer Aktualisierungen in veränderten synchronen Kontexten«207 dazu beitragen, Fragen nach der Authentizität dieser Texte in ihrer Bedeutung für den Quellenwert von Interviews zu relativieren.

199 Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen? In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 103-122, hier S. 108. 200 H. Welzer: Erinnern und weitergeben, S. 162. 201 Köstlin, Konrad: Erzählen vom Krieg – Krieg als Reise II. In: BIOS 2 (1989), H. 2, S. 173-182, hier S. 174. 202 M. Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 53. Zu Alterseffekten vgl. H.H. Markowitsch: Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 47. 203 Auch als kryptomnestische Erinnerung bezeichnet. H. Welzer: Erinnern und weitergeben, S. 162. 204 H.H. Markowitsch: Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 43; dieser Begriff wird auch angewandt, wenn es um Informationen aus zweiter Hand geht, die beim Erzählen für eigene Erinnerungen gehalten werden. Vgl. hierzu auch M. Berek: Kollektives Gedächtnis, S. 13. 205 J.A. Robinson: Perspective, meaning and remembering, S. 202. 206 Koselleck, Reinhart: Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein. In: Wette, Wolfram (Hg.): Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten. München u.a. 1992, S. 324-343, hier S. 331. 207 Buschmann, Nikolaus/Reimann, Aribert: Die Konstruktion historischer Erfahrung. Neue Wege zu einer Erfahrungsgeschichte des Krieges. In: Buschmann, Nikolaus/Carl, Horst (Hg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn 2001, S. 261-271, hier S. 262.

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Zur Wahrheitsfähigkeit von Interviewtexten Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt bzw. der Wahrheitsfähigkeit208 von Interviewerzählungen ist mit diesen Überlegungen bereits grob umrissen. Es ist klar, dass Interviews keine vollständigen Abbilder dessen präsentieren können, was der Erzähler erlebt hat. Zwischen der erlebten Vergangenheit und dem, was wir ›Erinnerung‹ nennen, liegen vielfältige Filtermechanismen und Übersetzungsvorgänge, die Veränderungen bewirken. ›Wahrheit‹ im Sinne exakter und lückenloser Übereinstimmung mit der Realität ist demnach ein Anspruch, mit dem man Interviews in ihrer Eigenschaft als soziale Konstruktionen nicht gerecht wird. Dorothee Wierling plädiert dafür, »ihren ›Wahrheitsgehalt‹ […] zu präzisieren. Denn dieser Wahrheitsgehalt liegt in der subjektiven Erfahrung mehr als in den tatsächlichen Ereignissen, mit denen sie in der Erinnerung verknüpft werden.«209 Konsequenterweise ist deshalb beim Umgang mit Interviews zu fragen, warum der Gesprächspartner die Geschichten gerade in dieser Situation und in dieser Form erzählt, welche Erzählstrategien er einsetzt und wie sie im Gesamtkontext der Interviewkonstellation zu interpretieren sind.210 Dabei ist auch zu fragen, welche Erlebnisse und »Erfahrungsdimensionen«211 in diesem Rahmen überhaupt »sozial akzeptabel«212 erzählbar sind. Dorothee Wierling zufolge bringen Kriegserlebnisse wie die in der vorliegenden Arbeit untersuchten in der Regel »dichte Geschichten«213 hervor. Allerdings sind dabei auch bestimmte Ausblendungen oder Lücken feststellbar,214 die sowohl aus den Wahrnehmungsbedingungen der Erlebnissituation heraus als auch durch Rahmungen der Interviewsituation, soziale und kulturelle Konventionen des Erzählens und Grenzen des Erzählbaren zu erklären sind.215 Auch harmlose »Routinen des Alltags«216 können sich der Verbalisierung widersetzen. Aus der Tatsache, dass ein Erzähler bestimmte Informationen nicht von sich aus thematisiert, kann man nicht schließen, dass er sie verges-

208 Hans Joachim Schröder verwendet dieses Konzept in seinen Überlegungen zu qualitativen Interviews, siehe H.J. Schröder: Die gestohlenen Jahre, S. 221. 209 D. Wierling: Oral History, S. 117. 210 Personal Narratives Group: Whose Voice? In: Dies. (Hg.): Interpreting Women’s Lives. Feminist Theory and Personal Narratives. Bloomington 1989, S. 201-203, hier S. 203. 211 Schmidt-Lauber, Brigitta: Grenzen der Narratologie. Alltagskultur(forschung) jenseits des Erzählens. In: Hengartner, Thomas/Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Festschrift für Albrecht Lehmann. Berlin 2005, S. 145-162, hier S. 154. 212 D. Wierling: Oral History, S. 117. 213 Ebd., S. 131. 214 Das betrifft etwa belastende Erfahrungen. Vgl. zu diesem Problemfeld Rosenthal, Gabriele: Leben mit der NS-Vergangenheit heute. Zur Reparatur einer fragwürdigen Vergangenheit. In: Vorgänge 28 (1989), H. 3, S. 87-101, hier S. 91. 215 Zum Einfluss von Angst auf die Wahrnehmung einer Situation vgl. H. Welzer: Das Interview als Artefekt, S. 56. Gabriele Rosenthal hat ausführlich dargestellt, wie Thematisierungstabus blinde Flecken in Interviews erzeugen und wie diese von den Erzählern überdeckt werden. G. Rosenthal: Leben mit der NS-Vergangenheit heute, S. 91. 216 B. Schmidt-Lauber: Grenzen der Narratologie, S. 154.

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sen hat.217 Eine gezielte Interviewfrage kann als »Suchset«218 auch Erzählungen zu solchen Themen anstoßen. Ein mündlich erzählter lebensgeschichtlicher Text präsentiert eine Version des erzählenden Ichs, die im Hinblick auf den Zuhörer modelliert wird.219 Dieser situierten Konstruktion kann man entnehmen, »wie ein Erzähler seine Auffassung von der Vergangenheit einem Zuhörer zu vermitteln versucht«220. Dabei spielt der Aspekt der Performanz eine große Rolle. Er zeigt sich darin, dass Funktion und Eignung der erzählten Sequenz innerhalb des Plots die Auswahl der Ereignisse in autobiografischen Texten viel stärker bestimmen als deren lebensgeschichtlicher Wahrheitsbezug: »Events are shaped for narrative purposes with a view toward meaning and signification, not toward the end of somehow ›preserving‹ the facts themselves.«221 Schriftliche und mündlich erhobene autobiografische Texte können darum auch als Montage aufgefasst werden, die »in relevanten Teilen fiktiv«222 ist. Der Aussagewert von Interviews liegt daher, wie oben skizziert, nicht auf der Ebene der historischen Wahrheit, sondern in der Art und Weise der Realisierung dialogischer Sinnproduktion bzw. -konstruktion im Interview. Exkurs: Autobiografische Texte Einiges von dem, was über den Quellenwert von Interviews gesagt wurde, gilt auch für autobiografische Texte ehemaliger Internierter.223 Beide Erzählformen verbindet

217 R. Pohl: Das autobiographische Gedächtnis, S. 77-78. 218 Ebd. 219 Laudun, John: Orality. In: Jolly, Margaretta (Hg.): Encyclopedia of life writing. Autobiographical and biographical forms. London 2001, S. 680-681, hier S. 681. 220 H. Welzer: Das Interview als Artefakt, S. 60; ähnlich argumentiert Bausinger, Hermann: Constructions of life. In: Hofer, Tamás/Niedermüller, Peter (Hg.): Life history as cultural construction/performance. Proceedings of the IIIrd American Hungarian Folklore Conference, held in Budapest, 16-22 August, 1987. Budapest 1988, S. 477-490, hier S. 482. 221 Bruner, Jerome/Fleisher Feldman, Carol: Group narrative as a cultural context of autobiography. In: Rubin, David C. (Hg.): Remembering our past. Studies in autobiographical memory. Cambridge 1999, S. 291-315, hier S. 293. 222 Gudehus, Christian: Tradierungsforschung. In: Ders./Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010, S. 312-318, hier S. 314. 223 Bernd Jürgen Warneken vergleicht in einer exemplarischen Analyse schriftliche und mündliche Lebensgeschichten einer Person hinsichtlich Textumfang, Verstehbarkeit, Lebendigkeit, Konkretionsgrad, Genauigkeit (z.B. Datierung) und Evaluationsperspektive. Er kommt zu dem Schluss, dass die dabei durchaus feststellbaren Unterschiede durch genrespezifische Konventionen zu erklären sind. Auch wenn es sich beim Autor der Autobiografie und dem Erzähler im Interview um ein- und dieselbe Person handelt, nehmen sie doch zwei verschiedene Rollen ein, die sich jeweils auf Form und Gehalt der Texte auswirken. Vgl. Warneken, Bernd Jürgen: Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung. Tübingen 1985, S. 58-79. In der vorliegenden Studie steht allerdings nicht der Abgleich zwischen verschiedenen Erinne-

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die rückblickende Auswahl biografisch relevanter Ereignisse und ihre Verknüpfung zu einer kohärenten Narration224 – mit dem Unterschied, dass der Erzählstimulus bei schriftlich abgefassten Texten meist intrinsisch motiviert ist.225 Die Textproduktion schriftlicher Autobiografien ist zudem stärker von Kontrolle und innerer Zensur geprägt als im Interview. Wenn schriftliche Texte auch meist formal geschlossener wirken als mündliche autobiografische Stegreiferzählungen, so sind Interviews und Autobiografien doch gleichermaßen »complexely constructed narratives«.226 Obwohl Verfasser und Hauptperson bzw. erzähltes Ich ein- und dieselbe Person sind, obwohl der Leser also in der Regel davon ausgeht, dass der Verfasser tatsächlich selbst erlebt hat, was er in seinem Text schildert,227 können die Erlebnisse und ihre Verschriftlichung niemals deckungsgleich sein. Diese Erkenntnis schlägt sich in der Autobiografietheorie auch auf der terminologischen Ebene nieder: Manche Wissenschaftler betrachten die Freiheit des Verfassers in der Narrativierung seiner Lebensgeschichte als »fiktionalen Grundzug, […] als ein spezifisches Arrangement von Realitätssegmenten«228. Bernd Jürgen Warneken hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser fiktionale Zug autobiografische Texte in gleichem Maße prägt wie narrative Interviews und keine Einschränkung ihres Quellenwerts bedeutet, sofern man sie nicht als Faktensammlungen behandelt.229 Für diese Konstellation aus tatsächlich

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rungstexten und Interviews einer Person im Vordergrund, sondern die exemplarische Analyse von Erzählstrategien und Deutungsmustern. Mit ›kohärent‹ ist in diesem Fall weniger eine von außen erkennbare Geschlossenheit gemeint als eine für den Verfasser oder Erzähler ersichtliche innere Sinnhaftigkeit der Erzählung. Allgemeine Überlegungen zum Quellenwert autobiografischer Texte formuliert C. Lahusen: Zur autobiographischen Interpretation von Diskontinuitäten, S. 24. Carlson, David: Autobiography. In: Dobson, Miriam/Ziemann, Benjamin (Hg.): Reading primary sources. The interpretation of Texts from Nineteenth- and Twentieth-Century History. London u.a. 2009, S. 175-191, hier S. 177. Ausnahmen bilden Schreibaufrufe, die verschiedentlich für volkskundliche Projekte eingesetzt wurden, vgl. etwa Schenda, Rudolf (Hg.): Lebzeiten. Autobiografien der Pro Senectute-Aktion. Zürich 1982. D. Carlson: Autobiography, S. 188. Jancke, Gabriele: Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Köln 2002, S. 25. Diese stillschweigende Übereinkunft bezeichnet Philippe Lejeune als »autobiographischen Pakt« bzw. »Referenzpakt«: Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer. Frankfurt am Main 12005, S. 39-40. Eine knappe Zusammenfassung der dieser Auffassung entgegengesetzten poststrukturalistischen Kritik an der Autobiografie, wie sie vor allem von Jacques Derrida und Paul de Man geäußert wurde, findet sich bei D. Carlson: Autobiography, S. 178-182. Lahusen, Christiane: Zur autobiographischen Interpretation von Diskontinuitäten: Methodische Anmerkungen. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 42 (2008), S. 22-26, hier S. 24. B.J. Warneken: Populare Autobiographik, S. 49-50. Die bei Warneken diskutierten Vorbehalte der älteren Volkskunde, namentlich Albrecht Lehmanns, gegenüber schriftlichen autobiografischen Quellen dürfen mittlerweile als überholt gelten. Ebd., S. 10. Er bezieht sich auf A. Lehmann: Autobiographische Methoden, S. 40.

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stattgefundenen Erlebnissen und ihrer verschriftlichten Wiedergabe hat Gérard Genette den Begriff der faktualen Erzählung geprägt, der eher den Realitätsbezug als die Abweichung von der Realität in den Vordergrund stellt.230 David Carlson unterstreicht, worin der Aussagewert solcher Texte liegt: »Though not always factually true (in an objective sense), an autobiography tells us a great deal about both the personality of an author and the process by which that individual makes sense of his or her own experience by converting it into a narrative form.«231 Ähnlich wie beim Umgang mit Interviews muss die Analyse daher in der Gegenwart bzw. der Schreibsituation und ihrem biografischen Kontext ansetzen und die biografische Selbstpräsentation muss, wie Gabriele Jancke betont, »von hier aus gelesen werden«232. Für die vorliegende Arbeit werden ergänzend zu den Interviews, Archivalien und Bildquellen einige autobiografische Texte herangezogen, die alle mit mehreren Jahrzehnten Abstand zur Internierung ihrer Verfasser entstanden sind.233 Die Überlieferungszusammenhänge der Texte sind dabei so unterschiedlich wie ihre Formate und Zielsetzungen: Während mein Gesprächspartner Hans Peter Jürgens bereits Mitte der 1990er Jahre seine Memoiren in einem für maritime Themen bekannten Verlag veröffentlicht hatte,234 zeigte mir ein anderer Gesprächspartner während des Interviews einige kurze Texte über seine Internierung, die er für sich und seine Familie verfasst hatte. Wieder ein anderer Interviewpartner überreichte mir mehrere dicht mit der Hand beschriebene Schreibblöcke mit Aufzeichnungen von seiner Kindheit bis zum Ende des Krieges, die er nach eigenen Worten kurz vor dem Interview erstmals seit Jahren wieder zur Hand genommen hatte. Auf eine andere Form des autobiografischen Schreibens stieß ich zufällig bei einem Pinneberger Sammler; er verwahrt die umfangreichen

230 Genette, Gérard: Fiktion und Diktion. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. München 1992, S. 75. 231 D. Carlson: Autobiography, S. 177. 232 G. Jancke: Autobiographie als soziale Praxis, S. 26. 233 Im Folgenden wird hier von autobiografischen Texten gesprochen und auf eine ausführliche Begriffsdiskussion im Spannungsfeld zwischen »Ego-Dokumenten« und »Selbstzeugnissen« verzichtet. Vgl. hierzu Krusenstjern, Benigna von: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 462-471; Schulze, Winfried: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«. In: Ders. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996, S. 11-30. Volker Depkat begreift Autobiografien als Teil der Gattung »Ego-Dokumente«, vgl. Depkat, Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), H. 3, S. 441-476, hier S. 455. Kritik am Begriff der »Ego-Dokumente« bzw. seiner Verwendung äußert Kaspar von Greyerz; er schlägt die Bezeichnung »self-narrative« oder »personal narrative« als begriffliche Alternative vor. K. v. Greyerz: Ego-Documents, S. 281. 234 Jürgens, Hans Peter: Sturmsee und Flauten. Logbuch eines Lebens. Hamburg 1995. Der Text lässt sich in das Genre der sogenannten Kapitänsliteratur einordnen. Zum volkskundlichen Blickwinkel auf diese Texte vgl. Rolshoven, Johanna: Blick aufs Meer. Facetten und Spiegelungen volkskundlicher Affekte. In: Zeitschrift für Volkskunde 89 (1993), H. II, S. 191-212, hier S. 209.

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Aufzeichnungen des ehemaligen Kapitäns Harald Wentzel, der sein (Berufs-)Leben auf über hundert Schreibmaschinenseiten in gereimter Form beschreibt.235 Diese Texte werfen Schlaglichter auf unterschiedliche Modi des Erinnerns und der Verarbeitung: Vom formal wie inhaltlich festgeschriebenen Buch bis hin zur nie abgeschlossenen Collage, von eher konventionellen autobiografischen Darstellungsmustern bis hin zu experimentellerem Schreiben decken sie ein weites Spektrum ab.236 Im Kontext der vorliegenden Arbeit werden autobiografische Texte, ähnlich wie die Interviews, zur Analyse von Deutungen und Bewertungen der Internierung, von Identitätskonstruktionen, subjektiven Kausalitäten und ihrer narrativen Vermittlung herangezogen. So wird beispielsweise untersucht, wie sich der Verfasser im Text präsentiert und wie er sich dabei zu verfügbaren Identifikationsangeboten positioniert. Welche Ereignisse wählt der Verfasser für seinen Text aus? Wovon spricht er nicht? Welche narrative Form verwendet der Verfasser für die Darstellung seiner Erlebnisse?237 Sind dabei biografische Leitthemen zu erkennen? Mit David Carlson wäre dabei auch nach Erzählmustern zu fragen, die der Verfasser in seinem Text einsetzt.238 Im vorliegenden Fall lässt sich beispielsweise das captivity narrative als relevantes Erzählmuster ausmachen, das die Texte bei aller formalen Heterogenität miteinander verbindet. Robert C. Doyle zufolge ist diese Textgattung durch eine kathartische Funktion gekennzeichnet, da der Verfasser seine Internierungserlebnisse durch die Verwandlung in einen Erzählstoff verarbeiten und bewältigen kann.239 Das Gleiche gilt sicher auch für viele Interviews mit ehemaligen Internierten und Kriegsgefangenen, auch über den Kontext dieser Arbeit hinaus. Ohne die Unterschiede zwischen Interviews und autobiografischen Texten nivellieren oder gar negieren zu wollen, zeigt sich hier, wie die Verwandtschaft dieser beiden narrativen Gattungen auch den analytischen Blick auf diese Texte schärfen kann. Transkriptionsleitlinien Bei der Transkription und Auswertung der Interviews mit ehemaligen Internierten orientiert sich die vorliegende Studie vor allem an den Überlegungen von Jan Kruse.240 Er plädiert für eine »möglichst umfassende Konservierung der sprachlich-kommuni-

235 In der Sammlung Peter Kiehlmann, Pinneberg, werden zwei autobiografische Gedichte sowie Fotografien und Zeichnungen von Harald Wentzel verwahrt. 236 Zu unterschiedlichen Graden von Geschlossenheit bei publizierten und nicht publizierten Texten vgl. D. Wierling: Mädchen für alles, S. 22. Wie die Verfasser sich im Spektrum der Verschriftlichungsmöglichkeiten verorten, hängt nach Gabriele Jancke »sowohl von dem Fundus ab, der ihnen durch ihre Lektüre- und Schreiberfahrungen bereits vertraut ist, als auch davon, welche Themen sie darstellen und wem sie etwas darüber mitteilen wollen.« G. Jancke: Autobiographie als soziale Praxis, S. 25. 237 D. Carlson: Autobiography 2009, S. 188-189. 238 Ebd., S. 183. David Carlson bezieht sich dabei auf Eakin, Paul John: How Our Lives Become Stories: Making Selves. Ithaca 1999. 239 Doyle, Robert C.: Voices from captivity. Interpreting the American POW narrative. Lawrence 1994, S. 87. 240 J. Kruse: Qualitative Interviewforschung. Zu Transkription siehe v.a. S. 349-368.

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kativen Informationen […], die über die rein wort-semantische Ebene hinausgeht«241. Kruses Plädoyer beruht auf der Erkenntnis, dass die Sinnkonstruktion im Interview nur zu einem geringen Teil »über wortsemantische, sprich lexikalische Merkmale der menschlichen Sprache« hergestellt wird, »sondern vor allem darüber, wie etwas gesagt wird, also über performative Aspekte (insbesondere Prosodie und Melodie, Interpunktion, paraverbale Merkmale)«242. Auch syntaktische Besonderheiten der gesprochenen Sprache transportieren oft wichtige Hinweise für die Interpretation und sollten beim Transkribieren deshalb nicht geglättet werden.243 Korrekturen etwa können auf das Bestreben des Sprechers verweisen, seine Aussage zu präzisieren oder zu relativieren bzw. Inhalt oder Stilebene an die Gesprächssituation anzupassen.244 Diese Elemente der gesprochenen Sprache sollten deshalb methodisch kontrolliert in eine schriftliche Form übersetzt werden.245 Dabei steht außer Frage, dass es sich bei jedem Transkript um Sekundärdatenmaterial246 handelt, das auch bei einem umfassenden Transkriptionsansatz durch Komplexitäts- und Kontextreduktion247 geprägt ist und gegenüber dem Interview »ver-andernd«248 wirkt. Alle in der vorliegenden Arbeit enthaltenen Transkriptionen folgen den von Jan Kruse formulierten Grundregeln.249 Sie sind weder ästhetisierend noch normalisierend

241 Ebd., S. 350. 242 Ebd., S. 351. 243 Johannes Schwitalla rechnet zu diesen Elementen »Ellipsen, Wiederholungen, Abbrüche und Anakoluthe, Korrekturen, Parenthesen, Links- und Rechtsherausstellungen, Drehsätze, geringere Varianz von Konjunktionen und Nebensatztypen.« Vgl. Schwitalla, Johannes: Gesprochene Sprache – dialogisch gesehen. In: Fritz, Gerd/Hundsnurscher, Franz (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen 1994, S. 17-36, hier S. 22. 244 Ebd., S. 25. Dabei spielt auch der Aspekt der sozialen Erwünschtheit eine Rolle. 245 Die Notwendigkeit zu methodisch kontrolliertem Vorgehen ergibt sich aus der Erkenntnis, dass jede Transkription immer schon eine Interpretation der Daten beinhaltet, indem sie Dinge verbirgt, abschwächt oder hervorhebt. Siehe dazu Langer, Antje: Transkribieren – Grundlagen und Regeln. In: Friebertshäuser, Barbara u.a. (Hg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim u.a. 2010, S. 515528, hier S. 524. Zu dieser methodischen Kontrolle der Vorgehensweise gehören m.E. generelle Richtlinien, was wie transkribiert werden soll. Damit vermeidet man intransparente Verfahrensweisen, wie sie etwa in dem von Hans Joachim Schröder verwendeten Transkriptionssystem leicht entstehen können. Schröder schlägt vor, Stottern, Lachen etc. nur dann zu transkribieren, wenn es »auffällig in Erscheinung tritt«, ohne jedoch Kriterien für diese Bewertung zu definieren. Vgl. H.J. Schröder: Die gestohlenen Jahre, S. 91-95. Für den Leser ist so überhaupt nicht zu erkennen, wo derartige Eingriffe erfolgt sind. 246 Zur Konstruktivität von Interviewtranskripten siehe ausführlich J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 354. 247 A. Langer: Transkribieren, S. 516. 248 Oldörp, Christine: Verschriftlichen. Von der Ver-Anderung des Sprechens in der Schrift. In: Simon, Michael u.a. (Hg.): Bilder. Bücher. Bytes. Zur Medialität des Alltags. 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Mainz vom 23. bis 26. September 2007. Münster 2009, S. 408-416, hier S. 414. 249 J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 358-361.

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geglättet; die Interviews wurden vielmehr vollständig und wortwörtlich transkribiert, einschließlich Wortwiederholungen, Ähs, Stottern und anderer prosodischer und paraverbaler Bestandteile, ohne den Text an Grammatikregeln anzupassen.250 Störungen und außersprachliche Vorgänge (Husten, Lachen, Herumlaufen) wurden ebenso mittranskribiert wie Äußerungen anwesender Dritter.251 Das Potenzial dieser feinen Transkripte liegt in der »Möglichkeit, Interpretationen auf der rein wortsemantischen Ebene durch andere markierte sprachliche Modalisierungen zu validieren«252. Die konkrete Verschriftlichung basiert auf der bei Kruse erläuterten Adaption des von Arnulf Deppermann verwendeten GAT-1-Systems.253 Dieser Konvention folgend wird alles kleingeschrieben, um Großbuchstaben zur Kennzeichnung von Betonungen einsetzen zu können.254 Der Hauptakzent in jedem Satz sowie besonders starke

250 Die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Interviews wurden von der Volkskundlerin Katja Fleischmann transkribiert. Das Korrekturlesen bzw. -hören und den Abgleich mit der Audioaufzeichnung habe ich selbst übernommen. Das ›Delegieren‹ der Interviewtranskription wird in der Methodenliteratur unterschiedlich bewertet. Während es etwa Brigitta Schmidt-Lauber und Werner Fuchs-Heinritz für den Idealfall halten, dass der Forscher die Transkription selbst anfertigt, sieht Jan Kruse im Transkribieren-Lassen eine wertvolle Gelegenheit zur Distanzierung des Forschers von seinem Material. Meiner Erfahrung nach überwiegen die Vorteile dieses Verfahrens: Das vorab festgelegte Transkriptionssystem sowie die Korrekturdurchgänge verhindern, dass sich vom Forscher unbemerkt Interpretationen in den Text einschleichen. Zudem birgt diese Verfahrensweise die Chance für den Forscher, sich durch Entscheidungen des Transkribierenden im positiven Sinne irritieren und dadurch neu für den Text sensibilisieren zu lassen. Die eigentliche Auswertung kann dann unvoreingenommener begonnen werden, weil nicht bereits zuvor durch die Transkriptionsarbeit unausgesprochene Positionierungen gegenüber dem Text entstanden sind. Jan Kruse betrachtet diesen Effekt als »produktive Distanz zum Text«, vgl. J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 368; B. Schmidt-Lauber: Das qualitative Interview, S. 181; W. Fuchs-Heinritz: Biographische Forschung, S. 291. 251 Damit ist eine wesentliche Forderung aus der ethnomethodologischen Konversationsanalyse erfüllt, nämlich »das aufgezeichnete Rohmaterial nicht von scheinbar irrelevanten Bestandteilen zu reinigen, sondern in seinen Details zu bewahren, d.h., mit allen Dialektismen, Intonationskonturen, Versprechern, Pausen, Unterbrechungen etc. zu erhalten. Andernfalls würde der Informationsgewinn, den die Ton- und Bildaufzeichnung als Datum mit sich bringt, sofort wieder unbesehen verschenkt werden.« Siehe Bergmann, Jörg R.: Ethnomethodologische Konversationsanalyse. In: Fritz, Gerd/Hundsnurscher, Franz (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen 1994, S. 3-16, hier S. 10. 252 J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 354. 253 Ebd., S. 362. Zu den verwendeten Transkriptionszeichen vgl. die Übersicht im Anhang auf S. 497. Zu GAT siehe Deppermann, Arnulf: Gespräche analysieren. Eine Einführung. Opladen 2001. Das GAT-1-System wurde mittlerweile durch ein verfeinertes GAT-2System abgelöst. Vgl. hierzu ausführlich Selting, Margret u.a: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10 (2009), S. 353-402. http://www.gespraechsforschung-ozs.de/fileadmin/ dateien/heft2009/px-gat2.pdf. 254 Vgl. dazu auch A. Langer: Transkribieren, S. 522.

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Betonungen werden im Schriftbild auf diese Weise hervorgehoben. Dialektsprachliche Elemente werden in literarischer Umschrift festgehalten (z.B. Tach statt Tag). Eine fortlaufende Nummerierung der Zeilen in den Transkripten ermöglicht eine grobe Orientierung darüber, aus welcher Phase des Interviews eine zitierte Formulierung stammt.255 Die Gesprächspartner zogen es vor, den Klarnamen beizubehalten.256 Auswertung der Interviews Der Auswertung der Interviews im Kontext der vorliegenden Arbeit liegt das integrative Basisverfahren nach Jan Kruse zugrunde,257 das die angesprochenen Problemfelder der Indexikalität und des Fremdverstehens berücksichtigt und sie methodisch kontrolliert in Analyseleitlinien überführt. Dabei handelt es sich um ein rekonstruktives, texthermeneutisches Analyseverfahren, das in einem betont offenen Auswertungsprozess verschiedene Methoden zusammenführt, im vorliegenden Fall beispielsweise die Agency-Analyse258, Diskursanalyse, Metaphernanalyse259, Positioninganalyse260 und die Analyse narrativer Identität261.

255 Darin folge ich der Empfehlung von Antje Langer, vgl. ebd. 256 Zwei Gesprächspartner waren bereits mit autobiografischen Publikationen an die Öffentlichkeit getreten und sahen daher keine Veranlassung zu einer Anonymisierung. 257 Vgl. im Folgenden J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 369-584. 258 Zur Definition von Agency: »Agency is most clearly seen in the contents of plots, in the who gets to do what.« Vgl. J. Laudun: Orality, S. 681. Zur Agency-Analyse vgl. LuciusHoene, Gabriele: »Und dann haben wir’s operiert«. Ebenen der Textanalyse narrativer Agency-Konstruktionen. In: Bethmann, Stephanie u.a. (Hg.): Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit. Weinheim/ Basel 2012, S. 40-70; Helfferich, Cornelia: Agency-Analyse und Biografieforschung. Rekonstruktion von Viktimisierungsprozessen in biografischen Erzählungen. In: Bethmann, Stephanie u.a. (Hg.): Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit. Weinheim/Basel 2012, S. 210-237. 259 Kruse, Jan/Biesel, Kay/Schmieder, Christian: Metaphernanalyse. Ein rekonstruktiver Ansatz. Wiesbaden 2011. 260 »›Positionierung‹ beschreibt, wie […] ein Sprecher in der Interaktion mit sprachlichen Handlungen […] eine ›Position‹ für sich herstellt und beansprucht und dem Interaktionspartner damit zu verstehen gibt, wie er gesehen werden möchte (Selbstpositionierung). Ebenso weist er mit seinen sprachlichen Handlungen dem Interaktionspartner eine soziale Position zu und gibt ihm damit zu verstehen, wie er ihn sieht (Fremdpositionierung).« G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität, S. 62; zur Positioning-Analyse siehe außerdem Bamberg, Michael: Positioning between structure and performance. In: Journal of Narrative and Life History 7 (1997), S. 335-342; Korobov, Neill: Reconciling Theory with Method: From Conversational Analysis and Critical Discourse Analysis to Positioning Analysis [36 paragraphs]. In: Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum: Qualitative Social Research 2 (2001), Nr. 3, Art. 11. http://www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs/article/view/906/1981. 261 G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität. »Für die Analyse der narrativen Identität wird [die Biografiedarstellung] vor allem als Medium der Selbst-

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Konkret wurden die Interviews auf drei Aufmerksamkeitsebenen untersucht: Interaktion, Syntax bzw. Syntaktik sowie (Wort-)Semantik. Auf diese Weise wurden sowohl die Beziehungsdynamik der Interviewsituation und ihre Auswirkungen auf den gemeinsam verfertigten und im Transkript verschriftlichten Text als auch sprachlich-grammatikalische Besonderheiten und semantische Felder berücksichtigt. Im Zentrum der Analyse steht damit das ›Wie‹ der Versprachlichung, verstanden als sprachlich-kommunikative Konstruktion von Wirklichkeit.262 Die Vorgehensweise ist sequenziell parallel, verknüpft also die drei genannten Aufmerksamkeitsebenen miteinander.263 Besonderes Gewicht liegt dabei auf der Eingangspassage, da ihr zentrale Bedeutung für Positionierungen und Rollenaushandlungen zukommt.264 Hinzu kommen sowohl forschungsgegenständliche (im vorliegenden Fall beispielsweise das Sprechen über Zeit) als auch methodische Analyseheuristiken (etwa die Thematisierung von Agency). Auf der Basis segmentbezogener Feinanalysen werden in einem Verdichtungsprozess zudem für das gesamte Interview zentrale Motive und Thematisierungsregeln herausgearbeitet.265 Gemäß dem Prinzip der Offenheit werden in der rekonstruktiven Analyse keine vorformulierten Hypothesen an das Material herangetragen, sondern »zunächst unterschiedliche mögliche Interpretationen des Interviewtextes entwickelt«266. Das bedeutet zugleich, die »Aufschlüsselung von Indexikalität«267 als eigenständigen Arbeitsschritt in den Analyseprozess einzubeziehen. Im Interpretationsvorgang zeigt sich zudem, dass Fremdverstehen nicht nur als methodisches Problem, sondern auch als »das zentrale Erkenntnisprinzip qualitativer bzw. rekonstruktiver Forschung«268 begriffen werden muss.269 Im besten Fall wird dabei, um mit Jan Kruse zu sprechen, »die Irritation ein Wegweiser zu neuer Erkenntnis«270. Kruse zufolge ist Fremdverstehen »eine (kommunikative) Deutung von Fremdem […], dessen Verstehen vage ist, und dessen Verständnis schließlich selbst eine soziale

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präsentation betrachtet, indem sie zum einen als chronologische Leitlinie dient, zum anderen durch ihren Zeit-, Handlungs- und Ereignisbezug ein ›narratives Reflexionsmilieu‹ schafft: die eigene Person kann so in ihren geschichtlich entfalteten Handlungs-, Ereignis- und Erlebensbezügen dargestellt werden. Der angestrebte Erkenntnisgewinn bezieht sich also auf die aktuell vollzogene Identität der erzählenden Person im Hier und Jetzt des Interviews. […] Im Vordergrund steht […] die Funktion der biografischen Selbstdarstellung im Dienste der aktuellen Identitätsherstellung und der Selbstvergewisserung, des Selbsterhalts und der Bewältigung des Erlebten.« (S. 10-11; Hervorhebung im Original) J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 483. Ebd., S. 484. C. Helfferich: Die Qualität qualitativer Daten, S. 122; dies entspricht der Beobachtung, die Utz Jeggle zum »Initial« formuliert hat. Vgl. Jeggle, Utz: Das Initial. In: Tübinger Korrespondenzblatt 38 (1991), S. 33-36. Vgl. die schematische Übersicht bei J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 556. G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität, S. 96. J. Kruse/K. Biesel/C. Schmieder: Metaphernanalyse, S. 37. J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 91. Ausführlich zu diesem Problemfeld siehe ebd., S. 60-93. Ebd., S. 92.

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Konstruktionsleistung darstellt«271. Eine sinnverstehende Interpretation von Interviews kann also lediglich »eine relative Annäherung aufgrund von Idealisierungen und von praktischen Aushandlungen sowie akzeptierten kommunikativen Basisregeln«272 sein. Die durch das kleinteilige Analyseverfahren entstehende Verlangsamung wird bewusst als methodisches Prinzip eingesetzt, indem so lange wie möglich ergebnisoffen gearbeitet wird. Als methodisches Instrument, das ebenfalls zu diesem Ziel beiträgt, wurde die Feldforschungssupervision eingesetzt, die »im assoziativ-deutenden Möglichkeitsraum der Gruppe«273 Interpretationsspielräume eröffnet und so eine (Wieder-)Annäherung an den Interviewtext ermöglicht.274 Diese Vorgehensweise besitzt große Schnittmengen mit der von Kruse und Helfferich beschriebenen rekonstruktiven Haltung. Die in diesem Rahmen zentrale »Fremdheitsannahme«275 trägt dazu bei, »die eigenen Erklärungen und Deutungen nur als eine Möglichkeit unter anderen anzusehen, den eigenen Standpunkt oder ›Normalitätshorizont‹ zu relativieren und damit auch, ihn in einer offenen Erwartungshaltung zurückzustellen«276. Im Verlauf meiner Forschungen kam den Interviewpartnern eine Doppelrolle zu: Einerseits waren sie – stellvertretend für die Gesamtheit der in Kanada internierten Seeleute – Untersuchungsobjekte, andererseits waren sie aber auch Recherchewerkzeug, Türöffner und Impulsgeber, machtvolle Akteure in meinem Forschungs- und Erkenntnisprozess. Durch die Weitergabe von Informationen konnten sie mein weiteres Vorgehen beeinflussen. So entwarfen die Befragten etwa mithilfe von ›Erinnerungsobjekten‹ ein intertextuell unterfüttertes Bild von sich selbst und ihrer Vergangenheit und machten mir, ausgehend vom Gespräch, andere eigene bzw. fremde277 Erinnerungstexte zugänglich. Um mit Paul Thompson zu sprechen, war das Interview also über die reine Erhebung mündlicher Daten hinaus in den meisten Fällen »a means of discovering written documents and photographs which would not have otherwise been traced«278.

B ILDQUELLEN Private Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg »sind Teil eines chaotischen Überlieferungskontinuums – chaotisch, weil es zugleich nicht-hierarchisch strukturiert und instabil ist. Die vormals relativ homogen unter Millionen Besitzern verteilten Fotos

271 Ebd., S. 68. 272 Ebd. 273 Becker, Brigitte u.a.: Die reflexive Couch. Feldforschungssupervision in der Ethnografie. In: Zeitschrift für Volkskunde 109 (2013), H. II, S. 181-203, hier S. 203. 274 Ebd., S. 199. 275 C. Helfferich: Die Qualität qualitativer Daten, S. 117. 276 Ebd. 277 So z.B. im Fall eines Gesprächspartners, der die Sammlung eines verstorbenen Kollegen verwahrt. 278 Thompson, Paul: The Voice of the Past. Oral history. In: Thomson, Alistair/Perks, Robert (Hg.): The Oral History Reader. London/New York 2006, S. 25-31, hier S. 28.

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verschwinden zum Teil, zum Teil ballen sie sich in fremden Händen zusammen.«279 Was Bernd Boll hier für Bilder von der Front zusammenfasst, gilt auch für die Bildquellen zur Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen in Kanada, die für diese Untersuchung herangezogen wurden. Sie finden sich in nahezu allen skizzierten Überlieferungszusammenhängen: in Privatsammlungen, Museen, staatlichen Archiven und im Archiv des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Auch das von Boll als bedrohlich empfundene »schwarze Loch der De-Kontextualisierung«280 ist dabei ein Problem und betrifft nicht nur Fotografien, sondern auch Zeichnungen. Wenn überhaupt, sind Entstehungskontext und Überlieferungsweg oftmals nur durch Querverbindungen zu anderen Quellen zu rekonstruieren. Gerade in Privatsammlungen finden sich keinesfalls nur die Bilder aus dem eigenen Besitz, sondern auch Bestände, die die Besitzer von Freunden und Kollegen übernommen haben. Die typische Erhebungssituation für solche Bildbestände ist das Interview, wenn die Befragten von sich aus ein Fotoalbum als Erzählhilfe oder Visualisierung ihrer Narrationen heranziehen. Will man die Bilder als Quellen für die Analyse von Internierung heranziehen, ist vor allem ihr Entstehungskontext relevant. Bei privaten Fotos lassen sich diesbezüglich jedoch nur wenige allgemeine und verlässliche Aussagen treffen. Im Lager durften die Internierten nicht fotografieren, sodass die teils zahlreichen Bilder, die sich in Fotoalben finden, nur Motive von arbeitsbedingten Aufenthalten außerhalb der Lager zeigen. Neben der Arbeit bilden vor allem private Anlässe wie Feiern oder Ausflüge mit kanadischen Zivilisten ein häufiges Motiv. In den meisten Fällen ist nicht mehr zu ermitteln, wer fotografiert hat. In manchen Fällen ist es denkbar, dass kanadische Arbeitskollegen oder Arbeitgeber für die Gefangenen fotografierten und diesen anschließend die Bilder zur Verfügung stellten, doch restlos zu klären ist das nicht.281 Die meisten dieser Fotografien lassen sich in die Kategorie der sogenannten Knipserbilder einordnen:282 Die Bildautoren waren mehrheitlich Amateure, die sich bei der Motivauswahl hauptsächlich an der Erinnerungsfunktion der Bilder orientierten. Die Fotos zeigen daher überwiegend, »woran man sich gerne erinnert«283. Timm Starl zufolge bilden sie für jeden außenstehenden Betrachter, vor allem aber für den Forscher »die undurchdringliche Wand eines privaten Raumes, der sich nur dem Bildautor erschließt«284. Auch die im Kontext der Internierung entstandenen Knipserbilder zeigen einen »Gegenentwurf zur öffentlichen Bildwelt«285 und zu dem, was

279 Boll, Bernd: Vom Album ins Archiv. Zur Überlieferung privater Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg. In: Holzer, Anton (Hg.): Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie. Marburg 2003, S. 167-178, hier S. 175. 280 Ebd. 281 Wenn niemand mehr zur Verfügung steht, der die Zusammenstellung eines Fotoalbums aus erster Hand kommentieren kann, muss häufig auch offen bleiben, wie ein bestimmtes Bild seinen Weg in ein Album gefunden hat. 282 Zur Definition von Knipserbildern vgl. ausführlich Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. München 1995, S. 22-24. 283 Ebd., S. 23. 284 Ebd., S. 9. 285 Ebd.

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auf offiziellen Fotografien dargestellt ist. Doch ihre Bedeutung als Quellen beziehen sie nicht allein aus den Motiven, sondern auch aus den geteilten Bildpraktiken – Fotografieren, Schenken, Tauschen – zwischen den gefangenen Deutschen und kanadischen Zivilisten, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Fotografen waren. Komplementär dazu verhält es sich in vielerlei Hinsicht mit den Bildern professioneller Fotografen, die mit einer offiziellen Erlaubnis im Lager fotografierten. Über diese Fototermine geben die Lagertagebücher Auskunft, wenn auch oft in knapper Form. So waren in den meisten Lagern immer wieder Fotografen aus der nächsten Stadt zu Besuch, die Gruppenbilder von den Internierten anfertigten.286 Dabei gab es unterschiedliche Zusammenstellungen, beispielsweise Sportmannschaften, Schiffsbesatzungen, das Küchen-Team, Orchester oder Theatergruppen. Meist wurden diese Bilder anschließend als Postkarten vervielfältigt und in der Kantine für einen geringen Geldbetrag verkauft; über den Verbleib der Originale ist nichts bekannt. Die Internierten durften solche Postkarten an Angehörige und nahe Freunde schicken.287 Auf diesem Weg sind einige der Gruppenbilder auch in Privatsammlungen gelangt. Sie finden sich darüber hinaus im Bestand des CICR, da auch die Delegierten des CICR und die Sekretäre der YMCA diese Fotos kaufen und in den Organen ihrer Organisationen veröffentlichen durften.288 Ernest L. Maag, der Delegierte des CICR, durfte bei seinen Lagerbesuchen zu Dokumentationszwecken auch selbst Fotos machen, die allerdings strengen Zensurbestimmungen unterlagen. Er musste den belichteten Film an die kanadischen Behörden abgeben, die ihn entwickeln ließen und Maag lediglich zwei Abzüge zur Verfügung stellten, nachdem sie die Zensur passiert hatten;289 der Film wurde einbehalten.290 Sowohl aus den Bildern selbst als auch aus manchen Lagertagebüchern geht hervor, dass Maag überwiegend Außenaufnahmen in den Lagern machte, aber auch bei den Mahlzeiten und in den Schlafräumen der Gefangenen fotografierte.291 Bilder aus Work Camps sind beim CICR nicht überliefert; es gibt auch keine Belege dafür, dass andere Fotografen dort Gruppenbilder gemacht hätten, sodass die Fotos professioneller Fotografen sowie die CICR-Fotos nur Szenen aus den Stammlagern zeigen. Darüber hinaus sind einige Fotos überliefert, die von einem kanadischen Militärfotografen angefertigt wurden und verschiedenste Szenen aus dem Lageralltag dokumentieren, die in einer Beschriftung erläutert sind.292 In diesen Fällen muss die Bildbeischrift als

286 Überliefert sind solche Besuche aus mehreren Lagern und aus allen Phasen des Krieges, etwa aus Fort Henry/Kingston (F/31) im September 1943. LAC, RG 24, 15394. 287 Note pour la Délégation du CICR Berlin, 1942. ACICR, G 17/29. 288 Commissioner of Internment Operations an die Kommandanten der kanadischen Internierungslager, Juni 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 289 Acting Commissioner of Internment Operations an Under Secretary of State (Coleman), 20. Oktober 1940. LAC, RG 24, 11248. 290 Commissioner of Internment Operations an die Kommandanten der Lager und die District Officers der Military Districts 2-4, 7, 10, 13, 3. Oktober 1941. Ebd. 291 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 1, Vol. 10, 27. Oktober 1941. LAC, RG 24, 15392. 292 Einige Bilder sind im Military History Research Centre am Canadian War Museum, Ottawa, überliefert. Ein Konvolut von 29 Bildern findet sich zudem im Politischen Archiv

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Teil der Fotografie betrachtet und in die Auswertung einbezogen werden, da sie unmittelbar auf den Entstehungszusammenhang des Bildes verweist und gegebenenfalls Fragen klären kann, die sich aus dem Bild ergeben.293 Denn wie alle Fotografien sind auch diese Bilder eindeutig und vieldeutig zugleich:294 Zwar halten sie einen konkreten historischen Augenblick fest, doch damit besitzt das Bild noch keine klare Aussage. Die Bildgestaltung ist von der »Bild-Idee«295 und den Relevanzsetzungen des jeweiligen Fotografen beeinflusst, die sich im Nachhinein kaum mehr rekonstruieren lassen.296 Teilweise jedoch lassen sich in den Fotografien aus den Internierungslagern »Bildkonventionen«297 erkennen, die Thomas Overdick zufolge immer an den Entstehungskontext des Bildes gebunden sind.298 So wirken besonders die Bilder der CICR-Delegierten neutral und unbeteiligt. Der Fotograf steht, entsprechend seiner Rolle als externer Beobachter, außerhalb der fotografierten Szene, oft in großer Distanz, und ist selbst als Akteur nicht in die abgebildete Szene involviert. Dass er durchaus mit den Internierten interagierte, ist lediglich aus anderen Quellen zu erschließen.299 Hier bestätigt sich, was Ulrich Hägele mit Bezug auf jede Art von fotografischer Quelle betont: »Die Fotografie hat sich weniger an ihrem oberflächlichen Hang zur wirklichkeitsgetreuen Abbildungsqualität zu messen, sondern muss im wissenschaftlichen Kontext als eine Quelle unter vielen betrachtet werden.«300 Auf der Motivebene besitzen die Bilder lediglich exemplarische Aussagekraft – sie zeigen, wie es in einem bestimmten Lager zu einem oft nicht exakt bestimmbaren Zeitpunkt aussah. Es fehlen Kontextinformationen – was geschah davor, was danach? Mit Ausnahme von beschrifteten Gruppenfotos bleiben auch die abgebildeten Personen anonym, sodass, auch aufgrund der uniformen Gefangenenkleidung, kaum Rückschlüsse auf ihren sozialen Status, auf Beziehungen untereinander oder ihre Beteiligung an der abgebildeten Situation gezogen werden können. Neben Fotografien enthalten manche Privatsammlungen farbige, gedruckte Postkarten, die von der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe herausgegeben wurden. Sie zeigen humoristische Cartoons der Internierten Otto Ellmaurer und J. Quillfeldt,301 wurden

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des Auswärtigen Amtes; die Fotos zeigen Szenen aus dem Camp Sherbrooke (N/42) und wurden dem Auswärtigen Amt im Dezember 1944 von der Schweizerischen Schutzmachtvertretung überlassen. PA AA, R 127.704. Overdick, Thomas: Photographing Culture. Anschauung und Anschaulichkeit in der Ethnographie. Zürich 2010, S. 184. Ebd., S. 156 ff. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd., S. 137. Ebd. Beispielsweise aus den Besuchsberichten oder aus Einträgen im Lagertagebuch, die Gespräche zwischen dem Delegierten und den Interniertenvertretern dokumentieren. Hägele, Ulrich: Foto-Ethnographie. Die visuelle Methode in der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Mit einer Bibliographie zur visuellen Ethnographie 1839-2007. Tübingen 2007, S. 25. Quillfeldts Vorname ist nicht zu ermitteln. Die Verwendung seiner Zeichnungen als Vorlage für Postkarten geht aus einem Schreiben des Lagerkommandanten von Fredericton

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von der YMCA gedruckt und in den Lagern als Set von je 19 Stück zu 20 Cents verkauft.302 In Absprache mit den kanadischen Behörden durften die Internierten sie anstelle der regulären Postkartenvordrucke benutzen;303 von Zivilisten außerhalb des Lagers durften sie hingegen nicht ohne Erlaubnis in Umlauf gebracht werden.304 Mittlerweile sind diese Karten jedoch auch in Sammlerkreisen bekannt.305 Einige originale Zeichnungen von Otto Ellmaurer sind in der Sammlung von David J. Carter, Alberta, überliefert; einzelne Exemplare der YMCA-Postkarten fanden sich auch in der Sammlung eines meiner Gesprächspartner, der zudem Bestände eines Kollegen übernommen hatte. Offensichtlich wurden die Postkarten von den Gefangenen teils auch als Souvenir für den eigenen Gebrauch gekauft und nicht verschickt.306 Hinsichtlich ihres Quellenwerts lassen sich die Cartoons mit Anna Wickiewicz als »distorted mirror«307 begreifen; Wickiewicz benutzt diesen Begriff im Zusammenhang mit Cartoons englischer Soldaten aus einem deutschen Gefangenenlager. Sie betrachtet die Bilder als »counternarrative to the official photographs taken or sanctioned by the guards«.308 Abgesehen davon, dass Cartoons aus den kanadischen Lagern aufschlussreiche Quellen zu künstlerischen Aktivitäten vor Ort darstellen, zeigen sie auch ein komplementäres Bild zu den offiziellen Fotografien, da sie zentrale Aspekte des Lagerlebens aus radikal verschiedenen Perspektiven beleuchten. Einer meiner Gesprächspartner fertigte weit nach Kriegsende Zeichnungen mit Szenen aus der Internierung an. Diese Bilder müssen in einem persönlichen Prozess des Erinnerns verortet werden; sie zeigen subjektive Relevanzsetzungen und rekurrieren auf die »Visualität des persönlichen Gedächtnisses«.309 Im Interview gewinnen sie eine zusätzliche Funktion als Erzählhilfe und Teil einer multimedialen Erinnerungscollage, sodass ihr Aussagewert weit über das Abgebildete hinausgeht.

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(B/70) an den Commissioner of Internment Operations vom 24. Dezember 1942 hervor. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 5. Schreiben Lagerführer Camp Fredericton (B/70) an die Kriegsgefangenenhilfe der kanadischen YMCA, 21. November 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). Schreiben Director Internment Operations an die Lagerkommandanten der kanadischen Lager, 19. Januar 1943. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 5. Dr. Jerome Davis an Jack Markow, 11. Jan. 1943. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 5. S. Luciuk: Season’s Greetings from Behind Barbed Wire; Street, Mike: Christmas Cards from POWs in Canada. In: British North America Topics 43 (1986), S. 10-12. Das gilt im Übrigen auch für Postkarten mit Gruppenbildern. Hier sind sowohl gelaufene als auch unbenutzte Exemplare erhalten. Zur »Doppelfunktion« der Fotopostkarte als »Korrespondenzmittel und Erinnerungsfotografie« siehe Walter, Karin: Postkarte und Fotografie. Würzburg 1995, S. 144. Wickiewicz, Anna: In the Distorted Mirror. Cartoons and Photography of Polish and British POWs in Wehrmacht Captivity. In: Carr, Gilly/Mytum, Harold (Hg.): Cultural heritage and prisoners of war. Creativity behind Barbed Wire. New York u.a. 2012, S. 101118, hier S. 114. Ebd. M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 85.

3. Die Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen während des Zweiten Weltkriegs

Z UM SOZIALEN P ROFIL DER INTERNIERTEN DEUTSCHEN S EELEUTE Wenn Kurt Böhme schreibt, Gefangenenlager seien ein »Sammelbecken menschlicher Zufälligkeiten«,1 dann lässt sich diese Auffassung ohne Einschränkung auf die hier untersuchten Seemannslager und damit auch auf deutsche Handelsschiffsbesatzungen der unmittelbaren Vorkriegszeit übertragen. Denn mit der Tatsache, dass die Internierten zum Zeitpunkt der Gefangennahme auf einem deutschen Handelsschiff arbeiteten, ist noch recht wenig über ihre jeweiligen beruflichen und sozialen Hintergründe gesagt. Die Bezeichnung »Seeleute« suggeriert eine Homogenität, die sich bei näherem Hinsehen schnell auflöst. »Wenn wir im folgenden von Seeleuten sprechen«, schrieb Wilhelm Prüsse im Jahr 1940, »so sind diese im wesentlichen identisch mit den durch die Seemannsordnung definierten Schiffsleuten samt Vorgesetzten, und wir verstehen darunter alle für Rechnung des Reeders angestellten Personen, deren Tätigkeit im Schiffsbetrieb für und während der Fahrt Kenntnisse und Fertigkeiten, oder doch mindestens die Notwendigkeit, sich solche anzueignen, voraussetzt, wodurch sie Spezialisten für die Seeschiffahrt sind oder werden und nicht durch Berufstätige von Land […] ohne weiteres ersetzt werden können«2. Trotz seiner Gebräuchlichkeit ist der Begriff »Seeleute«, wie der Historiker Thomas Siemon betont, »weder eine Berufsbezeichnung […], noch wird er in Administration und Justiz verwendet«3. Präziser lassen sich die Beschäftigten an Bord von Schiffen fassen, wenn man innerhalb dieser Gruppe drei Tä-

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Böhme, Kurt: Geist und Kultur der deutschen Kriegsgefangenen im Westen. München 1968, S. 6. Prüsse, Wilhelm: Der Seemannsberuf und die Problematik seines Arbeitseinsatzes und der Nachwuchslenkung. Rostock 1940, S. 29-30. Diese Definition beruht im Wesentlichen auf § 163 der mittlerweile aufgehobenen Reichsversicherungsordnung. Siehe auch Berger, Martin: Die wichtigsten Fragen aus der Sozialversicherung der Seeleute. Bremen 31935, S. 11. Siemon, Thomas: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen. Bremer Seeleute am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1930-1939. Bremen 2002, S. 102.

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tigkeitsfelder unterscheidet: das Deckspersonal, zu dem der Kapitän, die Offiziere, Boots- und Zimmerleute, Matrosen, Leichtmatrosen, Jungmänner und Jungen gehörten, das technische Personal, das die Ingenieure, Ingenieurs-Assistenten, Lagerhalter, Maschinenwärter, Hilfskesselwärter, Schmierer, Oberheizer, Heizer, Trimmer und Reiniger (auf Motorschiffen) umfasste, sowie das Verpflegungs- und Bedienungspersonal, also Köche, Schlachter, Bäcker, Kochsmaate, Kochsjungen, Stewards und Jungen.4 Zur dritten Gruppe gehörten auf Passagierschiffen seit den 1930er Jahren auch Frauen, etwa als Krankenschwestern oder Verkäuferinnen. Das seemännische Personal im engeren Sinne bildete somit nur einen kleinen Teil der Gesamtbesatzung; die übrigen Tätigkeiten erforderten keine spezifisch maritime Ausbildung, sondern »landseitige Qualifikationen«.5 Die konkrete Verteilung der Aufgaben konnte je nach Größe, Art und Fahrtbereich des Schiffes variieren und war zudem vom jeweiligen Alter der Seeleute abhängig.6 Die Schiffsbesatzung lässt sich aber nicht nur nach Tätigkeitsfeldern differenzieren, sondern auch nach der Art des Arbeitsverhältnisses der einzelnen Besatzungsmitglieder: Offiziere waren üblicherweise Angestellte, die für mindestens zwölf Monate in den Diensten des betreffenden Reeders standen. Die Mannschaften hingegen heuerten auf unbestimmte Zeit an und hatten eine nur 48stündige Kündigungsfrist.7 Zu den wenigen Gemeinsamkeiten der deutschen Schiffsbesatzungen gehörte, dass jeder Seemann in der Regel ein sogenanntes Seefahrtsbuch besaß und sich auf einem internationalen Arbeitsmarkt bewegte.8 Seeleute auf deutschen Schiffen waren an die Seemannsordnung als gesetzliche Grundlage ihrer Tätigkeit gebunden;9 hierdurch habe, so Thomas Siemon, »die Situation der Seeleute […] Züge einer fast militärischen Disziplinierung aufgewiesen«10. Ausdruck dieser militärischen Disziplin war eine starke Hierarchie, die zusammen mit den Arbeitsabläufen das Leben an Bord strukturierte und reglementierte.11 Seit Mitte der 1930er Jahre herrschte in der deutschen Handelsschifffahrt Arbeitskräftemangel.12 Dazu trug nicht zuletzt die vergleichsweise schlechte Bezahlung deutscher Seeleute bei: Trotz einer öffentlichkeitswirksamen Erhöhung der Heuersät-

4 5 6 7 8

W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 31. T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 102. Ebd., S. 104. W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 33-34. T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 105. Im Seefahrtsbuch werden alle An- und Abmusterungen verzeichnet. Es dient als Ausweis der Zugehörigkeit zur Besatzung eines bestimmten Schiffes und als Beleg für geleistete Sozialversicherungszeiten. Siehe dazu auch M. Berger: Die wichtigsten Fragen aus der Sozialversicherung der Seeleute, S. 13. 9 Loewe, Eugen: Die Seemannsordnung vom 2. Juni 1902, nebst den dazu ergangenen Nebengesetzen. Zugleich als Nachtrag zum Band 2 des Kommentars zum Handelsgesetzbuch von H. Makower. Berlin 121903. 10 T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 14. 11 Ebd., S. 104. 12 Ebd., S. 109 sowie S. 118-119.

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ze im Jahr 193713 lagen »die tariflichen Heuersätze […] immer noch unter dem Stand von 1929«,14 da in den Jahren zuvor die Heuern gekürzt worden waren. Dass das steuerpflichtige Einkommen durch Hinzurechnen der einbehaltenen Verpflegungspauschale von 35 Reichsmark über der tatsächlich ausbezahlten Heuer lag,15 machte sich empfindlich bemerkbar. Zusätzlich benachteiligt waren die Seeleute auch durch die strenge Devisenbewirtschaftung: Häufig wurde der Vorschuss in ausländischen Häfen in Reichsmark ausgezahlt, sodass sich beim Tausch Währungsverluste von bis zu 30 Prozent ergaben.16 Von solch einem schmalen Einkommen ließ sich eine Familie kaum ernähren.17 Wilhelm Prüsse kommt darüber hinaus zu dem ernüchternden Schluss, dass nicht nur die materielle Existenz des deutschen Seemannes bescheiden sei, sondern dass vor allem »sein Lebensniveau, gemessen an kulturellen, gesellschaftlichen und familiären Gütern, weit hinter dem seiner Volksgenossen zurücksteht«18. Was Bezahlung und Lebensstandard angeht, schnitten die deutschen Seeleute im internationalen Vergleich sehr schlecht ab, britische und US-amerikanische Seeleute verdienten zwei- bzw. dreimal so viel.19 Da in Deutschland seit Ende 1936 Vollbeschäftigung herrschte,20 war es besonders schwer, alle Stellen in der Seefahrt mit qualifiziertem Personal zu besetzen. In den späten 1930er Jahren war die Fluktuation auf dem seemännischen Arbeitsmarkt extrem hoch.21 Jugendlichen erschien die Seefahrt zwar nach wie vor als attraktives Tätigkeitsfeld,22 doch oft nur für eine gewisse Zeit: »Die meisten gaben die Seefahrt auf, wenn sie das Alter von 30 überschritten. So waren 1934 73% des Maschinenpersonals zwischen 20 und 35 Jahren und fast 60% der Seeleute unverheiratet.«23 Die

13 14 15 16 17

18 19 20 21 22

23

Ebd., S. 121. Ebd. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 59. Ebd. Eiber, Ludwig: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Hansestadt Hamburg in den Jahren 1929 bis 1939. Werftarbeiter, Hafenarbeiter und Seeleute: Konformität, Opposition, Widerstand. Frankfurt am Main 2000, S. 625. Hierzu Prüsse: »Nach Abzug von Steuern, Abgaben und Beiträgen bleiben dem Matrosen kaum 100 RM monatlich, wovon er außer Wohnungsmiete und Erhaltung seiner Familie sein Arbeitszeug und sonstige Kleidung bestreiten muß. Davon soll er sich an Bord Bettwäsche, Handtücher, Waschmittel, Eßgeschirr und sonstige Gebrauchsartikel halten, davon muß er, sein einziges Vergnügen auf See, den Tabak bestreiten und möchte vielleicht auch einmal im tropischen Ausland an Land gehen, um einen kühlen Trunk zu nehmen.« W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 112. Ebd., S. 113. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 61. Barkai, Avraham: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Ideologie, Theorie, Politik 1933-1945. Frankfurt am Main 1988, S. 103. L. Eiber: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Hansestadt Hamburg, S. 625. Die Faszination vieler Jugendlicher für die Seefahrt speiste sich auch aus medial vermittelten Bildern von Seefahrt und Seemannschaft und ging oftmals mit sehr vagen Vorstellungen über das gewählte Berufsfeld und dessen Anforderungen einher. Vgl. ebd. sowie W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 143. L. Eiber: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Hansestadt Hamburg, S. 625.

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Fluktuation führte auch dazu, dass »gelernte Leute und Leute mit bestimmten Voraussetzungen neben vollkommen ungelernten Leuten scheinbar in buntem Durcheinander von den verschiedenen Laufbahnen in der Handelsmarine aufgenommen und zu Seeleuten im weiteren Sinne gemacht wurden«24. Weil kaum verlässliche Statistiken vorliegen, lässt sich diese Arbeitsmarktrealität allerdings zahlenmäßig nur schlecht erfassen.25 Trotz des umfangreichen statistischen Materials zur Seeschiffahrt ist es, wie Thomas Siemon betont, ein »oft […] vergebliches Unterfangen, darin die Seeleute wiederzufinden«26. Nach Schätzungen der SeeBerufsgenossenschaft (SBG)27 gab es im Jahr 1939 in der deutschen Seeschifffahrt etwa 80.000 Stellen; das bedeutet jedoch nicht, dass diese Stellen auch tatsächlich besetzt waren.28 Knapp zwei Drittel aller Arbeitsplätze in der Seefahrt stellte die Frachtschifffahrt; dort lag das Verhältnis von Offizieren zu Mannschaften etwa bei 1 zu 4,5.29 Im Jahr 1938 fuhren nach Schätzungen der SBG zwischen 48.785 und 55.000 Seeleute auf deutschen Frachtschiffen.30 Innerhalb der Frachtschifffahrt entfielen im Jahr 1936 etwa 60 Prozent auf den Übersee-Verkehr.31 Die Altersstruktur deutscher Handelsschiffsbesatzungen in den 1930er Jahren war in den drei Bereichen Deck, Maschine und Bedienung und in den Statusgruppen der Offiziere und Mannschaften jeweils unterschiedlich und hing von den jeweiligen Eingangsvoraussetzungen und Karrierechancen ab.32 Im Ganzen ergibt sich jedoch in den 1930er Jahren ein Bild relativ junger Schiffsbesatzungen, die sich zum Ende des Jahrzehnts durch die Abwanderung von Seeleuten in andere Berufsfelder noch weiter verjüngten (vgl. Tabelle 1). Im Jahr 1934 waren zwei Drittel aller deutschen Besatzungsmitglieder zwischen 15 und 35 Jahre alt, 25.000 Seeleute waren jünger als 30.33 Die Zahl jugendlicher Neulinge in der Seefahrt blieb hoch: Im Jahr 1938 wurden 5600 Jugendliche erstmals auf Seeschiffen beschäftigt.34

24 W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 32. 25 D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 45. 26 T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 25. Siemon weist darauf hin, dass es für generalisierende Aussagen vor allem an einer gesicherten Grundgesamtheit fehlt. Ebd., S. 109. 27 Die SBG war ursprünglich nur die gesetzliche Unfallversicherung der Seeleute, erweiterte ihr Leistungsspektrum im Laufe der Zeit jedoch um Invaliden- und Krankenversicherung. Zur Datenerhebung durch die SBG siehe ebd., S. 106. 28 D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 48. 29 Ebd., S. 51. 30 Ebd., S. 46. Diese Zahl beinhaltet auch Arbeitsplätze auf aufliegenden, also vorübergehend nicht in Fahrt gesetzten Schiffen. 31 Das entspricht 304 von 1198 Schiffen oder 2,19 Mio BRT von insgesamt 3,62 Mio BRT Gesamttonnage. Vgl. Rübner, Hartmut: Konzentration und Krise der deutschen Schiffahrt. Maritime Wirtschaft und Politik im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Bremen 2005, S. 469 (Tabelle 78). 32 Siehe dazu die Tabelle bei T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 105. 33 W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 115-116. 34 D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 50.

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Tabelle 1: Entwicklung der Altersstruktur deutscher Handelsschiffsbesatzungen Altersstruktur 1934

Altersstruktur 1940

unter 20

13,2 %

unter 15

1,3 %

20 bis 30

50,4 %

15 bis 25

47,2 %

30 bis 40

19,5 %

25 bis 40

28,3 %

über 40

17,1 %

über 40

13,2 %

Quelle: D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 65.

Was die regionale Herkunft der Seeleute angeht, waren die Besatzungen auf deutschen Handelsschiffen in den späten 1930er Jahren sehr gemischt. Die bei Wilhelm Prüsse veröffentlichten Zahlen für die Jahre 1934 und 1939 (vgl. Tabelle 2 und Tabelle 3) zeigen, dass das Einzugsgebiet für den Seemannsnachwuchs tatsächlich nicht nur ganz Deutschland war, sondern auch das nun angeschlossene Österreich, die Ostmark und das Sudetenland. Hinzu kamen Besatzungsmitglieder aus dem europäischen und dem außereuropäischen Ausland.35 Fuhren 1934 noch lediglich 2,3 Prozent (964) farbige Seeleute auf deutschen Handelsschiffen,36 so beschäftigten die deutschen Reeder drei Jahre später mehr asiatische Seeleute, um den Arbeitskräftemangel auszugleichen.37 Für die Firmen war dieses Modell durchaus vorteilhaft: Da der Tarifvertrag für die deutsche Seeschiffahrt nur für weiße Seeleute galt,38 erhielten Asiaten an Bord wesentlich niedrigere Löhne. Hartmut Rübner spricht in diesem Zusammenhang von einem »rassisch segmentierten zweiten Arbeitsmarkt mit Löhnen auf kolonialem Niveau«39. Indische und chinesische Seeleute dienten nicht nur »als Mittel zur Betriebskostenminimierung«, 40 sondern vor allem »der Disziplinierung der Beschäftigten wie auch der Eindämmung des gewerkschaftlichen Radikalismus«41. Wenn billige ausländische Konkurrenten in großer Zahl verfügbar waren, setzte ein deutscher Seemann den eigenen Arbeitsplatz

35 W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 45 ff. 36 Rübner, Hartmut: »Ausländer nach Möglichkeit sofort aus der Schiffahrt ausmerzen …« Konflikte um die Beschäftigung chinesischer und indischer Seeleute auf den Schiffen der Bremer Ostasienlinien vom Kaiserreich bis in den NS-Staat. In: Kuckuk, Peter (Hg.): Passagen nach Fernost. Menschen zwischen Bremen und Ostasien. Bremen 2004, S. 63117, hier S. 90. 37 Rübner, Hartmut: Lebens-, Arbeits- und gewerkschaftliche Organisationsbedingungen chinesischer Seeleute in der deutschen Handelsflotte. Der maritime Aspekt der Ausländerbeschäftigung vom Kaiserreich bis in den NS-Staat. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 33 (1997), S. 1-41, hier S. 35. 38 H. Rübner: »Ausländer nach Möglichkeit sofort aus der Schiffahrt ausmerzen …«, S. 88. 39 Ebd., S. 96. 40 Ebd. 41 Ebd.

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wohl nicht allzu leichtfertig aufs Spiel. Vor allem den Chinesen schrieb die NS-Ideologie eine Reihe negativer Eigenschaften zu; nach Rübner wurde dadurch »dem Rassismus an Bord ein argumentativer Vorschub geleistet«.42 Da die asiatischen Seeleute nach Kriegsbeginn nicht mehr weiterbeschäftigt wurden, mussten ab 1940 ausländische Seeleute aus besetzten Gebieten angeheuert werden.43 Während die indischen Seeleute nach vorübergehender Internierung an England übergeben wurden,44 hielt Deutschland die chinesischen Arbeiter auch während des Krieges fest. Im Mai 1944 wurde eine große Gruppe chinesischer Seeleute durch die Gestapo verhaftet und misshandelt. Einige dieser Seeleute wurden in Konzentrationslagern ermordet.45 Tabelle 2: Verteilung der aus den deutschen Ländern stammenden Seeleute auf deutschen Frachtschiffen (auf Basis der seemännischen Berufszählung, 1934) Land

Zahl der Seeleute

Hannover

7029

Schleswig-Holstein

3909

Pommern

2964

Oldenburg

2135

Ostpreußen

1747

Mecklenburg

1261

Danzig und abgetretene Gebiete

1588

Westfalen und Rheinprovinz

2500

Sachsen

1012

Schlesien

991

Bayern

935

Brandenburg

634

Österreich

175

Gesamt

26.880

Quelle: W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 46.

42 43 44 45

Ebd., S. 98. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 49. H. Rübner: »Ausländer nach Möglichkeit sofort aus der Schiffahrt ausmerzen …«, S. 92-93. Ebd., S. 95.

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Tabelle 3: Herkunft der Seeleute auf deutschen Frachtschiffen (1939) Herkunftsregion

Zahl der Seeleute

Hafenstädte Industriestädte Aus den Ländern Europäisches Ausland

13.676 2179 28.217 2223

Außereuropäisches Ausland

249

Keine Angabe

288

Gesamt

46.832

Quelle: W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 46.

Zu der Frage, wie es in den 1930er Jahren um die politischen Überzeugungen unter den Seeleuten bestellt war, lassen sich kaum verlässliche statistische Aussagen treffen. Zwar kann als gesichert gelten, dass unter Seeleuten das gesamte Spektrum politischer Meinungen vertreten war, doch ist über deren Verteilung und Intensität nur wenig bekannt.46 Ende 1932 gab es etwa 2500 NSDAP-Mitglieder in der deutschen Seeschiffahrt.47 Kurz nach der Machtübergabe an Hitler waren unter den Seeleuten 11,5 Prozent Parteimitglieder.48 Zwar stieg die Zahl deutscher Seeleute mit NSDAP-Parteibuch zwischen 1933 und 1939 kontinuierlich an (vgl. Tabelle 4), doch »wie weit es sich dabei um überzeugte Parteigenossen oder aber nur um ›Karteigenossen‹ handelte, muß offen bleiben«49. Die NSDAP-Mitglieder unter den Seeleuten »unterstanden der Abteilung Seefahrt der Auslandsorganisation (A.O.) der NSDAP«50. Dass die Nationalsozialisten schon kurz nach der Machtergreifung besonderes Augenmerk auf die Erfassung und ideologische Schulung deutscher Seeleute richteten, hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen waren die Seeleute durch ihre häufigen Auslandsreisen dazu prädesti-

46 Kuckuk, Peter: Die Ostasienschnelldampfer SCHARNHORST, POTSDAM und GNEISENAU des Norddeutschen Lloyd. Ein Beitrag zur Schiffbau- und Schiffahrtsgeschichte des Dritten Reichs. Bremen 2005, S. 161. 47 T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 455. 48 Hamburger, Ernest: A peculiar pattern of the fifth column – the organization of the German seamen. In: Social Research 9 (1942), H. 4, S. 495-509, hier S. 497. 49 Kuckuk, Peter: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«. Die Bemühungen der Nationalsozialisten um die politische Organisierung der deutschen Seeleute in den dreißiger Jahren. In: Deutsches Schiffahrtsarchiv 21 (1998), S. 101-121, hier S. 104. 50 P. Kuckuk: Die Ostasienschnelldampfer, S. 158.

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niert, ein nationalsozialistisches Deutschlandbild nach außen zu tragen,51 zum anderen galten sie aber auch gerade aufgrund ihrer internationalen Kontakte als besonders anfällig für kommunistisches und anderweitig unerwünschtes Gedankengut.52 Tabelle 4: Entwicklung der NSDAP-Mitgliederzahlen unter deutschen Seeleuten 1933 (März)

1933 (Mai)

1934 (März)

1938

1939

3000

7000

20.000

23.000

30.000

Quelle: P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 104.

Drei Institutionen sollten die Gleichschaltung auf deutschen Fracht- und Passagierschiffen durchsetzen: Die Auslandsorganisation (AO) der NSDAP, die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation (NSBO, später Deutsche Arbeitsfront [DAF]) als quasi-gewerkschaftliche Organisation und schließlich die Marine-SA bzw. MarineHJ.53 Neben der Indoktrination auf den Schiffen nutzte die NS-Regierung auch die Ausbildungsinstitute für Schiffsjungen zur politischen Beeinflussung des seemännischen Nachwuchses.54 Über diese Zugänge versuchte sie, auf den Schiffen Strukturen zu etablieren, um auf lange Sicht die Seeleute möglichst flächendeckend zu erreichen. Die oben geschilderten Besonderheiten des maritimen Berufsfeldes, vor allem die hohe Fluktuation der Beschäftigten, verursachten dabei jedoch eine Reihe praktischer Probleme. In vielen Fällen zeigte sich eine Diskrepanz zwischen dem nationalsozialistischen Konzept der regelmäßigen ideologischen Schulung in Gruppen und der tatsächlichen Umsetzung je nach den vorhandenen Möglichkeiten an Bord der einzelnen Schiffe.55 Oft kam beispielsweise aufgrund der wenigen Parteimitglieder in der Besatzung kein Stützpunkt und keine Ortsgruppe, sondern nur eine Bordzelle zustande. Für die Gründung einer Bordzelle genügten bereits bis zu sechs Parteimitglieder; waren es bis zu 19, wurde ein Stützpunkt gebildet, der bei höherer Mitgliederzahl in eine Ortsgruppe umgewandelt wurde.56 Repräsentiert und gegenüber dem 51 Der deutsche Seemann wurde in NS-Publikationen gerne als »der beste Verbindungsmann der Heimat zum Auslandsdeutschtum« bezeichnet. So etwa bei Mackert, A.: Die AuslandsOrganisation und die Seefahrt. In: Jahrbuch der Auslands-Organisation der NSDAP für die Seeschiffahrt 1 (1939), S. 55-59, hier S. 56. 52 E. Hamburger: A peculiar pattern of the fifth column, S. 496; W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 140. 53 P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 101. Zur Marine-SA siehe auch L. Eiber: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Hansestadt Hamburg, S. 636. Zur Bedeutung der Marine-HJ für die weltanschauliche Erziehung der seefahrenden Jugend siehe Trotha, Adolf von: Seegeltung – Weltgeltung. Gedanken eines Admirals. Berlin 1940, S. 2. 54 W. Prüsse: Der Seemannsberuf, S. 49. Dort erwähnt er die Zentralstelle für Vorausbildung und Berufslehre in der Seeschiffahrt, die alle Bewerbungen von Schiffsjungen registrierte, begutachtete und auswählte. 55 Idealtypisch sollten SA-Abende einmal pro Woche stattfinden, ebenso Parteischulungen. P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 110. 56 Ebd., S. 104-105; D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 79.

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Kapitän vertreten wurde diese Gruppe durch einen sogenannten Politischen Leiter, der von der Reichsleitung Seefahrt der NSDAP (AO) eingesetzt wurde.57 Darüber hinaus agierte der Politische Leiter im Auftrag der NSBO-Seeschiffahrt und der Reichsbetriebsgemeinschaft Verkehr und öffentliche Betriebe, Fachschaft Seeschiffahrt.58 Bei ihm lief also jegliche ideologische Arbeit an Bord bzw. deren Überwachung zusammen. Im Jahr 1936 stellten Seeoffiziere nach Einschätzung der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) 90 Prozent aller Politischen Leiter an Bord.59 Die Position des Politischen Leiters bot sich auch an, um Interessen der Mannschaft gegenüber unliebsamen Vorgesetzten durchzusetzen, sodass die Konstellation zwischen dem Kapitän und einem Offizier in dieser Funktion mitunter beträchtliches Konfliktpotenzial besaß.60 Siemon macht deutlich, dass die Parteimitgliedschaft oder die Zugehörigkeit zu SA oder NSBO bzw. DAF deshalb für viele Seeleute auch eine Möglichkeit der Ermächtigung darstellte. Nun »mußte man sich nicht mehr alle Zumutungen und Demütigungen in den Arbeitsbeziehungen bieten lassen«61 und konnte »unter Berufung auf ›Politisches‹ […] widersprechen«62. Während NS-Ideologen immer wieder Erfolge ihrer Schulungsarbeit auf Seeschiffen herausstellten,63 kommt Peter Kuckuk zu dem Schluss, dass der tatsächliche »Einfluß der Nationalsozialisten an Bord deutscher Schiffe […] – nach einer kurzen Scheinblüte – offenbar ab Mitte der 30er Jahre zurückgegangen«64 und eine völlige nationalsozialistische Durchdringung der Seefahrt im Jahr 1939 trotz der hohen Zahl an seefahrenden Parteimitgliedern nicht erreicht war. Obwohl deren Anteil unter Seeleuten Anfang 1939 mit 20 Prozent hoch scheint, war die flächendeckende Einrichtung von Stützpunkten an Bord der Schiffe nicht gelungen.65 Die tatsächliche Verbreitung und Stärke der Parteigruppierungen auf Frachtschiffen variierte je nach Größe und Fahrtgebiet der Schiffe.66 Nur auf wenigen Schiffen waren die NSOrganisationen sehr stark präsent; nach Schätzungen aus antifaschistischen Kreisen »sollen diese ›Ausnahmeschiffe‹ nicht mehr als 5% der gesamten Handelsflotte aus-

57 58 59 60

61 62 63

64 65 66

P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 106. Ebd. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 75. Anhand mehrerer Beispiele untersucht Thomas Siemon das große Konflikt-, aber auch Veränderungspotenzial von Konfrontationen zwischen Politischen Leitern und anderen Seeleuten an Bord. T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 452 ff. Ebd., S. 465. Ebd. So etwa Alexander Wegener: »Es ist ein Erfolg unserer Schulungsarbeit, daß wir heute schon in den breitesten Schichten unserer Seefahrer Verständnis für den Begriff einer nationalsozialistischen Menschenführung finden.« Wegener, Alexander: Das Gesicht des deutschen Seemannes. In: Jahrbuch der Auslands-Organisation der NSDAP für die Seeschiffahrt 2 (1941), S. 17-27, hier S. 27. Ähnlich bei Iba, Hans: Der organisatorische Aufbau der NSDAP in der Seeschiffahrt. In: Jahrbuch der Auslands-Organisation der NSDAP für die Seeschiffahrt 1 (1939), S. 139-142, hier S. 141-142. P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 113. Ebd., S. 114; D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 85. P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 113.

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gemacht haben«67. Häufig handelte es sich dabei um Passagierschiffe; dort wurde aufgrund des engen Kontaktes zu den Fahrgästen großer Wert auf NS-konformes Auftreten der Besatzung gelegt.68 Weitaus verbreiteter jedoch waren Schiffe, auf denen nur sehr wenige oder gar keine Parteimitglieder fuhren; Peter Kuckuk konnte einige Schiffe dieser Art noch im Sommer 1936 nachweisen.69 Angesichts der zunehmenden nationalsozialistischen Bemühungen um die Besatzungen deutscher Handelsschiffe versuchten auch die Antifaschisten, ihren Einfluss auf deutsche Seeleute zu vergrößern. Dieter Nelles zufolge stießen sie dabei auf ein »Milieu, das dem Nationalsozialismus relativ indifferent bis feindselig gegenüberstand«70. Was für die Nationalsozialisten problematisch war, erwies sich für die Antifaschisten als Vorteil: Nachdem die NS-Sozialpolitik den Seeleuten kaum zugute gekommen und patriotische Gesinnung unter den Besatzungen ohnehin schwach ausgeprägt war,71 konnten die Antifaschisten bei den Schiffsbesatzungen an ein beträchtliches widerständiges Potenzial anknüpfen.72 Die organisatorischen Bedingungen für Widerstandsarbeit waren unter Schiffsbesatzungen auf Großer Fahrt besonders günstig – nicht ohne Grund war dies genau der Bereich, dessen Durchlässigkeit und Offenheit die Nationalsozialisten am meisten fürchteten. Außerhalb Deutschlands gab es für die Aktivisten vielfältige Möglichkeiten, Treffen mit Seeleuten zu arrangieren, um Propagandamaterial weiterzugeben oder Kurierdienste zu organisieren.73 In vielen Hafenstädten konnten sich Seeleute aller Nationen in den sogenannten Interclubs der Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter (ISH) austauschen und über Neuigkeiten informieren.74 Auch Hafenarbeiter und Fischer, oft Mitglieder von KPD oder SPD, waren nach Einschätzung von Ruth Weihe »im antifaschistischen Widerstand besonders aktiv«.75 Die meisten Initiativen für antifaschistischen Widerstand unter Seeleuten gingen von der ITF aus. Nach Dieter Nelles gehörten Seeleute zusammen mit Eisenbahnern

67 68 69 70 71 72 73

Ebd., S. 105. Ebd., S. 113. Ebd., S. 106. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 99. Ebd. Ebd., S. 91. Nelles, Dieter: ITF resistance against nazism and fascism in Germany and Spain. In: Reinalda, Bob (Hg.): The International Transportworkers Federation 1914-1945. The Edo Fimmen Era. Amsterdam 1997, S. 174-198, hier S. 181; Weihe, Ruth: Hamburger Hafenarbeiter und Seeleute – Opfer des Naziterrors. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (2004), H. 1, S. 153-167, hier S. 153. 74 L. Eiber: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Hansestadt Hamburg, S. 185. Für das kommunistische und antifaschistische Netzwerk waren die Interclubs wichtige Zentren. Zur Geschichte der Interclubs siehe auch Nelles, Dieter: »Daß wir den Kopf hochhalten, auch wenn er mal abgehauen werden sollte.« Wuppertaler Seeleute im Widerstand. In: Forschungsgruppe Wuppertaler Widerstand (Hg.): »… se krieje us nit kaputt.« Gesichter des Wuppertaler Widerstands. Essen 1994, S. 159-180, hier S. 159-161. 75 R. Weihe: Hamburger Hafenarbeiter und Seeleute, S. 153.

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und Binnenschiffern zu den aktivsten Widerstandsgruppen im Umfeld der ITF.76 Aus diesen Kreisen rekrutierten sich die Mitglieder der sogenannten Aktivgruppen in europäischen Hafenstädten, vor allem in Antwerpen. Sie suchten den Kontakt zu deutschen Seeleuten, die als Vertrauensleute auf ihren Schiffen die Widerstandsarbeit fortsetzen sollten.77 Wie Dieter Nelles nachweisen konnte, verfügte die ITF-Gruppe in Antwerpen über eine große Reichweite: »Insgesamt hatte die ITF-Gruppe zwischen 1935 und 1939 Kontakte zu den Besatzungen von über 600 deutschen Schiffen, von denen über 80% illegale Literatur erhielten. Geht man von einer durchschnittlichen Besatzungsstärke von 30 Mann aus, so wurden monatlich zwischen 1000 bis 3000 deutsche Seeleute von der ITF-Gruppe direkt oder indirekt propagandistisch beeinflußt.«78 Durch ihre kontinuierliche Arbeit erreichte die Antwerpener Aktivgruppe »einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Handelsflotte«79. So existierten beispielsweise auf den Ostasienschnelldampfern SCHARNHORST, POTSDAM und GNEISENAU des Norddeutschen Lloyd (NDL) jeweils »kleine Gruppen antifaschistischer Seeleute«.80 Ob Denunziationen vor allem aufgrund der starken Solidarität unter Seeleuten kaum vorkamen, wie Dieter Nelles meint,81 oder ob das vorsichtige Vorgehen der ITF und die Erfahrung einiger Initiativpersonen mit den Matrosenaufständen nach dem Ersten Weltkrieg für den Erfolg der Arbeit verantwortlich waren82 – man kann jedenfalls davon ausgehen, dass sich Seeleute der Handelsmarine in unterschiedlicher Weise am Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligten.83 Allerspätestens mit Kriegsbeginn mussten sich die Besatzungsmitglieder deutscher Schiffe zu Deutschlands Politik positionieren. Das daraus entstehende Konfliktpotenzial prägte die Liegezeit in den Häfen und wirkte zum Teil auch in der sozial verdichteten Situation der Gefangenschaft weiter.84

76 D. Nelles: ITF resistance against nazism and facism in Germany and Spain, S. 174. 77 D. Nelles: »Daß wir den Kopf hochhalten, auch wenn er mal abgehauen werden sollte«, S. 162. 78 D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 174. 79 Ebd., S. 177. Ausgenommen sind davon die Schiffe der NS-Organisation »Kraft durch Freude« (KdF) und große Passagierschiffe, die Antwerpen nicht ansteuerten. 80 P. Kuckuk: Die Ostasiendampfer, S. 162. 81 D. Nelles: ITF resistance against nazism and facism in Germany and Spain, S. 183. 82 Einer der wichtigsten ITF-Aktivisten war Hermann Knüfken, der als Matrose der kaiserlichen Marine unter den Aufständischen der Jahre 1918/19 gewesen war. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 111-115. 83 P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 114. Zu Biografien widerständiger Seeleute siehe Weihe, Ruth: Biographies of Seafarers who resisted the nazi regime. In: Reinalda, Bob (Hg.): The International Transportworkers Federation 1914-1945. The Edo Fimmen Era. Amsterdam 1997, S. 209-214. Die gegenteilige Meinung vertritt Herbert Kraus, allerdings ohne Belege für seine Position anzuführen. Kraus, Herbert: Unterstützung von Kriegshandlungen in »Übersee« durch die Handelsschiffahrt. In: Klüver, Hartmut/Hammer, Peter (Hg.): Das Zusammenwirken von Handelsschiffahrt und Seestreitkräften in Deutschland vom Kaiserreich bis heute. Vorträge des 4. Hamburger Symposiums zur Schiffahrts- und Marinegeschichte vom 13.-14. Mai 2004. Düsseldorf 2005, S. 67-80, hier S. 68. 84 Vgl. hierzu auch das Kapitel über Raumkonflikte, S. 228-231, 235-242.

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D IE S ITUATION DEUTSCHER H ANDELSSCHIFFSBESATZUNGEN NACH K RIEGSBEGINN Bereits seit 1934 hatten die Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt und die Kriegsmarine immer wieder Überlegungen angestellt, wie die deutschen Handelsschiffe am besten auf den Kriegsfall vorzubereiten seien. Dabei standen die strategischen Interessen des Deutschen Reiches im Vordergrund: Allen Beteiligten war klar, dass die deutsche Handelsflotte im Kriegsfall als Verstärkung für die Kriegsmarine und für die Aufrechterhaltung von Handelsverbindungen benötigt werden würde. Dies setzte jedoch voraus, nach einem Kriegsbeginn möglichst viele Schiffe aus ihren jeweiligen Fahrtgebieten nach Deutschland zu bringen.85 Die Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt war also mitnichten ein rein ziviles Gremium, sondern diente militärischen Zwecken, wie Dieter Nelles betont: »Viele Handelsschiffe wurden schon frühzeitig für einen eventuellen Kriegseinsatz ausgerüstet und nahmen an Manövern der Kriegsmarine teil.«86 Bereits seit 1934 hatten die Kapitäne eine versiegelte Sonderanweisung für den Kriegsfall mitzuführen.87 Konkreter wurden die Kriegsvorbereitungen für die Schifffahrt seitens der Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt (RVS) und der Kriegsmarine (KM) im Frühjahr 1938.88 Als Konsequenz aus der teilweise chaotischen Situation während der Sudetenkrise im Spätsommer 1938, als die Sonderanweisungen zum ersten Mal zum Einsatz kamen, fanden ab Februar 1939 in den wichtigsten deutschen Häfen Schulungen statt, bei denen Handelsschiffskapitäne und Offiziere in militärischstrategisches Denken und in die Bedienung von Geschützen eingeführt wurden.89 Auf dieser Grundlage sollten die Kapitäne im Ernstfall umsichtig mit den Sonderanweisungen umgehen und lernen, Entscheidungen entlang militärischer Leitlinien zu treffen.90 Im selben Jahr befassten sich auch die Bremer Reeder in der Sitzung ihrer Bezirksgruppe mit der Dienstverpflichtung von Seeleuten der Handelsmarine und anderen kriegsbezogenen Themen, denn »das ist nach den jüngsten militärischen Aktionen klar: der Einsatzbefehl für die Kriegs- und für die Handelsflotte kann jeden Tag kommen«91.

85 Zu den kriegsvorbereitenden Maßnahmen für die deutsche Handelsflotte siehe L. Dinklage/ H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 17; H. Rübner: Konzentration und Krise der deutschen Schiffahrt., S. 388. 86 D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 43. Eine kritische Darstellung der Rolle der Reichsverkehrsgruppe gibt Hessel, Manfred: Die »Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt« und ihre Rolle bei der Vorbereitung des Aggressionskrieges 1939-1945. Teil 1. In: Panorama maritim (1987), H. 22, S. 22-28, sowie Teil 2. In: Panorama maritim (1988), H. 23, S. 26-32. 87 Kiekel, Stefan: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus. Unternehmerinitiative und staatliche Regulierung im Widerstreit 1933 bis 1940/41. Bremen 2010, S. 229. 88 H. Rübner: Konzentration und Krise der deutschen Schiffahrt, S. 389. 89 S. Kiekel: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus, S. 234. Auch Rudolf Becker nahm Anfang August 1939 an einem solchen Kurs teil; vgl. Brief an den Vater vom 10. August 1939. DSM, III A 3324 a. 90 S. Kiekel: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus, S. 234. 91 Adamietz, Horst: Gezeiten der Schiffahrt. Nach Protokollen und Dokumenten des hundertjährigen Bremer Rhedervereins. Zeichnungen von Barbara Fiebelkorn. Bremen 1984, S. 256.

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Die Seekriegsleitung erfasste daher bereits vor Beginn der Feindseligkeiten penibel die tagesaktuelle geografische Verteilung deutscher Handelsschiffe.92 Der erste Lagebericht der Seekriegsleitung (SKL) vom 28. August 1939 vermerkt, dass gut die Hälfte aller deutschen Schiffe über 1600 Bruttoregistertonnen (BRT) in Deutschland lag, der Rest sich jedoch in Überseehäfen (13 Prozent) oder auf See befand (35 Prozent).93 Zu diesem Zeitpunkt hatten die Schiffe bereits die erste offizielle Nachricht von der Seekriegsleitung erhalten, die darauf hindeutete, dass Krieg drohte. Für diese Benachrichtigung der Kapitäne verwendete die Seekriegsleitung das System der sogenannten Weitergabenachrichten. Diese mit dem Kürzel QWA gekennzeichneten Funksprüche mussten von den empfangenden Schiffen unverzüglich weitergefunkt werden, um die lückenlose Zustellung an alle deutschen Schiffe zu gewährleisten.94 Zwischen dem 25. August und dem 6. September 1939 erreichten sieben nummerierte QWA-Nachrichten die deutschen Schiffe. Durch die erste Nachricht wurde der Plan für den Ernstfall aktiviert – die Kapitäne mussten nach Erhalt der ersten Nachricht den versiegelten Umschlag mit der »Sonderanweisung« für die deutsche Handelsschifffahrt öffnen, die in der nächsten Zeit als Grundlage für alle Entscheidungen dienen sollte.95 Wenig später forderte die nächste QWA-Nachricht die Kapitäne zur Heimfahrt nach Deutschland auf. Die Schiffe sollten für diesen Fall mit einem Tarnanstrich versehen werden, der Ärmelkanal sollte umfahren und der weitere Funkverkehr durfte nur noch verschlüsselt abgewickelt werden.96 Am 27. August versandte die Seekriegsleitung die QWA-Nachricht 9. Sie lautete: »Alle Möglichkeiten ausnutzen, um innerhalb der nächsten 4 Tage Heimathafen zu erreichen; falls nicht möglich, Italien, Spanien, Rußland, Japan, Holland, sonst andere neutrale Häfen gehen; keinesfalls U.S.A. Marineleitung.«97 Die Erwähnung der Vier-Tages-Frist98 verunsicherte

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BArch-MA, RM 7/2555. Ebd. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 23. Ebd. Ein Exemplar der 16-seitigen Sonderanweisungen ist im Bestand der Seekriegsleitung vorhanden: BArch-MA, RM 7/2501. 96 L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 23-24. Für die Verschlüsselung musste der sogenannte Schlüssel ›H‹ verwendet werden. Obwohl er strenger Geheimhaltung unterlag, wurde schnell klar, dass Großbritannien auch über den Schlüssel verfügte und somit den deutschen Funkverkehr mitverfolgen konnte. Stefan Kiekel ist der Auffassung, dass dies von deutscher Seite sogar erwünscht war. S. Kiekel: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus, S. 238. 97 Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 28. August 1939, 8:00 Uhr. BArch-MA, RM 7/310. 98 Nach Kiekel war die Erwähnung der Frist weniger an die Kapitäne deutscher Schiffe als vielmehr an die ›mitlesenden‹ Briten und Franzosen gerichtet und sollte Hitlers Verhandlungsbereitschaft signalisieren. Die darin implizierte Relativierung von Hitlers Kriegsabsicht ist äußerst kritisch zu betrachten, siehe exemplarisch etwa Schmidt, Rainer F.: Der Zweite Weltkrieg. Die Zerstörung Europas. Berlin 2008, S. 12-14, Zitat S. 14. Kiekels These würde außerdem bedeuten, dass man in Deutschland bereits Ende August 1939 davon ausging, dass der ›geheime‹ Funkschlüssel im Ausland bekannt war. S. Kiekel: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus, S. 238.

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viele Kapitäne, sodass der Befehl in der folgenden Nachricht an die Schiffe in Nordund Ostsee widerrufen wurde.99 Am Nachmittag desselben Tages wurde abermals ein Funkspruch verschickt, mit dem die Schiffe »auch über die […] gegebene Frist hinaus«100 zur Rückkehr aufgefordert wurden. Mit QWA 11 am 3. September 1939 wurde den deutschen Kapitänen schließlich der Beginn des Kriegszustandes mit England mitgeteilt.101 QWA 12 und 13 am 4. und 6. September 1939 richteten sich an Schiffe, für die der ›Durchbruch‹ über Norwegen und die Ostsee bzw. nach Murmansk infrage kam.102 Doch nicht alle Schiffe hatten die Sonderanweisungen an Bord, andere hatten Schwierigkeiten »mit der Entschlüsselung der rasch aufeinanderfolgenden Funksprüche«.103 Die so entstandene Verwirrung führte dazu, dass weitaus mehr deutsche Schiffe in Übersee festlagen als ursprünglich von der SKL vorgesehen.104 In der ersten Septemberhälfte lagen teilweise bis zu 318 deutsche Handelsschiffe in überseeischen Häfen, das entspricht 37,3 Prozent der damaligen Handelsflotte.105 Nach Angaben von Stefan Kiekel befanden sich Ende des Monats knapp 12.000 deutsche Seeleute in ausländischen Häfen.106 Nach Kriegsbeginn unterstanden die Schiffe dem deutschen Reichsverkehrsministerium, das »umfassende Lenkungsmaßnahmen im Bereich des gesamten Verkehrs«107 anordnete. Es agierte als »Generalreeder«108 für den Frachtverkehr und stand über die zuständigen Gruppenbefehlshaber mit den Schiffsleitungen in ausländischen Häfen in Verbindung.109 Die Besatzungen deutscher Schiffe waren nach dem »Wehrleistungsgesetz« bzw. nach der Notdienstverordnung aus dem Jahr 1938 expli-

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Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 28. August 1939, 8:00 Uhr. BArch-MA, RM 7/310. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 25. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd., S. 24. Hierzu ausführlich S. Kiekel: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus, S. 239. Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 9. September 1939. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 55% der Schiffe in Deutschland und 6,8% auf See. BArch-MA, RM 7/310. S. Kiekel: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus, S. 242. H. Rübner: Konzentration und Krise der deutschen Schiffahrt, S. 389. Die weitere Entwicklung der institutionellen Zuständigkeit für die Handelsflotte erläutert P. Kuckuk: Die Ostasienschnelldampfer, S. 226. Ebd. Vor Ort in den Häfen waren diese Zuständigkeiten mitunter nicht immer allen Beteiligten klar. Das geht aus dem Eintrag vom 15. September 1939 im Kriegstagebuch des deutschen Marineattachés in Tokyo hervor: »Es ist notwendig für künftige Kriegsfälle von vornherein das Verhältnis der deutschen Schiffahrt zur Kriegsmarine, wie es in der Etappenvorschrift klar umrissen ist, eindeutig festzulegen und die verständnisvolle Mitarbeit aller einschlägigen Stellen der Schiffahrt und ganz besonders strengste Verschwiegenheit nach aussen unter allen Umständen sicherzustellen.« BArch-MA, RM 12/II 247.

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zit dazu verpflichtet,110 die Schiffe nach Deutschland zu bringen.111 Doch in den vielen Fällen, in denen ein ›Durchbruch‹ nicht möglich war und die Seeleute außerhalb der Reichweite Deutschlands bleiben mussten, konnte dieses Gesetz nicht greifen. Die Kapitäne und Besatzungen der in ausländischen Häfen abwartenden Schiffe hatten während der oft monatelangen Liegezeit zum Teil mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. In neutralen Ländern war die Besatzung eines Handelsschiffes »einer kriegführenden Partei […] als zivile Nichtkombattanten entsprechend den Bestimmungen des Neutralitätsrechtes zu behandeln«112. In anderen Ländern wurden die Schiffe ›interniert‹, was in diesem Zusammenhang bedeutete, dass Schiff und Besatzung unter strenge militärische Bewachung gestellt wurden. Meist wurden dann auch Teile der Maschine abmontiert, um das Schiff am Auslaufen zu hindern.113 Vor dem Kriegseintritt der USA beispielsweise galten deutsche Seeleute dort als »excluded aliens under detention«, nach dem Kriegseintritt waren sie »enemy aliens«.114 Egal ob das Schiff in einem neutralen oder befreundeten Hafen lag – die Abwicklung der Schiffsgeschäfte war unterbrochen und es war ungewiss, was mit der Ladung oder den Passagieren passieren sollte. Die Frage, ob und wie Passagiere auf anderen Schiffen an ihren Bestimmungsort weitertransportiert werden konnten, lief immer auf das (politische) Problem der Devisenbeschaffung hinaus. Auf dem Motorschiff COBURG der Ostasien-Route des NDL beispielsweise befanden sich elf deutsche Juden, die nach Shanghai auswandern wollten. In dieser Angelegenheit wandte sich der NDL am 13. Oktober 1939 an den Kapitän der seit Ende August in Massaua liegenden COBURG. Für den Fall, dass die nötigen Devisen von den Passagieren nicht beschafft werden könnten, so die Reederei, »möchten wir Sie bitten, darnach [sic] zu trachten, dass Sie alle Ihre Passagiere von Bord bekommen. Ebenso wie die Auslandsorganisation der N.S.D.A.P. in Vigo und anderen Haefen dafuer sorgt, dass die Passagiere von Bord der Schiffe kommen oder nach der Heimat abtransportiert werden, so muss auch in dem dortigen Falle das Deutsche Konsulat bezw. [sic] das Deutsche Generalkonsulat in Addis Abeba […] die Passagiere irgendwo an Land […] unterbringen.«115 Wie aus einem Brief des Kapitäns an das deutsche Generalkonsulat in Addis Abeba hervorgeht, schien dieser zynischerweise tatsächlich die Rücksendung der jüdischen Passagiere nach Deutschland zu favorisieren, da »mit Erreichen des Nothafens der Befoerderungsvertrag mit den Fahrgaesten erloschen ist«, die Passagiere schließlich »vor Antritt der Reise ein sogenanntes Sicherungsdepot

110 S. Kiekel: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus, S. 222. 111 Das ging unmissverständlich aus der Sonderanweisung (Abschnitt C) hervor. 112 Scheidl, Franz: Die Kriegsgefangenschaft von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart. Eine völkerrechtliche Monographie. Ebering/Berlin 1943, S. 198. 113 So auf der SESOSTRIS, die in Venezuela interniert wurde. Auf diesem Schiff wurde eine venezolanische Marine-Wache stationiert. Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 24. Mai 1940. BArch-MA, RM 7/2556, sowie L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 290-292. 114 Culley, John Joel: A Troublesome Presence: World War II Internment of German Sailors in New Mexico. In: Prologue 28 (1996), H. 4, S. 278-295, hier S. 279. 115 Schreiben des Norddeutschen Lloyd an das Kommando des MS COBURG, 13. Oktober 1939. PA AA, R 127.911.

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fuer die Rueckfahrt hinterlegen mussten« und da vor allem »das Hierbleiben der juedischen Fahrgaeste dem Reich taeglich neue Ausgaben bereitet, die auch in Devisen bezahlt werden muessen«.116 Wie diese Angelegenheit ausging, ist nicht zu rekonstruieren. Die Devisenproblematik betraf auch die Besatzungen der festliegenden Schiffe. Zwar war die Betreuung der Mitarbeiter in Übersee Sache der Reedereien,117 doch zahlten diese seit dem 1. Oktober 1939 den Seeleuten kein Gehalt mehr, sondern einen Sold bzw. Unterhalt. Im Zuge dessen war der Heuersatz reduziert worden.118 Ein Teil dieses Unterhalts war für Ausgaben während des Landgangs bestimmt, allerdings sollten den Seeleuten nur 5 Reichsmark davon auch tatsächlich ausgezahlt werden.119 Ein Grund für diese Sparsamkeit lag darin, dass die deutschen Firmen durch auflaufende Hafenunkosten aufgrund der langen Liegezeit ohnehin hohe Ausgaben zu tragen hatten.120 Die Ausschüttung dieser Devisen musste die Reederei eigens bei der zuständigen Devisenstelle der Regierung beantragen.121 Doch diese behielt sich vor, den an die Seeleute auszuzahlenden Betrag »je nach Devisenlage und Verrechnung mit dem Ausland«122 nach unten zu korrigieren. Oft kam gar kein Geld bei den Seeleuten an. War nach Abzug des Devisenvorschusses vom Unterhalt noch etwas übrig, verblieb dieser Restbetrag »als Guthaben des Besatzungsmitgliedes bei der Reederei oder kann den Angehörigen überwiesen werden«123. Das möglichst rasche Auslaufen vieler deutscher Schiffe war also aus Sicht des Reichsverkehrsministeriums auch deshalb erstrebenswert, weil »die deutschen Schiffe in fremden Häfen allmählich durch ihre Unkosten aufgefressen werden«124. Was mit der Ladung der Schiffe geschah, hing davon ab, um welche Güter es sich handelte und ob das Schiff in absehbarer Zeit für eine Rückkehr nach Deutschland vorgesehen war. In Massaua sollten die im Mai 1940 noch dort liegenden Schiffe ih-

116 Schreiben des Kapitäns der COBURG an das deutsche Generalkonsulat in Addis Abeba, 21. Oktober 1939. PA AA, R 127.911. 117 Abschrift einer Aufzeichnung vom 30. Januar 1940. PA AA, R 146.484. 118 Schreiben der NSDAP-Auslandsorganisation, Referat Seefahrt, an Friedrich Becker, 5. Januar 1940. DSM, III A 3324 b. 119 In einem Papier vom 30. Januar 1940 heißt es allerdings, dass auf Anordnung des Sondertreuhänders für die Seeschiffahrt »ein Teil des Unterhaltsbeitrages, und zwar für Junggrade 10,-- RM und für Vollgrade 20,-- RM als Landgangsgeld dem Seemann in Devisen zur Verfügung gestellt […] wird.« Ob diese Summen jemals zur Auszahlung kamen, ist fraglich. Abschrift einer Aufzeichnung vom 30. Januar 1940. PA AA, R 146.484. 120 Schreiben der Hamburg-Süd an Friedrich Becker vom 29. Dezember 1939. DSM, III A 3324 a. 121 Abschrift einer Aufzeichnung vom 30. Januar 1940. PA AA, R 146.484. 122 Darauf wies die NSDAP-Auslandsorganisation, Referat Seefahrt, Friedrich Becker in einem Schreiben vom 17. Januar 1940 hin. DSM, III A 3324 b. 123 Schreiben der NSDAP-Auslandsorganisation, Referat Seefahrt, an Friedrich Becker, 5. Januar 1940. DSM, III A 3324 b. 124 Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 17. September 1939. BArch-MA, RM 7/310.

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re Ladungen löschen, weil man mit Angriffen auf den Hafen rechnete.125 Kapitäne, die einen Fahrbefehl nach Deutschland erwarteten, versuchten, für ihr Schiff Ladung zu bekommen, die in Deutschland benötigt wurde. Doch das war häufig schwierig, sodass Schiffe zum Teil auch leer nach Deutschland aufbrachen.126 Die Vorbereitungen zum Auslaufen mussten die Kapitäne oft unter widrigen Umständen treffen. Angesichts nahezu flächendeckender feindlicher Überwachung und Spionage war es beinahe unmöglich, die Vorbereitungen geheim zu halten.127 Besonders den britischen Beobachtern entging kaum etwas: »Jedes Seeklarmachen, jedes Bunkern, jede überdurchschnittliche Proviantübernahme, jede Veränderung des Liegeplatzes und jedes Auslaufen«128 wurde registriert und telegrafisch nach London übermittelt. Am Beispiel der Häfen Vigo (Spanien), Yokohama und Kobe (Japan) lassen sich diese Bedingungen recht genau nachvollziehen. Ende August 1939 waren im nordspanischen Vigo 28 deutsche Schiffe mit etwa 1500 Mann Besatzung eingetroffen.129 Fortan scheint es in Vigo problematisch gewesen zu sein, die erforderlichen Genehmigungen und Ressourcen für die Ausstattung der Schiffe mit Brennstoff und Lebensmitteln zu bekommen. Zudem scheinen politische Meinungsverschiedenheiten und Konflikte innerhalb der Besatzungen und zwischen den verschiedenen für die Betreuung der deutschen Schiffe zuständigen Personen entstanden zu sein.130 Dabei waren es keineswegs nur die chinesischen Besatzungsmitglieder, die meuterten oder Befehle verweigerten.131 Für die Schiffsbesatzungen waren vor allem die Ungewissheit und der Mangel an konkreten Aufgaben und Zielen sehr belastend. Hinzu kam bei vielen die wachsende Unzufriedenheit über die schlechte finanzielle Lage. 132 Aus

125 Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 29. Mai 1940. BArch-MA, RM 7/2556. 126 Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 9. Januar 1940. BArch-MA, RM 7/2556. 127 Aus dem Bericht über die deutsche Handelsschiffahrt vom 18. bis 25. Oktober 1939 geht hervor, dass sowohl britische als auch französische Stellen sehr genau über die Lage auf den deutschen Schiffen informiert waren. BArch-MA, RM 7/109. 128 L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 30. 129 Ebd., S. 127-129. 130 Im Einzelnen erläutert bei Dinklage/Witthöft ebd. 131 Einige Meutereien chinesischer Besatzungsmitglieder sind belegt, etwa auf dem Dampfer HELGOLAND in Puerto Columbia. Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 21. Oktober 1939. BArch-MA, RM 7/310. Auf den Dampfern FRANKFURT und LAHN in Talcahuano brach im Oktober 1939 ebenfalls eine Meuterei aus. Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 23. Oktober 1939. Ebd. Auf dem im peruanischen Paita liegenden Motorschiff FRIESLAND forderten im Frühjahr 1940 die chinesischen Besatzungsmitglieder die Heimreise. H. Rübner: »Ausländer nach Möglichkeit sofort aus der Schiffahrt ausmerzen …«, S. 94. 132 Darauf wies Kapitän Wilhelm Dohmen den deutschen Marineattaché in Spanien hin: »Ein unverheirateter Matrose z.B. verdient im Monat bei freier Station und Verpflegung 30,-- RM. Von diesen bekommt er 18,-- RM in Devisen ausbezahlt für Instandhaltung seiner Kleidung und Beschaffung von Toilettengegenständen. 4 RM werden ihm für die Kleiderkasse abgezogen und 8,-- RM werden ihm in der Heimat gutgeschrieben. Da die Leute, wie z.B. der Koch, teilweise über 10 Stunden pro Tag zu arbeiten haben, muß die-

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den Akten der Seekriegsleitung lässt sich erkennen, dass die deutschen Kapitäne bzw. das Botschaftspersonal das Verhalten der Seeleute oft nicht kontrollieren konnten. So plauderten offensichtlich im November 1939 Seeleute »in einem stark besuchten Lokal Vigos«133 die geplante Abreise eines deutschen Schiffes aus, in anderen »Kneipen wurde Seeleuten dtsch. Wein zum Geschenk gemacht, weil sie ja heute reisen«134. An anderer Stelle wird betont, dass »verschiedene schlecht beleumundete Leute«135 unter den Besatzungen deutscher Schiffe in Vigo für Schwierigkeiten sorgten. Sie gefährdeten »durch unvorsichtige Redereien die von der Marine getroffenen Maßnahmen zur Heimführung deutscher Schiffe bzw. Versorgungsaktionen deutscher Seestreitkräfte«.136 Für Yokohama und Kobe lassen sich ähnliche Probleme nachweisen. Bereits im Januar 1940 notierte der deutsche Marineattaché in Tokyo, »dass die englischen und franzoesischen Generalkonsulate in Kobe eine aus Englaendern, Franzosen und Japanern bestehende Freiwilligenorganisation gebildet haben mit dem Zwecke, alle deutschen Schiffe im dortigen Hafen zu ueberwachen«137. Diese Leute hätten vor allem die Aufgabe, »sich unter die deutschen Seeleute zu mischen«138. Letztere seien deshalb »entsprechend eingehend belehrt«139 worden und würden auch »weiterhin belehrt werden«140. Ein Jahr später vermerkte der deutsche Marineattaché nach einer Unterredung mit einem japanischen Kapitän, es sei »in ganz Japan proper kein einziger Liegeplatz vorhanden, der nicht unter englischer Beobachtung staende«141. Im Mai 1941 verhängte der deutsche Marineattaché in Tokyo eine Landgangssperre gegen die Besatzungen zweier deutscher Schiffe in Yokohama, nachdem diese sich in einer Bar über Abreisepläne der Schiffe geäußert hatten.142 Im September 1941 wurde in diesem Zusammenhang gegen den auf der ODENWALD beschäftigten Dreher Hans T. ermittelt.143 Dass die Seeleute sowohl in Vigo als auch in den japanischen Häfen regelmäßig Gelegenheit zur Begegnung mit internationalen Kollegen hatten, ist nicht außergewöhnlich. Auch Rudolf Becker berichtet Ende September 1939, dass im brasilianischen Bahia die Besatzung eines englischen Frachters

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se Bezahlung als durchaus unzureichend angesehen werden.« Aktennotiz über die Besprechung mit Kapitän Dohmen am 3. Juni 1940. BArch-MA, RM 12/II 458. Schreiben der Abteilung Ausland/Abwehr an das OKM/SKL, 2. Dezember 1939, enthält die Abschrift eines Briefes, den ein in Vigo befindlicher deutscher Schiffsoffizier am 11. November 1939 an eine Dame in Weimar geschrieben hatte. Der Brief war durch die Zensur an die Abteilung Ausland gelangt. BArch-MA, RM 7/2559. Ebd. Schreiben der Auslandsabteilung Berlin an den deutschen Marineattaché in Spanien, 5. Januar 1940. BArch-MA, RM 12/II 455. Ebd. Kriegstagebuch des Marineattachés Tokyo, 22. Januar 1940. BArch-MA, RM 12/II 247. Ebd. Ebd. Ebd. Kriegstagebuch des Marineattachés Tokyo, 8. Januar 1941. BArch-MA, RM 12/II 248. Kriegstagebuch des Marineattachés Tokyo, 30. Mai 1941. BArch-MA, RM 12/II 249. Kriegstagebuch des Marineattachés Tokyo, 19. September 1941. BArch-MA, RM 12/II 250.

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dem deutschen Dampfer ANTONIO DELFINO einen Besuch abstattete, bei dem man sich ungezwungen über die deutschen U-Boot-Angriffe auf englische Schiffe unterhalten konnte, denn die Briten »schimpften in keiner Weise über den deutschen U-Bootskommandanten«144. Innerhalb der Besatzungen vieler Schiffe entstanden Konflikte, die sich vor allem um ein Thema drehten: auslaufen – ja oder nein? Wer nicht nach Deutschland aufbrechen wollte, beteiligte sich an Meutereien, verübte Sabotageakte, verweigerte Befehle oder verhielt sich schlichtweg passiv. Diejenigen, die darauf brannten, nach Deutschland zurückzukehren, um sich am Krieg zu beteiligen,145 starteten unermüdlich neue Überzeugungsversuche, berieten sich mit den Besatzungen anderer Schiffe und mit dem Botschaftspersonal oder fuhren kurzerhand auf eigene Faust mit dem Motorboot gen Deutschland wie fünf Besatzungsmitglieder des Dampfers WIND146 HUK. Wie Friedrich Müller vom Motorschiff HANNOVER zogen es manche Kapitäne vor, die Aufforderung zum Auslaufen so lange wie möglich zu ignorieren. In solchen Fällen waren es oft Offiziere, die den Kapitän dann unter Druck setzten oder denunzierten.147 Nach wie vor wird in Teilen der Schifffahrtsgeschichtsschreibung das eigensinnige Verhalten von Kapitänen wie Friedrich Müller im Geist und in der Diktion der NS-Befehlsstrukturen scharf verurteilt.148 Dass das Durchbringen von Handelsschiffen nach Deutschland nicht eine rein seemännische Heldentat war, sondern vor allem dazu beitrug, »das Dritte Reich aufrechtzuerhalten«,149 dass also Fälle wie der des Kapitäns Müller durchaus auch als widerständiges Verhalten gedeutet werden können, hat sich bei vielen Schifffahrtshistorikern nicht nur aus dem Umkreis der shiplover-Szene150 noch nicht durchgesetzt.

144 Rudolf Becker an seinen Vater, 28. September 1939. DSM, III A 3324 a. 145 So schrieb etwa ein 27-jähriger deutscher Seemann aus Japan am 4. Mai 1941 an seine Mutter: »Immer wieder werden andere oder man sich selbst fragen ›Was hast Du in Deutschlands grösster Zeit getan?‹ Antwort: ›In Yokohama zum 185. Mal das gleiche Eisenstück Rost gekloppt oder ähnliche erschütternde Aufgaben erledigt.‹« PA AA, R 127.956. 146 Die fünf Besatzungsmitglieder des Dampfers WINDHUK (Deutsche Afrika-Linien) fuhren im Winter 1939/40 aus Brasilien bis nach Portugal und reisten von dort weiter nach Deutschland. Siehe Zeitungsausschnitt aus der Deutschen Allgemeinen Zeitung (Nr. 81) vom 16. Februar 1940, in: PA AA, R 127.953. 147 So z.B. im Fall der Offiziere des in Curaçao liegenden Motorschiffs HANNOVER. Der 1., 3., 4. und der Funkoffizier beschwerten sich im November 1939 schriftlich beim Vertreter der NDL in Caracas über das Verhalten ihres Kapitäns, der jegliche Auslaufvorbereitungen boykottierte. Ihre Intervention führte zusammen mit anderen Beschwerden dazu, dass der Kapitän durch Verfügung des Reichsverkehrsministeriums abgesetzt wurde. BArch-MA, RM 7/2564. 148 In besonderer Dichte finden sich solche Urteile in L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945. Vgl. hierzu auch S. 14. 149 H. Rübner: Konzentration und Krise der deutschen Schiffahrt, S. 439. 150 Dazu Nelles: »In Deutschland ist die maritime Geschichtsschreibung noch weitgehend eine Domäne der sogenannten ›shiplover‹. Diese waren (sind) meist ehemalige Offiziere der Handels- und Kriegsmarine und zum Teil auch Angestellte großer Reedereien, was in

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Doch nicht nur die Seekriegsleitung, sondern auch die ITF-Aktivisten hatten für den Kriegsfall vorgesorgt. Vor allem durch Sabotageakte an der Maschine und anderen wichtigen Bauteilen sollte verhindert werden, dass die Schiffe nach Deutschland auslaufen konnten.151 Während unmittelbar nach Kriegsbeginn weniger Sabotageakte durchgeführt wurden als von der ITF geplant,152 konstatierte die Gestapo im Januar 1940 doch eine Zunahme von Sabotageakten an Seeschiffen.153 In manchen Fällen gingen Sabotage und Meuterei Hand in Hand, wie auf der ERIKA HENDRIK FISSER und der SARDINIEN, deren Mannschaften sich weigerten, von Reykjavik nach Deutschland auszulaufen, und verschiedene technische Teile beschädigten.154 Bereits ab 1937 war eine steigende Zahl von Desertionen NS-kritischer Seeleute zu verzeichnen gewesen; in vielen dieser Fälle motivierte die zunehmende Kriegsgefahr die Seeleute zum ›Aussteigen‹.155 Auch nach Kriegsbeginn verließen etliche Seeleute ihr Schiff.156 Zusammen mit der Abmusterung ausländischer Besatzungsmitglieder führte dies dazu, dass auf vielen deutschen Schiffen in ausländischen Häfen Personalknappheit entstand. Während den Schiffen, die in deutschen Häfen lagen, im Bedarfsfall über die Kriegsmarinedienststelle (KMD) neues Personal zugeteilt wurde,157 war dies im Ausland oft nicht möglich. Dann behalf man sich mit der Verlegung von

151

152 153 154 155

156

157

ihren Darstellungen sehr deutlich zum Ausdruck kommt.« D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 39. D. Nelles: »Daß wir den Kopf hochhalten, auch wenn er mal abgehauen werden sollte.«, S. 170. Die ITF-Aktivisten hatten einigen Vertrauensleuten hierzu Phiolen mit Quecksilber übergeben, das diese im Ernstfall in den Motor gießen sollten. D. Nelles: ITF resistance against nazim and fascim in Germany and Spain, S. 189. Ebd., S. 191. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 316. D. Nelles: ITF resistance against nazism and fascism in Germany and Spain, S. 191. D. Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 90. Im Mitteilungsblatt der Auslandsorganisation der NSDAP wurden vor Kriegsbeginn Aufrufe zur Fahndung nach desertierten Seeleuten veröffentlicht. Oft beruhten diese Suchmeldungen auf Denunziationen. Vgl. dazu Koop, Volker: Hitlers fünfte Kolonne. Die Auslands-Organisation der NSDAP. Berlin-Brandenburg 2009, S. 104-105. Der Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt vom 3. Oktober 1939 erwähnt »eigenmächtiges Entfernen von Mitgliedern der Schiffsbesatzung« als zunehmendes Problem. BArch-MA, RM 7/310. Wo ein Auslaufen in naher Zukunft unwahrscheinlich, ein Heimtransport der Seeleute jedoch möglich war, wurden Teile der Schiffsbesatzungen hingegen bewusst nach Deutschland gebracht, um dort für andere Einsätze zur Verfügung zu stehen. So war ein großer Teil der Seeleute in Vigo in der ersten Jahreshälfte 1940 auf dem Luftweg nach Deutschland gebracht worden. Schreiben des Reichsverkehrsministeriums an das OKM, 27. August 1940. BArch-MA, RM 7/228. Auch die Besatzung der SCHARNHORST und einige Besatzungsmitglieder anderer deutscher Schiffe waren im Winter 1939/40 mit der Transsibirischen Eisenbahn von Kobe nach Deutschland gereist. P. Kuckuk: Die Ostasienschnelldampfer, S. 217. Lohmann, Walter: Vom Kriegseinsatz der Handelsmarine. In: Nauticus 27 (1944), S. 269-293, hier S. 283. In Deutschland kam noch erschwerend hinzu, dass viele zivile Seeleute zur Kriegsmarine eingezogen worden waren (ebd.).

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DES

ZWEITEN W ELTKRIEGS

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Besatzungsmitgliedern auf andere Schiffe, die wertvoller waren oder früher die Reise nach Deutschland antreten sollten. So wurde der Motorenwärter Rudolf Lell von der COBURG auf die ODER (NDL) versetzt158 und der Schiffsoffizier Rudolf Becker fuhr auf der URUGUAY gen Deutschland statt auf seinem eigentlichen Dampfer ANTONIO DELFINO.159 Als zusätzliches Personal wurden statt Seeleuten in manchen Fällen sogenannte Überarbeiter auf den Schiffen eingesetzt; dabei handelte es sich um Auslandsdeutsche, die zum Kriegseinsatz nach Deutschland reisen wollten und ihre Arbeitskraft gegen die freie Schiffspassage eintauschten.160 Schiffe, die längere Zeit in warmen oder tropischen Gewässern gelegen hatten, kämpften darüber hinaus noch mit dem Problem des sogenannten Bio-Fouling, dem Bewuchs am Schiffsrumpf, der bereits nach wenigen Tagen in warmem und verschmutztem Wasser auftreten kann und rasch zunimmt:161 Je dichter ein Schiffskörper mit Muscheln und Algen bewachsen ist, desto größer wird der Wasserwiderstand. In der Folge muss mehr Brennstoff aufgewendet werden, um die gleiche Geschwindigkeit zu erreichen. Wenn aber, wie im vorliegenden Fall, Brennstoff gespart werden soll, kann das Schiff nur langsamer fahren.162 Bereits geringes Fouling kann zu einem erheblichen Anstieg des Widerstandes führen.163 Bei den deutschen Schiffen in Kobe war der Bewuchs teilweise bis auf eine Stärke von 30 cm angewachsen, was, wie Peter Kuckuk schreibt, »bei ihrem Einsatz zu einem Fahrtverlust von 4 bis 5 kn geführt hätte. Zudem waren die Bodenventile durch Bewuchs ›völlig verwendungsunfähig‹ geworden, so daß sie nicht mehr geöffnet werden konnten und damit eine Selbstversenkung unmöglich gewesen wäre.«164 Die Schiffe zu docken, wie es üblicherweise in solchen Fällen geschieht, war jedoch unter anderem aus Kostengründen nicht möglich. Doch selbst wenn man sich, wie Kapitän Ahlers von der WARTENFELS, mit einem Taucher behalf, der den Schiffsrumpf freischabte, war mit Geschwindigkeitseinbußen zu rechnen.165

158 Kestler, Judith: Kriegsgefangenschaft und Weltreise. Untersuchungen zur Biographie eines unfreiwilligen Teilnehmers am Zweiten Weltkrieg. Bremen 2010, S. 30. 159 Rudolf Becker an seinen Vater, 24. Oktober 1939. DSM, III A 3324 a. 160 So erwähnt der deutsche Marineattaché in Rio de Janeiro in einem Bericht über das Auslaufen deutscher Schiffe vom 12. Dezember 1940, dass einige »Kriegsfreiwillige als Überarbeiter eingestellt« wurden. BArch-MA, RM 7/228. 161 Kempf, G.: On the effect of roughness on the resistance of ships. In: Transactions of the Royal Institution of Naval Architects 79 (1937), S. 109-119, hier S. 109. 162 Townsin, R.L.: The Ship Hull Fouling Penalty. In: Biofouling. The Journal of Bioadhesion and Biofilm Research 19 (Supplement) (2003), S. 9-15, hier S. 9. 163 Lackenby, H.: Resistance of ships, with special reference to skin friction and hull surface condition. In: Proceedings of the Institution of Mechanical Engineers 176 (1962), S. 9811014, hier S. 981. 164 P. Kuckuk: Die Ostasienschnelldampfer, S. 222. 165 Ahlers, Hermann: D. »Wartenfels« der deutschen Dampfschiffahrtsgesellschaft Hansa, Bremen. Bericht des Kapitäns Hermann Ahlers über das Schicksal des Schiffes und der Besatzung in den Jahren 1939 bis 1944 (Wegen Mangel an Unterlagen nach bester Erinnerung aus dem Gedächtnis aufgeschrieben). Bremen-Lesum 1944, S. 2. Sammlung Peter

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V OM R ETTUNGSBOOT

IN DIE

G EFANGENSCHAFT

Ein Schiff nach längerer Liegezeit in Übersee wieder in Fahrt zu setzen, war also ein schwieriges Unterfangen. Das Risiko, von einem feindlichen Schiff entdeckt, aufgebracht und gefangen genommen zu werden, war dabei sehr hoch. Aufgrund der Seekriegslage waren im Herbst und Winter 1939/40 ›Durchbruchsversuche‹ bei Dunkelheit oder schlechtem Wetter nicht ganz aussichtslos (vgl. Tabelle 5). Doch »der günstigste Zeitpunkt für eine relativ ungefährdete Rückkehr nach Deutschland [war] […] Ende 1940 verstrichen«166. Der Bedarf an Schiffen und Nachschub war allerdings unverändert hoch, sodass noch bis 1943 Durchbruchsversuche unternommen, dann aber »wegen der überlegenen Luft- und Seeherrschaft der Alliierten eingestellt« 167 wurden. Tabelle 5: Durchbruchsversuche deutscher Handelsschiffe in den ersten Kriegsmonaten Zeitraum

aus Übersee ausgelaufene Schiffe

Davon verloren:

Überfahrt geglückt

August 1939

40

5

12,5 %

35

87,5 %

September 1939

21

7

33,3 %

14

66,7 %

Oktober 1939

20

9

45 %

11

55 %

November 1939

20

11

55 %

9

45 %

Dezember 1939

6

3

*50 %

2

30 %

107

35

35 %

71

65 %

Gesamt

* Ein Schiff stieß mit einem Eisberg zusammen, ist in den Akten der SKL jedoch bei den Verlusten nicht mit eingerechnet. Quellen: Kriegstagebuch der Seekriegsleitung, Teil B VII, Band 1, September 1939 bis Dezember 1941. BArch-MA, RM 7/109; Kriegstagebuch der Seekriegsleitung, Teil D. 27. August bis 31. Dezember 1939. BArch-MA, RM 7/310.

Kiehlmann. Trotz des Tauchereinsatzes zur Entfernung der Muschelschicht lief das Schiff nur 10 statt 13 Seemeilen. 166 S. Kiekel: Die deutsche Handelsschiffahrt im Nationalsozialismus, S. 251. 167 Hinz, Christoph: Die Steuerung der Handelsschiffahrt im Kriege. In: Klüver, Hartmut/ Hammer, Peter (Hg.): Das Zusammenwirken von Handelsschiffahrt und Seestreitkräften in Deutschland vom Kaiserreich bis heute. Vorträge des 4. Hamburger Symposiums zur Schiffahrts- und Marinegeschichte vom 13.-14. Mai 2004. Düsseldorf 2005, S. 59-66, hier S. 65.

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Die Zahl der Schiffsverluste und mit ihr die Zahl der Gefangennahmen deutscher Seeleute stieg in den drei Jahren nach Kriegsbeginn stetig an (vgl. Tabelle 6). Nicht alle Schiffsverluste führten zur Gefangennahme der Besatzung, doch für einen großen Teil der Besatzungen endete ein Durchbruchsversuch mit der Gefangennahme. Tabelle 6: Verluste deutscher Handelsschiffe zwischen August 1939 und April 1943 Datum

Deutsche Schiffe in Übersee

Schiffsverluste seit Kriegsbeginn*

28. August 1939

111 (auf See: 296)

--

29. Dezember 1939

240 (auf See: 4)

37

23. März 1940

216 (auf See: 2)

52

30. Juni 1940

190

131

27. Oktober 1940

182

140

29. Dezember 1940

160

147

31. März 1941

152

162

15. Juni 1941

110

196

30. September 1941

89

237

31. Dezember 1941

73

268

28. März 1942

74

290

27. Juni 1942

66

316

28. September 1942

84**

345

27. Dezember 1942

73

375

29. März 1943

116**

422

26. April 1943

116

437

* Selbstversenkungen sind in den Lageberichten der SKL innerhalb der Schiffsverluste nicht gesondert aufgeführt. ** Der Anstieg ist durch Beschlagnahmung von Schiffen in ausländischen Häfen zu erklären. Quellen: Lageberichte der Seekriegsleitung über die Handelsschiffahrt, August 1939 bis Dezember 1940. BArch-MA, RM 7/2557; Lageberichte der Seekriegsleitung über die Handelsschiffahrt, Januar 1941 bis April 1943. BArch-MA, RM 7/2558; Kriegstagebuch der Seekriegsleitung, Teil D. 27. August bis 31. Dezember 1939. BArch-MA, RM 7/310.

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Wie auch in früheren Konflikten, liegt der Grund für die Gefangennahme ziviler Seeleute während des Zweiten Weltkriegs in der Überlegung, dass diese Schiffsbesatzungen aus der Sicht der jeweiligen Kriegsgegner eine stille Reserve der feindlichen Kriegsmarine bilden. Es lag also im strategischen Interesse der Krieg führenden Staaten, nicht nur die Anzahl der gegnerischen Schiffe zu reduzieren oder durch Beschlagnahme für eigene Zwecke nutzbar zu machen, sondern auch deren Personal in Gewahrsam zu nehmen, damit es nicht für weitere Transport- oder Kampfhandlungen eingesetzt werden konnte.168 Von Kriegsbeginn an waren Seeleute deutscher Handelsschiffe daher von den Kriegshandlungen betroffen. Zum Teil fanden sie sich in Gefangenschaft wieder, noch ehe der Krieg richtiggehend begonnen hatte. Die erste diesbezügliche Meldung findet sich bereits am 5. September 1939 im Kriegstagebuch der deutschen Seekriegsleitung: »Havas meldet 4.9. 2030 Uhr: D. ›Olinda‹ von ›Ajax‹ nähe Rio Grande versenkt; Mannschaft gefangen und nach Montevideo abgesetzt […].«169 Auf dem in London liegenden deutschen Frachter POMONA wurden schon einen Tag vor der britischen Kriegserklärung bewaffnete englische Wachen stationiert.170 Nachdem die deutsche Besatzung das Schiff in Brand gesetzt hatte, wurde sie gefangen genommen. Am 20. September wurde das Schiff beschlagnahmt und bildete damit die erste englische Prise des Zweiten Weltkriegs, also das erste nach den Regeln des Seekriegsrechts ordnungsgemäß erbeutete gegnerische Schiff.171 Egal ob im Hafen oder auf hoher See – die Gefangennahme deutscher Schiffsbesatzungen fand fast immer im Rahmen einer (versuchten) Aufbringung oder Beschlagnahme statt. Um zu verstehen, wie sich die Aufbringung deutscher Handelsschiffe und die Gefangennahme ihrer Besatzungen durch die Royal Navy in den meisten Fällen vollzog, sind neben prisenrechtlichen Bestimmungen und internationalen Abkommen zum Seekriegsrecht vor allem die damals geltenden Regularien für die Steuerung der deutschen Handelsflotte von Bedeutung.172 So wie England als Gegner Deutschlands Interesse daran hatte, den deutschen Schiffsbestand zu dezimieren und die Schiffe im

168 Ehrenreich, Bernd: Deutsche Seeleute auf heimlichen Kursen. In: Jahrbuch der AuslandsOrganisation der NSDAP für die Seeschiffahrt 2 (1941), S. 190-193, hier S. 190. 169 Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 5. September 1939. BArch-MA, RM 7/310. Der Frachtdampfer OLINDA der Hamburg-Süd war der erste deutsche HandelsschiffsVerlust im Zweiten Weltkrieg. Die OLINDA wurde am 3. September 1939 von britischen Streitkräften vor dem Rio de La Plata versenkt. Vgl. Detlefsen, Gert Uwe (Hg.): Deutsche Reedereien. Sonderband Hamburg Süd/Firmengeschichte. Bad Segeberg 2008. 170 Colombos, C.J.: A Treatise on the Law of Prize. London 31949, S. 148; L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 48. 171 Rowson, S.W.D.: British Prize Law, 1939-1944. In: The Law Quarterly Review 61 (1945), S. 49-70, hier S. 64. Die deutsche Seekriegsleitung erfuhr erst am 3. Oktober 1939 von diesem Versuch, das Schiff zu zerstören. Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 3. Oktober 1939. BArch-MA, RM 7/310. Nach der Beschlagnahme durch die britische Admiralität wurde die POMONA als EMPIRE MERCHANT in Fahrt gesetzt. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 48. 172 Gefangennahmen durch andere Gewahrsamsstaaten sowie Internierungen deutscher Seeleute, die auf ausländischen Schiffen fuhren, werden im Folgenden nicht explizit behandelt.

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besten Falle für sich nutzbar zu machen, war Deutschland daran gelegen, die eigenen Schiffe nicht in feindliche Hände gelangen zu lassen, denn dort hätten sie die gegnerische Flotte vergrößert und gestärkt. Aus diesem Gedanken heraus erteilte die deutsche Seekriegsleitung allen deutschen Handelsschiffskapitänen den Befehl, ihr Schiff zu zerstören, wenn die Gefahr bestand, dass es zur englischen Kriegsbeute werden könnte. Das Beuterecht bildet, zusammen mit dem Konterbande- und Blockaderecht, einen Teil des Prisenrechts.173 Es tritt mit Beginn des Kriegszustandes in Kraft und fußt auf dem sogenannten Kontrollrecht: Jedes Kriegsschiff darf neutrale oder feindliche Handelsschiffe anhalten, visitieren und durchsuchen.174 Sind Schiff oder Ladung feindlich oder dienen feindlichen Zwecken, so darf das Schiff aufgebracht und beschlagnahmt werden.175 Als ›gute Prise‹ gilt das Schiff jedoch erst dann, wenn in einem prisengerichtlichen Verfahren vor der jeweiligen nationalen Instanz – in Deutschland der Prisenhof, in England der Prize Court176 – ein Urteil gefällt wird.177 Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Schiffspapiere vollständig vorliegen.178 Aus ihnen geht hervor, wem die Ladung gehört und welches der Bestimmungshafen des Schiffes zum Zeitpunkt seiner Aufbringung war. Zu den Papieren deutscher Schiffe gehörten aber zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auch die geheimen Sonderanweisungen der Seekriegsleitung an die Kapitäne, der Funkschlüssel ›H‹ und in manchen Fällen auch ein ausführlicher Fahrbefehl der Seekriegsleitung mit Navigationsanweisungen. Im Gegensatz zur Piraterie ist das Erbeuten von Schiffen im Rahmen des Prisenrechts völkerrechtlich zulässig, solange »die materiellen und formellen Voraussetzungen des Seebeute-, Konterbande- oder Blockaderechts vorliegen.«179 Um zu verhindern, dass deutsche Handelsschiffe vor dem englischen Prize Court als gute Prise eingebracht werden konnten, befahl die deutsche Seekriegsleitung den Kapitänen im Falle einer Begegnung mit feindlichen Kriegsschiffen nicht nur die Zer-

173 Neuss, Knut: Die Entwicklung des Prisenrechts durch den Zweiten Weltkrieg. InauguralDissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Hohen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg. Würzburg 1966, S. 1. 174 Ebd., S. 2. 175 Ebd. 176 Zur englischen Prisenrechtsprechung während des Zweiten Weltkriegs vgl. S.W.D. Rowson: British Prize Law. Dort sind auch einige deutsche Schiffe erwähnt, deren Fälle vor dem Prize Court verhandelt wurden. 177 Scheuner, Ulrich: Beuterecht im Seekrieg. In: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Erster Band. Aachener Kongress bis Hussar-Fall. Berlin 1960, S. 199-201, hier S. 201. Wie Scheuner darlegt, sind Prisengerichte immer dem nationalen Recht verpflichtet, auch wenn internationales Recht als Orientierung dient. Ders.: Prisenhof. In: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Zweiter Band. Ibero-Amerikanismus bis Quirin-Fall. Berlin 1961, S. 793, hier S. 793. 178 C.J. Colombos: A Treatise on the Law of Prize, S. 297-298. 179 K. Neuss: Die Entwicklung des Prisenrechts durch den Zweiten Weltkrieg, S. 22. Das Prisengericht hat in diesem Rahmen vor allem die Aufgabe, die legitimen Interessen von Schiffs- und Ladungseigentümern zu schützen, die im Zuge von Seekriegshandlungen verletzt werden können. Vgl. Rowson, S.W.D.: Prize Law during the Second World War. In: The British Yearbook of International Law 24 (1947), S. 160-215, hier S. 201.

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störung des Schiffes durch Versenkung, sondern auch die Vernichtung der Schiffspapiere.180 Dies betonte die Seekriegsleitung auch in den Fahrbefehlen an deutsche Schiffe stets mit Nachdruck. Die Papiere mussten während der Fahrt bereits in einem beschwerten Sack aufbewahrt werden, damit sie im Fall des Überbordwerfens schnell versanken.181 Doch eigentlich sah die idealtypische ungestörte Aufbringung eines Handelsschiffes folgendermaßen aus: Beim Zusammentreffen mit einem feindlichen Kriegsschiff wurde es von diesem aufgefordert, die Maschine zu stoppen und beizudrehen, möglicherweise in Verbindung mit einem Warnschuss vor den Bug. Wenn das Schiff – wie seit Beginn des Seekriegs allgemein üblich – zur Tarnung unter fremder Flagge fuhr, ging dem auch die Frage »What ship?« voraus. Im Fall einer wahrheitsgemäßen Antwort des Handelsschiffes und der Befolgung der Anweisungen des Kriegsschiffes schickte letzteres eine Abordnung von Offizieren an Bord, um die Übernahme des Handelsschiffes vorzubereiten. Dieses sogenannte Prisenkommando hisste zunächst die Flagge des aufbringenden Staates; ab diesem Moment unterstand das Schiff dem neuen Kommando. Nach dem Einbringen in einen Hafen der gefangennehmenden Nation folgte die Verhandlung vor dem dortigen nationalen Prisengericht. Mit der Selbstversenkung widersetzten sich also die deutschen Kapitäne der Durchsuchung und Einbringung ihres Schiffes und durch die verordneten Zerstörungsmaßnahmen unterbrachen sie den idealtypischen Ablauf der Einbringung einer potenziellen Prise. Damit war der Einsatz von Waffengewalt seitens des Gegners seekriegsrechtlich legitimiert.182 Denn nicht nur im britischen Prisenrecht galt der Versuch der Selbstversenkung als gewaltsamer Widerstand gegen das Recht jedes Kriegführenden zum Anhalten und Durchsuchen von feindlichen Handelsschiffen. Ein amerikanisches Prisengericht befand, die Selbstversenkung der ODENWALD sei widerrechtlich gewesen,183 und ein französischer Jurist kam zu dem Schluss, dass deutsche Kapitäne mit der Einleitung von Versenkungsmaßnahmen das Recht der gesamten Besatzung verspielten, vom feindlichen Schiff in Sicherheit gebracht zu werden.184 Egal wie ein deutscher Kapitän sich also entschied, er handelte in jedem Fall illegal – entweder aus deutscher Sicht, wenn er sein Schiff nicht versenkte, oder aus englischer, französischer und amerikanischer Sicht, wenn er es versenkte. Heute gelten die Selbstversenkungen deutscher Schiffe als Teil der NS-Politik der verbrannten Erde.185 Wo sie befolgt wurde, verschlechterte diese Anordnung der

180 Sonderanweisung, Abschnitt C, Ziffer 14. BArch-MA, RM 7/2501. 181 Vgl. hierzu etwa den Fahrbefehl für die TANNENFELS vom 14. Januar 1942: BArch-MA, RM 7/229. 182 Scheuner, Ulrich: Durchsuchung von Schiffen. In: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Erster Band. Aachener Kongress bis Hussar-Fall. Berlin 1960, S. 407-408, hier S. 407. 183 C.J. Colombos: A Treatise on the Law of Prize, S. 293. 184 Übersetzung eines Artikels aus Lloyds List and Shipping Gazette, 11. März 1940, S. 5, Sp. 6. BArch-MA, RM 7/2561. Die deutsche Seekriegsleitung sammelte Zeitungsartikel und Schriften, die in England und Frankreich zu diesem Thema erschienen. 185 Laugsch, Markus: Das Ende: Die letzte Reise. In: Haarmann, Hermann/Peckskamp-Lürßen, Ingrid (Hg.): Mit der Kamera in die Welt. Richard Fleischhut (1881-1951). Photo-

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Seekriegsleitung die Ausgangssituation für die gefangenen Seeleute oft drastisch: Vom sinkenden Schiff konnten sie in der Eile meist nur das allernötigste mitnehmen und mussten sich deshalb in der Gefangenschaft eine Grundausstattung an Wäsche und anderen Gegenständen des persönlichen Gebrauchs erst mühsam wiederbeschaffen. Überdies zogen die Schiffsbesatzungen in manchen Fällen durch die Einleitung der Versenkungsmaßnahmen den Unmut der gefangennehmenden Partei auf sich. Während des Krieges überhöhte die deutsche Seite die Selbstversenkungsbefehle zu einer maritimen Tradition, die einem inneren Bedürfnis der Seeleute entspränge. Das ging oft mit Heroisierung, aber auch mit bereitwilliger Selbstmythisierung mancher deutscher Kapitäne einher. In einem Artikel der südafrikanischen Zeitung The Friend wurde der internierte Kapitän des deutschen Dampfers WATUSSI nach der Selbstversenkung seines Schiffes mit den Worten zitiert: »It is the unwritten law of the sea that the captain of a ship never allows his command to fall into enemy hands.«186 Doch die Selbstversenkung war alles andere als ein ungeschriebenes Gesetz, wie der Wortlaut eines Telegramms der Seekriegsleitung an deutsche Schiffe vom 24. Oktober 1939 unmissverständlich klarmacht: »Britische Kriegsschiffe haben gedroht Besatzung von mehreren deutschen Dampfern mit Erschießen im Fall von Versenkung Schiff Punkt Die folgende Gruppe ist ein Befehl. Durch Drohung nicht abhalten lassen seine Dienstobliegenheiten zu erfüllen Punkt Jeder britische Befehlshaber wird zurückschrecken vor Ausführung Völkerrecht widersprechenden Verbrechen Unterschrift Marineleitung.«187 Kapitäne, die sich befehlsgemäß verhielten, waren für die deutsche Propaganda höchst willkommen, egal ob sie das Manöver überlebten oder nicht. So benannte der NDL seinen Dampfer OROTAVA in ROBERT MÖHRING um, nachdem der gleichnamige Kapitän bei der Selbstversenkung des Dampfers ARUCAS den viel zitierten »Seemannstod«188 – in einer anderen Quelle gar den »Heldentod«189 – gefunden hatte. Nach dem Willen der Seekriegsleitung sollten diejenigen Kapitäne, die die Selbstversenkung ihres Schiffes erfolgreich durchführten und überlebten, nach Kriegsende Orden erhalten.190 Für den Fall, dass sich ein Kapitän dem Befehl widersetzte, drohten ihm ein kriegsgerichtliches Ermittlungsverfahren und schwere Strafen.191 Meist blieb die Bestrafung zwar aus, da der Kapitän mit der Besatzung in Gefangenschaft ging, doch in wenigen Fällen erreichte der lange Arm des nationalsozialistischen Gesetzes die Betroffenen trotzdem: Der Kapitän der CAP

186 187 188 189 190 191

graph. Katalog zur Ausstellung »Mit der Kamera in die Welt – Richard Fleischhut (18811951) Photograph« im Stadt- und Schiffahrtsmuseum Kiel vom 18. November 2005 bis 5. März 2006, Ostfriesisches Landesmuseum Emden vom 19. März bis 20. Mai 2006 und im Deutschen Technikmuseum Berlin 2006/2007. Bönen 2005, S. 275-285, hier S. 277. Why Watussi Was Scuttled. The Friend (Bloemfontein) vom 05.12.1939. BArch-MA, RM 7/2564. Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 11. Mai 1940. BArch-MA, RM 7/310. Wie deutsche Handelsschiffskapitäne ihre Schiffe dem Zugriff des Feindes entziehen. Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 221 vom 08.05.1940. Schreiben der Seekriegsleitung an das Reichsverkehrsministerium, 30. Oktober 1939. BArch-MA, RM 7/2559. Ebd.

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NORTE192, Wilhelm Neiling, hatte den Versenkungsbefehl nicht erteilt und geriet in Gefangenschaft, kam jedoch 1943 bei einem Gefangenenaustausch vorzeitig nach Deutschland zurück. Nachdem der Bordfriseur und ehemalige Ortsgruppenleiter seines Schiffes ihn denunziert hatte, beging Neiling Selbstmord, bevor ein Verfahren gegen ihn beginnen konnte.193 Während sich jeder deutsche Kapitän im Fall einer Begegnung mit einem gegnerischen Schiff nach reiflicher Überlegung individuell entscheiden konnte, den Befehl zur Selbstversenkung umzusetzen oder nicht, hatten die übrigen Besatzungsmitglieder keine Wahl. Sobald das Schiff in Richtung Deutschland unterwegs war, konnten sie sich den Sicherheits- und Vorbereitungsmaßnahmen an Bord nicht entziehen. Das Risiko solcher Fahrten durch Kriegsgebiet war bekannt und steigerte sich oft noch durch die Bedingungen, die die Schiffe in den bei Kriegsbeginn angelaufenen Häfen vorfanden: Bewuchs am Schiffsrumpf, feindliche Überwachung, Personalmangel, Brennstoffknappheit – all diese Faktoren stellten vor und auf der Fahrt nach Deutschland Gefahren für das Schiff und die Besatzung dar. Da es im Hafen kaum verborgen bleiben konnte, wenn große deutsche Schiffe Vorräte und Brennstoff an Bord nahmen, erwarteten gegnerische Kriegsschiffe die Frachter oft bereits direkt außerhalb der Hoheitsgewässer,194 und häufig wurde das Auslaufen deutscher Schiffe auch zeitnah von ausländischen Presseagenturen gemeldet.195 Die Fahrt wurde deshalb nach Möglichkeit genau geplant. Die Vorbereitungen führten der Kapitän, der zuständige Marineattaché und oft auch Konsulatsmitarbeiter in Absprache mit der Seekriegsleitung durch. Diese hatte das letzte Wort, wenn es um den Fahrbefehl für ein Schiff ging. Manchmal ließ die SKL mehrere Schiffe kurz nacheinander auslaufen und war bereit, das erste Schiff als ›Lockvogel‹ zu opfern, um die Chancen für die nachfolgenden Schiffe zu steigern.196 In den Fahrbefehlen teilte die SKL den Schiffen Bezugspunkte für die Navigation mit. Damit diese geografischen Koordinaten gefahrlos in Funkanweisungen verwendet werden konnten, erhielten sie Codenamen. Diese Bezugspunkte wurden für mehrere Fahrten vergeben, aber für jedes Schiff neu benannt, beginnend mit dem Anfangsbuchstaben des betref-

192 Zur CAP NORTE vgl. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 395-402. 193 P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 108. 194 Innerhalb einer Zone von drei Seemeilen vor der Küste eines neutralen Staates hatten Kriegsschiffe kein Zugriffsrecht. Dies wurde den deutschen Kapitänen in der Sonderanweisung (Abschnitt C, Ziffer 10) nochmals deutlich gemacht. Die Festlegung der DreiMeilen-Zone geht auf das 13. Haager Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der Neutralen im Falle eines Seekriegs (1907) zurück. 195 So war etwa in der niederländischen Zeitung De Telegraaf am Samstag, den 10. Februar 1940 zu lesen, dass eine Reihe namentlich genannter deutscher Schiffe aus Brasilien ausgelaufen war, darunter der Dampfer URUGUAY, nach dessen Selbstversenkung Rudolf Becker wenig später gefangen genommen wurde. Der Artikel bezog sich auf Informationen der Agenturen United Press und der brasilianischen Agencia Nacional. Zeitungsausschnitt in DSM, III A 3324 b. 196 Das geht aus dem Fahrbefehl für die Schiffe IDARWALD, ORINOCO, PHRYGIA und RHEIN hervor, die in Mexico lagen. 30. Oktober 1940. BArch-MA, RM 7/228.

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fenden Schiffes. So wählte die SKL etwa für den Dampfer ELSA ESSBERGER die Bezeichnungen Eisvogel, Eidergans, Ente, Erpel, Elster, Elefant und Einhorn,197 für den Dampfer TANNENFELS die Punkte Tausendfüßler, Tiger, Tentakel und Tuberkel.198 Im Fahrbefehl wurde eine Route vorgegeben.199 Je nachdem, wie die Seekriegsleitung die Gefahrenlage im jeweiligen Seegebiet einschätzte, war streckenweise langsam, streckenweise schnell zu fahren. Das Schiff sollte sich außerhalb der Sichtweite der Küste bewegen und Schifffahrtswege senkrecht und nur bei Dunkelheit queren. Um im Versenkungsfall eine schnelle Evakuierung zu gewährleisten, fuhr das Schiff mit ausgeschwungenen Rettungsbooten. Gefunkt werden durfte nur im Notfall; wenn die Lage hoffnungslos war, sollten nach Möglichkeit die Position und der Name des gegnerischen Schiffes an Norddeich Radio gefunkt werden. Der Ausguck war ständig und zum Teil mehrfach besetzt, um entgegenkommende Schiffe so frühzeitig entdecken zu können, dass ein Ausweichen noch möglich war. Nachts musste das Schiff abgeblendet oder verdunkelt fahren, häufig waren Zickzackkurse zu steuern. Abfall durfte nicht über Bord geworfen werden und die Bilgen durften nur abends gelenzt werden,200 um keine Spuren im Wasser zu hinterlassen. So bald wie möglich war das Schiff mit einem grauen, nach oben hin heller werdenden Tarnanstrich zu versehen. Dabei wurden Namen, Heimathafen und sonstige Merkmale, anhand derer das Schiff identifiziert werden konnte, übermalt oder entfernt, darunter etwa aufgeschweißte Schiffsnamen, der Name des Schiffs auf der Schiffsglocke, Werftschild oder Bugwappenschild. Bei den Tarnmaßnahmen diente meist ein ausländisches Handelsschiff als Modell, manchmal wurden auch Schornsteinattrappen verwendet, um eine bestimmte Schiffssilhouette nachzuahmen. Auch mussten Hakenkreuzflaggen bereit gehalten werden, um sich gegenüber deutschen oder verbündeten Flugzeugen zu erkennen zu geben. Verhaltensanweisungen für die Begegnung mit britischen Flugzeugen wirken heute befremdlich, erfüllten aber tatsächlich in manchen Fällen ihre Funktion: Sofern britische Stahlhelme mit ihrer charakteristischen Schüssel-Form verfügbar waren, sollten die Seeleute diese aufsetzen und dem Flugzeug von Deck aus fröhlich zuwinken. Bei Megaphonkontakt mit britischen Schiffen warnte die Seekriegsleitung vor verräterisch schlechtem Englisch. Für die Besatzung brachten solche Fahrten besondere Strapazen mit sich. Wenn abgeblendet gefahren wurde, konnte die Tür zum Maschinenraum nicht geöffnet werden, sodass es dort nicht nur bei Kohlefeuerung schnell stickig und extrem heiß wurde.201 Oft mussten die Heizer Materialien verschüren, die als Brennstoff eigentlich ungeeignet waren; der Dampfer PARANÁ verfeuerte Weizen, um den Brennstoff-

197 Schreiben Seekriegsleitung an den Marineattaché Tokyo, 9. August 1941. BArch-MA, RM 7/228. 198 Fahrbefehl TANNENFELS, 14. Januar 1942. BArch-MA, RM 7/229. 199 Die folgenden Angaben basieren auf dem exemplarischen Fahrbefehl für die TANNENFELS vom 14. Januar 1942. BArch-MA, RM 7/229. 200 Im Kielraum des Schiffes (Bilge) sammelt sich während der Fahrt sowohl Seewasser als auch Kondenswasser, das in regelmäßigen Abständen über Pumpen ins Meer geleitet werden muss. Dabei spricht man vom Lenzen der Bilgen. 201 Bericht über die Reise des MS. HAVELLAND nach Puntarenas und weiter nach Manzanillo, 3. Dezember 1939. BArch-MA, RM 7/2564.

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vorrat zu ergänzen,202 der Dampfer ERLANGEN fuhr unter Holzfeuerung und selbstgenähten Segeln.203 Die Dienstzeiten verlängerten sich auf bis zu 16 Stunden, vor allem auf den Schiffen, die die Reise unterbesetzt antreten mussten.204 Auf manchen Schiffen hielten sich wachfreie Seeleute mittschiffs auf, um sofort die Rettungsboote zu Wasser lassen zu können.205 Dabei wusste die Besatzung in vielen Fällen gar nicht, wohin genau die Reise führte. Das Misstrauen der Seekriegsleitung gegenüber den Seeleuten war so groß, dass sie in den Fahrbefehlen strikte Geheimhaltung des Reisewegs gegenüber der Besatzung forderte.206 Von Beginn der Reise an musste das Vorgehen zur Selbstversenkung festgelegt, vorbereitet und soweit wie möglich eingeübt werden, damit im Ernstfall alles schnell ging und die Maßnahmen nicht mehr rückgängig zu machen waren, falls ein feindliches Prisenkommando an Bord kam. Für die technische Seite der Versenkungsmaßnahmen waren meist der leitende Ingenieur und ein Offizier oder mehrere Offiziere zuständig. Neben dem Einsatz von Sprengsätzen wurden auch Ventile und Pumpen zertrümmert, Brände gelegt oder Schotten geöffnet, um das Schiff zu zerstören.207 Das Oberkommando der Kriegsmarine registrierte, welche Methoden zuverlässig funktionierten und gab entsprechende Erfahrungen und Anweisungen an die Kapitäne von Schiffen weiter, die noch in Fahrt gesetzt werden sollten. Vor Kriegsbeginn hatten die Kapitäne noch keine Sprengpatronen an Bord und mussten ihr Schiff anderweitig unbrauchbar machen, etwa durch »Zerstören der gusseisernen Teile der Kondensator-Zu- und Ableitung [sic] und bei Motorschiffen der gleichen Teile der Seekühlwasserleitung z.B. durch einen schweren Hammer. Moderne Schiffe führen eine Schweißanlage mit, mit deren Hilfe ohne weiteres Löcher in die Bordwand geschnitten werden können. Je nach Art der Ladung wird auch ein Anzünden in Frage kommen.«208 Auf Schiffen, die während des Krieges aus Deutschland ausliefen, überprüfte die See-Berufsgenossenschaft Rettungsmittel und Versenkungsvorbereitungen.209 In einigen Fällen gelang es den britischen Prisenkommandos, die Seeventile wieder zu schließen und die Versenkung des Schiffes zu stoppen.210

202 Bericht des Kapitäns Speckmann an seine Reederei Hamburg-Süd. BArch-MA, RM 7/2561. Zur PARANÁ vgl. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 19391945, Bd. 1, S. 525-526. 203 Zur ERLANGEN vgl. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 2, S. 11-18. 204 So auf dem MS. ST. LOUIS der Hamburg-Amerika-Linie. Bericht des Kapitäns Schröder über die Reise von New York über Murmansk nach Hamburg, 12. Januar 1940. BArchMA, RM 7/2564. 205 Bericht des Kapitäns Friedrich Woelke, D. KYPHISSIA, 7. Oktober 1939. BArch-MA, RM 7/2564. 206 Fahrbefehl für die TANNENFELS, 14. Januar 1942. BArch-MA, RM 7/229. 207 Ebd. 208 Schreiben des OKM an die SKL, 12. Juni 1939. BArch-MA, RM 7/2501. 209 W. Lohmann: Vom Kriegseinsatz der Handelsmarine, S. 281-282. 210 So beim Hansa-Dampfer UHENFELS. Lagebericht zur deutschen Handelsschiffahrt, 6. Februar 1940. BArch-MA, RM 7/310.

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Über Selbstversenkungen deutscher Schiffe existieren überraschend viele Quellen, denn zahlreiche Ingenieure, Offiziere und Kapitäne verfassten im Lager Berichte darüber und schickten sie an das Auswärtige Amt. Zum Teil enthalten diese Texte minutiöse Schilderungen der einzelnen Manöver und Navigationsentscheidungen auf der Reise sowie detaillierte Beschreibungen der Versenkungsmaßnahmen und der Gefangennahme.211 Man kann davon ausgehen, dass es sich bei diesen Berichten um Fälle handelt, in denen die Kapitäne sich eng an die Vorgaben der SKL gehalten hatten. Über die Fahrten, auf denen die Kapitäne sich bewusst gegen die Selbstversenkung oder gegen andere Anweisungen der SKL entschieden, ist dagegen kaum etwas bekannt. Mitglieder der Mannschaften berichteten nur selten schriftlich über diese Ereignisse, und wenn, dann eher im Rahmen eines privaten Briefs als in einem offiziellen Schreiben an die Reederei oder das Auswärtige Amt. Aus der Feder von Besatzungsmitgliedern sind nur wenige Zeugnisse überliefert. Ein 16-jähriger Seemann schrieb über die Selbstversenkung der HANNOVER: »Es war das erschütterndste und grösste Ereignis meines Lebens, das jetzt seine Fortsetzung in englischer Kriegsgefangenschaft findet unter glühender Tropenhitze. Das dürfte Euch alles Ungeschriebene ersetzen!«212 Bildquellen von der Versenkung sind sehr selten.213 Außergewöhnlich gut dokumentiert ist hingegen die Selbstversenkung der COLUMBUS, deren Bordfotograf Richard Fleischhut vom Rettungsboot aus heimlich Aufnahmen machte.214 Im Gegensatz zu den umfangreichen und minutiös geschilderten Vorbereitungen der Versenkung wird die Gefangennahme in vielen Berichten eher beiläufig erwähnt. Nach der Aufnahme auf dem feindlichen Schiff und der Fahrt in den nächstgelegenen Hafen der Gewahrsamsmacht oder eines verbündeten Staates folgte meist die Unter-

211 Ausgewertete Berichte über Selbstversenkungen und Gefangennahmen, alphabetisch nach Schiffen: Bericht der Krankenschwester Erika Wirth sowie Bericht des I. Offiziers K. Hirsch (D. ADOLF WOERMANN, Reederei Woermann). BArch-MA, RM 7/2559. Bericht des Kapitäns Oskar Scharf (D. ALSTER, Norddeutscher Lloyd). PA AA, R 127.557. Bericht des Kapitäns Karl Aschoff (D. HERMONTHIS, Hamburg-Amerika-Linie). LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70. Bericht des Kapitäns G. Tetzlaff über die Versenkung des D. INN (NDL) durch den englischen Kreuzer NEPTUNE, 6. September 1939. BArch-MA, RM 7/2561. Bericht des Kapitäns W. Seegert (KÖNIGSBERG). PA AA, R 127.907. Bericht des Kapitäns und des I. Offiziers (MECKLENBURG, Hamburg-Amerika-Linie). PA AA, R 127.906. Bericht eines Offiziers (D. ODER, NDL). PA AA, R 127.910. Bericht des 3. Offiziers W. Rohde (D. ODER, NDL). PA AA, R 127.889. Bericht des Kapitäns Helms (D. SOPHIE RICKMERS, Reederei Rickmers). In: Kludas, Arnold: Rickmers. 1834-1984. 150 Jahre Schiffbau und Schiffahrt. Herford 1984. Bericht eines Offiziers (USSUKAMA, Deutsche Ostafrika-Linie). BArch-MA, RM 7/2562. Bericht einer Passagierin (D. WATUSSI, Woermann-Linie). PA AA, R 127.891. 212 Brief eines 16-jährigen Besatzungsmitglieds der HANNOVER (Norddeutscher Lloyd) aus dem Lager Kingston/Jamaica an seine Eltern, 15. März 1940 (Auszug). PA AA, R 127.905. 213 Von einigen Schiffen existieren Aufnahmen, die vom feindlichen Kriegsschiff aus gemacht wurden und das Schiff brennend und sinkend zeigen, so z.B. vom NDL-Dampfer ERLANGEN. Dieses Bild ist veröffentlicht in Jürgens, Hans Peter: Sturmsee und Flauten. Logbuch eines Lebens. Hamburg 1995, S. 43. 214 Die Bilder sind enthalten in M. Laugsch: Das Ende.

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bringung in einem oft provisorisch eingerichteten Durchgangslager, bevor die Internierten ein Lager erreichten, in dem sie länger blieben. Das Vorläufige und teils auch Improvisierte dieser Phase unmittelbar nach der Gefangennahme spiegelt sich auch in der Quellenlage: Die Zahl verfügbarer Quellen steigt mit der Ankunft der Internierten in einem auf Dauer angelegten Lager deutlich an. In manchen Fällen erfuhren die deutschen Regierungsstellen recht schnell von der Gefangennahme der Seeleute, in anderen Fällen dauerte es Wochen. Von der Ankunft deutscher Seeleute in Schottland und ihrem Weitertransport in ein Lager am 27. Oktober wusste die SKL über die Agenturen Reuters und Havas bereits einen Tag später.215 Der offizielle Benachrichtigungsweg lief über die Schutzmacht und das Auswärtige Amt, teilweise auch unter Einbeziehung der Reedereien, denen die Benachrichtigung der Angehörigen oblag.

E XKURS : Z UR S ITUATION VON F RAUEN AUFGEBRACHTER H ANDELSSCHIFFE

AN

B ORD

Was mit den Frauen geschah, die in manchen Fällen unter den gefangenen Schiffsbesatzungen waren, lässt sich exemplarisch an drei Fällen nachvollziehen. Einige Passagierinnen, eine Krankenschwester und eine Kindergärtnerin, die auf der ADOLPH WOERMANN fuhren, wurden nach der Gefangennahme zunächst gemeinsam mit den männlichen Besatzungsmitgliedern und Passagieren nach England transportiert, dort aber von ihnen getrennt. In London wurden die Frauen in der ehemaligen österreichischen Botschaft einquartiert und kurze Zeit später nach Deutschland gebracht.216 Das letzte Stück der Reise nach London teilten sie mit den weiblichen Besatzungsmitgliedern der CAP NORTE, die als englische Prise nach Scapa Flow eingebracht worden war. Dort wurden die Frauen von den männlichen Seeleuten getrennt und anschließend in einem Frauengefängnis in Edinburgh untergebracht. Nach zwei Monaten wurde ihnen mitgeteilt, dass auch sie nach Deutschland ausreisen dürften; gemeinsam mit den Frauen der ADOLPH WOERMANN wurden sie dann über Ostende nach Deutschland überführt.217 Eine der Frauen aus dieser Gruppe, die Krankenschwester Erika Wirth, schmuggelte die Berichte des Kapitäns und des I. Ingenieurs in einem Tablettenröhrchen und einer Schreibmappe nach Deutschland, wo sie die Dokumente den Behörden übergab und selbst mündlich Bericht erstattete.218 Die weiblichen Passagiere des Dampfers WATUSSI, dessen Kapitän vor Kapstadt die Selbstversenkung angeordnet hatte, wurden hingegen mit ihren Familien in Südafrika interniert. Die Passagierin Anneliese Hobach brachte es dort zu vorübergehen-

215 BArch-MA, RM 7/2559. 216 Schreiben des OKW an das Reichsverkehrsministerium und die Seekriegsleitung, 22. Dezember 1939. BArch-MA, RM 7/2559. 217 Aktenvermerk über den Bericht zweier weiblicher Besatzungsmitglieder der CAP NORTE über Gefangennahme, Internierung und Rücktransport. PA AA, R 127.897. 218 Bericht der Krankenschwester Erika Wirth über die Selbstversenkung der ADOLPH WOERMANN und die Gefangennahme der Besatzung, 18. Dezember 1939. BArch-MA, RM 7/2559.

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der Berühmtheit, nachdem sie wenige Stunden nach der Bergung aus einem Rettungsboot in einem Kapstadter Krankenhaus einen Sohn zur Welt gebracht hatte – die Cape Times berichtete darüber unter der Überschrift »South Africa’s youngest Prisoner of War«.219

D IE ANZAHL INTERNIERTER S EELEUTE – Z UM P ROBLEM DER Q UANTIFIZIERUNG Verlässliche Zahlen über die während des Zweiten Weltkriegs weltweit internierten deutschen Schiffsbesatzungen zu ermitteln, ist nahezu ausgeschlosssen. Dieses Problem betrifft nicht nur Seeleute, sondern auch andere Gefangenengruppen. Die Gründe dafür liegen in den Kommunikations- und Verwaltungsstrukturen der Kriegszeit, angefangen von der unübersichtlichen Personalsituation auf deutschen Schiffen nach Kriegsbeginn bis hin zu den häufigen Verlegungen von Internierten in manchen Gewahrsams- und Aufenthaltsstaaten. Publizierte Zahlenangaben sind zum Teil widersprüchlich. Aus deutscher Sicht war es bereits in den ersten Kriegsjahren kaum möglich, den Überblick über den Verbleib der deutschen Seeleute zu bewahren, wie exemplarisch der folgende Aktenvermerk vom Juli 1941 zeigt: »Die Besatzungen sind vollkommen zerstreut und durcheinander gemischt worden. In Djidda haben sich etwa 76 Seeleute eingefunden, nach Assab (Erythräa) sind 37 Mann, nach Raheita (Erythräa) 58 Seeleute gelangt, die als in englischer Gefangenschaft betrachtet werden müssen. In Mauritius befinden sich mindestens 57 Seeleute von den Dampfern Coburg, Gera, Liebenfels und Frauenfels und der 2. Offizier vom Dampfer Lichtenfels. Der Dampfer Wartenfels soll angeblich in Diego-Suarez (Madagaskar) mit seiner Besatzung liegen, wo sich auch der 3. Offizier vom Dampfer Bertram Rickmers befindet. Zwei Mitglieder der Besatzung des Dampfers Bertram Rickmers sollen in Kairo interniert sein. Vier Mitglieder der Besatzung des Dampfers Oliva haben sich vor der Einnahme von Massaua durchzuschlagen versucht, sind in englische Gefangenschaft geraten und befinden sich jetzt in Deolali/BritischIndien. Ein genaues Bild in dieser höchst komplizierten Sache lässt sich noch nicht gewinnen.«220

Die einzige Möglichkeit für deutsche Stellen, zeitnah einigermaßen zuverlässige Zahlen zu erhalten, bot der Austausch mit der Schutzmachtvertretung und mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Beide teilten dem Auswärtigen Amt in unregelmäßigen Abständen Interniertenzahlen mit, die meist auf Quittungslisten beruhten, die im Zuge der Taschengeldauszahlung an deutsche Internierte geführt wurden. Die Unterschrift der Internierten auf einer Quittungsliste galt als Nachweis ihrer Internierung. Auf der Basis der Quittungslisten wurden Übersichten mit der zahlenmäßigen Verteilung der Internierten erstellt und an das Auswärtige Amt weitergeleitet,

219 South Africa’s youngest Prisoner of War. Cape Times, Magazine Section vom 04.12.1939, S. 16. Dieser und weitere Zeitungsausschnitte über die internierten Passagiere in: BArchMA, RM 7/3114. 220 Aktenvermerk über die nach Kriegsbeginn in Massaua liegenden Schiffe, 7. Juli 1941. PA AA, R 127.911.

122 | G EFANGEN IN K ANADA

jedoch waren diese Angaben fehleranfällig und oft schon bei der Ankunft der Listen in Deutschland nicht mehr aktuell. Nicht immer war es überhaupt möglich, alle bezugsberechtigten Internierten zu erreichen, um ihnen das Taschengeld auszuzahlen. Die auf den Quittungslisten beruhenden Zahlen liegen außerdem nur bis zum Ende der Taschengeldzahlungen im Herbst 1944 vor. Auch in den kanadischen Quellen sind acquittance rolls (Quittungslisten) vorhanden.221 Für das Jahr 1945 und 1946 stehen keine derartigen Angaben mehr zur Verfügung; das von Wolff angesprochene »Dilemma mehr oder weniger abweichender Zahlen«222 in der Phase der Repatriierungen macht sich also auch im vorliegenden Fall bemerkbar. Zwar wurden bei jeder größeren Verlegung Namenslisten (nominal rolls) angelegt, und in den kanadischen Lagertagebüchern ist täglich die Belegungsstärke dokumentiert. Doch eine vollständige statistische Erfassung und Auswertung dieser Daten war im Rahmen der vorliegenden Arbeit weder möglich noch angestrebt. Genauere Zahlen der internierten deutschen Seeleute ließen sich aus der Seemannskartei der See-Berufsgenossenschaft ermitteln, die aber bislang für Forschungen leider nicht zugänglich ist. Über diese Pflichtversicherung für Seeleute wurden die Fahrtzeiten jedes einzelnen Seemannes erfasst und, wie sich in Einzelfällen anhand privater Unterlagen nachvollziehen lässt, im Zuge dessen auch die in Internierung verbrachte Zeit.223 Kurzfristig angeheuerte Überarbeiter, die mit den Seeleuten in Gefangenschaft gerieten, wurden jedoch während des Zweiten Weltkriegs von der See-Berufsgenossenschaft nicht immer rechtzeitig erfasst. Punktuell existieren genauere Interniertenzahlen für einzelne Reedereien, etwa für die HAPAG, die im Jahr 1939 mit 108 Schiffen größte deutsche Reederei.224 Im April 1944 waren 1435 Besatzungsmitglieder von insgesamt 57 Hapag-Schiffen interniert.225 Aus manchen dieser Übersichten geht hervor, wie viele Besatzungsmitglieder von welchen Schiffen wo interniert waren. Im Herbst 1944 waren etwa 10 Prozent aller in Kanada gefangenen Deutschen Seeleute.226 Die aus verschiedenen Quellen zusammengestellten Tabellen versuchen einerseits, die Internierung deutscher Seeleute in Kanada als Teil der britischen Internierung zahlenmäßig genauer zu erfassen (Tabelle 7) und andererseits einen Überblick über die weltweite Verteilung internierter deutscher Schiffsbesatzungen zu geben (Tabelle 8 und Tabelle 9).

221 LAC, Bestand RG 24. 222 Wolff, Helmut: Die deutschen Kriegsgefangenen in britischer Hand. Ein Überblick. München 1974, S. 19. 223 Dies wird exemplarisch aus einer Kontenübersicht der Seekasse im Nachlass von Rudolf Lell ersichtlich. 224 Vgl. hierzu die Übersicht bei Schmelzkopf, Reinhart: Die deutsche Handelsschiffahrt 19191939. Band I. Chronik und Wertung der Ereignisse in Schiffahrt und Schiffbau. Oldenburg 1974, S. 247. 225 Eine entsprechende Aufstellung vom 15. April 1944 findet sich in PA AA, R 146.484. 226 Stacey, C.P.: Six Years of War. The Army in Canada, Britain and the Pacific (Official History of the Canadian Army in the Second World War, I). Ottawa 31957, S. 153. In ganz Kanada waren zu diesem Zeitpunkt 34.193 Gefangene im Auftrag Großbritanniens interniert, zusätzlich 853 Gefangene in kanadischem Gewahrsam.

D EUTSCHE H ANDELSSCHIFFSBESATZUNGEN WÄHREND

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Tabelle 7: Internierte deutsche Seeleute – Zahlenmäßige Entwicklung weltweit (1940-1944) Jahr Quartal

1940

1941

1942

1943

1944

3. + 4. 3. + 4. 1. + 2. 3. + 4. 1. + 2. 1. + 2. 3. + 4. Quartal Quartal Quartal Quartal Quartal Quartal Quartal

Ägypten

3

3

Angola (Port.)

4

55

45

Argentinien

111 75

Australien

106

246

352

352

189

Azoren

179 14

Brasilien

214

290

137

709

159

42

43

43

Dominikanische Republik

71

20

Ecuador

38

Brit. Indien Brit. Ostafrika

England

125

1373

802

1017

231

250

327

314

4

35

47

46

41

27

20

41

Frankreich & Kolonien

318

2

Jamaica

385

541

541

540

545

541

537

Kanada

595

1815

2198

3505

3380

3275

3341

211

211

218

211

210

48

12

64

Madagascar

48

Mexico Niederl. Kolonien

687

Norwegen

192

688

Peru

116

Puerto Rico Saudi-Arabien

6 31

34

28

124 | G EFANGEN IN K ANADA

SowjetRussland Südafrika

35 403

80

583

580

Südrhodesien

474

1

Tonga

46

Uruguay USA Venezuela

65

65

65

53

90

839

911

844

778

733

35

111

87

84

73

8

7

7

6634

6260

6325

Yemen Gesamt

595

3953

4131

6437

7186

Quellen: ACICR, G 17/29; PA AA, R 127.882, R 127.951, R 127.941.

Tabelle 8: Anteil der in Kanada internierten deutschen Seeleute (1940-1944) Jahr Quartal

1940

1941

1942

1943

1944

3. + 4. 3. + 4. 1. + 2. 3. + 4. 1. + 2. 1. + 2. 3. + 4. Quartal Quartal Quartal Quartal Quartal Quartal Quartal

Gesamt

3953

4131

6437

7186

6634

6260

6325

Kanada

595

1815

2198

3505

3380

3275

3341

Kanada (%)

15,1 % 43,9 % 34,1 % 48,8 % 50,9 % 52,3 % 52,8 %

Quellen: ACICR, G 17/29; PA AA, R 127.882, R 127.951, R 127.941.

Tabelle 9: Deutsche Seeleute in britischem Gewahrsam (1940-1944) Jahr

1940

1941

1942

1943

Quartal

3. + 4. Quartal

3. + 4. Quartal

3. + 4. Quartal

1. + 2. Quartal

1. + 2. Quartal

3. + 4. Quartal

Gesamt

2756

3443

4989

4713

4677

4780

Kanada

595

1815

2437

3383

3275

3341

52,71 %

48,84 %

71,78 %

70,02 %

69,89 %

Kanada (%)

21,58 %

Quellen: PA AA, R 127.882, R 127.941.

1944

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Auf eine detaillierte Übersicht, die die Schwankungen in der Belegungsstärke der einzelnen kanadischen Lager verzeichnet, wurde verzichtet,227 auch weil die Seeleute in der Anfangszeit teilweise zusammen mit den zeitweise bis zu 1200 jüdischen enemy aliens untergebracht waren, was präzise Angaben zusätzlich erschwert.228 Der Rückgang der Interniertenzahlen ab der zweiten Jahreshälfte 1942 ist durch die Austauschmöglichkeiten zu erklären, in deren Rahmen auch ältere und kranke Seeleute vorzeitig repatriiert wurden. Zwischen Kriegsbeginn 1939 und März 1945 verstarben weltweit insgesamt 262 deutsche Seeleute in Internierungslagern bzw. an nicht näher zu bestimmenden Orten, davon sechs durch Selbstmord.229 In kanadischer Internierung verstarben zwischen 1940 und 1946 insgesamt 26 deutsche Seeleute, das entspricht weniger als einem Prozent.230 Abweichend von den hier errechneten Zahlen gibt John Joseph Kelly an, dass Kanada im Auftrag Großbritanniens 31.465 Kombattanten und 4170 Seeleute in Gewahrsam hielt, dazu 174 Seeleute, die kanadische Gefangene waren, sowie 2241 Zivilisten. Insgesamt belief sich damit die Zahl der in Kanada internierten Zivilisten und Soldaten auf 38.000.231

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VÖLKERRECHTLICHE S TELLUNG DER INTERNIERTEN H ANDELSSCHIFFSBESATZUNGEN

»Könnt Ihr nicht einmal beim Roten Kreuz anfragen, zu welchem Verein die Seeleute eigentlich gehören.«232 Das schrieb der deutsche Heizer Hermann Günther nach über zehnmonatiger Internierung in Ägypten frustriert an seine Eltern, die seine Anfrage an das Auswärtige Amt weiterleiteten. Günthers Frage zielt auf ein Problem, mit dem sich internierte deutsche Schiffsbesatzungen, gleich in welchem Gewahr-

227 Knappe Angaben hierzu finden sich in den Kurzdarstellungen der untersuchten Lager, vgl. Kapitel 4, S. 144 ff. 228 Waren Ende 1940 in Kanada 1200 enemy aliens interniert, so sanken die Zahlen von diesem Zeitpunkt an allmählich auf 780 (Mitte 1941) und 411 (Ende 1942). Am Ende des Krieges waren nur noch 22 enemy aliens interniert. Krammer, Arnold C.: Civilian Internees – World War II – North America. In: Vance, Jonathan Franklin William (Hg.): Encyclopedia of Prisoners of War and Internment. Millerton 2006, S. 82-86, hier S. 85. 229 23 Seeleute starben in England, 37 in Norwegen, 57 in Niederländisch-Indien, 11 in Jamaica, 12 in Südafrika und 50 an nicht näher zu bestimmenden Orten. Die Selbstmorde verteilen sich wie folgt: vier in Kanada, einer in Südafrika und einer in den USA. Schreiben Auswärtiges Amt an OKW, OKM, Reichskommissar Seeschiffahrt, Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt, 13. April 1945. PA AA, R 127.941. Zu Suiziden in kanadischen Internierungslagern siehe auch Kapitel 7, S. 452. 230 Summary report, S. 21. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 231 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 203. 232 Schreiben der Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt an das Auswärtige Amt, 23. März 1944; darin enthalten: Auszug aus einem Brief des Heizers Hermann Günther, interniert in Camp 306, Ägypten, an seine Eltern. PA AA, R 127.954.

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samsstaat, mindestens einmal während ihrer Gefangenschaft konfrontiert sahen: Welchen (völkerrechtlichen) Status besaß man als gefangener Seemann? War man als Zivilinternierter zu betrachten, nachdem man doch Zivilist war? Oder galt man als Angehöriger der kämpfenden Truppe und damit als Kriegsgefangener? Ein Blick in die Quellen macht rasch deutlich, weshalb Bob Moore im Zusammenhang mit diesen Unklarheiten von der »vexed question of merchant seamen«233 spricht. Angesichts der Lücken in den einschlägigen internationalen Abkommen, der Konkurrenz und Inkongruenz verschiedener nationaler Klassifizierungssysteme und der Änderungen in diesen Bestimmungen während des Krieges ist die Ratlosigkeit vieler internierter Seeleute über ihren Status nicht verwunderlich. Sie spiegelt sich in einer Fülle von diesbezüglichen Anfragen nicht nur an das Auswärtige Amt. Für die Betroffenen ging es dabei nicht um eine lediglich formal korrekte Etikettierung, sondern um ihre finanzielle Versorgung, um Rechte und Leistungsansprüche.234 Bereits in den Kriegen des 19. Jahrhunderts war es gebräuchlich, zivile Besatzungen feindlicher Schiffe in Gewahrsam zu nehmen, obwohl dieses Vorgehen bis ins späte 19. Jahrhundert hinein völkerrechtlich weitgehend ungeregelt blieb.235 Erst das Elfte Haager Abkommen über gewisse Beschränkungen in der Ausübung des Beuterechts im Seekriege vom 18. Oktober 1907 befasst sich im dritten Kapitel mit der Besatzung feindlicher Handelsschiffe, die von einem Krieg führenden Staat gefangen genommen werden. Artikel 6 sieht vor, dass Kapitän, Offiziere und Mannschaften nicht zu Gefangenen gemacht werden sollten, sofern sie schriftlich erklärten, sich für die gesamte Dauer des Krieges nicht an den Kampfhandlungen zu beteiligen. Eingeschränkt wird diese Regelung in Artikel 8, der besagt, dass dies nicht für Schiffe gilt, die an den Feindseligkeiten teilnehmen.236 Dadurch wurde ein Spielraum eröffnet, innerhalb dessen die Gefangennahme möglich und relativ leicht zu rechtfertigen war.237 Wie ein Brief Rudolf Beckers aus der Gefangenschaft zeigt, war Artikel 6 des Elften Haager Abkommens auch in den 1930er Jahren noch verbreitete Lehrmeinung, Artikel 8 schien hingegen weniger bekannt zu sein; Becker schreibt: »[…] auch mir hat noch mein See-Kriegsrechtlehrer 1938 erzählt, daß Besatzungen von Handels-

233 Moore, Bob: The Treatment of Prisoners of War in the Western European Theatre of War, 1939-45. In: Scheipers, Sibylle (Hg.): Prisoners in War. Norms, Military Culture and Reciprocity in Armed Conflict. Oxford 2009, S. 111-125, hier S. 111. 234 Gibson, Charles Dana: Prisoners of War vs. Internees. The Merchant Marine Experience of World War II. In: American Neptune 54 (1994), S. 187-193, hier S. 187. 235 F. Scheidl: Die Kriegsgefangenschaft von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, S. 199. Die Brüsseler Deklaration über die Gesetze und Gebräuche des Krieges (1874) und das Haager Abkommen betreffend die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention vom 22. August 1864 auf den Seekrieg (1899) legten fest, dass Seeleute gefangengenommen werden konnten; ihre Behandlung wurde dort jedoch nicht näher spezifiziert. Die Deklaration von Brüssel war zudem völkerrechtlich nicht bindend, da sie nicht ratifiziert worden war. Vance, Jonathan Franklin William: Merchant Seamen. In: Ders. (Hg.): Encyclopedia of Prisoners of War and Internment. Millerton 2006, S. 259, hier S. 259. 236 F. Scheidl: Die Kriegsgefangenschaft von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, S. 199. 237 Ebd.

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schiffen nach der 2. Haager Konferenz von 1907 von der Gefangennahme ausgeschlossen sind«238. Außer dem Elften können zwei weitere Haager Abkommen aus dem Jahr 1907 Auskunft über Teilaspekte der Gefangennahme von Seeleuten geben:239 das Siebte Haager Abkommen betreffend die Umwandlung von Kauffahrteischiffen in Kriegsschiffe sowie das Zehnte Haager Abkommen betreffend die Anwendung der Grundsätze des Genfer Abkommens auf den Seekrieg.240 Generell wurde den Krieg führenden Staaten seit den Haager Abkommen somit ein Interesse daran zugebilligt, feindliche Schiffsbesatzungen in Gewahrsam zu nehmen, um deren Heimkehr und Rekrutierung als Soldaten zu verhindern.241 Damit war aber noch nicht genauer geregelt, wie Seeleute zu behandeln waren, wenn sie als Gefangene in Feindeshand fielen. Charles Dana Gibson betont zwar: »Historically, merchant marine personnel have been looked upon by belligerents as differing from other civilians.«242 Doch eine einheitliche Linie in der Behandlung gefangener Seeleute ergab sich daraus nicht zwangsläufig. Im Ersten Weltkrieg hielt man die Seeleute meist als Zivilinternierte fest: »As such, they were responsible for their own upkeep, a fact that left some merchant seamen in civilian internment camps near destitution.«243 Obwohl in die Entwurfsfassung der Genfer Konvention von 1929 zunächst ein Passus aufgenommen werden sollte, der den Seeleuten den vollen Kriegsgefangenenstatus zuerkannte, entschied man sich im weiteren Verlauf der Arbeit an der Konvention dagegen und der Status gefangener Seeleute blieb weiterhin unklar.244 Internationale Bestimmungen über eine einheitliche Behandlung der gefangenen Seeleute in den Händen der Gewahrsamsmacht gab es zu Beginn des Zweiten

238 Rudolf Becker an seinen Vater, 6. Juni 1942. DSM, III A 3324 b. 239 Texte der Abkommen in Schindler, Dietrich/Toman, Jiři (Hg.): The Laws of Armed Conflicts. A Collection of Conventions, Resolutions and other Documents. Genf 31988. Im Sechsten Haager Abkommen über die Behandlung der feindlichen Kauffahrteischiffe beim Ausbruche der Feindseligkeiten vom 18. Oktober 1907 war zwar formuliert worden, die Gewährung einer dem Schiff »zu vergönnenden ausreichenden Frist« zum Auslaufen aus einem feindlichen Hafen nach Kriegsbeginn sei »erwünscht«, doch England kündigte das Abkommen im Jahr 1925. Für die weitere Argumentation ist dieses Abkommen also zu vernachlässigen. 240 Das Zehnte Haager Abkommen nimmt medizinisches Personal an Bord von Schiffen von der Gefangennahme aus (Art. 10). Dennoch wurden Krankenschwestern, die auf deutschen Schiffen unterwegs waren, mitunter, wenn auch nur vorübergehend, mit der übrigen Besatzung gefangengenommen. Artikel 14 des Abkommens besagt, dass neben Verwundeten und Kranken auch Schiffbrüchige, die in feindliche Hände geraten, zu Kriegsgefangenen werden. Dieser Punkt ist dann von Bedeutung, wenn man bedenkt, dass ein Teil der deutschen Seeleute nach der eigenhändigen Versenkung ihrer Schiffe in die Rettungsboote gegangen war und von englischen Schiffen strenggenommen aus (selbst verschuldeter) Seenot gerettet wurde. 241 F. Scheidl: Die Kriegsgefangenschaft von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, S. 199. 242 C.D. Gibson: Prisoners of War vs. Internees, S. 188. 243 J.F.W. Vance: Merchant Seamen, S. 259. 244 Ebd.

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Weltkriegs also nicht,245 sodass Seeleute während des gesamten Krieges genau genommen weder Zivilinternierte noch Kriegsgefangene waren, obwohl die Bezeichnung als Zivilinternierte in einigen Ländern durchaus üblich war.246 Als Zivilinternierte galten Seeleute in Deutschland, Italien, Südafrika und den USA. Demgegenüber hatten sie in Australien, Kanada, Großbritannien und Neuseeland den Status von Kriegsgefangenen, in Anlehnung an Teil VII der Konvention (»LʼApplication de la Convention à certaines catégories de Civils«). Artikel 23 und 27 der Konvention wurden in diesen Ländern nicht auf Seeleute angewendet, was sich auf die finanzielle Situation und auf Fragen der Arbeit auswirkte.247 Artikel 23 der Genfer Konvention besagt, dass kriegsgefangene Offiziere vom Gewahrsamsstaat den gleichen Sold bekommen sollten wie die entsprechenden Dienstgrade in diesem Staat. Für die Seeoffiziere der Handelsmarine entfiel also dieser Anspruch auf Sold. Artikel 27 regelt den Rahmen für den Arbeitseinsatz der Gefangenen. Selbst die Einstufung der Seeleute als Zivilinternierte beseitigte nicht automatisch alle Unklarheiten. Denn auch die Behandlung Zivilinternierter erwies sich während des Krieges als »large-scale problem«248, da die entsprechenden internationalen Abkommen an dieser Stelle Lücken aufwiesen: »The classification of civilian alien enemies is in general use, but no ›code‹ concerning their treatment has found general acceptance.«249 Das Haager Abkommen regelte lediglich die Behandlung von Zivilisten in besetzten Gebieten und deckte somit nur einen Teilbereich des Problems ab.250 Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gab es keine Konvention, die sich ausdrücklich mit dem Schutz von Zivilisten in feindlichen Händen befasst hätte,251 sodass der Umgang mit Zivilinternierten strenggenommen von der Gesetzeslage im jeweiligen Gewahrsamsland bestimmt wurde.252 Während des Zweiten Weltkriegs wurde der Gültigkeitsbereich der Genfer Konvention jedoch auch auf Zivilinternierte ausgedehnt: »Even though the 1929 convention applied only to prisoners-of-war and not to civilian internees, it had by agreement between the belligerents been extended to cover the latter group during the second world war.«253 Nachdem die Genfer Konvention kaum Hilfestellung bot, hing der Status von gefangenen Schiffsbesatzungen vor allem davon ab, welchen Status das Schiff besaß, auf dem sie zuletzt gefahren waren. Auch wenn es sich äußerlich betrachtet um ein Handelsschiff handelte, konnte es sein, dass es nicht als solches galt, vor allem wenn

245 246 247 248 249 250 251 252 253

XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 553. J.F.W. Vance: Merchant Seamen, S. 259. XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 553. Wilson, Robert R.: Treatment of Civilian Alien Enemies. In: American Journal of International Law 37 (1943), H. 1, S. 30-45, hier S. 30. Ebd., S. 32. Ebd., S. 36. F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 191. Koessler, Maximilian: Enemy Aliens Internment. With Special Reference to Great Britain and France. In: Political Science Quarterly 57 (1942), H. 1, S. 98-127, hier S. 112. Beaumont, Joan: Victims of War: The allies and the transport of prisoners-of-war by sea, 1939-45. In: Journal of the Australian War Memorial 2 (1983), S. 1-7, hier S. 2.

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es bewaffnet war. Es würde zu weit führen, die gesamte Diskussion über die während des Krieges nicht befriedigend geklärte Frage um die völkerrechtliche Stellung des bewaffneten Handelsschiffs nachzuzeichnen.254 Für den Kontext der vorliegenden Untersuchung ist es vor allem wichtig, zwischen zwei Kategorien von Schiffen zu unterscheiden: Hilfskriegsschiffen und Hilfsbeischiffen. Handelsschiffe, die von einem Krieg führenden Staat in Hilfskriegsschiffe umgewandelt wurden, mussten nach dem Siebten Haager Abkommen von 1907 in die Kriegsflotte übernommen werden und daher auch die Kriegsflagge führen. Der Kapitän musste im Staatsdienst stehen und in der Rangliste der Kriegsmarine aufgeführt sein; für die Mannschaften hatte militärische Disziplin zu gelten.255 Deutschland setzte während des Zweiten Weltkriegs umgewandelte Handelsschiffe unter anderem als Hilfskreuzer, Handelsstörer, Vorpostenboote und Minensuchboote ein.256 Im Kontext der vorliegenden Untersuchung sind vor allem die Hilfsbeischiffe relevant. Diese Truppentransporter, Lazarett- oder Wohnschiffe führten die Reichsdienstflagge oder die Handelsflagge, behielten ihre zivile Besatzung und blieben offiziell auch in der Verwaltung ihrer Reedereien.257 Über ihre Fahrbereitschaft und die zu fahrenden Routen disponierten jedoch die Kriegsmarinedienststellen und das Reichsverkehrsministerium.258 Die Besatzungen solcher Schiffe gehörten seit März 1940 zum Wehrmachtsgefolge bzw. zum Gefolge der Kriegsmarine, was sie auch den Kriegsgesetzen unterstellte: »Damit haben die Kapitäne ihrer Mannschaft gegenüber die Stellung eines militärischen Vorgesetzten und das Recht, bei Verstößen gegen die Einsatzbereitschaft, Manneszucht, Sicherheit von Schiff und Besatzung, Vertrauen zur Führung und Geheimhaltung strafend einzuschreiten.«259 Ab November 1943 wurde durch einen Erlass des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine die gesamte deutsche Handelsflotte zum Gefolge der Kriegsmarine erklärt.260 Seeleute, die zum Kriegsmarine-Gefolge gehörten, führten zum Teil die in Artikel 81 der Genfer Kon-

254 Ausführliche Einblicke in diese Diskussion bzw. Zusammenfassungen geben: Plaga, Werner: Das bewaffnete Handelsschiff. Eine völkerrechtlich-wehrpolitische Betrachtung. Hamburg 1939; Krüger, Herbert: Handelsschiffe. In: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Erster Band. Aachener Kongress bis Hussar-Fall. Berlin 1960, S. 759-762; K. Neuss: Die Entwicklung des Prisenrechts durch den Zweiten Weltkrieg, S. 198-201; Schenk, Reinhold: Seekrieg und Völkerrecht. Die Maßnahmen der deutschen Seekriegsführung im 2. Weltkrieg in ihrer völkerrechtlichen Bedeutung. Köln/ Berlin 1958, S. 48-65; Zemanek, Karl: Handelsschiffe, bewaffnete. In: Schlochauer, HansJürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Erster Band. Aachener Kongress bis HussarFall. Berlin 1960, S. 762-764. 255 Per Erlass des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine vom 9. März 1940 wurden Besatzungen der Hilfsbeischiffe zum Kriegsmarine-Gefolge erklärt. Lohmann, Walter: Das deutsche Handelsschiff im Seekriege. In: Marine-Rundschau 48 (1943), H. 5, S. 293-302, hier S. 295-296. 256 W. Lohmann: Vom Kriegseinsatz der Handelsmarine, S. 272. 257 W. Lohmann: Das deutsche Handelsschiff im Seekriege, S. 295-296. 258 P. Kuckuk: Die Ostasienschnelldampfer, S. 226. 259 W. Lohmann: Das deutsche Handelsschiff im Seekriege, S. 299. 260 P. Kuckuk: Die Ostasienschnelldampfer, S. 226.

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vention geforderten Ausweispapiere mit sich, aus denen ihr Status hervorging und die gegenüber der Gewahrsamsmacht glaubhaft machen sollten, dass sie als Kriegsgefangene zu behandeln seien.261 Wurden die Seeleute im Gewahrsamsstaat als Kriegsgefangene eingestuft, so entstand die Notwendigkeit, Handelsmarine-Dienstgrade in militärische Dienstgrade zu übersetzen, denn diese spielten bei der Behandlung von Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention eine zentrale Rolle (vgl. Tabelle 10). Tabelle 10: Übersetzung von Dienstgraden der Handelsmarine in militärische Dienstgrade für die Behandlung von Handelsschiffsbesatzungen als Kriegsgefangene Dienstgrade der Handelsmarine

Militärische Rangstufen

I.-IV. Offizier, I.-IV. Ingenieur, Offiziersaspirant, Ingenieursaspirant, Zahlmeister, Funker, Maschinist, Ingenieur-Assistent, ggf. Obersteward, Chormeister

Offiziere

Bootsmann, Proviantmeister, Lagerhalter, Kesselwart und Hilfskesselwart, Steuerer, Elektriker, Maschinenassistent, Oberheizer, Segelmacher, ggf. Zimmermann

Unteroffiziere

Matrose, Heizer, Trimmer, Steward, Schiffsjunge, Leichtmatrose, Reiniger

Mannschaften

Quelle: Aufzeichnung über die Einstufung der Handelsmarine-Chargen als Kriegsgefangene, 4. Mai 1943. PA AA, R 127.952.

261 Aktenkundig geworden ist der Fall der GONZENHEIM-Besatzung, die auf der Grundlage dieser Papiere gegenüber der kanadischen Regierung eine Einstufung als Kriegsgefangene erreichen wollte. Siehe M. Auger: Prisoners of the home front, S. 59. Unmittelbar bei oder nach Kriegsbeginn war eine Unterscheidung der Schiffe noch einfacher, weil zu diesem Zeitpunkt noch nicht so viele Fahrzeuge bewaffnet waren. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf verwischten sich die Grenzen zwischen Handelsschiffen und Hilfsbeischiffen immer mehr, es waren aber auch schlichtweg nicht mehr so viele deutsche Handelsschiffe unterwegs.

4. Eine temporäre Kontaktzone: Die Internierung deutscher Seeleute in Kanada

Z UR E INSTUFUNG DEUTSCHER S CHIFFSBESATZUNGEN IN DER KANADISCHEN I NTERNIERUNG In kanadischen Quellen, vor allem in den Lagertagebüchern, tauchen verschiedene Bezeichnungen für die Gefangenen auf: Prisoners of War, manchmal mit dem Zusatz Class I bzw. Class II, civilian internees, enemy aliens oder einfach (merchant) seamen. Beschäftigt man sich mit dem kanadischen Klassifikationssystem für Kriegsgefangene, so wird schnell deutlich, dass es nicht nur dann um Seeleute geht, wenn sie explizit genannt werden; vielmehr wird teilweise auch über Seeleute geschrieben, ohne sie ausdrücklich so zu bezeichnen. Manchmal werden Seeleute unter eine andere Kategorie subsumiert, aber meist wird in den Dokumenten nicht spezifiziert, wer im Einzelnen darunter zu fassen ist – dem kanadischen Lagerpersonal waren die Klassifizierungen schließlich geläufig. Nur selten wird die Gruppe der civilians in seamen und internees aufgeschlüsselt.1 Laut dem 1945 verfassten Schlussbericht des Schweizer Generalkonsulats über dessen Schutzmachttätigkeit in der Betreuung deutscher Gefangener sah die Klassifikation von Gefangenen in Kanada folgendermaßen aus: Als Combattant Prisoners of War galten Offiziere, Unteroffiziere, Mannschaften und geschützte Personen (protected personnel) aus den Reihen der kämpfenden Truppen, als Non-combattant Prisoners of War galten Enemy Merchant Seamen, Zivilinternierte und Flüchtlinge.2 Angehörige beider Kategorien wurden nach den Vorgaben der Genfer Konvention behandelt.3 Diese im Rückblick relativ eindeutig wirkende Regelung stellte sich während des Krieges immer wieder als »confusing issue«4 dar, vor allem für die Seeleute selbst.

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Das ist aber beispielsweise der Fall in einem Schreiben des Commissioner of Internment Operations, Ottawa, an das Home Office in London vom Dezember 1941LAC, RG 24, 11250, File 10-2-3-31. Summary report, S. 1. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. Ebd. S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 58.

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Die im Dezember 1939 von der kanadischen Regierung verabschiedeten Regulations Governing The Maintenance of Discipline Among And Treatment of Prisoners of War legten die Einteilung der Gefangenen in zwei Kategorien fest: Zivilinternierte (Prisoners of War, Class 2) und Kriegsgefangene (Prisoners of War, Class 1).5 Durch die gemeinsame Bezeichnung als Prisoners of War sollten beide vom Schutz durch die Genfer Konvention profitieren können.6 Die gefangenen deutschen Schiffsbesatzungen wurden zunächst als Prisoners of War, Class 2 eingestuft.7 Im Lauf des Jahres 1941 dachte man in der kanadischen Regierung allerdings erneut über den Status der Seeleute nach, denn »it was realized that this term was insufficient to cover these men, and their status was questionable under P.C. 4121«8. Die erarbeitete Neudefinition lautete: »An Enemy Merchant Seamen is an enemy national who at the time of his capture is the member of a crew of any ship or is proceeding abroad in accordance with an agreement to join and serve in any ship, or who has been at any time since 1 September 1939 a member of the crew of any ship.«9 Im Mai 1942 gab die britische Regierung bekannt, dass die in den Ländern des Commonwealth internierten Handelsschiffsbesatzungen künftig so behandelt würden, wie es Artikel 81 der Konvention für Zivilpersonen im Gefolge der kämpfenden Truppen vorsieht.10

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J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 32-34. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 30. Diese Zweigliederung wurde am 31. Mai 1940 durch die einheitliche Bezeichnung prisoner of war für alle in Kanada untergebrachten Gefangenengruppen ersetzt. Regulation 23(4) der Defence of Canada Regulations legte nun fest: »The term ›prisoner of war‹ […] shall include any person detained or interned under these Regulations.« Diese Maßnahme benachteiligte nach Ansicht von John Stanton vor allem die vor dem Krieg in Kanada ansässigen Zivilisten, die als politisch verdächtige enemy aliens interniert worden waren. Stanton, John: Government Internment Policy, 1939-1945. In: Labour/Le Travail 31 (1993), S. 203-241, hier S. 224. Stanton zufolge sollte die neue Bezeichnung davon ablenken, dass es sich bei den Internierten um politische Gefangene handelte. 7 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 109-110. 8 Ebd. Order-in-Council P.C. 4121 schrieb die beiden Kategorien »Zivilisten« und »Kriegsgefangene« fest und dehnte den Anwendungsbereich der Genfer Konvention auf Zivilisten aus. Schreiben Lieut.-Col. Hubert Stethem, Assistant Director of Internmet Operations, an District Officer Commanding, Military District No. 13, Calgary, 29. Oktober 1940. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70; J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 32. 9 Zitiert nach ebd., S. 109. 10 Wortlaut der britischen Erklärung zum Status gefangener deutscher Handelsschiffsbesatzungen, Mai 1942: »The Foreign Office […] have the honour to state that His Majestyʼs Government in the United Kingdom have decided for reasons of a practical nature to treat captured personnel of ennemy [sic] merchant ships as if they were personnel within the provisions of article 81 of the International Convention relative to the Treatment of Prisoners of War signed at Geneva on 27th July, 1929, except that they will not be made subject to compulsion to work, nor be entitled to receive pay under the provisions of article 23 of the Convention. With the above exceptions German and Italian merchant seamen will be accorded the same privileges and subjected to the same obligations under the Convention

E INE TEMPORÄRE K ONTAKTZONE

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Allerdings würden die Gewahrsamsstaaten ihnen keinen Sold zahlen und anders als Kriegsgefangene im engeren Sinne könnten die Seeleute nicht zur Arbeit gezwungen werden. Im Zuge dessen wurde auch der Plan mitgeteilt, die Seeleute in absehbarer Zeit »in besonderen Lagern unterzubringen«.11 Die Situation in Kanada unterschied sich von derjenigen in Großbritannien lediglich durch die Verwendung einer anderen Bezeichnung: Im Juli 1942 beschlossen die kanadischen Behörden, die Seeleute von nun an offiziell als Prisoners of War, Class 1 zu bezeichnen.12 Die Vertrauensmänner in den Lagern wurden zeitnah über diese Änderung informiert. Kanada entschied sich also, die Seeleute wie Kriegsgefangene zu behandeln, ohne sie als Kriegsgefangene im engeren Sinne einzustufen. Diese Änderung war durchaus im Interesse der deutschen Behörden. Auswärtiges Amt, Seekriegsleitung und die Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt standen einer Einstufung der Seeleute als Kriegsgefangene sehr kritisch gegenüber. Besonders das OKM hatte »erhebliche praktische Bedenken«,13 die sich unter anderem gegen die dann getrennte Unterbringung von Offizieren und Mannschaften richteten. Zudem wurde ins Feld geführt, dass die als Kriegsgefangene geltenden Seeleute eventuelle Austauschmöglichkeiten nicht in Anspruch nehmen könnten. Solange Verhandlungen mit Großbritannien im Hinblick auf die Behandlung englischer Seeleute in deutschem Gewahrsam im Gange waren, scheute das OKM davor zurück, sich den Internierten gegenüber in dieser Frage eindeutig festzulegen: »Den internierten Schiffsbesatzungen […] wäre d.E. [diesseitigen Erachtens; JK] durch die Schutzmacht ein farbloser Zwischenbescheid dahin zu übermitteln, dass die Verhandlungen über die angeschnittenen Fragen noch nicht abgeschlossen sind.«14 Im Hinblick auf diese laufenden Verhandlungen einigte man sich wenig später darauf, dass es am günstigsten sei, wenn die Seeleute »wie Kriegsgefangene behandelt werden« und »rechtlich weiter als Zivilinternierte gelten« würden.15 Eine Einstufung der Seeleute als Kriegsgefangene, so befürchtete die Seekriegsleitung, könnte den von deutscher Seite erhofften Austausch gefangener Seeleute gefährden. Obwohl der in Kanada festgelegte Status diesbezüglich keinen Anlass zur Sorge gab, wurde er nicht von allen Betroffenen begrüßt, wie der Schweizer Konsul bei einem Besuch in Petawawa feststellen musste: »Strange to say one of the most pre-

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as German and Italian prisoners of war respectively, whilst all reciprocal agreements which have been entered into between the belligerent governments or which may in future be reached in respect of the treatment of prisoners of war will be applied to them.« BArchMA, RM 7/1329. Schreiben des CICR an das Auswärtige Amt, 17. Dezember 1942. ACICR, G 17/29. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 109-110. Schreiben des OKM an das Auswärtige Amt, 9. Juli 1942. BArch-MA, RM 7/1329. Ebd. Schreiben des OKM an das Auswärtige Amt, z.Hd. Herrn Geheimrath Sethe, 22. August 1942. Hervorhebung im Original. BArch-MA, RM 7/1329. Diesem Schreiben war eine ausführliche Darlegung der bisherigen Situation vonseiten des Auswärtigen Amtes vorausgegangen, verbunden mit der Bitte um eine Stellungnahme der Seekriegsleitung im Hinblick auf die Einstufung der Seeleute und einen eventuellen Austausch. Schreiben des AA an das OKW, OKM und RVM, 30. Juni 1942, ebd.

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dominating items in this respect refers to the promotion of seamen from class II into class I, and equally strange is the fact that Spokesman seemed to be under the impression that this was not a promotion but a relegation.«16 Offensichtlich löste die Statusänderung bei den Seeleuten Ängste aus, in Zukunft finanziell schlechter gestellt zu sein: »The Spokesman laboured under the idea that as class II, P/W they would get a special donation from the Canadian Government and when he was told that they had been lifted into class I and that no special pay was granted by the Canadian Government, he formed the idea that this was entirely due because they were now considered P/W class I. Needless to say I informed him about this matter which to a great extent changed his opinion.«17

Die Kategorie Prisoner of War, Class 1 sorgte bei den Betroffenen mitunter auch für Verwirrung, weil sie in dieser Form nirgends in der Genfer Konvention auftauchte. Zudem entstand aus der neuen Klassifizierung ein Streitpunkt über die in der britischen Verlautbarung angedeutete Möglichkeit, Schiffsoffiziere und Mannschaften wenn auch nicht in getrennten Lagern, so doch getrennt voneinander unterzubringen.18 Während die Schiffsoffiziere die Aussicht auf komfortablere oder doch zumindest separate Unterbringung begrüßten, protestierten die Mannschaften dagegen.19 Am schwersten wog dabei die (unbegründete) Sorge vieler Seeleute, aufgrund dieser Statusänderung bei einem Gefangenenaustausch nicht zum Zuge zu kommen. Noch im Februar 1945 informierte die deutsche Gesandtschaft in Bern das Auswärtige Amt in Berlin über diese Bedenken der Seeleute.20 Doch die einzige unmittelbare Auswirkung der ›Beförderung‹ zu Kriegsgefangenen erster Klasse war paradoxerweise eine Verringerung der Anzahl der monatlich erlaubten Briefe für Offiziere von zuvor vier auf drei und für Mannschaften von vier auf zwei.21

D IE V ERLEGUNG DER INTERNIERTEN S EELEUTE NACH K ANADA AB 1940 Die Kontaktaufnahme Großbritanniens mit Kanada bezüglich der Verschickung von Internierten ist vor allem in Studien zur Geschichte der internierten jüdischen Flüchtlinge eingehend thematisiert und zum Teil minutiös rekonstruiert worden.22 Die Ent-

16 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) am 3. und 4. September 1942. PA AA, Bern 4268. 17 Ebd. 18 Schreiben des CICR an das Auswärtige Amt, 17. Dezember 1942. ACICR, G 17/29. 19 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) am 27. und 28. Juli 1943. PA AA, Bern 4268. 20 Schreiben der deutschen Gesandtschaft in Bern an das Auswärtige Amt, Berlin, 8. Februar 1945. PA AA, R 127.941. 21 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 8. 22 Am ausführlichsten: Gillman, Peter/Gillman, Leni: »Collar the Lot!« How Britain interned and expelled its wartime refugees. London/Melbourne/New York 1980, S. 161-171; Held,

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wicklung lässt sich kurz wie folgt zusammenfassen: Am 30. Mai 1940 wandte sich der englische Secretary of State for the Dominions, Sir Thomas W.H.I. Caldecote, mit der Bitte um Unterstützung an Vincent Massey, High Commissioner für Kanada.23 Caldecote übermittelte die Bitte der britischen Regierung, baldmöglichst Gefangene aus England nach Kanada verschicken zu dürfen und bat um eine Stellungnahme Kanadas.24 Kanada war nicht die einzige ehemalige Kolonie, die sich mit dieser Frage konfrontiert sah; die Dominions Indien, Südafrika und Australien sagten ihre Hilfe zu und nahmen in der Folge zahlreiche Gefangene auf.25 Als Grund für diese Anfrage gab England an, im Falle einer deutschen Invasion nicht über genügend militärische Kapazitäten zu verfügen, um sowohl die Sicherheit der Gefangenenlager als auch die Landesverteidigung gewährleisten zu können.26 Diese »serious questions of security«27 waren es, die Kanada trotz anfänglich ablehnender Haltung schließlich nach überraschend kurzer Zeit dazu bewogen, Großbritannien eine Zusage zu geben und sich damit der Linie der anderen Dominions anzuschließen.28 In den folgenden Jahren nahm Kanada immer wieder Gefangene aus England auf. Erst im Winter 1944/45 hielten die zuständigen kanadischen Politiker die Kapazitätsgrenzen für erreicht und lehnten weitere Zugänge ab.29 Dass Großbritannien gegenüber Kanada vor allem mit Sicherheitsbedenken argumentierte, markierte einen Wendepunkt im britischen Umgang mit deutschen Gefangenen. Seit einer Kabinettssitzung Mitte Mai 1940 bildete das Thema den Gegenstand politischer Debatten, in denen das Problem steigender Gefangenenzahlen im Zusammenhang mit einer möglicherweise drohenden deutschen Invasion diskutiert wurde.30 Die Gefahr der sogenannten ›fünften Kolonne‹ spielte dabei eine große Rolle,31 und schließlich entschloss man sich nicht nur zu verschärften Internierungsmaß-

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30 31

Renate: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien. Deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs in britischem Gewahrsam. München 2008, S. 39-51. Ebd., S. 39. Ebd. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 197. Puckhaber, Annette: Ein Privileg für wenige. Die deutschsprachige Migration nach Kanada im Schatten des Nationalsozialismus. Münster 2002, S. 196. So der Wortlaut in Caldecotes Anfrage. Zitiert nach R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 39. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947 1976, S. 197; vgl. auch Seyfert, Michael: »His Majesty’s Most Loyal Internees«, hier S. 167. Der Schriftwechsel zwischen den britischen und kanadischen Regierungsstellen über die Aufnahme von weiteren 50.000 Gefangenen zog sich von September 1944 bis Januar 1945 hin. Siehe Documents on Canadian External Relations. Vol. 10, 1944-1945. Edited by John F. Hilliker. Ottawa 1987, S. 1102-1109. R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 33. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 22. Ängste vor der Zugehörigkeit deutscher Seeleute zu Hitlers fünfter Kolonne waren besonders ausgeprägt. Siehe etwa E. Hamburger: A peculiar pattern of the fifth column, S. 495-509. Neuere Forschungsergebnisse zur Einbeziehung der Seeleute in die NS-Auslandsorganisation bei Koop, Volker: Hitlers fünfte Kolonne. Die Auslands-Organisation der NSDAP. Berlin-Brandenburg 2009, S. 27-30.

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nahmen im eigenen Land, um feindliche Ausländer aus dem Verkehr zu ziehen, sondern auch zum Abtransport von sämtlichen internierten oder gefangenen Deutschen nach Übersee.32 Dieser Beschluss kann »nur vor dem Hintergrund der immer verzweifelter werdenden militärischen Lage Großbritanniens verstanden werden, die allen Beteiligten das Gefühl vermittelte, umgehend handeln zu müssen«, so Renate Held.33 Für Kanada als Bestimmungsland der Gefangenen sprach aus englischer Sicht vor allem, dass es dort genug Platz, Ressourcen und Nahrungsmittel gab, um eine längerfristige Unterbringung der Gefangenen sicherzustellen.34 In der Kommunikation mit der Schweiz als Schutzmacht Deutschlands über die geplanten Gefangenentransporte betonte Großbritannien, dass diese Maßnahme der Sicherheit der Gefangenen diente, denn schließlich würden sie durch die Verlegung aus der Gefahrenzone gebracht.35 Die deutsche Regierung über den bevorstehenden Transport zu informieren, war eine heikle Angelegenheit, denn »nur wenn Deutschland davon überzeugt werden konnte, dass die deutschen Kriegsgefangenen in Kanada ebenso wie in Großbritannien gemäß der Genfer Konvention versorgt würden, bestand die Chance, dass auch den britischen Kriegsgefangenen in Deutschland die ihnen zustehenden Rechte gewährt würden«36. In ihrer Zusage vom 10. Juni 1940 bot die kanadische Regierung Großbritannien Platz für 4000 Internierte und 3000 Kriegsgefangene an.37 In der Anfrage Großbritanniens war von 2633 deutschen Internierten der Kategorie A sowie von 1823 deutschen Kriegsgefangenen die Rede gewesen, die nur den Anfang der Verlegungen bilden sollten.38 Weitere Transporte von Internierten wurden in Aussicht gestellt.39 Die erwähnten Internierten der Kategorie A galten im dreiteiligen britischen Klassifizierungssystem für Ausländer als diejenigen, von denen ein potenzielles Sicherheitsrisiko ausging.40 Seeleute tauchen in den englischen Überlegungen aus dieser Zeit nicht als eigene Kategorie auf. Nur anhand von Vergleichsquellen lässt sich erschließen, ob es sich bei einzelnen Gefangenengruppen um Seeleute handelt.41

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R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 33. Ebd. S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 3. R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 45. Ebd. A. Puckhaber: Ein Privileg für wenige, S. 196. Ebd. Zur teils fehlerhaften Kommunikation Großbritanniens mit Kanada hinsichtlich der tatsächlichen Passagierzahlen siehe P. Gillman/L. Gillman: »Collar the Lot!«, S. 205-206. 39 A. Puckhaber: Ein Privileg für wenige, S. 196. 40 Kategorie B erfasste diejenigen, deren Loyalität gegenüber Großbritannien zweifelhaft war, Kategorie C repräsentierte die politisch unverdächtigen feindlichen Ausländer. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 21. 41 So erwähnt beispielsweise Joachim Osterheld eine Gruppe von 595 Deutschen, die im Zuge der Verlegung von Indien nach Kanada als Prisoners of War reklassifiziert wurden; aus anderen Quellen lässt sich belegen, dass es sich dabei um die in Dehra Dun internierten Seeleute von deutschen Frachtschiffen handelte. Osterheld, Joachim: British Policy towards German-speaking Emigrants in India 1939-1945. In: Voigt, Johannes H./Bhatti, Anil

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Aus Kanadas Zusage ergab sich eine Reihe von Fragen bezüglich der künftigen Verteilung von Kompetenzen und Zuständigkeiten. Großbritannien trat weiterhin als Gewahrsamsmacht auf, Kanada und die anderen Dominions fungierten als Agenten, die im englischen Auftrag und Interesse handelten.42 Man einigte sich darauf, dass Großbritannien gemäß dieses »agency principle«43 die Kosten für Transport, Unterhalt und Unterbringung der Gefangenen übernehmen würde.44 Der Aufenthaltsstaat Kanada sollte im Gegenzug für die Bewachung der Lager aufkommen und den Lohn bezahlen, den die Gefangenen für dort ausgeübte Arbeit erhielten.45 Im Oktober 1941 teilte das Foreign Office der Schweizerischen Abteilung für Fremde Interessen mit, dass Großbritannien weiterhin die Verantwortung für die Gefangenen tragen sollte, alle wichtigen Entscheidungen über die Bedingungen der Gefangenschaft jedoch von beiden Regierungen »in close collaboration«46 getroffen werden würden.

»S EEKRIEGSVERWICKLUNGEN « UND EIN » MOST EVENTFUL TRIP « Im Sommer 1940 fuhren die ersten Schiffe mit Kriegsgefangenen und Internierten in britischem Gewahrsam nach Kanada. In den folgenden Jahren wurden Zigtausende von England aus nach Kanada verschifft. Besonders für internierte Seeleute bildete England oft nur eine Zwischenstation auf dem Weg von Südostasien nach Kanada.47 Diese zuweilen als »Deportationsmaschinerie«48 bezeichnete Vorgehensweise war problematisch. Denn schnell wurde deutlich, dass die Genfer Konvention von 1929 gravierende Mängel aufwies, was den Schutz von Gefangenentransporten über See betraf.49 Bereits 1940, stärker aber noch in den folgenden Jahren erwiesen sich Torpedoangriffe von U-Booten oder der Beschuss von Gefangenentransporten aus

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47 48 49

(Hg.): Jewish exile in India 1933-1945. New Delhi 1999, S. 25-44, hier S. 39; J. Kestler: Kriegsgefangenschaft und Weltreise, S. 36. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 34. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 112. Page, Don: Tommy Stone and Psychological Warfare in World War Two. Transforming a POW Liability into an Asset. In: Journal of Canadian Studies 16 (1981), H. 3-4, S. 110120, hier S. 114. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 115; Waiser, Bill: Park Prisoners. The Untold Story of Western Canada’s National Parks, 1915-1946. Saskatoon/ Calgary 1995, S. 218. Kopie der Verbalnote des Foreign Office vom 17. Oktober 1941. PA AA, Bern 4248. Wie die deutsche Gesandtschaft in Bern gegenüber dem Auswärtigen Amt bemerkte, war Näheres zur Ausgestaltung dieser Zusammenarbeit dieser Verbalnote jedoch nicht zu entnehmen. Schreiben der deutschen Gesandtschaft Bern an das Auswärtige Amt, 6. November 1941. Ebd. R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 41. Ebd. XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 326.

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der Luft als ernstzunehmende Gefahr.50 Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden nach Schätzungen des CICR bei Schiffstransporten weltweit 15.000 Gefangene und Internierte durch U-Boot-Angriffe getötet.51 Doch auch aufgrund der Enge und der hohen Anspannung aller Beteiligten konnten auf den oftmals überfüllten Schiffen gefährliche Situationen entstehen.52 Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bemühte sich frühzeitig, jedoch weitgehend vergeblich um die Einführung einer international akzeptierten Regelung zum Schutz von Gefangenentransporten über See. Doch die Versuche scheiterten immer wieder am Widerstand der Krieg führenden Mächte. In der Ablehnung der wichtigsten Forderung des CICR, eine Kennzeichnung für Gefangenentransporte einzuführen, waren sich die Gegner stets einig.53 Die verhandelnden Parteien fürchteten vor allem den Missbrauch solcher Markierungen für den Transport von Truppen oder Munition. Am meisten Kopfzerbrechen verursachte der Vorschlag des CICR, Gefangenentransporte als unbewaffnet zu deklarieren, da man davon ausging, solche Schiffe würden allein aufgrund dieser Tatsache angegriffen werden, auch wenn dabei Gefangene der eigenen Nationalität zu Schaden kommen könnten.54 Das Misstrauen gegenüber dem Gegner sowie die Befürchtung, strategische Vorteile einzubüßen, waren ausschlaggebend dafür, dass im gesamten Kriegsverlauf keine Einigung zustande kam, die über die Beteuerung hinausging, alle verfügbaren Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen und Transporte wirklich nur dann durchzuführen, wenn sie unbedingt notwendig waren.55 Die Motivation Großbritanniens, eine Regelung zu erzielen, die einen effektiven Schutz für die Gefangenen bot, nahm zudem umgekehrt proportional zum englischen Kriegserfolg ab: »As the number of British prisoners-of-war at risk

50 Zur Entwicklung dieser Bedrohung ab 1941 siehe ebd., S. 319. Zum Problem des Gefangenentransports über See siehe Beaumont, Joan: Victims of War: The allies and the transport of prisoners-of-war by sea, 1939-45. In: Journal of the Australian War Memorial 2 (1983), S. 1-7. 51 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 320. 52 Vance, Jonathan Franklin William: Transportation by Sea. In: Ders. (Hg.): Encyclopedia of Prisoners of War and Internment. Millerton 2006, S. 411-412, hier S. 411. 53 J. Beaumont: Victims of War, S. 1. Aus der Kennzeichnung sollte hervorgehen, dass es sich bei dem Schiff um einen unbewaffneten Gefangenentransport handelte. XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 320. Ausführlich zu den Einwänden der Krieg führenden Staaten gegen die Vorschläge des CICR zur Kennzeichnung von Gefangenentransporten siehe Comité International de la Croix-Rouge: Protection des prisonniers de guerre transportés par voie de mer. Extrait de la Revue internationale de la Croix-Rouge 26 (1944), No. 303. Genf 1944, S. 4-12. 54 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 322. 55 J. Beaumont: Victims of War, hier S. 6. In einem Schreiben des CICR-Präsidenten Max Huber an das Auswärtige Amt vom 27. November 1944 teilte das Komitee mit, dass nach Auskunft von Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika und Indien »kein Gefangener nach Übersee gebracht werde, es sei denn, daß die Erfordernisse des Krieges diese Maßnahme erheischen.« Zudem versicherten die Commonwealth-Länder, »daß sie unter allen Umständen möglichst umfassende Maßnahmen zur Sicherung der Transporte ergreifen und weiterhin nach Möglichkeit vervollkommnen werden.« BArch-MA, RM 7/1906.

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declined, therefore, so too did the British interest in any general proposal for protecting all prisoners-of-war being transported by sea.«56 Weder in der Genfer Konvention von 1949 noch bei späteren Verhandlungen konnte das Problem zufriedenstellend gelöst werden.57 Die einzige nennenswerte Vorsichtsmaßnahme, die während des Zweiten Weltkriegs regelmäßig angewendet wurde, war die Bildung von Convoys oder Geleitzügen zur Begleitung von Transportschiffen durch Kriegsschiffe.58 Doch auch dies bot nur bedingt Schutz vor Angriffen: Der niederländische Frachter VAN IMHOFF, der nach einem japanischen Bombardement mit zahlreichen in Zellen eingeschlossenen internierten deutschen Seeleuten vor der Küste Sumatras versank, war als Teil eines Dreier-Convoys von Sibolga nach Indien unterwegs gewesen.59 Britische Convoys aus Afrika sammelten sich den ganzen Krieg hindurch in Freetown.60 Von dort brachen auch die Transporte von internierten Seeleuten aus Indien nach Kanada auf. Wenn bei der Zusammenstellung der Convoys Wartezeiten entstanden, wurden diese überbrückt, indem die Internierten in nahegelegenen provisorischen Zeltlagern untergebracht wurden.61 Einen Überblick über die Transporte, mit denen internierte deutsche Schiffsbesatzungen nach Kanada gebracht wurden, gibt Tabelle 11. Die Überfahrten der DUCHESS OF YORK, der ARANDORA STAR, der ETTRICK und der SOBIESKI nach Kanada sowie der DUNERA nach Australien sind in der Forschungsliteratur vergleichsweise gut dokumentiert, weil sich an Bord dieser Schiffe internierte Flüchtlinge und Emigranten befanden.62 Zwei dieser Transporte illustrieren die oben beschriebenen Gefahren einer Atlantiküberquerung im Jahr 1940 besonders eindrücklich.

56 J. Beaumont: Victims of War, S. 4. Hervorhebung im Original. 57 Beaumont, Joan: Protecting Prisoners of War, 1939-95. In: Moore, Bob/Fedorowich, Kent (Hg.): Prisoners of war and their captors in World War II. Oxford 1996, S. 277-297, hier S. 281. 58 Vgl. Stödter, Rolf: Geleit. In: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Erster Band. Aachener Kongress bis Hussar-Fall. Berlin 1960, S. 639-641. 59 Flor, Alex: In den Wogen der Zeitgeschichte: Der Untergang der Van Imhoff. In: Suara. Zeitschrift für Indonesien und Osttimor 18 (2008), H. 1, unpag. Beim Untergang der VAN IMHOFF im Jahr 1942 kamen 329 Personen ums Leben, darunter 43 deutsche Seeleute. Flor zufolge muss das Unglück immer wieder »als Beispiel für den billigen Versuch herhalten, die zahllosen monströsen Verbrechen der Nazis gegen die Taten aufzurechnen, die von Kriegsgegnern begangen wurden.« Ebd. Siehe auch: Das Totenschiff. Kriegsverbrechen. Van-Imhoff-Untergang. Der Spiegel vom 22.11.1965, S. 42-44. 60 Hague, Arnold: The allied convoy system 1939-1945. Its organization, defence and operation. St. Catharines 2000, S. 24. Zu den Convoy-Routen in den verschiedenen Phasen des Seekriegs vgl. Karten (unpag.) in Howarth, Stephen (Hg.): The Battle of the Atlantic 19391945. The 50th anniversary International Naval Conference. London 1994. 61 Ein solches Zeltlager beschreibt etwa Hans Peter Jürgens in seinen Memoiren. Vgl. H.P. Jürgens: Sturmsee und Flauten, S. 47. 62 Siehe etwa M. Seyfert: »His Majesty’s Most Loyal Internees«, S. 169.

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Tabelle 11: Schiffstransporte internierter deutscher Seeleute nach Kanada Schiff

Anzahl Seeleute

Abfahrt aus

29. Juni 1940

2096

Großbritannien

Gesunken am 2. Juli 1940

Unklar

Großbritannien

ETTRICK

13. Juli 1940

1713

Großbritannien

SOBIESKI

14. Juli 1940

982

Großbritannien

RANGITIKI

7. April 1942

22

Großbritannien

LETITIA

16. April 1942

787

Großbritannien

CAMERONIA

4. August 1942

753

Indien

16. September 1942

2

Afrika

23. Februar 1943

30

Großbritannien

10. Juli 1943

12

Großbritannien

12. Februar 1944

21

Großbritannien

EMPRESS OF SCOTLAND

4. Juli 1944

12

Großbritannien

EMPRESS OF SCOTLAND

31. Juli 1944

1

Großbritannien

20. September 1944

6

Australien

DUCHESS OF YORK ARANDORA STAR

MAURETANIA ANDES PASTEUR ILE DE FRANCE

KLIPFONTEIN Gesamt

Datum der Ankunft

6437

Quelle: Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), Appendix B. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*.

Am 2. Juli 1940 traf ein von dem deutschen U-Boot U-47 unter dem Kommando von Günther Prien abgefeuerter Torpedo die ARANDORA STAR, die sich als zweites Schiff seit Beginn der Transporte auf dem Weg nach Kanada befand.63 Das Schiff sank innerhalb kürzester Zeit. An Bord waren zwischen 1200 und 1500 deutsche, österreichische und italienische Gefangene, von denen 400 bis 600 ertranken. Die darüber in den Quellen und der Forschungsliteratur angegebenen Zahlen sind unterschiedlich,64 denn bereits kurz nach dem Untergang des Schiffes konnte von englischer Seite nicht

63 P. Gillman/L. Gillman: »Collar the Lot!«, S. 196. Gillman zufolge wusste Prien allerdigs nicht, dasss die ARANDORA STAR deutsche Gefangene an Bord hatte. Ebd., S. 201. 64 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 52.

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mehr genau rekonstruiert werden, welche und wie viele Gefangene sich an Bord befunden hatten. Nicht nur die hastige Vorbereitung des Transports durch die britischen Behörden, sondern auch der Tausch von Schiffsplätzen unter den Internierten machten es unmöglich nachzuvollziehen, wer sich auf dem Schiff befunden hatte.65 Die mitgenommenen Gefangenenakten waren mit dem Schiff untergegangen.66 Unklar war zunächst auch, wer diesen Transport eigentlich angeordnet hatte.67 Es gibt einige Berichte von Überlebenden, die sich zum Teil in den Akten des Auswärtigen Amtes, zum Teil in Publikationen über die Internierung jüdischer Emigranten in England und Australien oder in Privatsammlungen befinden.68 Die ausführlichste Darstellung des Untergangs findet sich bei Peter und Leni Gillman.69 Dort werden auch Berichte von Überlebenden dementiert, die seit dem Untergang in der Presse und bis heute in wissenschaftlichen Texten kursieren und denen zufolge das Verhalten deutscher Seeleute während des Schiffsuntergangs skrupellos und egoistisch gewesen sein soll: Bereits zu Beginn der Fahrt hätten die Seeleute die Rettungsboote begutachtet und die besten für sich ausgewählt. Nach dem Torpedotreffer seien sie zielstrebig vorgegangen: »They lowered the chosen lifeboats, and after evacuating as many of their men as they could at high speed, waited in the water for the others, hitting over the head any ›stranger‹ who attempted to board their lifeboat.«70 Der genaue Ablauf der Rettungsversuche an Bord der ARANDORA STAR lässt sich nicht mehr rekonstruieren, doch es ist durchaus denkbar, dass die Seeleute dabei eine bedeutende Rolle einnahmen. Ein Großteil der an Bord befindlichen Seeleute hatte erst kurz zuvor die Versenkung ihrer eigenen Schiffe miterlebt, deren Ablauf die Besatzungen in der Regel vorher mindestens einmal geübt hatten. Sie beherrschten also den Umgang mit Rettungsbooten und wussten auch, dass es im Ernstfall keine Zeit zu verlieren galt. Mehreren Berichten zufolge versuchte der Kapitän des deutschen Dampfers ADOLF WOERMANN, seinem Kollegen Moulton, dem Kapitän der ARANDORA STAR, in dieser schwierigen Situation zur Seite zu stehen; beide gingen mit dem Schiff unter.71 Die im Nachgang des Unglücks in den britischen Medien verbrei-

65 P. Gillman/L. Gillman: »Collar the Lot!«, S. 209; Kochan, Miriam: Britain’s Internees in the Second World War. London 1983, S. 85. 66 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 52. 67 M. Kochan: Britain’s Internees in the Second World War, S. 85. 68 In einem Brief an seine Familie vom 14. September schildert Arno Seeliger ausführlich den Untergang des Schiffes und seine Rettung. PA AA, R 127.664. Ein weiterer Bericht eines überlebenden Deutschen findet sich in PA AA, R 146.442. Einen publizierten Bericht von Erwin Frenkel enthält Patkin, Benzion: The Dunera Internees. Stanmore/Melbourne 1979. Ein handschriftlicher Bericht des deutschen Seemannes Leo Meinhardt wurde mir von Günther Spelde, Bremerhaven, zur Verfügung gestellt: Bericht von Leo Meinhardt über die Zeit seiner Internierung im 2. Weltkrieg von April 1940 bis September 1946. o.J. [etwa 1990]. 69 P. Gillman/L. Gillman: »Collar the Lot!«, S. 185-201. 70 Erinnerungsbericht von Erwin Frenkel. In: B. Patkin: The Dunera Internees, S. 21-22. Wortwörtlich findet sich dieser Bericht (ohne Angabe der Quelle) auch in Paula Jean Drapers Studie über die in Kanada internierten Flüchtlinge. P.J. Draper: The accidental immigrants (1983), S. 11. 71 P. Gillman/L. Gillman: »Collar the Lot!«, S. 199.

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teten Gerüchte über das gewalttätige Verhalten deutscher Seeleute waren, so Peter und Leni Gillman, Teil einer verschleiernden Berichterstattung, die gravierende Mängel an Bord des britischen Schiffs verschwieg und stattdessen die Schuld für die hohen Opferzahlen anderswo suchte.72 Denn die ARANDORA STAR war überfüllt und hatte nachweislich nicht genügend Boote und Rettungsflöße für alle Passagiere dabei. Zudem war der Rettungsbooteinsatz nicht geübt worden. Die hohe Zahl der Todesopfer ist Gillman zufolge deshalb wohl eher auf eine Kombination aus der Explosion und den genannten Faktoren zurückzuführen als auf brutales Verhalten der deutschen Gefangenen.73 Den Untergang der ARANDORA STAR umgibt auch sonst viel Nebulöses. So informierte das Foreign Office erst zwei Tage später die Schweiz als Schutzmacht Deutschlands über den Schiffsuntergang.74 In den Benachrichtigungen des Auswärtigen Amtes an die Angehörigen der Ertrunkenen wurde wohlweislich verschwiegen, dass die Unglücksursache ein deutscher Torpedoangriff war; dort heißt es schlicht, die ARANDORA STAR habe »Schiffbruch« erlitten oder sei »infolge Seekriegsverwicklungen« untergegangen.75 Obwohl die britische Regierung eine genaue Untersuchung des Vorfalls anordnete,76 änderte sich grundsätzlich nichts an den Verlegungspraktiken der Briten.77 Kurz nach ihrer Rückkehr nach England wurden die Überlebenden wieder eingeschifft; ein Teil verließ England bereits nach wenigen Tagen erneut in Richtung Kanada, die größte Gruppe fuhr eine Woche später auf der DUNERA nach Australien.78 Ein zweiter Vorfall, der in vielen Berichten thematisiert wird, zeigt, wie schnell die Stimmung auf einem Gefangenentransport kippen konnte und welch große Rolle die Angst vor dem Gegner in der Interaktion zwischen Gefangenen und Bewachern spielte. Die Reise der überfüllten DUCHESS OF YORK war von Beginn an spannungsgeladen, da internierte Flüchtlinge, ›reichstreue‹ Deutsche und ihre englischen Bewacher auf engstem Raum zusammenleben mussten. Dass die Internierten nicht über das Ziel und die Dauer der Reise informiert worden waren, sorgte zusätzlich für schlechte Stimmung unter den Passagieren.79 Doch erst durch ein erschreckendes Ereignis entwickelte sich die Überfahrt für die Internierten zu einem »most eventful trip«.80 Was genau an Bord der DUCHESS OF YORK geschah, wird von verschiedenen Augenzeugen widersprüchlich geschildert.81 Sicher ist, dass der internierte deutsche

72 Auf die brodelnde Gerüchteküche nach der Rückkehr der Überlebenden nach England verweist auch M. Kochan: Britain’s Internees in the Second World War, S. 85. 73 P. Gillman/L. Gillman: »Collar the Lot!«, S. 200. 74 R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 50. 75 Todesmitteilungen des Auswärtigen Amtes an Angehörige der Opfer nach dem Untergang der ARANDORA STAR. PA AA, R 146.442. 76 M. Kochan: Britain’s Internees in the Second World War, S. 86. 77 R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 51. 78 Walter, Hans-Albert: Deutsche Exilliteratur 1933-1940. Band 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 1988, S. 231. 79 R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 46-47. 80 P.J. Draper: The accidental immigrants (1983), S. 17. 81 Hier wurden folgende Versionen des Berichts herangezogen: Telegramm der Sonderabteilung der Schweizerischen Gesandtschaft in London an die deutsche Gesandtschaft in Bern.

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Heizer Marquart auf Befehl des Kapitäns Savage von einem englischen Wachposten erschossen wurde. Durch die Wucht des Schusses wurden sieben weitere Männer verletzt.82 Es bleibt jedoch unklar, ob eine drohende Meuterei deutscher Seeleute der Auslöser für den Schießbefehl war oder die Tatsache, dass die Gefangenen aufgrund der Überfüllung das Deck zu langsam räumten, wie in deutschen Darstellungen betont. In einem kanadischen Zeitungsartikel über einen anderen, ohne Zwischenfälle verlaufenen Gefangenentransport wird die Angst der Wachen vor einer Meuterei der Seeleute ausführlich thematisiert: »[…] every precaution was taken to see they did behave, since if they broke loose and overpowered the guards they would have been able to take over and operate the ship«83. Die Schießerei auf der DUCHESS OF YORK löste in Großbritannien eine öffentliche Diskussion um die Deportationspolitik aus.84 Renate Held zufolge wurde der Vorfall dort auch als deutlicher Hinweis auf die schlechte Vorbereitung der eigenen Gefangenentransporte aufgefasst.85 Auf Initiative des Foreign Office wurden die Ereignisse, auch unter Berufung auf das Prinzip der Reziprozität, gründlich analysiert: »Man kam zu dem Schluss, dass es aus Sicherheitsgründen nicht wünschenswert gewesen sei, den Kriegsgefangenen vorab das Ziel ihrer Reise mitzuteilen – ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konvention. Captain Savage selbst wurde vor ein Kriegsgericht gestellt, das ihn jedoch freisprach.«86 Großbritanniens Vorgehensweise bei der Verschickung von Gefangenen nach Übersee erfuhr im Nachhinein viel Kritik, vor allem im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Internierung deutscher enemy aliens. Zu einem vernichtenden Urteil über die Organisation der Verlegungen im Jahr 1940 kommt etwa François Lafitte: »This showed clearly – out of the mouths of the Ministers themselves – that the War Office, the Home Office and Mr. Chamberlain between them made a complete mess of the job of selecting people for deportation in a sensible and democratic way and of organizing the overseas transport of less than 8,000 men.«87

82 83 84

85 86 87

PA AA, R 127.907. Bericht eines deutschen Kapitäns in den Akten des Auswärtigen Amtes. Ebd. Bericht des Kapitäns Oskar Scharf über seine Internierung und die vorzeitige Repatriierung. PA AA, R 127.557. Wiedergabe eines Zeitzeugenberichts bei P.J. Draper: The accidental immigrants (1983), S. 18; Spier, Eugen: The Protecting Power. London 1951, S. 139-140. Wiedergabe des Berichts des deutschen Generals Friemel bei R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 46-47; Ricklefs, Heinz: Erinnerungen 1919 bis 1946. Ms. Bremerhaven o.J., S. 133-135. Telegramm der Sonderabteilung der Schweizerischen Gesandtschaft in London an die deutsche Gesandtschaft in Bern. PA AA, R 127.907. 800 German Seamen Interned in Canada. Merchant Sailors Brought From Far East Where Their Ships Immobilized Long Ago. The Globe and Mail vom 14.08.1942. In der internierungskritischen Literatur werden die Verlegungen der Gefangenen aus England häufig als »Deportationen« bezeichnet, etwa auch bei R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 41; H.-A. Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1940, S. 230. R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 46. Ebd., S. 48. Lafitte, François: The Internment of Aliens. With a new Introduction by the Author. London 1988, S. 13.

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I NTERNIERUNGSLAGER FÜR DEUTSCHE IN K ANADA

S EELEUTE

Sechs Tage bevor Kanada Deutschland am 10. September 1939 den Krieg erklärte, ernannte die kanadische Regierung den Brigade-General Edouard de Bellefeuille Panet zum Director of Internment Operations.88 In dieser Funktion war er dem Secretary of State, dem Minister of Justice und dem Department of National Defence verantwortlich.89 Sein Assistent und späterer Nachfolger war Lieutenant-Colonel Hubert Stethem.90 Zu diesem Zeitpunkt ging es beim Thema Internierung aus Sicht der kanadischen Regierung noch nicht so sehr um Kriegsgefangene, sondern vielmehr zunächst um Kanadier, die als Nazi-Sympathisanten galten oder anderweitig als politisch verdächtig eingestuft wurden.91 Weil die Zeit nicht ausreichte, um gänzlich neue Lager zu bauen, versuchte man zumindest übergangsweise, bestehende Gebäude für den Gebrauch als Internierungslager umzurüsten, indem man sie mit Heizung, Entwässerung und elektrischem Licht ausstattete. Einerseits sollten potenzielle Camps möglichst in der Nähe einer Eisenbahnlinie liegen, um den An- und Abtransport der Insassen zu erleichtern, andererseits sollten die Lager sich auch in abgelegenen Gegenden befinden, um Fluchtversuche zu erschweren.92 Ein Dreivierteljahr später, im Juni 1940, stieg der Bedarf an Unterkünften für Kriegsgefangene und Internierte sprunghaft an, nachdem Kanada sich bereit erklärt hatte, Gefangene aus England aufzunehmen. Obwohl mit Kananaskis und Petawawa schon zwei Lager für enemy aliens existierten,93 reichten die Kapazitäten bei Weitem nicht aus, wie Martin Auger betont: »Canada was unprepared to accommodate this influx of prisoners and lacked enough proper detention facilities. […] The immediate result was the creation of temporary internment centres in the province of Quebec, where the internees disembarked.«94 Auch das Gepäck der Gefangenen stellte die Kanadier vor logistische Probleme. Bis April 1941 hatten sich 60 bis 70 Tonnen bzw. 2000 Stücke Gepäck angesammelt, die zunächst in einem Lagerhaus in St. John, New Brunswick, eingelagert wurden.95 Dauerhafte Unterbringungsmöglichkeiten sollten

88 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada and their artifacts, S. 9. Zur Laufbahn Panets siehe J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 17. 89 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada and their artifacts, S. 9. 90 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947S. 17; C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada and their artifacts, S. 9. 91 Schreiben des Provincial Secretary [Ontario], H.C. Nixon, an Colin Campbell, Minister of Public Works, 15. September 1939. LAC, RG 24, 6586, File 4-3-1. Die rechtliche Grundlage für die Internierung von enemy aliens wurde Anfang September 1939 mit dem War Measures Act sowie den Defence of Canada Regulations geschaffen. J. Stanton: Government Internment Policy, S. 209-210. 92 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 23; Granatstein, Jack L./Oliver, Dean F.: The Oxford Companion to Canadian Military History. Don Mills 2011, S. 344. 93 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 20. 94 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 23. 95 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 55.

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nach Meinung der kanadischen Politiker zunächst nur in Ontario, Quebec und New Brunswick entstehen, in sicherer Entfernung zu den großen deutschen Bevölkerungsgruppen im Westen Kanadas.96 Bei der Umsetzung der Ausbauplanungen stand Kanada unter enormem Zeitdruck: »A list of likely places was drawn up, which if found satisfactory, could accommodate about 9000. A budget amounting of $5 million was allotted which would take care of 6000 prisoners of war for six months.«97 Es galt, in aller Eile Unterkünfte für die Aufnahme von Gefangenen vorzubereiten. Oft blieben nur zwei Wochen Zeit, um ein Lager bezugsfertig zu machen.98 Dennoch gelang es den Kanadiern, im Jahr 1941 insgesamt 13 neue Lager zu eröffnen.99 Drei davon dienten lediglich übergangsweise als Lager und bestanden nur etwa ein Jahr lang (Cove Fields und Trois Rivières in Quebec sowie Red Rock in Ontario), fünf der Neugründungen wurden bis 1946 genutzt. Bis 1945 war die kanadische Regierung ständig damit beschäftigt, Lager einzurichten oder zu erweitern, um die schnell wachsende Zahl der Kriegsgefangenen und Internierten in dauerhaften Lagern unterbringen zu können.100 Zusätzliche Schwierigkeiten ergaben sich dabei aus der Abwicklung des Gefangenen-Transfers mit England: »Upon taking stock of these prisoners, the Canadian Government found that the types of prisoners promised in the despatches from England had not been forthcoming. The number of internees was greater than the number expected, and the number of combatant prisoners was correspondingly less.«101 Erst als die Seeleute schon in Kanada angekommen waren, stellte sich heraus, dass in England keine einheitlichen Kriterien für die Auswahl der nach Kanada zu verschickenden Gefangenen festgelegt worden waren.102 Eine letzte Ausbauphase begann mit dem Jahr 1942, als immer mehr Gefangene aus England nach Kanada gebracht wurden. Wie bereits erwähnt, bedeutete das für die dortigen Behörden aufgrund der schieren Menge einen immensen bürokratischen Aufwand – mit ein Grund dafür, dass im Jahr 1943 schließlich die Verwaltungsstruktur an die veränderten Bedürfnisse angepasst wurde. Vom 1. Januar 1943 an war innerhalb des Department of National Defence das Directorate of Prisoners of War (DPW) unter der Leitung von Colonel H.N. Streight für alle Kriegsgefangenen- und Interniertenangelegenheiten zuständig.103 Die Headquarters des jeweiligen Military District hatten die Aufsicht über alle Lager einer Provinz.104

96 97 98 99 100 101 102 103 104

M. Auger: Prisoners of the home front, S. 23. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 50-51. Schreiben E. de B. Panet, Director of Internment Operations, an den Deputy Minister, Department of National Defence, Ottawa, 13. Juni 1940. LAC, RG 24, 6586, File 4-3-3. Vgl. Tabelle bei M. Auger: Prisoners of the home front, S. 153. So wurden nach den 13 Neugründungen des Jahres 1940 auch 1941 (4), 1942 (1), 1943 (2), 1944 (2) und 1945 (1) neue Lager eröffnet. Vgl. Tabelle bei Auger. Ebd. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 54. Ebd. C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 11. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24.

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Aufgrund der hastigen Erstverteilung der Gefangenen auf die verfügbaren Lager und der zunächst teilweise provisorischen Unterbringung gehörte es zum Tagesgeschäft dieser Behörden, die Insassen immer wieder zu verlegen und umzuverteilen.105 Diese Reorganisationen betrafen auch die Seeleute. Nachdem sie nach und nach von den Flüchtlingen und Zivilinternierten separiert worden waren, wurden sie ab 1942 zusammen mit ihren Berufskollegen untergebracht.106 Doch in keinem der 25 permanent camps in Quebec, Ontario, Alberta und New Brunswick waren durchgehend deutsche Seeleute untergebracht.107 Nur in 13 der Lager befanden sich überhaupt Seeleute (vgl. Tabelle 12), die aber nur phasenweise dort wohnten; dazwischen waren die Camps mit anderen Gruppen von Gefangenen (deutsche Soldaten, enemy aliens) belegt. Die baulichen Gegebenheiten der Lager in Kanada waren sehr unterschiedlich.108 Dennoch bemühte man sich, sie weitgehend vergleichbar auszustatten: »Camps consisted of standard barrack camps and of buildings such as schools, sanatoriums, penitentiaries, etc. […] All camps had standard barbed wire fences with watchtowers.«109 In allen Lagern gab es eine Küche, ein Lagerhospital und eine Kantine, also einen kleinen Laden.110 Die Essensrationen orientierten sich an denjenigen der kanadischen Armee. In vielen Quellen wird die Verpflegung der internierten Seeleute nicht nur als reichlich, sondern auch als besonders reichhaltig und schmackhaft beschrieben, was der hohen Zahl an internierten Schiffsköchen zu verdanken war, die vor dem Krieg zum Teil auf großen Passagierschiffen tätig gewesen waren.111 Hin-

105 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 48. 106 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 35. Zur Separierung der Flüchtlinge von den sogenannten »reichstreuen« Deutschen siehe auch M. Seyfert: »His Majesty’s Most Loyal Internees«, S. 170. 107 Neun Lager befanden sich in der Provinz Quebec, elf in Ontario, vier in Alberta und eines in New Brunswick. Acht der 25 Camps wurden bereits während des Krieges wieder aufgelöst. In Ontario waren dies die Lager Espanola, Fort Henry/Kingston, Mimico und Red Rock; in der Provinz Quebec wurden die Lager Île-aux-Noix, Cove Fields, Île-Ste-Hélène und Trois-Rivières vor 1945 geschlossen. Die übrigen Camps hatten bis über das Kriegsende hinaus Bestand, am längsten – bis 1947 – das Lager Hull in Quebec. Vgl. hierzu die Tabelle bei M. Auger: Prisoners of the home front, S. 153. 108 Vgl. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 5-6. 109 Ebd. 110 Robel, Hergard: Vergleichender Überblick. In: Maschke, Erich (Hg.): Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs. Eine Zusammenfassung. München 1974, S. 231-276, hier S. 242. 111 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 13. Laut diesem Bericht bekam sogar jeder Gefangene an seinem Geburtstag einen Kuchen (ebd.). Eine leichte Kürzung der Armee- und damit auch der Gefangenenrationen gab es im Dezember 1944. Im Juli 1945 wurden die Verpflegungsrationen für Gefangene herabgesetzt, während die der Guards und des Lagerverwaltungspersonals gleich blieben. Die Reduktion betraf vor allen Dingen die Fleisch- und Buttermengen. Siehe Scale of Rations R.S. 1 und R.S. 23 in Ebd. (Anhang). Dennoch war, über die ganze Zeit betrachtet, eine Gewichtszunahme bei den Lagerinsassen zu verzeichnen. Ebd., S. 12.

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sichtlich ihrer Belegungsstärke sind die Lager, in denen deutsche Seeleute untergebracht waren, eher als klein zu bezeichnen, vor allem im Vergleich zu den Soldatenlagern Lethbridge und Medicine Hat, die je 12.000 Insassen fassten. Mit Ausnahme von Monteith und Red Rock hatten die Seemannslager eine Kapazität von weniger als 1000 Mann.112 Tabelle 12: Internierungslager für deutsche Seeleute in Kanada Nr.

Camp

Buchstabe

Belegungszeitraum Seeleute

10

Chatham

--

Mai 1944 bis November 1946

22

Mimico/ New Toronto

M

Juli 1940 bis April 1944

23

Monteith

Q

November/Dezember 1943 bis November 1946

31

Kingston/ Fort Henry

F

Juni 1940 bis September 1940, Dezember 1941 bis November 1943

32

Hull

H

September 1943 bis März 1947

33

Petawawa

P

August 1942 bis Februar 1944

40

Farnham

A

April 1942 bis November 1942

42

Sherbrooke/ Newington

N

November 1942 bis Juni 1946

45

Sorel

--

Juni 1945 bis März 1946

70

Fredericton/ Ripples

B

Juli 1941 bis August 1945

100

Neys

W

November 1941 bis September 1944

130

Kananaskis

K

Juli 1941 bis November 1943

--

Red Rock

R

Juli 1940 bis Oktober 1941

Quellen: Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), Lagerliste in Appendix A. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*; Auger, Martin F.: Prisoners of the home front. German POWs and »Enemy Aliens« in Southern Quebec, 1940-46 (Studies in Canadian Military History, 9). Vancouver 2005, S. 153-158. Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) am 22. und 23. November 1943. PA AA, Bern 4268.

112 Vgl. die Übersicht in Ebd. Appendix A.

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Von 1939 bis 1941 wurden die Lager mit dem Anfangsbuchstaben der nächstgelegenen Stadt bezeichnet, etwa P für Petawawa oder M für Mimico.113 Im Zuge der Vergrößerung des Lagerbestandes wurden ab Oktober 1941 die Buchstaben zur Lagerbenennung durch ein Nummernsystem ersetzt. Die Zahl bestand aus der Nummer des jeweiligen Military District (MD), in dem das Camp lag, und aus der fortlaufend vergebenen Lagernummer innerhalb dieses Distrikts.114 Die Nummer in Kombination mit der konkreten geografischen Lage des Camps unterlag der Geheimhaltung.115 Die Analyse im Hauptteil der Arbeit bezieht sich hauptsächlich auf die großen, frühzeitig und lange genutzten Lager in Mimico/New Toronto (M/22), Monteith (Q/23), Kingston (F/31), Petawawa (P/33), Farnham (A/40), Sherbrooke/Newington (N/42), Fredericton/Ripples (B/70), Neys (W/100) und Kananaskis (K/130). Abbildung 1: Standorte der Internierungslager für deutsche Seeleute in Kanada

Quelle: Intermap.

113 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 48. 114 Nach dem gleichen System wurden die army training centres nummeriert. Siehe hierzu Ozorak, Paul: Abandoned Military Installations of Canada. Vol. I: Ontario. [Ottawa] 1991, author’s notes, unpag. Kanada war damals in elf Military Districts mit den Nummern 1 bis 7 und 11 bis 13 eingeteilt, deren Headquarters sich in London (1), Toronto (2), Kingston (3), Montreal (4), Quebec City (5), Halifax (6), St. John (7), Winnipeg (10), Victoria (11), Regina (12) und Calgary (13) befanden. Vgl. hierzu Karte Nr. 3 bei Stacey, C.P.: Six Years of War. The Army in Canada, Britain and the Pacific. Ottawa 31957, S. 178-179. 115 Daily Routine Orders vom 15. Oktober 1941, Monteith. LAC, RG 24, 15392.

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Mimico/New Toronto (M/22) Das Camp Mimico befand sich auf dem Gelände des Ontario Reformatory,116 einer sogenannten Industrial Farm,117 im Südwesten Torontos. Das Gelände mit etwa 105,2 Hektar Land wurde den kanadischen Bundesbehörden von Ontarios Provinzregierung zur Verfügung gestellt.118 Zusätzlich zum bestehenden Steingebäude des Reformatory wurden Baracken errichtet. Ende Juni 1940 waren diese Bauarbeiten noch im Gange; bereits am 19. Juli trafen die ersten Insassen ein.119 Im September 1940 bot sich dem CICR-Delegierten Ernest L. Maag ein durchweg positiver Eindruck von der Unterbringung: »The prisoners are very well housed, in well constructed permanent buildings. The dormitories are well aired, well lighted, and the beds are of standard steel construction, with steel springs, mattresses, woolen blankets, no sheets. […] The washing rooms, showers and toilets are clean and of sufficient numbers. Hot and cold water is available for washing and showers. The toilets are of the Water-Closet type.«120

1941/42 wurden dem Lager noch zwei Baracken hinzugefügt; in den Schlafsälen dieser neuen Gebäude schliefen je 60 Mann.121 Mimico besaß eine Kapazität von 500 Insassen.122 Die hölzernen Baracken ließen sich nicht ganz zufriedenstellend beheizen, in den Steingebäuden hingegen waren Dampfheizungen vorhanden.123 Im Außenbereich des Lagers gab es ein Fußballfeld.124 Im Dezember 1940 wurde das Lager Mimico in New Toronto umbenannt,125 allerdings tauchen auch in späteren Quellen oft beide Bezeichnungen auf. Dem Lager zugeordnet waren zwei Works Projects, die zwei Meilen entfernte Donnel and Mudge Tannery in New Toronto und die Erie Peat Company in Port Colborne, Ontario.126 Die in Mimico internierten Seeleute wurden

116 117 118 119 120 121 122 123 124 125

126

P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 235. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 51-52. Zum Fortschritt der Bauarbeiten vgl. War Diary des Lagers Mimico, Folder 1, Vol. 1. LAC, RG 24, 15391. Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Mimico/New Toronto (M/22) vom 22. September 1940. LAC, RG 24, 11249, File 9-5-3-22. Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten in Mimico/New Toronto (M/22) vom 6. Februar 1942. ACICR, C SC, Canada. Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 18. Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Mimico/New Toronto (M/22) vom 22. September 1940. LAC, RG 24, 11249, File 9-5-3-22. Ebd. War Diary Camp Mimico/New Toronto, Dezember 1940, Folder 1, Vol. 6, 6. Dezember 1940. LAC, RG 24, 15391. New Toronto ist der Name der westlich an Mimico angrenzenden Gemeinde; heute gehören beide zur Greater Toronto Area. Übersicht über die geografische Lage der Zivilinterniertenlager in Kanada. PA AA, Bern 4280.

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Ende November 1943 nach Monteith verlegt.127 Das Camp wurde noch bis zum April 1944 als Gefangenenlager genutzt.128 Ab dem Jahr 1945 diente es erneut als Unterkunft für die Internierten, die in der Gerberei in Toronto arbeiteten.129 Monteith (Q/23) Auch das 35 Meilen südlich von Cochrane »in settled country«130 gelegene Lager Monteith nutzte das Gelände einer ehemaligen Industrial Farm.131 Wie die Anlage in Mimico war es der kanadischen Bundesregierung von der Regierung Ontarios zur Verfügung gestellt worden.132 In der Nähe verlief eine Bahnstrecke.133 Wie in allen kanadischen Lagern wurde auch das Klima dieser Gegend in den Besuchsberichten immer wieder als gesund bezeichnet.134 Während das Lager Monteith Ende September 1940 lediglich knapp 550 Insassen fasste,135 besaß es am Ende des Krieges durch mehrfache Um- und Ausbaumaßnahmen die größte Kapazität der in Ontario gelegenen Camps. Es bestand vom 14. Juli 1940 bis Dezember 1946 und war damit zugleich das am längsten genutzte Lager in Ontario.136 Vom Beginn der Nutzung als Lager bis Oktober 1940 war ein Teil der Bewohner noch in Zelten untergebracht; im Lauf der Zeit wurden Holzbaracken gebaut.137 Die Hauptgebäude bestanden aus Stein und waren mit Dampfheizung ausgestattet. Alle Wohngebäude verfügten über elektrisches Licht. In den Schlafsälen stand das Standard-Modell von Stockbetten mit Stahlrahmen, das in allen Internierungslagern und auch für die Soldaten der kanadischen Armee verwendet wurde.138 Im Jahr 1941 wurden Erweiterungsarbeiten in Angriff genommen, bei denen auch Gefangene als Arbeitskräfte eingesetzt wurden.139 Im Oktober 1941 konnte der Schweizer Konsul Oertly bereits Folgendes berichten:

127 War Diary Mimico/New Toronto, Folder 3, Vol. 41, 18. November 1943. LAC, RG 24, 15391. 128 Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 18. 129 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in New Toronto (Camp de travail No. 23) vom 15. Februar 1945. ACICR, C SC, Canada. 130 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag vom 29. September 1940. LAC, RG 24, 11249, File 9-5-3-23. 131 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24. 132 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 53. 133 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Monteith (Q/23) vom 29. September 1940. LAC, RG 24, 11249, File 9-5-3-23. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 18. 137 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Monteith (Q/23) vom 29. September 1940. LAC, RG 24, 11249, File 9-5-3-23. 138 Ebd. 139 War Diary Monteith (Q/23), Folder 1, Vol. 9, 4. September 1941. LAC, RG 24, 15392.

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»Grosse Neubauten sind seit meinem letzten Besuch errichtet worden, naemlich 21 Barracken [sic] 135 Fuss lang und 24 Fuss breit, fuer je 80 Mann, total 1680 Mann, weiter eine Schulbarracke [sic], eine Unterhaltungshuette, ein Hospital und eine Speisehuette fuer 800 Mann. Es ist dies ein neuer Lagerbezirk, der in etwa drei Wochen bezogen wird. Der bisherige Lagerbezirk wird dann den Bewachungsmannschaften zur Verfuegung gestellt.«140

Der neue Compound wurde bereits kurze Zeit später von den Internierten bezogen, die bislang im älteren Teil gewohnt hatten.141 Ab Dezember 1943 wurden in Monteith nach und nach alle deutschen Seeleute zusammengezogen.142 Schiffsoffiziere wohnten separat von den Mannschaften. Für die internierten Seeleute war Monteith meist die letzte Station vor der Repatriierung. Zu Beginn der Verlagerung deutscher Seeleute nach Monteith fasste das Lager 1800 Insassen; nach einer erneuten Erweiterung im Jahr 1944 konnte es 4000 Personen aufnehmen.143 Zu diesem Zeitpunkt entsprach auch die Ausstattung mit Gebäuden dem Bedarf eines so großen Lagers; jeweils ein Gebäude wurde als Bibliothek, Übungsraum für das Orchester, Werkstatt bzw. Atelier für Kunsthandwerker und Künstler sowie Trainingsraum für Sportler genutzt. Zudem gab es ein Schwimmbad.144 Eine Beschreibung des Lagers von 1944 aus der Feder des Auswärtigen Amtes liest sich beinahe wie Werbung für ein Urlaubsziel: »Dieses landschaftlich besonders schön gelegene Lager im nördlichen Kanada ist vollkommen neu eingerichtet. Es liegt in der Provinz Ontario, nahe Monteith. Hier bietet ein weites Gelände gute Bewegungsfreiheit. Die internierten Seeleute sind in großen hellen 240-Mann-Hütten untergebracht. Warmluftheizung, saubere Wasch-, Bade- und Toiletteneinrichtungen sind vorhanden. Die Gesamtanlage des Lagers ist eine durchaus großzügige.«145 Ab Januar 1946 wurde Monteith als »central clearing Depot«146 für die in der Osthälfte Kanadas untergebrachten Gefangenen genutzt; Internierte kamen zudem auf ihrem Rückweg von Arbeitseinsätzen bzw. zwischen zwei Einsätzen nach Monteith und brachen von hier aus zur Repatriierung über Halifax auf.147 Ende Mai 1946 befanden sich 6306 Gefangene in Monteith.148 Anfang Dezember wurde das Lager geschlossen149 und im Mai 1947 an die Provinz Ontario zurückgegeben. Die Gefangenenunterkünfte sind nicht mehr erhalten.150

140 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls Oertly im Lager Monteith (Q/23) am 1. Oktober 1941. PA AA, Bern 4265. 141 War Diary Monteith, Folder 1, Vol. 10, 8. Oktober 1941. LAC, RG 24, 15392. 142 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 8. 143 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 248. 144 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Monteith (Q/23) vom 16./17. Mai 1944. PA AA, R 127.705. 145 Aus einem Antwortschreiben des Auswärtigen Amtes an Angehörige eines Besatzungsmitglieds der ESSEN, 20. März 1944, über das Lager Monteith. PA AA, R 127.900. 146 War Diary Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 61, 15. Januar 1946. LAC, RG 24, 15393. 147 Ebd. 148 War Diary Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 65, 31. Mai 1946. LAC, RG 24, 15393. 149 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 248. 150 P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 133.

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Kingston/Fort Henry (F/31) Fort Henry in Kingston, Ontario, war bereits frühzeitig als Lager im Gespräch.151 Die 1812 errichtete und in den Jahren 1832 bis 1837 rekonstruierte Festungsanlage hatte im 19. Jahrhundert zur Verteidigung des Rideau Canal gedient. Fort Henry liegt in unmittelbarer Nähe des Royal Canadian Military College152 am Ufer des Lake Ontario zwischen der Stadt Kingston und dem Ausfluss des St. Lawrence River aus dem See. Das sternförmig angelegte, aus Kalkstein erbaute Gebäude153 gilt als größte Festung westlich von Quebec City.154 Im Zusammenhang mit der Nutzung als Museum seit 1938 war die bis dahin lange Zeit leer stehende Anlage renoviert worden. Im Jahr 1940 wurde das Fort innerhalb kürzester Zeit behelfsmäßig als Lager eingerichtet.155 Am 29. Juni 1940 kamen 600 Seeleute in Kingston an und am 15. August 1940 übernahm die Veterans Guard of Canada die Bewachung von den zuvor dort eingesetzten Mitgliedern des Princess of Wales Own Regiment.156 Die Internierten waren im unteren Teil des Forts in 30 Kasematten untergebracht, die je 20 Personen fassten.157 Insgesamt bot die Anlage also 600 Internierten Platz. Bereits im Oktober 1940 stand das Fort wieder leer, beherbergte aber bis November 1943 noch zwei Mal Gefangene, darunter auch Seeleute.158 Die Internierten waren zu zehnt in den einzelnen casemates untergebracht, deren Ausstattung den Unterkünften in den restlichen kanadischen Lagern entsprach.159 Im Herbst 1941 wurden zwei neue Speisesäle gebaut, sodass die bis dahin dafür genutzten Festungsräume für Unterrichtszwecke frei wurden.160 Einige der Räume beherbergten eine Bibliothek, Tischtennisplatten, eine Schneiderei, eine Schuhmacherwerkstatt, einen Friseur, einen Wäschetrockenraum und die Kantine.161 Fort Henry war von den bestehenden und als Lager umgenutzten Anlagen das am wenigsten geeignete und erwies sich rasch als »the cause of a series of complaints and German reprisals against Allied POWs in Germany«.162 Grund für die Beschwerden waren die dicken Festungsmauern, die aufgrund der Bauart des Forts keine Blicke nach draußen erlaubten, die mangelnde Versorgung mit Tageslicht im unteren

151 Schreiben des Department of Mines and Resources an R.A. Gibson, Director des Lands, Parks and Forests Branch, 8. September 1939. LAC, RG 24, 6586, File 4-3-1. 152 Damals noch Royal Military College. 153 J.L. Granatstein/D.F. Oliver: The Oxford Companion to Canadian Military History, S. 172. 154 Ebd. 155 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 50-51. 156 P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 107. 157 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 92. 158 Detaillierte Angaben zu den verschiedenen Belegungsphasen des Forts finden sich bei P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 106-108. 159 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Fort Henry (F/31) vom 18. Dezember 1940. LAC, RG 24, 11248, File 9-1-5. 160 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls I. Sembinelli in Fort Henry (F/31) am 21. November 1941. LAC, RG 24, 11248, File 9-1-5. 161 Ebd. 162 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 11.

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Stockwerk und die beengten Verhältnisse im Festungshof, die außer einem kleinen Feld, das im Winter zum Eislaufen genutzt wurde,163 nicht viel Platz für sportliche Aktivitäten boten.164 Allerdings wurde den Gefangenen zum Ausgleich ein Sportgelände außerhalb der Mauern zur Verfügung gestellt.165 Nachdem Kanada mit Deutschland überein gekommen war, keine Festungsanlagen mehr als Lager zu benutzen, wurde Fort Henry im Dezember 1943 geschlossen166 und ab 1948 wieder als Museum genutzt.167 Heute ist Fort Henry eine National Historic Site und seit 2007 Teil des UNESCO-Welterbes Rideau Canal; das Museum in Fort Henry wird von der St. Lawrence Parks Commission getragen. In einem der Gewölberäume im unteren Teil des Forts, dem sogenannten Heldenkeller, sind noch Teile eines großformatigen Wandgemäldes zu sehen, das deutsche Kriegsgefangene entworfen und angebracht hatten, um den damals als Bierkeller genutzten Raum auszuschmücken.168 In der kleinen Dauerausstellung in Fort Henry waren die deutschen Gefangenen im Sommer 2009 nicht präsent, und auch die Informationstafel der Ontario Heritage Foundation im äußeren Bereich des Forts erwähnt die Nutzung der Anlage als Gefangenenlager nicht.169 Petawawa (P/33) Petawawa war eines der ersten Lager, die bereits ab 1939 zur Internierung von enemy aliens eröffnet wurden.170 Der Ort liegt etwa 166 Kilometer nordwestlich der kanadischen Hauptstadt Ottawa, nahe Pembroke und unweit der Grenze zur Provinz

163 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Fort Henry (F/31) vom 18. Dezember 1940. LAC, RG 24, 11248, File 9-1-5. 164 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls Isidore Sembinelli in Fort Henry (F/31) am 21. November 1941. LAC, RG 24, 11248, File 9-1-5. 165 Schreiben Director of Internment Operations, Lt.-Col. Stethem, an Director of Military Operations and Intelligence, Dept. of National Defence, Ottawa, 26. Mai 1941. LAC, RG 24, 11248, File 9-1-5. 166 Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 18. 167 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 11. 168 Das Gemälde ist relativ schlecht erhalten, da die ursprünglich verwendeten Farben für Wandmalereien nicht geeignet waren und das Bild in der Zwischenzeit mehrfach übermalt worden ist. Zudem hat die Feuchtigkeit in den Räumen des Forts das Gemälde bereits stark in Mitleidenschaft gezogen. Eine Restaurierung hielt der zuständige Kurator im Sommer 2009 jedoch aus finanziellen Gründen für nicht machbar. Gespräch mit Ron Ridley, 3. September 2009. 169 Die Informationen zur Geschichte der Anlage auf der Informationstafel decken nur den Zeitraum von der Erbauung bis 1938 ab (Stand: September 2009). Die Angaben zur geplanten Überarbeitung der Dauerausstellung auf der Website des Museums lassen nicht erkennen, dass eine größere Ausstellungseinheit zur Geschichte des Forts als Gefangenenlager geplant wäre. St. Lawrence Parks Commission: Fort Henry. Museum. http://www. forthenry.com/index.cfm/en/about-the-fort/museum/. 170 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) am 3. und 4. September 1942. PA AA, Bern 4268.

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Quebec. Das Areal am Ufer des Central Lake war Anfang des Jahrhunderts als militärisches Übungsgelände171 angelegt und bereits im Ersten Weltkrieg als Internierungslager für deutsch- und ukrainischstämmige Kanadier sowie als Ausbildungsgelände für die Canadian Expeditionary Force genutzt worden.172 1935, während der Wirtschaftskrise, wurde dort ein sogenanntes »forestry relief camp«173 für arbeitslose Männer eingerichtet, dessen Gebäude 1939 für das Internierungslager zur Verfügung standen. Das Department of Mines and Resources hatte Petawawa unter anderem deshalb als Standort für ein Lager empfohlen, weil dort die Möglichkeit für Waldarbeit und damit auch für eine Brennholzversorgung des Lagers gegeben war.174 Abgesehen von kurzen Unterbrechungen war das Lager von September 1939 bis März 1946 mit Gefangenen unterschiedlicher Kategorien belegt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehört das ehemalige Lagerareal zur army base.175 Deutsche Seeleute waren vor allem von August 1942 bis Februar 1944 in Petawawa untergebracht.176 Als sie in das Lager einzogen, hatten bereits bauliche Erweiterungen stattgefunden, um die Kapazität auf 800 Personen zu erhöhen.177 Die Gefangenen wohnten in sogenannten H-Baracken, die aus zwei Wohnteilen und einem verbindenden Sanitärtrakt bestanden und auch beim kanadischen Militär verwendet wurden.178 Beheizt wurden die Hütten mit Holzöfen.179 Das Lager besaß zwölf solcher Baracken, die von jeweils 60 Personen bewohnt wurden. Möbliert waren sie mit

171 J.L. Granatstein/D.F. Oliver: The Oxford Companion to Canadian Military History, S. 335. 172 Ebd. 173 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 23. Diese unemployment relief camps waren im Jahr 1932 von der kanadischen Regierung ins Leben gerufen worden, um von der Wirtschaftskrise betroffene, arbeitslose und alleinstehende junge Männer ohne festen Wohnsitz aufzunehmen. Dabei ging es weniger darum, den Arbeitslosen eine Perspektive zu bieten, als vielmehr darum, die wachsende Zahl potenzieller Unruhestifter aus den großen Städten herauszuhalten. Oft hatten die Männer keine andere Wahl, als in ein solches Camp zu gehen, wenn sie nicht wegen Landstreicherei verhaftet werden wollten. Siehe auch Brown, Lorne A.: Unemployment Relief Camps in Saskatchewan, 19331936. In: Horn, Michiel (Hg.): The Depression in Canada. Responses to Economic Crisis. Toronto 1988, S. 74-101, hier S. 76-77. 174 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 20. 175 J.L. Granatstein/D.F. Oliver: The Oxford Companion to Canadian Military History, S. 335. 176 Dabei handelte es sich um die Gruppe von Seeleuten, die aus Britisch-Indien nach Kanada transportiert worden waren. Vgl. hierzu J. Kestler: Kriegsgefangenschaft und Weltreise. Zuvor war lediglich die Besatzung des deutschen Dampfers CHRISTOPH VAN DOORNUM in Petawawa interniert gewesen; das Schiff war Anfang September 1939 im Hafen von Botwood, Neufundland, beschlagnahmt worden. Vgl. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 1, S. 115. 177 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls Isidore Sembinelli in Petawawa (P/33) am 26. Februar 1941. ACICR, C SC, Canada. 178 Ebd. 179 Ebd.

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Doppelbetten, Tischen und Bänken.180 Ende 1943 wurden zunächst die Schiffsoffiziere nach Monteith verlegt, Anfang 1944 auch die Mannschaften.181 Farnham (A/40) 40 Meilen östlich von Montreal und 18 Meilen von der kanadisch-amerikanischen Grenze entfernt lag das Lager Farnham. Es befand sich auf dem Gelände der ehemaligen Dominion Experimental Farm182 und wurde im Oktober 1940 eröffnet. Die dort zunächst untergebrachten Zivilinternierten arbeiteten zu diesem Zeitpunkt noch an der Einrichtung des Camps, denn kurz vor Ankunft der ersten Insassen waren noch nicht alle Gebäude bezugsfertig und es gab noch keine Wachtürme an den Ecken des Lagergeländes.183 Von Sommer 1941 an stand das Lager vorübergehend leer, bis es im April 1942 mit der Ankunft von knapp 600 Seeleuten wiedereröffnet wurde.184 Sofort nach ihrer Ankunft begannen die Seeleute mit Farmarbeit auf den lagereigenen Anbauflächen und pflanzten Kartoffeln an.185 Abgesehen von der Farm entsprach Farnham hinsichtlich Ausstattung und Unterbringung dem Standard der übrigen Lager, mit einem großzügigen Sportgelände zwischen den Wohnbaracken.186 Die Seeleute waren jedoch nur kurze Zeit in Farnham untergebracht; bereits acht Monate nach ihrer Ankunft wurden sie nach Sherbrooke verlegt, um das Lager für die nach ihnen dort untergebrachten Offiziere freizumachen.187 Sherbrooke (N/42) Das Camp Sherbrooke lag außerhalb der Industriestadt Sherbrooke, 160 Kilometer südöstlich von Montreal188 auf dem Gelände der Quebec Central Railroad (QCR) und besaß eine Kapazität von 700 bis 800 Mann.189 Im September 1940 übernahm

180 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) im Januar 1943. PA AA, R 127.951. 181 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) am 22. und 23. November 1943. PA AA, Bern 4268. 182 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 55. 183 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 27. 184 Ebd., S. 35. 185 Ebd., S. 97. 186 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Farnham (A/40) am 1. Oktober 1942. ACICR, C SC, Canada. 187 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 247. Nach der Repatriierung der dort zuletzt untergebrachten Offiziere wurde das Lager Farnham am 17. Juni 1946 geschlossen. Siehe M. Auger: Prisoners of the home front, S. 42. 188 Übersicht über die geografische Lage der Zivilinterniertenlager in Kanada. PA AA, Bern 4280. 189 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24; J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 56-57. Einen knappen Überblick zum Lager Sherbrooke gibt außerdem Bilodeau, Maryse: Des prisonniers allemands à Sherbrooke. In: Histoire Québec 8 (2002), H. 1, S. 25.

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das Department of National Defence das Gelände, das zunächst kaum wie ein Lager wirkte: »It consisted of two large hangars that originally served as repair shed for locomotives and railway cars; an old machine shop and boiler house; an oil house; and an administration building. Railway tracks and oiling pits extended throughout the yard.«190 Als Anfang Oktober 1940 die ersten Insassen – Flüchtlinge und Zivilinternierte – einzogen, war das Lager erst zur Hälfte fertig.191 Doch ein Jahr später war der Ausbau abgeschlossen, und das Lager verfügte nun über »7 H-förmige sehr gut gebaute Holzhütten (Standard-Militärbaracken) wovon 4½ Hütten als Schlafräume dienen (jede Baracke = 2 Räume, jeder Raum = 70 Mann); ½ Hütte als Lazarett für 24 Betten und für Lagerleitung ½ Hütte als Hallensport und Aufenthaltsraum; ¼ Hütte für Barbier, Schneider, Kantine und Bücherei ¼ Hütte für acht Arrestzellen, wovon 3 für zusätzliche Verwaltungskontore benützt werden. 1 Hütte für die Küche mit 2 Speisesälen, Kälteraum, Lebensmittelraum; ein Teil dient als Schulraum.«192

Zudem sollte eine »T-förmige Unterhaltungshalle« gebaut werden.193 Ab 1943 gab es außerdem einen Fußball- und einen Tennisplatz, und in der Unterhaltungshalle konnte auch Hallensport betrieben werden.194 Martin Auger zufolge wandelte die Regierung Sherbrooke im November 1942 in ein reines Seemannslager um; als solches war es bis zu seiner Schließung 1946 in Gebrauch.195 Die Besonderheit des Lagers Sherbrooke gegenüber anderen Internierungslagern in Kanada bestand darin, dass es das erste sogenannte Arbeitslager war. Dieser Begriff klingt im Deutschen irreführend, denn in Sherbrooke bestand kein Zwang, sondern vielmehr die Möglichkeit, innerhalb des Lagers in verschiedenen Werkstätten für jeweils vier Stunden am Tag zu arbeiten.196 Die Internierten hatten sich freiwillig für eine Verlegung in dieses Lager gemeldet.197 In der Tischlerei, Schlosserei, Schuhmacherei, Kistenmacherei oder Schneiderei stellten sie unter anderem Kisten, Tische, Schürzen, Hemden und Bettwäsche her.198 In der lagereigenen Fischräucherei verarbeiteten sie frische Heringe aus Nova Scotia zu Hering in Senfsoße, Rollmops, Bismarck-, Räucher- und Brathering; daneben gab es eine Wursterei

190 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 28. 191 Ebd. 192 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Sherbrooke (N/42) am 22. Januar 1943. PA AA, Bern 4270. 193 Ebd. 194 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Sherbrooke (N/42) am 23. September 1943. PA AA, R 127.704. 195 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 35. 196 Schreiben der deutschen Gesandtschaft Bern an das Auswärtige Amt, Ende Februar 1943. PA AA, Bern 4270. 197 Ebd. 198 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 32.

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und eine Bäckerei.199 Diese Lebensmittel wurden an Gefangenenlager verkauft, in denen deutsche Offiziere untergebracht waren.200 Ab Frühjahr 1944 wurden zusätzlich landwirtschaftliche Anbauflächen außerhalb des Lagers gepachtet.201 Das Modell des Arbeitslagers schien sich zu bewähren, sodass Ernest L. Maag das Lager Sherbrooke im Jahr 1944 als »un exemple excellent de camp de gens de mer allemands«202 bezeichnete. Im Februar 1946 verließen die ersten Internierten Sherbrooke in Richtung Europa.203 Am 11. Juni 1946 folgte der Rest, sodass das Camp am 14. Juni 1946 geschlossen werden konnte.204 Fredericton/Ripples (B/70) Das einzige Lager in der Provinz New Brunswick lag in der Nähe von Fredericton und nutzte das Gelände der ehemaligen Acadian Forest Experiment Station.205 Von August 1940 bis Juni 1941 war es mit Flüchtlingen belegt,206 ab Juli 1941 lebten Seeleute und Zivilinternierte in Fredericton.207 Von zunächst 600 Mann in der ersten Belegungsphase wurde das Lager in der zweiten Phase, in der auch die Seeleute in Fredericton untergebracht waren, auf 1100 Mann Kapazität vergrößert.208 Die Insassen wohnten in Baracken. Im Lager gab es einen Fußball- und einen Tennisplatz; die Internierten legten zudem einen Biergarten209 und einen »Erholungspark«210 an. Das Lager Fredericton wurde am 31. August 1945 geschlossen.211 Die Gebäude wurden an lokale Unternehmen und Privatpersonen verkauft und teilweise noch mehrere Jahre als Ferienhäuser genutzt. Seit 2010 existiert auf dem ehemaligen Lagergelände das New Brunswick Internment Camp Museum, das auf Initiative des Lehrers Ed Caissie gemeinsam mit Schülern konzipiert und mit Objekten aus dem Lager bestückt wurde.

199 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Sherbrooke (N/42) am 11. November 1943. PA AA, R 127.704. 200 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Sherbrooke (N/42) am 6. März 1944. ACICR, C SC, Canada. 201 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Sherbrooke (N/42) am 11. November 1943. PA AA, R 127.704. 202 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Sherbrooke (N/42) am 6. März 1944. ACICR, C SC, Canada. 203 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 6, Vol. 65, 11. Februar 1946. RG 24, 15401. 204 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 42. 205 Ebd., S. 24. 206 Mit der Belegung Frederictons durch jüdische Internierte hat sich der kanadische Lokalhistoriker Ted Jones befasst. Diese Publikation ist aufgrund der mangelhaften Quellennachweise jedoch nur unter Vorbehalt zu empfehlen. T. Jones: Both Sides of the Wire. 207 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, Lagerliste in Appendix A. 208 Ebd. 209 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Fredericton (B/70) am 17. und 18. Juli 1942. PA AA, Bern 4271. 210 Schreiben des Vertrauensmannes J.R. Brendel an Dr. Jerome Davis, YMCA, 3. Juni 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 211 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 248.

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Auf einem Historical Trail können die Besucher das Gelände des ehemaligen Lagers erwandern und dabei Reste der Lagerstraße sowie Fundamente von Gebäuden besichtigen.212 Neys (W/100) Am Nordrand des Lake Superior, etwa 6 Kilometer von der Bahnstation Coldwell entfernt, lag das Camp Neys.213 Es war am 13. Januar 1941 eröffnet worden214 und wurde in drei Belegungsphasen genutzt: Bis November 1941 waren Offiziere in Neys untergebracht, von November 1941 bis September 1944 Seeleute und von September 1944 bis zum 28. März 1946 Mannschaftsgrade.215 Auf knapp 90 Hektar Fläche bot es Platz für 650 Personen.216 Während die Seeleute in Neys lebten, wurden wichtige Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität im Lager ergriffen. Der sandige Boden hatte zuvor nicht nur die Pflanzung von Gemüse oder Blumen unmöglich gemacht, sondern vor allem auch die Anlage von Sportplätzen verhindert. Bis zum Sommer 1942 konnten in Neys weder Fußball noch Tennis gespielt werden.217 Doch nach »Bodenverbesserungsarbeiten«218 im Jahr 1943 konnten ein Tennisplatz, ein Fußballplatz und ein Feld für Leichtathletik angelegt werden. Hinsichtlich der Unterbringung in Baracken bot Neys vergleichbare Bedingungen wie die meisten anderen Lager; es verfügte zudem über ein Unterrichtsgebäude.219 Die Gebäude wurden noch bis 1953 für verschiedene Zwecke genutzt und dann abgebaut.220 Heute ist das ehemalige Lagergelände Teil des Neys Provincial Park, in dessen Besucherzentrum ein Modell des Lagers ausgestellt ist.221

212 Weitere Informationen bietet die Homepage des Museums: NB Internment Camp Museum. http://www.nbinternmentcampmuseum.ca/. 213 Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd an die Angehörigen der internierten Seeleute, 15. September 1942. DSM, III A 3324 b. Heute ist Coldwell verlassen. 214 Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 18. 215 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 248; Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, Lagerliste in Appendix A. 216 P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 139; Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, Lagerliste in Appendix A. 217 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Neys (W/100) am 21. April 1942. ACICR, C SC, Canada. 218 Bericht über das Lager Neys (W/100) = Anlage zum Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd an die Angehörigen der internierten Seeleute, Dezember 1943. DSM, III A 3324 b. 219 Ebd. 220 P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 140. 221 Ontario Parks: Neys Provincial Park. http://www.ontarioparks.com/park/neys.

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Kananaskis (K/130) Das erste Lager in der Provinz Alberta und zugleich eines der beiden ältesten Camps in ganz Kanada war das Lager Kananaskis.222 Auf Empfehlung des Department of Mines and Resources war im Herbst 1939 die dortige Valcartier Forest Experiment Station, seit 1934 als unemployment relief project genutzt,223 zum Internierungslager umfunktioniert worden.224 Für diese Nutzung sprach unter anderem, dass die Internierten in der Umgebung des Lagers zur Waldarbeit eingesetzt werden konnten.225 Kananaskis war das einzige kanadische Lager, das sich mitten im Gebirge befand; der ›Hausberg‹ von Kananaskis war der Mount Barrier (heute Mount Baldy). Angesichts der Landschaft gerieten Berichterstatter immer wieder ins Schwärmen und rühmten die Umgebung des Lagers als »very healthy«226 oder »gesundheitlich unuebertrefflich in Kanada«227. Das Camp lag 50 Meilen westlich von Calgary und 30 Meilen östlich von Banff im nördlichen Teil des Kananaskis River-Tals. In den späten 1930er Jahren war es nur über eine unbefestigte Straße zugänglich, die bei Seebe vom Highway zwischen Calgary und Banff abzweigte. Kananaskis lag 8,5 Meilen entfernt vom Endbahnhof der Canadian Pacific Railway in Seebe.228 Lebensmittelvorräte für das Lager wurden mit der Bahn nach Ozada gebracht und von dort per LKW ins Lager transportiert.229 Seeleute der deutschen Handelsmarine kamen erst in der zweiten Belegungsphase im Juli 1941 nach Kananaskis. Sie blieben bis zum November 1943.230 Danach waren in Kananaskis bis Juni 1946 deutsche Offiziere untergebracht.231 Das Lager war für 750 Mann ausgelegt.232 Im Vergleich zu den meisten anderen Lagern waren die Wohngebäude recht klein und mit überschaubaren Gruppen von nur zehn Personen belegt. Sie waren innen mit Holz verkleidet und wurden mit Holzöfen beheizt. Der gleiche Hüttentyp wurde für die Wachmannschaften verwendet.233 Nicht unbedingt selbstverständlich war auch die Tatsache, dass der Speisesaal genug Platz für gemeinsame Mahlzeiten aller Lagerinsassen bot; in manchen Camps musste in mehre-

222 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 20. 223 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 20; Colonel’s Cabin. www.historicplaces.ca/en/rep-reg/place-lieu.aspx?id=9017. 224 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 20. 225 Ebd. 226 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls E. Baeschlin in Kananaskis (K/130) am 6. März 1941. ACICR, C SC, Canada. 227 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Kananaskis (K/130), Oktober 1942. PA AA, Bern 4275. 228 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 20. 229 Oltmann, Ruth: The Valley of Rumours … the Kananaskis. Exshaw 21985, S. 78. 230 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, Lagerliste in Appendix A. 231 Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 19. 232 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, Lagerliste in Appendix A. 233 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Kananaskis (K/130), Oktober 1942. PA AA, Bern 4275.

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ren Schichten gegessen werden.234 Neben einer Turnhalle standen für sportliche Betätigung ein Fußball- und ein Tennisplatz zur Verfügung.235 Wenige Monate vor Ankunft der Seeleute war das Lager zudem um einige Wohngebäude und eine recreation hall erweitert worden.236 Mehrere Räume konnten für Unterrichtszwecke genutzt werden.237 Seit 1966 ist das ehemalige Lagergelände Teil der Barrier Lake Field Station der Universität Calgary.238 Ein ehemaliger Wachturm steht heute wieder auf dem Gelände, nachdem er zwischenzeitlich als Feuerausguck ein Stück nach Westen transloziert worden war.239 Eine als Colonelʼs Cabin bekannte Blockhütte, die aus dem Jahr 1936 stammt und während des Krieges vom Lagerkommandanten als Büro benutzt wurde, wird seit 1982 im Register der kanadischen Historic Places geführt240 und beherbergt eine kleine Ausstellung über das ehemalige Lager. Im Jahr 1997 wurde zudem ein Denkmal für die Wachen des Lagers Kananaskis errichtet.241 Red Rock (R) Auf dem stillgelegten Gelände der Papiermühle der Lake Sulphite Pulp Company242 nahe des Lake Superior wurde im Juli 1940 das Lager Red Rock eröffnet.243 Die Stadt Red Rock hatte bis in die 1930er Jahre gut von der Holz- und Papierindustrie gelebt, glich jedoch seit der Wirtschaftskrise einer Geisterstadt.244 Das Internierungslager lag westlich von Nipigon an der Bahnlinie der Canadian Pacific Railway.245 In den 48 ehemaligen Arbeiterquartieren der Lake Sulphite Pulp Company wohnten anfangs 1150, später 1783 Gefangene.246 85 Prozent der Insassen waren Seeleute, die bis zur Schließung des Lagers Ende Oktober 1941 zusammen mit teils jüdischen

234 Ebd. 235 Ebd. 236 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls E. Baeschlin in Kananaskis (K/130) am 6. März 1941. ACICR, C SC, Canada. 237 Bericht des Lagerkommandanten über Kananaskis (K/130) (Abschrift), ca. Juli 1941. PA AA, Bern 4275. 238 Biogeoscience Institute, University of Calgary: Barrier Lake Field Station. http://www.bgs.ucalgary.ca/facilities/facilities. 239 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 51. 240 Colonel’s Cabin. www.historicplaces.ca/en/rep-reg/place-lieu.aspx?id=9017. 241 Finanziert vom Kananaskis Rotary Club. Memorial-Nummer 48025-042 im National Inventory of Canadian Military Memorials. Siehe National Inventory of Canadian Military Memorials (NICMM). http://www.veterans.gc.ca/eng/remembrance/memorials/nationalinventory-canadian-memorials. 242 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24; P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 198. 243 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, Lagerliste in Appendix A. 244 P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 198. 245 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 51. 246 Ebd.; P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 198.

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Flüchtlingen untergebracht waren.247 Dass Red Rock nach 1941 nicht wieder in Betrieb genommen wurde, bestätigt den Charakter des Lagers als einer reinen Notlösung in der ersten Phase nach der Ankunft von Gefangenen aus England: »Camp R was surrounded by woods and croppings of red rock, overlooking Lake Superior. Despite the beauty of the scenery this camp was a desolate place.«248 Hull (H/32) Im Gefängnis Val-Tréteau249 in Hull, Quebec, wurde im September 1943 ein Lager für Überläufer aller Kategorien geöffnet; die bis dahin bei der Unterbringung berücksichtigte Unterscheidung in Kriegsgefangene und Internierte wurde damit hinfällig.250 Hull besaß eine Kapazität von 150 Mann und bestand bis März 1947.251 Chatham (10) Im Mai 1944 eröffnete das Department of Labour auf dem Gelände der English Farm in Chatham ein zusätzliches Lager im Südwesten Ontarios, das während der Pflanzund Erntesaison arbeitswillige Gefangene aufnehmen sollte.252 In der Gegend um Chatham wurden vorwiegend Zuckerrüben angebaut.253 Chatham war ein Basislager für Arbeitseinsätze, das die Gefangenen täglich verließen, um abends zurückzukehren.254 Die Insassen wohnten in Zelten, sogenannten bell tents, die anfällig für Wind und Regen waren.255 Neben den 72 Wohnzelten, in denen im Schnitt vier Personen schliefen, gab es noch mehrere größere Zelte sowie »une grande tente, genre tente de

247 P.J. Draper: The accidental immigrants (1983), S. 53; Summary report, BAR, E2200.15001#1000/219#2*, Lagerliste in Appendix A. 248 P.J. Draper: The accidental immigrants (1983), S. 52. 249 Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 18. 250 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 9. 251 Y. Bernard/C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 18; Summary report, BAR, E2200.15001#1000/219#2*, Lagerliste in Appendix A. 252 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 68; P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 40. Am 16. Mai 1944 kamen die ersten Insassen in Chatham an. Siehe War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 1, 16. Mai 1944. LAC, RG 24, 15396. 253 Mehr als 60 Prozent der kanadischen Gesamtanbaufläche für Zuckerrüben befand sich in dieser Region im Südwesten Ontarios. Siehe Britnell, George Edwin/Fowke, Vernon C.: Canadian Agriculture in War and Peace, 1935-50. Stanford 1962, S. 352. 254 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 68. Wohnten die Gefangenen an ihrem Zielort in einem Lager, dann wurden sie aus dem Stammlager mit allen Unterlagen dorthin verlegt. Wohnten sie direkt bei einer Firma oder auf einer Farm, dann blieben die Dokumente im Stammlager. Vgl. dazu die Movement Orders im Zusammenhang mit Verlegungen zu Arbeitsstellen, etwa im War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 5. LAC, RG 24, 15393. 255 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 2, 10. Juni 1944. LAC, RG 24, 15396. Ab und zu verursachte der Wind Schäden an den Zelten. War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 13, 31. Oktober 1945. Ebd.

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cirque, qui sert de réfectoire, de salle de réunion et de cinéma, de salle de concerts, etc.«256 Nach der Ernte, im November 1944, wurde das Lager vorübergehend aufgelöst und die Insassen wurden auf andere Lager verteilt.257 Zu Chatham gehörten drei sogenannte Hostels, zugeordnete kleinere Unterkünfte in den nahegelegenen Ortschaften Glencoe258, Fingal259 und Centralia260. In Centralia wurde die ehemalige Militär-Flugschule als Unterkunft für die Gefangenen genutzt.261 Vor der zweiten Saison zog das Lager nach Fingal um, wo es bis November 1946 in der ehemaligen Bombing and Gunnery School der Royal Canadian Air Force bestand.262 Während beider Phasen wohnten Seeleute in Chatham-Fingal. Insgesamt lebten etwa 350 Männer in dem Zeltlager.263

D IE V ETERANS G UARD OF C ANADA IN DEN I NTERNIERUNGSLAGERN

ALS

W ACHEN

Die ersten kanadischen Internierungslager des Zweiten Weltkriegs wurden von Mitgliedern des Canadian Provost Corps, einer Einheit der Militärpolizei, bewacht.264 Mit der steigenden Zahl von Gefangenen und dem erhöhten Bedarf an Wachen erwies sich diese Lösung jedoch als wenig praktikabel. Zudem war bereits zu Kriegsbeginn vonseiten der Weltkriegs-Veteranen der Wunsch geäußert worden, sich an der Verteidigung des Landes zu beteiligen. Beide Aspekte ließen sich durch die Gründung der Veterans Guard of Canada (VGC) am 24. Mai 1940 verbinden:265 Die Veteranen bewachten nicht nur Internierungslager, sondern auch Verkehrswege, Munitionslager und kriegswichtige Fabriken.266 Die Angehörigen des Canadian Provost Corps konnten nach der Ablösung durch die VGC zum Kampfeinsatz nach Europa verlegt werden.267 Zu Spitzenzeiten hatte die VGC etwas mehr als 10.000 Mitglieder.268

256 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Chatham (10) am 10. und 11. Juli 1944. ACICR, C SC, Canada. 257 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 7, 1. November 1944. LAC, RG 24, 15396. 258 Zur Einrichtung des Hostels in Glencoe siehe War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 9, 4. Juni 1945. LAC, RG 24, 15396. 259 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 161-162. 260 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 10, 30. Juli 1945. LAC, RG 24, 15396. 261 P. Ozorak: Abandoned Military Installations of Canada, S. 40. 262 Ebd.; War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 15, 1. Dezember 1945. LAC, RG 24, 15396. 263 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 68. 264 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 58. 265 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 77. 266 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24. Eine ausführliche Übersicht über die Verwendung der verschiedenen Kompanien der VGC findet sich bei C.P. Stacey: Six Years of War, S. 154. 267 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24. 268 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 58.

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Neben den Veteranen des Ersten Weltkriegs gab es unter den Mitgliedern der VGC auch Männer, die zwischen 1899 und 1902 im Südafrikanischen Krieg gekämpft hatten.269 Die Altersgrenze für Mitglieder der VGC lag zu Beginn bei 49,270 später bei 55 Jahren.271 Dass die Wachen über Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg verfügten, wurde von einigen Verantwortlichen als Vorteil betrachtet, denn »the old soldier has the last war to remind him that ›Fraternising‹ does not pay.«272 Unter den Wachen entstanden Konflikte, als die Veteranen nach Kriegsende durch jüngere Soldaten ersetzt wurden, die frisch aus Europa zurückgekehrt waren und offensichtlich Schwierigkeiten hatten, sich in die strenge Disziplin einzufügen, die von den Wachen eines Gefangenenlagers gefordert war. In den Lagertagebüchern aus dem Sommer 1945 und aus dem Jahr 1946 häufen sich diesbezügliche Beschwerden: »Young soldiers arriving. They are rather strenuous and inclined to be boisterous.« oder »they are on the whole, difficult to cope with in a place like this«.273 Während solche Disziplinprobleme heutzutage eher auf eine posttraumatische Belastungsstörung zurückgeführt werden würden, sahen die damaligen Beobachter ihre Einschätzung bestätigt, dass sich ältere Veteranen besser für diese Aufgaben eigneten als junge Soldaten. Die Wachen arbeiteten im Schichtbetrieb.274 Nach zwei Monaten Dienst verließen sie das Lager für einen Monat, in dem sie ein Training absolvierten oder Urlaub hatten.275 Eine Kompanie der VGC bestand aus sechs platoons (Zügen); der kommandierende Offizier jeder Kompanie war dem Lagerkommandant zu Berichterstattung verpflichtet; dieser wiederum war dem District Officer Commanding verantwortlich, welcher dem für die Sicherheit der Lager zuständigen Adjutant General Bericht erstattete.276 Die Machtbefugnisse der einzelnen Wachen waren also bei Weitem nicht so groß, wie es für die Gefangenen zuweilen scheinen mochte. Über verschiedene Zwischenstufen unterstanden sie dem Department of National Defence, dem gegenüber sie sich zu verantworten hatten.277 Regelwidriges Verhalten einzelner Wachsoldaten wurde von den Vorgesetzten durchaus registriert, wie ein Eintrag aus dem Lagertagebuch von Mimico über den Guard Commander zeigt: »Major Lindsey is proving very difficult to get along with and has to be kept from access to the prisoners. He obviously favors abusing them at every opportunity, by word of mouth and physically. He also seems quite unable to realize that the Guard Commander is under the orders of the Camp Commandant.«278 Die kanadische Lagerleitung bestand aus dem

269 270 271 272 273 274 275 276 277 278

Ebd., S. 59. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 24. War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Vol. 27, 16. August 1942. LAC, RG 24, 15394. So Col. Watson in einem Schreiben vom 9. Mai 1940. LAC, RG 24, 6586, File 4-3-3. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 56, 9. August 1945 und Vol. 64, 16. April 1946. LAC, RG 24, 15393. D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 77. Ebd. Ebd. S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 21-22. War Diary Camp Mimico (M/22), Folder 1, Vol. 1, 24. Juli 1940. LAC, RG 24, 15391. Auch unter den Kommandanten gab es Personen, die mit diesen Aufgaben nicht gut zurechtkamen. Im Fall von Major R.C. Bull, Camp Monteith (Q/23), führte dies im Sep-

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Kommandanten, mehreren Adjutanten und Offizieren.279 Der Lagerkommandant war ein Offizier der kanadischen Armee, ein Captain oder, in größeren Lagern, ein full Colonel.280 Neben der täglichen organisatorischen Arbeit des Lagerbetriebs und den Absprachen mit der deutschen Lagerselbstverwaltung war er auch für die täglich stattfindenden Inspektionen und roll calls zuständig. Mit Unterstützung eines Adjutanten und weiteren Personals wurden die Gefangenen dabei gezählt und vom Kommandanten in Augenschein genommen.281 Darüber hinaus stand er in Kontakt mit den übergeordneten kanadischen Behörden und mit den Hilfsorganisationen.282 Keiner der als Lagerkommandanten eingesetzten Offiziere sprach Deutsch.283

S TRAFEN UND D ISZIPLINARGEWALT Bei Verstößen gegen die im Lager geltenden Vorschriften wurden die Internierten und Kriegsgefangenen nach den Regeln bestraft, die auch für die kanadische Armee galten. Als Grundlage wurde der Penal Code of the Canadian Army herangezogen. Körperliche Züchtigungen gab es nicht, doch in der Regel verfügte jedes Lager über Arrestzellen,284 in denen Delinquenten die Untersuchungshaft verbrachten oder Strafen von bis zu 28 Tagen absaßen.285 Lag gegen einen Lagerinsassen etwas vor, so musste dieser vor dem Kommandanten erscheinen, durfte aber den Vertrauensmann und eigene Zeugen mitbringen. Als Dolmetscher war der Zensor des Lagers anwesend, sowie – je nach Ermessen des Lagerkommandanten – ein Adjutant oder der Wachoffizier.286 Die Disziplinargewalt lag beim Kommandanten oder bei einem ihn vertretenden Offizier. Kleinere Regelverstöße wie Prügeleien, Insubordination, Arbeitsverweigerung oder die Beschädigung kanadischen Eigentums wurden mit maximal 14 Tagen Arrest geahndet, für Befehlsverweigerung, die Abwesenheit bei Inspektionen und beleidigendes oder aggressives Verhalten wurden 21 Tage Arrest verhängt. Fluchtversuche, Diebstahl oder das Schmuggeln von Botschaften und andere illicit activities wurden mit dem Maximum von 28 Tagen sanktioniert. Damit wurde das in der Genfer Konvention erlaubte Höchstmaß von 30 Tagen Arrest nicht voll ausgeschöpft.287

279 280

281 282 283 284 285 286 287

tember 1941 zur Amtsenthebung aufgrund von Unfähigkeit. Siehe C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 11. S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 21. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 23. Die Bezeichnung full Colonel dient vor allem der Unterscheidung des Colonels vom rangniedrigeren LieutenantColonel. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 71. C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 11. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 25. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 75. Ausführlich zu Bestrafungen und zu den Bedingungen der Einzelhaft siehe Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 43-46. Ebd., S. 47. Zum Strafmaß siehe M. Auger: Prisoners of the home front, S. 75.

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Erwiesen sich Fälle als zu komplex für die Möglichkeiten der Rechtsprechung innerhalb des Lagers, wurden sie an den zuständigen Military District weitergeleitet.288 Bei schwerwiegenden Straftaten wurden die Gefangenen vor ein kanadisches Militärgericht gestellt. Im Falle einer Verurteilung zu einer Haftstrafe konnten sie in ein örtliches Gefängnis geschickt werden. In solchen, allerdings seltenen Fällen waren noch der governor-general-in-council oder der Verteidigungsminister einzuschalten und mussten sich mit der Schutzmacht abstimmen, die den Angeklagten unterstützte.289 Die Schutzmachtvertreter waren von Anfang an informiert, wenn ein Gefangener wegen einer Straftat vor Gericht gestellt wurde. Sie suchten einen Verteidiger für den Angeklagten, wenn dieser das wünschte.290 Die meisten Vergehen wurden nach kanadischem Recht vor einem Zivilgericht verhandelt. Oft ging es dabei um Straftaten, die von Gefangenen auf der Flucht begangen wurden. Diese Fälle waren ohne Präzedenz und von besonderer völkerrechtlicher Relevanz, weil die Genfer Konvention sich nicht eindeutig dazu äußerte.291 Außer der kanadischen Armee und den Veterans Guards war vor allem die Royal Canadian Mounted Police (RCMP) mit Aufgaben im Zusammenhang von Internierung befasst. Bei der Ankunft in Kanada wurden die Gefangenen von Mitgliedern der RCMP im Profil und von vorne fotografiert und polizeilich erfasst.292 Im Rahmen der »Aufnahmeprozeduren«,293 die für Erving Goffman ein Charakteristikum totaler Institutionen darstellen, wurden von den Internierten zudem Fingerabdrücke genommen.294 Diese Registrierung war Teil der Vorsichtsmaßnahmen, die es den kanadischen Behörden ermöglichen sollte, im Fluchtfall schnell eine gezielte Suche nach dem Ausbrecher in die Wege zu leiten.295

L AGERSELBSTVERWALTUNG UND K ANTINEN Jedes Lager wurde gegenüber der Gewahrsamsmacht und den Hilfsorganisationen von einem gewählten spokesman (auf Deutsch als Vertrauensmann, anfänglich auch als Lagerführer bezeichnet) vertreten.296 In den Seemannslagern waren die Vertrau-

288 289 290 291 292 293 294 295 296

Ebd. Ebd., S. 76. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 47-48. Vgl. dazu etwa das Gerichtsverfahren gegen August Kaehler und Otto Stolski, die auf der Flucht einen LKW gestohlen hatten. BAR, E2200.150-01#1000/219#5*. Kelly, Nora/Kelly, William: The Royal Canadian Mounted Police. A Century of History 1873-1973. Edmonton 1973, S. 197. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main 1972, S. 27. N. Kelly/W. Kelly: The Royal Canadian Mounted Police, S. 191. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 71. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 40. Von der Bezeichnung »Lagerführer« nahmen die Kanadier nach einiger Zeit Abstand, da er hinsichtlich der Befugnisse des Gewählten als irreführend empfunden wurde. Ebd.

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ensmänner fast ausnahmslos Kapitäne.297 Hier bestätigt sich Albrecht Lehmanns Beobachtung, dass häufig ehemalige Vorgesetzte zu Vertrauensleuten gewählt würden.298 Im Lager Mimico kam es im Jahr 1941 zu einem Wechsel des Vertrauensmannes, der die einflussreiche Stellung der Kapitäne in der Lagergesellschaft noch unterstreicht: Nach dem Austausch des Kommandanten wurde der bisherige Vertrauensmann, ein Kaufmann, durch einen Kapitän ersetzt, da »der neue Kommandant fühlte, W. besitze nicht das Vertrauen einiger Schiffskapitäne, weil er selbst kein Seemann war, während dem die Mehrzahl der Internierten […] aus Seeleuten der Handelsschiffahrt besteht«299. Der Vertrauensmann wurde von den Gefangenen vorgeschlagen und gewählt und musste nach der Wahl von den kanadischen Lagerbehörden in seinem Amt bestätigt werden.300 Je nach Größe des Lagers verfügte er über eine Reihe von Assistenten, die ihm in der täglichen Arbeit zur Seite standen. Für ihre Tätigkeit in der Lagerselbstverwaltung erhielten sie 20 Cent pro Tag; dies entsprach der Bezahlung für andere Lagerdienste, etwa in der Küche.301 Ein Großteil der Arbeit bestand aus Korrespondenz mit den Hilfsorganisationen oder der Schutzmacht, beispielsweise um die Verwendung von Spendengeldern zu klären, den Empfang von Hilfssendungen zu quittieren oder Beschwerden einzelner Internierter weiterzuleiten.302 Neben den Verwaltungsassistenten arbeiteten ihm die ebenfalls gewählten Barackensprecher zu, die jeweils kleinere Gruppen von Gefangenen vertraten.303 Umgekehrt teilte der kanadische Lagerkommandant dem Vertrauensmann Vorschriften bzw. Neuerungen mit, die dieser über die Barackensprecher an die Internierten weitergab.304 Dies geschah bei regelmäßigen Versammlungen, in denen auch sonstige Angelegenheiten des Lagerlebens besprochen wurden. In dieser Hinsicht ähnelte die interne Lagerorganisation der demokratischen Verwaltung einer kleinen Gemeinde.305 Obwohl der Vertrauensmann üblicherweise die vorherrschende (politische) Meinung im Lager repräsentierte,306 hatte er zunächst als Vertreter aller Insassen zu agieren, sofern sie sich nicht ausdrücklich von ihm distanzierten. Bei der Ankunft im Lager mussten die Gefangenen alles Bargeld, das sie bei sich trugen, gegen Quittung abgeben; erst bei der Repatriierung bekamen sie es wieder. Um Glücksspiel und Korruption zu verhindern und Fluchtversuche zu erschweren,

297 Dies geht nicht nur aus den Erwähnungen der Vertrauensleute in den Berichten von Schutzmacht und Hilfsorganisationen hervor, sondern auch aus einer Liste des Auswärtigen Amtes, in der alle Vertrauensleute der kanadischen Camps bis 1943/44 zusammengestellt sind. PA AA, R 127.941. 298 A. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr, S. 43. 299 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Mimico (M/22) am 7. Oktober 1941. ACICR, C SC, Canada. 300 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 40. 301 Ebd., S. 42. 302 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 344. 303 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 45. 304 Ebd. 305 Ebd. 306 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 41.

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durfte in den Lagern kein Bargeld im Umlauf sein.307 Geld, das den Internierten zustand, etwa aus der deutschen Taschengeldzahlung oder aus bezahlter Arbeit im Lager, wurde ihnen auf sogenannten trust accounts gutgeschrieben,308 über die auch der Zahlungsverkehr in der Lagerkantine abgewickelt wurde. Die Gefangenen konnten ihr Guthaben nutzen, um dort einzukaufen. Als Zahlungsmittel dienten »Canteen tickets« in festgesetzten Wertstufen von 1 Dollar sowie 25, 10, 5 und 1 Cent, die von der Lagerbank ausgegeben und vom Konto des Betreffenden abgezogen wurden.309 In regelmäßigen Abständen wurde das Aussehen der canteen tickets geändert und der Bestand an alten Tickets durch neue ersetzt, um Missbrauch zu verhindern.310 Geldverleih und Spiele um Geld waren verboten.311 Die Überschüsse, die die Lagerkantinen erwirtschafteten, konnten die Gefangenen weitgehend nach eigenem Ermessen für gemeinnützige Zwecke einsetzen, etwa für die Aufstockung der Lebensmittel in der Lagerküche, für Reparaturarbeiten oder Verbesserungen, die dem ganzen Lager zugutekamen.312 Durch die Hilfsorganisationen und ihr weltweites Netz an Kontakten konnten in einigen Fällen sogar Lebensmittel eingekauft werden, die in Kanada rationiert waren.313 Weil die Lager üblicherweise große Mengen abnahmen, profitierten auch lokale Firmen von den Lagerkantinen.314 Normalerweise umfasste das Angebot einer Kantine Tabak, Süßigkeiten, Limonade, Bier, Kuchen, Eis, Obst, Toilettenartikel, Schreibwaren, kanadische Zeitungen und Zeitschriften, Bücher, Insektenschutzmittel und anderes mehr.315

D IE DER

HUMANITÄREN H ELFER ALS C ONTACT Z ONE

AKTEURE

Die Alltagskultur der Internierung, die heute anhand zahlreicher Quellen erforschbar ist, wurde wesentlich durch die Tätigkeit verschiedener Institutionen und Hilfsorganisationen geformt. Während des gesamten Krieges war ein weitgespanntes Netz institutioneller Akteure damit befasst, Hilfsleistungen zu organisieren und zu vermitteln. Vor allem das CICR und das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die YMCA zusammen mit dem European Student Relief Fund,316 die deutsche Regierung (im Ausland repräsentiert durch die Schweizer Schutzmachtvertretung), die Reedereien und das

307 308 309 310 311 312 313 314 315 316

M. Auger: Prisoners of the home front, S. 111. Ebd. Ebd. Ebd. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 30. Ebd., S. 15-16. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 113. Ebd. Ebd., S. 112-113. Die Kriegsgefangenenhilfe der YMCA kooperierte bei der Unterstützung von Bildungsaktivitäten in kanadischen Lagern mit dem European Student Relief Fund. Siehe News of the World Committee: War Prisoners’ Aid. In: World’s Youth News Letter (1941), H. 13, S. 1-2, hier S. 1-2.

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Reichsstudentenwerk engagierten sich für das Wohl der internierten Seeleute und boten Unterstützung durch in Form von finanziellen Mitteln oder Sach- und Dienstleistungen an. In geringerem Umfang oder nur sporadisch beteiligten sich auch auslandsdeutsche Organisationen wie etwa der Kyffhäuserbund,317 Privatpersonen im neutralen Ausland sowie die Technisch-wissenschaftliche Betreuungsanstalt für Internierte und Kriegsgefangene des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI)318 an diesen Hilfen. Vor allem die großen Hilfsorganisationen, das Rote Kreuz und die YMCA, mussten sich von Anfang an untereinander sowie mit der Schweiz als Schutzmacht über ihre jeweiligen Aufgabenbereiche verständigen, um ihre Tätigkeiten bestmöglich aufeinander abzustimmen. Die Hilfsdienste des Roten Kreuzes setzten sich aus Leistungen des Deutschen Roten Kreuzes sowie denen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zusammen.319 Nicht zuletzt durch seine Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs festigte das CICR seinen Ruf als wichtigste Institution der Kriegsgefangenenhilfe.320 Bei

317 Der Kyffhäuserbund hieß von 1938 bis 1943 »Nationalsozialistischer Reichskriegerbund« und war die Dachorganisation der deutschen Kriegervereine. Fricke, Dieter/Finker, Kurt: Kyffhäuser-Bund der Deutschen Landeskriegerverbände (KB) 1900-1943. In: Fricke, Dieter u.a. (Hg.): Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945. Band II: Fraktion Augsburger Hof – Zentrum. Leipzig 1970, S. 296-312, hier S. 296. Für die deutschen Gefangenen in Kanada engagierte sich vor allem die Niederlassung des Kyffhäuserbundes in New York. Sie ließ sich von den Schutzmachtvertretern instruieren, wie den Gefangenen in Kanada am besten Hilfe zuteil werden könnte. Aus einem Schreiben des Eidgenössischen Politischen Departments, Abteilung für fremde Interessen, an die deutsche Gesandtschaft Bern vom 16. Januar 1941 geht hervor, dass Konsul Jaccard den Kyffhäuserbund »mit den Gesellschaften und Firmen in Verbindung gesetzt [hat], die in Kanada allein die Befugnis haben, Sammelsendungen an Internierte weiterzuleiten und ihn über die Gegenstände orientiert [hat], deren die Internierten am meisten bedürfen. Herr Jaccard hat den Kyffhäuserbund insbesondere auch mit den Organisationen des Y.M.C.A. in Fühlung gebracht […].« PA AA, Bern 4291. Eine andere Organisation, die den Internierten Geschenkpakete schickte, war die American Aid for German Prisoners of War. Vgl. Dankesschreiben des Vertrauensmannes in Camp Mimico (M/22) vom 27. Februar 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 318 Der VDI trug mit Büchersendungen zur Kriegsgefangenenhilfe bei und war gemeinsam mit anderen Institutionen in der Weiterbildung kriegsgefangener Seeleute tätig. Richtlinien des Deutschen Roten Kreuzes für die berufliche Betreuung der deutschen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. In: Mitteilungen für die Angehörigen deutscher Kriegsgefangener. Im Einvernehmen mit dem Oberkommando der Wehrmacht herausgegeben vom Präsidium des Deutschen Roten Kreuzes 2 (1944), S. 5. 319 Böhme, Kurt: Hilfen für die deutschen Kriegsgefangenen 1939-1956. In: Maschke, Erich (Hg.): Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs. Eine Zusammenfassung. München 1974, S. 347-446, hier S. 371. 320 Vance, Jonathan Franklin William: International Committee of the Red Cross (ICRC). In: Ders. (Hg.): Encyclopedia of Prisoners of War and Internment. Millerton 2006, S. 195199, hier S. 195.

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Kriegsbeginn bot das CICR »allen kriegführenden Staaten und später auch den neu hinzukommenden seine Dienste an, unterstrich seine absolute Neutralität und wies bei diesem Schritt darauf hin, daß es das Gleichgewicht der Gegenseitigkeit […] beachten werde, d.h., seine Delegierten würden sich um das Schicksal der Gefangenen beider Seiten kümmern und beide Seiten von ihren Feststellungen in den Lagern unterrichten«321. Auf vier Tätigkeitsfeldern engagierte sich das CICR für die Kriegsgefangenen: durch die Vermittlungs- und Sammeltätigkeit des Genfer Hauptbüros, der Agence Centrale des Prisonniers de Guerre, durch die Zusammenstellung und den Versand von Rotkreuzpaketen, durch die Besuche in Internierungs- und Kriegsgefangenenlagern sowie durch seine Vermittlungstätigkeit.322 Die Legitimation für diese Aufgaben bezog das CICR aus der Genfer Konvention: Artikel 79 der Konvention von 1929 legt die Gründung der Agence Centrale durch

321 K. Böhme: Die Berichte der IKRK-Delegierten über ihre Lagerbesuche, S. 89. Hervorhebungen im Original. Im Gegensatz zu 1914 war das CICR zu Beginn des Zweiten Weltkriegs gut auf den Krieg vorbereitet. Es gab ein Aktionsprogramm für den Kriegsfall und es waren schon einige Maßnahmen getroffen oder in die Wege geleitet worden, z.B. zur Vorbereitung der Tätigkeit der Agence Internationale des Prisonniers de Guerre. Vgl. F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 192. Ausführlich zum Aktionsplan siehe auch R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 25-26. Angesichts dieses großen Arbeitsprogramms war das CICR zu Kriegsbeginn erstaunlicherweise dennoch nur »eine winzige Organisation: ein ›internationales Komitee‹ bestehend aus 27 Mitgliedern, das sich zum Großteil aus den Prominenten Genfs zusammensetzte, eine Gruppe von Mitarbeitern in der Zentrale in Genf und eine Handvoll Delegierter mit Erfahrung ›im Felde‹, die den Einsatz des IKRK in den Hauptstädten der Kriegsteilnehmer leiteten.« Siehe Wylie, Neville: Das »Internationale Komitee vom Roten Kreuz« und die Kriegsgefangenen. In: Bischof, Günter/Karner, Stefan/ Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Zehn Jahre Ludwig-Boltzmann-Institut für KriegsfolgenForschung. Wien/München 2005, S. 249-266, hier S. 251. Zwischen 1939 und 1947 rekrutierte das CICR jedoch 340 Personen, die weltweit als Delegierte tätig waren. Vgl. Palmieri, Daniel/Troyon, Brigitte: The ICRC delegate: an exceptional humanitarian player? In: International Review of the Red Cross 89 (2007), H. 865, S. 97-112, hier S. 99. Dabei handelte es sich um Schweizer, die sich freiwillig für das CICR engagierten. Finanziert wurde das CICR durch »Gelder, die ihm der Schweizer Staat, die Schweizer Bevölkerung und die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften und ihre Regierungen zur Verfügung stellen.« K. Böhme: Die Berichte der IKRK-Delegierten über ihre Lagerbesuche, S. 88. Zur Finanzierung der CICR-Tätigkeit vgl. auch ausführlich F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 206. 322 N. Wylie: Das »Internationale Komitee vom Roten Kreuz« und die Kriegsgefangenen, S. 253-255. Die Agence Centrale des Prisonniers de Guerre fungierte als vermittelnde Stelle zwischen den Krieg führenden Staaten und sammelte alle Informationen über Kriegsgefangene an zentraler Stelle in Genf. Auf dieser Basis konnte sie auf Anfragen öffentlicher und privater Stellen reagieren und die Kommunikation zwischen den Gefangenen und ihren Familien befördern. Vgl. F. Bugnion: Le Comité International de la CroixRouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 200.

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das CICR sowie, zusammen mit Artikel 88, dessen humanitäre Aufgaben fest. Das CICR schützte »directly and by all means approved by the belligerents, the intellectual and moral health of PW and civilian internees«323. Die wichtigsten Mitarbeiter des CICR waren die Delegierten, die vor Ort sowohl in Kontakt mit den Kriegsgefangenen als auch mit den Vertretern der Gewahrsamsmacht standen. Delegierter des CICR in Kanada war seit Juli 1940 Ernest L. Maag, ein aus der Schweiz stammender Geschäftsmann aus Montreal.324 Später erhielt er Verstärkung durch seinen Assistenten J.C. Kaufmann.325 Auf dem Gebiet der intellektuellen und der sogenannten moralischen Hilfe betätigten sich auch andere Organisationen, deren bedeutendste neben dem CICR die YMCA war. Die zahlreichen nationalen YMCAs waren in der Worldʼs Alliance of Young Menʼs Christian Associations mit Sitz in Genf zusammengeschlossen. Das Worldʼs Committee of the YMCA bildete einen dazwischengeschalteten Verwaltungsapparat, der den Gesetzen der Schweiz unterstand. Wie das CICR war also das Weltkomitee der YMCA eine neutrale Schweizer Organisation. Während des Krieges eröffnete die YMCA eine Geschäftsstelle in New York, die eng mit dem kanadischen Büro der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe kooperierte326 und von 1940 bis zum 31. Juli 1946 bestand.327 Insgesamt gab die YMCA in diesem Zeitraum ca. 350.000 Dollar für die Kriegsgefangenenhilfe in kanadischen Lagern aus, einschließlich der Gehälter und Reisekosten für Mitarbeiter.328 Wie das CICR orientierte sich auch die YMCA in ihrer Arbeit am Prinzip der Gegenseitigkeit: Die Hilfsmaßnahmen für Deutsche in England oder Kanada waren vergleichbar mit denen für Briten oder Kanadier in deutschem Gewahrsam.329 Kurz nach der Ankunft der ersten Gefangenen in Kanada, nämlich Ende August bzw. Anfang September 1940, besuchten sowohl Vertreter des CICR als auch Sekre-

323 XVIIth International Red Cross Conference (Hg.): Report of the International Committee of the Red Cross on its activities during the Second World War (September 1, 1939 June 30, 1947). Volume III: Relief Activities. Genf 1948, S. 291. 324 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 50. 325 Ebd. 326 Vgl. zur Verwaltungsstruktur der YMCA Vulliet, André: The Y.M.C.A. and Prisoners of War. Preliminary Report of the War Prisoners Aid Young Men’s Christian Associations during World War II. O.O. 1946, S. 73. 327 Memorandum von Jack Pavey an Dr. Hermann Boeschenstein bezüglich des Consolidated Report of Finances, War Prisonersʼ Aid Committee for Canada, to Juli 31, 1946. LAC, MG 28, I 95, 108. Bereits am 15. Oktober 1939 hatten Großbritannien, Frankreich und Deutschland der YMCA die Erlaubnis erteilt, sich im Bereich der Kriegsgefangenenhilfe zu betätigen. Im weiteren Verlauf erhielt die YMCA von 33 Ländern die Befugnis, Gefangenenlager zu besuchen und die Insassen mit Hilfsgütern zu versorgen. A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 10-11. 328 Memorandum von Jack Pavey an Dr. Hermann Boeschenstein bezüglich des Consolidated Report of Finances, War Prisonersʼ Aid Committee for Canada, to Juli 31, 1946. LAC, MG 28, I 95, 108. 329 Protokoll über das erste Treffen des kanadischen Komitees für die War Prisonersʼ Aid of the YMCAs, Toronto, 1. Februar 1941. LAC, MG 28, I 95, 272, File 11.

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täre der YMCA zum ersten Mal kanadische Kriegsgefangenenlager.330 Das früh formulierte Ziel der YMCA-Aktivitäten auf dem Feld der Kriegsgefangenenhilfe war die »Re-Christianisation«331, durch die man die Basis für eine Re-Demokratisierung der jungen Deutschen zu schaffen hoffte. Dadurch sowie durch den allgemeinen Bildungsauftrag ergab sich eine gewisse Nähe der YMCA-Arbeit zu den später implementierten Reeducation-Programmen der Alliierten; beide zeigten eine klare Ausrichtung auf die Zukunft Deutschlands nach dem Krieg. Die YMCA beobachtete, dass bei jüngeren Kriegsgefangenen der durch die NS-Erziehung verinnerlichte Führerkult sowie die Blut-und-Boden-Ideologie den christlichen Glauben fast völlig verdrängt hatten.332 Die YMCA-Sekretäre waren sich im Klaren darüber, dass es für eine nachhaltige Re-Christianisation keineswegs genügen konnte, nur Gottesdienste anzubieten: »What is needed is that an attempt should be made, carefully and resolutely, to find a point of contact with these young men, to reach their own sense of need, difficulty and distress, that through friendship and readiness to understand, an entering wedge may be found for fuller teaching of the Christian faith.«333 Aufenthalte in den Lagern erfüllten in diesem Zusammenhang eine gänzlich andere Aufgabe als beim CICR oder den Schutzmachtvertretern, denn die Begegnung mit den Internierten diente nicht (nur) dazu, Informationen über etwaige Missstände zu erhalten, sondern war der Hauptzweck des Besuchs.334 Dabei spielte die Persönlichkeit des jeweiligen Sekretärs eine zentrale Rolle: Ihm musste es innerhalb kurzer Zeit gelingen, einen positiven Kontakt zu den Gefangenen aufzubauen.335 Dass diese point of contact-Strategie erfolgreich war, lässt sich durch zahlreiche Äußerungen von Kriegsgefangenen belegen. Die YMCA-Sekretäre Davis und Boeschenstein wurden zu Theateraufführungen, Weihnachtsfeiern oder einfach nur zu einem Besuch eingeladen, sie wurden von den Gefangenen beschenkt und erhielten sowohl während des Krieges als auch Jahre und Jahrzehnte danach immer wieder Dankesschreiben.336 Vor allem Hermann Boeschenstein, der als Universitätsprofessor

330 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 47. 331 Schreiben von William Paton, YMCA, an den Erzbischof von Toronto, 16. April 1941. LAC, MG 28, I 95, 272, File 11. 332 Ebd. 333 Ebd. 334 André Vulliet gibt in seinem Bericht über die Kriegsgefangenenhilfe der YMCA zu bedenken: »the War Prisoners Aid […] reached levels of political and social philosophy which may have meant more to prisoners than active indoctrination.« A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 58. 335 Die Mitarbeiter des YMCA waren meist neutrale Zivilisten, die in keiner Weise einer der Krieg führenden Mächte verpflichtet waren. Bis 1946 stieg die Zahl der weltweit als visiting secretaries engagierten YMCA-Mitarbeiter von 15 (im Jahr 1940) auf 175. Vgl. ebd., S. 15. 336 So schrieb etwa im Juni 1942 der Vertrauensmann des Lagers Kananaskis (K/130), Kapitän Oskar Scharf, an Jerome Davis: »My staff and myself were delighted to see you amongst us and it is only a pity you cannot come more often and enjoy at least the mountain scenery or a friendly bear.« Letzteres bezieht sich auf den jungen Bären, den die See-

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im Umgang mit jungen Menschen erfahren war, wurde von vielen Internierten als »väterlich beschützende[r] gute[r] Engel«337 empfunden und pflegte nach dem Krieg einige Freundschaften mit ehemaligen Gefangenen.338 Inhaltlich und organisatorisch stimmten sich YMCA und CICR eng ab.339 Nach dem ersten Kriegsjahr »erklärte sich die YMCA [gegenüber dem CICR; JK] bereit, ihre Hilfe auf die geistigen und sportlichen Bedürfnisse der Kriegsgefangenen zu beschränken«340. Auch mit dem DRK traf die YMCA eine Übereinkunft über eine Verteilung der Aufgaben speziell für die Kriegsgefangenenhilfe in Kanada.341 Demnach war die YMCA dafür zuständig, die Hilfssendungen zu organisieren und zu koordinieren, die vom DRK bzw. vom Canadian Red Cross versandt wurden.342 Die YMCA bemühte sich vor allem um mentale und spirituelle Hilfe, die mit zunehmender Kriegs- und Gefangenschaftsdauer immer wichtiger wurde.343 Sie kümmerte sich um »die Aus- und Weiterbildung der Kriegsgefangenen, ihre Freizeitgestaltung und die Förderung ihrer kulturellen und geistigen Fähigkeiten«,344 also um Erziehung und Bildung, Kultur und Sport – diejenigen Bereiche, die das Lagerleben entscheidend prägten.345 Dafür nutzte sie auch die Transportkapazitäten des CICR, vor allem dessen Schiffe.346 Ein gemeinsames Betätigungsfeld von CICR und YMCA war die Unterstützung der Gefangenen bei der Einrichtung von Kantinen. Da die Verwendung von Kantinenüberschüssen meist dem ganzen Lager zugute kam, bedeutete es Hilfe zur Selbsthilfe, Kantinen zu eröffnen.347

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leute in Kananaskis, wie in manchen anderen Lagern auch, im Camp hielten. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. Schreiben von Dr. Kurt Gerhardt an Hermann Boeschenstein vom 6. August 1980. Zitiert bei Gallati, Ernst: Hermann Boeschenstein. Eine Biographie. Bern u.a. 1995, S. 99. Froeschle, Hartmut: Hermann Boeschenstein in memoriam. In: Zeitschrift für KanadaStudien 4 (1983), H. 1, S. 5-7, hier S. 6-7. A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 84. N. Wylie: Das »Internationale Komitee vom Roten Kreuz« und die Kriegsgefangenen, S. 264. Provisional agreement between the War Prisonersʼ Aid of the Y.M.C.A. and the German Red Cross, Juli 1940. LAC, MG 28, I 95, 272, File 11. In der vorläufigen Vereinbarung vom Juli 1940 spielte das Prinzip der Reziprozität eine zentrale Rolle – deutsche Gefangene in Kanada sollten in gleichem Maße von der Vereinbarung profitieren wie kanadische und englische Gefangene in Deutschland und in gleichem Umfang Hilfspakete erhalten. Über den Versand von Paketen wollte man sich gegenseitig informieren: »The two despatching organizations will inform each other in writing of each despatch of parcels. The German Red Cross will keep the War Prisoners’ Aid of the Y.M.C.A. in Berlin informed of all actions in this respect. The form of co-operation in Canada is left to the Y.M.C.A.« Ebd. Ebd. A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 11-12. K. Böhme: Hilfen für die deutschen Kriegsgefangenen 1939-1956, S. 377. Zu den von der YMCA bereitgestellten Hilfsgütern gehörten auch Künstlerbedarf und Musikinstrumente. XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. III, S. 289. A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 84. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 15-16.

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Die Schweiz in charge of German interests in Kanada Aus mehreren Artikeln der Genfer Konvention geht hervor, dass der Schutzmacht eine wichtige Rolle für das Wohl der Gefangenen zugedacht war. Mit der Wahrnehmung deutscher Interessen beauftragt – »in charge of German interests«348 – war während des Zweiten Weltkriegs die Schweiz.349 In ihrer Funktion als Schutzmacht wurde sie vom Gewahrsamsstaat über Gefangennahmen informiert (Artikel 77 der Genfer Konvention), kontrollierte die Einhaltung der Konvention (Artikel 86), nahm Beschwerden der Lagerinsassen entgegen (Artikel 42), bot Hilfe im Fall eines Gerichtsverfahrens (Artikel 60) und leistete de facto vieles mehr. Schutzmacht und CICR arbeiteten also im Großen und Ganzen für das gleiche Ziel350 und ergänzten sich dabei in sinnvoller Weise, auch indem sie sich regelmäßig austauschten.351 Durch »Doppelspurigkeiten«352 wie etwa die beiderseitigen Besuche in den Camps ermöglichten den beiden Institutionen eine doppelte Kontrolle, vor allem auch deshalb, weil die Schutzmachtvertretung ihrem Mandatsstaat verpflichtet war, das CICR jedoch unabhängig und aus eigener Initiative agierte.353 Die Kernaufgaben der Schutzmacht (etwa Hilfe in rechtlichen Angelegenheiten oder bei Gerichtsverfahren gegen Gefangene) standen prinzipiell auch dem Roten Kreuz als Betätigungsfelder offen, weil es sich auf das Recht berufen konnte, im Bereich humanitärer Hilfe auch auf eigene Initiative tätig zu werden. Auf der anderen Seite musste die Schutzmacht die Aufgabenbereiche des CICR anerkennen und respektieren, durfte aber mit dem CICR in diesen Angelegenheiten zusammenarbeiten, sofern sich alle Maßnahmen im Rahmen der Genfer Konvention bewegten.354

348 So lautet der meist auf Schriftstücken der Schweizer Diplomaten abgedruckte Zusatz. Etwa auf dem Bericht über den Besuch des Lagers Petawawa vom 26. Februar 1941. ACICR, C SC, Canada. 349 Zur Schweiz als Schutzmacht im Zweiten Weltkrieg siehe auch Doehring, Karl: Schutzmacht. In: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Dritter Band. Rapallo-Vertrag bis Zypern. Berlin 1962, S. 218-222; D. Frey: Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«. Nordhausen 2006; Knellwolf, Jean-Pierre: Die Schutzmacht im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Verhältnisse. Inauguraldissertation zur Erlangung der Würde eines Doctor iuris der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern. Bern 1985; Levie, Howard S.: Prisoners of War and the Protecting Power. In: American Journal of International Law 55 (1961), H. 2, S. 374-397; Stamm, Konrad Walter: Die guten Dienste der Schweiz. Aktive Neutralitätspolitik zwischen Tradition, Diskussion und Integration. Bern/Frankfurt am Main 1974; Vance, Jonathan Franklin William: Protecting Power. In: Ders. (Hg.): Encyclopedia of Prisoners of War and Internment. Millerton 2006, S. 313-315. 350 F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 1004. 351 D. Frey: Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«, S. 35. 352 Ebd. 353 F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 1007. 354 Ebd., S. 1003.

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»Gesuche, Wünsche, Mitteilungen und Proteste«355 des Mandatsstaats wurden meist über die deutsche Botschaft in Bern an die Schweizer Regierung gerichtet. Von dort aus wurden die jeweiligen Entscheidungen »mit den nötigen Instruktionen und Kommentaren versehen, der schweizerischen Mission in jenem Land übermittelt […], in welchem Schritte unternommen werden sollen«356. Die dortigen Schweizer Diplomaten traten in Kontakt mit den zuständigen Stellen des Gewahrsams- bzw. Aufenthaltsstaates und leiteten gegebenenfalls weitere Maßnahmen ein. Auf dem umgekehrten Dienstweg wurde der Ausgang der jeweiligen Angelegenheit an den Mandatsstaat berichtet.357 Um den Wegfall der diplomatischen Dienste der Schweiz nach Kriegsende im Rahmen der weltweiten Kriegsgefangenenbetreuung zu kompensieren, verlagerte das CICR seine Tätigkeit zunehmend auf die Länder, in denen die Verhältnisse problematischer waren als in Kanada oder den USA. Dort wurde im Gegenzug die Häufigkeit der CICR-Lagerbesuche verringert, sodass die Arbeit der YMCA für die internierten deutschen Seeleute nach Mai 1945 an Bedeutung gewann.358 Finanzielle Hilfen für die internierten Seeleute Die finanziellen Schwierigkeiten internierter Seeleute ergaben sich aus dem völkerrechtlich unklaren Status von Handelsschiffsbesatzungen sowie daraus, dass die Genfer Konvention Finanzfragen folglich auch nur für gefangene Angehörige der kämpfenden Truppe regelte (Artikel 23 und 24). Allerdings war die ökonomische Situation vieler Seeleute bereits vor der Gefangennahme sehr prekär gewesen, und nicht wenige Besatzungsmitglieder verloren bei Selbstversenkungsaktionen ihr gesamtes Hab und Gut. Da sie oft nur das retten konnten, was sie am Leib trugen, benötigten sie nun dringend neue, vor allem warme Kleidung.359 Dies betraf besonders diejenigen Schiffsmannschaften, die sich zuletzt längere Zeit in den Tropen aufgehalten hatten. Sie waren empfindlich gegenüber der Kälte während des langen Winters in Kanada, besaßen jedoch, wenn überhaupt, oft nur leichte Sommerkleidung. Da die Seeleute als Zivilinternierte galten, hatten sie im Gegensatz zu Kriegsgefangenen die Kosten für Kleidung, Wäsche und Strümpfe in der Regel selbst zu tragen.360 Zusätzlich benö-

355 J.-P. Knellwolf: Die Schutzmacht im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Verhältnisse, S. 316-317. 356 Ebd. 357 Zum Dienstweg in Schutzmachtangelegenheiten siehe ausführlich ebd. 358 K. Böhme: Hilfen für die deutschen Kriegsgefangenen 1939-1956, S. 99. 359 Vgl. etwa die diesbezügliche Bemerkung in einem Brief des Kapitäns Karl Aschoff (MS. HERMONTHIS) an die Reederei HAPAG aus dem Camp Fredericton (B/70), Februar 1942: »[…] mit Zivilgarderobe sieht es allerdings sehr truebe aus, da wir nur die Sachen, die wir gerade an hatten, gerettet haben, alles andere ist verloren gegangen.« LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4. 360 Vgl. das Schreiben von Paul Wittern, Vertrauensmann im Lager Kananaskis (K/130), an den Schweizer Konsul vom 18. Mai 1942. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3 (130). Die Reederei Hamburg-Süd wies die Angehörigen ihrer Besatzungsmitglieder darauf hin, dass »fehlende Bekleidungsstücke […] bei den zuständigen Landes- bzw. Kreisstellen

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tigten sie Geld, um Gebrauchsartikel wie Seife oder Zahnpasta sowie Verbrauchsmaterialien wie Schreibzeug in der Lagerkantine kaufen zu können. Unter besonderer Geldnot litten diejenigen, die zuvor in Lagern in Niederländisch-Indien, BritischIndien, Afrika oder in England interniert gewesen waren. Dort mussten sie zum Teil das gemeinsam erwirtschaftete Guthaben der Lagerkantine,361 aber auch privates Vermögen zurücklassen.362 Der zeitnahe Transfer des Geldes wurde zwar in der Regel in Aussicht gestellt, ließ sich jedoch kriegsbedingt in vielen Fällen nicht oder erst sehr viel später durchführen. Entsprechend resümierte das CICR nach Kriegsende: »[…] restrictions of all kinds in respect of transfers of funds were imposed by the general control of currency exchange during the war, and these reduced to nil, or considerably restricted the ›facilities‹ provided for in Art. 24 for the management of accounts of PW«363. Oft hätten Angehörige den Seeleuten zur Überbrückung solcher Engpässe gerne Geld geschickt. Doch Geldsendungen an Internierte waren nicht erlaubt.364 Familien, die über Kontakte im neutralen Ausland verfügten, konnten den Internierten über diesen Umweg zumindest andere Hilfsgüter zukommen lassen. Der einzige Weg, die im feindlichen Ausland internierten Seeleute mit Geld aus Deutschland zu versorgen, waren die vierteljährlichen Taschengeldzahlungen. Die Verteilung und Quittierung der Gelder erledigten die Schutzmachtvertreter. Im Unterschied zu den Zivilinternierten, deren Taschengeld die Reichsregierung finanzierte, wurden die Seeleute von den Reedereien versorgt.365 Dabei wurde weder nach Dienstgraden differenziert noch

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des Deutschen Roten Kreuzes anzumelden« seien. Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd an die Angehörigen internierter Besatzungsmitglieder, 3. Mai 1940. DSM, III A 3324 b. Laut Artikel 12 der Genfer Konvention muss die Gewahrsamsmacht Kriegsgefangenen Kleidung, Wäsche und Schuhe stellen. Vgl. hierzu etwa die ausführliche Schilderung des Vertrauensmannes in Camp Petawawa (P/33), Kapitän Wüsthoff, in einem Schreiben an den Schweizer Konsul vom 21. November 1942. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-33. Zu diesem Fall vgl. das Schreiben von Paul Wittern, Vertrauensmann im Lager Kananaskis (K/130), an den Schweizer Konsul vom 18. Mai 1942. Wittern beklagte sich darüber, dass er seit der Verlegung von Accra nach England und weiter nach Kanada keinen Zugriff auf sein Geld hatte, obwohl er dieses dringend benötigte, etwa für die Anschaffung warmer Winterkleidung. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3 (130). XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 282. So auch die Auskunft des Auswärtigen Amtes an eine Seemannsgattin vom 7. Mai 1940. PA AA, R 127.892. Schreiben des Vertrauensmannes aus Camp Fredericton (B/70) an den Schweizer Konsul vom 22. August 1941. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70. Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang ist, ob der Heuervertrag zwischen der Reederei und den Seeleuten nach der Gefangennahme noch bestand oder nicht. Laut § 69 Absatz 1 der Seemannsordnung von 1902 endet der Heuervertrag, wenn das Schiff »verunglückt« oder »wenn es aufgebracht oder angehalten und für gute Prise erklärt wird.« Die Seemannsordnung vom 2. Juni 1902 und ihre Nebengesetze. Bearbeitet von Dr. iur. L. Perels. Berlin 1902, § 69. Eine Auflösung des Heuervertrages ist nach § 70 der Seemannsordnung möglich, »wenn die Reise, für welche der Schiffsmann geheuert war, wegen Krieg, Embargo oder Blo-

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nach der Verwendung auf einem der »von der Kriegsmarine in Anspruch genommenen Handelsschiffe und der der freien Fahrt«.366 Das monatliche Taschengeld sollte durch eine einmalige Zahlung von 30 Reichsmark »als Entschädigung für die bisher ausgebliebenen Unterstützungen«367 ergänzt werden. Bis die Taschengeldzahlungen der Reedereien, vermittelt durch die Schutzmacht Schweiz, jedoch tatsächlich bei den internierten Seeleuten ankamen, mussten einige Anlaufschwierigkeiten bewältigt werden. Die Zahlungen in Höhe von 13,26 Dollar pro Quartal368 bzw. 10 Reichsmark monatlich369 sollten am 1. April 1940 beginnen,370 verzögerten sich jedoch teils erheblich. Das lag nicht nur an der deutschen Devisenknappheit, sondern auch an dem in Kriegszeiten schwierigen Geldtransfer von Europa nach Kanada.371 Auch Umzüge der Internierten in andere Lager konnten für Komplikationen sorgen. Am 3. Mai 1940 erklärte die Reederei Hamburg-Süd gegenüber den Angehörigen: »Wir haben bereits 2 Monatsbeträge dem Auswärtigen Amt zwecks Auszahlung durch die Schutzmacht überwiesen. Leider hat sich die Auszahlung durch gewisse Schwierigkeiten etwas verzögert.«372 Aus einem Beschwerdebrief des Vertrauensmannes im Lager Fort Henry vom 7. August 1940 geht hervor, dass das Geld bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht bei den Seeleuten angekommen war.373 Rudolf Becker bestätigte erst in einem Brief vom 7. Februar 1941, dass er mittlerweile 40 Reichsmark von der Reederei erhalten habe.374 Wie aus verschiedenen Rückmeldungen internierter Kapitäne an ihre Reedereien hervorgeht, schien sich in der Folgezeit das Prozedere um die Taschengeldzahlungen allmählich eingespielt zu haben.375 Eine im Jahr 1944 vom Reichs-

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ckade […] nicht angetreten oder fortgesetzt werden kann.« Doch in den Quellen fällt die Bewertung dieser Frage unterschiedlich aus: So erhielt Rudolf Becker erst nach dem Krieg die Kündigung seiner Reederei, wie aus einem Schreiben der Hamburg-Süd an Friedrich Becker vom 25. Juli 1946 hervorgeht. DSM, III A 3324 b. In der Abschrift einer Aufzeichnung vom 30. Januar 1940 hingegen wird argumentiert, dass der Heuervertrag zwischen der Reederei und internierten Seeleuten nicht mehr bestünde. PA AA, R 146.484. Schreiben des Auswärtigen Amtes an das OKM, 15. Oktober 1941. PA AA, R 146.484. Ebd. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 111. Auskunft des Auswärtigen Amtes an eine Seemannsgattin vom 7. Mai 1940. PA AA, R 127.892. Schreiben des Vertrauensmannes aus Fort Henry/Kingston (F/31) an den Schweizerischen Generalkonsul vom 7. August 1940. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-31. Einblick in den komplizierten Weg, den das Geld bis zu seiner Auszahlung an die Empfänger zurücklegen musste, gewährt ein Schreiben des Schweizerischen Generalkonsuls an das kanadische Department of External Affairs vom 24. Oktober 1940. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-31. Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd an die Angehörigen internierter Besatzungsmitglieder, 3. Mai 1940. DSM, III A 3324 b. Schreiben des Vertrauensmannes aus Fort Henry/Kingston (F/31) an den Schweizerischen Generalkonsul vom 7. August 1940. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-31. Brief von Rudolf Becker an seinen Vater vom 7. Februar 1941. DSM, III A 3324 b. So schrieb Kapitän Karl Aschoff im Februar 1942: »Die Taschengelder durch das Schweizer Generalkonsulat laufen regelmaessig ein.« Brief des Kapitäns Karl Aschoff

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kommissar Seeschiffahrt beim Reichsfinanzministerium beantragte Erhöhung des Taschengeldbetrags für Seeleute wurde jedoch abgelehnt,376 und die letzte Auszahlung fand im vierten Quartal des Jahres 1944 statt.377 Über das Taschengeld hinaus bekamen die Seeleute Spenden von verschiedenen Einrichtungen. So stiftete das Winterhilfswerk Geld für internierte und nichtinternierte Deutsche in Kanada, Jamaica, Niederländisch-Indien und Ostafrika.378 Vor allem zu Weihnachten stellten neben den Reedereien auch andere Institutionen Spenden in Aussicht. Diese Zahlungen wurden zwar meist öffentlichkeitswirksam angekündigt, kamen jedoch nicht immer oder nicht rechtzeitig bei den Empfängern an.379 Im Jahr 1942 gab es laut einem Schreiben des CICR an das deutsche Konsulat in Genf eine Weihnachtsspende der Reichsregierung für die Internierten in Kanada.380 Ein Teil dieser Spenden war stets dafür gedacht, den Internierten eine festlich gestaltete Weihnachtsfeier zu ermöglichen. Der Vertrauensmann konnte nach eigenem Ermessen entscheiden, wie groß der gemeinsam verwendete Anteil der Summe sein sollte und wie viel jedem einzelnen Internierten ausgezahlt wurde.381 Gerade zu Weihnachten trafen vor allem für diejenigen internierten Schiffsbesatzungen, die nach Kriegsbeginn länger in Südamerika festgesessen waren, Spenden und Pakete von dortigen Auslandsdeutschen ein. So berichtete der ehemalige Kapitän des MS. HERMONTHIS an die Hamburg-Amerika-Linie, dass die Seeleute zu Weihnachten 1941 »von allen Seiten ueppig beschenkt«382 worden waren: »Ganz gross hatte sich Lima gemacht. Die Damen der Gesellschaft hatten sich vorgenommen, dass keiner von der geliebten ›Hermonthes‹ leer ausgehen sollte, sodass ein jeder sein Weihnachtspaket erhielt und ausserdem erreichte mich ein Scheck von 400 U.S.A. Dollar als Festgabe fuer die Gefolgschaft. Auch Valparaiso schickte mehrmals betraegliche [sic] Summen, so auch zum Fest.«383

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(MS. HERMONTHIS) an die Reederei HAPAG aus dem Camp Fredericton (B/70). LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4. Schreiben des Reichsfinanzministers an den Reichskommissar Seeschiffahrt vom 13. Juli 1944. PA AA, R 127.882. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 120. Das geht aus einem im April 1941 abgeschickten Schreiben der deutschen Gesandtschaft in Bern an den CICR-Delegierten für Jamaica hervor. ACICR, G 17/75. So erkundigte sich der Vertrauensmann des Lagers Petawawa (P/33) beim Schweizer Konsul nach dem Verbleib des von den Reedereien angekündigten Weihnachtsgeldes: »In letters from Germany we saw that the shipping companies were sending money regularly as a Christmas gift. We have never received any and should like to know how much was sent and where to.« Schreiben des Vertrauensmannes von Camp Petawawa (P/33), Kapt. Wüsthoff, an den Schweizer Konsul vom 21. November 1942. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-33. Schreiben des CICR an das deutsche Konsulat in Genf vom 2. Dezember 1942. ACICR, G 17/29. Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd, Mitte Dezember 1943. DSM, III A 3324 b. Ebd. Ebd.

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Sachleistungen In ihrem Bericht über die Schutzmachttätigkeit zugunsten deutscher Internierter und Kriegsgefangener in Kanada resümieren die Schweizerischen Diplomaten: »While parcels from Germany have always been very welcome at all camps, it can be said that […] the absence of these parcels would not have imposed undue hardships on the prisoners. This statement refers to the contents of the parcels exclusively and not to their sentimental or moral value […].«384 Da die Versorgungslage in Kanada generell gut war, entstand während des Krieges auch in Deutschland die Frage, »ob es erforderlich sei, den Kriegsgefangenen in Kanada Liebesgaben zukommen zu lassen. Von dort lagen widersprechende Nachrichten vor. Aus der Kriegsgefangenenpost war zu entnehmen, daß die Lagerinsassen oft auf Liebesgaben verzichteten, obwohl ihr Lager als ›weniger gut‹ bezeichnet wurde. Umgekehrt baten oft Insassen von Lagern, die als sehr gut galten, um Liebesgaben.«385 Im Zuge ihrer Lagerbesuche übernahmen deshalb die Schutzmachtvertreter auch die Bedarfsermittlung in dieser Frage.386 Trotz dieser Überlegungen war der Paketeingang in den Lagern beträchtlich.387 So sandte etwa die Reederei Hamburg-Süd neben der Taschengeldspende alle zwei Monate ein Rot-Kreuz-Paket an jedes einzelne Besatzungsmitglied388 und stellte damit die »Hauptmasse der eingehenden Pakete«,389 wie Rudolf Becker im Juli 1942 anerkennend konstatiert. Auch die Hapag und der Norddeutsche Lloyd gaben regelmäßig Paketsendungen an ihre Besatzungsmitglieder auf.390 Manche kleineren Firmen zogen sich allerdings aus den Hilfssendungen zurück, als bekannt wurde, dass einzelne Internierte Pakete von Freunden aus den USA erhielten – Anlass für den Vertrauensmann im Camp Monteith, gegenüber dem Schweizerischen Legationsrat Preiswerk klarzustellen, dass nur eine kleine Zahl von Internierten solche Pakete bekam.391 Die Internierten erhielten jedoch auch aus anderen Ländern Pakete, vor allem aus Argentinien.392 Neben den Reedereien und Privatpersonen im Ausland sandten das

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Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 37. K. Böhme: Hilfen für die deutschen Kriegsgefangenen 1939-1956, S. 370. Ebd. So erhielten deutsche Kriegsgefangene und Internierte in kanadischen Lagern im Oktober 1942 insgesamt 34.092 Pakete. Noch im Jahr 1944 kamen im Schnitt monatlich 17.721 Pakete an, allerdings nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Argentinien. Siehe D. Page: Tommy Stone and Psychological Warfare in World War Two, hier S. 119. Briefwechsel zwischen Friedrich Becker und der Reederei Hamburg-Süd vom 5. und 9. April 1940. DSM, III A 3324 b. Brief von Rudolf Becker an seinen Vater vom 8. Juli 1942. DSM, III A 3324 b. Schreiben des Vertrauensmannes im Camp Monteith (Q/23) an den Schweizerischen Legationsrat Preiswerk vom 15. August 1941. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-23, sowie Schreiben von Dr. Jerome Davis an Major Pearson, Internment Operations, vom 16. Juli 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 4. Schreiben des Vertrauensmannes im Camp Monteith (Q/23) an den Schweizerischen Legationsrat Preiswerk vom 15. August 1941. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-23. D. Page: Tommy Stone and Psychological Warfare in World War Two, hier S. 119.

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DRK und das CICR, Privatpersonen in Deutschland sowie weitere Hilfsorganisationen außerhalb Deutschlands immer wieder Pakete in die kanadischen Lager.393 Die sogenannten Typenpakete der Reedereien waren meist kollektiv an das Lager bzw. an die Schiffsbesatzungen dieser Reederei adressiert; ihr Inhalt wurde vom Vertrauensmann gleichmäßig an die Empfänger verteilt.394 Angehörige von Internierten konnten beim Paketversand laut Informationsmaterialien des DRK zwischen vier verschiedenen Typen von Paketen mit jeweils feststehendem Inhalt wählen: einem Tabakpaket, einem Seifenpaket, einem Paket mit Reinigungsmitteln sowie einem Paket mit Süßwaren.395 Nur in Form dieser Typenpakete konnten sie »Waren […] versenden, die wegen der Bewirtschaftung sonst im Allgemeinen […] nicht in persönlichen Sendungen abgeschickt werden können«396. Je nach Pakettyp war festgelegt, wie viele solcher Pakete pro Monat oder pro Jahr versandt werden durften. Zu Weihnachten lieferte die YMCA Christbäume an die Lager und versuchte dabei in den größeren Lagern, jeder Wohnbaracke einen eigenen Baum zukommen zu lassen.397 Außerdem stellte die YMCA Gewürze und Zutaten für die Weihnachtsbäckerei zur Verfügung.398 Die Theatergruppen und Orchester hatten immer wieder wechselnden Bedarf an Materialien, je nach Projekt und Besetzung. In der Regel konnten Schauspieler im Lager nicht auf einen Kostüm- oder Requisitenfundus zurückgreifen. Was sie nicht selbst herstellen konnten und daher bei Hilfsorganisationen ›bestellten‹, waren oft nur Kleinigkeiten, die aber für das Gelingen der Aufführung wesentlich waren.399 Der hoch erscheinende Bedarf an manch anderen Dingen, vor allem an Sportgeräten, ist teilweise durch den Verschleiß durch häufigen Gebrauch zu erklären.400 Gegenstände zur Gestaltung des gemeinsamen Lagerlebens wurden, sofern sie nicht prinzipiell verboten waren,401 nach Möglichkeit von den ge-

393 So erwähnt Kapitän Karl Aschoff (MS. HERMONTHIS) in seinem Schreiben an die Reederei HAPAG aus dem Camp Fredericton (B/70), Februar 1942, den regen Eingang von Paketen vom CICR und der YMCA, »sowie eine Menge Sachen von anderen Organisationen […], die dann verlost wurden.« LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4. 394 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 35-36. 395 DRK-Merkblatt Liebesgaben und Typenpakete, 12. Januar 1940. DSM, III A 3324 b. 396 Ebd. 397 Schreiben des Vertrauensmannes im Camp Fredericton (B/70) an die YMCA, 4. Dezember 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). 398 Empfangsbestätigung und Dankesschreiben des Lagerführers aus Fredericton (B/70) an die YMCA, 15. Dezember 42. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). 399 So wünschte sich die Theatergruppe in Camp Mimico/New Toronto (M/22) am 22. Juli 1942 von der YMCA ein pinkfarbenes oder anderweitig grellbuntes Sommerkleid sowie ein paar dunkelblonde Wimpern nebst Make-up. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 4. Die Schauspielgruppe in Fredericton (B/70) bestellte im Juni 1942 eine Reihe von Temperafarben für das Bühnenbild und betonte, dass »only fairly small quantities« gebraucht würden, da das Bühnenbild für jedes Stück geändert würde. LAC, RG 24, 6583, File 3-35, Vol. 3. 400 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 42. 401 Verboten waren alle Gegenstände, die in irgendeiner Weise zur Vorbereitung und Durchführung von Fluchtversuchen hätten verwendet werden können. Dabei handelte es sich

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nannten Institutionen für die Internierten beschafft, entweder voll finanziert, in einer Mischfinanzierung oder lediglich im Auftrag der Internierten. Die YMCA trat allerdings nur dann als Mittler auf, wenn die Internierten nicht selbst bei den jeweiligen Firmen bestellen konnten.402 Verfügten die Internierten über genug gemeinschaftliches Geld, beteiligten sie sich auch an den Kosten für teurere Anschaffungen. Vor allem, wenn es um größere Investitionen oder Baumaßnahmen ging, bezahlten die Lagerinsassen einen Teil, oft aus dem gemeinsam erwirtschafteten Kantinengewinn. Auf diese Weise wurde im Jahr 1943 eine Schulbaracke im Lager 100 finanziert; ein Drittel der Kosten trugen die Internierten,403 den logistischen Teil erledigte die YMCA.404 Aufschlussreich sind die Schwerpunkte der YMCA-Hilfe auf dem Gebiet der Sachleistungen in den verschiedenen Kriegsjahren: Bis September 1941 bildeten Ausgaben für »Comforts and Relief« den größten Posten, in den Jahren 1942 bis 1944 war dies jeweils der Sport, während im Jahr 1945 plötzlich die Ausgaben für Bildung sprunghaft anstiegen. In den sieben noch abgedeckten Monaten des Jahres 1946 bildeten die Kosten für Filme den größten Posten.405 Zu erklären sind diese Verschiebungen durch den jeweiligen Bedarf in den verschiedenen Phasen der Internierung: Zu Beginn halfen die Pakete vor allen Dingen, den unmittelbaren Bedarf an Kleidungsstücken und Gegenständen des täglichen Gebrauchs zu decken. Im weiteren Kriegsverlauf waren die Internierten immer weniger auf materielle Güter aus Deutschland angewiesen, mit Ausnahme von deutschen Lehr- und Fachbüchern zu Unterrichts- oder Studienzwecken. Förderung von Bildung und Unterricht »Books are the first and most important requirement in helping fighting boredom, in occupying and often improving one’s mind, and they immediately come to the mind of anyone who wants to help men in confinement.«406 Diese Aussage aus dem Arbeitsbericht der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe macht deutlich, dass Bücher zu den wichtigsten Hilfsgütern nicht nur der YMCA gehörten. Auch zahlreiche andere Or-

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Martin Auger zufolge um »field glasses, photographic apparatuses, sextants, compasses, electric flashlights, maps, money, fountain pens, telegraphic and telephonic materials, radios, inflammable materials, spirits, liquors, wines, drugs, weapons, foreign literature, and civilian clothing.« M. Auger: Prisoners of the home front, S. 48. So heißt es in einem Schreiben der YMCA an den Lagerführer in Fredericton (B/70), 11. November 1942: »In general the government has requested that you purchase articles direct from the firms where possible, rather than that we do it for you.« LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). Bericht über das Lager Neys (W/100), Anlage zum Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd vom Dezember 1943. DSM, III A 3324 b. Insgesamt gaben die Gefangenen in Kanada im Gesamtzeitraum hierfür mehr als 70.000 Dollar aus. Consolidated Report of Finances, War Prisonersʼ Aid Committee for Canada, to Juli 31, 1946. LAC, MG 28, I 95, 108. Ebd. A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 19.

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ganisationen schickten Unterhaltungs- und Fachliteratur in die Internierungslager. Doch rasch erwies sich die Versorgung der Internierten mit Büchern als Unternehmen, das nur gemeinschaftlich gestemmt werden konnte. Im Jahr 1940 gründeten sechs Hilfsorganisationen, darunter die YMCA, unter der Schirmherrschaft des CICR ein sogenanntes Advisory Committee for the supply of reading material to prisoners of war and internees.407 Die über kurz oder lang in allen Camps eingerichteten Lagerbüchereien erhielten Buchspenden vom DRK408 und von der YMCA. Bücher, die von der YMCA an die Lagerbibliotheken geschickt wurden, deckten nahezu alle Themenbereiche ab: Belletristik (in Kanada meist englisch und deutsch), Lyrik, Klassiker, Sachbücher, Biografien, Bücher über Geschichte und Reisen, Berufe, Wissenschaft und Medizin, Religion und Kunst.409 Gemäß ihrer christlichen Ausrichtung schickte die YMCA auch religiöse Literatur in die Lager.410 Gerade bei Neuankömmlingen waren Bücherspenden für die Lagerbibliothek höchst willkommen, wie einem Schreiben des Vertrauensmannes im Lager Farnham an die YMCA zu entnehmen ist: »We are in this camp only German Merchant Seamen, newly arrived a short time ago, and therefore we enjoy the more your donations which help us to build up a library in this camp and to lighten our lives in the internment.«411 Für den Versand von Büchern galten allerdings einige Einschränkungen:412 Verboten waren rassenkundliche und geopolitische Veröffentlichungen ebenso wie Bücher über Sprengstoffe oder Funktechnologie. Enthielt der Text NS-Gedankengut, so konnte sich die ohnehin langwierige Prüfung durch den Zensor zusätzlich in die Länge ziehen.413 Außer Büchern machte die YMCA den Internierten auch Zeitschriften zugänglich, meist in Form eines Abonnements. Besonders beliebt war dabei der Reader’s Digest,414 aber auch andere kana-

407 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. III, S. 288-289. Die beteiligten Organisationen waren: The World Alliance of YMCA, The International Education Bureau, The European Studentsʼ Relief Fund, The International Federation of Librariansʼ Associations, The World Commission for Spiritual Aid to Prisoners of War, The Swiss Catholic Mission for Prisoners of War. 408 Bericht über das Lager Neys (W/100), Anlage zum Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd vom Dezember 1943. DSM, III A 3324 b. 409 A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 20. 410 So etwa die täglichen Losungen. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 411 Schreiben von Kapitän Krieger, Farnham, an die YMCA, 2. Juni 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 412 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 35-36. Die Bücher mussten verlagsneu sein und – mit Ausnahme von reiner Unterhaltungslektüre – auch vor dem 1. Januar 1933 erschienen sein. DRK-Merkblatt Liebesgaben und Typenpakete, 12. Januar 1940. DSM, III A 3324 b. 413 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 37-38. 414 So bedankte sich etwa Kapitän W. Wüsthoff, der Vertrauensmann des Lagers Petawawa (P/33) bei der YMCA für ein Jahresabonnement dieser Zeitschrift. Schreiben vom 19. Dezember 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (33). Auch zwei meiner Gesprächspartner thematisierten Leseerlebnisse im Zusammenhang mit dieser Zeitschrift.

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dische und US-amerikanische Zeitungen und Zeitschriften konnten von einzelnen Internierten oder kleinen Gruppen bezogen werden, die sich ein Abonnement teilten.415 Im Frühjahr 1941 führte das DRK eine Umfrage durch, um den Bedarf an Lehrund Lernmaterialien in den Camps zu ermitteln. Die Klassifizierung der Lagerinsassen nach Berufsgruppen und Fertigkeiten sollte die gezielte Verteilung von Fachbüchern erleichtern.416 Ein Teil dieser Unterrichtsmaterialien kam vom DRK selbst, zusammen mit Musikinstrumenten und Spielen.417 Auch Angehörige konnten dort Buchbestellungen für ihre internierten Verwandten aufgeben.418 Bücher und Schreibbedarf trafen zudem vom CICR ein, sowohl in Sammelpaketen als auch in individuellen Buchsendungen.419 Nautische und technische Lehrbücher wurden oft von den Reedereien nach Kanada geschickt.420 Meist reagierten sie damit auf konkrete Bücherwünsche von Internierten, die diese Werke benötigten, um sich bestimmte Inhalte im Rahmen von Kursen oder im Selbststudium erarbeiten zu können.421 Seefahrtsschulen in den Internierungslagern waren eine Besonderheit der Seemannslager.422 Die YMCA folgte beim Versand von Materialien für diese und allgemeine Unterrichtskurse ihrer prinzipielle Leitlinie für Hilfsmaßnahmen: Gruppe vor Individuum. Solange jedoch die Wünsche des Individuums denen der Gruppe nicht entgegenstanden und Mittel vorhanden waren, wurden auch sie erfüllt,423 ebenso wenn es um Fachbücher für sehr spezialisierte Fächer oder Weiterbildungsliteratur für Handwerksberufe ging, für die in dem jeweiligen Lager jedoch keine Kurse angeboten wurden.424 Auch auf anderen Gebieten orientierte sich die YMCA am Bedarf bestehender Interessengruppen im Lager, etwa bei der Versorgung von Hobby-Malern mit Künstlerbedarf.425 Üblicherweise sammelte der Vertrauensmann des jeweiligen Camps die Anfragen und Wünsche seiner Mitgefangenen und leitete sie an die YMCA weiter.

415 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 120. Bei manchen Firmen bekam die YMCA auch Rabatt, den sie an die Gefangenen weitergeben konnte. Siehe Schreiben des Vertrauensmannes von Fredericton (B/70) an die YMCA, Februar 1943. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). 416 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. III, S. 292. 417 Ebd. 418 Merkblatt des DRK über den Versand von Liebesgaben und Typenpaketen, 12. Januar 1940. DSM, III A 3324 b. 419 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. III, S. 289. 420 Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd, Mitte Dezember 1943. DSM, III A 3324 b. 421 Aus den Briefen der Reederei Hamburg-Süd an Friedrich Becker geht hervor, dass die Reederei Buchsendungen an die Gefangenen schickte, so auch das von Rudolf Becker in einem Brief an seinen Vater gewünschte Exemplar der Verordnungen über die Disziplinarstrafgewalt der Kapitäne und Offiziere. Schreiben der Hamburg-Süd an Friedrich Becker vom 19. Mai 1942. DSM, III A 3324 b. 422 Die Einrichtung dieser Lehrgänge wurde von Deutschland aus wohlwollend begleitet und auch mit dem Reichsverkehrsministerium abgestimmt. Vgl. K. Böhme: Hilfen für die deutschen Kriegsgefangenen 1939-1956, S. 381-382. 423 LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 4. 424 LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 425 A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 28.

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Wurden sie bewilligt, dann sorgte er für eine ordnungsgemäße Verteilung der eingetroffenen Sendungen.426 Information, Nachrichtenübermittlung und Nachforschungen Je nach ihren Möglichkeiten kümmerten sich die Hilfsorganisationen auch darum, die Kommunikation der Internierten mit ihren Angehörigen in Deutschland zu verbessern. Oft kam der Postverkehr zwischen Internierten und ihren Familien erst über das CICR zustande. Eines der wichtigsten Werkzeuge hierzu waren die sogenannten Benachrichtigungskarten.427 Bereits ab Herbst 1939 füllten die Gefangenen bei ihrer Ankunft im ersten Lager solche Karten aus. Dieser beschleunigte Weg, die wichtigsten Informationen über Namen und Anzahl der Gefangenen zu übermitteln, etablierte sich schnell und gilt als eine der bedeutendsten Neuerungen in der Kriegsgefangenenhilfe, die auf die Initiative des CICR zurückgehen.428 Sobald der Kontakt mit der Familie hergestellt war, wandten sich viele internierte Seeleute auch rasch an ihren Arbeitgeber. Sie informierten die Reederei über den Verbleib der Besatzung, baten aber auch ihrerseits um Information und um Hilfe. Die Hilfe der Reederei bestand unter anderem darin, die Angehörigen der Internierten über deren Schicksal auf dem Laufenden zu halten. In Abständen von einigen Monaten versandte beispielsweise die Reederei Hamburg-Süd Rundschreiben an die Familien der internierten Besatzungsmitglieder. Wie die meisten Reedereien gab sie damit einen Teil der Informationen, die von der Schutzmachtvertretung und dem CICR über das Auswärtige Amt an die Reederei gelangten, an die Angehörigen weiter.429 Die Rundbriefe enthalten unterschiedlichste Informationen, die für die Verwandten von Interesse oder praktischem Nutzen sein konnten, wie etwa die sogenannten Postmerkblätter bzw. Bestimmungen für den Brief- und Paketversand an die Internierten. Falls in der Zeit seit dem letzten Rundbrief Verlegungen stattgefunden hatten, erhielten die Familien eine entsprechende Mitteilung. Die Reederei gab eine knappe Zusammenfassung der Verhältnisse in den Lagern, vor allem im Hinblick auf den Gesundheitszustand, die Unterbringung und die finanzielle Versorgung der Seeleute. Hatten einzelne Internierte, meist Kapitäne, der Reederei per Post einen Bericht über das Wohlergehen von Besatzungsmitgliedern geschickt, so wurde dieser auszugsweise im Rundschreiben wiedergegeben.430

426 LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). 427 F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 201. 428 Ebd. 429 Zu diesem Kommunikationsweg gibt ein Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 20. März 1944 an die Familie eines internierten Seemannes Auskunft. PA AA, R 127.888. Im Nachlass von Rudolf Becker befinden sich zwölf dieser Rundbriefe (bis Ende 1944), die die Reederei Hamburg-Süd an Friedrich Becker geschickt hatte. 430 So wurde z.B. im Rundbrief der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrtsgesellschaft vom 3. Mai 1940 der Bericht des I. Offiziers der CAP NORTE aus englischer Internierung wiedergegeben. DSM, III A 3324 b.

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Auch über die Rundschreiben hinaus stand die Reederei in Kontakt mit den Angehörigen. So erfuhr Friedrich Becker, der Vater von Rudolf Becker, bereits Ende September 1939 durch die Reederei, »dass D. ›Antonio Delfino‹ auf der Ausreise in dem brasilianischen Hafen Bahia liegengeblieben« sei und dass sein Sohn »sich noch an Bord des Schiffes«431 befinde. Im August 1940 informierte die Reederei Friedrich Becker per Postkarte, es sei »damit zu rechnen, dass unsere in England Internierten nach Kanada abtransportiert worden sind. Das Auswärtige Amt ist um die Ermittelung [sic] der neuen Anschrift bemüht, und wir werden Ihnen dieselbe nach Erhalt schnellstens mitteilen.«432 Die Reederei wies Herrn Becker auch auf die Möglichkeit des Versands von »Typenpaketen« durch das DRK sowie auf die verschiedenen Varianten des Postversands hin.433 Auch nach Kriegsende zeigen die Briefe der Reederei an Friedrich Becker das Bemühen, jeweils aktuelle Information an die Betroffenen weiterzugeben, vor allem bezüglich der bevorstehenden Heimkehr der Internierten. 434 Viele Angehörige internierter oder im Ausland festsitzender Seeleute wandten sich vor allem dann Hilfe suchend an das Auswärtige Amt oder an das Deutsche Rote Kreuz, wenn sie längere Zeit nichts von ihren Verwandten gehört hatten und nicht wussten, wo diese sich aufhielten. Wie aus den DRK-internen Richtlinien für die Beratung Angehöriger von deutschen Zivilinternierten im Feindesland hervorgeht, arbeitete das DRK dabei eng mit dem Auswärtigen Amt zusammen, auch, um unnötigen Verwaltungsaufwand zu vermeiden.435 Nach einer Anfrage wurden im Auswärtigen Amt alle eingehenden Interniertenlisten der Schutzmachtvertretung durchgesehen; falls der Name des Gesuchten auftauchte, wurde die Familie darüber informiert.436 Handelte es sich nur um längeres Ausbleiben von Post bei eigentlich bestehender Verbindung, so versuchten die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes vor allem, die Ratsuchenden zu beruhigen, meist mit dem Hinweis darauf, dass alle etwaigen Erkrankungen oder Todesfälle von der Schutzmacht unverzüglich nach Berlin gemeldet würden.437 Bei Todesfällen in Inter-

431 Schreiben der Hamburg-Süd an Friedrich Becker vom 29. September 1939. DSM, III A 3324 a. 432 Postkarte der Reederei Hamburg-Süd vom 28. August 1940. DSM, III A 3324 b. 433 Schreiben der Hamburg-Süd an Friedrich Becker vom 23. Dezember 1940. DSM, III A 3324 b. 434 Schreiben der Hamburg-Süd an Friedrich Becker vom 25. Juli 1946. DSM, III A 3324 b. 435 Deutsches Rotes Kreuz/Amt Auslandsdienst: Richtlinien für die Beratung Angehöriger von deutschen Zivilinternierten und Nichtinternierten im Feindesland. Juni 1942. PA AA, R 146.469. 436 Das geht aus einem Schreiben vom 31. Dezember 1943 an Angehörige eines Seemannes hervor, die sich beim Auswärtigen Amt nach dessen Verbleib erkundigt hatten. PA AA, R 127.892. 437 Diese Beruhigungstaktik ist etwa einem Schreiben des Auswärtigen Amtes an eine um ihren Sohn besorgte Mutter zu entnehmen. Darin heißt es: »Da die Schutzmachtvertretungen angewiesen sind, über besondere Vorkommnisse in den Internierungslagern […] dem Auswärtigen Amt telegrafisch Bericht zu erstatten, kann, solange keine Nachrichten eingehen, mit Sicherheit angenommen werden, dass es Ihrem Sohne gut geht und dass nichts Besonderes vorliegt.« PA AA, R 127.908.

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nierungslagern war das Auswärtige Amt auch in die Benachrichtigung der Angehörigen involviert, indem es die über die Schutzmacht nach Deutschland gelangte Information an die Reederei des Verstorbenen weitergab.438 Wenn Internierte tatsächlich über einen überdurchschnittlich langen Zeitraum ohne Nachrichten von ihren Angehörigen blieben oder umgekehrt, war das Auswärtige Amt bereit, auf amtlichem Weg eine Kurznachricht der Angehörigen bzw. Internierten zu übermitteln.439 Ab 1943 wurden auf Anregung des CICR für solche Fälle sogenannte Eilnachrichten eingeführt: »Kriegs- und Zivilgefangene und deren Angehörige, die mehr als 3 Monate ohne Nachricht sind«,440 durften diese Nachrichten über das CICR per Luftpost verschicken. Zur Verringerung des Arbeitsaufwandes, der sich aus vielen Einzelnachforschungen ergeben hätte, versandte das Auswärtige Amt auch direkt Merkblätter an die Familien der Internierten, »in denen die Meldungen der Schutzmachtvertretungen, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz oder von privater Seite möglichst erschöpfend verarbeitet sind«441. Zu den Vermittlungsdiensten, die die Internierten in Anspruch nehmen konnten, gehörten auch die Fernimmatrikulation sowie die Ferntrauung. Die Abteilung »Kriegsgefangenen-Studienhilfe« des Reichsstudentenwerks ermöglichte den Internierten ab 1941/42 die Immatrikulation an einer deutschen Universität. Rudolf Becker beispielsweise schrieb sich im September 1944 an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Königsberg ein.442 Aus den internen Richtlinien des DRK für die Beratung Angehöriger von deutschen Zivilinternierten und Nichtinternierten im Feindesland aus dem Jahr 1942 geht hervor, dass Ferntrauungen zwischen deutschen Kriegsgefangenen im Ausland und Frauen in Deutschland gängige Praxis waren. Die heiratswillige Frau musste sich dazu an das Standesamt in ihrem Wohnort wenden.443 Obwohl nach kanadischem Recht Ferntrauungen von Kriegsgefangenen und Internierten nicht erlaubt waren, gestatteten die Verantwortlichen in Kanada die sogenannten »proxy marriages«,444 die nach deutschem Recht legitim waren.445

438 Einige solcher Fälle lassen sich in den Akten noch nachvollziehen. Manchmal sind auch Artikel aus kanadischen Lokalzeitungen über die Beerdigung oder Fotos von der Bestattung mit überliefert, z.B. der folgende Artikel über die Beisetzung eines NDL-Seemannes: German Prisoner Buried Here. The Calgary Herald vom 25.02.1942. PA AA, R 127.966. 439 PA AA, R 127.888. 440 Schreiben des Auswärtigen Amtes an das Reichswirtschaftsministerium vom 30. Januar 1943. PA AA, R 127.534. Deutschland zahlte für diesen Service 2000 RM monatlich. 441 Anschreiben des Auswärtigen Amtes zum Merkblatt 1941. DSM, III A 3324 b. 442 Immatrikulationsbescheinigung vom 23. September 1944. DSM, III A 3324 b. Zu den Möglichkeiten und Bestimmungen eines Studiums während der Kriegsgefangenschaft oder Internierung siehe das Merkblatt über Wesen und Aufgaben der Kriegsgefangenenstudienhilfe des Reichsstudentenwerks (1944) im Nachlass Becker. 443 Deutsches Rotes Kreuz/Amt Auslandsdienst: Richtlinien für die Beratung Angehöriger von deutschen Zivilinternierten und Nichtinternierten im Feindesland. Juni 1942, S. 5. PA AA, R 146.469. 444 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 71. 445 Die Ferntrauung wurde in Deutschland am 4. November 1939 eingeführt und war eine von mehreren kriegsbedingten Änderungen des deutschen Personenstandsrechts. Vgl.

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ARBEIT Gefangene zu bewachen und zu versorgen, bringt für den Gewahrsamsstaat große finanzielle Belastungen mit sich. Leicht kann sich dieser Posten zu einer »long-term economic burden for the entire state«446 entwickeln. Als Ausgleich werden Gefangene üblicherweise zu zwei Arten von Arbeit herangezogen, entweder zu Dienstleistungen für die Wachen oder zu vertraglich geregelter Arbeit in Landwirtschaft und Industrie im Rahmen eines sogenannten »contract employment«.447 In den Konflikten des 20. Jahrhunderts wurden zahlreiche Kriegsgefangene als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft des Gewahrsamsstaates eingesetzt.448 Obwohl Kanada als Aufenthaltsstaat nur einen Teil der Kosten tragen musste, weil Großbritannien für den Großteil der Ausgaben aufkam, entwickelte die kanadische Regierung dennoch ein umfangreiches System von Kriegsgefangenenarbeit. Dieses System diente nicht nur der Kompensation von Kosten, sondern trug dazu bei, dem gravierenden Arbeitskräftemangel abzuhelfen, von dem die kanadische Land- und Forstwirtschaft sowie einige andere Industriezweige seit Kriegsbeginn betroffen waren.449 In Kanada herrschte während des Zweiten Weltkriegs eine solche Knappheit an Landarbeitern, dass neben Kriegsgefangenen auch Kriegsdienstverweigerer zur Farmarbeit herangezogen wurden.450 Im Vergleich zu Tätigkeiten in einer Fabrik mit geregelten Arbeitszeiten waren Arbeitsplätze auf dem Land oder im Wald weniger attraktiv: Schwere körperliche Arbeit in abgelegenen und unwirtlichen Gegenden, in denen die Beschäftigten sehr kalten Wintern, extrem heißen Sommern und darüber hinaus Moskitos und black flies ausgesetzt waren, wurde angesichts der vielen freien Stellen in den Städten kaum nachgefragt.451 Bereits im Jahr 1940 stellte die kanadische Regierung erste Überlegungen an, über einen längeren Zeitraum hinweg Arbeitsmöglichkeiten für Gefangene zu schaffen. Neben den wirtschaftlichen Vorteilen, die sich für Kanada daraus ergeben sollten, spielte dabei auch die Ansicht eine Rolle, dass gegen Bezahlung beschäftigte Gefangene leichter zu bewachen seien. Besonders geeignet schienen den Verantwortli-

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hierzu ausführlich Essner, Cornelia/Conte, Edouard: »Fernehe«, »Leichentrauung« und »Totenscheidung«. Metamorphosen des Eherechts im Dritten Reich. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), H. 2, S. 201-228. Davis, Gerald H.: Prisoners of War in Twentieth-Century War Economies. In: Journal of Contemporary History 12 (1977), S. 623-634, hier S. 629. Ebd., S. 626. Fragen der Arbeit von Gefangenen sind in Artikel 27 bis 34 der Genfer Konvention von 1929 geregelt, unter anderem die organisatorische Abwicklung, die Einrichtung von Arbeitslagern und die Bezahlung. Ebd., S. 628. Die Kriegsgefangenenarbeit in Kanada bildete nur einen Teil des umfangreichen Maßnahmenbündels, mit dem die kanadische Regierung den Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft zu beheben suchte. Vgl. zu weiteren Maßnahmen G.E. Britnell/V.C. Fowke: Canadian Agriculture in War and Peace, 1935-50, S. 180-183. Keshen, Jeffrey A.: Saints, Sinners, and Soldiers. Canada’s Second World War (Studies in Canadian Military History, 5). Vancouver/Toronto 2004, S. 68. S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 10.

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chen dafür lagereigene Landwirtschaftsbetriebe zu sein, nicht zuletzt, weil einige Lager bereits über entsprechende Einrichtungen und Anbauflächen verfügten.452 Doch die Chance, Gefangene in großem Stil als Arbeitskräfte einzusetzen, wurde von der kanadischen Regierung nur zögerlich ergriffen.453 Bis 1943 verhielt sich die Regierung aus Rücksicht auf die Bevölkerung und die Gewerkschaften sehr zurückhaltend hinsichtlich der bezahlten Beschäftigung deutscher Gefangener außerhalb der Lager.454 Erst als der kriegsbedingt gestiegene Bedarf an Beschäftigten in Land- und Forstwirtschaft, in Ziegeleien und Gerbereien sich zu einem empfindlichen Mangel an Arbeitskräften zugespitzt hatte, wurden die zuständigen Ministerien aktiv.455 Im Mai 1943 wurde der Einsatz von Gefangenen in Arbeitsprojekten durch einen Kabinettsbeschluss genehmigt.456 Einige Wochen später wurde das Directorate of Labour Projects for Prisoners of War unter Leitung von Lieutenant-Colonel R.S.W. Fordham eingerichtet, das den Arbeitseinsatz überwachen und koordinieren sollte.457 Bereits im August arbeiteten erste Gruppen von Gefangenen, darunter auch mehrere hundert Seeleute, in Carleton County, Ontario und in Brooks, Alberta.458 Seeleute gehörten zu den ersten deutschen Gefangenen, die außerhalb der Lager arbeiteten, weil Kriegsgefangene im engeren Sinne trotz der gesetzlichen Erlaubnis aufgrund von Sicherheitsbedenken der kanadischen Regierung noch nicht auf Farmen eingesetzt wurden.459 In den vielen Zeitungsartikeln, welche die Bevölkerung über diese Regelung informierten, wurden die Seeleute dementsprechend als distinkte Gefangenengruppe thematisiert, von der weitaus weniger Gefahr ausgehe als von Soldaten.460 Die anfänglich niedrige Bezahlung von 20 Cent pro Tag und unterschiedliche Auffassungen über die Verbindlichkeit der eingegangenen Arbeitsverhältnisse verur-

452 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 95. 453 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 8. 454 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 3-4. Neben der durch die eigene Propaganda geschürten Angst vor Sabotageakten gab es in der kanadischen Bevölkerung auch Befürchtungen, die Gefangenen würden über kurz oder lang die Löhne drücken, den Wettbewerb verzerren und auf diese Weise kanadische Arbeitskräfte von ihren Stellen verdrängen. S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 11; C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 83. 455 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 154. Mit der prinzipiellen Entscheidung für Gefangenenarbeit musste das Department of Labour intensiv in die Planungen der Regierung mit einbezogen werden. Zur Verteilung von Zuständigkeiten bezüglich der Gefangenenarbeit im kanadischen Kriegsgefangenenwesen siehe S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 11, sowie allgemein H. Robel: Vergleichender Überblick. 456 Order-in-Council P.C. 2326. Vgl. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 19391947, S. ix. 457 Ebd., S. 155; B. Waiser: Park Prisoners, S. 220. 458 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 164. 459 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 57. 460 Beispielsweise in den folgenden Zeitungsartikeln: Ottawa Plans Using Prisoners To Meet Farm Labor Shortage. The Globe and Mail vom 13.05.1943; 5,500 Nazi Prisoners at Work. Their NSS Rating Ranges from »Indifferent« to »Splendid«. The Financial Post vom 26.05.1944.

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sachten jedoch Schwierigkeiten. Nach etwa einem Jahr Arbeit auf rein freiwilliger Basis461 wurden zunehmend Beschwerden von Gefangenen laut, die Arbeit sei zu schwer oder sie verstoße gegen die Vorgaben der Genfer Konvention (Artikel 31), da sie zu Kanadas Kriegserfolg beitrage.462 Mit der Weigerung vieler Gefangener, die Arbeit fortzuführen, wurde es zunehmend schwierig, offene Stellen zu besetzen. Um für die Arbeitgeber stabilere Verhältnisse zu schaffen, hatte die kanadische Regierung den arbeitenden Internierten Halbjahresverträge angeboten, was diese jedoch ablehnten.463 Am 1. September 1944 reagierte die Regierung, indem sie die Arbeit unter Berufung auf Artikel 27 der Genfer Konvention für körperlich gesunde, arbeitsfähige Mannschaftsgrade für verpflichtend erklärte,464 sofern Bedarf bestand.465 Hier wird die Unterscheidung zwischen Zivilinternierten und Kriegsgefangenen relevant, denn erstere »kann der Gewahrsamsstaat nur auf ihren Wunsch als Arbeiter beschäftigen«466. Mit Ausnahme von Offizieren können Kriegsgefangene hingegen nach Artikel 27 von der Gewahrsamsmacht zur Arbeit herangezogen werden.467 Unteroffiziere können nur zu Aufsichtstätigkeiten (»travaux de surveillance«) herangezogen werden, es sei denn sie verlangen explizit eine bezahlte Arbeit. Artikel 27 schützt also die gefangenen Offiziere und Unteroffiziere, gestattet aber dem Gewahrsamsstaat, Gefangene niedrigerer Dienstgrade als Arbeiter einzusetzen. Da die Seeleute in Kanada ab 1942 als Kriegsgefangene (POW Class I) galten, die Anspruch auf die Anwendung der Genfer Konvention besaßen, löste die kanadische Regierung das Problem der wegbrechenden POW-Arbeitskräfte, indem sie die Seeleute bat, eine Verzichtserklärung auf Anwendung des Artikel 27 der Konvention zu unterschreiben.468 Cepuch zufolge willigten die meisten Seeleute in diese Regelung ein.469 Demnach konnten ab diesem Zeitpunkt auch die arbeitsfähigen Seeoffiziere zur Arbeit herangezogen werden, sofern Stellen zu besetzen waren. Mit Kriegsende war die Arbeit von Gefangenen nur noch auf freiwilliger Basis möglich,470 doch nun war es kein Problem mehr, Gefangene zur Arbeit zu motivie-

461 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 32. 462 Ebd. Artikel 31 der Genfer Konvention besagt, dass die Arbeit der Gefangenen keinen direkten Bezug zu den Kriegsoperationen des Gewahrsamsstaates aufweisen darf. Diese Einschränkung bezieht sich vor allem auf die Arbeit in der Rüstungsindustrie und im Transport von Waffen, Munition und anderweitigem Nachschub für die kämpfenden Truppen der Gewahrsamsmacht. 463 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 58. 464 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 32. 465 Artikel 27 der Genfer Konvention von 1929 gibt einen allgemeinen Rahmen für die Kriegsgefangenenarbeit vor und regelt unter anderem die Versorgung der Opfer von Arbeitsunfällen. 466 J.-P. Knellwolf: Die Schutzmacht im Völkerrecht unter besonderer Berücksichtigung der schweizerischen Verhältnisse, S. 268. 467 Wenn Offiziere jedoch arbeiten wollten, sollte ihnen das nach Artikel 27 ermöglicht werden. 468 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 59. 469 Ebd. 470 Ebd., S. 93.

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ren: Andeutungen der kanadischen Regierung hatten die Hoffnung geweckt, gute Arbeiter würden früher repatriiert als die übrigen Gefangenen.471 Zudem hatte sich die finanzielle Lage der internierten Seeleute seit dem Ende der Taschengeldzahlungen im vierten Quartal 1944 verschlechtert, sodass ein Zuverdienst durch Arbeit sehr willkommen war.472 Im Lager hatten die Gefangenen zwar auch zuvor schon die Möglichkeit zu arbeiten, etwa bei kleineren Bauvorhaben, der Ausbesserung von Wegen, der Beschaffung von Brennholz, dem Transport von Versorgungsgütern vom Bahnhof ins Lager oder, in manchen Lagern, auf den lagereigenen Anbauflächen.473 Doch die Bezahlung für solche Arbeiten im Umfeld des Lagers war mit 20 Cent pro Tag meist geringer als die Entlohnung, die die Internierten nun für die Arbeit in den work detachments bekamen.474 Laut Artikel 34 der Genfer Konvention konnten Gefangene unterhalb des Ranges eines corporal zu unbezahlten Instandhaltungs- und Verwaltungsarbeiten im Lager herangezogen werden, etwa zu Arbeiten an Wegen und Straßen im Lager, zum Schneeräumen, zum Verladen von Verpflegung, Brennstoff und anderen Verbrauchsgütern, zum Sägen und Spalten von Feuerholz, zum Rasenmähen, zu Reparaturarbeiten an Gebäuden und ähnlichen Tätigkeiten.475 Andere Arten von Arbeiten, die Gefangene im Lager ausübten, mussten bezahlt werden. Die Umsetzung dieses Artikels in Kanada ist in den Bedingungen und Regularien des Department of National Defence festgelegt. Bezahlung erhielten die Gefangenen, die über spezielle berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten verfügten und im Bereich der verpflichtenden camp services an zentralen Stellen des Lageralltags tätig waren, also etwa Schneider, Friseure, Schreiner und Köche.476 Ärzte und Zahnärzte bekamen für ihre Tätigkeit 50 Cent, Handwerker 20 bis 30 Cent pro Tag.477 Meist waren in einem Lager jedoch nur wenige bezahlte Positionen verfügbar.478 Dass die Gefangenen ab Mai 1945 zudem Geld an ihre Angehörigen senden durften,479 steigerte die Bereitschaft für Arbeitseinsätze außerhalb des Lagers zusätzlich, sodass damit auch die Zahl der laufenden Arbeitsprojekte rapide anstieg:480 Ende

471 Ebd., S. 71. 472 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 28. 473 Im Bericht über das Lager Neys (W/100) sind beispielsweise als Tätigkeiten im Lagerkontext angegeben: Anlage von Sportplätzen und der damit verbundene Transport von Kies und anderen Materialien, Waldarbeit, Abladen von Kohlen für den Lagerbedarf auf dem nahegelegenen Bahnhof. Bericht über das Camp Neys (W/100), Anlage zum Rundschreiben der Reederei Hamburg-Süd an die Angehörigen internierter Seeleute, Dezember 1943. DSM, III A 3324 b. 474 So etwa dokumentiert für Mimico, wo 140 der knapp 400 Insassen im September 1940 auf der lagereigenen Farm arbeiteten. Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Mimico (M/22) vom 22. September 1940. LAC, RG 24, 11249, File 9-53-22. 475 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 94. 476 Ebd., S. 94-95. 477 Ebd. 478 Ebd. 479 XVIIth International Red Cross Conference: Report, Vol. I, S. 290. 480 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 94.

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1944 hatte es bereits über 100 verschiedene work detachments gegeben,481 ein Jahr später waren etwa 18.000 Gefangene in Arbeitsprojekten beschäftigt.482 Im Sommer 1946 waren noch immer einige tausend Gefangene in der Forstwirtschaft in Ontario tätig.483 Insgesamt wurden Kriegsgefangene in Kanada bis Ende Oktober 1946 als Arbeitskräfte eingesetzt. Landwirtschaft Bewarb sich ein Farmer um eine Hilfskraft aus den Reihen der Gefangenen, dann wurde im nächstgelegenen Lager nach einem geeigneten Kandidaten gesucht; dabei genossen Zivilisten Vorrang gegenüber Soldaten.484 Bevor ein Vertrag mit dem Gefangenen und den Lagerbehörden zustande kommen konnte, musste der Farmer vom Department of National Defence autorisiert werden, Gefangene bei sich zu beschäftigen.485 Vor dem Beginn des Arbeitsverhältnisses mussten außerdem die Gefangenen schriftlich ihre Arbeitswilligkeit erklären und sich dazu verpflichten, den Aufenthalt außerhalb des Lagers nicht für Fluchtversuche zu nutzen und keinen Schaden anzurichten.486 Diejenigen Gefangenen, die nicht direkt auf ihrer Einsatz-Farm einquartiert werden konnten, zogen in eigens für Arbeitskräfte angelegte Lager oder Hostels wie Chatham um. Der Genfer Konvention zufolge sollte jedes Arbeitslager einem Stammlager zugeordnet sein, doch vor allem in der Nähe der Arbeitsstelle liegen, um die Transportwege kurz zu halten.487 Mit der Verlegung in ein labour camp unterstanden die Gefangenen dem Department of Labour.488 Je nach Art des Arbeitseinsatzes waren die Gefangenen zum Teil auch in Arbeitseinheiten zusammengefasst, die aus Kleingruppen bestanden und deren Sprecher die Kommunikation mit den Aufsehern oder Vorarbeitern übernahm.489 Bei monatsweiser Anstellung Gefangener auf Farmen zahlte der Farmer 40 Dollar im Monat an das Department of Labour; davon wurde der Lohn abgezogen

481 Bericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in kanadischen Internierungslagern (Sammelbericht), Oktober bis Dezember 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. 482 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 32. Abweichende Zahlen finden sich in der diesbezüglichen Literatur: Martin Auger spricht von insgesamt 16.000 und Stefania H. Cepuch von mehr als 20.000 Gefangenen, die zu Spitzenzeiten in Kanada arbeiteten. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 108. 483 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 93. 484 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 153. 485 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 100-101. 486 Ebd., S. 101. 487 Conditions of Employment of Prisoners of War. In: Monthly Labor Review 56 (1943), S. 891-895, hier S. 892. In den Stammlagern hatte der verstärkte Arbeitseinsatz und die längere Abwesenheit vieler Gefangener teilweise zur Folge, dass Sportmannschaften oder Theatergruppen nur in stark verringerter Besetzung weiter bestehen und das Unterrichtsangebot nicht im gewohnten Maße aufrechterhalten werden konnte. 488 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 153. 489 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 82-83.

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und dem Gefangenen gutgeschrieben. Der Rest ging an das Department of Labour. Die Bezahlung lag seit Juli 1943 bei 50 Cent am Tag.490 Auch kürzere Beschäftigungsverhältnisse waren möglich, dann galten andere Tarife.491 Aufgrund der Vorbehalte und Sicherheitsbedenken in der Anfangszeit der Arbeitsprojekte waren Seeleute als Arbeitskräfte beliebter als Soldaten, weil sie als ungefährlicher galten.492 Eine der häufigsten landwirtschaftlichen Bereiche, in denen Seeleute zum Einsatz kamen, war der Anbau von Zuckerrüben; während der Erntezeit 1945 arbeiteten insgesamt 4172 Gefangene auf den Zuckerrübenfeldern in drei Provinzen.493 Forstwirtschaft Der zweite Bereich, in dem traditionell häufig Gefangene eingesetzt wurden, ist die Forstwirtschaft. Auch in Kanada meldete die Holzindustrie früh Bedarf an Kriegsgefangenen als Arbeitskräften an. Während des gesamten Zeitraums, in dem Gefangene außerhalb der Stammlager arbeiteten, stellte sie 90 Prozent der Arbeitsplätze für Gefangene.494 Das Holz aus den kanadischen Wäldern wurde unter anderem als Faserholz für die Papierherstellung (pulp wood) und als Feuerholz gebraucht; während der Kriegsjahre entwickelte sich die Holzindustrie zu einem der wichtigsten Industriezweige Kanadas.495 Im August 1943 begannen die ersten Gefangenen, als Holzfäller zu arbeiten. Mit knapp 2000 Personen machten sie in diesem Jahr bereits ein Viertel aller Holzfäller in Ontario aus.496 Bei einer der wichtigsten Firmen, der Pigeon Timber Company, die in der Gegend von Neys im Norden Ontarios operierte, betrug der Anteil der von Gefangenen geschlagenen Holzmenge in der zweiten Jahreshälfte 1943 etwa 90.000 von insgesamt 98.000 cords.497 In der Saison 1945-46 gab es allein in Ontario 106 Holzfällerprojekte, in denen über 8000 Gefangene beschäftigt waren.498 Damit stellten Kriegsgefangene ein Drittel aller Holzhauer in Ontario.499 Obwohl sie über keinerlei Vorkenntnisse in der Holzfällerei verfügten, war die Produktivität der Gefangenen so hoch, dass die Holzindustrie für die Zeit nach der Repatriierung Produktivitätseinbußen befürchtete.500

490 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 66. 491 Der Tagessatz lag dann bei 1,75 Dollar, die der Farmer an das Department of Labour zahlen musste. Ebd. 492 Ebd., S. 57. 493 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 162. 494 Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 32. 495 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 79. 496 Ebd., S. 83-84. 497 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 82. Ein cord ist ein Standardmaß in der Forstwirtschaft und beträgt 3,624 Kubikmeter. 498 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 94. 499 Ebd., S. 95. 500 Radforth, Ian: Bush Workers and Bosses. Logging in Northern Ontario, 1900-1980. Toronto u.a. 1987, S. 162.

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Volkswirtschaftliche Auswirkungen der Interniertenarbeit Die in den 1970er Jahren von der Wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte geäußerte Einschätzung, dass sich für »Kanada […] von einem nennenswerten Arbeitseinsatz der deutschen Kriegsgefangenen nicht sprechen«501 ließe, muss mit Hinblick auf neuere Forschungen über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Gefangenenarbeit in Kanada revidiert werden. Gefangene Arbeitskräfte spielten eine wichtige Rolle in Wirtschaftszweigen, die durch den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel geschwächt waren, und beeinflussten ihre Entwicklung nachhaltig. Gerade in der Land- und Forstwirtschaft trugen die Gefangenen neben anderen Faktoren dazu bei, die Produktionszahlen zu steigern und den Grundstock für weiteres Wachstum in der Nachkriegszeit zu legen:502 »Using largely POW labour, sugar beet production in Ontario and Alberta expanded from 17,000 to 26,000 acres between 1945 and 1946. In this case, the use of German POWs allowed many producers to substantially increase production. By August 1946, POW labour projects had returned approximately $2,125,000 to the Canadian treasury. Thus, prisoner labour proved extremely profitable to the Canadian government.«503

Auch in den lagereigenen, quasi-industriell arbeitenden Werkstätten, etwa in Sherbrooke, erzielten die Gefangenen hohe Umsätze: Am Ende des Haushaltsjahres 194445 hatten sie 625.000 Dollar erwirtschaftet.504 Nach dem Ende der Gefangenenarbeit gab es plötzlich über 8000 freie Stellen auf dem kanadischen Arbeitsmarkt, jedoch anfänglich nur etwa 200 Bewerber.505 Die verbleibenden kanadischen Arbeiter konnten nun Druck auf die Arbeitgeber ausüben und nutzten diese überlegene Verhandlungsposition, um ihre Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und höherer Bezahlung durchzusetzen. Dass die kanadischen Waldarbeiter-Gewerkschaften gestärkt aus der Krise der unmittelbaren Nachkriegszeit hervorgingen, war nach Ansicht von Stefania Cepuch nur durch den vorübergehenden Arbeitseinsatz der deutschen Gefangenen möglich.506 Die Einschätzung, »that POWs have generally been inefficient workers, poorly motivated, ill-suited to their tasks, often unable to communicate in their employers’ language and subject to eccentricities induced by confinement«,507 trifft auf kriegsgefangene deutsche Soldaten und Seeleute in Kanada allen Quellen zufolge kaum zu.

501 H. Robel: Vergleichender Überblick, S. 255. 502 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 109. Zur Entwicklung der Beschäftigtenzahlen in Forstwirtschaft und Holzindustrie von 1945 bis in die 1950er Jahre siehe Urquhart, M.C. (Hg.): Historical Statistics of Canada. Cambridge/Toronto 1965, L 140. 503 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 83. 504 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 110. 505 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 97. 506 Ebd. 507 G.H. Davis: Prisoners of War in Twentieth-Century War Economies, S. 630.

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R EORIENTATION UND IN K ANADA

R EEDUCATION

DEUTSCHER

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S EELEUTE

Der zunehmende Arbeitseinsatz der internierten Seeleute fiel in eine Zeit, in der in Kanada die Bemühungen des Psychological bzw. Political Warfare und der Reeducation größeren Umfang annahmen. Zwar hatte Kanada bereits 1942 der englischen Political Warfare Executive aufgezeichnete Grußbotschaften deutscher Seeleute an ihre Angehörigen zur Verfügung gestellt, die das deutsche Radiopublikum zum Abhören englischer Sender verführen sollten.508 Ein eigenes Programm für psychologische Kriegsführung wurde in Kanada jedoch erst im August 1944 ins Leben gerufen.509 Es sollte mit der Klassifizierung und der Umerziehung deutscher Gefangener in kanadischen Lagern beginnen.510 Beteiligt waren an diesem Vorhaben der Director of Prisoners of War, die Intelligence-Direktoren der kanadischen Streitkräfte, Vertreter des Außenministeriums, des Wartime Information Board und des CBC International.511 Zwar wurde zunächst vereinbart, eng mit Großbritannien zu kooperieren, zu einer eigentlichen Zusammenarbeit kam es jedoch nicht.512 Mit der Loslösung vom englischen Political-Warfare-Programm verfolgte Kanada auch das Ziel, die Inhalte zu ›kanadisieren‹ und damit Kanadas nationale Identität im Vergleich mit den übrigen Westalliierten zu betonen.513 Nach der deutschen Kapitulation gewann das kanadische Klassifizierungs- und Umerziehungsprogramm an Fahrt:514 Seit Sommer 1945 wurde die sogenannte PHERUDA-Befragung durchgeführt, deren Ziel es war, die Gefangenen hinsichtlich ihrer Einstellung zum Nationalsozialismus zu klassifizieren. Die Abkürzung PHERUDA stand dabei für die sieben verschiedenen Themenfelder, zu denen die Gefangenen befragt wurden.515 Die Ergebnisse der Befragung wirkten sich auch auf die Arbeitserlaubnis und die Besetzung der Stellen in der Lagerselbstverwaltung aus.516 Als

508 D. Page: Tommy Stone and Psychological Warfare in World War Two, S. 112. In manchen Lagern drohten die überzeugten Nationalsozialisten denjenigen, die sich an dieser Aktion beteiligten, mit Vergeltungsmaßnahmen. Ebd., S. 113. 509 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 86. 510 Ebd. 511 Ebd. CBC International ist der Auslandsdienst der Canadian Broadcasting Corporation. 512 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 125; R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 110. 513 D. Page: Tommy Stone and Psychological Warfare in World War Two, S. 116. 514 Ebd., S. 115. Nach der deutschen Kapitulation stellte die kanadische Regierung dem Psychological Warfare Committee auch mehr finanzielle Mittel für die Umsetzung der Umerziehungsziele zur Verfügung. Ebd. 515 »(1) Political leanings (from democrat to ravid Nazi); (2) attitudes towards Hitler (from anti-Hitler to fanatically pro-Hitler); (3) level of Education (from university to minimum); (4) Religion (from devout Protestant or Catholic to neo-pagan); (5) Usefulness in terms of labour (from willing to cooperate and skilled to refuse to work); (6) Dependability (from dependable to undependable); and (7) attitudes towards the Allies (from pro- to antiAllies).« Ebd. 516 Zu PHERUDA siehe M. Auger: Prisoners of the home front, S. 78-79.

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›schwarz‹ (Nazis) und ›dunkelgrau‹ eingestufte Gefangene in solchen Positionen wurden durch ›weiße‹ (Anti-Nazis) und ›graue‹ ersetzt; nur Letztere durften außerhalb der Lager arbeiten, die übrigen nicht.517 Die Befragungen wurden von den Lagerdolmetschern durchgeführt, die bereits zuvor mit Zensur- und Kontrollaufgaben betraut gewesen waren und nun eine Zusatzschulung erhielten.518 In vielen Lagern hatte sich die politische Einstellung nach Kriegsende drastisch verändert und damit den Boden für Reorientation bereitet, wie das Zitat eines Intelligence Officer aus dem Lager Sherbrooke verdeutlicht: »The wind has been completely knocked out their sails. The rabid Nazis finally realized that their game was up.«519 Die Reeducation wurde von den kanadischen Behörden vor allem als Vorbereitung auf die Repatriierung betrachtet; bis zur Heimkehr nach Deutschland sollten die Gefangenen bereit sein, dort mit den Alliierten zusammenzuarbeiten, und ein Verständnis für deren demokratisches System entwickelt haben.520 Um dieses Ziel zu erreichen, wählten die Kanadier verschiedene Wege. Bei allen spielte Bildung eine zentrale Rolle. Statt einer Konzentration auf politische Umerziehung stand eine umfassende historische und gesellschaftswissenschaftliche Bildung im Vordergrund, was sich in der rückblickenden Einschätzung eines Gefangenen spiegelt, es sei immer um »education« gegangen und nicht um »re-education«.521 In den Jahren 1945 und 1946 wurden deutsche Gefangene auch immer wieder mit westalliierten Aufklärungsfilmen, sogenannten atrocity films, über deutsche Konzentrationslager konfrontiert.522 Die Reaktionen lagen zwischen Ungläubigkeit und Schock, wie es auch für andere westalliierte Gewahrsamsstaaten beschrieben worden ist.523 In Farnham lösten diese Bilder bei den Internierten den Wunsch aus, Blut spenden zu dürfen, um als symbolische Wiedergutmachung zumindest zur Rettung anderer Leben beizutragen.524 In Chatham wurden im August 1945 jedem einzelnen Gefangenen Fotos aus deutschen Konzentrationslagern überreicht, wie ein Eintrag im Lagertagebuch dokumentiert: »Horror pictures ›Montreal Standard‹ version of German Prison Camp given to each PW; only comment ›a present from Ottawa‹.«525 Der Verweis auf den

517 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 189-190. Ausführlicher hierzu siehe Kapitel 7, S. 384-385. 518 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 86. 519 Zitiert nach M. Auger: Prisoners of the home front, S. 126. 520 Ebd., S. 123. 521 Priebe, Eckehart J.: Thank You, Canada. From Messerschmitt Pilot to Canadian Citizen. West Vancouver 1990, S. 148. 522 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 138. 523 Ebd., S. 138-139. Ausführlich zum Reaktionsspektrum deutscher Kriegsgefangener nach der Vorführung von Dokumentarfilmen über befreite Konzentrationslager siehe: Weckel, Ulrike: Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager. Stuttgart 2012, S. 278-321. 524 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 138-139. 525 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 11, 12. August 1945. LAC, RG 24, 15396.

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Montreal Standard mag bedeuten, dass es sich um Bilder handelte, die auch in der kanadischen Zeitung abgedruckt worden waren.526 Eine besondere Rolle in den kanadischen Reeducation-Maßnahmen spielte ab dem Frühjahr 1945 das Lager Sorel. Dessen Insassen gehörten zur Gruppe der im Zuge von PHERUDA als ›weiß‹ Klassifizierten. Bevor sie aus einem anderen Lager nach Sorel verlegt wurden, mussten sie schriftlich erklären, dass sie in Übereinstimmung mit den Zielen des kanadischen Reeducation-Programms mit den Alliierten kooperieren würden. In Sorel lebte eine Mischung aus deutschen Offizieren, Mannschaftsgraden und Seeleuten zusammen, die sich freiwillig für den Umzug in dieses Lager gemeldet hatten.527 Die Insassen waren damit beschäftigt, Unterrichtsmaterialien zur Verwendung in anderen Lagern zu erstellen, wofür ihnen 50 Cent am Tag bezahlt wurden.528 Gemeinsam mit der CBC bereiteten sie Radiosendungen vor, die in kanadischen Lagern gesendet werden sollten. Sie stellten die wöchentliche Lagerzeitung »Der Weg« her, die auch Artikel aus anderen Lagern enthielt. Darüber hinaus bereiteten sie in Zusammenarbeit mit dem Übersetzungsbüro des Lagers die Publikation von »re-educational bulletins, lecture outlines, newspapers, leaflets, and pamphlets« vor, die jede Woche an andere Lager in Kanada verschickt wurden.529 Diese Druckschriften umfassten drei wichtige Textformate: Die wöchentliche Zeitschrift »Brücke zur Heimat«, die im Konzept an Readerʼs Digest angelehnt war, die Wochenzeitung »Nachrichten« sowie die vierzehntäglich erscheinenden »Historischen Rundbriefe«, die Themen aus der deutschen Geschichte behandelten.530 Jede Woche wurden in Sorel 130 Exemplare der Historischen Rundbriefe, 600 Exemplare der Nachrichten, 1850 Exemplare der Brücke zur Heimat und 3300 Broschüren hergestellt und an alle kanadischen Lager und Außenstellen verteilt, deren Insassen auf anderen Wegen nur schwer für Reeducation zu erreichen waren.531 Um diese Materialien zu erstellen, hatten die Gefangenen in Sorel exklusiven Zugang zu NS-Propagandaschriften und zu Texten, die sich mit Nazi-Deutschland befassten.532 Weil die Insassen aufgrund ihrer Kooperationseinwilligung als vertrauenswürdig und ungefährlich galten, war die Bewachung in diesem Lager wesentlich lockerer als anderswo, was Martin Auger zufolge zur weiteren Umerziehung beitragen sollte: »The Canadian authorities believed that the less the camp looked like a prison, the more open-minded and cooperative the prisoners would be.«533 Nach einer Schätzung der kanadischen Lagerleitung534 sprachen im November 1945 bereits 60 Prozent der Gefangenen in

526 Der Montreal Standard war eine populäre Samstagszeitung, die nach dem Vorbild der Illustrated London News die Wochenereignisse vor allem anhand von Fotos thematisierte. Siehe Granatstein, Jack L.: The Montreal Standard. http://www.thecanadianencyclopedia. com/index.cfm?PgNm=TCE&Params=A1ARTA0005408. 527 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 127. 528 Ebd., S. 130. 529 Ebd., S. 130-131. 530 Ebd. 531 Ebd. 532 Ebd. 533 Ebd., S. 128. 534 Ebd., S. 137.

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Sorel fließend Englisch; ihr Anteil war damit überdurchschnittlich hoch. Als Vorbereitungslager für die Verlegung nach Sorel diente Farnham. Dort wurde besonderer Wert auf den Aufbau einer demokratischen Lagerselbstverwaltung gelegt, die sich um die Angelegenheiten der Insassen kümmerte, »which exposed them first-hand to democracy«535. Diese Geschäftigkeit in Sorel und Farnham darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Reeducation in anderen Lagern weitaus weniger planmäßig verlief. In Sherbrooke beispielsweise zeigte sich, dass die Insassen neben ihrer Arbeit im works programme schlichtweg keine Zeit und Energie mehr aufbrachten, um regelmäßig Diskussionsrunden und Vorträge zu besuchen.536 Je nach Zusammensetzung des Lagers konnte auch der niedrige Bildungsstand mancher Gefangener den ehrgeizigen Reeducation-Zielen im Wege stehen, wie das in Sherbrooke der Fall war: »Furthermore, the bulk of the camp’s inmates were poorly educated merchant seamen who were not greatly interested in reading and studying.«537 Nachdem die Repatriierung der Deutschen aus Kanada eher schleppend angelaufen war und unter den Gefangenen Gerüchte kursierten, sie würden zu Wiederaufbauarbeiten in England gezwungen werden, stellten die kanadischen Behörden zudem fest, dass der Enthusiasmus für die Reeducation stark nachließ.538 Ähnliches konnte auch für Gefangene in den USA beobachtet werden; mit der Aussicht auf baldige Repatriierung stand hauptsächlich der individuelle Neuanfang im Vordergrund, und die Hoffnungen und Überlegungen der Gefangenen konzentrierten sich darauf, diesen so erfolgreich wie möglich zu gestalten.539 Nach Ansicht der Hilfsorganisationen dagegen war die steigende Nachfrage der Gefangenen nach Büchern über Demokratie ein Zeichen für den Erfolg der kanadischen Reorientation-Programme.540 Eine größere Wirkung noch als den politisch angeordneten Maßnahmen schrieb die YMCA ihren eigenen Bemühungen zu, insbesondere was deren subjektive Bedeutung für die Internierten betraf.541 Doch die im Rahmen der kanadischen Programme formulierten Ziele wurden nach Ansicht der YMCA auch durch die generelle Art des Umgangs mit Gefangenen in Kanada erreicht. Aus Sicht der YMCA fällt deren Bewertung vor allem deshalb überwältigend positiv aus, weil der Versuch der Reorientation auf Bevormundung verzichtet habe:542

535 536 537 538 539

Ebd., S. 132. Ebd., S. 133-134. Ebd., S. 134. Ebd., S. 141. Reiß, Matthias: Keine Gäste mehr, sondern die Besiegten – die deutschen Kriegsgefangenen in den USA zwischen Kapitulation und Repatriierung. In: Hillmann, Jörg/Zimmermann, John (Hg.): Kriegsende 1945 in Deutschland. München 2002, S. 157-177, hier S. 177. 540 Bericht über die Besuche des YMCA-Sekretärs Dr. Conrad Hoffman in den Lagern Gravenhurst (C/20), Monteith (Q/23) und Petawawa (P/33) (Sammelbericht), Juli bis September 1945. LAC, MG 28, I 95, 273, File 5. 541 A. Vulliet: The Y.M.C.A. and Prisoners of War, S. 58. 542 Bericht über die Besuche des YMCA-Sekretärs Dr. Conrad Hoffman in den Lagern Gravenhurst (C/20), Monteith (Q/23) und Petawawa (P/33) (Sammelbericht), Juli bis September 1945. LAC, MG 28, I 95, 273, File 5.

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»›Re-orientation‹ seems largely to be dependent on the persons who are in the closest touch with the Prisoners of War. This contention is underlined by the observation that the Prisoners of War show the most spontaneous desire for knowledge of the material and spiritual culture of the democracies in camps where the Canadian leaders in some way or other embody the ideals underlying all genuine democracy: integrity and generosity united with firmness. In this respect Canada is fortunate in having many excellent ambassadors for her own ideals.«543

Die Tätigkeit dieser ›Botschafter‹ hatte einen unerwarteten Nebeneffekt, nämlich den Einwanderungswunsch vieler Gefangener. Nach Ansicht von Martin Auger zeugt dieser Wunsch aber auch davon, dass die Reeducation ihr eigentliches Ziel verfehlt hatte: »These immigration attempts proved that instead of wishing to return home to implant the basic principles of democracy, internees had ›fallen in love‹ with their detaining power.«544 Legt man wie Auger für den Erfolg von Reeducation den Maßstab an, dass die Repatriierten einen sichtbaren Einfluss auf das öffentliche Leben in Nachkriegsdeutschland ausüben müssten, indem sie beispielsweise politische Ämter übernehmen, so kann man wohl zu dem Ergebnis kommen, dass die kanadischen Umerziehungsmaßnahmen so gut wie wirkungslos waren.545 Aus britischer Perspektive galten die kanadischen Bemühungen tatsächlich als weitgehend fruchtlos. Denn während des obligatorischen Aufenthalts in England auf dem Weg nach Deutschland erregten die 33.400 Gefangenen aus Kanada dadurch Aufmerksamkeit, dass sie »still manifestations of hostility to lectures«546 zeigten. Im Vergleich zu Gefangenengruppen aus anderen Aufenthaltsstaaten fiel ihr trotziges Festhalten am Nationalsozialismus auf; »they were the most steeped in the Nazi outlook«547. Abgesehen davon, dass über die Einstellungen der Vergleichsgruppen kaum etwas bekannt ist, zeigt sich an dieser Stelle einmal mehr, dass die Seeleute in der wissenschaftlichen Literatur als eigene Gruppe innerhalb der großen Zahl an Gefangenen, Zivilinternierten und Soldaten kaum greifbar sind.

D IE R EPATRIIERUNG

DEUTSCHER

S EELEUTE

AUS

K ANADA

Die Genfer Konvention von 1929 sah vor, dass Kriegsgefangene so bald wie möglich nach dem Ende der Kriegshandlungen, in jedem Fall aber möglichst unmittelbar nach dem Zustandekommen eines Friedensvertrages repatriiert werden mussten.548 Am

543 544 545 546

Ebd. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 145. Ebd., S. 145-146. Faulk, Henry: Group Captives. The Re-education of German Prisoners of War in Britain, 1945-1948. London 1977, S. 131. 547 Ebd., S. 178. 548 Gutteridge, J[oyce] A[da] C[ook]: The Repatriation of Prisoners of War. In: International and Comparative Law Quarterly 2 (1953), S. 207-216, hier S. 209. Zur Bandbreite von möglichen Repatriierungsformen im Zweiten Weltkrieg vgl. Overmans, Rüdiger: The Repatriation of Prisoners of War once Hostilities are Over: A Matter of Course? In: Moore, Bob/Hately-Broad, Barbara (Hg.): Prisoners of war, prisoners of peace. Captivity,

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Ende des Zweiten Weltkriegs entstand aus dieser Rechtslage ein unerwartetes Problem: Die Beendigung eines Krieges durch die bedingungslose Kapitulation eines Krieg führenden Staates kam in der Genfer Konvention nicht vor, sodass sich dem Text keine eindeutigen Anweisungen für die Repatriierung von deutschen Kriegsgefangenen nach der Kapitulation Deutschlands entnehmen ließen.549 Diese unklare Situation betraf auch die in Kanada internierten Deutschen.550 Erst im Sommer 1946 kamen die Alliierten überein, dass alle Gefangenen spätestens bis Ende 1948 repatriiert sein sollten.551 Kanada begann bereits Anfang 1946 mit der Repatriierung aller deutschen Gefangenen und schloss diese im Januar 1947 ab.552 Zunächst hatte sich der Beginn der Repatriierungen aus verschiedenen Gründen verzögert. Kurz nach Kriegsende waren die Transportkapazitäten knapp,553 und die Heimschaffung kanadischer Truppen hatte Vorrang.554 Im zerstörten Deutschland hätte die große Zahl an repatriierten Gefangenen außerdem angesichts der katastrophalen Ernährungslage nach Kriegsende nur für zusätzliche Probleme gesorgt.555 Schließlich spielte auch der Wunsch der Kanadier eine Rolle, die Auswirkungen ihres Reeducation-Programms auf die Deutschen noch etwas länger zu studieren und vor allem in den Reihen der gefangenen Soldaten nach Kriegsverbrechern oder Zeugen von Kriegsverbrechen zu forschen.556 Auch dürften die Verteilung von Zuständigkeiten auf verschiedene Departments und die Notwendigkeit, sich untereinander abzustimmen, die Heimschaffung der Gefangenen nicht gerade beschleunigt haben.557 Doch vor allem die weitere Entwicklung der so erfolgreich aufgebauten Gefangenenarbeit beeinflusste die Entscheidung über den Repatriierungszeitpunkt ganz entscheidend.558 Im Dezember 1945 beschloss das kanadische Kabinett, dass die arbeitenden Gefangenen noch bis April 1946 in Kanada bleiben sollten. Die etwa 20.000 Internierten, die nicht arbeiteten, sollten nach und nach repatriiert werden, und zwar beginnend mit den in den PHERUDA-Befragungen als ›schwarz‹ eingestuften. Die ›weißen‹ Anti-Nazis sollten am längsten in Kanada bleiben, sie stellten auch den

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homecoming and memory in World War II. Conference organized by the International Committee for the History of the Second World War in Hamburg in July 2002. Oxford 2005, S. 11-22, hier S. 14-18. F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 210. Summary report, BAR, E2200.150-01#1000/219#2*, S. 53. Kaminsky, Annette: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Heimkehr 1948. München 1998, S. 7-11, hier S. 7. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 43. C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 90. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 42. C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 90. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 42. Hilliker, John F.: Canada’s Department of External Affairs. Volume 1: The Early Years, 1909-1946. Montreal/Kingston u.a. 1990, S. 292. Neben dem Department of External Affairs waren unter anderem das Department of National Defence und das Department of Labour an der Diskussion der Repatriierungsfragen beteiligt. Ebd. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 186.

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Großteil der arbeitenden Gefangenen.559 Arbeitgeber, die Gefangene bei sich beschäftigten, machten sich bei der kanadischen Regierung dafür stark, die deutschen Arbeitskräfte noch länger behalten zu dürfen.560 Ihre Argumentation, wonach der Arbeitseinsatz von Gefangenen vor allem in der Holzindustrie und der Landwirtschaft unverzichtbar geworden war, hatte Erfolg: Im April 1946 bat die kanadische Regierung Großbritannien um Erlaubnis, 3500 deutsche Arbeitskräfte vorerst weiterhin in Kanada einsetzen zu können. Vor allem im Zuckerrübenanbau hatten sich die Gefangenen unentbehrlich gemacht.561 An diesem Punkt deckten sich die Interessen der kanadischen Wirtschaft mit dem Wunsch vieler Internierter, in Kanada zu bleiben. Dieser Wunsch hatte nicht nur mit positiven Erfahrungen in Kanada zu tun, sondern auch mit den beruflichen Zukunftsperspektiven, die in Deutschland zunächst nicht besonders rosig aussahen: Die Seeleute blickten der Kündigung durch ihre Reederei entgegen, nachdem Deutschland mit der Kapitulation die verbleibenden Handelsschiffe an die Alliierten hatte abliefern müssen.562 Im Gespräch mit einem Reporter des The Globe and Mail bekundete der Vertrauensmann des Lagers Chatham im Oktober 1945, dass viele seiner Mitgefangenen gerne baldmöglichst nach Kanada zurückkehren würden, nachdem sie sich vom Wohlergehen ihrer Angehörigen in Deutschland überzeugt hätten.563 Die aus 43 Seeleuten bestehende gesamte internierte Belegschaft des Works Project in Cooksville beantragte gemeinsam mit der Ziegeleifirma The Cooksville Co. Ltd. aus Toronto beim Department of Immigration die Erlaubnis für die Entlassung in Kanada und das weitere Bleiberecht.564 Insgesamt hatten mehr als 6000 Gefangene bei der kanadischen Regierung darum gebeten, nicht nach Europa gebracht zu werden, sondern in Kanada bleiben zu dürfen.565 In 200 dieser Fälle entschied die Regierung zunächst positiv, da es sich um Männer mit erwiesenermaßen demokratischer Einstellung handelte, die während der Internierung mit den Kanadiern zusammengearbeitet hatten und einen Beruf ausübten, für den Bedarf bestand.566 Doch der öffentliche Protest der Veteranenorganisation Canadian Legion

559 Vgl. hierzu die Korrespondenz zwischen dem kanadischen Secretary of State for External Affairs und dem Acting High Commissioner in London. Documents on Canadian External Relations, S. 1116-1118. 560 Bassler, Gerhard P.: Das deutschkanadische Mosaik heute und gestern. Ottawa 1991, S. 35. 561 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 90. 562 Rudolf Becker beispielsweise erfuhr noch in Kanada von der bevorstehenden Kündigung durch seine Reederei Hamburg-Süd. Schreiben der Hamburg-Süd an Friedrich Becker, 25. Juli 1946. DSM, III A 3324 b. Der Norddeutsche Lloyd sprach knapp 12.000 Mitarbeitern die Kündigung aus. Norddeutscher Lloyd: 82. bis 91. Geschäftsjahr (1939 bis 20. Juni 1948). Bremen 1951. 563 Hitlerism Dead Issue, Many Nazis like Canada. The Globe and Mail vom 11.10.1945. 564 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Cooksville am 20. September 1946. ACICR, C SC, Canada. 565 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 43. Wie hoch der Anteil der Seeleute unter den Antragstellern war, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. 566 Steinert, Johannes-Dieter: Migration und Politik: Westdeutschland, Europa, Übersee 1945-1961. Osnabrück 1995, S. 73-74.

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und des Premiers von Alberta, Ernest Charles Manning, veranlasste die Regierung, das in Aussicht gestellte Bleiberecht doch nicht zu gewähren.567 Ohnehin wäre es völkerrechtlich fragwürdig gewesen, ein solches Bleiberecht zu erteilen, da es der in der Genfer Konvention niedergelegten Heimschaffungspflicht des Aufenthalts- oder Gewahrsamsstaates entgegenstand.568 In Kombination mit den strengen kanadischen Einwanderungsbestimmungen für Deutsche machte dies den direkten Verbleib der Gefangenen in Kanada unmöglich.569 Erst Anfang der 1950er Jahre lockerte Kanada die Einwanderungsbestimmungen für Deutsche, und in der Folge emigrierte eine nicht näher bestimmbare Anzahl ehemaliger deutscher Gefangener nach Kanada.570 Die Aktivitäten rund um die Heimschaffung der deutschen Seeleute konzentrierten sich spätestens ab Sommer 1946 hauptsächlich auf das Lager Monteith, das als größtes Seemannslager die Durchgangsstation für die Reisenden bildete; das Lager in Sherbrooke wurde im Juni geschlossen, Sorel war bereits seit März aufgelöst.571 Bereits im Januar 1946 finden sich in den Lagertagebüchern aus Monteith fast täglich Einträge, aus denen deutlich wird, mit welch großem logistischem Aufwand die Repatriierung der deutschen Gefangenen für das kanadische Personal im Lager verbunden war. Formulierungen wie »everybody busy preparing documents, baggage etc. for PW move to United Kingdom«572 häufen sich in den ersten Monaten des Jahres 1946. Neben der ärztlichen Untersuchung war die obligatorische Kontrolle des Gepäcks im Vorfeld der Abreise besonders zeitraubend: »These EMS [Enemy Merchant Seamen; JK] have huge quantities of baggage and it takes a large staff to go through it.«573 Während dieser ganzen Vorbereitungen wussten auch die kanadischen Kommandanten nicht immer genau, wann der Zeitpunkt der Abreise sein würde: »Lack of authentic information coming through on move of PW to United Kingdom keeps the Camp in a state of flux.«574 Die erste Gruppe von Seeleuten verließ Monteith am

567 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 92. 568 Bülck, Hartwig: Repatriierung. In: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Dritter Band. Rapallo-Vertrag bis Zypern. Berlin 1962, S. 102. 569 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 43. 570 Allgemeine diesbezügliche Hinweise finden sich in mehreren Texten zu deutsch-kanadischen Beziehungen; vereinzelt sind immigrierte Gefangene auch mit autobiografischen Publikationen an die Öffentlichkeit getreten oder für wissenschaftliche Studien befragt worden. Es ist jedoch unmöglich, Angaben über die quantitative Bedeutung des Phänomens zu machen. Vgl. u.a. ebd.; G.P. Bassler: Das deutschkanadische Mosaik heute und gestern, S. 35; Freund, Alexander: Aufbrüche nach dem Zusammenbruch. Die deutsche Nordamerika-Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2004; E.J. Priebe: Thank you, Canada. Eva Colmers, die Regisseurin des Dokumentarfilms »The Enemy Within« (2003), der sich mit den Gefangenen des Zweiten Weltkriegs in Kanada beschäftigt, ist die Tochter eines immigrierten ehemaligen Kriegsgefangenen. 571 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 42. 572 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 61, 17. Januar 1946. LAC, RG 24, 15393. 573 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 61, 22. Januar 1946. LAC, RG 24, 15393. 574 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 61, 25. Januar 1946. LAC, RG 24, 15393.

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14. Februar 1946.575 Die Vorbereitungen für weitere Repatriierungsschübe setzten sich in der ganzen ersten Jahreshälfte 1946 fort. Oft wurde der Abreisetermin erst kurz vorher bekanntgegeben, sodass die Lagerbehörden die Formalitäten »at top speed«576 erledigen mussten. Gleichzeitig kamen in Monteith immer wieder kleinere Gruppen von Internierten an, die bis dahin in anderen Lagern oder in Arbeitsprojekten gewesen waren.577 Oft reisten die Intelligence Officers diesen Gruppen sogar entgegen, um sie bereits im Zug auf dem Weg nach Monteith der Befragung zu unterziehen, die für Internierte vor ihrer Abreise nach Europa obligatorisch war, und so das Prozedere zu beschleunigen.578 Nach der Abfahrt aus Monteith oder einem anderen Lager führte der Reiseweg die Gefangenen zunächst mit der Bahn nach Halifax, von wo sie per Schiff nach England weitertransportiert wurden. Von dort wurden sie nach einem kürzeren Aufenthalt mit einem kleineren Schiff nach Cuxhaven oder Hamburg gebracht.579 Die Internierten selbst wussten über den zeitlichen Ablauf der Repatriierung vorab nur sehr grob und gerüchteweise Bescheid. Rudolf Becker etwa, der sich freiwillig zur Farmarbeit bis zum Ende der Erntesaison 1946 verpflichtet hatte, ging davon aus, bereits am 1. Dezember in Hamburg einzutreffen, »wenn alle Gerüchte sich bewahrheiten«,580 kam aber erst einen Monat später dort an, weil der Zwischenaufenthalt in England, der von Kanada aus für die Internierten kaum einzuschätzen war, länger gedauert hatte als gedacht. Auch von deutscher Seite war es nahezu unmöglich herauszufinden, wann mit der Rückkunft eines Angehörigen zu rechnen war. Ein Brief von Beckers Bruder Walter an den Vater etwa zeugt von dem erfolglosen Bemühen, in Hamburg etwas über das Ankunftsdatum des Gefangenentransports zu erfahren.581 Zwischen Januar und Mai 1946 wurden mehr als 23.000 deutsche Gefangene repatriiert.582 Im Juli 1946 befanden sich von zuvor insgesamt 34.000 deutschen Ge-

575 Ebd. Die erste Gruppe von 2755 Gefangenen verließ Kanada im Februar 1946 auf der AQUITANIA. J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 191. 576 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 65, 1. Mai 1946. LAC, RG 24, 15393. Neue Regelungen, wonach die Dokumente der Gefangenen in zwei separaten Akten abzulegen waren, schienen dabei »a lot of last minute work« mit sich zu bringen. Folder 4, Vol. 64, 29. April 1946. LAC, RG 24, 15393. 577 Betrachtet man den Monat April 1946 im Lagertagebuch, so ist fast täglich das Eintreffen von Internierten dokumentiert. Die Gruppengrößen lagen zwischen vier und 542 Personen. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 64, April 1946. LAC, RG 24, 15393. Im Sommer und Frühherbst 1946 wurden die meisten Arbeitsprojekte geschlossen. Siehe C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 92. 578 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 66, 5. Juni 1946. LAC, RG 24, 15393. 579 Der Verlauf der Reise auf kanadischem Boden lässt sich exemplarisch für eine Gruppe von 365 Seeleuten nachvollziehen, die sich aus Sherbrooke nach Halifax auf den Weg machten, wo sie knapp 30 Stunden später ankamen. War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 6, Vol. 69, 7. Juni 1946. RG 24, 15401. 580 Rudolf Becker an seinen Vater, 27. Oktober 1946. DSM, III A 3324 b. 581 Walter Becker an seinen Vater, 2. Dezember 1946. DSM, III A 3324 b. 582 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 92.

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fangenen und Internierten nur noch 4400 in Kanada.583 Dabei handelte es sich hauptsächlich um Seeleute, die sich freiwillig vertraglich zum Arbeitseinsatz bis Ende Oktober 1946 verpflichtet hatten.584 Sie wurden, wie Rudolf Becker, im November 1946 nach Deutschland auf den Weg gebracht. Die noch in kanadischen Krankenhäusern oder Gefängnissen verbliebenen 60 Mann folgten im Januar 1947.585 Nach der Abreise der letzten Insassen erledigte das kanadische Personal in den leeren Lagern letzte Aufräumarbeiten, bevor die Lager endgültig geschlossen wurden und die Wachen wieder anderweitig eingesetzt werden konnten.

583 Hier differieren die Zahlen etwas: Martin Auger spricht von 4000 Gefangenen, John Joseph Kelly von 4400. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 43; J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 192. 584 Die Anweisung, in dieser Angelegenheit gezielt die internierten Seeleute anzusprechen, ist mehrfach dokumentiert. Siehe etwa War Diary Camp Chatham-Fingal, Folder 2, Vol. 21, 29. Juni 1946. LAC, RG 24, 15396. 585 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 43.

5. Raum

»A L IMINAL S PACE «: D AS L AGER »Just beyond the state there is a kind of limbo, a strange world this side of the hell of war, whose members are deprived of the relative security of political or social membership.«1 »Prisoners are spatially and mentally uprooted, occupying a liminal space – neither at the Front nor at home, but ›elsewhere‹.«2

»Was ist ein Lager? Ein eilig und oberflächlich ausgestattetes, zumeist hermetisch abgeriegeltes Gelände, auf dem massenhaft, unter prekären Umständen und fast ohne Rücksicht auf elementare Rechte Einzelne oder Gruppen, die als schädlich oder gefährlich gelten, eingesperrt werden.«3 Diese Definition von Joël Kotek und Pierre Rigoulot sieht die Hoheit über das räumliche Arrangement des Lagers eindeutig aufseiten derjenigen, die einsperren. In neueren theoretischen Überlegungen, die sich mit Raum als kultureller Größe befassen, gilt es jedoch seit dem spatial turn als Konsens, dass jeglicher Raum von allen beteiligten Akteuren durch (alltägliche) Handlungen konstituiert wird.4 Folgt man Martina Löw, so ist der entstehende Raum »eine

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M. Walzer: Prisoners of War, S. 777. Becker, Annette: Art, Material Life and Disaster: Civilian and Military Prisoners of War. In: Saunders, Nicholas J. (Hg.): Matters of Conflict: Material culture, memory and the First World War. London/New York 2004, S. 26-34, hier S. 28. Kotek, Joël/Rigoulot, Pierre: Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung. Berlin 2001, S. 11. Kotek und Rigoulot beziehen sich im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen überwiegend auf Konzentrationslager. Die wichtigsten Theoretiker, auf die in diesem Zusammenhang immer wieder verwiesen wird, sind Henri Lefebvre und Michel de Certeau. H. Lefebvre: The Production of Space; M. de Certeau: Praktiken im Raum. Neuere soziologische Arbeiten, die an diese Klassiker anknüpfen und in den Geistes- und Kulturwissenschaften breit rezipiert werden, stammen von Martina Löw und Markus Schroer: M. Löw: Raumsoziologie; M. Schroer: »Bringing space back in«.

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relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen […] an Orten«5. Wenngleich ein Internierungslager durch den es einschließenden Zaun bereits klar umrissen scheint, lässt sich dieses Raumverständnis auch darauf übertragen: Bewacher, Bewachte und humanitäre Helfer konstituierten den Lager-Raum durch jeweils unterschiedliche Praktiken. Ausgehend von diesen Überlegungen stellt sich die Frage, welche Strategien die kanadischen Wachen als mächtigste der drei Akteursgruppen beim Umgang mit dem Raum im Lager verfolgten, welche Strategien die Internierten entwickelten, wie die humanitären Helfer als dritte Akteursgruppe auf den Raum einwirkten und wo es dabei zu Konflikten oder situativen Allianzen kam, die charakteristisch für die Kontaktzone der Internierung waren. Wie waren die Räume beschaffen, die die jeweiligen Akteure durch ihr Handeln konstituierten? Und inwiefern kann eine mikroperspektivische Analyse dieser Strategien die Sichtweise auf Räume der Einsperrung verändern? Raumordnungen Die Ausgangskonstellation aller Formen von Internierung ist gekennzeichnet durch eine Hierarchie, die aus der Perspektive der Gewahrsamsmacht für die Dauer der Internierung unveränderbar sein muss: Insassen müssen Insassen bleiben und Bewacher müssen Bewacher bleiben. Der einzige Daseinszweck des Lagers ist schließlich die Durchsetzung »captiver Gewalt«6 – die Einsperrung und Bewachung Gefangener. Als eine Form von »lozierender Gewalt«7 bedient sie sich verschiedener Strategien und »Disziplinarprozeduren«8, die nicht ausschließlich, aber in besonders starkem Maße auf den Raum als Medium zurückgreifen9 und ihn dabei gleichzeitig konstituieren. Internierung lässt sich nicht nur als eine Form »der autoritativen Herrschaft mittels Territorialkontrolle«10 verstehen und untersuchen, sondern auch als Bündel von Techniken des »Spacing«,11 also der Produktion von Raum bzw. Räumen. Entsprechend ist auch das Lagerterritorium12 sowohl Medium als auch Produkt verschiedener Strategien, die der einsperrende Staat einsetzt: Techniken der »(An)Ord-

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M. Löw: Raumsoziologie, S. 158. J.P. Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, S. 106. Ebd. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1977, S. 176. 9 B. Werlen: Kulturelle Räumlichkeit, S. 7. 10 B. Werlen: Globalisierung, Region und Regionalisierung, S. 327. 11 Zum Begriff des Spacing siehe etwa M. Crang: Zeit : Raum, S. 416. 12 Das geografische Konzept des (sozial konstruierten) Territoriums hat verschiedentlich Eingang in Forschungen zu Lagern gefunden, beispielsweise in Holger Köhns Studie zu Lagern für Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland. Köhn bezieht sich auf den Territorialitätsbegriff von Robert David Sack, der eine räumlich exkludierende bzw. inkludierende Klassifikation, eine klare Außengrenze sowie Kontrollen dieser Grenze und Sanktionen im Falle ihres eigenmächtigen Überschreitens als wesentliche Aspekte eines Territoriums betrachtet. Vgl. H. Köhn: Die Lage der Lager, S. 51-54.

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nung«13 von Körpern im Raum, ihrer Absonderung von der Umwelt sowie der (langfristigen und sicheren) Einschließung dieser Körper.14 Dieser Zustand ist nicht automatisch mit der Gefangennahme erreicht, sondern muss von der Gewahrsamsmacht in alltäglichen repetitiven Praktiken gegen reale oder angenommene Widerstände immer wieder aufs Neue durchgesetzt und hergestellt werden. Als zentrale Quelle für die Vorstellungen, die sich das kanadische Lagerpersonal vom widerständigen Potenzial der Gefangenen machte, aber auch für die Strategien, die es einsetzte, um (s)eine (Raum-)Ordnung zu etablieren und aufrechtzuerhalten, lassen sich die sogenannten Camp Standing Orders heranziehen. In Übereinstimmung mit den Regulations Governing The Maintenance of Discipline And Treatment of Prisoners of War regelten sie alle Belange der Bewachung im Hinblick auf die Gegebenheiten des jeweiligen Lagers. Sie enthalten die spezifischen Vorschriften, Verbote und Handlungsanweisungen, die für die einzelnen Gruppen innerhalb des Wachpersonals galten, die Daily Routines sowie Argumente zur Legitimation dieser Anweisungen. Mehrere Anhänge spezifizieren die verpflichtenden Routinen des Camp Staff, der Guard, der Sentries, des Camp Sergeant Major, des Staff Sergeant, der Scouts und des Zensors sowie der Gefangenen. In den Camp Standing Orders ist also das umfassende und fein ausdifferenzierte Regelsystem niedergelegt, das als Rückgrat für den Betrieb jedes Internierungslagers fungierte. Damit bilden die Camp Standing Orders zwar einen normativen Text, der keine direkten Rückschlüsse auf Alltagspraktiken zulässt, jedoch mit alltagsempirischem Erfahrungswissen aus der Organisation des Lagerbetriebs vor Ort gesättigt ist. Denn wenn es ihm erforderlich schien, konnte der jeweilige Kommandant, der für die Camp Standing Orders verantwortlich zeichnete, Aktualisierungen vornehmen oder problematische Aspekte stärker hervorheben. Zugleich geht aus den Orders der von der Gewahrsamsmacht definierte Idealzustand des Lagers hervor: Die Einsperrung galt dann als gelungen, wenn die Akteure der Gewahrsamsmacht die raumzeitliche Kontrolle und Hoheit bewahren konnten und wenn Gefangene entweder gar nicht erst zu fliehen versuchten oder die Wachen im Falle eines Ausbruchsversuchs zumindest nach den vorab festgelegten Regeln handelten, deren Befolgung im besten Fall innerhalb kurzer Zeit zur Wiederergreifung des Flüchtigen führte. Konflikte unter den Gefangenen sowie zwischen Gefangenen und Wachen gefährdeten diesen Zustand und mussten deshalb vermieden werden, ebenso wie Fluchtversuche oder Aktivitäten, die zu ihrer Vorbereitung dienten. Ausgangs- und Fixpunkt aller Raumstrategien der kanadischen Wachen war die klare Definition der zum Lager gehörenden Fläche, die den Einflussbereich des Personals bildete. Die diesbezügliche Definitionshoheit liegt bei den Behörden des Staates, der die Internierung durchführt. In den Camp Standing Orders des Lagers Sherbrooke lautet die Definition der Lagerflächen wie folgt: »MILITARY AREA is the area bounded on the East and North by a line parallel to and within 50 feet of the Quebec Central Railway Line as far as the bridge crossing the river, on the West by the River St. Francis as far as the gully running into the river until it joins the outer wire and on the South by the Outer wire fence.

13 M. Löw: Raumsoziologie, S. 158. 14 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 181-183.

206 | G EFANGEN IN K ANADA CAMP AREA – as above. COMPOUND – the area bounded by the Outer wire in which all buildings etc., occupied either by troops or where Prisoners are contained, will be known as the COMPOUND. ENCLOSURE – The portion of the Compound in which the Prisoners are confined, i.e., within the inner wire, will be known as the ENCLOSURE.«15

An dieser Festschreibung der Lagerfläche zeigt sich, dass das gesamte Lager aus mehreren, funktional klar voneinander unterschiedenen und baulich getrennten Zonen bestand und Teil einer militärischen Anlage war. Als Grenzen zwischen Enclosure und Compound sowie zwischen Compound und Camp Area nennt der Text den inneren und äußeren Drahtzaun. Der Bereich der Gefangenen befand sich demnach im Zentrum des Geländes. Zwischen der inneren Zone, in der sich die Gefangenen aufhielten, und der Außenwelt existierten mehrere Bereiche und Übergänge, die mit jeweils eigenen Schutz- und Kontrollmechanismen ausgestattet waren. Dass das Lager aus getrennten Zonen für Wachen und Gefangenen bestand, bedeutet nicht, dass die jeweiligen Personengruppen auch räumlich strikt voneinander getrennt waren. Im Gegenteil: Durch den ständigen Aufenthalt von Wachen im Enclosure sowie an den Stellen, welche die Gefangenen regelmäßig passieren mussten, entstand eine Kopräsenz der deutschen Seeleute mit den kanadischen Wachen.16 Der Aufenthaltsbereich der Gefangenen war in eine komplexe militärische Struktur eingebettet. Diesem Rahmen entsprechend ist bei der Gestaltung des Lagerinneren eine Orientierung an Militärlagern erkennbar, die in der Regel geometrisch angelegt und mit standardisierten Gebäuden bestückt sind.17 Abbildung 2 zeigt exemplarisch die rechtwinklige Anlage und die Verteilung der gleichförmigen Gebäude im Lager Monteith. Die meisten anderen kanadischen Lager, in denen deutsche Seeleute interniert waren, waren ebenfalls nach diesen Prinzipien angelegt. Ausnahmen bildeten die Lager, in denen bestehende Gebäude aus anderen Kontexten umgenutzt wurden, wie beispielsweise Fort Henry. Mit Bezug auf Michel Foucault unterstreicht Anthony Giddens die beiden Hauptbedeutungen einer solchen »disziplinierenden Raumeinteilung«18 im Inneren eines Lagers. Sie trage dazu bei, »die Formierung großer Gruppen zu vermeiden, die eine Quelle unabhängiger Willensbildung oder von Opposition sein könnte, und sie erlaubt die direkte Kontrolle individueller Aktivitäten, indem sie […] die Unbestimmtheit zufälliger Begegnungen ausschließt«19. Gebaute Strukturen werden also genutzt, um die Bewegungen von Individuen im Raum zu lenken und zu begrenzen. Die territoriale Definitionsmacht der Einsperrenden findet ihre logische Fortsetzung im streng reglementierten Besitz von Karten und Plänen des Lagers. Das Verbot dieser Materialien erstreckte sich nicht nur auf die Gefangenen. Auch Wachen war der Besitz solcher Dokumente untersagt, es sei denn, sie besaßen eine offizielle Er-

15 War Diary Sherbrooke (N/42), Folder 3, Vol. 27, Standing Orders. LAC, RG 24, 15400. 16 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 9, Duties. LAC, RG 24, 15400. 17 Zur Wirkmächtigkeit dieses Modells in Disziplinierungszusammenhängen siehe M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 221. 18 A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 189. 19 Ebd., S. 200.

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laubnis des Kommandanten.20 Ebenso wie die Geheimhaltung des exakten Lagerstandorts gegenüber Dritten, lässt sich die Reglementierung der Zirkulation von visualisiertem Raum-Wissen als Strategie der Territorialkontrolle verstehen. Denn was ein Gefangener auf einer Karte des Lagers hätte erkennen können, war mehr als eine beliebige Anordnung von Gebäuden wie auf einem Stadtplan (vgl. Abbildung 3): Die baulichen Einrichtungen des Lagers – die Türme, der Zaun21 mit den Toren und den als Schleusen fungierenden Guard Tooms sowie die Arrestzellen im Enclosure lassen sich als Materialisierungen von Territorial- und Disziplinarmacht begreifen. Zusammen mit den etablierten Techniken der »Lagerung von Informationen über die Subjekte«22 – Registrieren, Dokumentieren und Zählen – gewährleisten sie das kontrollierte Öffnen und Schließen der Lagergrenze, die klare Trennung zwischen den einzelnen Zonen der Camp Area und damit die Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse zwischen Bewachern und Bewachten. Abbildung 2: Ansicht des Lagers Monteith, 1942

Zu erkennen ist zum einen die symmetrische Gesamtanlage und zum anderen, dass vor einigen Baracken kleine Vorgärten und Sitzplätze angelegt wurden. Im rechten Bildhintergrund ist die überdachte Plattform eines Wachturms zu sehen. Quelle: ACICR, Photothèque, V-P-HIST-03396-09A.

20 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 8, Discipline. LAC, RG 24, 15400. 21 König, Gudrun M.: Stacheldraht: Die Analyse materieller Kultur und das Prinzip der Dingbedeutsamkeit. In: Johler, Reinhard/Tschofen, Bernhard (Hg.): Empirische Kulturwissenschaft. Eine Tübinger Enzyklopädie. Der Reader des Ludwig-Uhland-Instituts. Tübingen 2008, S. 118-138; Razac, Olivier: Politische Geschichte des Stacheldrahts. Prärie, Schützengraben, Lager. Zürich/Berlin 2003. 22 B. Werlen: Globalisierung, Region und Regionalisierung, S. 327.

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Abbildung 3: Plan des Lagers Farnham, 1941

Neben dem Bereich der Internierten sind die Quartiere der Wachen sowie die zahlreichen Verkehrswege in der Umgebung des Lagers zu erkennen. In der unteren Bildhälfte sind die Schienen der Canadian Pacific Railway und der Canadian National Railway angedeutet. Quelle: Sammlung Hans Plähn.

Aus den Camp Standing Orders des Lagers Sherbrooke spricht jedoch auch die Überzeugung der Gewahrsamsmacht, dass die materialen Installationen lediglich eine äußere Struktur schaffen, innerhalb derer differenziertere Strategien zum Tragen kommen müssen: »No amount of mechanical equipment, no matter how efficient will prevent escapes if the individual guard is not constantly and at all times on the alert.«23 Zur verlangten Wachsamkeit gehört mehr als nur das strikte Befolgen von Regeln; es geht um einen körperlichen Zustand des Wahrnehmens, der sich konkret auf das Verhalten auswirken soll. Wenn die Wachen darüber hinaus die Regeln internalisiert haben, wenn sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen sind, können Materialisierungen und Verkörperungen von Territorial- und Disziplinarmacht ineinandergreifen. Deshalb definieren die Camp Standing Orders es als Pflicht aller Wa-

23 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix J: Instructions for Work Parties, Abschnitt 6. LAC, RG 24, 15400.

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chen, »to know all Camp Standing Orders, Daily Routine Orders, and to have a thorough knowledge of their duties«24. Regelgemäßes und diszipliniertes Verhalten aller Wachen bildet die Voraussetzung für die Disziplinierung der Gefangenen. Disziplinierung wird dabei aber nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern dient als Mittel zur Durchsetzung einer Ordnung, die sich auch über Raumpraktiken manifestiert. Argumentativ untermauert werden diese und ähnliche Anweisungen in den Camp Standing Orders durch Hinweise, welche die subversiven Absichten und das widerständige Potenzial der Gefangenen als Tatsachen präsentieren: »Plots and preparations for escape are constantly going on among the prisoners.«25 Diese wiederholten Mahnungen lassen die räumliche und zugleich die innere hierarchische Ordnung des Lagers als besonders verwundbar erscheinen. Um diese Perspektive zu verdeutlichen, wird in den Orders das semantische Feld von Sicherheit und Ordnung – »good order«26 – für eindringliche Warnungen genutzt: »any person connected with an Internment Camp who becomes apathetic in his duties is a menace to the security of the Camp«27. Hier zeigt sich die ambivalente Rolle der Wachen: Sie sind gleichzeitig Objekte und Medien der Disziplinierung.28 Die Camp Standing Orders beziehen sich denn auch gleichermaßen auf Gefangene und auf Wachen, vor allem in der Regelung der räumlichen Organisation von Internierung. Das Regelwerk ordnet Wachen, Gefangene und mobile Gegenstände der räumlichen Verfügungsmacht des einsperrenden Staates unter und bedient sich bei dieser Anordnung verschiedener Strategien: der Zuweisung von Aufenthaltsbereichen, der räumlichen Begrenzung des Aktionsradius und der Regelung des Bewegungsmodus. Die Gefangenen durften sich demzufolge nur in bestimmten Bereichen bewegen; der Aufenthalt dort war zudem an feste Zeiten gekoppelt: »Prisoners are not allowed to come beyond the Enclosure fence by night or the Outer Wire by day, except authorized work Parties under escort.«29 Laut den Camp Standing Orders musste bei der Unterbringung der Gefangenen peinlich genau darauf geachtet werden, dass sie keinen Zugang zu Werkzeugen oder gar Schlüsseln hatten. Diese Regelung lässt sich auch als symbolische Machtdemonstration begreifen, diente aber vor allem der Aufrechterhaltung der hierarchischen Ordnung und Überwachung: Diese Objekte besaßen das Potenzial, die Lagerordnung auszuhebeln, wenn sie in die Hände der Gefangenen fielen, und mussten daher eingeschlossen werden. Werkzeug wurde in einem

24 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 10. LAC, RG 24, 15400. 25 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix J, Instructions for Work Parties, Abschnitt 1. LAC, RG 24, 15400. 26 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix D, Duties of the Camp Sergeant Major. LAC, RG 24, 15400. 27 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix J, Instructions for Work Parties, Abschnitt 8. LAC, RG 24, 15400. 28 Der umfangreichste Abschnitt der Camp Standing Orders Sherbrooke ist mit »Discipline« überschrieben und behandelt in 14 Einzelteilen die Pflicht zur unermüdlichen Aufmerksamkeit, das Fraternisierungsverbot, Geheimhaltung und anderes. LAC, RG 24, 15400. 29 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix A, Standing Orders for the Guard, Abschnitt 14. LAC, RG 24, 15400.

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Geräteschuppen aufbewahrt, wenn es nicht benutzt wurde, und musste genauso sorgfältig registriert und gezählt werden wie die Gefangenen: »The Staff Sergeant will see that all tools are collected at the conclusion of work, daily, and balanced with those issued that morning; he will see that they are delivered to the Tool House and locked up. He will also see that the tailors’ and Shoemakers’ tools, which will facilitate escape, such as knives, scissors, pliers, files, etc., are properly gathered together each evening and safely locked away. These must be carefully checked with the number issued in the morning. The same action will be taken with all kitchen knives, cleavers, axes, butcher knives, etc. Once per week all cutlery, plates etc., must be counted and balanced with the numbers originally issued.«30

Der in dieser Anweisung als verantwortlich angesprochene Staff Sergeant hatte auch für die sichere Verwahrung der Schlüssel zum Enclosure zu sorgen. Zugang hatten dazu nur er und die Offiziere im Büro des Kommandanten.31 Die in den Camp Standing Orders implizit festgeschriebene Disziplinierung der Wachen zeigt sich auch in der Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit. Für die Wachen waren bestimmte Bereiche außerhalb des Lagers als »out of bounds«32 definiert. In Sherbrooke gehörten dazu beispielsweise einige Hotels in der näheren Umgebung sowie die Eisenbahnbrücke über den St. Francis River, die das militärische Gebiet des Lagers begrenzte.33 Die Zuweisung von erlaubten Aufenthaltsbereichen orientierte sich im Allgemeinen am Rang und am Aufgabenfeld des Personals. Es gab drei verschiedene Kategorien von Wachen, die sich aus der Guard rekrutierten: Scouts, Sentries und Escorts.34 Die unbewaffneten Scouts gingen zu zweit durchs Lager; sie waren unter anderem für die Zählung der Gefangenen zuständig. Als Gophers (Erdhörnchen) bezeichnete man Scouts, die die Zwischenräume unter den Wohnbaracken auf Tunnelgrabungen überprüften, um Fluchtversuchen vorzubeugen.35 Die sogenannten Sentries kontrollierten den Zugang zum Lager und liefen außerhalb des Compound am Zaun entlang Patrouille. Ihnen war jeweils ein bestimmter Streckenabschnitt zugewiesen.36 Escorts begleiteten die Gefangenen, wenn sie sich außerhalb des Lagers bewegten, etwa bei Arbeitseinsätzen, Fahrten ins Krankenhaus oder Verlegungen. Um sich untereinander zu verständigen oder im Notfall Hilfe herbeizurufen, verwendeten die Wachen Trillerpfeifen.37 Genau festgelegt waren auch die Bewegungsmodi der Wachen. Sentries beispielsweise waren dazu angehalten, auf ihrem jeweiligen Streckenabschnitt »in a sol-

30 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 14, Tools. LAC, RG 24, 15400. 31 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix E, Duties of the Staff Sergeant, Abschnitt 16. LAC, RG 24, 15400. 32 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 2, Bounds. LAC, RG 24, 15400. 33 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 2, Bounds. LAC, RG 24, 15400. 34 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 4, Guard. LAC, RG 24, 15400. 35 D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 87. 36 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix C for Sentries. LAC, RG 24, 15400. 37 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix C for Sentries, Appendix E, Duties of the Staff Sergeant. LAC, RG 24, 15400.

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dierly manner« zu patrouillieren und, wenn sie Wache standen, »properly at ease« zu stehen.38 Gemäß dem militärischen Verhaltenskodex durften sie das Lager zudem nur verlassen, wenn sie »properly dressed«39 waren. Als Zeichensystem verwies ihre Kleidung symbolisch auf den militärischen Rahmen der Internierung.40 Durch Uniformen, Haltung und Bewegungen verkörperten die Wachen die Ordnung und luden dadurch zugleich den Lager-Raum militärisch auf.41 Das gesamte Lager wurde also durch die in den Camp Standing Orders festgelegten Regeln als Raum konstituiert, in dem nicht nur die Wachen, sondern auch die Insassen einer militärischen Ordnung unterworfen waren. So wurden die internierten Seeleute gezwungenermaßen auch selbst zu Subjekten und Trägern militärischer Verhaltensweisen, wie etwa Ehrenbezeugungen: »Prisoners will stand to attention in the presence of any officer, touch or remove their hats when walking.«42 Der Staff Sergeant »will enforce the paying of suitable compliments to Officers by prisoners«43. Auch die Durchsetzung und Kontrolle von Sauberkeit und Ordnung in den Quartieren der Gefangenen lassen sich als Teil der Militarisierung des Lagerinneren auffassen.44 Über Deutungen und mögliche Aneignungsweisen dieser militarisierten Mikro-Ordnungen durch die Internierten geben die zeitgenössischen Quellen allerdings keine Auskunft. Strategien, die das Lager als militarisierten Raum konstituierten, werden darüber hinaus besonders in den detaillierten Anweisungen für die Escorts greifbar. Dort steht die relationale räumliche Anordnung von Wachen und Gefangenen auf dem Weg zum Arbeitseinsatz außerhalb des Enclosure im Mittelpunkt. Der gedachte Bezugspunkt für die Definition dieser Formationen war immer der Ernstfall, der Ausbruchsversuch eines Gefangenen: »2. In the case of an attempted break from any duties outside of the Enclosure, the flank guard on the side from which the break has been made will immediately take after party attempting to escape, using rifle fire if necessary to prevent escape. 3. The remaining guards will immediately load barrel of rifle and cover remainder of party. Should another attempt be made the guard will immediately open fire.

38 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix C for Sentries. LAC, RG 24, 15400. 39 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 8, Discipline. LAC, RG 24, 15400. 40 Zum Zeichencharakter von Kleidung siehe Barthes, Roland: Die Sprache der Mode. Frankfurt am Main 1985, S. 271. 41 Verkörperung wird hier verstanden als »Subjektivierung kulturell vorgeprägter Rollen«. Vgl. Heimerdinger, Timo: Der Seemann. Ein Berufsstand und seine kulturelle Inszenierung (1844-2003). Köln/Weimar/Wien 2005, S. 38. Ausführlich zu diesem Konzept siehe FischerLichte, Erika: Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie. In: Dies./Horn, Christian/Warstat, Matthias (Hg.): Verkörperung. Tübingen/Basel 2001, S. 11-25. 42 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 8, Discipline. LAC, RG 24, 15400. 43 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix E, Duties of the Staff Sergeant. LAC, RG 24, 15400. 44 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix D, Duties of the Camp Sergeant Major. LAC, RG 24, 15400.

212 | G EFANGEN IN K ANADA 4. Officers must always impress upon their flank and rear guards to walk at sufficient distance from the prisoners so that they cannot be pushed or over powered. 5. In case of an attempted break from any working party in the Compound, two men will be immediately detailed by N.C.C. [sic; vermutlich non-commissioned officer; JK] in charge of party to pursue men endeavouring to escape. The remainder of the party will be immediately covered by remainder of escort and formed up in close formation. Any further attempted break from the party will be dealt with immediately with the rifle. General Alarm will be sounded.«45

Mit den spezifischen Techniken des Flankierens und Deckens sollte die Eskorte als temporäres, fragiles Gebilde stabilisiert werden. Um die Aufrechterhaltung dieser Anordnung zu gewährleisten, mussten sich die Marschformationen nach einer vorgegebenen, aber immer aufs Neue fein auszubalancierenden Choreografie aus Nähe und Distanz bewegen: Einerseits wurde eine »close formation« angestrebt, andererseits galt zu große Nähe zu den Gefangenen als gefährlich, da die Wachen angreifbar wurden, sich aber selbst nicht wehren konnten, wenn der Platz nicht ausreichte, um ihre Waffen in Anschlag zu bringen:46 »Soldiers on Escort Duty must remain at such distance from the Prisoners as will permit the freedom of their arms in case of necessity.«47 Das gemeinsame Bewegen und das gleichzeitige permanente Austarieren von Abständen konstituierten einen Binnen-Raum der Überwachung; gleichzeitig verkörpert die Formation als Ganzes die lozierende Gewalt, der die Gefangenen unterworfen waren. Auch wenn sie kein formales Publikum besaßen, lassen sich die Anordnungen aus Wachen und Bewachten hinsichtlich ihrer raumbildenden Dimension mit den von Sonja Windmüller untersuchten Paraden vergleichen und wie diese als temporäres doing space verstehen.48 Dabei zeigt sich auch, dass die Internierten zumindest indirekt auf die räumliche Bewegung der Wachen Einfluss nehmen konnten: Entfernte sich ein Gefangener von seiner Gruppe, so war der Wachsoldat gezwungen, ihm zu folgen. Unter den militärischen Körpertechniken, die die Wachen einsetzten, waren Blicke eines der wichtigsten Instrumente der Disziplinarmacht. Seit den Militärlagern des 17. Jahrhunderts bildet in Einsperrungssituationen jeder Blick »ein Element im Gesamtgetriebe der Macht«, so Michel Foucault.49 Auch wenn Blickachsen in den kanadischen Lagern anders verliefen als in einem Gefängnis,50 beziehen sich in den Camp Standing Orders des Lagers Sherbrooke zahlreiche Anweisungen auf Blicktechniken, die größtmögliche Sichtbarkeit der Gefangenen gewährleisten sollten. Der Blick der Wachen hatte sich auf die Gefangenen und ihre Tätigkeiten zu richten. Der

45 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix J, Instruction for Work Parties. LAC, RG 24, 15400. 46 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix A, Standing Orders for the Guard, Abschnitt 17. LAC, RG 24, 15400. 47 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 8, Discipline. LAC, RG 24, 15400. 48 Windmüller, Sonja: (Ver)laufende Räume. Paraden als Gegenstand der Kulturforschung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 109 (2013), H. 1, S. 32-46, hier S. 37. 49 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 221. 50 Zum panoptischen Prinzip von Gefängnisbauten vgl. ebd., S. 319-329.

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auffällige rote Kreis auf dem Rücken der Gefangenenhemden51 war als Blickfang gedacht: Im Fluchtfall wurde er zur Zielscheibe, demonstrierte dem Träger jedoch auch bei alltäglichen Tätigkeiten ununterbrochen, dass er genau wie seine Kollegen zum Objekt überwachender Blicke geworden war. Folgt man den Camp Standing Orders, so sollten zahlreiche hierarchische Blicke den Raum gleichzeitig und entlang unterschiedlicher Blickachsen durchmessen und ihn so als »Aufsichtsraum«52 konstituieren: Von den Türmen sollten die Wachen von oben auf die Internierten im Enclosure schauen und so einen Überblick gewinnen, von außerhalb des Zaunes sollten die Sentries das Leben im Lager beobachten, die Scouts hatten die Anlage von innen zu betrachten, und alle Wachen, die mit Inspektionen und Durchsuchungen an den Toren beschäftigt waren, mussten sich eines DetailBlicks bedienen, um vertieften Einblick zu erlangen. Überblick, Außenblick, Innenblick und Einblick fügten sich also auch im Lager zu einem umfassenden »Netz der einander kontrollierenden Blicke«53 zusammen. Wie die Wachen diese Blicke einsetzen sollten, damit sie zu zuverlässigen Instrumenten der Kontrolle werden konnten, ist in den Camp Standing Orders genau niedergelegt. Dabei verbindet sich die allzeit notwendige Disziplinierung der Wachen mit dem strategischen Einsatz ihrer Blicke, wie aus einer Anweisung für Sentries auf den Türmen im Lager Mimico deutlich wird: »Attention is drawn to para. 1 of ›Orders for Sentry‹ which reads as follows: ›The sentry will be posted on the platform.‹ The platform is that portion of the tower which overlooks the wire fences, and is not that portion enclosed by glass. The enclosed section shall never be used by sentries during the hours the P/W are not ›locked up‹, and may only be used at night time when the weather is unusually inclement.«54

Wie die Einleitung mit dem nachdrücklichen Verweis auf einen Teil der Orders nahelegt, wurde dieser Teil der Verhaltensanweisungen von den Wachen offensichtlich nicht genau genug befolgt. Dabei war er essenziell für die Aufrechterhaltung der Blickregimes im Lager: Nichts, und schon gar nicht die Bequemlichkeit der Wachen, sollte dem geforderten »sharp look-out«55 im Wege stehen. War die Sichtweite aufgrund von starkem Nebel oder nächtlichem Stromausfall eingeschränkt, mussten die diensthabenden Wachen dies sofort melden, sodass die Wachen verstärkt werden

51 Zu erkennen in Abbildung 11 auf S. 233 und Abbildung 32 auf S. 399. 52 E. Goffman: Asyle, S. 221. Unter dem Aufsichtsraum versteht Goffman einen von drei Bereichen, die die Lebenswelt der Insassen totaler Institutionen bilden, und zwar den Bereich, in dem sich der Insasse die meiste Zeit aufhält und in dem er sowohl unter Beobachtung steht als auch den Regeln der Anstalt unterworfen ist. Neben dem Aufsichtsraum unterscheidet Goffman den verbotenen oder unzugänglichen Raum sowie ggf. Freiräume mit verringerter Überwachungsintensität. Ebd., S. 222. 53 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 221. 54 Camp Orders Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 4, 27. Oktober 1940. LAC, RG 24, 15391. 55 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix C for Sentries. LAC, RG 24, 15400.

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konnten.56 Die inspizierenden Nah-Blicke sollten gewissenhaft und gründlich erfolgen, etwa wenn Fahrzeuge das Tor passieren wollten: »The Search must be made to see that no Prisoner is concealed in or about the vehicle or that any communication, parcel or tools are being carried in or out. The search will be carried out carefully and efficiently. All garbage tins or boxes containing refuse, etc., leaving the Enclosure through the gate must be carefully and thoroughly examined by the gate sentry to see that no prisoner is concealed within. A Prodding Stick at the Gate is to be used for this purpose.«57

Der als Hilfsmittel eingesetzte Prodding Stick, mit dem die Wachen zum Beispiel in Müllbehältern herumstochern konnten, verlieh diesen Techniken zusätzlich Nachdruck. Auch bei der Untersuchung von Paketen war »der kleinliche Blick der Inspektionen«58 und eine Haltung misstrauischen Entdeckens gefordert: »Money and letters can be concealed almost anywhere and tools, such as files, can easily be concealed in cakes, tins of tea, jam, etc. Cakes and such like commodities should frequently be cut in four quarters; tea, tobacco, etc., emptied out of the tin with a view to discovering illicit articles. Packets of Cigarettes should invariably be carefully examined, also the wrapping of parcels.«59

Für die Wachen ging es also immer darum, verschiedene Bereiche des gesamten Lagers gleichzeitig aus unterschiedlichen Perspektiven im Blick zu haben, dabei aber auch Details zu sehen, Verdächtiges als solches zu erkennen und in diesem Fall die Befehlskette entsprechend den Anweisungen in Gang zu setzen: »The Guard […] must report any irregularities or strange movements that come to their notice to the Officer of the Guard, who will in turn report to the Commandant.«60 Meldepflichtig war es auch, wenn Unbefugte sich Blicke anmaßten, die dem Lagerpersonal vorbehalten waren: Die Hoheit über den investigativen Blick lag – entsprechend der Hoheit über jegliches lagerbezogene Raum-Wissen – bei den Akteuren der Gewahrsamsmacht. Im Lagerbereich war die Benutzung von Kameras verboten und Zivilisten, die das Lager ohne Erlaubnis fotografierten, mussten mit der Konfiszierung ihres Apparats rechnen.61

56 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix C for Sentries. LAC, RG 24, 15400. In den Camp Orders des Lagers Mimico/New Toronto ist sogar von einer Verdopplung der Wachen bei schlechtem Wetter die Rede. War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 4, 27. Oktober 1940. LAC, RG 24, 15391. 57 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 13, Searching of Vehicles. LAC, RG 24, 15400. 58 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 180. 59 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix I, Instructions for the Censor. LAC, RG 24, 15400. 60 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix A, Standing Orders for the Guard, Abschnitt 13. LAC, RG 24, 15400. 61 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 8, Discipline. LAC, RG 24, 15400.

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Doch die hierarchische Überwachung besaß eine Kehrseite: Im Gegensatz zu den verbotenen Blicken von Passanten ließen sich die Blicke der Gefangenen kaum kontrollieren. In den Camp Standing Orders ist die Vermutung des Lagerpersonals, den Blicken der Gefangenen beinahe unentwegt ausgesetzt zu sein, deutlich greifbar. Das Lager erscheint dadurch als reziprokes Beobachtungssetting, in dem die Gefangenen als unerbittlicher Spiegel für jede Nachlässigkeit der Wachen fungierten: »(a) SLACKNESS The utmost care must be exercised to avoid slackness in discipline, in troops either on or off duty. Observation by Prisoners of any slackness or lack of smartness and efficiency will have a serious effect on their attitude and increase the difficulty of handling them.«62 »8. The troops employed in connection with prisoners, whether as sentries, scouts or escorts for working parties, should realize that the prisoners are always studying their habits and trying to discover their weaknesses […].«63

Auf der Handlungsebene wurde dieser Beobachtungsraum durch die räumliche Gliederung, durch beiderseitige repetitive Nutzungsstrategien des Lager-Areals und durch sich kreuzende Blickachsen immer wieder neu hervorgebracht. In den Camp Standing Orders wird jedoch antizipiert, dass die Gefangenen die Wachen beobachteten, um sie auszuspionieren. So ließ sich auf einer argumentativen Ebene die Notwendigkeit der umfassenden Überwachung und scharfen Kontrolle der Gefangenen gegenüber den Wachen plausibilisieren. In den Camp Standing Orders zeigt sich damit ein ambivalentes Verhältnis zur antizipierten Umkehrbarkeit der Blicke: Präsenz zu zeigen, galt für die Wachen auf der einen Seite als unverzichtbares Mittel zur Disziplinierung der Gefangenen, andererseits aber zwang die Annahme, beobachtet zu werden, auch die Wachen zu regelkonformem und diszipliniertem Verhalten. Die Guards sollten sich bewusst sein, dass sie im Lager wie auf einer Bühne agierten und dass die internierten Seeleute ihr stets aufmerksames Publikum bildeten. Dass es im Alltag jedoch nicht bei stiller Beobachtung und quasi-pantomimischem Einsatz von Mimik, Gestik und Körperhaltung zwischen Gefangenen und Bewachern blieb, lassen die zahlreichen Variationen und Wiederholungen des Gesprächs- und Fraternisierungsverbots vermuten: Kommunikation mit den Gefangenen war den Wachen nur zum Zwecke der Befehlserteilung gestattet. Tauschgeschäfte und die Annahme oder Weitergabe von Gegenständen als Geschenk oder Bestechungsversuch waren strengstens verboten.64 Allein in den Camp Standing Orders aus Sherbrooke wird dieses Verbot an fünf verschiedenen Stellen mit Nachdruck wiederholt.65 Dass das Kommunikationsverbot häufig missachtet wurde, zeigt sich auch in Quellen

62 Ebd. 63 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix J, Instructions for Work Parties, Abschnitt 8. LAC, RG 24, 15400. 64 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 48, Daily Orders, 30. Oktober 1943. LAC, RG 24, 15396. 65 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 8, Discipline, Punkte c und g; Appendix A, Abschnitt 22; Appendix C, Appendix E, Abschnitt 14. LAC, RG 24, 15400.

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aus anderen Lagern, etwa wenn Nachrichten verdächtig schnell zu den Gefangenen durchsickerten, wie beispielsweise in Mimico: »Attention of all ranks is drawn to the fact that international news is known in the P/W Compound before the arrival of the newspapers there. This leakage of news has been traced to soldiers, who are in contact with P/W, thoughtlessly discussing such matters in their presence. The utmost care must be taken to obviate this and, if necessary, restrictions shall have to be put into force to overcome such careless actions. Escorts, Provosts, Cookhouse and Mess Staffs and Officers’ servants are particularly to be warned of this as they are the ones who come most in contact with the P/W.«66

Durch die Kopräsenz von Wachen und Gefangenen und durch wiederkehrende Abläufe wie die Inspektion oder die Zählung der Insassen bot das Leben im Lager täglich zahlreiche Gelegenheiten für direkte Kontakte zwischen Vertretern der beiden Gruppen. Zwar war das Lager ein hierarchisch strukturierter und reglementierter Raum, in dem die verbale Kommunikation und die direkte Interaktion stark eingeschränkt und sanktioniert waren. Doch gerade die starke Reglementierung des Interaktionsraumes Lager deutet darauf hin, dass hier eine Contact Zone entstand, die aus Sicht der Einsperrenden erhebliches subversives Potenzial besaß, das die Ordnung stören oder im schlimmsten Fall sogar außer Kraft setzen konnte. Diese Kontaktzone erweist sich bei näherem Hinsehen auch als Raum, in dem punktuell Grenzen verschwammen bzw. neu ausgehandelt wurden. Durch Praktiken und Strategien des kanadischen Lagerpersonals entstand im Lager nicht nur ein Überwachungsraum, sondern auch ein reziprokes Beobachtungssetting, nicht nur ein Disziplinierungsraum, sondern auch ein Kommunikations- und Interaktionsraum, eine »Contact Zone« im Sinne Mary Louise Pratts.67 Die Analyse der Kopräsenz von Bewachten und Bewachern sowie von Beziehungen und Interaktionen zwischen Angehörigen dieser beiden Gruppen erweitert die Sichtweise auf Kriegsgefangenenlager und relativiert nicht nur die »dichotomisierende Sicht auf das Verhältnis von Insassen und Personal«,68 die im Zusammenhang mit Erving Goffmans Konzept der »totalen Institution«69 immer wieder kritisiert wird,70 sondern auch die Betonung von Hierarchie. Denn dass

66 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 4, Camp Orders, 29. Oktober 1940. LAC, RG 24, 15391. 67 M.L. Pratt: Imperial Eyes (2008), S. 8-9. 68 Bretschneider, Falk/Scheutz, Martin/Weiß, Alfred Stefan: Machtvolle Bindungen – Bindungen voller Macht. Personal und Insassen in neuzeitlichen Orten der Verwahrung zwischen Konfrontation und Verflechtung. In: Dies. (Hg.): Personal und Insassen von »Totalen Institutionen« – Zwischen Konfrontation und Verflechtung. Leipzig 2011, S. 7-24, hier S. 9. 69 Goffman selbst nennt das Kriegsgefangenenlager als dritten der fünf Typen totaler Institutionen. E. Goffman: Asyle, S. 16. 70 Vgl. hierzu Bretschneider, Falk: Die Geschichtslosigkeit der »Totalen Institutionen«. Kommentar zu Erving Goffmans Studie »Asyle« aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive. In: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8 (2008), H. 1, S. 135-142. sowie die Beiträge in Bretschneider, Falk/Scheutz, Martin/Weiß, Alfred Stefan (Hg.): Personal und

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die Wachen Strategien einsetzten, um eine umfassende und weitreichende Überwachung der Gefangenen zu erreichen, bedeutet noch lange nicht, dass die alltägliche Lebenswelt der Internierten mit dem Begriff der »totalen Institution« hinreichend erfasst wäre. Eigen-Räume der Internierten Obwohl das Lager für die internierten Seeleute zuallererst eine Sphäre der Fremdbestimmung war, verharrten die meisten Insassen nicht in Passivität. Vielmehr zeigt sich in den Quellen, dass die Internierten einer bemerkenswerten Bandbreite an Beschäftigungen nachgingen. Vor allem künstlerische Ausdrucksformen wie etwa die Malerei werden in der Forschungsliteratur häufig als Bewältigungsstrategien betrachtet,71 doch inwiefern die Internierten ihre Tätigkeiten selbst so verstanden, kann auf der Basis der zugänglichen Quellen nicht geklärt werden. Anhand zahlreicher Quellen, vor allem anhand der Lagertagebücher, lässt sich hingegen nachvollziehen, wie die Internierten durch »practices of agency«72 Eigen-Räume schufen,73 die in unterschiedlicher Beziehung zu den Räumen der Überwachung standen. Susanne Rau versteht den Begriff der Eigen-Räume vor allem als Spiegel sozialer Praktiken bestimmter Akteursgruppen und als Ausdruck von Autonomisierungsprozessen.74 Darin ähneln sie den sogenannten rückseitigen Regionen, die Anthony Giddens zufolge »Zonen bilden, innerhalb derer Handelnde Formen der Autonomie wiedererlangen, die in vorderseitigen Kontexten gefährdet sind«75. Gerade bei der akteursorientierten Untersuchung von Herrschafts- und Überwachungssituationen bieten rückseitige Regionen und Eigen-Räume einen lohnenswerten analytischen Zugriff. Lagertagebücher, Besuchsberichte und Intelligence Reports zeigen, dass in den kanadischen Seemannslagern vor allem zwei Formen von Eigen-Räumen relevant waren: versteckte EigenRäume, die sich als Ausdruck von Widerständigkeit interpretieren lassen und EigenRäume, die als sichtbares Zeichen für Reterritorialisierungsprozesse aufgefasst werden können.76 In beiden Fällen handelte es sich dabei nicht um Zonen, die bereits ›da‹ waren und einfach aufgesucht werden konnten, sondern um Bereiche, die die Internierten unter unterschiedlichen Bedingungen selbst erst herstellten und durch repetitive Nutzung aufrechterhielten, die also regelrecht mit Agency aufgeladen waren. Die in Kanada internierten deutschen Seeleute verfügten über zahlreiche erlaubte und geförderte Möglichkeiten, sich im Lager zu betätigen, dieses Territorium für sich zu deuten und dabei zum Teil auch sichtbar zu verändern. Dazu zählte etwa das Bemalen von Wänden in Krankenstationen und Speisesälen (vgl. Abbildung 4) oder der

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Insassen von »Totalen Institutionen« – Zwischen Konfrontation und Verflechtung. Leipzig 2011. J. Dusselier: Artifacts of Loss, S. 125. Ebd. Rau, Susanne: Räume. Frankfurt am Main 2013, S. 170. Ebd. A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 180. Zu Reterritorialisierung in Internierungslagern vgl. J. Dusselier: Artifacts of Loss, S. 2-3.

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Bau von Fußball- und Tennisplätzen, Boxringen und Schwimmbecken.77 Die Initiative für solche Projekte ging von den Insassen aus, die häufig die Hilfsorganisationen um materielle Unterstützung baten, wie etwa im Lager Kananaskis, dessen Vertrauensmann sich im Frühjahr 1942 mit der Bitte um Blumen-, Gemüse- und Grassamen an die YMCA wandte.78 Abbildung 4: Abendessen im Lager Mimico, undatiert

An der hinteren Wand des Speisesaals ist ein großes Gemälde zu erkennen, auf dem Internierte in einer winterlichen Landschaft beim Holzsägen dargestellt sind. Quelle: ACICR, Photothèque, V-P-HIST-03384-04.

Gärten und Parks gehörten auch in anderen Lagern zu den augenfälligsten EigenRäumen der Internierten. Oft lobten Besucher wie beispielsweise Dale Brown vom European Student Relief Fund die Beete und Gemüsegärten der Gefangenen in geradezu blumig-poetischen Worten: »It is an aesthetic treat to visit the camps during the summer: In nearly every one of them are luxuriant flower and vegetable gardens. Each individual if he desires it is given a small plot of ground which he may use in any way he wishes. The result in the later summer months is a patch work quilt of many colors.«79 Das lebhafte Interesse der Hilfsorganisationen an den Gärten der In-

77 Ein neues Wandgemälde im Krankenbereich des Lagers Neys (W/100) ist etwa im Rundschreiben der Hamburg-Amerika-Linie an die Angehörigen internierter Seeleute vom 26. Januar 1944 erwähnt. PA AA, R 127.967. 78 Schreiben des Vertrauensmannes aus Camp Kananaskis (K/130) an die YMCA, 18. März 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 79 In einem Sammelbericht von Dale Brown für den European Student Relief Fund über den Besuch mehrerer Lager im Sommer 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. Ähnlich enthu-

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ternierten rührte auch daher, dass sie mit Lieferungen von Pflanzen und Sämereien daran beteiligt waren80 und in den Beeten auch den Ertrag ihrer eigenen Arbeit sahen. YMCA und CICR vertraten die Ansicht, Gartenarbeit wirke vorbeugend gegen psychische Probleme,81 die eine lange Gefangenschaft nahezu unweigerlich mit sich bringe. Der Schiffsoffizier Rudolf Becker empfand, wie er an seinen Vater schrieb, beim Gärtnern eine wohltuende »Freude am Wachsenden«.82 Dass die Kanadier den internierten Deutschen solche Freiräume zugestanden, ist charakteristisch für ihre liberale Haltung gegenüber den Gefangenen, lässt sich zugleich aber auch als Herrschaftstechnik verstehen, die Eigeninitiative förderte und die Internierten aktivierte.83 Die Gärten betrachtete die kanadische Lagerverwaltung als Bereich, in dem die Internierten ungestört und zu ihrem eigenen Vorteil wirtschaften konnten, für den sie aber auch Verantwortung übernehmen mussten. Formulierungen wie »their garden«84, »their grounds«85 oder Bemerkungen wie »Prisoners of War brought in all their produce from their gardens«86 unterstreichen diese Sichtweise. In den weit nördlich gelegenen Lagern Kanadas mussten sich die Internierten bei ihrer Gartenarbeit zunächst auf die kurze Vegetationsperiode des borealen Klimas einstellen. So zerstörte im Juni 1944 ein Nachtfrost Tomatenpflanzungen und Blumenbeete im Lager Monteith. Die kanadische Lagerverwaltung notierte anschließend lakonisch im Lagertagebuch: »Plants in this area should be planted in July and taken in in August. There are only three seasons here (July, August and Winter).«87 Doch trotz dieser widrigen Umstände verwandten die Internierten viel Energie auf die Beschäftigung mit dem Gartenbau: Wie ein Bienenschwarm, »like a hive of bees«,88 so eine Notiz im Lagertagebuch von Monteith, arbeiteten sie in gemeinschaftlich gepflegten Parks, in Gewächshäusern oder auf den lagereigenen Gemüseanbauflächen, die in Monteith von den Internierten als ›KdF‹-Farm89 bezeichnet wur-

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siastische Würdigungen der Gefangenengärten finden sich in zahlreichen weiteren Besuchsberichten. CICR und YMCA engagierten sich beide für den Gartenbau der Internierten. So verweist etwa ein Eintrag im Lagertagebuch des Lagers Mimico/New Toronto darauf, dass die YMCA Saatgut für die Gefangenen kaufte. War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 10, 15. April 1941. LAC, RG 24, 15391. Zum Internationalen Komitee des Roten Kreuzes siehe XVIIth International Red Cross Conference (Hg.): Report, Vol. I, S. 281. ACICR, G 17/29. DSM, III A 3324 b. Diese Haltung findet sich auch in den Bemühungen um Reeducation wieder. PA AA, R 127.705. LAC, RG 24, 15392. LAC, RG 24, 15394. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 4, 18. Juni 1944. LAC, RG 24, 15392. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 4, 9. Mai 1944. LAC, RG 24, 15392. So zum Beispiel in Monteith (Q/23). War Diary Camp Monteith, Folder 3, Vol. 43, 28. Juli 1944. LAC, RG 24, 15392. Im konkreten Fall ist nicht zu klären, wie es zu dieser Bezeichnung kam, doch vor ihrer Gefangenschaft hatten die Seeleute durchaus Kontakt zur nationalsozialistischen Organisation »Kraft durch Freude« (KdF), was die Gründung der KdF-

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den. Die gemeinsame Arbeit ist beispielsweise auf einem Foto aus dem Lager Sherbrooke dokumentiert (Abbildung 6). Auch private Blumenbeete waren sehr populär. Solche kleinen Gärten wurden meist vor den Wohnbaracken oder entlang der Wege im Lager angelegt. Häufig zeigen sie, wie in Abbildung 5 zu erkennen, deutlichen Gestaltungswillen: Waren die Beete auch noch so klein, sie wurden doch gezielt in (symmetrische) Form gebracht und mit Zierpflanzen bestückt. Zudem wurden sie, wie hier zu sehen, meist durch einen Gartenzaun von der benachbarten Parzelle abgegrenzt und auch dadurch als Eigen-Räume markiert. Abbildung 5: Ein Internierter im Lager Sherbrooke bei der Arbeit an einem Blumenbeet im Vorgarten einer Baracke, 1944

Im linken Bildhintergrund ist ein Wachturm zu erkennen, von dem aus die Wachen die gärtnernden Internierten im Blick hatten. Die originale Bildbeischrift lautet: »Competition is keen among florists in camp. A garden like this one adjoins every hut. Flowers are important to prisoners of war.« Quelle: PA AA, R 127.704.

Gemeinschaften in den Lagern beeinflusst haben mag. In ausländischen Häfen versuchte die NSDAP-Auslandsorganisation vor dem Krieg, die Seeleute unter anderem durch Freizeitangebote der KdF, beispielsweise Ausflüge ins Landesinnere, an die Partei zu binden, vgl. Mittel, Franz: Der Seemann als Repräsentant des Volkes. In: Jahrbuch der NSDAP Auslandsorganisation 4 (1942), S. 22-33, hier S. 31-32. Zudem war das Amt »Schönheit der Arbeit« innerhalb der KdF-Organisation auch auf Seeschiffen aktiv und bemühte sich, Kabinen und Messräume wohnlicher auszustatten. Vgl. E. Hamburger: A peculiar pattern of the fifth column – the organization of the German seamen. In: Social Research 9 (1942), H. 4, S. 495-509, hier S. 507-508.

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In Monteith nutzten im Mai 1944 etwa 100 Internierte die Möglichkeit, private Beete anzulegen. Die Beete wurden ihnen für eine Saison zugeteilt, über Art der Bepflanzung und etwaigen Ertrag konnten sie frei verfügen.90 Vergleichbare Formen des Gartenbaus gab es auch in anderen Internierungskontexten des Zweiten Weltkriegs, etwa in den US-amerikanischen Internierungslagern für japanischstämmige enemy aliens.91 Abbildung 6: Internierte Seeleute im Lager Sherbrooke bei der Arbeit an Frühbeeten, 1944

Die originale Beschriftung auf der Rückseite der Fotografie lautet: »In warm weather, gardeners move young plants from the ›green-house‹ to ›hot-beds‹ outside. Door in rear of man on left leads into educational hut. Beyond fence in background, prisoners walk and fish after work.« Quelle: PA AA, R 127.704.

Obwohl die kanadischen Wachen der Gartenarbeit der Internierten prinzipiell wohlwollend gegenüberstanden, beobachteten sie deren gärtnerisches Tun doch sehr genau. So fand im Juli 1944 in Monteith eine Begehung durch einen Vertreter des Plant Inspection Service in Ottawa und einen Landwirtschaftssachverständigen der Provinz Ontario statt,92 nachdem die Internierten auf der ›KdF‹-Farm deutsches Saatgut verwendet hatten. Die Experten wollten mit eigenen Augen sehen, wie sich die deutschen Samen im kanadischen Boden entwickelten. Auch in Petawawa arbeiteten die

90 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Monteith (Q/23) am 16. und 17. Mai 1944. PA AA, R 127.705. 91 J. Dusselier: Artifacts of Loss, S. 2-3. 92 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 43, 28. Juli 1944. LAC, RG 24, 15392.

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Seeleute mit »von der Heimat angekommenen Samen«,93 die sie durch die Schweizerische Schutzmachtvertretung bezogen. Durch diese strategische Nutzung der Hilfsangebote verwandelten die Internierten das Lager beinahe wörtlich in eine deutsche Kleingarten-Kolonie: Wie ausgewanderte Siedler bestückten sie das Lager mit nachwachsenden und essbaren Verweisen auf Deutschland und luden den Raum mit symbolischer Bedeutung auf. Auch ohne die explizite Benennung als ›KdF‹-Farm bekam der Garten eine nationale und politische Dimension, die ihm heterotope Züge verlieh.94 Ein Artikel in der Zeitung La Tribune de Sherbrooke macht deutlich, dass auch außenstehende Betrachter die Gärten der Internierten unter nationalen Vorzeichen begutachteten: »A large communal garden […] furnishes an abundant harvest of potatoes and cabbages, so popular with the Germans.«95 Der Gemüsegarten wurde als Materialisierung und Bestätigung von Nationalstereotypen gedeutet. Sowohl in Fredericton als auch in Sherbrooke betrieben die Internierten einen »Biergarten« beziehungsweise ein »Gartenlokal«.96 Diese Räume der Geselligkeit waren offensichtlich gut frequentiert, besonders der Biergarten in Fredericton. Wie der Schweizer Konsul im Juli 1942 zu berichten wusste, war »der sehr hübsch angelegte Biergarten, wo jeden Abend Konzerte im Freien gegeben werden, […] immer stark besucht. Bierausschank ist seit einiger Zeit im Lager gestattet.«97 Auch in Sherbrooke nutzten die Internierten das Gartenlokal für »gemütliche Anlässe«98, wie der Schweizerische Berichterstatter es formulierte. Dabei handelte es sich um Veranstaltungen, die von der lagerinternen ›KdF‹-Gemeinschaft organisiert wurden. Im Sommer 1944 standen neben dem Kaffeehausbetrieb Konzerte – live oder von Schallplatte –, private Feiern oder Gemeinschaftsveranstaltungen wie das große Bockwurstessen oder ein Eisverkauf auf dem Programm.99 Durch diese Bespielung wurde der Biergarten nicht nur zum politisch aufgeladenen Geselligkeitsraum, sondern auch zu einer geradezu migrantischen Reminiszenz an Deutschland. Chris M. Madsen und Robert J. Henderson sprechen in diesem Zusammenhang von »facsimiles of the Germany they [die Internierten; JK] remembered«,100 von »small German worlds inside the enclosures«.101 Ob dies in erster Linie als Beheimatungsstrategie102 zu inter-

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Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) am 27. und 28. Juli 1943. PA AA, Bern 4268. 94 Foucault, Michel: Von anderen Räumen (1967). In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2007, S. 317-329, hier S. 325. 95 Zeitungsartikel »Une journée avec les prisonniers allemands du camp Newington«. La Tribune de Sherbrooke vom 29.10.1945, S. 10, übersetzt von und zitiert nach M. Auger: Prisoners of the home front, S. 99-100. 96 PA AA, Bern 4271. 97 Ebd. 98 PA AA, Bern 4270. 99 Ebd. 100 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 4. 101 Ebd., S. 44. 102 Vgl. zu dieser Perspektive Binder, Beate: Beheimatung statt Heimat: Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Seifert, Manfred (Hg.): Zwischen Emotion

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pretieren ist oder ob damit eher eine politische Aussage in Richtung der Kanadier intendiert war, darüber kann man nur Mutmaßungen anstellen. Doch angesichts der engen Überwachung erscheint es durchaus vorstellbar, dass die Seeleute die aufmerksame Begutachtung ihrer Grünanlagen seitens der Kanadier antizipierten und dieses Setting auch für Strategien der symbolischen Kommunikation nutzten, indem sie das Lager bewusst in einen sichtbar nationalisierten und damit auch politisierten Raum transformierten. Mit Bezug auf Schroers Analysemodell zur Aufmerksamkeit in der visuellen Kultur ließe sich dann von einem Oszillieren zwischen Inklusion und Zwangsinklusion bzw. zwischen aktiver und passiver Sichtbarkeit der Internierten sprechen:103 Durch die beschriebenen Aktivitäten agierten die Internierten wie auf einer Bühne und stellten neben ihrem Ideenreichtum und ihrem grünen Daumen auch ihr nationales Zugehörigkeitsgefühl zur Schau. Gleichzeitig zogen sie dadurch jedoch auch stärkere Überwachung auf sich, wie die Begehung durch die kanadischen Pflanzenexperten verdeutlicht. Die vordergründige Verschönerung des Lagers durch die Gartenarbeiten wurde von den Wachen und den Vertretern der Hilfsorganisationen immer wieder anerkennend hervorgehoben: »P.O.W.’s Gardeners busy beautifying the Camp grounds. – Very good results.«104 Oder, abermals in den Worten des Schweizer Konsuls: »Die Verschönerungen der Lagerfläche ist [sic] einem Besucher sofort ersichtlich. Zahlreiche kleine Blumenbeete mit niedlichen Zäunen, sowie kleine Gartenhäuschen mit Sitzgelegenheit sind von den Kriegsgefangenen angebracht und erstellt worden. […] alles steht in voller Blüte.«105 Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass das Anlegen von Gärten auch Teil des Prozesses einer funktionalen Ausdifferenzierung bzw. »Mikro-Regionalisierung«106 des Raumes und damit einer Strategie der äußeren Normalisierung war. Die Begrünung des Lagerinneren trug wesentlich dazu bei, den Anschein von Normalität zu erwecken.107 Der Lagerpark in Fredericton etwa versammelte typische Elemente einer Parklandschaft (vgl. Abbildung 7): klar abgegrenzte Rasenflächen, Wege, Bänke, Beete, eine Brücke und einen Torbogen.108

103

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und Kalkül. ›Heimat‹ als Argument im Prozess der Moderne. Leipzig 2010, S. 189-204. Binder greift hier das Konzept der »Homing Desires« (Avtar Brah) aus der Diasporaforschung auf. Vgl. Brah, Avtar: Cartographies of diaspora. Contesting identities. London/ New York 1998, S. 180. Schroer, Markus: Sichtbar oder unsichtbar? Vom Kampf um Aufmerksamkeit in der visuellen Kultur. In: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis 64 (2013), H. 1-2, S. 17-36, hier S. 28. War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 3, Vol. 32, 20. Mai 1943. LAC, RG 24, 15400. Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) am 27. und 28. Juli 1943. PA AA, Bern 4268. B. Werlen: Globalisierung, Region und Regionalisierung, S. 181. C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 44. Dies geht aus mehreren Fotografien des Lagerparks hervor. PA AA, R 127.704.

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Abbildung 7: Teilansicht des Lagerparks in Fredericton, vor Mai 1943

Zwei Internierte sitzen auf einer Bank und blicken in Richtung des Fotografen. Auffallend sind neben der Brücke und dem Vogelhäuschen besonders die runden und rechteckige Beete mit den akkuraten Rasenkanten. Quelle: PA AA, R 127.704.

Mit solchen Modifikationen und Möblierungen schrieben sich die Internierten in die Lagerlandschaft ein und überformten sie mit einer Quasi-Normalität, die sich auf strukturelle und äußere Ähnlichkeiten mit heimatlichen Landschaften stützte. Jane Dusselier spricht in diesem Zusammenhang von »portable senses of place«,109 die in konkrete Strategien umgesetzt wurden. Diese Normalisierungsstrategien erzeugten Räume, die über das Lager hinauswiesen. Begreift man Michel Foucaults »Heterotopien«110 mit Martina Löw auch als »Illusions- oder Kompensationsräume«,111 dann waren die Lagerparks und Gärten genau das: »Plazierungen, die die besondere Eigenschaft besitzen, andere Plazierungen zu spiegeln«112. Wer sich in solchen Räumen bewegt, wird gleichzeitig immer auf den eigenen Standort zurückverwiesen. Auch der deutsche Biergarten im Lager Sherbrooke lässt sich somit als heterotopischer (Sehnsuchts-)Raum begreifen, der den Besucher gedanklich über das Lager hinaus und ihm dabei gleichzeitig seine Einsperrung umso deutlicher vor Augen führt. Strategien der Mikro-Regionalisierung wie das Anlegen eines Parks durchbrachen die Gleichförmigkeit der militärischen Anlage und ermöglichten eine andere Art der Orientierung und Verortung im Lager. Wo vorher einfach nur ein Platz zwischen zwei Baracken war, konnte ein Park ein Zentrum oder einen Treffpunkt bilden, er bot Gestaltungsspielräume und spiegelte zugleich die Agency derjenigen wider, auf deren Idee und Initiative die Anlage zurückging. Damit lässt er sich als Eigen-Raum begreifen, der Identifikation ermöglichte, weil er die Lagerlandschaft individualisierte.

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J. Dusselier: Artifacts of Loss, S. 2-3. M. Foucault: Von anderen Räumen, S. 325. M. Löw: Raumsoziologie, S. 165. Ebd.

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Die Praktiken, die die Internierten einsetzten, um Eigen-Räume herzustellen und aufrechtzuerhalten, lassen sich daher auch als Strategien des »re-territorializing«113 interpretieren, verstanden als »the process by which hostile spaces are altered into arenas of identity articulation where marginalized people declare differences and enact subjectivity«114. Die Internierungsarchäologin Eleanor Casella fasst diesen Prozess folgendermaßen zusammen: »[…] while the built landscapes and institutional objects associated with internment create a powerful force of uniformity, those who experience internment simultaneously create signatures of diversity by using the material world to maintain a sense of personal self and communal belonging«115. Aus dieser Perspektive erscheint das Lager als mehrschichtiges Gebilde, in dem sich unterschiedliche (Deutungs-)Räume überlagern und durchdringen. Die zweite Art von Eigen-Räumen ergibt sich unmittelbar aus der Eigenschaft des Lagers als Überwachungs- und Disziplinarraum. Markus Schroer zufolge »entsteht aus der Situation, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, regelmäßig der Bedarf an Rückzugsmöglichkeiten«116. Für die internierten Seeleute konnten Gärten solche Rückzugsorte sein, genau wie andere Hobby-Räume. Doch darüber hinaus waren die Möglichkeiten der Internierten, sich im Lager Eigen-Räume zu schaffen, formal immer durch die Camp Standing Orders limitiert. Was darin verboten war, durfte offiziell nicht stattfinden; und wenn es doch stattfand, mussten die Internierten dafür sorgen, dass die Wachen es nicht bemerkten oder verschwiegen.117 Dies galt für alle Formen alltäglicher Widerständigkeit im Lager,118 seien es Glücksspiele, Wetten oder die Herstellung und der Konsum von hochprozentigem Alkohol.119 Was für die Kanadier »illicit activities«120 waren, ließe sich mit Erving Goffman auch als »sekundäre Anpassung«121 bezeichnen: eine Handlung, die in einer Überwachungssituation »unerlaubte Mittel anwendet oder unerlaubte Ziele verfolgt«.122 Diese Praktiken müssen »vor den Augen und Ohren des Personals abgeschirmt werden«123 und deshalb,

113 J. Dusselier: Artifacts of Loss, S. 2-3. 114 Ebd., S. 168. 115 Casella, Eleanor Conlin: Lockdown: On the Materiality of Confinement. In: Myers, Adrian/ Moshenska, Gabriel (Hg.): Archaeologies of Internment. New York u.a. 2011, S. 285295, hier S. 289. 116 M. Schroer: Sichtbar oder unsichtbar?, S. 29. 117 Ähnliches beschreibt Erving Goffman mit Bezug auf unerlaubtes Verhalten von Insassen psychiatrischer Einrichtungen. Vgl. E. Goffman: Asyle, S. 221. 118 Zur Abgrenzung verschiedener Definitionen von Widerständigkeit siehe Warneken, Bernd Jürgen: Die Ethnographie popularer Kulturen. Eine Einführung. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 209. 119 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix M, Standing Orders for Prisoners of War. LAC, RG 24, 15400. 120 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 75. In den Camp Standing Orders werden auch verbotene Gegenstände als »illicit« bezeichnet. Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix I, Instructions for the Censor. LAC, RG 24, 15400. 121 E. Goffman: Asyle, S. 185. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 221.

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folgt man dem Modell von Markus Schroer, in einer Sphäre der »Selbstexklusion«124 stattfinden. Gleichzeitig aber stellen sie diese Sphäre dadurch erst her: Sie konstituieren Räume, die nur für die Handelnden sichtbar und erlebbar sind, von denen nur die Handelnden wissen und bilden damit einen Teil des »underlife«125 im Lager. Ich begreife diese verbotenen Eigen-Räume als Ensemble aus »Depots« im Goffman’schen Sinne126 und den Praktiken, die die Internierten zu ihrer Einrichtung, Nutzung und Aufrechterhaltung einsetzten. Der Eigen-Raum ist damit nicht auf einen konkreten »Ort verbotenen Tuns«127 festgelegt, sondern überzieht das Lager wie ein Netz aus Akteuren, Beschaffungs- und Kommunikationswegen. In Anlehnung an Martina Löws Auffassung von Raum als »relationale[r] (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen«128 sind diese Eigen-Räume als temporär, fluide und dynamisch zu denken. Die Internierungssituation bringt es mit sich, dass diese Räume prekär sind und durch Interventionen der Einsperrenden jederzeit zerstört werden können. Bei der Durchführung verbotener Handlungen nutzten die internierten Seeleute oft, aber nicht ausschließlich Bereiche, die aufgrund weniger strenger Überwachung als »Freiräume«129 im Sinne Goffmans fungieren. In den Wohnbaracken der Internierungslager hielten sich die Wachen beispielsweise nur zu bestimmten Zeiten auf, abgesehen von Durchsuchungen außer der Reihe hauptsächlich während der täglichen Inspektion am Vormittag.130 Um innerhalb dieser Wohnräume mit eigenen Strategien Eigen-Räume zu schaffen, nutzten die Internierten Techniken des Versteckens und Tarnens. Verbotene Gegenstände wurden an einen Ort transportiert, der als sicher galt, dort gegebenenfalls bearbeitet, zu Apparaten zusammengefügt und benutzt. Immer wieder gelang es einzelnen Seeleuten, verbotenerweise einen Ausweis, Material für Elektroinstallationen oder Radioapparate in ihren Besitz zu bringen.131

124 M. Schroer: Sichtbar oder unsichtbar?, S. 28. 125 E. Goffman: Asyle, S. 194. 126 »Ein persönlicher Lagerplatz, der verheimlicht und/oder verschlossen wird, um nicht nur illegitime Eindringlinge, sondern auch illegitime Autorität abzuwehren, wird häufig Depot genannt.« Ebd., S. 239. Hervorhebung im Original. 127 Ebd., S. 193. 128 M. Löw: Raumsoziologie, S. 158. 129 E. Goffman: Asyle, S. 222. 130 Die vormittägliche Inspektion wird beispielsweise in den Camp Standing Orders des Lagers Sherbrooke erwähnt: Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix M, Standing Orders for Prisoners of War. LAC, RG 24, 15400. 131 Ein gefälschter Ausweis wurde beispielsweise im Lager Monteith bei einem Seemann gefunden, als er das Lager mit einer Gruppe von Internierten zum Arbeitseinsatz verlassen sollte. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 51, 6. März 1945. LAC, RG 24, 15392. Material für elektrische Installationen wurde bei drei Gefangenen entdeckt: War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 52, 17. April 1945. LAC, RG 24, 15393. Zwei Radiogeräte wurden im selben Lager bei einer Durchsuchung im August 1945 gefunden; es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Geräte von Arbeitseinsätzen außerhalb mitgebracht und ins Lager geschmuggelt wurden. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 55, 11. August 1945. Ebd.

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Als Beispiel für einen solchen Eigen-Raum lässt sich das illegale Schnapsbrennen untersuchen. Episoden, in denen von geglückter Alkoholherstellung die Rede ist, in denen also das Versteck nicht entdeckt wurde, tauchen in Interviews und Erinnerungstexten ehemaliger Internierter häufig auf: »im toRONto star hat dringestanden, wenn man einen guten schnaps in kanada trinken möchte, muss man nach dem lager MONteith gehen, da gibt es den BESten schnaps in kanada (alle lachen). die hatten da auch geBRANNT, nich.«132 Das Bild, das sich aus den Akten der Lagerverwaltung ergibt, ist komplementär zu den Interviewaussagen:133 Nur die entdeckten Destillen werden darin thematisiert; das Ausmaß der unentdeckten Anlagen bleibt uns heute ebenso zwangsläufig verborgen wie damals den Wachen. Das bezieht sich auch auf die Praktiken, durch die verbotene Gegenstände ins Lager gebracht oder im Lager zum Versteck transportiert wurden. Was die Akten jedoch punktuell zeigen, ist die Hartnäckigkeit, mit der die Internierten immer wieder erneute Versuche starteten, nachdem eine Brennvorrichtung entdeckt und konfisziert worden war. Um Anlagen zu verstecken, nutzten sie die Gebäude entgegen der vorgesehenen Verwendung, beispielsweise indem sie Destillen in Hohlräume unter der Deckenverkleidung der Wohnbaracken einbauten. Diese Modifikationen an den Gebäuden lassen sich, ebenso wie die Destillen selbst, als Materialbricolagen bezeichnen,134 für deren Zusammenstellung das Wissen der zahlreichen internierten Schiffsingenieure und Techniker eine wertvolle Ressource bildete. Im Lager Sherbrooke kann man über drei Monate hinweg nachverfolgen, wie die kanadischen Wachen nach einem ersten Fund systematisch nach weiteren Destillen oder Bauteilen dafür suchten. Am 22. Januar 1944 notierten die Wachen im Lagertagebuch: »Parts of a still have been confiscated from the Enclosure. Evidently a little quiet home brewing has been going on or contemplated.«135 Am folgenden Tag liest man: »More parts of a still confiscated today.«136 Abgeschlossen erschien den Wachen die Suche jedoch offenbar erst am 24. Januar 1944: »It is thought the parts of a complete still have now been recovered.«137 Die Beharrlichkeit, mit der die Gefangenen dennoch weiter an den versteckten Destillen arbeiteten, geht aus dem Eintrag vom 29. Februar 1944 hervor: »The P.O.W. were well behaved during the month but they do persist in making small stills for the manufacture of alcohol. However it

132 Interview Herbert Suhr, Z. 1241-1243. Weitere anwesende Personen: ein Bekannter des Befragten sowie die Ehefrauen der beiden. 133 Auch in den Berichten des CICR finden sich Hinweise auf aufgedeckte Schnapsbrennerei; in den Übersichten über die in jüngerer Vergangenheit verhängten Strafen erscheint mehrmals der 28-tägige Arrest für die Alkoholherstellung. 134 Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt am Main 1968, S. 30. sowie kommentierend B.J. Warneken: Die Ethnographie popularer Kulturen, S. 114. 135 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 40, 22. Januar 1944. LAC, RG 24, 15400. 136 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 40, 23. Januar 1944. LAC, RG 24, 15400. 137 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 40, 24. Januar 1944. LAC, RG 24, 15400.

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is believed they are located and confiscated before they really get going.«138 Doch auch an zwei Tagen im März wurden in Sherbrooke wieder Destillen entdeckt: »Another home made still confiscated in Enclosure.«139 Aus den Lagerakten von Fort Henry wird deutlich, dass die Entdeckung der Brennvorrichtungen mehrfach Anlass für offen ausgetragene Konflikte zwischen den Gefangenen und den Wachen war. Nachdem selbstgebrannter Alkohol in zwei der von den Gefangenen bewohnten Festungsräumen gefunden worden war, hatte ein Internierter die Wachen beschimpft und war daraufhin in die Arrestzelle gebracht worden.140 Am folgenden Tag ist das Strafmaß für die drei beteiligten Internierten im Tagebuch vermerkt: Zwei Gefangene wurden wegen Mitwisserschaft zu sieben und acht Tagen Arrest verurteilt, der Drahtzieher jedoch, der am Tag zuvor ausfällig geworden war, wurde mit 21 Tagen bestraft. Der Eintrag erläutert genauer, worin sein Vergehen bestand: »P.O.W. No. 13091 […] awarded 21 days detention, with army rations only (1) pushing the guard. (2) Attempting to push over the home brew after being arrested. (3) resisting arrest.«141 Hier verdichtet sich ein Moment, an dem die Strategien der Eingesperrten mit denen der Bewacher kollidierten und zu einem offenen Konflikt führten. Das widerständige Verhalten der drei Internierten lief ins Leere, und die bestehenden hierarchischen Machtverhältnisse wurden durch die Sanktionsmacht der Kanadier einmal mehr bekräftigt. »Wenn nur die Gefangenen nicht wären«: Konflikträume – Raumkonflikte Auch wenn die Internierten sich temporäre Eigen-Räume schufen, konnte sie die Einsperrungssituation mit ihren spezifischen räumlichen Arrangements jederzeit wieder einholen. Dazu gehörte auch der Mangel an Rückzugsmöglichkeiten gegenüber den Mitgefangenen, ein Umstand, der den Alltag der internierten Seeleute maßgeblich mitbestimmte.142 Das »persönliche Territorium«143 der Internierten beschränkte sich in der Regel auf das eigene Bett und ein Wandbord, auf dem sie die wenigen Habseligkeiten aufbewahrten, die sie zum Zeitpunkt ihrer Gefangennahme noch besaßen oder die sie seitdem erworben hatten. Die standardmäßig mit Stockbetten ausgestatteten Gemeinschaftsunterkünfte beherbergten bis zu 60 Seeleute.144 Nach dem

138 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 41, 29. Februar 1944. LAC, RG 24, 15400. 139 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 42, 4. März 1944. LAC, RG 24, 15400. 140 War Diary Camp Fort Henry/Kingston (F/31), Vol. 20, 14. Januar 1942. LAC, RG 24, 15394. 141 War Diary Camp Fort Henry/Kingston (F/31), Vol. 20, 15. Januar 1942. LAC, RG 24, 15394. 142 Das Zitat in der Zwischenüberschrift stammt aus einem Brief von Rudolf Becker an seinen Vater, 10. Juni 1944. DSM, III A 3324 b. 143 E. Goffman: Asyle, S. 234. 144 So etwa im Lager Petawawa. Vgl. Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) im Januar 1943. PA AA, R 127.951.

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Aufstehen mussten die Betten gemacht werden und durften bis zur Mittagsruhe nicht benutzt werden.145 Tagsüber dienten die Schlafräume als Aufenthaltsräume, in denen Männer Karten spielten, während andere Briefe schrieben oder lasen. Ruhe fanden die Internierten dort selten. Wie Abbildung 8 und Abbildung 9 zeigen, waren die Räume recht beengt, vor allem im Winter, wenn man sich aufgrund der Kälte nicht lange im Freien aufhalten konnte. In manchen Lagern konnte auch der Speisesaal tagsüber als Aufenthaltsraum genutzt werden, sofern er nicht als Unterrichtsraum benötigt wurde.146 Doch die Zeit zwischen den Mahlzeiten war begrenzt, zumal mancherorts in mehreren Schichten gegessen werden musste, weil nicht alle Gefangenen gleichzeitig im Speisesaal Platz fanden.147 Abbildung 8: Kartenspiel in einer Wohnbaracke im Lager Sherbrooke, undatiert

Originale Bildbeischrift: »Photographer comes unexpectedly on a card game. This is a typical scene inside barracks. Men are clean and comfortable, have ample fuel in cold weather.« Canadian Army Photo. Quelle: PA AA, R 127.704.

145 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix M, Standing Orders for Prisoners of War. LAC, RG 24, 15400. 146 In Sherbrooke beispielsweise wurde ein Teil des Speisesaals für Unterrichtszwecke genutzt. Vgl. Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls I. Sembinelli in Sherbrooke (N/42) am 22. Januar 1943. PA AA, Bern 4270. 147 Das geht aus der Stellungnahme des Commissioner of Internment Operations zu einer Beschwerde des Vertrauensmannes in Camp Fredericton (B/70) hervor, August 1942. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70.

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Abbildung 9: Wohnbaracke mit Stockbetten im Lager Petawawa, undatiert

Am Kopfende der Betten sind Regale zu sehen, in denen die Internierten persönliche Gegenstände aufbewahrten. Das oberste Regalbrett diente als Ablage für Gepäckstücke oder größere Kartons, sodass der Raum bis unter die Decke ausgenutzt werden konnte. Quelle: ACICR, Photothèque, V-P-HIST-03379-35.

Allein war man im Lager so gut wie nie. Denn Internierung bedeutete nicht nur Einsperrung, sondern auch erzwungene Vergemeinschaftung. Im Hinblick auf ihre Mitgefangenen gab es für die internierten Seeleute also kaum »rückseitige Regionen« im Giddens’schen Sinne,148 ganz zu schweigen von privaten Räumen. Bewegungsfreiheit und Privatsphäre waren für die Internierten knappe und deshalb umso wertvollere räumliche Ressourcen, um die sie mitunter erbittert kämpften. »Unser einziger Kampf«, so schrieb Rudolf Becker in einem Brief an seinen Vater, »gilt nach wie vor den kleinen und kleinsten Widerwärtigkeiten, die so das enge, jahrelange Zusammenleben gleicher Personen mit sich bringt«149. Beckers Formulierung verweist darauf, dass die Konflikte im Lager oft auf vergleichsweise nichtige Anlässe zurückgingen, die in der raumzeitlichen und sozialen Ausnahmesituation der Internierung ungemein an Gewicht gewannen. Konflikte im sozialen Raum waren eng mit Kämpfen um die Besetzung konkreter Räume im Lager und mit Auseinandersetzungen um symbolische Räume verflochten. In der sozialen und politisch-weltanschaulichen Heterogenität der Insassen und in ihrem notgedrungenen, psychisch oft als belastend empfundenen Miteinander steckte beträchtliches alltägliches Konfliktpotenzial, das auch in der Beziehung zwischen Insassen und Wachen zutage trat.

148 A. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 178 ff. 149 Rudolf Becker an seinen Vater, 14. November 1943. DSM, III A 3324 b.

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Aus dieser Grundproblematik heraus entwickelten sowohl die Internierten als auch die Bewacher spezifische Argumentations- und Handlungsstrategien. Raum spielte darin immer wieder eine zentrale Rolle, sei es als Streit-›Objekt‹, als Thema strategischer Kommunikation oder als Medium, um Konflikte durch spezifische räumliche Arrangements zu steuern. In den Quellen werden diese Zwistigkeiten in verschiedenen Stadien und aus unterschiedlichen Blickwinkeln greifbar. Der Zensor beispielsweise hatte die Aufgabe, wie ein Seismograf die kleinsten Stimmungsschwankungen und Spannungen unter den Internierten zu registrieren und diese Beobachtungen in seinen Monatsberichten zu dokumentieren. Oft spürte er Konfliktpotenzial zwischen verschiedenen Gruppen im Lager bereits auf, bevor es zu offenen Auseinandersetzungen kam, sodass die Wachen Deeskalationsstrategien einsetzen konnten. Zahlreiche Beschwerdebriefe der Internierten an die Schutzmacht bzw. die kanadische Regierung deuten auf schwelende Konflikte hin, die manchmal erst nach einiger Zeit, manchmal auch überhaupt nicht eskalierten. Offene, handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen Internierten lassen sich vor allem im Lagertagebuch aus der Perspektive der Wachen nachvollziehen, oft allerdings in eher knapper Form. In vielen dieser Quellen zeigt sich das Lager als permanent um sich selbst kreisender und dabei extrem labiler sozialer Raum: Die kanadischen Wachen, aber auch die Vertreter der Hilfsorganisationen, die den Lagern Besuche abstatteten, beobachteten immer wieder, dass die räumliche Situation in den Lagern, vor allem die Wohnräume und Sanitäranlagen, sich unmittelbar auf Moral und Disziplin der Internierten auswirkten. Empfanden die Internierten die Unterbringung als zu eng, zu kalt, zu feucht oder anderweitig mangelhaft, so bestand ein erhöhtes Risiko für Unbotmäßigkeiten wie Arbeitsverweigerungen und andere Akte von Widerständigkeit. Dies wiederum erschwerte für das Lagerpersonal den täglichen Umgang mit den Internierten. Umgekehrt stellten die Kanadier rasch fest, dass in Lagern, in denen die Internierten mehr Bewegungsfreiheit und Raum hatten, weitaus weniger Konflikte auftraten. Zur Durchsetzung dieser Erkenntnis hatte auch der Streit um die Unterbringung von Gefangenen in der ehemaligen Festungsanlage Fort Henry in Kingston beigetragen. Bereits im Jahr 1940 hatte das Lager Widerstand bei den damals dort gefangenen Wehrmachtsoffiziere hervorgerufen. Als Begründung für ihren Protest führten die Gefangenen an, die ehemalige Festung sei keine standesgemäße Unterkunft für deutsche Offiziere. Wie John Joseph Kelly in seiner detaillierten Analyse zeigt, führte daraufhin eine Reihe von (sprachlichen) Missverständnissen bei der Übermittlung dieser Beschwerden dazu, dass Deutschland zur Vergeltung 500 kriegsgefangene britische Offiziere in Festungsbauten verlegen ließ, wo sie in Kasematten untergebracht waren.150 Das sprachliche Missverständnis bestand darin, dass die Räume in Fort Henry als casemates bezeichnet wurden, es sich dabei jedoch entgegen der Annahme auf deutscher Seite nicht um unterirdische Gänge wie in manchen europäischen Festungen handelte, sondern lediglich um tiefer gelegene Räume innerhalb des Festungsbaus. Dank der Vermittlung des Schweizer Generalkonsuls war die deutsche Vergeltungsmaßnahme jedoch nach drei Monaten wieder beendet. Im September 1941 trafen Deutschland und Kanada schließlich die Übereinkunft, generell keine

150 Kelly zufolge waren dies die Lager Stalag XX A und XXI D. Ausführlich dazu J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 95-98.

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Kriegsgefangenen mehr in Festungsanlagen und Gefängnissen unterzubringen.151 Für Seeleute allerdings wurde Fort Henry, das Stein des Anstoßes gewesen war, noch einige Zeit weiter benutzt. Der Vorfall unterstreicht den hohen Stellenwert von Reziprozität in der Unterbringung und Versorgung von Kriegsgefangenen. Konnten die deutschen Internierten glaubhaft versichern, dass ihre Unterbringung in Kanada mangelhaft war und gelangte diese Information an die deutschen Behörden, so konnte Deutschland im Gegenzug die Internierungsbedingungen kanadischer Soldaten in deutschen Lagern verschlechtern, um Druck auf die Kanadier auszuüben. Bei den Beschwerden deutscher Internierter ist daher als Adressat immer auch die deutsche Regierung mitzudenken. Einerseits zeigen die Beschwerden, inwieweit das eher abstrakte Prinzip der Reziprozität das Alltagshandeln der Internierten beeinflussen konnte. Andererseits erklärt es möglicherweise auch die politisch sehr linientreue Sprache und Argumentation in diesen Schreiben. Aus diesem Machtkampf um ein Lager als Streitobjekt entwickelten die Kanadier eine zunehmende Sensibilität für die räumlichen Bedingungen der Internierung. Genau auf diese Sensibilität zielten wiederum die Internierten mit ihren Argumentationen ab und setzten Beschwerdebriefe auch strategisch ein. Damit deuteten sie das Prinzip der Reziprozität für ihre Zwecke um. Abbildung 10: Innerer Festungshof von Fort Henry, 1940

Als casemates wurden die Wohnräume im Erdgeschoss bezeichnet, die vom Hof aus zugänglich waren. Auf der Mauer im rechten Bildhintergrund sind die historischen Kanonen zu erkennen, die bereits damals zum Inventar des Museums gehörten. Quelle: Sammlung Fort Henry, Kingston.

Trotz umfangreicher Renovierungsmaßnahmen in Fort Henry beschwerten sich auch die zwischen 1941 und 1943 dort internierten Seeleute immer wieder über das Lager. Da die Wohnräume der Gefangenen im unteren Festungshof lagen, war der Blick permanent durch massive graue Mauern begrenzt (vgl. Abbildung 10 und Abbildung

151 Ebd., S. 98.

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11).152 Die Insassen bemängelten zudem, dass die Glühbirnen in den casemates die Räume nur schwach erhellten153 und dass sich an den Wänden immer wieder Feuchtigkeit sammelte.154 Als belastend empfanden die Internierten auch den starken Geruch der Toiletten, in denen Eimer mit Chlorkalk die Wasserspülung ersetzten.155 Abbildung 11: Gefangene nach dem roll call in Fort Henry, undatiert

Gut zu erkennen ist bei einigen der abgebildeten Insassen der (hier dunkel erscheinende) rote Kreis auf dem Hemdrücken der Gefangenenkleidung. Quelle: Sammlung Fort Henry, Kingston.

152 Die grauen Mauern werden in den Intelligence Reports vom Juli und Oktober 1942 als Beschwerdethema erwähnt: LAC, RG 24, 11250, File 10-2-3-31. 153 Vgl. den Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls I. Sembinelli in Fort Henry (F/31) am 21. November 1941. LAC, RG 24, 11248, File 9-1-5. 154 Vgl. den Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Fort Henry (F/31) am 16. und 17. Juni 1943. PA AA, Bern 4255. 155 Vgl. ebd.

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All dies wirkte sich negativ auf die Stimmungslage der Seeleute aus. So notierte der Schweizer Generalkonsul M. Jaccard nach einem Besuch im Lager Fort Henry am 8. April 1943: »[…] trouble, friction, and differences leading even to insults and beatings, have for some time been in existence in this particular camp«156. Für ihn standen diese Probleme in unmittelbarem Zusammenhang mit der im Vorjahr in Aussicht gestellten, aber bis dato nicht durchgeführten Verlegung einer kleinen Gruppe von Internierten, die als Urheber der genannten Störungen ausgemacht wurden. Aus dem Memorandum geht weiter hervor, dass das aggressive Verhalten dieser Seeleute nach Einschätzung von Jaccard eine Strategie des Protests gegen die Unterbringung in Fort Henry bildete. Dass die Situation in den folgenden Monaten in jeglicher Hinsicht unverändert blieb, verweist auf das enge Verhältnis von sozialem und gebautem Raum und deren großen Einfluss auf das Lagerleben. Die hier formulierte Annahme des Generalkonsuls, der gebaute Raum wirke sich unmittelbar auf die Disziplin in den Lagern aus, taucht als Deutung in späteren Quellen der Schutzmachtvertreter sogar noch prononcierter auf. Die soziale Komponente, die zuvor noch als Faktor in Erwägung gezogen worden war, wurde nun weitgehend ausgeblendet. Konsul Oertly etwa war sich sicher, die Probleme in Fort Henry seien »all due to the nature of the camp«157. Die per se spannungsgeladene innere Disposition des Sozialraums Lager war besonders durch Einflüsse von außen schnell aus dem Gleichgewicht zu bringen. Rudolf Becker beispielsweise war sich dieser Gefahr offensichtlich bewusst, wie eine Passage aus einem Brief an seinen Vater zeigt: »Neue Gefangene sind in unserem Lager seit langer Zeit nicht mehr zugekommen. Es ist vielleicht auch besser; da die Zeit an unsrer geistigen Verfassung nicht spurlos vorübergegangen ist, so würden wir uns mit nur wenigen Wochen in Gefangenschaft sich befindenden garnicht [sic] anpassen können. Je länger die Zeit, je stärker wird die gegenseitige Verurteilung untereinander. Blutauffrischung ist da vom Übel und führt zu erhöhten Erregungszuständen.«158

Kleine Auslöser genügten, um aus einem Lager, in dem die ›Moral‹ bis dato gut gewesen war, einen Konfliktraum zu machen. Häufig fungierte eine subjektiv wahrgenommene oder aus strategischen Gründen behauptete Überfüllung als Anlass oder Vorwand, um unterschwellig bereits länger spürbare, teils politisch motivierte Konflikte offen auszutragen. Am Beispiel des Lagers Fredericton kann man nachvollziehen, dass die Internierten Raum als Argument einsetzten, um politische Ziele zu erreichen. Anhand von Beschwerdebriefen lässt sich zeigen, wie die Internierten durch diese Proteste das Lager in einen Raum politischer Positionierungen und Konflikte transformierten.

156 Memorandum submitted by the Swiss Consul General in respect of Camp 31, visited on April 8th, 1943, and replies given by the Department of National Defence, Ottawa, on April 22nd, 1943. Sammlung Fort Henry, Kingston, SC 11. 157 Bericht des Schweizer Konsuls J. Oertly über seine Tätigkeit im Rahmen der Schutzmachtvertretung, BAR, E2200.150-01#1000/219#13*. 158 Rudolf Becker an seinen Vater, 27. April 1943. DSM, III A 3324 b.

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Im Juli 1942 wurden 384 jüdische Zivilinternierte deutscher Herkunft ins Lager Fredericton gebracht, in dem die Seeleute bis dato unter sich gewesen waren.159 Durch diese veränderte Belegungssituation sah sich der Vertrauensmann J. Brendel, der die Seeleute gegenüber den Kanadiern vertrat, dazu veranlasst, schriftlich gegen den Zuwachs zu protestieren. In seiner Argumentation spielt ›Raum‹ eine zentrale Rolle. Dies zeigt sich bereits am Beginn von Brendels Schreiben, wo er die beiden Hauptpunkte der Beschwerde gegenüber den Kanadiern folgendermaßen formulierte: »We protested and still protest now: – Against 1.) The overcrowding of this camp by nearly 400 and the conditions caused by this overcrowding. 2.) The Change from this camp from an internment camp into a concentration camp.«160

Gemäß seiner Position als (von den Seeleuten) gewählter Vertrauensmann präsentiert Brendel seine Beschwerde als Konsens. Indem er die Überfüllung als feststehende und für jedermann ersichtliche Tatsache darstellt, objektiviert er einen subjektiv empfundenen Zustand und schafft damit die Grundlage für seine ganze weitere Argumentation. Die Überbelegung des Lagers äußere sich, so Brendel, in verschiedenen Missständen, die sich allesamt schädlich auf die Gesundheit der Internierten auswirkten: »Sleeping in tents in any weather, hurried cooking for several shifts, hurried eating in several shifts, hurried cleaning of tables and mess halls, hurried dish-washing etc. had to result and did result in increased sick reports. The – although improved – and yet quite unsatisfactory water supply entails a serious lack of drinking water, of bodily cleanliness as well as of cleanliness of clothing and living quarters, floors etc. The results again are an increase of the sick reports.«161

Faktizitätsmarkierungen spielen auch in dieser Aufzählung eine wesentliche Rolle. Brendel verknüpft die angebliche Überfüllung des Lagers mit dem ebenso angeblichen Wassermangel, der mangelhaften Unterbringung und der Eile bei der Zubereitung von Speisen und bei Reinigungsarbeiten. Als logische Konsequenz daraus ergeben sich ihm zufolge hygienische Probleme, die einen Anstieg von Krankheitsfällen zur Folge haben. Diese Kausalkette stützt sich auch auf Argumentationsmuster, die der NS-Ideologie entlehnt sind. Durch diese Anleihen entsteht ein politisierter Text, in dem ›Raum‹ ähnlich einem Kampfbegriff in einem politischen Programm verwendet wird. Zugleich zeigt das Schreiben jedoch, dass Brendel bewusst die Schutzmacht als Adressaten ansprach: Der von ihm ausführlich reproduzierte Hygienediskurs zielte darauf ab, Wirkungsmacht zu entfalten und auf dem Umweg über die Schutzmacht Druck auf die Gewahrsamsmacht auszuüben.

159 Vgl. Begleitschreiben des Commissioner of Internment Operations, mit dem ein Beschwerdebrief des Vertrauensmannes J. Brendel vom 25. August 1942 an das Department of External Affairs weitergeleitet wurde. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70. 160 Schreiben J. Brendel, Vertrauensmann, Camp Fredericton (B/70), an den Schweizer Konsul, 25. August 1942. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70. 161 Ebd.

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Im zweiten Teil seines Briefes führt Brendel die eingangs verwendete Klassifizierung des Lagers als Konzentrationslager näher aus. Ob er den Begriff des Konzentrationslagers vor allem dazu verwendet, um seinen Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen, oder als gezielte Provokation, muss offen bleiben. Deutlich wird jedoch, dass Brendel den Begriff des Konzentrationslagers als Chiffre für ein bestimmtes soziales und räumliches Arrangement begreift und einsetzt. Das Konzentrationslager ist nach seiner Ansicht nicht nur durch »terrible overcrowding«162 und unhygienische Zustände gekennzeichnet, sondern auch durch eine spezifische Zusammensetzung der Insassen. Um dies zu veranschaulichen, kategorisiert Brendel die momentan im Lager befindlichen Gefangenen in zwei große Gruppen, die er nach rassischen und nationalen Kriterien sowie nach ihrer Einstellung zu NS-Deutschland unterscheidet und hierarchisiert: »we will not protest against the presence in this camp of, e.g., pro-Axis Canadian citizens of German descend [sic] or pro-Axis Italians and pro-Axis Canadian Citizens of Italien descend [sic], pro-Axis Hungarians, Finns and others, whose compatriots are fighting shoulder to shoulder with our brothers in all theatres of war; or pro-Axis Netherlanders, Norwegians and other who refuse to serve on merchant ships of the United Nations and whose compatriots in Europe are supporting the Axis-Powers.«163

Seine Aufzählung beschwört eine »imagined community«,164 die zwar in sich heterogen ist, aber durch die Loyalität zu NS-Deutschland geeint wird. Daneben gebe es allerdings, so Brendel, diejenigen, gegen deren Präsenz im Lager er sich entschieden verwahre, zumal laut Genfer Konvention die gemeinsame Unterbringung von »prisoners of war of different nationalities or races«165 als Notlösung gelte. Juden, Halbjuden, Marxisten, Kriminelle und andere »questionable individuals«166 bilden die zweite Gruppe in Brendels Klassifikation. Damit folgt er der nationalsozialistischen Einteilung von Personen in Volksgenossen und Verbündete auf der einen sowie Staatsbzw. Volksfeinde auf der anderen Seite. Aus der vermeintlich höherwertigen Stellung der internierten Deutschen leitet er einen territorialen Anspruch ab, nämlich die Transformation des Lagers in ein rein deutsches bzw. verbündetes »Gruppenterritorium«.167 Dies zeigt sich besonders in seiner Forderung an die kanadische Regierung, für die genannten »undesirable elements«168 ein Konzentrationslager einzurichten – eine klare Reverenz an die NS-Gewaltherrschaft und die Mittel zu ihrer Durchsetzung:

162 Ebd. 163 Ebd. 164 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York 2006, S. 6. 165 Schreiben J. Brendel, Vertrauensmann, Camp Fredericton (B/70), an den Schweizer Konsul, 25. August 1942. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70. 166 Ebd. 167 E. Goffman: Asyle, S. 230. 168 Schreiben J. Brendel, Vertrauensmann, Camp Fredericton (B/70), an den Schweizer Konsul, 25. August 1942. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70.

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»As the Canadian Government saw fit to disavow the original promise of the Minister of Justice by using this camp as a concentration camp, we demand that all the anti-Axis elements as well as the criminals and questionable individuals now in this camp be removed to a concentration camp. This would give us back the feeling of being honorably interned.«169

Mit dieser Forderung nach Segregation der Neuzugänge entlang der Kriterien der nationalsozialistischen Ideologie reproduziert Brendel Argumentationsmuster der NSRassenpolitik. In der Argumentation seines Schreibens verwendet er die Kategorien ›Rasse‹ und ›Raum‹ nahezu im Sinne der chauvinistischen NS-Lebensraumpolitik.170 Cornelia Schmitz-Berning zufolge stand der Begriff des Konzentrationslagers zwar erst ab 1945 für systematischen Genozid,171 doch in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren war er durchaus bereits ein »Symbol für die unbeschränkte, terroristisch ausgeübte Macht des NS-Regimes über Leben und Tod«.172 Ein weiterer Schlüsselbegriff in Brendels Argumentation ist die ›Ehre‹, die er eng mit der Art der Internierung verknüpft. Dieser »Grundwert […] der deutschen Volksgemeinschaft«173 erscheint ihm durch die Unterbringung in einem Konzentrationslager ebenso gefährdet wie die Gesundheit der Internierten. Nur ein ›reinrassiges‹ Lager ermögliche ein »honorable internment«174. Den Seeleuten geschehe also Unrecht, wenn die Kanadier ihnen diese Möglichkeit verweigerten. Mit dieser Strategie der Viktimisierung erhebt sich Brendel zugleich über die Kanadier, die durch den angeblichen Bruch des Versprechens besserer Unterbringung ihre eigene Ehrlosigkeit unter Beweis gestellt hätten. Brendels Schreiben lässt dadurch auch einen quasi-militärischen Ehrenkodex erkennen, der klare Grenzen des Zumutbaren definiert. Diese waren in Brendels Wahrnehmung offensichtlich durch die sozial-räumliche Situation im Lager überschritten und veranlassten ihn zum Handeln. Das Begleitschreiben des Commissioner of Internment Operations, mit dem Brendels Protest an das kanadische Department of External Affairs weitergeleitet wurde, entkräftet jede einzelne seiner Behauptungen. Dadurch legt es zugleich Brendels Argumentationsstruktur offen. Zunächst stellt der Verfasser klar, dass Brendel als Vertrauensmann nicht für die 384 Neuzugänge sprechen dürfe, dass die Schlafbaracken zur vorgesehenen Kapazität, aber nicht darüber hinaus gefüllt seien und dass demzufolge von einer Überbelegung keine Rede sein könne. Die Genfer Konvention äußere sich nicht zur Unterbringung von Zivilinternierten, sodass Brendel auch keinen Anspruch daraus ableiten könne. Zelte als Unterkünfte seien auch für die kanadische Armee im Einsatz, solange die Witterung dies erlaube, und länger sollten sie auch im Internierungslager nicht verwendet werden. Laut den Lagerärzten sei eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht nachweisbar, und auch die Was-

169 Ebd. 170 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 1998, S. 375-380. 171 Ebd., S. 356. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 163. 174 Schreiben J. Brendel, Vertrauensmann, Camp Fredericton (B/70), an den Schweizer Konsul, 25. August 1942. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70.

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serversorgung sei ausreichend, sofern die Internierten das Wasser nicht verschwendeten. Die Mahlzeiten in mehreren Schichten einzunehmen, sei zudem in vielen Camps üblich und kein Indiz für eine Überfüllung. Unter den Neuzugängen befänden sich keine Kriminellen. Die Gruppe der jüdischen Internierten sei allerdings zu klein, um in einem eigenen Lager untergebracht zu werden.175 Brendels Protest war nicht die erste Gelegenheit, bei der das Lager Fredericton zum Schauplatz politisch motivierter Konflikte wurde. Ausgehend von einem Gerichtsverfahren gegen deutsche Internierte aus Fredericton im Mai 1943 schrieb das Eidgenössische Politische Departement an die deutsche Gesandtschaft in Bern: »Da die von den Internierten erhobenen Vorstellungen nichts fruchteten, schritt die Lagerbelegschaft zur Selbsthilfe und bildete einen geheimen Ausschuss, der eine Liste von 30 unerwünschten Lagerinsassen (Vorbestrafte, verkommene Elemente, Querulanten, usw.), die aus dem Lagerbetrieb ausgemerzt werden sollten, aufstellte. Am 6. Februar d.J. stürzte sich eine beträchtliche Anzahl Internierter auf diese unerwünschten Leute und verprügelte einen Teil davon. Auf Seiten der beteiligten Angreifer konnten 10 Internierte, darunter ein Nichtdeutscher, identifiziert werden.«176

Die Schilderung dieses planvollen aggressiven Vorgehens zeigt, wie manche Internierte ihr Verhalten ganz konkret an der NS-Ideologie ausrichteten. Durch das Anlegen von Listen unliebsamer Internierter und durch die physische Verfolgung dieser Personen (die im Übrigen genau der auch bei Brendel konstruierten Gruppe entsprachen) konstituierten Nationalsozialisten im Lager einen internen Überwachungsraum, der parallel zum Überwachungsraum der Kanadier existierte, jedoch einem gänzlich anderen Zweck diente. Durch derartige Demonstrationen von Stärke, durch Einschüchterungspraktiken und durch die Besetzung des Raumes mit Verweisen auf NSDeutschland (wie etwa den ›KdF‹-Gärten) konnte das Lager auch zu einem ideologisch aufgeladenen Konfliktraum und zum Schauplatz eines Stellvertreterkrieges werden, in dem einige Internierte stärker gefährdet waren als andere. Den Grad an Gewaltbereitschaft, der damit verbunden war, lässt ein Eintrag im Lagertagebuch von Sherbrooke erkennen. Auf Veranlassung eines NS-Gegners, der sich von den überzeugten Nationalsozialisten im Lager bedroht gefühlt hatte, war eine Razzia durchgeführt worden, die ein langes Messer, Knüppel und andere Waffen zutage gefördert hatte, »which are said to have been intended for liquidation of the Anti Nazis«177. Die Idee für dieses mörderische Vorhaben könnte, so zumindest die Überlegungen des Zensors, durch Pressemeldungen über »enforced suicides in P/W internment

175 Begleitschreiben des Commissioner of Internment Operations, mit dem das Schreiben von J. Brendel an das Department of External Affairs weitergeleitet wurde. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70. 176 Schreiben des Eidgenössischen Politischen Departements an die deutsche Gesandtschaft in Bern, Mai 1943. PA AA, Bern 4272. 177 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 40, 21. Januar 1944. LAC, RG 24, 15400.

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camps«178 entstanden sein, die allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz ihren Weg ins Lager fanden. Zu den Praktiken und Strategien, mit denen überzeugte Nationalsozialisten unter den Internierten das Lager in einen Überwachungsraum transformierten, gehörten auch Denunziationen. Aus verschiedenen Lagern sind Fälle belegt, in denen einzelne Internierte Namen von Mitgefangenen zusammen mit entsprechenden Anschuldigungen an deutsche oder kanadische Behörden übermittelten. Dass sie sich dabei auch an kanadische Behörden wandten, mag sonderbar erscheinen, zielte jedoch weniger darauf, die fraglichen Personen Repressalien auszusetzen, als vielmehr auf deren Verlegung in ein anderes Lager. So legt etwa der anonyme Schreiber eines solchen Briefes an die kanadischen Behörden die Hoffnungen offen, die er mit der ›Denunziation‹ fünf namentlich genannter Gefangener als »real Democrats«179 verknüpfte: »After removal of the 5 persons in question the other doubtful ones would change their minds very quickly which has been lately in evidence anyway. Should you consent to remove the 5 men in question, I shall be glad to let you have the names of the rest and all other particulars. The Ministry shall then be grateful to the unknown writer for having warned them about the rest of such people.«180

Wenngleich dieser Brief folgenlos blieb, ist er doch ein aufschlussreicher Beleg für die Hartnäckigkeit, mit der Nationalsozialisten in manchen Lagern die Gegner des Regimes bekämpften. Denunziationen, die ihren Weg zu deutschem Behörden fanden, ließen für das Opfer weitaus drastischere Konsequenzen befürchten. Sie zeigen außerdem, dass das Lager keineswegs eine abgeschiedene Sphäre außerhalb aller politischen Einflussnahme war. So geriet der ehemalige Vertrauensmann der Lager Red Rock und Kananaskis, Kapitän Oskar Scharf, nach seiner vorzeitigen Repatriierung ins Visier der NSDAP-Auslandsorganisation und der Gestapo. Nachdem Scharf bereits ein Dankesschreiben des Auswärtigen Amtes für seine verdienstvolle Tätigkeit in den kanadischen Internierungslagern erhalten hatte, wurde er »von allen vertrauenswürdigen Lagerinsassen, die bisher aus der Internierung zurückkehrten, ausserordentlich stark wegen seiner Lagerführung angegriffen«, so die NSDAP-AO.181 Dass Scharfs Vergehen aus der Sicht der Nationalsozialisten in einem zu milden Kurs gegenüber den jüdischen Internierten des Lagers Red Rock bestand, legt Paula J. Drapers

178 Ebd. 179 Anonymes Schreiben eines internierten deutschen Seemannes aus Fort Henry, 24. Februar 1942. LAC, RG 24, 11249, File 10-2-1. 180 Ebd. 181 Schreiben der NSDAP-AO an das Auswärtige Amt, 1. August 1944. PA AA, R 127.557. Ungeachtet dieser Anschuldigungen übernahm Oskar Scharf nach seiner Heimkehr erneut das Kommando der EUROPA (Norddeutscher Lloyd), das er bereits von 1932 bis 1941 innegehabt hatte. Im September 1945 überführte er das Schiff im Auftrag der Amerikaner nach New York. Bis zu seinem Tod im Jahr 1953 war er Hafenkapitän in Bremerhaven. Vgl. Kludas, Arnold: Die Schnelldampfer BREMEN und EUROPA. Höhepunkt und Ausklang einer Epoche. Herford 1993, S. 128, 186.

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Würdigung seines ausgleichenden, pragmatischen und kompromissbereiten Leitungsstils im gemischt besetzten Lager Red Rock nahe.182 Zu den gängigen Strategien, die überzeugte Nationalsozialisten einsetzten, um das Lager nach ihren Vorstellungen in einen politisch homogenen Raum zu transformieren, gehörte die Forderung nach Verlegung der als störend empfundenen Insassen. Je nach Situation wurden diese Verlegungen jedoch auch von den Kanadiern befürwortet. So forderte der Zensor in Fort Henry wiederholt – von Juli bis Dezember 1942 jeweils monatlich – die Verlegung der sogenannten Anti-Nazis in ein anderes Lager, um einer Eskalation vorzubeugen, nachdem bereits seit spätestens März 1942 Konflikte zwischen den Seeleuten und den Anti-Nazis ausgebrochen waren: »In order to avoid future friction, petty jealousies, intrigues and undercurrents of all kinds and shades within the enclosure, I wish to stress once more again, the urgent necessity of segregation of the Anti-Nazis and Communists from the Nazis, and thus eliminate the possibility of a serious riot within the enclosure, which sooner or later is bound to come, if precautionary measures are not taken betimes to frustrate such an eventuality.«183

Dass diese Warnungen so lange ungehört verhallten, legt tatsächlich den Schluss nahe, dass »die kanadischen Behörden weder die ideologischen Dimensionen dieses Krieges noch ihre Auswirkungen auf das Leben in den Kriegsgefangenenlagern verstanden«, wie der Kanadist Gerhard P. Bassler vermutet.184 Dringlicher als für die Kanadier stellte sich das Problem aus Sicht des Vertrauensmannes Heinrich Meyer dar, wie sein Schreiben an den Schweizer Generalkonsul vom März 1942 zeigt: »It has now been the case that clashes have occurred between sailors and anti-Nazis, and it seems obvious that in future the peace of the camp will be gravely endangered. […] Possibly further disturbances might take place as long as these two fractions oppose each other. Since this may then precipitate some loss of life, I regard it as my duty to apprise you of the state of things here, for I am no longer in a position to bear alone the responsibility for that. I, therefore,

182 P.J. Draper: The accidental immigrants (1983), S. 59. Einer meiner Interviewpartner, Heinz Ricklefs, hielt Kapitän Scharf ebenfalls für einen NS-Kritiker, der »mit den (.) gewalthabern unseres reiches nich ganz einverstanden« und zudem »ʼn ganz strammer katholik« gewesen sei. Als Beleg für Scharfs Einstellung führte Ricklefs die Vorbereitungen zur befohlenen Selbstversenkung der ALSTER an, bei der Scharf in letzter Minute einen der Sprengsätze an eine ungünstige Stelle habe verlegen lassen, weshalb dieser Sprengsatz nicht wie vorgesehen explodiert und das Schiff nicht gesunken sei. Interview Heinz Ricklefs, Z. 125-137. 183 Intelligence Report Camp Fort Henry (F/31), Dezember 1942. LAC, RG 24, 11250, File 10-2-3-31. Der Begriff »Anti-Nazis« taucht nicht nur in dieser Quelle auf, sondern in vielen weiteren Dokumenten aus dem unmittelbaren Umfeld der Lager. Er spiegelt die stark vereinfachende Sicht der Kanadier auf die Verteilung politischer Loyalitäten unter den Lagerinsassen wider. Wenn der Begriff im Folgenden verwendet wird, transportiert er stets die Perspektive der Wache auf einen Teil der Insassen. 184 Bassler, Gerhard P.: Das deutschkanadische Mosaik heute und gestern. Ottawa 1991, S. 34-35.

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beg you once more to use all the means at your disposal to effect an early transfer of these 35 anti-Nazis.«185

Zwar hatten auch die kanadischen Wachen ein starkes Interesse daran, eine Eskalation des Konflikts zwischen den beiden Gruppen im Lager zu vermeiden, doch der Vertrauensmann musste in solchen Situationen besonders umsichtig agieren, um nicht selbst zwischen die Fronten zu geraten. Welche (räumlichen) Strategien Gegner des NS-Regimes in den Internierungslagern einsetzten, um sich zu schützen, lässt sich exemplarisch am Beispiel von Fort Henry verfolgen. Dort gab es zeitweise eine Gruppe von katholischen NS-Gegnern unter der Führung von Graf Albrecht Montgelas, die in einer separaten Hütte zusammenlebten.186 Diese Möglichkeit, einen solchen »stronghold«187 zu bilden, bestand jedoch nur, wenn genügend Gegner des Nationalsozialismus vorhanden waren, die sich offen zu ihrer Überzeugung bekannten. Doch solche politischen Positionierungen waren keinesfalls fix und statisch, sondern Gegenstand situativer Aktualisierungen, die auch vom Kriegsverlauf abhängig waren, wie ein Vorfall in Fort Henry im Juli 1942 vor Augen führt: »Recently when the NAZIS launched their successful drive against the British in Egypt and the USSR in the Donetz Basin and the Caucasus, two of the alleged Anti-Nazis made endeavours to join the Nazi group, in other words they figured that it would be a safer place for them in case of a German victory.«188

Die wirksamste räumliche Strategie der NS-Gegner und zugleich das letzte Mittel, um sich der Verfolgung durch ihre Mitgefangenen zu entziehen, war das Aufsuchen von protective custody. Immer wieder baten einzelne Internierte oder kleine Gruppen von Internierten um vorübergehenden Schutz bei den kanadischen Wachen, wenn sie innerhalb des Lagers bedroht oder tätlich angegriffen wurden. Hierfür finden sich zahlreiche Beispiele, vor allem aus den beiden letzten Kriegsjahren.189 Meist war die Unterbringung in protective custody nur eine Übergangslösung, bis der Betreffende in ein anderes Lager verlegt werden konnte, in dem die Situation weniger angespannt war. Im Frühjahr 1944 mehren sich Hinweise im Lagertagebuch, dass es im Lager Sherbrooke zu Unruhen, Arbeitsverweigerungen und politisch motivierten Konflikten gekommen war.190 Anfang April setzte die kanadische Lagerleitung Aufenthalte einzelner Internierter in protective custody auch gezielt ein, um Nationalsozialisten

185 Schreiben Heinrich Meyer, Vertrauensmann in Lager Fort Henry (F/31), an den Schweizer Generalkonsul, 24. März 1942. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-31. 186 Intelligence Report Camp Fort Henry (F/31), Dezember 1942. LAC, RG 24, 11250, File 10-2-3-31. 187 Diese Bezeichnung verwendete der Zensor. Ebd. 188 Ebd. Unklar bleibt hier, inwieweit der Zensor seine eigene oder eine ihm zugetragene Interpretation der Situation wiedergab. 189 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 79. 190 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 43, 4. April 1944. LAC, RG 24, 15400.

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und Regimegegner räumlich zu trennen. Die Mehrheit der überzeugten Nazis durfte im Lager bleiben, während ein knappes Dutzend Anti-Nazis das Lager verließ.191 Im Juni 1944, kurz nach der Einnahme Roms und der Landung der Alliierten in der Normandie, scheint es in Sherbrooke erneut ähnliche Konflikte gegeben zu haben, wie aus dem Lagertagebuch hervorgeht: »Seven more Ps.O.W. marched out of enclosure to Guard Room, to be placed in Protective Custody. This makes a total of 17 now outside enclosure under protective Custody.«192 Dass eine Separierung von Nazis und Anti-Nazis für letztere mitunter lebensnotwendig sein konnte, wird an einem Vorfall aus Chatham deutlich.193 Ein Internierter war von Mitgefangenen bedroht und daraufhin in protective custody genommen worden: »Investigation showed that for his own safety he should not re-enter the enclosure, so he was kept out under protective custody.«194 Zwei Tage später, am 20. Juli 1944, wurde der Gefangene nach Monteith verlegt.195 Die Reihe der Beispiele ließe sich noch lange fortsetzen. Was sie alle gemeinsam haben, ist das Bestreben, einen politischen Konflikt im Lager in konkrete räumliche Arrangements zu übersetzen. Die Separierung von Anti-Nazis oder die sogenannte protective custody für Mitglieder verfolgter Gruppen im Lager zeigen Momentaufnahmen von Bruchlinien im sozialen Raum, stellten diese Fraktionierungen aber auch her und machten sie für die übrigen Insassen und für die humanitären Helfer sichtbar. Damit reproduzierten sie auch Handlungsweisen des NS-Regimes und konstituierten innerhalb des Lagers einen politisch begründeten Segregations-Raum. Wenn NSGegner wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht wurden und deshalb die Wachen um Schutz baten, war das Ergebnis immer auch eine Festschreibung der jeweiligen politisch-weltanschaulichen Positionen und damit auch der Gruppierungen innerhalb der Internierten.196 Diese Beispiele unterstreichen zudem, dass einzelne Internierte oder kleine Gruppen das Lager nicht nur in einen Überwachungs-, sondern durch aggressive Akte auch in einen ganz konkreten Bedrohungsraum für Gegner des NS-Regimes verwandeln konnten, in dem der Krieg mit anderen Mitteln fortgeführt wurde.

191 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 43, 6. April 1944. LAC, RG 24, 15400. 192 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 44, 10. Juni 1944. LAC, RG 24, 15400. 193 Die politisch motivierten Morde von kriegsgefangenen Deutschen an Mitgefangenen im kanadischen Soldatenlager Medicine Hat haben traurige Berühmtheit erlangt. Diese Fälle zeigen, dass rasches und entschlossenes Handeln im Internierungslager sowohl für die Kanadier als auch für tatsächliche oder mutmaßliche NS-Gegner lebensnotwendig sein konnte. Zu den Morden sowie zu den Gerichtsverhandlungen und Todesurteilen siehe ausführlich D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 139-145 sowie 155-169 und 178-189. 194 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 3, 18. und 20. Juli 1944. LAC, RG 24, 15396. 195 Ebd. 196 Dabei war die Gruppe der NS-Gegner in sich auch sehr heterogen. Das Spektrum reichte von überzeugten Kommunisten bis zu Katholiken.

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Mehrdeutige Räume Die Analyse verdeutlicht, wie die Akteure in den kanadischen Internierungslagern durch konkrete, situativ strategische Bedeutung gewinnende Praktiken mehrdeutige Räume hervorbrachten, die ein ambivalentes Verhältnis von Beschränkung und Ermöglichung aufwiesen:197 Räume der Überwachung überlagerten sich unter anderem mit Räumen wechselseitiger Beobachtung und Interaktion sowie mit politischen (Konflikt-)Räumen. Von Bedeutung für die Untersuchung sind daher vor allem die Momente, in denen die Räume in Konkurrenz zueinander gerieten, wenn also beispielsweise Überwachungstechniken der Veterans Guard durch räumliche Entzugspraktiken der Internierten unterlaufen wurden.198 In der Kontaktzone des Lagers war strategisches Handeln für alle Beteiligten von immenser Bedeutung, um die eigenen Territorialansprüche durchzusetzen, den eigenen Status zu sichern, den Raum nach den eigenen Vorstellungen, Bedürfnissen und Zielen zu gestalten und dadurch auch zu kontrollieren. Trotz der hierarchisch klaren und dauerhaften Unterscheidung in Bewacher und Bewachte umfasste die kopräsente Zwangsgemeinschaft des Lagers nicht nur die Insassen, sondern auch die Bewacher. Beide Gruppen waren ständig zu flexiblem Reagieren auf das Verhalten anderer Akteure und zur Positionierung gegenüber dem ›System‹ Internierung gezwungen, was sich unmittelbar auf die Produktion von Räumen auswirkte. Damit unterstreicht die Analyse von Raumpraktiken in kanadischen Lagern auch die in jüngeren geschichtswissenschaftlichen Arbeiten über totale Institutionen geäußerten Beobachtungen, »die ein eingefahrenes Bild vom konfrontativen Gegeneinander im institutionellen Kontext nachhaltig infrage stellen«199. Festzuhalten bleibt dabei jedoch, »dass die Konfrontation jederzeit zum Alltag in Anstalten und Lagern gehörte«200. Dass die Perspektive der geteilten Räume und sozialen Praktiken nicht gleichbedeutend ist mit einer Harmonisierung des Bildes von Internierung und Gefangenschaft, zeigt sich auch darin, dass es nicht nur zwischen Bewachern und Bewachten zu konfrontativen Situationen kommen konnte, sondern dass die Kontroll- und Überwachungsinstanz im Konfliktfall auch zum temporären Verbündeten vor allem von bedrohten Personen werden konnte. Durch solche situativ eingegangenen strategischen Allianzen entstanden genau jene »machtvolle[n] Bindungen«,201 die »Personal und Insassen als Pole einer geteilten sozialen Praxis«202 erscheinen lassen. Zudem griffen mit den humanitären Helfern auch weitere Akteure nachhaltig in die räumliche Konfiguration der Internierung ein, die nicht dauerhaft im Lager präsent waren.

197 Zur Vieldimensionalität von Räumen siehe R. Bormann: Raum, Zeit, Identität, S. 304. 198 Zum Konkurrenzverhältnis nebeneinander bestehender Räume siehe M. Löw: Raumsoziologie, S. 273. 199 F. Bretschneider/M. Scheutz/A.S. Weiß: Machtvolle Bindungen – Bindungen voller Macht, S. 20. 200 Ebd. 201 Ebd. 202 Ebd., S. 9.

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Ö FFNUNGEN

UND

S CHLIESSUNGEN : D ER Z AUN »abgesehen von (.) dem (.) ZAUN, dem etwas undurchdringlichen ZAUN, lief das leben beinah normal, nich. beinahe natürlich nur (hm), nich, das ist klar.«203

Abbildung 12: Das Lager Monteith im Jahr 1942

Deutlich zu erkennen ist im rechten Vordergrund die Zaunanlage, die aus mehreren Zäunen bestand. Von innen nach außen waren dies der niedrige sogenannte warning wire, der dicht am Weg entlang verlief, und die beiden hohen Lagerzäune, zwischen denen ein mehrere Meter breiter Streifen lag, auf dem Wachen patrouillierten. Auf dem Weg entlang des warning wire sind zwei Personen zu sehen. Quelle: ACICR, Photothèque, V-P-HIST-03396-13A.

»Welch Gegensatz, bei Hagenbeck sind die wilden Tiere hinter Gittern und die Menschen laufen frei herum, hier ist es umgekehrt.«204 Diese Passage aus einem Interniertenbrief mit dem gängigen Vergleich des Lagers mit einem Zoo weckt ein ganzes Bündel an Assoziationen: die Produktion hierarchischer Differenz, die Undurchdringlichkeit des Zaunes und die Ohnmacht der Eingesperrten, die den neugierigen Blicken der Besucher ausgesetzt sind. Das Bild vom Internierungslager als »people zoo«205 unterstreicht aber auch, dass der Lagerzaun eine wesentliche Rolle für die

203 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1743-1746. 204 Auszug aus dem Brief eines in Monteith internierten Seemannes an seine Frau, 24. Oktober 1941. PA AA, R 127.705. 205 So Ruth Oltmann über das inmitten der Wildnis liegende Lager Kananaskis (K/130), an dessen Lagerzaun sich ebenfalls Mensch und Tier begegneten. Oltmann, Ruth: The Valley of Rumours … the Kananaskis. Exshaw 21985, S. 77.

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Deutung des umschlossenen Raumes spielte. Welche Sichtweise auf den Zaun ein Akteur einnahm, hing aber nicht nur davon ab, auf welcher Seite des Zaunes er sich befand, sondern auch, ob er Handlungsspielräume hatte, die es ermöglichten, sich gegenüber dem Zaun zu positionieren. Innerhalb des Lagers als Interaktionsraum und Kontaktzone bildete der Zaun das materielle Herzstück und den funktionalen wie symbolischen Dreh- und Angelpunkt der Einsperrung. Er begrenzte den alltäglichen Aktionsradius der Internierten und definierte zugleich für die Wachen eine besonders streng zu überwachende Zone im Inneren der gesamten Lageranlage. Für die humanitären Helfer bildete er eine Kontrollstation, die sie auf ihrem Weg ins Lager und zurück nach draußen immer wieder passieren mussten, und für die Bevölkerung der Umgebung markierte der Zaun die Ränder eines (militärischen) Sperrgebiets. Der Zaun war also zugleich Medium und sichtbares Zeichen der spezifischen Raumordnung von Internierung. Aus der Konstellation von Akteuren, die am und mit dem Zaun interagierten, ergab sich, ähnlich wie an einer nationalstaatlichen Territorialgrenze, eine spezifische »Dynamik von Grenzbildung und Grenzschutz auf der einen Seite und Subversion der Grenze auf der anderen Seite.«206 Sie »beinhaltet, dass (kollektive) Akteure entgegengesetzter Interessen versuchen, jeweils das Verhalten des anderen zu antizipieren und daraus Strategien zu entwickeln«, so Jonas Pfau.207 Diese Strategien um den Lagerzaun schlugen sich teils in kodifizierten Regeln nieder oder bewegten sich im Rahmen dieser Regeln, teils spielten sie sich aber auch im »underlife«208 des Lagers und damit im Bereich der Widerständigkeit ab. Daraus ergeben sich einerseits Fragen nach dem Verhältnis zwischen Strategien der Grenzsicherung und gegenläufigen Strategien, die am Zaun greifbar werden. In welcher Beziehung standen die Grenzpraktiken der Wachen zur Lenkung und Kontrolle der Gefangenen sowie zu Techniken der Differenzproduktion?209 Welche Praktiken entwickelten die Internierten, um mit der Normalität der Einsperrung im Ausnahmezustand der Internierung umzugehen? Inwiefern lassen sich Grenzregimes als Teil eines doing internment begreifen? Andererseits ist zu klären, welchen Stellenwert der Zaun im retrospektiven Erzählen über Internierung besitzt: Wie plausibilisieren ehemalige Internierte im Interview retrospektive Deutungen des Zaunes im Spannungsfeld zwischen Kontakt und Exklusion? Welche Zusammenhänge bestehen dabei zwischen dem Zaun und der Raumwahrnehmung, und wie wirken diese Deutungen auf die Bewertung der Internierung zurück?

206 Pfau, Jonas: Subversion am Rande. Fluchthilfe und Menschenschmuggel im Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts und die Bedeutung der grenzregionalen Bevölkerung. In: Hengartner, Thomas/Moser, Johannes (Hg.): Grenzen & Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen. 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Dresden 2005. Leipzig 2006, S. 775-788, hier S. 778. 207 Ebd. 208 E. Goffman: Asyle, S. 194. 209 Katharina Eisch hat auf die enge Verbindung zwischen Grenzziehungen, Differenzproduktion und Strategien der Grenzsicherung hingewiesen. K. Eisch: Grenze, S. 28.

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Herrschaftssicherung und Grenz-Schutz Die Umzäunung eines beliebigen Stückes Land oder eines Gebäudes mit Stacheldraht zum Zweck der Einsperrung von Gefangenen transformiert das Gelände in ein Lager, sofern der Zaun eine »kontrollierbare Abgrenzung« bildet.210 Gleich um welche Art von Lager es sich handelt, dient der Lagerzaun dazu, durch seine Materialität und seine symbolische Funktion »die Trennung zwischen einem Innen und einem Außen zu untermauern, die durch ein bestimmtes Dispositiv hervorgerufen wird«211. Die Trennung erstreckt sich nicht nur auf räumliche Zonen, sondern auf zwei klar voneinander unterschiedene Gesellschaften innerhalb und außerhalb des Lagers.212 Schließlich trennte der Lagerzaun Angehörige zweier gegeneinander Krieg führender Nationen und erfüllte damit eine Reihe von räumlichen Ordnungsfunktionen, die auch nationalstaatliche Grenzen kennzeichnen, ohne selbst eine zu sein: Exklusion, Teilung, Trennung und Differenzproduktion.213 Ähnlich einer Grenze verwies der Draht »als staatlicher Machtapparat«214 auf eine übergeordnete Grenzziehung zwischen zwei Nationalstaaten, deren Repräsentanten sich im Raum des Lagers gegenüberstanden, wobei die Definitionshoheit über die Grenze bei der Gewahrsamsmacht lag. Daher lässt sich auf den Lagerzaun übertragen, was Katharina Eisch-Angus als zentrales Merkmal von Grenzen hervorhebt: »Grenzen sind in sich paradox: Als Differenz und Teilung sind sie körperlos und abstrakt – und werden räumlich-körperlich als Barrieren, Schwellen und Zwischenzonen erfahrbar, sobald man sie thematisiert und überschreitet. Dabei geht es der Grenze prinzipiell darum, diese Überschreitung zu verhindern. Grenzen schließen Räume ab und strukturieren perspektivische Weltordnungen, die durch eine Öffnung zur anderen Seite in Frage gestellt würden […].«215

Aus diesem – laut Eisch-Angus der Grenze selbst inhärenten – Bestreben, Grenzüberschreitungen zu verhindern, folgt im konkreten Fall, dass der Zaun aus Sicht der kanadischen Lagerleitung für alle Akteure, die sich im, um und in das Lager hinein bewegten, eine besonders stark reglementierte Zone bilden musste. Zugleich lässt sich die Reglementierung als Hinweis darauf begreifen, dass sich am Zaun (teils gegenläufige) Strategien und Alltagspraktiken verschiedener Akteure verdichteten. In den kanadischen Lagern wurde in der Regel Stacheldraht verwendet, um das Lager einzuzäunen; eine Ausnahme bildete das bereits erwähnte Fort Henry, in dem

210 Doßmann, Axel/Wenzel, Jan/Wenzel, Kai: Barackenlager. Zur Nutzung einer Architektur der Moderne. In: Schwarte, Ludger (Hg.): Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas. Bielefeld 2007, S. 220-245, hier S. 221. 211 O. Razac: Politische Geschichte des Stacheldrahts, S. 53. 212 Ebd., S. 40. 213 Eisch-Angus, Katharina: 3 x Grenze. Grenze und Erfahrung im deutsch-tschechischen Forschungsfeld. In: Hengartner, Thomas/Moser, Johannes (Hg.): Grenzen & Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen. 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Dresden 2005. Leipzig 2006, S. 239-253, hier S. 240. 214 J. Pfau: Subversion am Rande, S. 777. 215 K. Eisch-Angus: 3 x Grenze, S. 240.

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aus Perspektive der Internierten nicht ein Stacheldrahtzaun, sondern die dicken Festungsmauern prägend waren.216 Die Internierungsarchäologen Adrian Myers und Gabriel Moshenska begreifen den Stacheldraht als Teil eines »recurring set of material symbols, including barbed wire, watch towers and cell blocks«,217 das häufig in populären Medien Internierung und Gefangenschaft repräsentiere. Wie Olivier Razac betont, ist »der Stacheldraht allein […] ausreichend, um Konzentrations- oder Gefangenenlager […] heraufzubeschwören«218. Auch die Bebilderung populärer Medientexte und (wissenschaftlicher) Publikationen über Gefangenschaft kommt kaum einmal ohne Stacheldraht aus.219 Doch diese symbolische Dimension gewinnt der Draht nicht erst in der Retrospektive. Am Beispiel der kanadischen Lager lässt sich vielmehr zeigen, dass alltägliche Praktiken und Strategien, die auf den Zaun ausgerichtet waren, häufig sowohl eine konkrete wie auch eine symbolische Ebene besaßen. Begreift man den Stacheldraht mit Gudrun König als »Apparatur der Herrschaftssicherung«,220 so ist zunächst vor allem der Frage nachzugehen, welche Strategien die kanadischen Wachen einsetzten, um die Funktionalität dieser Apparatur zu gewährleisten und zu optimieren. Anhand der Camp Standing Orders und der War Diaries lässt sich zudem untersuchen, welche Leitlinien dabei galten und wie diese normativen Vorgaben im Alltag umgesetzt wurden. Die wichtigste Voraussetzung für die bestimmungsgemäße Handhabung der Grenzeinrichtungen war die Kodifizierung der diesbezüglichen Handlungsanweisungen. Nur so konnten »Stacheldraht und Überwachung […] ein einzigartiges Disposi-

216 Dennoch gab es als äußere Begrenzung außerhalb der Mauern sehr wohl einen Zaun, der jedoch aus dem inneren Festungshof für die Gefangenen nicht zu sehen war. Plan der Anlage, Sammlung Fort Henry, Kingston, FH Plan WWII, b. 217 G. Moshenska/A. Myers: An Introduction to Archaeologies of Internment, hier S. 4-5. 218 O. Razac: Politische Geschichte des Stacheldrahts, S. 46. 219 Vgl. hierzu auch ebd., S. 48. Dies zeigt sich in geradezu stereotyper Form auch im Titel zahlreicher Veröffentlichungen über Kriegsgefangenschaft und Internierung, wie bereits folgende kleine Auswahl deutlich macht: Barker, Arthur J.: Behind barbed wire. London 1974; Bevege, Margaret: Behind Barbed Wire: Internment in Australia during World War II. St. Lucia 1993; Carr, Gillian: Occupied Behind Barbed Wire. Jersey 2009; Carr, Gilly/Mytum, Harold: The Importance of Creativity Behind Barbed Wire. Setting a Research Agenda. In: Dies. (Hg.): Cultural heritage and prisoners of war. Creativity behind Barbed Wire. New York u.a. 2012, S. 1-15; D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire; Cook, Ruth Beaumont: Guests behind the barbed wire. German POWs in America: a true story of hope and friendship. Birmingham 2007; Overmans, Rüdiger: Soldaten hinter Stacheldraht. Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. In Zusammenarbeit mit Ulrike Goeken-Haidl. München 2002; Reiß, Matthias: Bronzed Bodies behind Barbed Wire: Masculinity and the Treatment of German Prisoners of War in the United States during World War II. In: The Journal of Military History 69 (2005), S. 475-504; Riedel, Walter: Hinter kanadischem Stacheldraht: Erinnerungen von drei deutschen Kriegsgefangenen an ihre Gefangenschaft. Ausschnitte aus einem Tonband. In: German-Canadian Yearbook/Deutschkanadisches Jahrbuch 9 (1986), S. 85-96. 220 G. König: Stacheldraht, S. 126.

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tiv der räumlichen Anwendung der Macht«221 bilden. Der Zaun musste richtig ›bedient‹ werden, um seine volle Wirkung entfalten zu können. Als besonders verwundbare Stellen galten die Tore – das äußere Tor, das den Eingang zum Compound bildete, und das innere Tor, das das Enclosure vom Compound trennte – sowie der Guard Room. Ihnen musste deshalb besonders viel Aufmerksamkeit gewidmet werden. Das Öffnen und Schließen dieser potenziellen Sicherheitsrisiken war durch aufwändige Vorschriften abgesichert. Die eingesetzten Praktiken der Kontrolle und des Registrierens, die Ausweispflicht sowie die Territorialhoheit des Lagerkommandanten, der Besuchern den Zutritt verwehren konnte, erinnern dabei einerseits an Elemente des Grenzregimes an Staatsgrenzen, andererseits verdeutlichen sie die Ähnlichkeit von Lagern mit Heterotopien im Foucault’schen Sinne: Beide setzen »ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht«222. Nachts wurde der Zaun von außen mit Flutlicht angestrahlt223 und bildete so eine visuell hervorgehobene und vom Rest des Lagers deutlich unterschiedene Zone, welche die Überwachung verdeutlichte und »selbst als sichtbares Zeichensystem in der Landschaft«224 hervorstach. Aus den Camp Standing Orders geht zunächst hervor, dass – und auch das ist ein Merkmal von Heterotopien – die Zugangsberechtigung zum Lager streng reglementiert war: »No person other than members of the Camp Staff and Officers of the Guard is permitted to enter the Enclosure at any time unless authorized.«225 Hier tritt die »Verbotskomponente« der Grenze »als eigentlich denotatives Begriffsmerkmal«226 besonders in Erscheinung. Zudem bestätigt sich, »dass Grenzen gerade im Prozess ihrer Überquerung praktiziert werden und sich hierbei und hierin materialisieren«227. Denn wer eines der beiden Tore passieren wollte, musste ein Set aus festgelegten Zugangs- und Kontrollprozeduren durchlaufen. Personen, die von außen in das Compound kamen oder das Lager verließen, wurden durch den Guard Room geschleust. Das Tor öffneten die Wachen nur für Fahrzeuge oder Truppenkontingente. Die obligatorische Durchgangsstation für alle war der Guard Room: »every person other than personnel doing duty at the Camp will be required to sign in ink, giving name, hour and date, in a book to be known as ›Compound Visitors‹ (Register)«228. Zivilisten und Fahrzeuge von außerhalb benötigten eine schriftliche Erlaubnis und eine Eskorte,

221 O. Razac: Politische Geschichte des Stacheldrahts, S. 66-67. 222 M. Foucault: Andere Räume, S. 40. 223 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 10, Standing Orders, 1. Juli 1945. LAC, RG 24, 15396. 224 K. Eisch: Grenze, S. 29. 225 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 8, Discipline. LAC, RG 24, 15400. 226 K. Eisch: Grenze, S. 28. 227 Hess, Sabine: Konturen des Europäischen Grenzregimes. Grenzregimeforschung aus kulturanthropologischer Perspektive – eine Einführung. In: Hengartner, Thomas/Moser, Johannes (Hg.): Grenzen & Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen. 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Dresden 2005. Leipzig 2006, S. 155-160, hier S. 158. 228 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 11, Entry to Compound. LAC, RG 24, 15400.

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um Zugang zum Lager zu erhalten. Strenger noch war die Prozedur am inneren Tor; dort musste sich auch das Lagerpersonal im Enclosure Register eintragen. Zudem wurde eine Liste der Gefangenen geführt, die zu Arbeitszwecken vom Enclosure in das Compound gingen.229 Darin wurde die Anzahl der betreffenden Gefangenen, die Uhrzeit, zu der sie das Lager verließen, die Art der Arbeit und der Name des verantwortlichen Offiziers festgehalten.230 Ein zentraler Bestandteil der Ein- und Ausgangsprozeduren war auch die Speicherung der Daten von Besuchern und ›Grenzgängern‹. Die Dokumentation all dieser Daten besaß, unabhängig von ihrer internen Weiterbearbeitung und Zirkulation, sowohl nach innen als auch nach außen Signalwirkung und vermittelte die Kontrollhoheit der kanadischen Lagerleitung über sämtliche Bewegungen in das Lager hinein und aus dem Lager heraus. Ausführliche Anweisungen für die Posten an den Toren legten die Handhabung dieser Formalitäten fest und verweisen auf die Grenzfunktion des Zaunes: »13. Before giving permission to enter the Enclosure he will take the following action: (i) Examine the pass and see that it is in order. (ii) Require the pass holder to sign his name in the Enclosure Register. (iii) Compare signature with that on pass. (iv) Enter up Gate Book. (v) Retain the pass. Before allowing such person to leave the Enclosure he will: (i) Identify the person with the pass. (ii) Identify the person with the entry in the Gate Book. (iii) Complete the Gate Book.«231

Erst wenn all diese Prozeduren absolviert waren, durften die Wachen die Person ins Lager hinein- oder aus dem Lager hinauslassen. Dabei mussten sie sicherstellen, dass das innere und äußere Tor nicht gleichzeitig geöffnet waren.232 Die kleinteilige Verschriftlichung der den Zaun betreffenden Anweisungen an die Wachen kann selbst als Teil der Strategie zur Grenzsicherung gesehen werden. Sie sollte die Handlungsspielräume der Wachen minimieren, indem sie eine verbindliche Grundlage für die Sanktionierung von Regelverstößen schuf. Dies verweist zudem auf die bereits festgestellte Notwendigkeit, Nachlässigkeiten und Regelverstöße seitens der Wachen zu antizipieren und daher permanent auch die Wachen zu disziplinieren. Die Veterans Guards und auch die später nachfolgenden jüngeren Soldaten waren zwar kampferprobt, verfügten jedoch nicht unbedingt über Erfahrung im Bewachen von Gefangenenlagern. Konflikte zwischen Wachsoldaten und der kanadischen Lagerleitung ma-

229 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 12, Entry to Enclosure (Inner Gate). LAC, RG 24, 15400. 230 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 16, Work Parties. LAC, RG 24, 15400. 231 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix F, Instructions to Sentries at the Gates, Abschnitt 13 und 14. LAC, RG 24, 15400. 232 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix F, Instructions to Sentries at the Gates, Abschnitt 12. LAC, RG 24, 15400.

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chen deutlich, dass der Grenz-Schutz auch von dieser Seite Gefährdungen oder doch zumindest Störungen ausgesetzt war. So verursachten Wachen im Lager Monteith immer wieder Probleme beim Umgang mit den Überwachungseinrichtungen, die allerdings in den Quellen nicht näher erläutert werden: »In spite of repeated warnings and much action taken, young soldiers continue to do or permit considerable damage to Guard Towers. This has become a real problem. The cure maybe, closing Towers and having them do patrol of fence. They might then appreciate a little warmth of Towers.«233

Störungen wurden auch von unerwünschten Besuchern verursacht. Einträge in den Lagertagebüchern zeigen, dass Besucher abgewiesen wurden, wenn sie kein berechtigtes Interesse und keine behördliche Besuchserlaubnis besaßen, wie im August 1941 in Monteith: »Mr. E. Paukert (G.M. Abitibi Paper Co.) arrived at gate 2130 hours accompanied by two feminine reporters from Peorie, Ill[inois]. Permission to enter Camp refused.«234 Die Beweggründe der Besucher und die Gründe der Ablehnung gehen aus dem Eintrag nicht hervor. Ein Grund mag die späte Uhrzeit gewesen sein, denn nach dem retreat am späten Nachmittag durften Besucher nur noch ins Lager, wenn sie eine schriftliche Einverständniserklärung des Kommandanten vorlegen konnten.235 Der Vorfall macht deutlich, dass der Zaun auch für die Bewohner der näheren Umgebung eine Barriere bildete. Offensichtlich ging von ihr jedoch eine starke Anziehungskraft aus: »Public curiosity was a major problem. Although Canadian propaganda pictured the Germans as ›bloodthirsty Huns and savages‹, Canadian civilians still wanted to see for themselves who was behind the barbed wire.«236 Der Zaun bildete also auch eine Zone der gefahrlosen Begegnung mit dem fremden Feind – ähnlich wie die Umzäunung eines Raubtiergeheges im Zoo, um noch einmal auf diesen Vergleich zurückzugreifen. Zwar sollten strikte Vorschriften verhindern, dass die Gefangenen in ihrem ›Zoo‹ zur viel bestaunten Sehenswürdigkeit avancierten. Doch Martin Auger zufolge gaben Einwohner aus der Gegend um Sherbrooke an, mehrfach bewusst die Nähe der Internierten gesucht und sie durch den Zaun beobachtet zu haben.237 Auch in einem Oral-History-Projekt mit Frauen aus den Eastern Townships thematisierten mehrere der Befragten, dass sie in ihrer Freizeit hin und wieder zum Lager Sherbrooke spaziert seien, um dort einen Blick auf die deutschen Gefangenen zu erhaschen. Eine ehemalige Studentin der Bishopʼs University in Richmond erinnerte sich: »We used to walk up there in Lennoxville on the east side, where the Prisoner of War Camp [Sherbrooke; JK] was and look at those fellows through the fence.

233 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 59, 15. November 1945. LAC, RG 24, 15393. 234 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 1, Vol. 8, 21. August 1941. LAC, RG 24, 15392. 235 Vgl. exemplarisch Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 11, Entry to Compound. LAC, RG 24, 15400. 236 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 57. 237 Ebd.

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We had no business there at all, but I remember tracking up there on a nice fall day and seeing those German prisoners through the fence …«238 Der Zaun wird hier als visuelle Kontaktzone beschrieben, als durchlässige Grenze, die zumindest neugierigen Blicken Einlass gewährte. Einiges deutet darauf hin, dass auch andere Lager als Ausflugsziele für Bewohner aus der Nähe fungierten. Für Fort Henry, das freilich schon vor dem Krieg ein Ausflugsziel gewesen war, sind mehrere Besuche von Zivilisten belegt und fotografisch dokumentiert.239 Solche seltenen Quellen geben einen kleinen Einblick in die Praxis jenseits normativer Texte: Man kann davon ausgehen, dass gerade private Kontakte von Zivilisten zu Wachen Annäherungen an die Lagergrenze ermöglichten, die offiziell nicht vorgesehen waren. Die Bedeutung des Zaunes als Grenze zwischen dem Lager und der Außenwelt zeigt sich nicht nur am offiziell vorgeschriebenen Umgang der Wachen mit Zivilisten, sondern auch mit anderen Gefangenen. Da die Lagertore buchstäblich als Einfallstore galten, durch die Störungen und Gefahren jeglicher Art in das Lager gelangen konnten, gingen die Wachen besonders penibel mit Zugängen von Gefangenen aus anderen Lagern um. Zwar wurden alle Gefangenen vor einer Verlegung auf verbotene Gegenstände durchsucht, die Wachen wiederholten diesen Vorgang aber dennoch am Ankunftsort. Anlässlich des Eintreffens von 120 Internierten aus Fort Henry ist im Lagertagebuch von Mimico zu lesen: »No contacts shall be permitted between the new arrivals and those P.O.W. already located here, until the inspection is complete. Particular care must be taken that nothing is passed from one to the other prior to search.«240 Grenzen verliefen also vorübergehend auch innerhalb eines Lagers, wenn es aus Sicht der Lagerleitung notwendig erschien, um dessen Gesamtfunktionalität sicherzustellen. Am deutlichsten jedoch wird die Grenzfunktion anhand der zahlreichen Bestimmungen der Camp Standing Orders, die als präventive Strategien des Grenz-Schutzes gelesen werden können. Um Fluchtversuche zu verhindern, waren zahlreiche Anweisungen darauf ausgerichtet, den Gefangenen möglichst gar nicht erst Gelegenheiten zur Flucht zu bieten und ihnen die Flucht so schwer wie möglich zu machen. So sprachen die Lagerkommandanten Verbote aus, die den Besitz fluchterleichternder Gegenstände limitierten. Als fluchterleichternd galten vor allem Zivilkleidung und kanadische Uniformstücke. Mäntel, Windjacken und langärmelige Pullover wurden beschlagnahmt; auch durften Internierte nur Hemden in bestimmten Farben besitzen, erlaubt waren lediglich grau, blau, grün und weiß.241 Nachdem Internierte in Monteith Kleidungsstücke beiseite geschafft hatten, die ihnen von kanadischen Offizieren und Soldaten zur Reinigung oder zum Bügeln übergeben worden waren, reagierte die kanadische Lagerleitung im Oktober 1941 mit

238 Gaskell, Carol (Hg.): Women’s Words. Eastern Township Anglophone Women Remember the Second World War. Lennoxville 1995, 105. Ähnliche Aussagen anderer Zeitzeuginnen über die Inaugenscheinnahme von Gefangenen finden sich auf S. 105-108. 239 Sammlung Fort Henry, Kingston. 240 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 4, Camp Orders, 8. Oktober 1940. LAC, RG 24, Vol. 15391. 241 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 14-15. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*.

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einem Verbot, solche Kleidungsstücke von den Gefangenen waschen zu lassen.242 Ebenso war es verboten, bei im Lager abgestellten Fahrzeugen den Zündschlüssel stecken zu lassen.243 In den Anweisungen für Sentries steht als erster Unterpunkt: »Sentries will be posted […] to prevent prisoners from escaping.«244 Ihr »sharp lookout along the wire fence«245 sollte ebenso wie die tägliche gemeinsame Inspektion des Stacheldrahtzaunes durch den Camp Sergeant Major und den Staff Sergeant sicherstellen, dass die Grenze intakt blieb.246 Grenzerfahrungen – Grenzverletzungen Für die Internierten markierte der Zaun den Rand des Lagers. Der Stacheldraht an sich, so Olivier Razac, »kontrolliert […] nicht in erster Linie das allgemeine Verhalten der Überwachten, sondern lediglich ihren Bezug zu der Absperrung, der sie sich unterwerfen müssen. Der Stacheldraht hindert sie lediglich daran, den ihnen genehmigten Bereich zu verlassen und den verbotenen zu betreten.«247 Nicht nur durch diese begrenzende, die Bewegungsfreiheit einschränkende Funktion im Sinne captiver Gewalt, sondern durch seine schiere Präsenz war der Zaun für die Internierten ein unverrückbarer Bestandteil ihrer alltäglichen Realität. Dem Anblick des Zaunes konnten sie kaum ausweichen, vor allem nicht in den überwiegend kleinen kanadischen Seemannslagern.248 Das größte dieser Lager war Moteith, das im Jahr 1941 und erneut im Jahr 1944 ausgebaut worden war. Über das dortige Verhältnis zwischen Lagergröße und Abstand zum Zaun schrieb Rudolf Becker an seinen Vater: »Nach 2-jähriger Abwesenheit sind wir wieder nach dem Lager 23 zurückgekehrt. Es […] ist während unserer Abwesenheit sehr vergrößert worden […]. Räumlich gesehen, stellt der Umzug eine Verbesserung dar. Da das Gelände größer ist, ist man dem Draht nicht so nahe.«249 Hier zeigt sich die enge Verbindung zwischen Einsperrung, ihrer Materialisierung im Zaun und der subjektiven Raumwahrnehmung. Doch die physische Gegenwart und materiale Präsenz des Zaunes wirkte auch ganz konkret in den Alltag der Internierten hinein. So mussten in manchen Lagern häufig neue Fuß-, Volley- und Tennisbälle angeschafft werden, da sie durch den Kontakt

242 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 1, Vol. 10, Daily Routine Orders, 22. Oktober 1941. LAC, RG 24, 15392. 243 Camp Standing Orders Sherbrooke, Abschnitt 29, Traffic. LAC, RG 24, 15400. 244 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix A, Standing Orders for the Guard. LAC, RG 24, 15400. 245 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix C for Sentries. LAC, RG 24, 15400. 246 Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix D, Duties of the Camp Sergeant Major und Appendix E, Duties of the Staff Sergeant. LAC, RG 24, 15400. 247 O. Razac: Politische Geschichte des Stacheldrahts, S. 66-67. 248 Im Unterschied dazu waren die Soldatenlager Lethbridge (133) und Medicine Hat (132) in Alberta mit einer Kapazität von je 12.250 Insassen sehr groß, sodass sie bezüglich ihrer Organisationsstruktur häufig mit kleinen Städten verglichen werden. Vgl. Y. Bernard/ C. Bergeron: Trop loin de Berlin, S. 305; J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 203. 249 Rudolf Becker an seinen Vater, 4. Dezember 1943. DSM, III A 3324 b.

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mit dem Stacheldraht schnell verschlissen.250 Etwa acht Fußbälle und vier Volleybälle pro Monat sollen, so Chris Madsen, in manchen Lagern im Durchschnitt benötigt worden sein.251 Charakteristisch für den Umgang der Internierten mit dem Zaun war die Gleichzeitigkeit von Infragestellung und Bestätigung der Lagergrenze. Eine verschiedentlich belegte Alltagspraxis der Internierten war das sogenannte Rundendrehen, das Ablaufen der Lagerkonturen entlang des Stacheldrahtzaunes (vgl. Abbildung 13). Abbildung 13: »Die Rundendreher«

Bildpostkarte der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe, undatiert. Hinter den beiden Rundendrehern ist der niedrige Draht zu sehen, der den innersten Vorposten des Zaunes bildete und dicht am Wegesrand entlang verlief. Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

250 Schreiben des deutschen Konsulats in Genf an das Auswärtige Amt, 9. August 1941. PA AA, R 127.957. 251 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 42.

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Die Abbildung252 präsentiert das Rundendrehen im besten Sinne als alltägliche Praxis, denn die beiden Internierten setzen ihren Weg entlang des Zaunes ungeachtet des offensichtlich schlechten Wetters fort. Wie die meisten Praktiken, die auf den Zaun hin ausgerichtet waren, besaß auch das Rundendrehen am äußersten Rand des Lagers eine konkrete und eine symbolische Dimension. In Zeichnungen und Erinnerungstexten wird diese monotone Form der Bewegung als typische Beschäftigung von Internierten und Kriegsgefangenen auf der ganzen Welt dargestellt, wie etwa in einem Text von Max Mölter über das kanadische Lager Neys: »Da drehst Du Deine Runden wie in anderen Lagern auch. Immer am Draht, immer am Draht …«253 Das repetitive Moment dieser Körpertechnik ist in fast allen Schilderungen enthalten und wird auch sprachlich entsprechend repräsentiert,254 etwa wenn ein internierter Seemann vorwurfsvoll und frustriert an seine Familie schreibt: »Ihr seid doch alle eine wirklich schreibfaule Gesellschaft in Berlin. Tag für Tag wandere ich am Stacheldraht entlang und immer dasselbe Bild vor Augen.«255 Der Zaun lässt sich in solchen Passagen als Element einer auf Symbolen beruhenden Kommunikationsstrategie verstehen, die die Internierten einsetzten, um beim Empfänger ein bestimmtes Bild von Gefangenschaft zu evozieren, in dem die Monotonie des Lageralltags eine wichtige Rolle spielt. Auch in Interviews taucht der Zaun im Zusammenhang mit dem Rundendrehen als Chiffre für Gefangenschaft und captive Gewalt auf, etwa bei Hans Peter Jürgens, der sich an Gefangene erinnert, die auf Skiern »immer=immer am zaun lang«256 gelaufen seien. Tag für Tag, Runde um Runde – dieses Bild bot sich auch Dr. Benjamin Spiro, der als Vertreter der YMCA den Weihnachtsabend im Jahr 1942 mit den Internierten im Lager Mimico verbrachte. Über seinen Besuch der dortigen Christmette schrieb er anschließend: »All during the service I could observe through the window shadows of men walking, endlessly, along the barbed wire.«257 Das Laufen am Zaun entlang ermöglichte ein potenziell endloses Gehen mit Blick nach draußen, ohne auf die Gren-

252 Die Identität des Zeichners, der die Vorlagen für die YMCA-Bildpostkarten schuf, ist ebenso wenig bekannt wie der genaue Veröffentlichungszeitpunkt dieser Kartenserie. Siehe Luciuk, Steven: Season’s Greetings from Behind Barbed Wire. More on Y.M.C.A. Illustrated Post Cards. In: British North America Topics 46 (1989), H. 6, S. 20-25, hier S. 23-24. 253 Kahlich, Wilhelm (Hg.): Deutsche Kriegsgefangene in Kanada schreiben, dichten, zeichnen. Eine Auswertung der Lagerzeitung »Der Auftakt« des Jahrganges 1946. Uelzen 1997. Alan Krell beispielsweise erwähnt in seiner Studie über den Stacheldraht ein Gedicht des kriegsgefangenen Soldaten Tom Melville, geschrieben während seiner Gefangenschaft als Leutnant im Oflag VII/B bei Eichstätt, in dem dieser das Rundendrehen entlang des Lagerzaunes beschreibt. Krell, Alan: The devil’s rope. A cultural history of barbed wire. London 2002, S. 48. 254 Zum Begriff der Körpertechnik siehe Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie. Teil 2: Gabentausch. Soziologie und Psychologie. Todesvorstellungen. Körpertechniken. Begriff der Person. Frankfurt am Main 1989, S. 199. 255 Schreiben eines internierten Seemannes aus Kanada an seine Familie, 10. August 1941. PA AA, R 127.913. 256 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1193. 257 Bericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Benjamin Spiro in Mimico/New Toronto (M/22) am 24. Dezember 1942. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3.

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ze zu stoßen. Das Rundendrehen lässt sich also nicht nur als symbolische, sondern als konkret affirmative Praktik verstehen, die auf einer parallelen Linie die Grenzziehung des Zaunes bekräftigte und diese als Spur in den Lager-Raum einschrieb. Solche Spuren entlang des Zaunes, die die Grenzlinie verdoppeln, finden sich auf dem Motiv einer Weihnachtskarte, die Internierte aus dem Lager Mimico zum Dank für Geschenke an den Kyffhäuser-Bund schickten (Abbildung 14).258 Durch Zaun, Wachturm und die Silhouette eines Wachsoldaten mit Gewehr auf der Turmplattform ist ein Lager angedeutet, das ansonsten scheinbar menschenleer in einer Winterlandschaft liegt. Die parallel zum Zaun verlaufenden Spuren im Schnee verweisen auf die unsichtbaren und anonymen Bewohner des Lagers und öffnen Spielräume für die Interpretation. Der Stern von Betlehem steht groß am Nachthimmel und versinnbildlicht die grenzüberschreitende Dimension des Weihnachtsfestes. Abbildung 14: Weihnachtskarte aus dem Lager Mimico

Zeichnung eines Internierten. Quelle: PA AA, R 127.882.

258 PA AA, R 127.882.

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Jede Grenze fordert, so Katharina Eisch-Angus, »ihre Überschreitung heraus«259. Dies galt offensichtlich auch für den Lagerzaun: In den kanadischen Akten kommen nahezu über den gesamten Zeitraum der Internierung Fluchtversuche und zumindest vorübergehend geglückte Ausbrüche zur Sprache. Aus naheliegenden Gründen sind jedoch keine Quellen überliefert, in denen Internierte ihre Fluchtpläne vor der Umsetzung schriftlich fixiert hätten. Individuelle Beweggründe, strategische Überlegungen und die kleineren und größeren Schwierigkeiten bei der Vorbereitung eines Ausbruchs sind also, wenn überhaupt, nur indirekt über die retrospektiv-investigative Perspektive der Wachen zu erschließen. Erst wenn ein Gefangener abgängig war oder eine Tunnelgrabung zum Vorschein kam, konnten die Wachen damit beginnen, diesen Fall zurückzuverfolgen, oft jedoch, ohne die Vorgeschichte des Ausbruchsversuches gänzlich erhellen zu können. Anhand der verfügbaren Quellen muss beispielsweise offen bleiben, inwieweit die Fluchtversuche von langer Hand geplant waren oder spontan durchgeführt wurden. In manchen Fällen gewinnt man den Eindruck, dass Internierte mitunter auch kurzentschlossen die Gelegenheit zur Flucht ergriffen, wie jener Internierte, der vielleicht wirklich nur mal eben den verschossenen Fußball holen wollte: »[…] at 2000 hours P.O.W. Schulz who was outside the wire at the top end of the football ground for the purpose of throwing lost ball back, attempted to escape, he was fired upon twice and warned to halt, he failed to halt and was stopped by Mr Dix a civilian who was on the road the way which the P.O.W. was running, who turned him over to the Guards.«260

Über die Motivation der Ausbrecher lassen sich keine gesicherten Aussagen treffen, auch wenn der Schweizer Konsul in seinem Rückblick mutmaßte, »it may be said that the motive behind most of the attempted escapes was a craving for adventures«261. Und in der Tat umgibt viele der Fluchtgeschichten aus den kanadischen Camps ein Hauch von Abenteuer. Auch in den Interviews werden solche Anekdoten erzählt, wie die des internierten Journalisten, der sich nach dem Besuch einer zehnköpfigen Reportergruppe unter seine kanadischen Kollegen mischte und versuchte, das Lager auf diesem Weg zu verlassen.262 Die Internierten wussten, dass jeder Fluchtversuch mit 28 Tagen Arrest in den lagereigenen Detention Cells geahndet wurde, darüber hinaus jedoch keine Konsequenzen hatte.263 Diese vergleichsweise milde Bestrafung mag dafür gesorgt haben, dass die Internierten die Hemmschwelle für Fluchtversuche als niedrig empfanden. Die Häufigkeit von Ausbruchsversuchen

259 K. Eisch-Angus: 3 x Grenze, S. 240. 260 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 3, Vol. 36, 19. Juni 1943. LAC, RG 24, 15391. 261 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 44. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 262 Dies berichtete Franz Renner im Interview. Sogar ein Artikel über diesen Vorfall sei in den 1940er Jahren im Reader’s Digest erschienen, den mein Interviewpartner im Wartezimmer einer kanadischen Arztpraxis gelesen habe. Interview Franz Renner, Z. 257-281. 263 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 44. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*.

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spricht jedenfalls dafür, dass die Internierten die Strafe in Kauf nahmen und das Fluchtgeschäft tatsächlich oft, wie Konsul Oertly vermutete, aus Abenteuerlust oder, wie Madsen und Henderson meinen, aus Langeweile betrieben.264 Zumindest stand nicht in allen Fällen nur die (vorübergehende) Wiedergewinnung der Freiheit im Mittelpunkt,265 sondern die Internierten wussten auch, dass sie die Wachen durch eine Suchaktion eine Weile beschäftigen und dadurch vielleicht auch von anderen Dingen abziehen konnten – ›Umstände zu machen‹ ist auch eine widerständige Handlungsweise und Teil des »underlife«266 eines Lagers.267 Unter den Quellen, die Fluchtversuche dokumentieren, finden sich auch einige, die auf Wiederholungstäter hindeuten. So liest man etwa im Lagertagebuch von Mimico: »A. Siegel made his second unsuccessful attempt at escape by getting himself carried out of the prisoners’ compound in a large, wooden box covered with paper and garbage. He was caught later without having succeeded in leaving the camp premises. When searched, he had two American addresses in his pockets. One was in New York State and the other in Ohio.«268

Fluchtversuche konnten, wie hier, zum persönlichen Experimentierfeld werden, auf dem die Gefangenen ihre eigenen Grenzen und die des Lagers austesteten. An diesem Fall wird aber auch die große Anziehungskraft deutlich, die von den USA ausging. Vor allem bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, jedoch auch noch darüber hinaus, war die Nähe vieler kanadischer Lager zur US-amerikanischen Grenze eine Triebfeder für Fluchtversuche. Denn gemäß dem V. Haager Abkommen konnten die Internierten davon ausgehen, in den USA nicht interniert zu werden.269 Viele der Seeleute verfügten über internationale Kontakte und besaßen auch in den USA eine Anlaufstelle bei Freunden oder Bekannten. Gerade in Fort Henry, das in Sichtweite der Grenze zu den USA liegt, mag diese Verlockung groß gewesen sein, besonders wenn im Winter der Lake Ontario in der Nähe des Forts zufror und einen Landweg in die Vereinigten Staaten eröffnete. Die spektakuläre Flucht des Franz von Werra aus einem kanadischen Lager über die USA nach Deutschland im Januar 1941 war durch die internationale Presseberichterstattung höchstwahrscheinlich auch unter den internierten Seeleuten bekannt und fand vielleicht den einen oder anderen Nachahmer.270

264 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 65. 265 Der Anteil derjenigen Gefangenen, die nicht wieder gefasst werden konnten, war gering. Siehe H. Robel: Vergleichender Überblick, S. 263. 266 E. Goffman: Aysle, S. 194. 267 Zum »Leitmotiv« Widerständigkeit vgl. B.J. Warneken: Die Ethnographie popularer Kulturen, S. 207-211. 268 War Diary Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 9, 4. März 1941. LAC, RG 24, 15391. 269 Schneider, Peter: Internierung. In: Schlochauer, Hans-Jürgen (Hg.): Wörterbuch des Völkerrechts. Zweiter Band. Ibero-Amerikanismus bis Quirin-Fall. Berlin 1961, S. 140-143, hier S. 141. 270 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 69. Leutnant Franz von Werra, Pilot bei der Luftwaffe, war im Herbst 1940 in englische Gefangenschaft geraten und hatte in England bereits zwei gescheiterte Fluchtversuche unternommen. Nach seiner Verlegung nach Ka-

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Nach dem Kriegseintritt der USA jedoch sank die Chance, tatsächlich aus Kanada hinauszugelangen, ohne in den USA interniert zu werden.271 Dennoch erreichten auch in den späteren Kriegsjahren und nach dem Krieg noch einige Seeleute aus kanadischen Lagern die USA, wo sie allerdings gefasst wurden.272 Inwieweit die Seeleute die politische Pflicht von Soldaten, aus der Gefangenschaft auszubrechen, um zurück zur kämpfenden Truppe zu eilen, auch auf sich bezogen, kann anhand der verfügbaren Quellen nicht geklärt werden.273 Mit Beginn der Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der Lager ab Sommer 1943 sank die Zahl der Fluchtversuche,274 was die These stützt, Fluchtversuche hätten den Internierten auch als Mittel zur Bekämpfung von Langeweile gedient. Auf welche Weise die Gefangenen aus dem Lager zu gelangen versuchten, wurde in den Lagertagebüchern nicht immer festgehalten, weil die Wachen oft selbst nur Mutmaßungen anstellen konnten, wie der Delinquent ins Freie gelangt war: »The technique employed by the prisoners and internees to further their escapes«, so der Schweizer Konsul, »was manifold and often kept the camp authorities guessing«275. Gängige Techniken waren den Quellen zufolge das Graben von Tunneln, das Verstecken an Fahrzeugen276 oder in Transportgütern, die aus dem Lager gebracht wurden,277 das Verkleiden als Guards und das Durchschneiden des Zaunes (was mit einer Beschädigung des Zauns verbunden war und somit im doppelten Sinne eine Grenzverletzung darstellte).278 Die meisten Fluchtversuche wurden von einzelnen Internier-

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nada floh er aus dem Lager, sprang von einem fahrenden Zug und schlug sich in die USA durch, von wo er zunächst dem kanadischen Lagerkommandanten eine Ansichtskarte schickte und sich dann nach Deutschland aufmachte. Wenige Monate später kam von Werra beim Absturz seines Jagdflugzeugs ums Leben. Siehe auch Krammer, Arnold: Nazi prisoners of war in America. New York 1979, S. 139-140. Eine populäre Darstellung der Fluchtversuche des Franz von Werra gibt Wentzel, Fritz: Die Flucht des Franz von Werra. Gerhard H. Rudolf: Vom Jagdflieger zum Urwaldpiloten. München 1960. Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 44. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. Ein Seemann stellte sich im Juni 1946 in Ossining, NY, der Polizei. Vgl. Escaped Canada in Rowboat, German Prisoner Surrenders. The Globe and Mail vom 20.06.1946. Ein Seemann, der aus Mimico flüchtete, wurde im April 1944 in Detroit von der Polizei gefasst. Vgl. German Seaman Flees Mimico Camp. The Globe and Mail vom 21.04.1944. Burgess, Colin: Escape. In: Vance, Jonathan Franklin William (Hg.): Encyclopedia of Prisoners of War and Internment. Millerton 2006, S. 120-123, hier S. 120. S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 32. Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 44. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. So geschehen in Camp Fredericton (B/70) im November 1942. Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Fredericton (B/70), November 1942. PA AA, Bern 4272. So versteckten sich zwei deutsche Offiziere aus Fort Henry in Mietklavieren, die aus dem Lager zurück zum Verleih nach Kingston gebracht wurden; dort wurden die Gefangenen entdeckt. War Diary Camp Fort Henry, Vol. 18, 19. November 1941. LAC, RG 24, 15394. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 68.

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ten oder von kleinen Gruppen, oft von Paaren, unternommen, was aus strategischen Überlegungen heraus plausibel erscheint: Das Problem der Mitwisserschaft war auf einen kleinen Personenkreis beschränkt, und kleine Grüppchen konnten sich sowohl im Lager als auch außerhalb flexibler und unauffälliger bewegen als größere Runden. Zu den beliebtesten, aber auch aufwendigsten Fluchtmethoden gehörte das Graben eines Tunnels:279 Man brauchte Komplizen, Schaufeln, ein Versteck für das ausgehobene Erdreich, Tarnung für den Einstieg sowie Baumaterial und technisches Wissen, um den Tunnel einsturzsicher zu machen und mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Die kanadischen Wachen hielten gezielt nach Grabungen und nach frischer Erde Ausschau, wenn sie im Enclosure unterwegs waren.280 Sie wussten außerdem, dass die Internierten bevorzugt nachts an ihrem Tunnel arbeiteten, was dazu führen konnte, dass sie sich in der nächtlichen Stille durch Schaufelgeräusche verrieten. Dies geschah beispielsweise in Petawawa, wo zwei Wachen während ihres Rundgangs auf »strange noises«281 aufmerksam wurden, die, wie sich dann herausstellte, von Grabungen herrührten. Hellhörig werden sollten die Wachen außerdem, wenn ihnen auffiel, dass Gefangene kohlenhydrathaltige Lebensmittel horteten, wenn sie Internierte bemerkten, die tagsüber sehr müde wirkten oder intensives Lauftraining betrieben, oder wenn Planken und Bretter von Baustellen oder aus Gebäuden verschwanden.282 Nicht nur für die Vorbereitungen, auch für den Fluchtversuch selbst war die Nacht eine beliebte Zeit, da sich die Internierten im Schutz der Dunkelheit bewegen und – im günstigsten Fall – in den Stunden bis zum ersten roll call am Morgen einen Vorsprung vor den Suchtrupps gewinnen konnten. So versuchten beispielsweise in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1943 zwei Internierte, aus Petawawa auszubrechen. Einer der beiden wurde bereits im Lager von einem Wachoffizier gestellt. Dem anderen gelang zunächst die Flucht; er wurde jedoch noch im Laufe der Nacht gefasst. 283 Die Wachen gingen außerdem mit Recht davon aus, dass Fluchtwillige die Witterungsverhältnisse mit bedachten und den Zeitpunkt für den Ausbruchsversuch danach bestimmten, welche Wetterlage die beste Tarnung versprach: »It should be borne in mind by sentries that fog, mist and thunderstorms present a particularly favourable opportunity for prisoners to attempt to break out of camp.«284 Üblicherweise wurden die Wachen bei starkem Nebel und Unwetter verstärkt, um der Verschiebung der Sichtgrenze Rechnung zu tragen, doch auch damit ließen sich Ausbrüche nicht immer verhindern:285 »Rain, Rain, Rain, and the Engineers working under the worst conditions of mud since Salisbury Plains. […] At 2012 hours the siren warned the

279 C. Burgess: Escape, S. 121. 280 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 71. 281 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 43, 29. März 1943. LAC, RG 24, 15396. 282 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 71. 283 War Diary Camp Petawawa, Folder 2, Vol. 43, 31. Mai 1943. LAC, RG 24, 15396. 284 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 4, Camp Orders, 27. Oktober 1940. LAC, RG 24, 15391. 285 Ebd.

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Camp of an escape of two P.O.W. […].«286 Auch wenn Schnee lag, wurden immer wieder Ausbrüche unternommen; in diesen Fällen versuchten manche Internierte, sich mit weißer Kleidung zu tarnen. So entdeckte ein Corporal im Lager Monteith an einem frühen Februarmorgen des Jahres 1945 einen Gefangenen, »as he was cutting through the wire completely clothed in white«287. In Monteith machten sich Gefangene die klimatischen Bedingungen des schneereichen kanadischen Winters auf andere Weise zunutze und gruben einen Schneetunnel »of considerable length«,288 wie im Lagertagebuch vermerkt ist. Doch auch dieser Tunnel wurde entdeckt und mit dem Bulldozer eingeebnet, bevor er seiner Bestimmung zugeführt werden konnte. Die kanadischen Zensurbestimmungen gestatteten es den Medien nur bei Fluchtversuchen, über die Internierungslager zu berichten.289 Folglich genossen Fluchtversuche, so der Schweizer Konsul, »more publicity than any other matter in respect of internment camps«290. Im Umfeld alliierter Lager des Zweiten Weltkriegs war dieses außerordentliche Medieninteresse keine Seltenheit, wie Rolf Wilhelm Brednich am Beispiel des neuseeländischen Internierungslagers Somes Island gezeigt hat. Der Ausbruch von drei Gefangenen aus diesem Lager löste in Verbindung mit der propagandistisch gefärbten Medienberichterstattung eine regelrechte »Massenhysterie«291 aus. Ein ganz so drastisches Ausmaß lassen die kanadischen Pressestimmen meist zwar nicht erkennen. Doch Grenzüberschreitungen von Gefangenen wurden auch dort als Gefährdung der Bevölkerung dargestellt. Das zeigt, dass der Schutz der Umgebung vor den Lagerinsassen in der kanadischen Öffentlichkeit als wichtigste Funktion der Grenzregimes angesehen wurde. Wie jede Grenzverletzung, bedeutete ein

286 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 1, Vol. 10, 5. Oktober 1941. LAC, RG 24, 15392. Die Bemerkung, das Wetter sei so schlecht gewesen wie seit den Salisbury Plains nicht mehr, bezieht sich auf den Ersten Weltkrieg, als kanadische Einheiten in der Nähe der Salisbury Plains in England stationiert waren. In verschiedenen Quellen wird von den extremen Wetterbedingungen berichtet, die das Gelände in eine Schlammwüste verwandelten. Diese Anspielung wird vor dem Hintergrund der Tatsache plausibel, dass die meisten Wachen in den Internierungslagern Veteranen des Ersten Weltkriegs waren. Kohli, Marjorie: Life on Salisbury Plain. Artikel auf der Seite »Canadian Great War Project«. http://www.canadiangreatwarproject.com/writing/Salisbury.asp. 287 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 50, 17. Februar 1945. LAC, RG 24, 15392. 288 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 49, 3. Februar 1945. LAC, RG 24, 15392. 289 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 74. Die kanadische Regierung hatte zu Beginn des Krieges beschlossen, Presseberichterstattung über Internierungs- und Gefangenenlager zu verbieten, weil man befürchtete, dass die Meldungen in verzerrter Form nach Deutschland gelangen und dort für Propagandazwecke missbraucht oder zur Rechtfertigung eventueller Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den dort gefangenen Kanadiern herangezogen werden könnten. Siehe S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 61. 290 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 44. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 291 R.W. Brednich: Enemy Aliens, S. 268.

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Fluchtversuch, »unkontrolliert in diesen fremden Machtbereich einzudringen«292. Befanden sich entflohene Gefangene auf freiem Fuß, wurden sie als Sicherheitsrisiko eingestuft; das zeigt sich auch an der lokalen und überregionalen Presseberichterstattung, deren Tenor in der eindringlichen Warnung der Bevölkerung vor den entflohenen »Nazis«293 bestand.294 In solche Artikel integrierte Personenbeschreibungen, teils auch polizeiliche Fahndungsfotos, trugen zur Dämonisierung und Kriminalisierung der Flüchtigen bei.295 Somit lassen sich diese Zeitungsartikel in Anlehnung an Spivak auch als Dokumente des Othering lesen,296 die die Entflohenen diskursiv wieder in das Lager verwiesen und so die Internierung im Rahmen der zeittypischen Propaganda aufs Neue legitimierten. Die Konstruktion solcher medialen Bilder lässt sich auch am Beispiel der Berichterstattung über den aufsehenerregenden Gruppenausbruch von 19 Seeleuten aus Fort Henry verfolgen: »Harold Pugash, a 15-year-old Montreal cyclist on a Canadian Youth Hostel trip, told of an encounter Friday afternoon with a man believed to be an escaped German prisoner on a lonely stretch of road near Seeley’s Bay, 20 miles from Fort Henry. Cycling in the rain, he slowed down for a hill, when a man, in dirty blue overalls and a trainman’s cap, ran out from a ditch at the side of the road. ›I was very scared,‹ said Harold, ›and I fell off the bike in my excitement. He loosed his hold on me and I started running. Chasing me, he shouted, ›Are you alone? I’m not going to hurt you. Come back!‹«297

Der Gefangene sei dann in einem entfernt liegenden Bauernhof verschwunden, woraufhin Harold Pugash zurück zu seinem Fahrrad rannte und davonfuhr. Als er einen kanadischen Offizier traf, berichtete er diesem von dem Vorfall. Pugash war der Meinung, der Gefangene hätte es auf sein Fahrrad abgesehen gehabt, dann aber aufgegeben. Der Artikel fährt fort: »Near the spot where Pugash was attacked, the Officer found a bundle with a blue shirt and overalls.«298 Von einer Attacke berichtet

292 K. Eisch: Grenze, S. 24. 293 Fast immer werden die flüchtigen Deutschen in solchen Zeitungsartikeln als »Nazis« etikettiert, oft schon in der Überschrift: Be On Look-Out For These Fugitive Nazis. Toronto Daily Star vom 28.08.1943; Find Nazis Escaped Camp By Way Of Unused Sewer. Toronto Daily Star vom 28.08.1943; Believe This Is How Nazis Made Mass Break From Fort Henry. Toronto Daily Star vom 30.08.1943; Two Nazi Sailors Caught Near Camp. The Globe and Mail vom 07.04.1944. 294 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 74. 295 Zum Zusammenhang zwischen Ausgrenzungsmechanismen und Bildern des Anderen vgl. Regener, Susanne: Ausgegrenzt. Die optische Inventarisierung des Menschen im Polizeiwesen und in der Psychiatrie. In: Fotogeschichte 10 (1990), H. 38, S. 23-38, hier S. 37. 296 Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani of Sirmur. An essay in reading the archives. In: History and Theory 24 (1985), H. 3, S. 247-272. Zur Geschichte des Konzepts Othering und zur jüngeren Verwendung des Begriffs seit Spivak siehe S.Q. Jensen: Othering, identity formation and agency, hier S. 64-65. 297 Find Nazis Escaped Camp By Way Of Unused Sewer. Toronto Daily Star vom 28.08.1943. Der Ort der Begegnung, Seeley’s Bay, liegt etwa 36 km nordöstlich von Kingston. 298 Ebd.

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Pugash selbst allerdings nicht explizit. Der Zeitungsartikel hingegen erwähnt sie beiläufig – und was wäre wirksamer als Beweis für den Schrecken, den ein entlaufener Gefangener verbreitet, als ein verängstigter, aus heiterem Himmel von einem Deutschen angegriffener Jugendlicher? Aus den übrigen Zeitungsartikeln, die in den Tagen nach dem Gruppenausbruch aus Fort Henry erschienen, spricht sowohl ein gewisser Respekt angesichts dieser Leistung der Ausbrecher als auch beträchtliche Unruhe aufgrund des Bewusstseins, dass sich immerhin ein kleiner Teil der 19 Flüchtigen noch auf freiem Fuß befand. Der Weg der Seeleute durch einen ungenutzten Abwasserkanal der Festungsanlage wurde in einem Artikel des Toronto Daily Star anhand eines Luftbildes visualisiert.299 In der Bildunterschrift mutmaßt der Verfasser: »The unused sewer through which they crawled is only two feet wide, suggesting that the escape party was chosen by size and weight.«300 Auch diese Bemerkung vermittelt den Lesern, wie planvoll und strategisch die Gefangenen bei ihrer Flucht vorgegangen seien. Die Voraussetzung für die Wiederherstellung der ins Wanken geratenen Ordnung und Trennung zwischen den Lagerinsassen und der umgebenden Bevölkerung war, dass die Flüchtigen zurück ins Lager gebracht werden konnten. Welche Strategien die Wachen und die kooperierenden Polizeidienststellen zur Ergreifung der Flüchtigen einsetzten, lässt sich anhand von Zeitungsartikeln und Unterlagen der Lagerverwaltung rekonstruieren. So resümierte der District Officer Commanding Military District No. 3 in einem Schreiben an den Sekretär des Department of National Defence vom 27. August 1943, dem ersten Tag der Suchaktion nach dem Ausbruch der Seeleute aus Fort Henry, die bis dato eingeleiteten Maßnahmen. Nachdem das Fehlen der 19 Mann beim nächtlichen roll call des 26. August um 21.45 Uhr bemerkt worden war, hatten die Wachen den sogenannten recapture plan befolgt und zunächst Alarm ausgelöst und in der Umgebung Straßensperren errichten lassen.301 Im Fluchtfall sollte in allen Lagern eine minutiös durchgeplante Maschinerie anlaufen, die zahlreiche Organisationen außerhalb des Lagers in die Suche nach den Ausbrechern mit einbezog. Auf der Liste der telefonisch zu benachrichtigenden Institutionen standen unter anderem die örtliche Polizeistation, die Royal Canadian Mounted Police (RCMP) auf Provinz- und Bundesebene, die Polizeieinheiten der Canadian Pacific Railway und der Canadian National Railway, die National Defence Headquarters und die Zentrale des jeweiligen Military District. Eine Radiodurchsage mit der Beschreibung des Entflohenen sollte im Abstand von 15 Minuten auf Englisch und Französisch gesendet werden.302 Nachdem in Fort Henry die Flucht der 19 Seeleute aufgefallen war, forderten die Wachen Truppenverstärkung aus den umliegenden Garnisonen und Kasernen des

299 Believe This Is How Nazis Made Mass Break From Fort Henry. Toronto Daily Star vom 30.08.1943. 300 Ebd. 301 Im Fall von Sherbrooke ist Abschnitt 18 der Camp Standing Orders den Verhaltensregeln im Fluchtfall gewidmet und Appendix G spezifiziert diese noch weiter. LAC, RG 24, 15400. 302 Exemplarisch: Camp Standing Orders Sherbrooke, Appendix G, General Alarm. LAC, RG 24, 15400.

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Military District No. 3 an. Bis zur Mittagszeit des 27. August, also keine 24 Stunden später, waren bereits zwölf Gefangene gefasst und in Gewahrsam genommen worden.303 Da das Lager Fort Henry dicht an der Stadt Kingston lag, führte die dortige Polizei »a thorough check of the city«304 durch, und die Stadt wurde nach allen Richtungen abgeriegelt: »All roads leading in and out of Kingston are heavily guarded by police and military men heavily armed. All motor vehicles are being halted and the occupants questioned. The cars themselves are searched.«305 Zu den Suchstrategien gehörte also die Übertragung von Techniken, die sonst nur im Lager und vor allem am Lagerzaun zum Einsatz kamen, auf die zivile Umgebung. Über das Lokalradio wurden die Anwohner zudem aufgefordert, »to be on the lookout for the men«306. Dabei ging es gleichermaßen darum, Zivilisten zu warnen, wie auch, sie um Mithilfe zu bitten. Tag und Nacht durchkämmten die Suchtrupps systematisch einzelne Gebiete in der Umgebung, zum Teil auch mit Booten auf dem St. Lorenz-Strom, dessen unzählige kleine Inseln im Gebiet der sogenannten Thousand Islands nahe Kingston entflohenen Gefangenen zahlreiche Versteckschlupfmöglichkeiten boten.307 Dabei stimmten sich die Einsatzkräfte mit den zuständigen US-amerikanischen Behörden ab. Einer der Gefangenen wurde gefasst, als er versuchte, einen Job bei einem Farmer zu bekommen.308 Die letzten drei Gefangenen wurden erst am 1. September aufgegriffen, und zwar in Clayton im US-Bundesstaat New York.309 Während Zivilisten im Lageralltag unerwünscht waren und keinen Umgang mit den Internierten pflegen durften, bezogen die kanadischen Wachen die Zivilbevölkerung oft gezielt in die Suche nach entflohenen Gefangenen mit ein. In verschiedenen Lagern kooperierten sie zur Wiederergreifung eng mit den Anwohnern der Umgebung. In Farnham beispielsweise richtete die Lagerverwaltung in Zusammenarbeit mit 15 freiwilligen Autobesitzern eine »emergency car brigade«310 ein, die im Fluchtfall Fahrdienste übernahm, um die Suchtrupps schnell an den Einsatzort zu bringen. Oft lieferten auch zufällige Begegnungen von Zivilisten mit den flüchtigen Internier-

303 Schreiben des District Officer Commanding Military District No. 3, F.L. Armstrong, an das Department of National Defence: Escape of Prisoners of War, Internment Camp No. 31 Fort Henry. Sammlung Fort Henry, Kingston, IR 02. 304 Axis Prisoners Break From Fort Henry Camp, 2 Caught, Score Free. The Globe and Mail vom 27.08.1943. 305 Ebd. 306 Ebd. 307 Ausführlicher Bericht der Lagerleitung über den Ausbruch der 19 Seeleute aus Fort Henry, 4. September 1943. Als Appendix im War Diary Camp Fort Henry/Kingston (F/31), Vol. 39. LAC, RG 24, 15394. 308 Ebd. 309 Einer der Delinquenten starb 14 Tage später an den Folgen einer Lungenentzündung und einer Blutvergiftung, die er sich beim Kriechen durch den engen Abwasserkanal zugezogen hatte. Er wurde auf dem Militärfriedhof von Kingston beigesetzt; eine kleine Abordnung von Internierten durfte an der Beerdigung teilnehmen. Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls J. Oertly in Fort Henry (F/31) am 27. Oktober 1943. Sammlung Fort Henry, Kingston, SC 02. 310 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 73.

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ten entscheidende Hinweise, die zur Wiederergreifung der Gefangenen führten. Die Berichterstattung über Fluchtversuche übernahm dabei die wichtige Aufgabe, die Anwohner zu informieren und zu warnen, sie aber auch an ihre patriotische Pflicht zu erinnern, sich an der Suche zu beteiligen. Die Spielräume für Fraternisierung, die es de facto im Rahmen von Fluchtversuchen gab, wurden dadurch diskursiv minimiert. Abgesehen vom späteren Arbeitseinsatz der Internierten bildeten Fluchtversuche schließlich das wichtigste Kontaktfeld zwischen den Gefangenen, den Wachen und der kanadischen Bevölkerung. Im Allgemeinen scheinen die Anwohner die Festnahme der Gefangenen schnellstmöglich veranlasst zu haben, so auch beim Ausbruch zweier Gefangener aus Monteith Ende Mai 1945: »Mr. Cameron of Iroquois Falls called that his cottage at Nellie Lake had been entered and thought it might be the escaped P/W. Capt. B. went to Nellie Lake immediately to meet Mr. Cameron and investigate.«311 Nachdem ein größerer Suchtrupp in die Nähe des Cottages verlegt worden war, konnten die Internierten gefasst werden. Mr. Camerons Beitrag dazu wurde im Bericht entsprechend gewürdigt: »Thank’s [sic] to Mr. Cameron of Iroquois Falls who gave the information and the keenness of the V.G.C. personnel, particularly Pte. G., the capture of these P/W was made possible.«312 »Massenausbrüche dieser Art«, so der Schweizer Konsul mit Bezug auf die Flucht der 19 Seeleute aus Fort Henry, »bleiben natürlich nicht ohne Reaktionen seitens der Bewachungstruppen und es erschien den Internierten denn auch verständlich, dass der Kommandant die Verschärfung einiger Vorschriften befahl und Vorsichtsmassregeln anordnete«313. Drakonische Maßnahmen waren dies jedoch im Allgemeinen nicht. Die Veterans Guards zeichneten sich dem Schweizer Konsul zufolge in der Regel durch »levelheadedness and sound judgment in dealing with escapes of prisoners«314 aus. In Fort Henry beispielsweise setzte die Lagerleitung 16 der 19 Ausbrecher zur Säuberung der als Fluchtweg benutzten Abwasserleitung ein, bevor sie endgültig verschlossen wurde.315 In der einschlägigen Literatur kanadischer Verfasser wird nicht ohne Stolz betont, wie erfolgreich die Kanadier waren, wenn es galt, flüchtige Gefangene wieder einzufangen. Als Erfolgsfaktor wird nicht nur das gut funktionierende Netzwerk aus lokalen und überregionalen Polizeidienststellen und Militäreinheiten sowie engagierten Zivilisten angeführt, wie Stefania Cepuchs Einschätzung verdeutlicht: »The major factor in the Canadians’ success at recapture was the geography and climate of the country. Although the Germans were accustomed to snow, they had never experienced such quantity, or such ferociousness as when a blizzard raged over their camp. During the summer months

311 War Diary Camp Monteith, Folder 4, Vol. 53, 27. Mai 1945. LAC, RG 24, 15393. 312 Ebd. 313 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls J. Oertly in Fort Henry (F/31) am 27. Oktober 1943. Sammlung Fort Henry, Kingston, SC 02. 314 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 44. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 315 Ausführlicher Bericht der Lagerleitung über den Ausbruch der 19 Seeleute aus Fort Henry, 4. September 1943. Als Appendix im War Diary Camp Fort Henry/Kingston (F/31), Vol. 39. LAC, RG 24, 15394.

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when the men mistakenly believed that they would be free of discomfort, winter storms were replaced by black flies and mosquitoes, a problem especially severe in the northern camps.«316

Im Mittelpunkt dieser Passage steht die Gegenüberstellung der deutschen Internierten und des Landes Kanada, das gewissermaßen aus sich selbst heraus die Internierten in ihre Grenzen zu verweisen scheint. Indem sie die Unerfahrenheit und Naivität der Gefangenen im Umgang mit den klimatischen Besonderheiten des Landes thematisiert, reproduziert die Verfasserin die der Internierung inhärente Grenzziehung zwischen Einheimischen und Internierten. Letztere werden hier als Fremde dargestellt, denen das Land selbst den Zugang verweigerte. Daran zeigt sich, dass selbst in der wissenschaftlichen Literatur die Thematisierung von Grenzen und Grenzverletzungen kaum ohne eine Reproduktion und Festschreibung der Fremdheit gelingt, zu deren Konstruktion der Lagerzaun in entscheidendem Maße beitrug – die Fremden waren diejenigen, die innerhalb des Zaunes in einer Sphäre der Überwachung lebten. Grenzverkehr Dass der Lagerzaun von der Kommandantur als stets gefährdete und deshalb auch gefährliche Schnittstelle zur Außenwelt gesehen wurde, die durch ein Regelwerk engmaschig kontrolliert werden musste, zeigt sich besonders an verschiedenen Formen des Grenzverkehrs. Deren Analyse unterstreicht, dass der Zaun als potenziell »konfliktiver Handlungs- und Interaktionsraum«317 aufzufassen ist, in dem sich die Internierten situativ Handlungsspielräume erschlossen. Ein wichtiges Interaktionsfeld waren Geschäfte mit der kanadischen Bevölkerung. Dabei bewegten sich die Praktiken der Internierten teils im Rahmen des Erlaubten, teils im Bereich der Widerständigkeit. Kanadische Quellen belegen, dass sich verschiedene Wege etablierten, um von Gefangenen hergestellte Gegenstände aus dem Lager zu bringen und zu kommodifizieren: Der illegale und der offiziell gestattete Handel mit den Wachsoldaten existierten parallel, wenngleich die Quellen nur punktuell Einblicke in den Bereich der Widerständigkeit zulassen. Aus der Perspektive der kanadischen Lagerleitung erforderte dieses Interaktionsfeld Anpassungen der Grenzregimes, da der grenzüberschreitende Handel Risiken für die Aufrechterhaltung der Lagergrenze barg. Die Strategien der Behörden und der kanadischen Lagerleiter zielten daher vor allem darauf ab, den illegalen Handel einzuschränken und den offiziell gestatten Handel so zu reglementieren, dass die Verletzlichkeit der Lagergrenze minimiert wurde. Die wichtigste Ware im Rahmen offiziell erlaubter Handelsbeziehungen waren von den Internierten gebaute Schiffsmodelle. Das Basteln von Schiffsmodellen und Buddelschiffen (vgl. Abbildung 15) gilt als traditioneller Zeitvertreib unter Seeleuten, aber auch für Kriegsgefangenenlager seit dem 19. Jahrhundert ist es belegt, ebenso wie der Verkauf solcher Artikel.318

316 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 30-31. 317 S. Hess: Konturen des europäischen Grenzregimes, S. 158. 318 Saunders, Nicholas J.: Trench art. Oxford 2003, S. 21-22. Saunders beschreibt Kriegsschiffmodelle aus Knochen, die französische Gefangene in England herstellten und ver-

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Abbildung 15: Ein Buddelschiff aus dem Lager Fredericton

Die Aufschrift auf der Plakette lautet: »On loan from Donna Campbell – Oct. 1994. In memory of her father, Harry Burbery – a former guard.« Quelle: New Brunswick Internment Museum, Inv.Nr. 1995.24.1

In den kanadischen Akten lässt sich verschiedentlich nachweisen, dass solche Kriegsgefangenenarbeiten bei Wachen und Zivilisten auf großes Interesse stießen. Im Lager Mimico beispielsweise betrachteten im Herbst 1942 Besucher des Lagers die Arbeiten der Gefangenen: »Officers Mess had about nine visitors for supper, and most of them visited headquarters Offices and viewed the specimens of P.O.W. handicraft.«319 Vieles deutet darauf hin, dass sich bereits früh offiziell gestattete Handelsbeziehungen zwischen den internierten Seeleuten und kanadischen Zivilisten entwickelten. So liest man im Lagertagebuch des Camps Mimico bereits im Oktober 1940 folgende kurze Notiz: »Mr. Irving Hearst, K.C., came here for lunch and placed an order for the making of a yacht model and other boats.«320 William Irving Hearst

kauften; auch das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg besitzt ein solches ein Schiffsmodell, das französische Kriegsgefangene während der Koalitionskriege in englischer Gefangenschaft anfertigten. Inventar-Nummer HM 1017. Im Bestand des Museums in Fort Henry befinden sich neben einem großen Segelschiffsmodell auch einige Buddelschiffe, die während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen hergestellt wurden. Zu anderen von Kriegsgefangenen hergestellten Artikeln siehe Beier-de Haan, Rosmarie (Hg.): Kriegsgefangen. Objekte aus der Sammlung des Archivs und Museums der Kriegsgefangenschaft, Berlin und des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißtenangehörigen Deutschland, Bonn-Bad Godesberg, im Deutschen Historischen Museum. Berlin 1990. 319 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 2, Vol. 27, 20. September 1942. LAC, RG 24, 15391. 320 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 4, 28. Oktober 1940. LAC, RG 24, 15391. Die Abkürzung »K.C.« steht für »King’s Council«, einen von der englischen Krone verliehenen Status, dessen Träger als Anwalt vor höheren Gerichten zugelassen ist.

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war ein Sohn des ehemaligen Premiers von Ontario, Sir William Hearst. Er besaß selbst ein Segelboot und engagierte sich für den Royal Canadian Yacht Club in Toronto.321 Es ist davon auszugehen, dass er als Anwalt und prominenter Bürger Torontos, der zudem während der Kriegsjahre zahlreiche öffentliche Ämter bekleidete, einen vergleichsweise privilegierten Zugang zum Internierungslager besaß, den er für den Einkauf von Schiffsmodellen nutzte. In Mimico entwickelte sich offensichtlich auf der Basis von Auftragsarbeiten eine stabile Handelsbeziehung zwischen W.I. Hearst und den Seeleuten, denn im Februar 1941 taucht sein Name erneut im Lagertagebuch auf: »Mr. W.I. Hearst, K.C., Toronto, purchased two model ships from the internees, to-day, at $2.00 each. He has been instrumental in finding a market for a number of such models, at various prices. He is an official in a Toronto yachting club and on two occasions had organized raffles whereat boats bought for $2.00 and $5.00 have realized $26.00 and $32.00 each, respectively. The proceeds have been donated to war purposes. The internees have thus been unwittingly aiding our war-effort.«322

Die kanadische Lagerleitung förderte also offenbar die Kommodifizierung von Gefangenenarbeiten, die über W.I. Hearst als Multiplikator in einem weitreichenden Netzwerk – »market« – verbreitet wurden. Die Erteilung dieser Erlaubnis hing vielleicht auch mit der Verwendung des vergleichsweise hohen Erlöses zusammen: Indem deutsche Kriegsgefangenenarbeit und kanadische Kriegsführung durch die Spende des hohen Wiederverkaufspreises ineinander verflochten wurden, konnte zugleich der Handel mit den internierten Feinden gegenüber der kanadischen Öffentlichkeit moralisch legitimiert werden. Neben Hearst kaufte auch der YMCA-Sekretär Dr. Jerome Davis in Mimico von den Internierten hergestellte »souvenirs«.323 Er bemühte sich darum, die Artikel aus den Lagern einem größeren Personenkreis zugänglich zu machen, jedoch aus anderen Gründen als Hearst. Das Ziel der YMCA war es, den Gefangenen durch ihre Handund Bastelarbeiten einen Zuverdienst zu ermöglichen: »On visiting some of the camps I have been informed that there is a military order prohibiting any articles made in a prison camp from being sold. In conversation with the C.I.O. [Commissioner of Internment Operations; JK] I find that this is not his rule, but is solely one of the military. I am writing to ask if this rule could not be reconsidered. I am told that the reason why this rule was put into effect was that some of the Guards purchased articles and then re-sold them at higher prices to the public. It is, of course, important to prevent actual Canadian money from getting into the hands of the prisoners. However, if articles made by prisoners are sold in the regular canteen and no money

321 Auskunft von Wayne Mullins, National Yacht Club, Toronto. E-Mail vom 29. August 2013. 322 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 8, 12. Februar 1941. LAC, RG 24, 15391. 323 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 16, 19. Oktober 1941. LAC, RG 24, 15391.

268 | G EFANGEN IN K ANADA is paid to the prisoners and only a credit is given them, this is absolutely safeguarded. If, on the other hand, the Military rule now enforced is maintained, it offers a strong incentive to Guards who may be very eager to secure boats, airplane and other models, to pay prisoners cash illegally in order to get the articles.«324

Zwischen den Zeilen geht es in diesem Text vor allem um die Frage, wie verhandelbar und durchlässig die Grenze zwischen dem Lager und der Außenwelt sein durfte. Aus Davisʼ Argumentation geht hervor, wie das Wissen um illegalen Handel die Diskussion über eine Lockerung des Verkaufsverbots beeinflusste. Gegenüber dem Department of National Defence präsentierte er den erlaubten Handel als Präventionsinstrument gegen Schwarzmarktgeschäfte zwischen Internierten und Wachen. Diese waren aus Sicht der Behörden vor allem deshalb gefährlich, weil sie den Internierten Zugang zu Bargeld eröffneten, das ihnen bei einer Flucht aus dem Lager nützlich sein konnte. Davis wusste, dass die Sicherheit der Lager durch eine Handelserlaubnis zu keiner Zeit gefährdet erscheinen durfte, und versicherte den Behördenvertretern deshalb, dass aus seiner Sicht nur ein streng überwachter und reglementierter Handel im Rahmen der geltenden Regeln infrage käme. Damit antizipierte er die Sorge der Behörden um die Aufrechterhaltung der Sicherheit in den Lagern und begründete sein Plädoyer für die Lockerung des Grenzverkehrs dementsprechend sogar mit den zu erwartenden positiven Auswirkungen auf den Schutz der Grenze. Das wachsende Interesse an den Arbeiten der Internierten machte es erforderlich, den Warenverkehr zwischen drinnen und draußen zu standardisieren und durch ein festgelegtes Verfahren zu regulieren. Ähnlich wie die Ein- und Ausgangsprozeduren am Lagertor war der offiziell erlaubte Handelsweg ein mehrstufiges Verfahren, bei dem die Transaktion durch Dritte dokumentiert und überwacht wurde. Ohne Erlaubnis des Lagerkommandanten konnte kein Geschäft zustande kommen: »The purchase of Handicraft by persons outside the Enclosure from Prisoners of War is authorized under the following conditions: (a) The price of each article is to be marked plainly and the Censor’s stamp must be placed on each article before sale. (b) Payment for articles sold outside the Enclosure will be made to the Accounts Officer who will credit the individuals Trust Account with such payments. (c) The securing of Handicraft through the medium of Gifts or barter is STRICTLY FORBIDDEN.«325

Auch hier zeigt sich, dass es in erster Linie darum ging, weder Bargeld noch unerlaubte Gegenstände in die Hände der Gefangenen gelangen zu lassen. So findet sich im Lagertagebuch von Mimico ein Eintrag vom Februar 1941, der die Wachen nachdrücklich auf das Verbot hinweist, Geschenke jedweder Art direkt an die Gefangenen

324 Schreiben des YMCA-Sekretärs Dr. Jerome Davis an das Department of National Defence, 28. November 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 5. 325 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 5, Vol. 52, Anhang (Orders), 17. Januar 1945. LAC, RG 24, 15401.

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zu geben: »All gifts must be made through the Camp Orderly Room.«326 Dieses Prozedere diente letztlich dazu, die Lagergrenze in ihrer Funktion als Filter aufrechtzuerhalten und damit die Kontrolle über die Insassen zu bewahren. Dass dieser Bereich jedoch nur schwer zu reglementieren war, zeigt sich an den wiederholten Hinweisen an die Wachen, wie der Kauf von Kriegsgefangenenarbeiten abzuwickeln sei: »The attention of Officers and Other Ranks is drawn to Camp Standing Orders ›General Instructions, paragraph 6‹. Officers and Other Ranks must not have dealings direct with internees regarding the making of souvenirs and other articles. Orders for such articles should be handed in to the Assistant adjutant’s Office where a written order will be made up and passed on to the Internee concerned. When the completed article has been brought by the internee to the Asst. Adjutant, the purchaser will be advised, and will receive his purchase on making the necessary cash payment.«327

Auch die polizeiliche Befragung eines Wachsoldaten durch die RCMP bezüglich seiner Beteiligung am Handel mit den Internierten zeigt die Überwachung dieser Beziehungen durch die Behörden als ein Kontrollinstrument. Zugleich geht daraus hervor, wie eine erlaubte Transaktion zwischen den Gefangenen und den Wachen vonstatten zu gehen hatte: »He stated that it was the practice for the German prisoners to make small ships in bottles and have the guards sell them through the proper channels. He, himself had taken three out of the camp, after they were passed by the Censor, sold them, turned the money back to the censor and the prisoners had been given credit in the way of a ticket on the canteen, he stated that the prisoners did not receive the actual cash.«328

Das hier erwähnte Verfahren, das auf einem Gutschriftsystem basierte und den Zensor als wichtigste Kontrollstelle mit einschloss, diente der Regulierung des Grenzverkehrs und war auf Fluchtprävention ausgerichtet. Zugleich macht die Aussage des Wachsoldaten deutlich, dass die Wachen nicht nur für ihren eigenen Bedarf einkauften, sondern dass ein Netzwerk existierte, innerhalb dessen die Wachen als Zwischenhändler fungierten und das die Zirkulation von Dingen und Geld in verschiedenen Räumen ermöglichte. Die Gefahr ging in den Augen der Kommandantur also nicht von den Internierten allein aus, sondern vor allem von ihrer Kooperation mit den Wachen. Hier setzt sich das bereits angesprochene Problem der Disziplinierung der Wachen fort, das für die Kontaktzone der Internierung charakteristisch ist. Neben der Bedeutung vermittelter und damit auch kontrollierbarer Kontakte zwischen Wachen und Internierten wird aus den zitierten Quellen auch deutlich, dass die Nachfrage nach Kriegsgefangenenarbeiten hoch gewesen sein muss. Die in diesem

326 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 8, 6. Februar 1941. LAC, RG 24, 15391. 327 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 2, Vol. 24, Daily Orders, 4. Juni 1942. LAC, RG 24, 15391. 328 Schreiben der Royal Canadian Mounted Police an das Department of Internment Operations, 23. Februar 1942. LAC, RG 24, 11249, File 10-2-1.

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Zusammenhang immer wieder verwendete Bezeichnung von Schiffsmodellen und anderen Bastelarbeiten als »souvenirs« wirft die Frage auf, inwieweit die Zusammentreffen in der Contact Zone auch als quasi-touristische Begegnungen gedeutet wurden. Wie besonders anhand der raumbezogenen Analyse von Interviews noch deutlich werden wird, schrieben auch die Internierten ihren Arbeiten eine solche Bedeutung zu. Was die gekauften Schiffsmodelle in jedem Fall mit Souvenirs im Sinne touristischer Reiseandenken gemeinsam hatten, war ihre Belegfunktion und ihr Stellenwert als »Erinnerungsträger für […] nicht wiederholbare Erfahrungen«.329 Temporäre Grenz-Übergänge Ein Beispiel für eine ganz andere Spielart von Grenzregimes sind Privilegien, die den Internierten im Lauf der Kriegsjahre in zunehmendem Maße gewährt wurden. Sie stehen in starkem Kontrast zu den am Beispiel des Handels thematisierten rigiden Öffnungs- und Schließungsmechanismen des Lagers: »Sodann«, schreibt der Schweizer Vizekonsul A.F. Somm nach einem Besuch im Lager Sherbrooke im August 1944, »sind sämtliche Wachttürme auf das äussere Tor aufgehoben worden. Die Wachttürme werden von den Internierten als Aussichtspunkte benützt.«330 Was zunächst wie ein Scherz anmutet, war Teil einer Strategie, die die Behörden in Sherbrooke als »Ansporn zur Arbeit«331 einsetzten. Durch weitreichende Privilegien relativierte die kanadische Lagerleitung in diesem und in geringerem Umfang auch in anderen Lagern die einschließende Funktion des Zaunes. Dadurch entstand eine neue Raumordnung, die an der Nutzung des Zaunes und der übrigen Grenzeinrichtungen sichtbar wurde. Die Wachtürme im Lager Sherbrooke bildeten dann nicht mehr nur die Sphäre der Wachen, sondern auch Internierte erhielten Zugang zu den Grenzanlagen und damit auch zu einer Perspektive auf das Lager und die Umgebung, die bislang den Wachen vorbehalten gewesen war. Darüber hinaus wurde in Sherbrooke auch »das westseitige Gelände ausserhalb des Drahtes, welches durch einen Fluss begrenzt ist, den Internierten zur freien Verfügung gestellt«.332 Auf diesem Gelände durften sich die Internierten ohne Bewacher aufhalten. Zudem durfte jeden Tag eine Gruppe von 50 Internierten außerhalb des Lagers spazieren gehen, allerdings, so Somm, »von einem unbewaffneten Soldaten begleitet, hauptsächlich für den Zweck, unerwünschte Berührung mit der Zivilbevölkerung zu vermeiden«333. Das Fraternisierungsverbot und das Prinzip der Fluchtprävention besaßen nach wie vor Gültig-

329 Binder, Beate: Souvenir. In: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 547-548, hier S. 547. Zur Belegfunktion von Souvenirs siehe Köstlin, Konrad: Souvenir. Das kleine Geschenk als Gedächtnisstütze. In: Alber, Wolfgang u.a. (Hg.): Übriges. Kopflose Beiträge zu einer volkskundlichen Anatomie. Utz Jeggle zum 22. Juni 1991. Tübingen 1991, S. 131-141, hier S. 132. 330 Bericht über den Besuch des Schweizer Vizekonsuls A.F. Somm in Sherbrooke (N/42) am 9. August 1944. PA AA, Bern 4270. 331 Ebd. 332 Ebd. 333 Ebd.

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keit. Dennoch verzichtete die Lagerleitung in Sherbrooke sogar auf die bis dato üblichen Registrierungsprozeduren beim Verlassen des Lagers und setzte stattdessen »Aufhängenummern«334 ein. Verantwortlich für den besonnenen und regelkonformen Umgang mit diesen Privilegien war der gewählte Vertrauensmann, was Somm zufolge recht gut funktionierte: »Bisher sind diesbezüglich erst zwei Unregelmässigkeiten vorgekommen, ohne dass das Privileg beschnitten wurde.«335 Im November 1944 wies der CICR-Delegierte Ernest L. Maag in seinem Bericht darauf hin, dass es in Sherbrooke mittlerweile auch keine bewaffneten Posten mehr gebe.336 Die Grenzöffnungen und in manchen Lagern auch die Abwesenheit bewaffneter Wachen waren Teil eines Privilegiensystems, das die Kanadier in den letzten Kriegsjahren und nach Kriegsende verstärkt einsetzten. Sie markieren den Übergang von den rigiden Grenzregimes der frühen Kriegsjahre zu einer liberaleren Haltung gegenüber den Insassen nach Kriegsende. Das Jahr 1944, aus dem auch Somms und Maags Berichte stammen, markierte den Beginn intensiverer Überlegungen seitens der kanadischen Regierung, wie ein wirksames Reeducation-Programm für die deutschen Gefangenen eingerichtet werden könnte. Das Ziel dieser Aktivitäten war vor allem, die Internierten nach dem bald zu erwartenden Kriegsende zur Kooperation mit den Alliierten zu bewegen.337 Das ließ sich nur erreichen, wenn man die Grenzen zwischen den Internierten und der Außenwelt schrittweise aufhob oder verschob. Aus den zensierten Briefen und auch aus den Berichten der humanitären Helfer wussten die kanadischen Kommandanten und Behördenvertreter, wie belastend die Einsperrung und die ständige Präsenz des Zaunes für die Internierten waren. So warnte der für den European Student Relief Fund tätige Dale Brown in einem Sammelbericht: »When human beings are confined to a certain place under strong guards and surrounded by barbedwire [sic], life begins to change for those in captivity. […] The whole environment bears heavily on the minds of the internees.«338 Dass die Lagerkommandanten am effektivsten auf die Gesamtstimmung der Gefangenen einwirken konnten, wenn sie die Grenzregimes liberalisierten, lag auf der Hand. Dank der Verbreitung der Erkenntnisse über die sogenannte Stacheldrahtkrankheit, ein Oberbegriff für ein ganzes Bündel körperlicher und psychischer Symptome, war den Gewahrsamsstaaten im Zweiten Weltkrieg klar, dass auch die beste Behandlung der Gefangenen negative psychische Auswirkungen nicht verhindert: »Schlechte, brutale Behandlung erzeugt die Krankheit nicht, und gute hält sie nicht fern.«339 Einsperrung in Gemeinschaft und auf unbestimmte Zeit sowie mangelnde Rückzugsmöglichkeiten

334 Ebd. So war deutlich sichtbar, welche Gefangenen das Lager verlassen hatten. 335 Ebd. 336 Bericht über den Besuch der CICR-Delegierten Ernest L. Maag und Jean Claude Kaufmann in Sherbrooke (N/42) am 29. November 1944. ACICR, C SC, Canada. 337 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 123. 338 Sammelbericht über die Besuche von Dale Brown, European Student Relief Fund, in den Lagern Gravenhurst (C/20), Monteith (Q/23), Petawawa (P/33), Chatham (10), Medicine Hat (132), Lethbridge (133), Kananaskis (K/130) und Wainright (135), Juli bis September 1945. LAC, MG 28, I 95, 273, File 5. 339 Vischer, Adolf Lucas: Die Stacheldraht-Krankheit. Beiträge zur Psychologie des Kriegsgefangenen. Zürich 1918, S. 31.

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hatte bereits Adolf Lucas Vischer als Hauptentstehungsfaktoren für dieses Krankheitsbild ausgemacht.340 Privilegien wie die Spaziergänge in Sherbrooke waren deshalb aus Sicht der Gewahrsamsmacht ein viel versprechendes Mittel, um der Gefahr psychischer Erkrankungen entgegenzusteuern und sich zugleich die Gefangenen gewogen zu machen. Im Goffman’schen Sinne sind Privilegien vorab festgelegte Belohnungen, die sich jeder Insasse einer totalen Institution durch besonders folgsames und regelgetreues Verhalten erarbeiten kann.341 Doch im vorliegenden Kontext ist der Begriff etwas anders zu verstehen: Wurden Ausflüge zum Fischen oder Beerensammeln als Privilegien bezeichnet, so war damit gemeint, dass diese Unternehmungen keine Selbstverständlichkeiten im Sinne verbriefter Rechte waren, die stillschweigend Eingang in das Regelsystem des Lagers gefunden hatten. Die Erlaubnis konnte jederzeit ausgesetzt oder ganz entzogen werden, wenn die Lagerleitung den Eindruck gewann, dass die Internierten diese Vergünstigung nicht mehr verdienten oder zu schätzen wussten, etwa wenn sich Arbeitsverweigerungen in einem Lager häuften. Anders als in Goffmans Konzept gab es keinen Weg für die Gefangenen, sich solche Privilegien selbst aktiv zu erarbeiten, schon gar nicht für die einzelnen Gefangenen. Der Lagerkommandant konnte entscheiden, ob und wann er solche Privilegien gewähren wollte, und er konnte diese ohne Weiteres nach Gutdünken aussetzen. Goffman interpretiert die Auswirkungen von Privilegien auf die Begünstigten als vorübergehende Aufhebung des Eingesperrt-Seins an sich: Die »Wiedererwerbungen« einst selbstverständlicher Befugnisse »stellen die Verbindung mit der ganzen verlorenen Welt wieder her und verringern die Anzeichen des Rückzugs aus ihr«.342 Die wichtigsten Privilegien bezogen sich denn auch auf die vorübergehende und gebilligte Öffnung des Zaunes für die Insassen. Entsprechend ihrer ranghöheren Stellung konnten bereits ab 1942 Offiziere auf ›Parole‹, also auf Ehrenwort, das Lager zu kleineren Spaziergängen ohne Bewachung verlassen.343 Für Seeleute und Mannschaftsgrade wurden diese ParoleSpaziergänge erst später eingeführt.344 Die Lagergrenze bedeutete also nicht für alle Insassen das Gleiche; vorübergehend verband die Schiffsoffiziere in dieser Hinsicht mehr mit den kriegsgefangenen Wehrmachts-, Marine- oder Luftwaffenoffizieren als mit den Mannschaften ihres eigenen Schiffes. Bei der retrospektiven Thematisierung realer Verschiebungen und temporärer Aufhebungen der Grenze hingegen zeigt sich, dass der Zaun als Normalität des La-

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Ebd., S. 6-7. E. Goffman: Asyle, S. 54 ff. Ebd., S. 55. C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 67. Seit dem 17. Jahrhundert wurden immer wieder Kriegsgefangene auf Parole entlassen, d.h. sie gaben ihr Ehrenwort, weder zu fliehen noch für ihre eigene Seite zu kämpfen. Diese Regelung entsprang wirtschaftlichen Überlegungen, denn für den Gewahrsamsstaat war es einfacher und billiger, Gefangene auf Ehrenwort zu entlassen, als für ihre Unterbringung und Verpflegung aufzukommen. Die Parole-Spaziergänge sind ein Überbleibsel dieses Konzepts. Zur Geschichte der Parole-Regelung siehe Sheppard, George: Parole. In: Vance, Jonathan Franklin William (Hg.): Encyclopedia of Prisoners of War and Internment. Millerton 2006, S. 297-299.

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gerlebens in den Mittelpunkt der Erzählungen gerückt wurde. Diese Normalität kann offenbar nur auf implizite Weise narrativ vermittelt werden, nämlich indem Ausnahmen thematisiert werden: Grenzöffnungen im Rahmen von Privilegien bewerteten die Gesprächspartner als aus der Normalität des Lageralltags herausgehobene Ereignisse und trafen damit zugleich Aussagen über den Alltag mit der Einsperrung. Zwei meiner Interviewpartner beispielsweise, die am Kriegsende in Monteith interniert gewesen waren, sprachen unabhängig voneinander mit fast denselben Worten davon, dass der Zaun zwischen dem Seemanns- und dem direkt angrenzenden Soldatenlager einmalig geöffnet wurde:345 »nur in monteith, da war ein stammlager (hm), da war zur hälfte (.) mit deutschen wehrmachtsangehörigen (hm) und seeleuten, nich (hm). und denn waren sie noch GANZ gütig, denn wurde mal der ZAUN geöffnet, dass wir uns GEGENseitig besuchen konnten.«346 »ja, das war getrennt, nich (JK: hm) (Sohn: ja). ich sage und=und da waren sie gütig und da haben sie mal (.) eine sperre weggemacht (Sohn: weggemacht und die leute auslaufen können), damit wir uns mal GEgenseitig besuchen konnten, nich (JK: hm) (Sohn: ja). ja-«347

Beide Äußerungen markieren die Ausnahme von der strikten Einsperrung und Separierung zwischen Seeleuten und Soldaten in Monteith auch im retrospektiven Erzählen als Privileg. Die Erzähler übernehmen damit die offizielle Deutung, auch wenn sie sich leicht ironisch davon distanzieren. ›Gütig‹ sei dies von den Kanadiern gewesen, so die beiden Interviewpartner. Gerade durch die Kennzeichnung als Privileg betonen sie das Macht- und Herrschaftsverhältnis zwischen den kanadischen Wachen und den Seeleuten.348 Zugleich heben beide Erzähler damit die Normalität der Einsperrung und der Trennung zwischen Seeleuten und Soldaten hervor und positionieren sich selbst als abhängig von der jeweiligen Permeabilität der Grenze. Das ›sie‹ der erlaubenden Instanz bleibt jedoch abstrakt und unpersönlich. Grenzverschiebungen Für die retrospektive Verhandlung des Zauns als Schnittstelle erweisen sich die Wachen als Schlüsselfigur. In den Interviewerzählungen rückten die ehemaligen Internierten die Wachen als wichtigste Interaktionspartner und Kontaktpersonen oftmals nah an die Insassen heran. Sie präsentierten die Wachsoldaten in ihrer Funktion als berufliche Grenzgänger zwischen dem Lagerinneren und der Außenwelt und plausi-

345 Der Zaun zwischen den beiden Enclosures wurde erst Anfang des Jahres 1946 errichtet, nachdem Monteith zum »central clearing depot for all P/W. east of Winnipeg« erklärt worden war. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 61, 15. Januar 1946. LAC, RG 24, 15393. 346 Interview Herbert Suhr, Z. 237-240. 347 Interview Hans Plähn, Z. 538-542. 348 Gegenseitige Besuche erwähnt auch der im Soldatenlager in Monteith gefangene Wilhelm Kahlich in seinem Erinnerungsbuch; er stellt dabei die Abwechslung in den Mittelpunkt, die sich den Soldaten dadurch bot. W. Kahlich: Deutsche Kriegsgefangene in Kanada schreiben, dichten, zeichnen, S. 25.

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bilisierten so die Faszination, die von diesen Personen ausging. In den Interviews werden besonders Wissensbestände und Handlungsspielräume thematisiert, über die die Wachen verfügten und die in der Interaktion mit den Internierten zum Tragen kamen. Dies zeigt sich vor allem bei Erzählungen über illegalen Grenzverkehr und Handel. Bei der Analyse wird deutlich, dass die Interviewpartner daran verschiedene Themen verhandeln können. In den Interviews wurden die Wachen häufig als leicht verfügbare Kontaktpersonen inszeniert, zu denen die Internierten selbstverständlich und unkompliziert Zugang gewinnen konnten: »da waren WACHtürme und da standen POSTen mit=mitm gewehr und dann durften wir uns aber FREI bewegen nich (hm) und denn (.) grenzte der EINE zaun an das lager der WACH(T)soldaten (hmm) und da fing dann gleich’n schwunghafter handel ((lacht)) (hm) nich, die äh:=ne:=äh die waren alle verrückt auf souvenirs nich also (hm) da=da waren se GANZ wild drauf nich«349

Hier wird mit großer Selbstverständlichkeit vom Handel der Internierten mit den Wachen erzählt. Diese erscheinen dabei einerseits als beinahe ebenso feste Bestandteile des Lagers wie die Wachtürme, andererseits als homogene Gruppe, deren Mitglieder »alle« den gleichen Wunsch äußern. Der Erzähler präsentiert die Beziehung zwischen den beiden Gruppen als Handelsbeziehung in einem quasi-touristischen Rahmen. Dass es sich hier aus der Perspektive sowohl der Wachen als auch der Internierten um Geschäfte mit ›dem Feind‹ handelte, spricht er nicht ausdrücklich an, doch durch die erwähnte Bewaffnung der Posten ist ein konfrontatives Setting zumindest angedeutet. Gleichwohl stehen in seiner Schilderung Differenz und Hierarchie zwischen Gefangenen und den bewaffneten Wachen dem Warenaustausch nicht im Wege, sodass sich »gleich« ein »schwunghafter handel« mit »souvenirs« entwickelt. Dieser wird zwar nicht explizit als illegal bezeichnet, doch durch die Verortung am Zaun und durch die Betonung der Unmittelbarkeit zwischen den Internierten und den nebenan lebenden Wachen implizit als unreglementierter und daher illegaler Handel charakterisiert. Erzählstrategisch besitzt diese Darstellung verschiedene Implikationen: Zum einen stellt der Erzähler die Gefangenen als geschäftstüchtige Anbieter begehrenswerter Ware dar, die lediglich auf die starke Nachfrage vonseiten der Wachen reagierten. Als Initiatoren dieser Aktivität erscheinen in dieser Darstellung also die Wachen, denen ein beinahe irrationales Verlangen nach Souvenirs zugeschrieben wird. Zum anderen nivelliert der Erzähler durch diese Thematisierung des Schwarzhandels die Hierarchie zwischen den Internierten und den Wachen, indem er betont, dass das Verhältnis zwischen den Angehörigen beider Gruppen in erster Linie durch Angebot und Nachfrage bestimmt war. Narrativ wird also die hierarchische Machtbeziehung durch eine Handelsbeziehung überformt. Doch darüber hinaus spielt auch die Komplizenschaft zwischen Wachen und Internierten eine zentrale Rolle: Durch die klare Kennzeichnung der Wachen als Mittäter ergibt sich wiederum eine Relativierung der hierarchischen Differenz zwischen Bewachern und Bewachten. Der Zaun erscheint dabei in seiner eigentlichen Funktion außer Kraft gesetzt und wird als

349 Interview Heinz Ricklefs, Z. 296-301.

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Zone dargestellt, die auch Räume öffnen kann. Für den Erzähler scheint dabei weniger der Profit der Seeleute eine Rolle zu spielen – davon ist gar nicht die Rede – als vielmehr die rege Beziehung zwischen den Handelspartnern auf beiden Seiten des Zaunes und das Bewusstsein, etwas zu besitzen, das den Wachen begehrenswert erschien. In dieser Passage relativiert der Erzähler also auch ein Stück weit die soziale Grenzziehung, die der Lagerzaun symbolisierte. Noch deutlicher zeigt sich diese Art des Sprechens über illegalen Handel im folgenden Beispiel, in dem ein anderer Erzähler den Grenzverkehr zwischen Wachen und Gefangenen mit der Thematisierung anderer illegaler Aktivitäten verknüpft. Schwarzgebrannter Alkohol, so erinnerte sich Hans Peter Jürgens, »wurde auf flaschen gefüllt, ja und zwar SPEzielle flaschen, das waren so essigflaschen, so kleine essigflaschen (hm), ich weiß nicht, wie groß die waren, die waren so hoch (.) und so vi=so=so viereckige, nich (hm) oder rechteckige, nich. weiß nicht, wieviel da rein ging, halber liter vielleicht (hm) oder NICHT mal, nicht mal ein halber liter. und (.) das war die standardgröße, wie es gehandelt wurde (hm). und denn der WACHposten abends der nahm die mit raus (ja) tauschgeschäfte (ja) und die verkauften das weiter (hm). das FIEL auf, wie, (.) WEIT weg von unserem lager mal ein autounfall war (.) und äh der=der den unfall verursacht hatte, der war sturzbetrunken und dann hat man die flasche gefunden. wo kommt die her? die gibts ja gar nich im handel? (hm), ne. so essigflaschen (ja). und da ist die polizei da hinterher gegangen und dann hat sie das nachverfolgt, die wurden ernsthaft befragt nach (.) na ja von dem lokomotivführer hab ich das, ne (hm) und dann war plötzlich die eisenbahn mit im spiel (ja). und wo fährt die eisenbahn? da. da an dem lager ((beide lachen)) (2) ja und DA die WACHposten, die HAben so etwas, nich (ja). naja, da war erst=war erstmal was LOS natürlich, aber dann beRUHigte sich bald alles wieder (hm) und (1) denn wurde- (.) REgelmäßig wurde immer ne (1) das lager unterSUCHT, (2) bekamen wir aber immer einen tag vorher bescheid ((lacht)) (hm) von den posten: morgen ist wieder große RAzzia. und dann fand der lagerkommandant immer mal so ein kleines FÄSSchen oder so irgend so etwas (hm) und dann hatte er wieder genügend, um bei seinem (.) skatspiel oder bridgespiel seine gäste (ja) bewirten zu können (ja – lacht). genauso ging das, nich (ja).«350

Jürgens’ Formulierungen vermitteln das Bild eines stabilen Handelsnetzes, in dem sogar standardisierte Verpackungsgrößen im Umlauf sind – offensichtlich gab es eine »standardgröße, wie es gehandelt wurde«. Zwar erwähnt er, dass es sich um Tauschgeschäfte zwischen Seeleuten und Wachen handelte, doch es bleibt unklar, was genau die Seeleute von den Wachen im Gegenzug für den Alkohol bekamen. Die Wachposten erfüllen in diesen kriminellen Strukturen die Rolle von Mittelsmännern: Sie schaffen die Verbindung nach draußen und sind als Schmuggler der verlängerte Arm der Seeleute. Denn die Seeleute konnten den Alkohol zwar selbst herstellen, aber nicht vertreiben, sodass sie die Wachen als Verbündete im illegalen Grenzverkehr brauchten. Anhand einer Geschichte über einen Verkehrsunfall demonstriert Jürgens die Reichweite dieses Handelsnetzes zwischen Seeleuten und Wachen: »WEIT weg von unserem lager« wurde der schwarz gebrannte Alkohol konsumiert; zwischen den Produzenten und dem Unfallfahrer stehen die Wachen und der Loko-

350 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 945-967.

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motivführer als Zwischenhändler. Die Eigen-Räume, die im Lager die Produktion, die Lagerung und den Konsum von Selbstgebranntem ermöglichten, werden hier mit Räumen jenseits des Zaunes verknüpft. Die Wachen werden zudem als Komplizen positioniert, die diese Eigen-Räume aus eigenem Interesse decken und schützen. Ähnlich wie die Episode über begehrte Souvenirs unterstreicht auch diese Geschichte vordergründig die Beliebtheit des Alkohols aus Lagerproduktion, andererseits zeigt sie den hohen Stellenwert des illegalen Grenzverkehrs auch im rückblickenden Selbstbild der Erzähler. Zudem geht es in der Geschichte um eine Grenzverschiebung: Nicht mehr zwischen Bewachern und Bewachten verläuft die Grenze, sondern zwischen dem Kommandanten (der Lagerobrigkeit) und den kanadisch-deutschen Schnapsbrennern und -schmugglern, die auf der Ebene der Narration durch ihre illegalen Aktivitäten zusammengeschweißt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Kommandant als Kontrollinstanz zwar auf der Gegenseite positioniert, jedoch auch in das Konsumentennetzwerk einbezogen wird – zumindest in der Deutung des Erzählers. Auf einer methodologischen Ebene wird anhand beider Beispiele deutlich, dass diese Grenzgeschichten immer auch zur Selbst- und Fremdpositionierung genutzt werden: Wer Geschäfte mit dem Feind macht, perforiert die Grenze und macht sich ein Stück weit frei von Grenzregimes, die lückenlose Überwachung und reibungslose Funktionalität der Grenze anstreben. Die diskutierten Beispiele aus unterschiedlichen Quellen zeigen zum einen, dass die Perspektive der Internierten auf den Zaun nur punktuell greifbar ist. Zum anderen verweisen sie auf die Ambivalenz der Grenze: Die vermeintliche Eindeutigkeit der Einsperrung löst sich im Zuge der multiperspektivischen Mikroanalyse in Vieldeutigkeiten auf. Die Grenze funktioniert nur durch Praktiken, kann durch Praktiken aber auch hintergangen, unterwandert, übertreten oder neu ausgehandelt werden und wirkt dabei auf konkrete und symbolische Raumordnungen ein. In verschiedenen Kontexten und von verschiedenen Akteuren kann der Zaun als Lagergrenze jeweils anders gedeutet werden. Welchen Stellenwert die Materialität des Zaunes in unterschiedlichen Deutungszusammenhängen dabei einnehmen kann, wird an einer Fotografie deutlich, die im Rahmen einer Kanada-Reise von ehemaligen Internierten entstand (vgl. Abbildung 16): Die drei abgebildeten Männer halten ein Stück Stacheldraht der Lagerbefestigung in der Hand, das sie auf dem Gelände des ehemaligen Lagers gefunden hatten. Alle drei berühren den Draht, der sie nicht nur in der fotografierten Situation verbindet, sondern auch durch das gemeinsame Schicksal der Internierung zu einer Erinnerungsgemeinschaft macht. Die Szene erweckt den Eindruck, als ähnele der rostige Draht den »Trophäen des Überwundenen«351, die Martin Scharfe beschreibt: Die sichtliche Freude der drei Männer über dieses Fundstück hat wohl auch damit zu tun, dass der Draht für sie nur noch symbolische Bedeutung, aber keine real einsperrende Funktion mehr besitzt.

351 Scharfe, Martin: Schlangenhaut am Wege. Über einige Gründe unseres Vergnügens an musealen Objekten. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LI/100 (1997), S. 301327, hier S. 315.

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Abbildung 16: Vier ehemalige Internierte auf dem Gelände des früheren Lagers Neys am Lake Superior, 1989

Links im Bild ein Mitarbeiter des Neys Provincial Park. Das vierte Mitglied der Reisegruppe stand hinter der Kamera. Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

Solch ein Fundstück »schafft Genuß […]: das Abgegebene vor sich zu haben, zu betrachten, zu lesen, es wie ein Fremdes und als ein Fremdes zu berühren, abzutasten und zu studieren, es wie eine Jagdbeute genüßlich zu beäugen und zu zerlegen. Auch im Aufbewahrten noch spiegelt sich die Lust des Loswerdens.«352 Herausgelöst aus den materialen und sozialen Strukturen der Einsperrung, ist der Zaun außer Kraft gesetzt. Übrig bleibt die bloße Dinglichkeit des Drahtes, den die drei Männer nun wohl erstmals gefahrlos anfassen durften. In retrospektiven Deutungen fungiert der Zaun also einerseits als überörtliches Signum der Gefangenschaft und zugleich als Zone der Begegnung mit dem Fremden, wie etwa in einem Vers aus Harald Wentzels »Chronologie zur Seefahrts-Legende«, in dem er die Verlegung aus Alas Vallei in Niederländisch-Indien in das Lager Ramgarh in Britisch-Indien kommentiert: »Am Zaun standen jetzt Inder statt Ambonesen, nur der Stacheldraht war schon immer derselbe gewesen.«353 Andererseits kann er zum individuellen oder geteilten Erinnerungsobjekt werden, das gerade auf ein konkretes Lager verweist und dadurch eine Wiederaneignung und Bearbeitung der eigenen Internierungserlebnisse ermöglicht.

352 Ebd., S. 313. 353 Harald Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, Lilienthal 1987/1987, S. 27, Z. 5354. Nachlass Wentzel, Sammlung Peter Kiehlmann.

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E NTGRENZUNGEN UND V ERORTUNGEN : R ÄUME AUSSERHALB DES L AGERS Um uns alles Wald. Direkt neben uns ein See. Im grossen und ganzen eine schöne Landschaft. Auf unserer Bahnfahrt nach dem Camp sahen wir nur Seen und Wälder, ab und zu eine kleine Siedlung. Kanada ist ein schönes Stückchen Erde, schöner wie in den Tropen bestimmt. […] Jetzt wirst Du wohl denken, na der kommt wenigstens herum in der Welt. Aber glaube mir, ich hätte lieber auf die Reise verzichtet, wäre ich frei.«354

Zwar bildete das Internierungslager den Raum, in dem die Internierten die meiste Zeit ihres Aufenthalts in Kanada verbrachten; doch anhand archivalischer Quellen wird die Internierung deutscher Seeleute in Kanada auch als Modus der Raumerfahrung jenseits der Lagererfahrung greifbar. Transporte und Arbeitseinsätze beeinflussten die Art und Weise, wie die Internierten ihren Aufenthaltsstaat wahrnahmen. Diese Erlebnisse wirken auf vielfältige Art und Weise auch in das Erinnern und Erzählen über die Internierung hinein. Dabei bestätigt sich die Annahme, dass die Kontakte zu den Einheimischen prägend für den Internierungsalltag und für das Sprechen über Internierung waren und sich Internierung daher auch hier als Contact Zone erweist. Zu fragen ist also sowohl nach der Konstitution von Wahrnehmungsbedingungen als auch nach Sinnstiftungsstrategien und Deutungskontexten im Zusammenhang mit dem Raum jenseits des Zaunes: Kanada. Kanada erleben: Internierung als Modus der Raumwahrnehmung Die Briefe des internierten Schiffsoffiziers Rudolf Becker zeigen beispielsweise, wie intensiv er sich gedanklich mit Kanada beschäftigte. Vor allem die klimatischen Bedingungen bildeten immer wieder den Gegenstand seiner Briefe an den Vater. Sicher lässt sich diese Themenwahl auch als Reaktion auf die durch die Zensur eingeschränkten Schreibmöglichkeiten begreifen, denn Beobachtungen über das Wetter waren ein denkbar unverfängliches Thema. Doch daraus spricht auch der Versuch, den Angehörigen zu Hause eine Vorstellung davon zu vermitteln, in welcher Hinsicht sich Kanada besonders von Deutschland unterschied. So schrieb Rudolf Becker im Oktober 1942: »Nachdem in den letzten Septembertagen richtiges Winterwetter herrschte mit Eis und Schnee, hat doch noch der Indianersommer mit herrlichem Wetter eingesetzt. Der ist hier viel ausgeprägter und langanhaltender als der Altweibersommer bei uns in Deutschland. Eine andere klimatische Feststellung habe ich hier gemacht. Während man bei uns große Wasserflächen ihrer Eigenschaft als Wärmespeicher wegen schätzt, kommt diesen hier in gewissen Teilen eher eine

354 Auszug aus dem Brief eines internierten Decksjungen aus Kanada, undatiert. PA AA, R 127.907.

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Eigenschaft als Eiskeller zu. Ganz deutlich gilt dies für das Gebiet zwischen Hudson Bai und Oberem See, ein Gebiet mit etwa 220 Frosttagen im Jahr.«355

An anderer Stelle äußerte sich Becker bitter über die abgelegene Lage des Camps in dem vergleichsweise spärlich bevölkerten Land: »Hier sieht man niemand. Ich möchte mal solche geographische Kenntnis von Europa erhalten, wie der Mann vielleicht eine Kenntnis von entlegenen Winkeln in Canada hatte, der der Regierung diesen Platz als geeignet für ein Gefangenenlager empfahl.«356

Nach einer Fahrt ins Krankenhaus zu einer Untersuchung, die im Lager nicht durchgeführt werden konnte, schrieb Becker an seinen Vater: »Die Eisenbahnfahrt dauerte 13 Stunden, aber als Kranker wird man im Schlafwagen 1. Klasse befördert, und da läßt sich so eine Reise schon überstehen. Die Größe der Entfernung darf Dich nicht erschrecken, und Dich auf den Gedanken bringen, daß mir was Ernstliches zugestoßen wäre. Entfernungen sind nichts in diesem Lande.«357

Seit ihrer Ankunft in Kanada hatten die Seeleute immer wieder erfahren, dass das Zurücklegen weiter Distanzen in Kanada zur Normalität gehörte. Der implizite oder explizite Vergleich kanadischer mit deutschen Gegebenheiten ist in vielen der Briefe zu beobachten. So verglichen beispielsweise mehrere Seeleute in ihren Briefen die gebirgige Landschaft um das Lager Kananaskis in Alberta mit der Umgebung des bekannten Urlaubsortes Garmisch-Partenkirchen in Oberbayern, um zu verdeutlichen, wie pittoresk die dortige Landschaft auf sie wirkte.358 Der Vergleich lässt sich als Schreibstrategie verstehen, die dazu diente, den Angehörigen die fremde Welt näherzubringen, indem Unbekanntes in Vertrautes übersetzt wurde. Aus der Perspektive der Gefangenen stellte sich das umgekehrte Problem. Deutschland lag nicht nur geografisch außerhalb ihrer Reichweite. Sich die Veränderungen auszumalen, die der Krieg im Land ausgelöst hatte, überstieg bald die Vorstellungskraft der Gefangenen. Die wenigen gesicherten Informationen, die aus Deutschland ins Lager gelangten, waren deshalb für die Internierten besonders wertvoll: »Vorige Woche kamen Seeleute hier an, die an der Norwegenaktion teilgenommen hatten und während des ganzen Krieges in Deutschland waren. Sie sind für uns ein Lexikon.«359 Im Laufe des Krieges wurde Deutschland für die Gefangenen von einem erinnerten immer mehr zu einem imaginierten Raum. Als der Luftkrieg der Alliierten seinen Höhepunkt erreichte, verfolgten die Seeleute besonders ge-

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Rudolf Becker an seinen Vater, 17. Oktober 1942. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 7. Februar 1942. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 2. November 1941. DSM, III A 3324 b. Das geht aus dem Bericht des Lagerkommandanten von Camp Kananaskis hervor, der über das Schweizerische Generalkonsulat in Montreal und das Eidgenössische Politische Departement am 18. Juni 1942 an die deutsche Gesandtschaft Bern und das Auswärtige Amt in Berlin übermittelt wurde. PA AA, Bern 4275. 359 Rudolf Becker an seinen Vater, 22. April 1940. DSM, III A 3324 b.

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spannt die Nachrichten über Hamburg, wie Rudolf Becker an seinen Vater schrieb: »wir sitzen vor einer Karte und tragen Totalverluste ein. Sicher 80% des Lagers hat irgendwelche familiären Beziehungen nach Hamburg.«360 Das kartografische Verzeichnen der Bombenschäden lässt sich als Versuch verstehen, die spärlichen Informationen zu fixieren und die Veränderungen, die durch den Krieg im eigenen Land und in der Heimatstadt geschahen, zu visualisieren und vorstellbar zu machen. Obwohl die Internierten die Nachrichten aus Deutschland aufmerksam verfolgten, blieb das verunsichernde Bewusstsein, dass sich während der Zeit der Internierung nicht nur das Land, sondern vor allem ihr eigenes Verhältnis dazu tiefgreifend wandelte. Im Herbst 1944 gestand Rudolf Becker seinem Vater: »Ich grüble des öfteren darüber nach, ob ich bei Freilassung aus der Gefangenschaft aus der Fremde in die Heimat oder wieder in die Fremde zurückkehre.«361 Das hatte nicht nur mit den Veränderungen zu tun, die in Deutschland vor sich gingen, sondern auch mit der zunehmenden Aufenthaltsdauer in Kanada, das aus deutscher Perspektive zwar Feindesland war, dem die internierten Seeleute, wie zahlreiche Quellen belegen, jedoch mehrheitlich durchaus offen gegenüberstanden. Kontakte mit dem Canadian Way of Life Auch wenn die Gefangenen das Lager anfangs nicht verlassen durften, bestanden zahlreiche Gelegenheiten, sich mit der kanadischen Gesellschaft vertraut zu machen. Auf andere (nordamerikanische) Internierungskontexte trifft dies ebenso zu: Laura Hannemann hat am Beispiel der USA gezeigt, dass auch Kriegsgefangene, die das Lager nicht verließen, auf verschiedene Weise mit dem Aufenthaltsstaat in Berührung kamen.362 Das gilt auch für Kanada. Rafael A. Zagovec zufolge wurde »[i]n einer Lagerwelt wie der in den USA oder in Kanada, in der materieller Überfluss herrschte und die Kriegsgefangenen die Autonomie besaßen, ihre Umwelt selbst zu gestalten, […] die Kriegsgefangenschaft zu einer exemplarischen Situation, die Einblicke in die gegnerische Gesellschaft als Ganzes zuließ«363. Zeitung und Radio, Bildungsangebote, Konsumgüter und Sportarten bildeten dabei die wichtigsten Medien dieses Kontakts. Den internierten Besatzungsmitgliedern stand eine breite Palette an kanadischen und US-amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften zur Verfügung, darunter Lokalzeitungen sowie die wichtigsten Magazine und überregionalen Tages- und Wochenzeitungen.364 Durch die Lektüre dieser Medien machten sich die Internierten im La-

360 Postkarte von Rudolf Becker an seinen Vater, 24. Oktober 1943. DSM, III A 3324 b. 361 Rudolf Becker an seinen Vater, 6. September 1944. DSM, III A 3324 b. 362 Hannemann, Laura: Gesandte in Fesseln? Kulturtransfer in Kriegsgefangenenlagern des Zweiten Weltkriegs. In: Comparativ 16 (2006), H. 4, S. 179-199, hier S. 183. 363 Zagovec, Rafael A.: »The Mind of the Enemy«. Kriegsgefangenenverhöre und die Moralanalysen der westalliierten Aufklärung. In: Bischof, Günter/Karner, Stefan/Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Zehn Jahre Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Wien/ München 2005, S. 267-286, hier S. 286. 364 Zeitungen: Globe and Mail, Toronto Daily Star, Winnipeg Free Press, Montreal Gazette, Montreal Daily Star, La Presse, The New York Times, Chicago Herald, Christian Science

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ger nicht nur mit der kanadischen Perspektive auf das Weltgeschehen vertraut, sondern auch mit anderen Themen, die das Land beschäftigten. Ein ehemaliger Kriegsgefangener betont die Intensität dieser Annäherung über den Lagerzaun hinweg: »You could literally read yourself into character, history, economy or politics of a nation of which, hitherto, you had known next to nothing. We got acquainted with Canada and the Canadian way of life in a very unobtrusive but equally efficient way.«365 Dennoch sollte die Rezeption solcher Lesestoffe vor Kriegsende nicht überschätzt werden, wie Don Page betont. In Lagern mit vielen nationalsozialistischen Lagerinsassen war die Motivation, durch die Lektüre alliierter Medien allzu große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sich möglicherweise Vergeltungsmaßnahmen auszusetzen, mitunter nicht allzu hoch.366 Auch über das Radio nahmen die Internierten Anteil am Geschehen in der kanadischen Außenwelt. Im Lager Sherbrooke etwa lief das Radio »ununterbrochen von morgens 7.30 bis nachts 9.50 und ist hauptsächlich auf den Montreal Sender CBM eingestellt, ab und zu wird auf den lokalen Sender umgeschalten«367. Neben Nachrichten kamen die Internierten auch in Kontakt mit US-amerikanischen und kanadischen Unterhaltungsmedien; die YMCA kooperierte mit den großen Verleihen Twentieth Century Fox, United Artists und Warner Brothers und sorgte für regelmäßige Filmvorführungen in den Lagern.368 Nachdem deutsche und amerikanische Filme in den Lagern gezeigt worden waren und die Internierten beides vergleichen konnten, erfuhren die YMCA-Mitarbeiter, »that whatever the emotional appeal of these home products may be, a definite technical superiority is readily conceded to the American films«369. Zu Bildungszwecken wurden daneben häufig Produktionen des kanadischen National Film Board in den Lagern gezeigt.370

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Monitor, Der Nordwesten, New Yorker Staatszeitung, Amerikanische Schweizerzeitung – New World sowie die Magazine Time, Newsweek, Illustrated London News, Readerʼs Digest, Life, das im Jahr 1939 nach Abonnentenzahl meistgelesene kanadische Magazin Maclean’s, Magazine Digest, Canadian Forum und Canadian Geographical Magazine. Einzelne Artikel konnten vom Zensor entfernt werden. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 120-121. Angaben zu den Abonnements, die die YMCA für die Internierten abschloss, im Sammelbericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in verschiedenen kanadischen Lagern im Zeitraum von Juli bis September 1945. LAC, MG 28, I 95, 273, File 5. Zu Zeitschriftenabonnements in Kanada während des Krieges vgl. Broad, Graham: A Small price to pay. Consumer Culture on the Canadian Home Front, 1939-1945. Vancouver 2013, S. 51. E.J. Priebe: Thank You, Canada, S. 142. D. Page: Tommy Stone and Psychological Warfare in World War Two, S. 114. Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Sherbrooke (N/42) am 23. September 1943. PA AA, R 127.704. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 122. Sammelbericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in verschiedenen kanadischen Lagern im Zeitraum von Oktober bis Dezember 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. Ebd.

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Auch die Lagerbibliotheken waren ein wichtiges Medium der Annäherung an den nordamerikanischen Way of Life.371 Durch fahrende Bibliotheken der University of Toronto und der McGill University in Montreal erhielten die Internierten nicht nur neuen Lesestoff, sondern kamen indirekt in Kontakt mit kanadischen Bildungseinrichtungen.372 Auch andere Universitätsbibliotheken verliehen Bücher an nahegelegene Gefangenenlager; so stellte etwa die Bibliothek der Queens University in Kingston dem dortigen Lager in Fort Henry Bücher zur Verfügung.373 Mit Kriegsende stieg das Interesse der Internierten an Bildungsangeboten und Informationen über Kanada und andere englischsprachige Länder sowie deren politische Systeme. Von der Lektüre von Zeitungen und Büchern erhofften sich die Internierten zu dieser Zeit nach Einschätzung von Boeschenstein vor allem »a closer view of everyday-life in Canada«.374 Hilfsorganisationen wie die YMCA und der European Student Relief Fund vermittelten daraufhin externe Dozenten für Vortragsveranstaltungen an die Lager. So wurden im Zuge der Reeducation ab 1944 in den Internierungslagern in Quebec Vorträge in Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten veranstaltet. Die an der University of Toronto angesiedelte koordinierende Canadian Association for Adult Education (CAAE) schickte eine Liste mit Vortragsthemen an die Lager, aus denen die Insassen auswählen konnten.375 Geistes- und Sozialwissenschaftler von der Bishop’s University, der McGill University, der University of Toronto und des United Theological College sowie Militärangehörige, Priester, Mitglieder des National Film Board und Vertreter von Hilfsorganisationen hielten englischsprachige Kurse für die Gefangenen ab.376 Neben politischen Themen wie Demokratie und Verfassungsangelegenheiten unterrichteten sie auch amerikanische, englische und kanadische Geschichte und Literatur sowie den »Canadian Way of Life«.377 Die meisten Vorträge wurden auf Englisch gehalten und zum Teil ins Deutsche übersetzt.378 Im Jahr 1943 konnten Gefangene und Internierte sich zudem für ein Fernstudium an der University of Saskatchewan anmelden.379 Im März 1943 waren bereits 34 Studierende aus verschiedenen Lagern in diesem Programm eingeschrieben.380

371 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 121. 372 Die YMCA engagierte sich für die Organisation solcher Bibliotheksdienste. Bericht des YMCA-Sekretärs Dr. Jerome Davis über die Arbeit der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe in Kanada von November 1940 bis Mai 1941. LAC, MG 28, I 95, 272, File 12. 373 War Diary Camp Fort Henry/Kingston (F/31), Vol. 42, November 1943. LAC, RG 24, 15394. 374 Sammelbericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in verschiedenen kanadischen Lagern im Zeitraum von Juli bis September 1945. LAC, MG 28, I 95, 273, File 5. 375 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 134-135. Auger nennt hier auch zahlreiche Beispiele für Vortragsthemen. 376 Ebd., S. 134. 377 Ebd., S. 134-135. 378 Ebd. 379 Sog. »correspondence courses«. Ebd., S. 119. 380 Sammelbericht über den Besuch von Dale Brown, European Student Relief Fund, in verschiedenen kanadischen Lagern im Februar und März 1943. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3.

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Später war auch die Teilnahme an Kursen anderer Universitäten möglich; so vermittelte beispielsweise der European Student Relief Fund einen Interessenten an die University of Toronto.381 Um diese Angebote wahrnehmen zu können, mussten die Internierten über Englischkenntnisse verfügen. Beim Englischlernen wurden die Internierten von den Hilfsorganisationen, vor allem von YMCA und European Student Relief Fund, unterstützt. Nach Ansicht des YMCA-Mitarbeiters Dr. Hermann Boeschenstein sollten die Gefangenen »as much of their time as possible«382 dem Studium der englischen Sprache widmen. Doch Ermutigung war offensichtlich kaum nötig: Die Motivation der Gefangenen, die Sprache ihres Aufenthaltsstaates zu lernen, war nicht erst am Ende des Krieges hoch. Wie sich anhand zahlreicher Berichte nachweisen lässt, bildeten Englisch- und in geringerem Umfang auch Französischkurse einen festen Bestandteil des selbst organisierten Unterrichtsangebots in allen Lagern.383 Boeschenstein bemerkte im Frühsommer 1944: »[…] almost all prisoners of war experience a strong desire to learn the language of the country in which they happen to be at the present time. This accounts for the fact that English comes first as an extra-curricular activity, if indeed it does not form one of the semi-compulsory subjects.«384 Da die Internierten diese Kurse selbst organisierten und im Lager zunächst keine muttersprachlichen Lehrer zur Verfügung standen, lag der Schwerpunkt vor allem auf Textarbeit, was nach Boeschensteins Einschätzung jedoch durchaus Erfolge zeitigte: »[…] if the number of English books requested by various camps is any indication, a reading knowledge of English has become quite prevalent. Progress along this line has been accompanied by the regret that familiarity with the spoken word remains slight for obvious reasons.«385 Um die mündliche Ausdrucksfähigkeit der Internierten zu verbessern, engagierte die YMCA deshalb Anfang 1945 versuchsweise anglokanadische Muttersprachler für Sprachkurse in den Lagern.386 Auch Sportarten transportierten den Canadian Way of Life in die Internierungslager: Mit Begeisterung betrieben die Internierten in allen Lagern den kanadischen Nationalsport Eishockey (vgl. Abbildung 17).387

381 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 120. 382 Sammelbericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in verschiedenen kanadischen Lagern im Zeitraum von Oktober bis Dezember 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. 383 Sowohl Berichte der Hilfsorganisationen als auch Berichte von Vertrauensmännern an die Reedereien lassen diesen Schluss zu, etwa der Brief von Kapitän Aschoff an die HAPAG aus Fredericton (B/70) vom Februar 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4. 384 Sammelbericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in verschiedenen kanadischen Lagern im Zeitraum von April bis Juni 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. 385 Sammelbericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in verschiedenen kanadischen Lagern im Zeitraum von Januar bis März 1945. LAC, MG 28, I 95, 273, File 5. 386 Ebd. 387 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 51. Vgl. auch Abbildung 34 auf S. 420.

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Abbildung 17: Internierte beim Eishockeyspielen in Fort Henry, undatiert

Deutlich zu sehen ist die unregelmäßige Form der Eisfläche, die den beengten Verhältnissen im Festungshof geschuldet war. Offensichtlich sollte der vorhandene Platz bestmöglich ausgenutzt werden. Quelle: Sammlung Fort Henry, Kingston.

Abbildung 18: Internierte beim horseshoe-pitching im Lager Sherbrooke, 1944

Die originale Bildunterschrift lautet: »Horseshoes in the foreground – tennis in the rear. Prisoners are making good use of sports equipment provided by the International Red Cross. They are also learning to play baseball.« Quelle: PA AA, R 127.704.

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Reges Interesse weckte auch das an kanadischen Universitäten populäre lawn-hockey sowie das horseshoe-pitching (vgl. Abbildung 18), dem in ihrer Freizeit auch die Wachen frönten. Dieses Phänomen war auch in US-amerikanischen Lagern zu beobachten.388 Die Beschaffung der nötigen Ausstattung wurde von den Hilfsorganisationen unterstützt. So geht beispielsweise aus einem Dankesschreiben an die YMCA für den Empfang zweier Horseshoe-Sets im Lager Fredericton hervor, dass die Internierten diese Sportart für sich entdeckten.389 Schließlich bildete das Warenangebot der Kantine in verkleinerter Form das Warenangebot außerhalb des Zaunes ab: Die angebotenen Produkte wurden bei großen kanadischen Kaufhäusern und Versandhändlern wie Eaton’s, Simpson’s, Sears und Hudson’s Bay bestellt.390 Die Produktpalette der Kantine in Fort Henry umfasste beispielsweise Pepsi Cola, Coca Cola, Player’s Zigaretten und andere amerikanische und kanadische Tabakwaren, Seife von Lux und Palmolive, Rasierklingen von Gillette und anderes mehr.391 In der Weihnachtsbäckerei verwendeten die Internierten Cranberries statt der in Deutschland üblichen Rosinen.392 Ausblicke: Transporte durch Kanada Durch Medien, Bildungsangebote und Konsumgüter war Kanada also – auch wenn es den Gefangenen zunächst zu weiten Teilen verschlossen blieb – im Lageralltag immer präsent. Schon bevor die Internierten das Lager zum ersten Mal für längere Arbeitseinsätze verließen, entwickelten sie durchaus eine – wenn auch noch nicht durch eigene Erfahrung unterfütterte – Vorstellung vom Leben in Kanada. Die Imaginationen über das Land, in dem sie sich befanden, wurden nicht nur durch die genannten Medien genährt, sondern auch durch den Blick über den Zaun in die Umgebung, ganz gleich ob dort ›nur‹ Landschaft zu sehen war oder, wie in Kananaskis, »Indians […] passing the camp on horseback«393. Auch bei Verlegungen von einem Lager in ein anderes gewannen die Internierten einen Eindruck von der Landschaft. Das bevorzugte Verkehrsmittel für diese Transporte war der Zug; die meisten Lager befanden sich aus diesem Grund auch in der Nähe einer Bahnstation. Aus dem Zug bot sich den Internierten ein distanzierter und oberflächlicher, quasi-touristischer Panorama-Blick auf das Land.394 Gelegenheit dazu hatten sie häufig: Wie sich archivalisch belegen lässt, bildeten Verlegungen einen

388 Gansberg, Judith M.: Stalag USA. The Remarkable Story of German POWs in America. New York 1977, S. 112; L. Hannemann: Gesandte in Fesseln, S. 190. 389 Schreiben vom 14. Mai 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 3. 390 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls E. Baeschlin in Kananaskis (K/130) am 8. und 9. Februar 1944. ACICR, C SC, Canada. 391 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Fort Henry/Kingston (F/31) am 13. Oktober 1942. Sammlung Fort Henry, Kingston, SC 01. 392 Das ergibt sich aus einer Empfangsbestätigung vom 15. Dezember 1942 für eine Gewürzlieferung der YMCA an das Lager Fredericton (B/70). LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). 393 R. Oltmann: The Valley of Rumours, S. 77. 394 M. Reiß: »Die Schwarzen waren unsere Freunde«, S. 91.

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regelmäßigen Bestandteil der Internierung in Kanada.395 »Movements coming fast and furious these days«,396 ist beispielsweise im Mai 1944 im Lagertagebuch von Monteith zu lesen, und auch in anderen Lagern waren die Wachen regelmäßig damit beschäftigt, Gefangene reisefertig zu machen oder neue Insassen in Empfang zu nehmen.397 Keiner der deutschen Seeleute verbrachte seine Internierung in Kanada nur in einem einzigen Lager. Teils war dies dem allmählichen Auf- und Ausbau des Lagersystems mit den entsprechenden logistischen Konsequenzen geschuldet, teils den Arbeitseinsätzen der Gefangenen und in den späteren Kriegsjahren auch der räumlichen Separierung von Nationalsozialisten und Regimegegnern. Am Beispiel deutscher Kriegsgefangener in den USA stellt der Historiker Matthias Reiß dar, dass die »vom Zugfenster aus«398 gesammelten Eindrücke zentrale Bausteine für die Entstehung einer Vorstellung von den USA bildeten. Ausgehend von der touristischen Wahrnehmung der Landschaft machten die Gefangenen Reiß zufolge auf den Verlegungen auch erstaunlich differenzierte gesellschaftliche Beobachtungen.399 Eine Zeichnung des Internierten Otto Ellmaurer (Abbildung 19) illustriert die gängige Verlegungspraxis in Kanada in ironischer Weise. Auf der großen Werbetafel im linken Bildhintergrund, neben der sich eine Bergkette erhebt, werden »SurpriseTrips« angepriesen. Tatsächlich kamen Verlegungen häufig überraschend für die Internierten. Oft wurden die Gefangenen erst zwei bis vier Stunden vorher über eine bevorstehende Verlegung informiert, wobei der Bestimmungsort in vielen Fällen geheim blieb.400 Die auf der Zeichnung genannten Orte waren Lagerstandorte in vier verschiedenen Provinzen Kanadas – Quebec, Ontario, Alberta und New Brunswick. Indem er den Gefangenentransport als Ausflugsfahrt darstellt, präsentiert der Zeichner eine touristische Deutung dieser Verlegungen: Im Anhänger stapeln sich Souvenirs und die Gefangenen – zu erkennen an ihrer blauen Uniform – sitzen in einem überdimensionierten Cabrio mit offenem Verdeck, auf dessen Seite der Schriftzug »from coast to coast« zu lesen ist. Ein Wachsoldat kündigt durch ein Megaphon den ersten Zwischenstopp in Calgary an. Der hervorgehobene Slogan »Join the Nazis and see Canada« auf der Plakatwand im Hintergrund ist eine Anspielung auf den Rekrutierungsslogan der US-Army »Join the Army and see the World«401. In den Memoiren des Zivilinternierten Eugen Spier findet sich eine weitere Variante dieses Slogans, die Internierte bei der Ankunft in Kanada geäußert haben sollen: »Join the in-

395 Es gab detaillierte Ablaufpläne für jeden Transfer von Internierten. Diese enthalten unter anderem Informationen über das Transportmittel, die Größe der Eskorte und den Gepäckversand. z.B. in LAC, RG 24, 15392. 396 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 4, 29. Mai 1944. LAC, RG 24, 15392. 397 Die Häufigkeit der Verlegungen nahm in den Jahren 1945 und 1946 mit wachsendem Arbeitseinsatz der Gefangenen zu. 398 M. Reiß: »Die Schwarzen waren unsere Freunde«, S. 91. 399 Ebd., S. 89-94. 400 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 31. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 401 Ein Beleg für die sprichwörtlich gewordene Verwendung des (älteren) Slogans findet sich beispielsweise in einem Time-Artikel aus dem Jahr 1942: At Home and Abroad. Join the Army, See the World. Time vom 28.09.1942.

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ternees and see the world!«402 Im Gegensatz zu dieser Fassung verweist die im Bild verwendete auf die politischen Ursachen der Internierungssituation. Die mit aufgepflanztem Bajonett am Heck und an der Front des Fahrzeugs postierten Bewacher verdeutlichen, dass die gefangenen Passagiere in der Deutung des Zeichners Touristen wider Willen sind. Damit greift die Zeichnung das populäre Darstellungsmuster vom Krieg als Reise auf, ohne jedoch zu verschleiern, dass es sich dabei um eine hochgradig fremdbestimmte Art des Reisens handelte.403 Abbildung 19: »Join the Nazis and see Canada«

Zeichnung des Internierten Otto Ellmaurer aus der Serie »Humor hinter Stacheldraht«. Anlass für die Entstehung des Bildes war die Verlegung der Internierten aus dem Lager Kananaskis, Alberta, ins Lager Fredericton, New Brunswick, im Jahr 1942. Aus der originalen Bildbeischrift des Zeichners geht hervor, dass die Internierten in Wirklichkeit mit dem Zug transportiert wurden. Quelle: Sammlung David J. Carter, Elkwater, Alberta.

Diese Fremdbestimmung ist auch in anderen Quellen greifbar, oft verbunden mit bestimmten Signalformulierungen, die anonyme Agency vermitteln.404 So schrieb etwa Rudolf Becker im Dezember 1941 an seinen Vater: »Aber schon 4 Tage später ging es wieder auf Umzugsreise durch Canada in neue Hütten. Die landschaftliche Szene hat sich geändert, das ist auch mal wieder ganz gut.«405 Beckers zweiter Satz zeigt, wie eng solche Reisen mit Raumwahrnehmung verknüpft waren. Trotz der Fremd-

402 Spier, Eugen: The Protecting Power. London 1951, S. 145. 403 Köstlin, Konrad: Krieg als Reise. In: Berwing, Margit/Ders. (Hg.): Reise-Fieber. Begleitheft zur Ausstellung des Lehrstuhls für Volkskunde der Universität Regensburg. Regensburg 1984, S. 100-114. 404 Plato, Alexander von: Erfahrungen junger Soldaten im Zweiten Weltkrieg. In: BIOS 11 (1998), H. 1, S. 15-23, hier S. 21. 405 Rudolf Becker an seinen Vater, 14. Dezember 1941. DSM, III A 3324 b.

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bestimmung spricht daraus eine positive Bewertung der Veränderung, da sie die Monotonie des stationären Lageralltags auflockerte. Einblicke: Raumerfahrung und Arbeit Albrecht Lehmann hat am Beispiel der russischen Kriegsgefangenschaft untersucht, wie durch Arbeit Kulturkontakte zwischen Kriegsgefangenen und der Bevölkerung des Gewahrsamsstaates entstanden.406 Auch für andere Kontexte von Kriegsgefangenenarbeit sind enge Kontakte zwischen Gefangenen und ihren Arbeitgebern belegt, gerade in der Landwirtschaft.407 Die quasi-familiäre Beziehung zwischen einem einzelnen Gefangenen und einer Bauernfamilie bildete im Zweiten Weltkrieg und unmittelbar danach in vielen Ländern eine gängige Art der Raumerfahrung im (ehemals) feindlichen Ausland.408 Auch in Kanada bestimmten neben den Verlegungen vor allem die freiwilligen Arbeitseinsätze den Modus der Raumerfahrung. Wie die Internierten das Land Kanada wahrnahmen und bewerteten, hing davon ab, wo sie arbeiteten, welche Art von Arbeit sie dort verrichteten und was sie während dieser Zeit erlebten. Einfluss auf ihre kanadische Arbeitsbiografie hatten sie kaum: Die freiwillige Meldung zur Arbeit war der einzige selbstbestimmte Akt in diesem Prozess; die weitere Disponierung der Arbeitskräfte hing einzig von der Nachfrage der Arbeitgeber ab. In jedem Fall bildete Arbeit für die Internierten einen wichtigen »Erlebnisbereich«.409 Bei der Arbeit lernten die Gefangenen ein überwiegend ländliches Kanada kennen, da sie vor allem in landwirtschaftlichen Familienbetrieben und abgelegenen Holzfällerlagern, in wenigen Fällen auch in Fabriken in den Vororten großer Städte eingesetzt wurden. Dort waren sie mit neuen Eindrücken konfrontiert, die einen Kontrast zum Lagerleben bildeten und zugleich auch eine Wieder-Annäherung an ein Leben in Freiheit ermöglichten. Umgebung, Sprache und die engen Kontakte mit Zivilisten waren den Internierten zunächst fremd, ebenso wie der Umstand, dass sie nicht mehr ausschließlich in großen Gruppen unterwegs waren, sondern zum Teil als Einzelpersonen zu Arbeitgebern geschickt wurden. Auch die landwirtschaftlichen Tätigkeiten und die Holzfällerei waren den meisten Seeleuten neu. Wie Rudolf Becker hatten die meisten Internierten bis dato »mit der Landwirtschaft nicht viel im Sinne«410, sodass sie erst angelernt werden mussten. In Chatham beispielsweise fand im

406 A. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr, S. 96. 407 H. Robel: Vergleichender Überblick, S. 273. 408 Vgl. hierzu etwa May, Herbert: Die zweite Heimat? Ehemalige Fremdarbeiter im ländlichen Franken nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. In: Bayerische Blätter für Volkskunde NF 8/9 (2006/07 [2008]), S. 146-162. 409 Um Kriegserfahrungen möglichst differenziert beschreiben zu können, schlägt Klaus Latzel vor, verschiedene Erlebnisbereiche zu unterscheiden, z.B. Front und Heimat. Das Gefangenenlager wäre dann auch ein solcher Erlebnisbereich, genauso wie die Arbeit. Latzel, Klaus: Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), S. 1-30, hier S. 18. 410 Rudolf Becker an seinen Vater, 25. August 1945. DSM, III A 3324 b.

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Mai 1944 für die Gefangenen zu diesem Zweck eine Schulung im Zuckerrübenziehen statt.411 Vor dem Beginn jedes Arbeitsverhältnisses mussten die Gefangenen schriftlich ihre Arbeitswilligkeit erklären und sich dazu verpflichten, den Aufenthalt außerhalb des Lagers weder für Fluchtversuche zu nutzen noch Schaden an Arbeitsgeräten und Gebäuden anzurichten.412 Man kann deshalb davon ausgehen, dass bei den Internierten, die sich zum Arbeitseinsatz meldeten, zumindest eine prinzipielle Bereitschaft bestand, sich auf Land und Leute einzulassen. Vieles deutet darauf hin, dass die Internierten sehr neugierig auf nähere Kontakte mit der kanadischen Zivilbevölkerung waren. Vor allem die Begegnung mit Frauen war für viele Internierte nach langjährigem Aufenthalt in einer reinen Männerwelt besonders reizvoll. In den meisten Bereichen, in denen Internierte eingesetzt wurden, arbeiteten sie eng mit kanadischen Zivilisten zusammen, sei es, um von erfahreneren Arbeitern angelernt zu werden, sei es als Kollegen mit gleichen oder ähnlichen Aufgaben. Für die Organisation des Arbeitseinsatzes auf Bauernhöfen gab es verschiedene Formen: Üblicherweise arbeitete jeweils ein Gefangener auf einer Farm, bei großen Betrieben aber auch bis zu drei. Manche waren dauerhaft auf der Farm einquartiert, andere kehrten zum Schlafen in ein Work Camp zurück.413 Diese Lager, die auch als Hostels bezeichnet wurden, waren eigens für die Arbeitskräfte angelegt worden; die Gefangenen zogen für eine Saison aus dem Stammlager dorthin um und pendelten meist täglich zur Arbeit.414 Gerade bei den Tageseinsätzen fungierte Essen als wichtiges Medium der Annäherung zwischen den Deutschen und ihren Arbeitgebern. Obwohl die Internierten im Lager ein Lunchpaket erhielten, das als Verpflegung für den Tag ausreichte, bekamen sie von den Farmern oft zusätzliches Essen, wie der CICR-Delegierte Ernest L. Maag beobachtete: »Il n’est pas rare que les fermiers distribuent des suppléments tels que des oeufs durs ou du lait et quelquefois du gâteau […].«415 Eine generelle Erlaubnis, dass Gefangene bei ihren Arbeitgebern übernachten durften, wurde offiziell erst erteilt, nachdem der Kommandant des Lagers Kananaskis den Deutschen eigenmächtig gestattet hatte, für einen Monat auf den Farmen zu wohnen. Es war ihm praktischer erschienen, als den Farmern jeden Tag 25 Meilen Fahrt zuzumuten, nur um ihre Arbeitskräfte aus dem Lager abzuholen und abends

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War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 1, 28. Mai 1944. LAC, RG 24, 15396. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 101. Ebd. Der Genfer Konvention zufolge sollte jedes Arbeitslager einem Stammlager zugeordnet sein, doch vor allem in der Nähe der Arbeitsstelle liegen, um die Transportwege kurz zu halten. Vgl. Conditions of Employment of Prisoners of War. In: Monthly Labor Review 56 (1943), S. 891-895, hier S. 892. 415 »Nicht selten verteilen die Bauern zusätzliche Lebensmittel, wie etwa hartgekochte Eier, Milch oder manchmal Kuchen.« Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Chatham (10) am 10. und 11. Juli 1944. ACICR, C SC, Canada. Übersetzung JK.

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wieder zurückzubringen.416 Als dieses Modell entgegen den Befürchtungen der Behörden reibungslos funktionierte, war ab Juli 1943 der Weg frei für längerfristige Aufenthalte der Gefangenen auf kanadischen Bauernhöfen.417 Anders als die Landwirtschaft, in der viele Internierte nur saisonal eingesetzt waren, bot die Forstwirtschaft das ganze Jahr über Beschäftigungsmöglichkeiten: Im Frühherbst wurden die Bäume gefällt, im Winter wurden die Stämme mit Pferd und Schlitten zu Sammelplätzen transportiert und im Frühjahr nach der Schneeschmelze über die zahlreichen Flüsse und Seen geflößt.418 Es war schwere und gefährliche Arbeit. Die Internierten, die sich zur Arbeit als Holzfäller bereit erklärten, lebten gemeinsam mit einheimischen Waldarbeitern für längere Zeit in Bushcamps weitab der Stammlager, die sich im Norden Ontarios, in Quebec oder in den Foothills der kanadischen Rockies in Alberta befanden.419 Diese Lager waren nicht eigens für die Gefangenen angelegt worden, sondern bildeten ohnehin einen wesentlichen Bestandteil der Arbeitsweise kanadischer lumberjacks:420 Ein Lager bestand so lange, bis die Holzernte in diesem Areal abgeschlossen war; dann wurde es zum nächsten Fällungsgebiet verlegt. Bis in die frühen 1940er Jahre hinein war die Ausstattung dieser Lager so schlicht, dass die Behörden mit Beginn der Kriegsgefangenenarbeit in der Holzindustrie den Firmen empfahlen, die Lager doch etwas komfortabler auszustatten.421 Internierte, die zur Arbeit in ein Bushcamp zogen, wurden zwar von Wachen begleitet, aber eingezäunt waren die Lager nicht – darin bestand eine Besonderheit der kanadischen Internierungssituation.422 Die Nachfrage nach Arbeitsmöglichkeiten vonseiten der Holzindustrie, der Farmer und der Gefangenen war gleichermaßen hoch. Nicht selten kam es vor, dass mehrere Farmer pro Tag Gefangene als Arbeitskräfte anforderten oder dass sich mehrere Hundert Internierte gleichzeitig freiwillig meldeten.423 Den allermeisten Quellen zufolge lief die Farmarbeit der Gefangenen zur allseitigen Zufriedenheit ab. Die Work Camps erhielten entsprechende Rückmeldung von den zuständigen Behörden und vermerkten dies auch im Lagertagebuch, so etwa in Chatham, wo im Juni 1944

416 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 159-160. Die Einquartierung wurde durch Order-in-Council P.C. 5864 vom Juli 1943 gestattet. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 100. 417 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 15. 418 I. Radforth: Bush Workers and Bosses, S. 47. 419 In der Nähe des Lagers Kananaskis (K/130) beispielsweise lagen die Holzfällerlager Marmot, Ribbon Creek und Evans-Thomas Creek. R. Oltmann: The Valley of Rumours, S. 78. 420 Ausführlich zur Entwicklung der Holzfällerlager in Ontario in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe I. Radforth: Bush Workers and Bosses, S. 88-106. 421 Ebd., S. 105. 422 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 88. Zur Besonderheit der Bushcamps vgl. den Bericht über die Besuche des YMCA-Sekretärs Dr. Conrad Hoffman in den Lagern Gravenhurst (C/20), Monteith (Q/23) und Petawawa (P/33) (Sammelbericht), Juli bis September 1945. LAC, MG 28, I 95, 273, File 5. 423 So ist im Lagertagebuch von Monteith (Q/23) am 1. März 1945 vermerkt, dass sich 850 Internierte freiwillig für Farmarbeit meldeten. LAC, RG 24, 15392.

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die Arbeit der Gefangenen auf den Höfen als »very satisfactory«424 bezeichnet wurde. Nur wenige Ausnahmen lassen sich archivalisch nachweisen, wie etwa der Fall eines Internierten, der fünf Meilen zur nächsten Polizeistation lief, weil er die Arbeitsbedingungen auf seiner Einsatzfarm als unerträglich empfand.425 Belegbar ist hingegen, dass manche der arbeitenden Internierten versuchten, Freiräume nach ihrem eigenen Gutdünken auszureizen und ihren Aktionsradius eigenmächtig auszudehnen, um die Kontakte mit der Zivilbevölkerung zu vertiefen. Die Initiative dazu ging in vielen Fällen durchaus von beiden Seiten aus; in den Akten sind Fälle dokumentiert, in denen ein Gefangener unerlaubterweise das Gespräch mit Zivilisten suchte und umgekehrt.426 Schaulustige Kanadier aller Altersgruppen beobachteten häufig, wie die Gefangenen zu ihren Arbeitseinsätzen gebracht wurden. Auch in öffentlichen oder halböffentlichen Räumen trafen kanadische Bürger mit einzelnen Internierten zusammen. Eine Reihe solcher Vorfälle erregte im Mai 1944 den Unmut des Lagerkommandanten von Chatham: »Ps.O.W. have entered taverns, and other buildings frequented by the general public, and have been permitted to associate with members of the public. In some cases they have been permitted to send telegrams or telephone, and pictures have been taken.«427 Die hier nur indirekt angesprochene Rolle der Arbeitgeber, die den Internierten solche Verhaltensweisen erlaubt hätten, wird in einem Zeitungsartikel aus dem Mai 1944 explizit und detailliert beschrieben: »An indication of the attitude the Canadians take to the prisoners was seen in a recent incident in Ottawa: A local farmer came to town with his prisoner to purchase some requirements. While in the city, he decided to have a beer. He went into a tavern. Other customers spotted the prisoner insignia and started a hullabaloo, which resulted in the farmer and his prisoner being asked to leave – minus the beer.«428

Interessanterweise wird dieser Vorfall als Ausdruck einer generellen Haltung der Kanadier gegenüber den Gefangenen interpretiert, wobei unklar bleibt, ob hiermit der kumpelhafte Umgang des Farmers mit ›seinem‹ Gefangenen oder die abwehrende Reaktion der übrigen Gaststättenbesucher gemeint ist. Auch situative Komplizenschaft zwischen Wachen und Internierten spielte im Zusammenhang mit solchen Grenzüberschreitungen immer wieder eine Rolle. So liest man etwa im Lagertagebuch des Camps Chatham vom September 1944, dass zum wiederholten Male Wachen und Gefangene auf dem Weg zum Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers gemeinsam in Obstgärten eingedrungen seien und Früchte gestohlen hätten.429 Die grenz-

424 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 2, 15. Juni 1944. LAC, RG 24, 15396. 425 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 18, 12. März 1946. LAC, RG 24, 15396. 426 Ersteres etwa im War Diary Camp Petawawa (P/33), 1. Juli 1943, LAC, RG 24, 15396. Letzteres beispielsweise im War Diary Camp Chatham (10), 18. Oktober 1945. LAC, RG 24, 15396. 427 War Diary Camp Chatham (10), 22. Mai 1944. LAC, RG 24, 15396. 428 5,500 Nazi Prisoners at Work. Their NSS Rating Ranges from »Indifferent« to »Splendid«. The Financial Post vom 26.05.1944. 429 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 5, Daily Orders, 1. September 1944. LAC, RG 24, 15396.

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überschreitende Kameradschaft erstreckte sich jedoch nicht nur auf verbotene Aktivitäten, sondern umfasste auch gegenseitige Hilfsbereitschaft, wie ein Vorfall aus dem Sommer 1945 unterstreicht: »One party of five P/W with one guard. The guard collapsed and 2 P/W carried him (guard) and one P/W carried rifle to farm house, where another escort was sent after the farmer called in. Guard taken to Chatham Military Hospital.«430

Durch Arbeit erschlossen sich die Internierten ein Stück Kanada, in dem die Überwachung zwar formal noch bestand, jedoch lockerer gehandhabt wurde als im Lager und auch weniger stark sichtbar war, vor allem wenn die Internierten auf der Farm oder im Holzfällerlager wohnten. Trotz des unverändert weiter bestehenden Gefangenenstatus öffnete die Arbeit den Gefangenen neue Räume und versetzte sie in eine neue und besonders intensive Kontaktzone, in der sie eine Vielzahl von neuen Eindrücken sammelten, gerade wenn die Einsatzorte häufiger wechselten. So berichtete Rudolf Becker seinem Vater über die Arbeit in der Landwirtschaft: »Oft kommen wir jeden Tag zu einem anderen Farmer. Dadurch bekomme ich einen ganz guten Einblick in das Leben auf canadischen Bauernhöfen.«431 Dass die Gefangenen sich dabei nicht nur für Fragen der Arbeitsorganisation, sondern auch für den Alltag ihrer Arbeitgeber interessierten, liegt nahe. Besonders die Einkaufsmöglichkeiten jenseits des Lagers scheinen die Internierten so sehr genutzt und genossen zu haben, dass es manchem Lagerkommandanten maßlos erschien. So dokumentiert beispielsweise ein Eintrag aus dem Lagertagebuch von Monteith die Befragung und Durchsuchung von Internierten, die im April 1946 mit erheblichem Übergepäck von ihrem Arbeitseinsatz ins Lager zurückgekehrt waren, »laden with everything but the family piano and the kitchen sink«,432 wie es im Lagertagebuch ironisch heißt. Der Hinweis auf die Fülle an Waren, die die Internierten mit ins Lager brachten, verweist darauf, welch großen Stellenwert neben der Auswahl an Waren auch die Tatsache hatte, dass die Internierten erstmals seit Jahren wieder selbst verdientes Geld ausgeben und im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten nach Gutdünken Besitz erwerben konnten. Dabei war der Einkauf außerhalb des Lagers strenggenommen genauso reglementiert wie der im Lager, doch vieles deutet darauf hin, dass sich die Internierten auch hier Eigen-Räume schufen. Bei gelegentlichen Durchsuchungen, die die Wachen aus den Stammlagern in den Work Camps durchführten, wurden immer wieder beträchtliche Summen an Bargeld sichergestellt.433 Ein weiterer Beweggrund für das ausgeprägte Konsumverhalten der Internierten mag auch das Bestreben gewesen sein, angesichts der unmittelbar bevorstehenden Repatriierung materiell für die erste Zeit in Nachkriegsdeutschland vorzusorgen. Dies geht aus den Briefen Rudolf Beckers hervor; im September 1946 kündigte er seinem Vater an: »Was immer ich für den kommenden Winter für Euch tun kann,

430 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, vol 10, 13. Juli 1945. LAC, RG 24, 15396. 431 Rudolf Becker an seinen Vater, 25. August 1945. DSM, III A 3324 b. 432 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 64, 24. April 1946. LAC, RG 24, 15393. 433 Zum Beispiel: War Diary Camp Monteith, Folder 4, Vol. 56, 26. August 1945. Ebd.

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werde ich vorbereiten.«434 Einen Monat später teilte er seinem Vater mit, dass es erlaubt sei, auf der Heimreise »26 Kubikfuß« (umgerechnet etwa 1 Kubikmeter) Gepäck mitzuführen und folgerte daraus: »Ich werde also soviel mitbringen, wie erlaubt ist und das ist soviel, daß ich es alleine nicht tragen kann.«435 Zudem nutzte er die Möglichkeit, Pakete mit Lebensmitteln und Kleidung nach Deutschland zu schicken, wobei ihm sein Arbeitgeber half: »Vor meinem Abgang von der Farm hat mein Farmer noch je ein Lebensmittelpaket an Dich und Walter abgesandt, außerdem 3 Pakete zu je 11 Pfund mit getragenem Zeug für mich an Deine Adresse. Im Lager gab ich dann persönlich noch die Order für ein Care Paket an Dich auf und in der nächsten Woche wird ein weiteres an meine Adresse in Hamburg folgen. Hoffentlich kommt alles an.«436

Immer wieder wurden im Gepäck der Seeleute auch verbotene Gegenstände entdeckt, die die Internierten nach Deutschland schmuggeln wollten, hauptsächlich Kaffee, Tee, Seife und Tabak.437 Aus der Sicht der Hilfsorganisationen und der kanadischen Behörden dienten die langen Aufenthalte auf kanadischen Bauernhöfen auch der Reeducation der Deutschen. Kanadische Forscher vertreten diese Ansicht ebenfalls; Martin Auger etwa ist der Meinung, dass die Internierten bei der Arbeit aus erster Hand erfahren konnten, welche Vorzüge das Leben in einem demokratischen Land wie Kanada besaß.438 Der zumindest bescheidene Wohlstand, den sie auf den Bauernhöfen antrafen, war ein wichtiger Teil dieser Erfahrung. Denn überall erlebten die Gefangenen die kanadische Wirtschaft in einer Phase des Aufschwungs: Im Gegensatz zu den Jahren der Great Depression vor dem Krieg erhöhte sich der Lebensstandard durch die Vollbeschäftigung in den Kriegsjahren trotz der Rationierung einiger Lebens- und Genussmittel spürbar.439 Die landwirtschaftliche Produktion war 1944 etwa doppelt so hoch wie 1939,440 sodass auch die Farmer vom »post-Depression boom«441 profitierten.442 Dies schlug sich bei vielen Familien in der Anschaffung von Autos und Elektrogeräten nieder,443 die den Aufstieg ihrer Besitzer in die middle class sichtbar machten.444

434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444

Rudolf Becker an seinen Vater, 11. September 1946. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 16. Oktober 1946. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 27. Oktober 1946. DSM, III A 3324 b. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 61, 24. Januar 1946. LAC, RG 24, 15393. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 102. Granatstein, Jack L.: Canada. In: Dear, I.C.B. (Hg.): The Oxford Companion to World War II. Oxford/New York 2001, S. 142-147, hier S. 142. G. Broad: A Small price to pay, S. 43. Ebd., S. 12. Ebd., S. 53. Ebd., S. 155. Ebd., S. 21.

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Diesen beschleunigten technischen Wandel und die Mechanisierung erlebten die Internierten auch in der Landwirtschaft.445 Kanada erzählen: Internierung als Thema narrativer Raumkonstitution Wie nachhaltig die freiwilligen Arbeitseinsätze auf die Internierten wirkten, zeigte sich in den themenzentrierten Interviews. Das Erzählen über diese Phase der Internierung nahm in den Gesprächen viel Raum ein. Ausführlich und voller Begeisterung sprachen die Erzähler von den Erlebnissen aus der Zeit ihres Arbeitseinsatzes. Das Lager hingegen spielte im Gespräch über die Internierung als Schauplatz bestimmter Erlebnisse eine untergeordnete Rolle, sei es aus Gründen der Monotonie, aus Ereignisarmut oder aufgrund der Verdrängung negativer Erfahrungen.446 Verschiedentlich ist beobachtet worden, dass Erinnern mit der Rekonstruktion respektive der narrativen Konstitution von Räumen einhergeht.447 Anhand der Erinnerungstexte und Interviews mit ehemaligen Internierten lässt sich darstellen, welche narrativen Strategien die Erzähler und Verfasser einsetzen, um jenes Kanada narrativ zu vergegenwärtigen, das sie im Zuge ihrer Internierung und im Rahmen von Arbeitseinsätzen kennengelernt hatten. Dabei geht es auch um die Frage, welche Strategien die Befragten einsetzten, um die für sie relevante (sozial-)räumliche Information über Kanada im Interview zu vermitteln.448 Welche Themen ziehen die Erzähler zur Konstitution dieses Raumes heran und welche Erzähltechniken setzen sie dabei ein? Wie konstituieren sie dadurch Handlungs- und Erlebnisräume und wie positionieren sie sich selbst in diesen Räumen?449 Bei der raumbezogenen Analyse der Texte zeigt sich, dass die Gesprächspartner durch ihre Geschichten ein dichtes Netz aus vorwiegend sozial definierten Orten knüpften. Diese treten im Interview als Schauplätze konkreter Begebenheiten auf und

445 So stieg etwa die Zahl der Traktoren auf Farmen in Ontario von 35.000 im Jahr 1941 auf 105.000 im Jahr 1951 an. Reaman, G. Elmore: A History of Agriculture in Ontario. Volume Two. Toronto 1970, S. 176. Fotografien aus der Sammlung Bruno Pichner zeigen beispielsweise das Nebeneinander von Pferdegespannen und Maschinen bei der Farmarbeit; während bei der Holzfällerei selbst noch Rückepferde zum Einsatz kamen, wurden die Stämme anschließend oft bereits mit Trucks weitertransportiert. Andere Bilder belegen Ausflugsfahrten der Internierten und ihrer Arbeitgeber mit dem Auto. 446 Zu Routinen und Ereignisarmut als Ursachen für Erzählschwierigkeiten siehe Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt am Main 1995, S. 79. 447 Lehmann, Albrecht: Wald als »Lebensstichwort«. Zur biographischen Bedeutung der Landschaft, des Naturerlebnisses und des Naturbewußtseins. In: BIOS 9 (1996), H. 2, S. 143-154, hier S. 143. 448 Zu narrativen mapping strategies siehe Ryan, Marie-Laure: Cognitive Maps and the Construction of Narrative Space. In: Herman, David (Hg.): Narrative Theory and the Cognitive Sciences. Stanford 2003, S. 214-242, hier S. 218-219. 449 Zu Fragen der narrativen Positionierung siehe Bamberg, Michael: Positioning between structure and performance. In: Journal of Narrative and Life History 7 (1997), S. 335-342.

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bilden zusammengenommen verschiedene (Erfahrungs-)Räume, die aus ihren eigenen Erlebnissen und Deutungen und der daraus resultierenden cognitive map gespeist sind.450 Während beispielsweise Joachim Liedtke die Erwähnung von Wegen und Wegbestandteilen, Richtungsangaben, Ausgangs- und Zielpunkten von Bewegungen sowie Distanzen als wichtige »Raum-Indikatoren«451 begreift, die zusammen mit den verbsemantischen Raumbezügen Rückschlüsse auf die narrative Raumgestaltung zulassen,452 zeigt sich bei der Analyse der hier untersuchten Quellen, dass Orte für die Erzähler wesentlich wichtiger sind als Wege. Dass die Wege zwischen zwei Orten kaum einmal näher thematisiert werden, spiegelt die Fremdbestimmung der Transporte wider, die »schicksalhafte Namenlosigkeit des Herumgeschicktwerdens im Krieg«.453 Räume werden daher im Interview von den Orten aus konstituiert, an denen die Internierten sich wiederfanden. Diese sind nicht topografisch, sondern sozial bestimmt; zudem wird ihnen eine spezifische Erlebnisqualität zugeschrieben. Verbunden werden die einzelnen Orte nicht durch Wege, sondern durch den Rahmen der Internierung. Wie jede narrativ hergestellte oder literarische Welt bleiben die in Interviews und in Erinnerungstexten konstruierten Räume notwendigerweise fragmentarisch,454 da sie aus der Perspektive der Erzähler, also von ihren eigenen Erlebnissen und Handlungen her, konstituiert werden. Damit kommt in den Interviews und Erinnerungstexten die nach Marie-Laure Ryan gängigste narrative »mapping strategy«455 zum Einsatz, nämlich die Integration räumlicher Informationen entlang der erzählten Ereignisse und Erlebnisse, »by linking the disclosure of spatial information to the actions of characters«.456 Diese Art der Raumkonstitution ist gekoppelt mit einer sozialen Verortung, die sich wie ein roter Faden durch die meisten Texte zieht. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, weshalb bestimmte Punkte für die Erzähler besondere narrative Relevanz gewinnen und andere ausgeblendet werden. »Ganz woanders«: Kanada als Gegenwelt Die meisten meiner Gesprächspartner passierten im Zuge ihrer Kriegs- und Internierungserlebnisse drei oder mehr Länder. Sie erzählten ihre Internierungserlebnisse in der Regel als chronologische Abfolge dieser Stationen: Der Gefangennahme auf hoher See folgte der Weitertransport in ein Durchgangslager und nach einiger Zeit in

450 Zum Verhältnis von cognitive maps und Narration siehe M.-L. Ryan: Cognitive Maps and the Construction of Narrative Space, S. 217. 451 Liedtke, Joachim: Narrationsdynamik. Analyse und Schematisierung der dynamischen Momente im Erzählprodukt. Tübingen 1990, S. 146-151. 452 Zu verbsemantischen Raumbezügen siehe ebd., S. 151-154. 453 Niethammer, Lutz: Heimat und Front. Versuch, zehn Kriegserinnerungen aus der Arbeiterklasse des Ruhrgebietes zu verstehen. In: Ders. (Hg.): »Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll«. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet. Berlin/Bonn 1983, S. 163-232, hier S. 172. 454 Bridgeman, Teresa: Time and space. In: Herman, David (Hg.): The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge 2007, S. 52-65, hier S. 63. 455 M.-L. Ryan: Cognitive Maps and the Construction of Narrative Space, S. 219. 456 Ebd.

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ein permanentes Lager, woran sich schließlich der Transport nach Kanada anschloss. Dabei fällt zunächst auf, dass die Entfernung zwischen Kanada und England oder Westafrika (wo einige der Befragten sich unmittelbar vor der Überfahrt aufhielten) bzw. der Weg dorthin von fast allen Befragten narrativ verkleinert wurde – es geht »rüber nach Kanada«.457 Hierin spiegelt sich möglicherweise die berufsspezifische Perspektive und Sprache von Seeleuten, die in einer Atlantiküberquerung nichts Außergewöhnliches sahen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich zudem, dass die räumliche Distanz zwischen Kanada und dem letzten Aufenthaltsort davor für die Erzähler offensichtlich keine Rolle für die Beschreibung und Bewertung dieses Raumes spielt. Viel wichtiger erscheint die qualitative Kontrastierung zu den Ländern, die sie vor und nach ihrem Aufenthalt in Kanada passierten. Durch diese Gegenüberstellung verschiedenartiger Räume erreichen die Erzähler narrativ eine Abgrenzung Kanadas als distinktem und eindeutig positiv bewertetem Erfahrungsraum. Als wichtigste Kontrastfolien dienen dabei England und Deutschland. Die grundsätzliche Gegensätzlichkeit dieser Staaten wird anhand verschiedener Themen aus dem Erlebnisbereich der Internierung untermauert und mit unterschiedlichen sprachlichen Mitteln explizit und implizit verhandelt. Dabei spielen auch zeithistorische Wissensbestände über Gefangenschaftsbedingungen in anderen Ländern, auch in Deutschland, eine wichtige Rolle. Allen Texten gemeinsam ist, dass mit Kanada positive Erfahrungen verknüpft werden, denen jeweils negative Erlebnisse in anderen Ländern gegenübergestellt werden. Das wichtigste Kriterium der Kontrastierung ist die Qualität und Menge der Verpflegung. In vielen Texten wird sie als geradezu unwirklich dargestellt und dient so dazu, Kanada eindeutig von anderen Ländern abzusetzen. Erzählstrategisch eignet sich die üppige Verpflegung besonders gut dazu, die Einzigartigkeit der kanadischen Internierung gegenüber anderen Internierungssituationen hervorzuheben. Denn im öffentlichen Erinnern an Krieg und Gefangenschaft, vor allem an die russische Gefangenschaft, dominiert das Motiv des Hungers und seiner Folgeerscheinungen, was sich auch in der wissenschaftlichen Literatur über Kriegsgefangenschaft widerspiegelt.458 Dass die Internierung in Kanada mit Hunger nichts zu tun hatte, wurde beispielsweise im Interview mit Hans Plähn deutlich. Anhand des Themas Essen markiert er Kanada als Gegenbild zu England: »in england war hungern, hunger, hunger, nich. ja (hm). (3) sieh und, naja kanada war- dachten wir, dass wir da AUCH verschaukelt wurden, nich, erst, konnten wir das ja kaum glauben, nich. kriegten da gleich so ein paket mit (.) brot und butter und alles diese=äh klein in abgepackten (hm). ja und da müsst ihr mit auskommen, morgen krie=kriegen wir erst einen küchenwagen, nich, drangehängt, nich (hm), dass=solange müsst ihr damit klarkommen (hm). und wir haben gelacht: meint ihr, dazu wollen wir morgen ne ration (hm) sozusagen, nich? nee, war tatsäch-

457 Interview Bruno Pichner, Z. 241; Interview Hans Plähn, Z. 179; Interview Heinz Ricklefs, Z. 270. 458 Beispielsweise A. Lehmann: Zwangskultur – Hungerkultur.

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lich, nächsten mittag kriegten wir warm, nich (hm). ja (ja). so und denn bin ich denn- dat war dat erste lager in kanada.«459

Hier zeigt sich außerdem, dass gerade die Ankunft in Kanada als raumzeitliche Schwellensituation einen wichtigen Moment der untersuchten Narrationen bildet. Durch die Thematisierung der Skepsis, mit der die Internierten nach den schlechten Erfahrungen in England die Reise nach Kanada antraten, und das Hervorheben der üppigen Verpflegung in Kanada wird die Gegensätzlichkeit der beiden Länder betont und die positive Bewertung Kanadas plausibilisiert, so auch im Interview mit Hans Peter Jürgens: »und wie wir in kanada gelandet waren, äh also- […] war (2) machte sich eigentlich das beWUSSTsein bereit, dass die sich ja VÖLLig versehen hatten mit unserem proviant usw. ((lacht)), wir waren (.) ganz woanders gelandet auf einmal (ja).«460 Dass aus Sicht der Gefangenen mit dem Wechsel des Kontinents eine neue Ära begann, die die vorangegangenen Erlebnisse buchstäblich aus dem Gedächtnis löschte, macht auch die starke Zäsur deutlich, die Harald Wentzel in seinem Erinnerungsbericht mit der Ankunft in Kanada verknüpft. Wentzel schreibt: »[…] die hinter uns liegenden Zeiten waren vergessen – denn hier gab’s auf einmal ungewohnt gutes Essen«461. Auch bei der Erzählung der Rückreise wird das Thema der Verpflegung für eine Kontrastierung von Kanada und England genutzt, wie etwa in Franz Renners Begründung für die freiwillige Verlängerung seines Arbeitsaufenthalts in Kanada: »wir haben gesagt, wir bleiben noch hier (ja). wenn wir geFANGen sind, dann bleiben wir lieber in KAnada (ja), in england gibt es NICHTS, nichts zu essen, nich«.462 Ein zweites Thema, anhand dessen meine Gesprächspartner Kanada von anderen Ländern absetzten, ist die großzügigere und komfortablere Unterbringung der Gefangenen. Bruno Pichner beispielsweise verpackte dieses Thema metaphorisch: »es HELLte sich äh bei uns erst auf als wir nach kanada kamen. da gab es äh ordentliche UNterbringung […].«463 Als weiterer Aspekt der Kontrastierung dient die Behandlung durch die Wachen bzw. der Umgangston in England und in Kanada. Nachdem Hans Plähn im Interview von den diesbezüglich unangenehmen Erfahrungen in England berichtet hatte, bemerkte er: »mit den kanadischen jungs da war ja auch ganz anders um=umgehen, nich.«464 Der gleiche Gegensatz bestätigte sich für ihn auf der Rückreise: »und dann ging es von da, nich (.) rüber nach england (JK: hm) wieder. und das war MIES, nich, england, nich (JK: hm).«465 Hier wird deutlich, dass viele Erzähler ausgehend von konkreten, situativ verankerten Einzelerfahrungen zu generalisierenden Aussagen über das jeweilige Land gelangten. Pars pro toto steht das je-

459 Interview Hans Plähn, Z. 184-193. Ähnliche Passagen finden sich bei Bruno Pichner, Z. 548-550. 460 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 922-926. 461 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 30, Z. 27-28. 462 Interview Franz Renner, Z. 725-727. 463 Interview Bruno Pichner, Z. 1081-1083. 464 Interview Hans Plähn, Z. 444-445. 465 Ebd., Z. 468-469.

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weilige Lager, in dem man schlechte oder gute Erfahrungen gemacht hat, für das ganze Land. Etwas anders verhält es sich mit Erzählungen über das deutsche Entlassungszentrum Munsterlager, das die Befragten als einzelnes Lager aus der Reihe der anderen Internierungsorte herausheben, ohne ihm jedoch eine Stellvertreterposition für Deutschland zuzuschreiben. Doch auch Munsterlager wird, etwa im Interview mit Franz Renner, als implizite Kontrastfolie zu Kanada eingesetzt, denn »das war das ÜBELste lager (2), äh (2), was ich je (.) gehabt habe.«466 Mein Gesprächspartner beschrieb die Kälte, die mangelhaften hygienischen Verhältnisse – er zog sich die Krätze zu – und den unfreundlichen Umgangston des Wachpersonals und verwies dabei auch auf die Prägung seiner Wahrnehmungsbedingungen durch den langen Aufenthalt in Kanada: »ganz furchtbare zustände und WIR kommen aus KANADA. wir haben jeden tag MINdestens EINmal geduscht (hm), nich (hm). da waren wir natürlich besonders empfindlich gegen (klar) so was wie (ja) KRÄtze (ja, ja) und so, nich«.467 Im selben Atemzug brachte er Kanada explizit zu Deutschland in Opposition: »wir hatten=wir hatten schon geSPOTtet (.) während des krieges in kanada. gut, dass wir nicht in deutschland in gefangenschaft sind (.) nich, (jaja) können wir FROH sein.«468 Ob während der Internierung tatsächlich derart offen über die deutschen Verhältnisse gespottet werden konnte oder ob es sich um eine Rückprojektion handelt, sei dahingestellt. In der Passage zeigt sich jedoch die oben angesprochene Bedeutung zeitgeschichtlicher Wissensbestände für die Präsentation von Bewertungen im Interview besonders deutlich. Die Befragten und Verfasser der Erinnerungstexte konstituieren Kanada also als eigenen, distinkten Erlebnisraum innerhalb ihrer Erzählungen vom Interniertsein. Sowohl Ankunft als auch Abreise aus Kanada werden als deutliche Zäsuren dargestellt. Als Kriterien dienen vor allem Verpflegung, Unterkunft, Hygiene und Umgangston – die Aspekte, die für den weitgehend fremdbestimmten, durch Freiheitsberaubung und Zwang geprägten Alltag der Internierten wesentlich waren. Die Konstruktion von Kanada in mündlichen und schriftlichen Erinnerungen ist also untrennbar mit den konkreten Internierungserfahrungen und ihrer subjektiven Bewertung verbunden. Sprachlich wird diese Bewertung oft durch eine irreale oder superlativische Überhöhung der Erlebnisse transportiert. Bruno Pichner beispielsweise bezeichnet den Lake Superior, an dessen Nordufer sich das Camp Neys befand, als »riesig«,469 »so GROSS wie die ostsee«.470 Diese ist in Wahrheit allerdings knapp fünfmal so groß wie der Lake Superior. Pichners hyperbolischer Vergleich betont die fundamentalen Unterschiede in den räumlichen Dimensionen Deutschlands und Kanadas, ei-

466 Interview Franz Renner, Z. 1007-1008. 467 Ebd., Z. 1015-1018. 468 Ebd., Z. 1018-1022. In Äußerungen wie dieser ließe sich auch eine Variante des von Hans Joachim Schröder beschriebenen Topos »Glück gehabt« sehen. Siehe H.J. Schröder: Die gestohlenen Jahre, S. 882. 469 Interview Bruno Pichner, Z. 821-823. 470 Ebd.

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nem Land, in dem die Seen so groß sind wie andernorts das Meer.471 Kanada erscheint aber nicht nur als Gegenwelt, wenn man es mit Deutschland vergleicht, sondern vor allem auch mit vorangegangenen Internierungssituationen. Harald Wentzel etwa bezeichnet in seinen Erinnerungsgedichten sehr häufig das Erlebte als »unglaublich«, etwa die Tatsache, dass die Seeleute beim Essen Messer benutzen durften472 oder dass »Schnee in unglaublichen Mengen«473 vom Himmel fiel. Damit bringt er zum Ausdruck, dass diese Eindrücke, gerade das »phantastische Essen«,474 extrem stark vom bis dato gewohnten Erfahrungshorizont abwichen. Die Gegenwelt, als die Kanada hier interpretiert wird, zeichnet sich dadurch aus, dass nahezu alles »unglaublich« ist. Zugleich wird Kanada in den Interviews als Raum eines guten Lebens konstituiert, den der Erzähler als Mitglied einer privilegierten Gruppe erlebt: »ein besseres leben konnten wir gar nicht kriegen«.475 Anhand von Briefquellen lässt sich belegen, dass dieser Eindruck des Unglaublichen nicht bloß eine rückblickende Idealisierung ist. Im Jahr 1942 schrieb ein Internierter aus Kanada an seine Eltern: »We have now arrived into an actual Fairyland (Schlaraffenland). In a few words, I may say that I am satisfied, and have no more wishes. Please refrain from sending parcels. That would be senseless, as everything can be had here.«476 Bereits während der Internierung besaßen also zumindest einige der Betroffenen ein Bewusstsein für ihre privilegierte Lage, die stets an den geografischen Raum rückgebunden wurde, in dem sie sich befanden. In den Erinnerungstexten sind es neben der Verpflegung vor allem die »grossartige Tierwelt«477 und die Natur, an der sich diese superlativische Überhöhung zeigt: »DAS (hm) war ja (1) das TOLLste, diese NORDLICHter, wie das denn so SPIELte da und immer in beWEgung war, DAS war schon etwas besonderes. also DAS habe ich geNOSSen.«478 Durch diese Art der narrativen Vergegenwärtigung des Raumes machen die Gesprächspartner auch ein Stück weit plausibel, weshalb sie damals dauerhaft in Kanada bleiben oder nach der Repatriierung schnellstmöglich

471 Albrecht Lehmann bezeichnet den Landschaftsvergleich als ein zentrales Erzählthema. Lehmann, Albrecht: Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens. Berlin 2007, S. 97. 472 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 30, Z. 43. 473 Ebd., S. 32, Z. 26. 474 Ebd., S. 31, Z. 48. 475 Interview Hans Plähn, Z. 276-277. 476 Auszug aus der Übersetzung eines Briefes eines Internierten an seine Eltern, 23. April 1942. Zitiert im Bericht des Lagerkommandanten über das Camp Kananaskis (K/130), der über das Schweizerische Generalkonsulat in Montreal und das Eidgenössische Politische Departement am 18. Juni 1942 an die deutsche Gesandtschaft Bern und das Auswärtige Amt in Berlin übermittelt wurde. PA AA, Bern 4275. Graham Broad erwähnt in seiner Studie über die kanadische Konsumkultur während der Kriegsjahre, dass der Topos von Kanada als Schlaraffenland auch in Briefquellen von englischen war brides thematisiert wird, die während des Krieges aus Europa nach Kanada kamen. G. Broad: A Small price to pay, S. 38. 477 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 33, Z. 12. 478 Interview Bruno Pichner, Z. 1009-1011.

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dorthin auswandern wollten. Das Scheitern dieser Pläne resümierte Hans Plähn im Interview mit den Worten: »und das war dann der TRAUM von kanada«.479 Hier wird Kanada als »Wunschraum«480 greifbar, wie er Gisela Sigrists Analyse zufolge auch in deutschen Reiseberichten vor allem seit Beginn des 19. Jahrhunderts vermittelt wird.481 Mit der überaus positiven und gegenweltlichen Darstellung Kanadas in den analysierten Interviews korrespondiert Sigrists Feststellung, dass besonders in Reiseberichten aus den 1980er und 1990er Jahren »das Bedürfnis der Besucher, in Kanada all das zu suchen, was in Deutschland nicht mehr zu finden ist«,482 ein zentrales Motiv bildete. Die hierbei eingesetzte Technik der Kontrastierung ist ein gängiges Mittel der Konstruktion exotistischer Positivbilder im Rahmen von Reisenarrativen.483 Die strengen kanadischen Einwanderungsbestimmungen, die den meisten Deutschen die Zuwanderung erst ab den 1950er Jahren erlaubten, ließen Kanada aus der Perspektive der einwanderungswilligen Internierten zu einem versperrten Raum werden. Enttäuschte Hoffnung, nostalgische Verklärung sowie die Erinnerungen an das eigene Jungsein spielten sicher eine Rolle für die Entstehung solcher überhöhender Darstellungen von Kanada als einer Art gelobtem Land. Wie an den bisher genannten Beispielen deutlich wird, sind die Kriterien für diese Bewertung vor allem Essen und Versorgung, Behandlung und Umgangston, Freiheiten sowie Integration bzw. Inklusion. Die kanadischen Erlebnisse bilden also im Medium der Erzähltexte und Interviews den universalen Gegenentwurf zu negativen (Gefangenschafts-)Erlebnissen, die durch Mangel, hierarchisch-distanzierten bis feindlichen Umgangston, Unfreiheit und soziale Exklusion gekennzeichnet sind. Kanada als Erlebnisraum Wie oben anhand archivalischer Quellen skizziert, waren die Arbeit und die mit ihr verbundenen Aufenthaltsorte der Schlüssel zur Raumerfahrung für die Internierten. Entsprechend den hauptsächlichen Einsatzgebieten Land- und Forstwirtschaft bilden das Holzfällerlager und die Farm die beiden wichtigsten Schauplätze der Erzählungen über die Arbeit. Der Aktionsradius der Internierten wird dabei oft nur angedeutet, wie bei Hans Plähn: »So habe ich überall […] gearbeitet«484, »ich war viel unterwegs«.485 Arbeit fungiert als Leitthema für die narrative Raumkonstitution in Interviews und Erinnerungstexten und schafft zugleich den narrativen Rahmen für die Deutung von Kanada als positivem Erlebnisraum. Das wird umso deutlicher, wenn man diese Thematisierungen von arbeitsbedingten Transporten außerhalb des Lagers mit der Schilderung der Rückkehr ins Stamm-

479 Interview Hans Plähn, Z. 1218-1219. 480 Sigrist, Gisela: Kanada – Wunschraum, Kanada – Wunschtraum. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 45 (1995), H. 2, S. 208-218, hier S. 208. 481 Ebd. 482 Ebd., S. 216. 483 Reif, Wolfgang: Zivilisationsflucht und literarische Wunschräume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1975, S. 15. 484 Interview Hans Plähn, Z. 256-257. 485 Ebd., Z. 1202.

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lager nach dem Ende des Arbeitseinsatzes vergleicht. Wenn Hans Plähn berichtet, »und da wurden wir denn wieder rein als gefangene«,486 dann drückt sich in dieser sprachlichen Realisierung sehr deutlich aus, dass er die Verlegung als fremdbestimmt betrachtete. Die passive Agency in dieser Passage vermittelt die Erfahrung der lozierenden Gewalt, die den Körper eines anderen als im Raum »verschiebbare Masse«487 behandelt. In dieser Formulierung zeigt sich aber auch, dass mit dem temporären Wechsel aus dem Lager nach draußen und umgekehrt eine subjektiv empfundene Statuspassage verknüpft wird, die keine objektive Entsprechung hatte, da die Internierten auch während ihres Arbeitseinsatzes Gefangene blieben. In der narrativen Verhandlung jedoch scheint die Arbeit den Gefangenenstatus vorübergehend aufzuheben oder doch zumindest stark in den Hintergrund zu drängen. Dabei findet häufig eine implizite oder explizite Deutung des Arbeitseinsatzes als Erlebnis statt. Mein Gesprächspartner Bruno Pichner beispielsweise machte deutlich, dass einzig die Arbeit ihm dieses Erlebnis ermöglichte, das in der Rückschau gar die ganze Internierung durchdringt und überformt. An mehreren Stellen im Interview verwendete er den Begriff »Erlebnis« zur Charakterisierung seiner Zeit in Kanada: »und dann kam dieses im WALD arbeiten bei der pigeon TIMber company, die äh ganz NAH, also eben über die schienen rüber DA in wald rein, DA sind mehrere holzfällerlager. und denn habe ich es gemacht. und ich bin FROH, dass ich das gemacht habe. dadurch habe ich- dadurch ist die (.) geFANGENschaft (.) ein (.) erLEBnis geworden.«488

Durch die punktuelle Wahl des szenischen Präsens als Erzählzeit – »da sind mehrere holzfällerlager« – vergegenwärtigt Bruno Pichner seine Erinnerungen auf besonders unmittelbare Weise und stellt eine große emotionale Nähe zu den Erzählinhalten her.489 Pausen und Betonungen heben in diesem Abschnitt die beiden zentralen Begriffe »Gefangenschaft« und »Erlebnis« hervor. Für die Erlebnishaftigkeit zählt offensichtlich nicht die Entfernung zum Lager; schließlich habe sich, so Bruno Pichner, das Holzfällerlager »ganz NAH« am Camp befunden. Entscheidend ist vielmehr eine bestimmte Qualität des Raumes, die in der zitierten Passage zunächst nicht näher beschrieben wird. Auch bei der Analyse anderer Interviews zeigt sich, dass der Raum durch die Arbeit an verschiedenen Orten nicht nur erfahrbar, sondern schließlich auch erzählbar wird. Als Leitkategorie erweist sich das ›Erlebnis‹ – nur diejenigen Punkte werden erzählt und erzählbar, denen eine Erlebnisqualität zugeschrieben werden kann. Diese besteht, Harald Schöndorf zufolge, prinzipiell darin, dass »bestimmte Widerfahrnisse, die wir als sehr eindrücklich erfahren, […] sich uns tiefer als anderes einprägen, […] einen höheren gefühlsmäßigen, emotionalen Beiklang besitzen als andere Bewußtseinszustände. […] In einem speziellen Sinn sprechen wir […] von Erlebnissen,

486 487 488 489

Ebd., Z. 467. J.P. Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, S. 106. Interview Bruno Pichner, Z. 881-885. Zum szenischen Präsens als Mittel des Nacherlebens siehe Schwibbe, Gudrun: Erzählungen vom Anderssein. Linksterrorismus und Alterität. Münster u.a. 2013, S. 30.

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wenn wir Erfahrungen von besonders ausgeprägter Art machen.«490 Das vermittelt auch die folgende Passage aus Bruno Pichners Erinnerungstext: »Es gab so viel zu erleben. Nach der langen Zeit im Gefangenenlager spürte man einen Hauch ›Freiheit‹.«491 Pichners Thematisierung seiner Freiheitsempfindung und die Verknüpfung mit einer ausgeprägten Erlebnisqualität des Aufenthalts machen deutlich, dass ein Erlebnis, wie Schöndorf meint, »nicht allein von außen kommt, sondern […] ein deutliches Stück unseres Innenlebens, unseres Selbst ausmacht«492. Die Erlebnisqualität des Arbeitsaufenthalts in Kanada, die diesen Raum für die Erzähler auch in der Retrospektive so eindeutig definiert, rührt also nicht nur aus den neuen und überwältigenden äußeren Eindrücken, sondern auch aus einem inneren Bewegt-Sein, das anhand äußerer Eindrücke und Begebenheiten erzählbar wird. Eine Strategie, diesen erlebten Raum erzählbar zu machen, ist der Einsatz von Anekdoten. Einerseits fungiert der Raum als Bühne für das anekdotische Geschehen,493 andererseits lässt die anekdotische Erzählweise auch Rückschlüsse auf den Raum als Erlebnisraum zu.494 Dieser Raum ist für den Erzähler durch das anekdotisch wiedergegebene, selbsterlebte Geschehen geprägt und gewinnt vor allem daraus seine Relevanz als Erzählstoff. Die Anekdote mit ihrer »Tendenz zur Charakterisierung eines weiteren Hintergrundes durch ein repräsentatives Momentbild«495 wird als Mittel eingesetzt, um implizit einen Erlebnisraum zu konstruieren und diesen mit Belegerzählungen zu füllen, die die Erlebnisqualität auch für den Zuhörer nachvollziehbar machen. An der folgenden Geschichte aus dem Interview mit Bruno Pichner wird deutlich, wie diese Anekdoten in das Setting – ein Holzfällerlager im kalten kanadischen Winter – eingepasst sind und dabei auch raumbezogene Informationen transportieren: »und da HINTen (1), that’s the shit house (ah ja) ((lacht)) way back out und eines tages passierte es- äh das ist ja immer EIS und dann (.) kommen da richtig so äh TÜRme (hm), wo man WAS MACHT, kommt denn so oben drauf (hm) und geFRIERT. und die müssen denn ab und zu mal so UMgestoßen (hm) werden, ne. und eines tages da hat mal einer geraucht, und äh=äh zigarette da rein geworfen (hm) und da ist ja denn immer noch ein bisschen papier so (atmet ahnend ein, hm) und denn: shit house in flame ((lacht)) (oje), (3) dann BRANNte das, aber das haben die dann schnell gelöscht, ne.«496

490 Schöndorf, Harald: Erlebnis und Wirklichkeit. In: Heckmair, Bernd/Michl, Werner/Walser, Ferdinand (Hg.): Die Wiederentdeckung der Wirklichkeit – Erlebnis im gesellschaftlichen Diskurs und in der pädagogischen Praxis. Alling 1995, S. 23-39, hier S. 25-26. 491 Erinnerungstext Bruno Pichner, Sammlung Bruno Pichner. Hervorhebung im Original. 492 H. Schöndorf: Erlebnis und Wirklichkeit, S. 27. 493 Zu Raum als Bühne für narrative Ereignisse siehe M.-L. Ryan: Cognitive Maps and the Construction of Narrative Space, S. 215. 494 Bausinger sieht die »mehr oder weniger realistische Wiedergabe von Erlebnissen und Ereignissen« als Merkmal der Anekdote, aber auch des Schwanks, vgl. Bausinger, Hermann: Formen der »Volkspoesie«. Berlin 21980, S. 222. Auch Grothe versteht die Anekdote als Text, der eine »bemerkenswerte, unbekannte Begebenheit« erzählt, siehe Grothe, Heinz: Anekdote. Stuttgart 21984, S. 14. 495 H. Bausinger: Formen der »Volkspoesie«, S. 220. 496 Interview Bruno Pichner, Z. 953-960.

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Durch die Einleitung »eines tages passierte es« und die pointierte Zuspitzung auf »shit house in flame« gibt Pichner dieser Geschichte anekdotische Züge. Die angedeutete Schlichtheit der sanitären Verhältnisse (die Toilette ist nicht im Haus, sondern »way back out«) und das unwirtliche Klima skizzieren den Schauplatz der Geschichte, sind aber auch darüber hinaus als räumliche Elemente von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der Anekdote. Kanada als Freiraum: Das Holzfällerlager Auch wenn ›Erlebnis‹ eine Bezeichnung ist, die in den Augen der meisten Befragten ihren gesamten Arbeitseinsatz in Kanada treffend charakterisiert, verdichtet sich diese Erlebnisqualität doch vor allem in Berichten über die Arbeit als Holzfäller. Das Holzfällerlager nimmt in den Erzählungen von Kanada eine besondere Stellung ein. Es ist ein Schauplatz, in dessen narrativer Vergegenwärtigung die subjektive KanadaErfahrung meiner Gesprächspartner kaum von der (europäischen) Faszination für das Leben in der nordamerikanischen Wildnis zu trennen ist.497 Die Begeisterung, mit der meine Gesprächspartner vom Holzfällerlager erzählten, erinnert in mancher Hinsicht an exotistische Erzählweisen, die den »Mythos von der unberührten Natur der fremden Ferne«498 beschwören. Das mag paradox anmuten, waren doch die Seeleute mit nichts anderem beschäftigt, als den in den Interviews überhöhten Wald abzuholzen; doch diese Widersprüchlichkeit ist exotistischen Erzählmustern auch in anderen narrativen Kontexten inhärent.499 Nachvollziehbar erscheint, dass das Holzfällerlager gerade durch seine periphere und isolierte Lage einzigartige Erlebnisse ermöglichte, die in starkem Kontrast zur bisherigen Lebenswelt der Internierten standen (vgl. Abbildung 20 und Abbildung 21) und die deshalb in den Erzählungen häufig romantisch überformt auftreten. Die narrative Konstruktion dieses Erlebnisraumes ist in die Verhandlung bestimmter Themen eingebettet. Vor allem anhand der Tierwelt und der klimatischen Bedingungen veranschaulichten die Erzähler das Setting, wobei sie spezifische Erzähltechniken einsetzten. Den Umstand, dass die Holzfällerei harte, unpopuläre Arbeit am Rand der Gesellschaft war, deuten die Erzähler zu einer einzigartigen, privilegierten Erlebnissituation mit einem Hauch von Abenteuer um.500

497 Dorothee Wierling spricht von »Formungsgewohnheiten«, die in der narrativen Umsetzung von Erinnerungen sichtbar werden können. D. Wierling: Oral history, S. 115. 498 Pickerodt, Gerhard: Aufklärung und Exotismus. In: Koebner, Thomas/Ders. (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt am Main 1987, S. 121-136, hier S. 135. 499 Das zeigt beispielsweise Thomas Koebner am Beispiel der Lederstrumpf-Romane von J.F. Cooper. Koebner, Thomas: Geheimnisse der Wildnis. Zivilisationskritik und Naturexotik im Abenteuerroman. In: Ders./Pickerodt, Gerhard (Hg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt am Main 1987, S. 240-266, hier S. 243. 500 Diese Idealisierung ist möglicherweise auch im Berufsfeld selbst begründet: Klaus Schriewer weist in seiner Studie zu Waldarbeitern in Hessen darauf hin, dass dieser Beruf beträchtliches Potenzial zur Romantisierung und Folklorisierung besitzt und sich solche Tendenzen teilweise auch in der Selbstpräsentation der Akteure widerspiegeln. Vgl.

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Abbildung 20: Internierte beim Flößen im Bushcamp 77, ca. 1944

Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

Abbildung 21: Mittagspause im Holzfällerlager 77, ca. 1944

Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

Schriewer, Klaus: Waldarbeiter in Hessen. Kulturwissenschaftliche Analyse eines Berufsstandes. Marburg 1995, S. 49-50.

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Durch manche dieser Geschichten konstruieren sie das Holzfällerlager auch implizit oder explizit als Freiraum. Die Freiheit machen sie nicht am Fehlen eines Zaunes fest, sondern an den vielen Betätigungsmöglichkeiten, die die Internierten dort hatten: »und=und wir konnten beinahe ALLes machen dort (hm), nich, ja. bären gejagt-«.501 Harald Wentzel illustriert die empfundene Freiheit des Holzfällerlagers in seinem Erinnerungsgedicht auch durch die Thematisierung kreativen Handelns, das widerständige Praktiken und die Schaffung von Eigen-Räumen beinhaltet: »Zum Erholen von der Arbeits-Fron Hatten wir diverse Gedanken immer schon, so legten wir am See-Ufer einen Blumengarten an und alle, alle hatten ihre helle Freude daran. Sogar eine Sorte Kolibri verirrte sich hierher – das zu begreifen, fiel uns, soweit im Norden, schwer. Wir bauten zu zweit – wer, wusste hier jeder, ein Boot aus einer ›besorgten‹ dicken Zeder, sorgten fuer 2 Masten, Segel aus Matratzentuch und damit war das Fahrzeug schließlich gut genug uns am Feierabend auf dem See zu tummeln und zu paddeln als sonst im Lager herumzufummeln; Hauptsache war: wir konnten mal wieder segeln wie gelernt, nach allen Regeln. Die Canadier staunten ueber all das Geschehen – So etwas hatten sie noch nie hier gesehen. Spaeter wurden auch leichtere Boote gebaut, alles ›Einbaeume‹, den Indianern abgeschaut.«502

Vor exotischer Kulisse lässt Wentzel hier die in den Wald verpflanzten Seeleute ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, teils unter Rückgriff auf bewährte Bootsmodelle unter Segel, teils durch die Imitation der Kanu-Bauweise der Ureinwohner. Die Nennung der drei verschiedenen Gruppen – Seeleute, Kanadier, Indianer –, die hier durch den Bericht über den Bootsbau zueinander in Beziehung gesetzt werden, unterstreicht die Darstellung des Holzfällerlagers als vielschichtige Kontaktsphäre. Der Stolz der Seeleute auf das eigene Boot spiegelt sich im Erstaunen der »Canadier« wider, das zudem veranschaulicht, dass Fremdheitszuschreibungen wechselseitig verliefen und antizipiert wurden. Aus der Sicht der einheimischen Holzfäller waren die Internierten Fremdkörper, die nie dagewesene Praktiken mitbrachten; aus der Perspektive der Internierten war neben der Arbeit vor allem die Umgebung fremd. Denn im Wald oder im »Busch«, wie einige Gesprächspartner in Anlehnung an die englische Bezeichnung im Interview sagten, begegneten die Internierten dem Land auf eine völlig andere Weise als zuvor im Internierungslager. Auch im Gegensatz zum sprichwörtlich gewordenen, mythisch aufgeladenen, dabei jedoch domesti-

501 Interview Hans Plähn, Z. 300-301. 502 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 34, Z. 7-24.

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zierten deutschen Wald503 repräsentiert der »Busch« in den Erinnerungstexten einen urwüchsigen und fremden Raum, einen »space of alterity«.504 Dennoch zeigt die narrative Funktion des Waldes durchaus Züge des von Albrecht Lehmann untersuchten deutschen und mitteleuropäischen Waldverständnisses. Hier wie dort fungiert der Wald in lebensgeschichtlichen Interviews als »Metapher für Natur«505 und zeigt sich zugleich als »Gegenwelt zur Zivilisation der Städte«.506 Die Kontrastfolie ist dabei eine doppelte: Der Wald bildet im Rahmen der Internierungserfahrung nicht nur eine Gegenwelt zum Lager, sondern im Zuge der Lebensrückschau auch eine Gegenwelt zum späteren Berufsleben der Seeleute. Gerade aufgrund dieser lebensgeschichtlichen Einzigartigkeit nimmt die Waldarbeit eine herausgehobene Stellung in den Kriegserinnerungen ein.507 Als fremd und faszinierend charakterisierten meine Gesprächspartner das Holzfällerlager anhand seiner (geografisch nicht näher spezifizierten) Lage im Wald, einer bestimmten Beschaffenheit der umgebenden Landschaft, der Blockhütte508 als ikonischem Element sowie anhand des unmittelbaren Kontakts zur Tierwelt in den »Urwäldern«509 Kanadas. Tiere, vor allem solche, die in Deutschland nicht oder nicht mehr heimisch sind, spielen eine zentrale Rolle bei der narrativen Konstitution dieser »Wildnis«510 und unterstreichen ihre Exotik. Auch in Briefen von Internierten werden wilde Tiere erwähnt, um den Angehörigen daheim eine Vorstellung von der Exotik der Umgebung zu vermitteln: »Jeden Abend kommt ein grosser Bär an das Lager, einmal habe ich ihn mit zwei Jungen gesehen.«511 In den Interviews und Erinnerungsberichten nennen die Erzähler eine Fülle von Tieren, deren Sichtung für sie ein Erlebnis war: »da kamen ja auch noch die (.) die BÄRen oder soGAR (1) sogar äh (.)

503 Zur historischen Herleitung der spezifischen Beziehung der Deutschen zum Wald und zur Konstruktion des deutschen Waldes als mythischem Raum vgl. Lehmann, Albrecht: Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald. Reinbek bei Hamburg 1999; Schumann, Kerstin: Mythos Wald – Ein Beitrag zur deutschen Mentalität. In: Beckmann, Uwe/Freese, Birgit (Hg.): Hölzerne Zeiten. Die unendliche Karriere eines Naturstoffes. Hagen 1994, S. 15-22. 504 Fludernik, Monika: Identity/alterity. In: Herman, David (Hg.): The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge 2007, S. 260-273, hier S. 264. 505 A. Lehmann: Wald als »Lebensstichwort«, S. 145. 506 Ebd., S. 146. 507 Hierin besteht eine Analogie zu Lehmanns Feststellung, wonach emotional aufgeladene Kindheits- und Jugenderinnerungen, die den Wald thematisieren, in biografischen Interviews besonders lebendig präsentiert werden, »wenn auf die zugrundeliegende Kindheitsund Jugenderfahrung ein Leben in der Stadt folgt.« Ebd. 508 So wies zum Beispiel Bruno Pichner im Interview explizit darauf hin, dass er im Winter 1945/46 mehrere Monate in einer Blockhütte gelebt hatte. Interview Bruno Pichner, Z. 1012-1013. 509 So die Wortwahl von Heinz Ricklefs im Interview, Z. 397. 510 Wentzel, Harald: Seefahrts-Legende (Original). Lilienthal [1986], S. 13, Z. 35. 511 Auszug aus dem Brief eines Internierten aus Monteith an seine Frau, 24. Oktober 1941. PA AA, R 127.705.

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WÖlfe, wölfe (.) haben wir da erlebt, oh gott.«512 An anderer Stelle ruft der Befragte geradezu ekstatisch aus: »hier, DAS NATURerlebnis! (hm) im BUSCH! Mit pferden ARbeiten! ELCHE kamen und haben hier geäst! und UND (.) BÄren (hm), ALLES, ALLES war DA!«513 In dieser Passage spiegelt sich eine Überwältigung durch die Natur, die fast romantische Züge trägt. Nur an wenigen Stellen wird dieses idyllische Bild durch kleinteilige Naturbeobachtungen detailliert: »HIER, die äh=äh MOose (el-) äh ELche (hm), ja, moose. die (.) fraßen denn die äh WURzeln von den äh SEErosen (aha). die tauchen mit dem kopf denn so unter (hm) und denn kommen sie mit der=mit der GROSSen wurzel von den äh SEErosen (wieder an die oberfläche) kommen sie denn wieder hoch, ne«514

Genaue Schilderungen wie diese dienen nicht nur dazu, die Szenerie anschaulich zu beschreiben, sondern geben dem Gesprächspartner auch die Gelegenheit, mir sein durch eigene Beobachtung erworbenes Expertenwissen zu präsentieren. Die Sichtung eines Elchs am Seeufer bildet auch ein gängiges Motiv auf Zeichnungen von Internierten (vgl. Abbildung 22), sodass man den Elch wie den Bären als (Bild-)Topos in den Kanada-Erinnerungen der ehemaligen Internierten einstufen kann. Abbildung 22: »Moose!«

Postkarte Nr. 15 aus einer Serie von Zeichnungen, in der ein Seemann seine Internierungserlebnisse darstellte. Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

512 Interview Bruno Pichner, Z. 976-977. 513 Ebd., Z. 840-842. 514 Ebd., Z. 1311-1315.

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Die genannten Elemente und die Vielzahl an neuen sinnlichen Eindrücken verwendet auch Harald Wentzel in seinem Erinnerungsgedicht, um das Holzfällerlager plastisch darzustellen. Sein Resümee der Zeit im Holzfällerlager transportiert eine quasiromantische Naturästhetik und das Gefühl des Erhabenen,515 das der intensive Kontakt mit der Natur im Wald offenbar im Verfasser auslöste: »Dieses Jahr im Busch, in Natur und Wildnis, wurde eins der schoensten, als Erlebnis – angefangen mit dem farbpraechtigen Herbstlaub, ueber die herrliche Luft ohne Staub, den tiefverschneiten Winterwald, oft bis 40 Grad minus kalt – die mannigfaltige Tierwelt mit Baeren am Haus, Woelfen, Rotwild, Schneehuhn und Grouse – Das naechtliche Heulen der Wolfsrudel am See Bei taghellem Mond ueber tiefem Schnee – Mit Frostaufbruch der berauschende Fruehling – Die Natur war hier alles, der Mensch nur gering.«516

In dieser Passage setzt Wentzel visuelle, sensorische und akustische Eindrücke ein, um dem Leser zu vermitteln, worin für ihn das besondere Erlebnis im Holzfällerlager bestand. In den Interviews jedoch kommen Beschreibungen dieser Szenerie nicht vor. Stattdessen präsentierten die meisten Erzähler während des Gesprächs umfangreiches Bildmaterial. Besonders Bruno Pichner ersetzte Beschreibungen dadurch, dass er mir zahlreiche Fotos, aber auch eigene Zeichnungen zeigte: »da, so sah das aus (hm), im sommer«.517 Das Zeigen von Bildern erscheint hier als Erinnerungstechnik, die zwar auf mich als Interviewerin bezogen ist, jedoch auch den Erzähler einbezieht. Auch andere Gesprächspartner verwiesen beim Erzählen auf Bilder oder orientierten sich in der Gestaltung ihrer Erzählung an einem Album.518 In solchen Passagen wird das Interview zum dichten Gewebe aus Bild und Text, dessen Aussage in der Gestalt als Transkript ohne Bildebene aufgrund der situativ-referenziellen Indexikalität der Äußerungen plötzlich brüchig erscheint:519

515 T. Koebner: Geheimnisse der Wildnis, S. 241. Zum Wald als spezifisch romantischem Topos siehe auch Jung-Kaiser, Ute: Der Wald als romantischer Topos. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Der Wald als romantischer Topos. 5. Interdisziplinäres Symposion der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Frankfurt am Main 2008, S. 13-35. 516 H. Wentzel: Seefahrts-Legende, S. 13, Z. 35-46. Grouse ist ein Moorhuhn. 517 Interview Bruno Pichner, Z. 1336-1337. 518 Zur Bedeutung von Fotoalben für das mündliche Rekapitulieren biografisch relevanter Erlebnisse siehe J. Kestler: Kriegsgefangenschaft und Weltreise, S. 71. 519 Daran wird überdeutlich, was Christine Oldörp meint, wenn sie von »Ver-Anderung« mündlicher Inhalte durch die Transkription spricht. Oldörp, Christine: Verschriftlichen. Von der Ver-Anderung des Sprechens in der Schrift. In: Simon, Michael (Hg.): Bilder. Bücher. Bytes. Zur Medialität des Alltags. 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für

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»HIER ist unser LAger, hier die HÜtte haben wir selber- DIEse waren schon DA, hier ist die öff=äh=OFFice und hier war unser (.) essraum, der war hier so lang und HIER habe ich erst gewohnt, nachher haben wir dieses ding gebAUT äh aus äh=äh BAUMstämmen, ne ((klopft auf das album)) und da habe ich dann nachHER drin gewohnt. hier in DIESen da wohnten die((lacht)), da wohnten die äh=äh=äh die kaNAdier (hm), die ALTen, die äh so eine sonderstellung hatten.«520

Kanada als Raum persönlicher Bewährung und des Lernens Der Hinweis meines Gesprächspartners, die Hütte selbst »aus […] BAUMstämmen« gebaut zu haben, ist ein Beispiel dafür, wie die Befragten Kanada auch als Raum des Lernens und der persönlichen Bewährung deuteten. Im ausgewerteten Material finden sich zahlreiche Belege dafür, dass die Möglichkeit, sich in neuen Tätigkeiten auszuprobieren, wesentlich für die Entwicklung eines positiven Kanada-Bildes war. In der gesamten Zeit der Internierung und in besonderem Maße während des Arbeitseinsatzes konnten die Internierten in neue Rollen schlüpfen: Holzfäller, Landarbeiter, Bäcker, Zahnarztassistent etc. Diese Tätigkeiten werden in Erinnerungstexten als Herausforderung charakterisiert und zugleich als Chance zur Bewährung in fremden sozialen und naturräumlichen Kontexten gedeutet. Die retrospektive Verhandlung dieser Rollenwechsel transportiert häufig eine (Um-)Deutung der Internierung als Bereicherung und lässt sich als Sinnstiftungsstrategie begreifen. Einerseits nutzen die ehemaligen Internierten das Sprechen über räumliche oder klimatische Gegebenheiten, um sich selbst als besonders belastbar zu zeigen, andererseits wird Kanada durch die Erzählung von geglücktem Lernen und Erfolg als Raum körperlicher, sozialer und intellektueller Bewährung konstituiert. So bezeichnet beispielsweise Harald Wentzel den Zustand der Seeleute nach einem Jahr im Holzfällerlager als »fit, drahtig und hager«.521 Die Thematisierung von vielfältigen, an spezifische Räume gekoppelten Erfahrungen positioniert den Erzähler als Person, die widrige Umstände nicht nur übersteht, sondern sogar daran wächst. Verweise auf schwierige Bedingungen und Erfolgsgeschichten erlauben den Erzählern implizite positive Selbstaussagen, ohne das Selbstlobtabu zu brechen. Je nach Kontext präsentieren sie sich dabei als Experten oder Gewinner. Gerade im Zusammenhang mit körperlicher Abhärtung werden in den Interviews und Erinnerungstexten häufig bestimmte Merkmale des borealen Klimas im Norden Ontarios thematisiert. So betonte ein Gesprächspartner, dass man zwar im Lake Superior baden, es darin aber aufgrund der selbst im Hochsommer niedrigen Wasser-

Volkskunde in Mainz vom 23. bis 26. September 2007. Münster 2009, S. 408-416. Zur Indexikalität als Säule qualitativer Forschung siehe J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 91-92. 520 Interview Bruno Pichner, Z. 947-953. Die erwähnte »Sonderstellung« der älteren und erfahreneren Holzfäller innerhalb einer Rotte erläutert Klaus Schriewer: Waldarbeit gestern und heute. In: Beckmann, Uwe/Freese, Birgit (Hg.): Hölzerne Zeiten. Die unendliche Karriere eines Naturstoffes. Hagen 1994, S. 95-104, hier S. 102-103. 521 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 34, Z. 29.

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temperatur von 12° Celsius »nicht lange aushalten«522 konnte. Auch Hans Peter Jürgens interpretierte die Wassertemperatur des Lagerschwimmbades von 13° Celsius als Gelegenheit zur Abhärtung: »man gewöhnte sich daran bei dreizehn grad zu baden (hm – lacht).«523 Abbildung 23: Internierungserinnerung als Collage

Eine Seite aus Bruno Pichners Aufzeichnungen über seine Arbeit als Holzfäller in Kanada. Rechts oben die Vokabelliste, die auch im Interview thematisiert wurde. Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

522 Interview Franz Renner, Z. 460-461. 523 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1190.

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Häufig berichteten die Erzähler auch vom schneereichen und kalten kanadischen Winter. Er spielt eine wichtige Rolle für die narrative Raumkonstitution, weil er die Landschaft transformiert. Bruno Pichner etwa präsentierte den Schnee als Bestandteil seiner alltäglichen Raumerfahrung: »das war meine ERste farm, das farmhaus (hm). und SO weit weg (.) war die toilette (hm). da musste man durch den schnee STApfen ((lacht)).«524 In manchen Erzählungen wird vor allem die lebensfeindliche Seite dieser klimatischen Bedingungen unterstrichen. Franz Renner beispielsweise erzählte im Interview von einem Mitgefangenen, der bei Schneesturm aus dem Stammlager zu fliehen versuchte, jedoch rasch gefasst wurde: »und den nächsten tag (.) da ließ der kommandant uns antreten, da der oberst cam- der oberstleutnant campbell und ihn ließ er vorführen, den betreffenden, und sagte, harry fischer, hieß der: fischer, wenn du NÄCHStes mal das beDÜRFnis hast, bei einem BLIZzard (.) auszurücken, dann sag uns beSCHEID, wir öffnen dann das TOR (hm). dann hast du keine mühe, dann kannst du gehen und bist in etwa zwei stunden verreckt (hm) (.) vor kälte (hm), nich, damit du bescheid weißt.«525

Indem der Kommandant den Internierten ihre lebensgefährliche Ahnungslosigkeit vor Augen führt, fungiert er in dieser Episode zunächst als einheimischer Experte für die Witterungsverhältnisse. Gleichzeitig trägt er auch Züge eines cultural brokers.526 Auch in anderen Texten machen die Erzähler klar, dass dieser spezifische Raum Anpassungsleistungen erforderte; Harald Wentzel etwa resümiert: »es gab viel zu lernen im harten kanadischen Winter«,527 und verknüpft damit den räumlichen Topos vom harten kanadischen Winter mit Lernerfahrungen. Eine andere Art des Lernens wird im Interview mit Bruno Pichner verhandelt. Das Thema ist die englische Sprache. Zu den Erinnerungstexten, die er seit den 1980er Jahren verfasst hatte und die er im Interview ausführlich kommentierte, gehört eine ebenfalls nachträglich angelegte Vokabelliste (vgl. Abbildung 23), die er im Gespräch mit mir einerseits dazu nutzte, mir das Leben im »bushcamp«528 näher zu beschreiben: »HIER habe ich immer jeden tag was ZUgelernt (hm), ne. corduroy road. was ist corduroy? (keine ahnung) corduroy- guck mal HIER, (2) dieses (2) corduroy ist SAMT (hm) und so werden die WEge gemacht (angelegt), ne also nur holz quer, quer, quer, stück darunter und da links und rechts, das ist eine corduroy road (hm. hm), ne. und äh LUNCHbox (hm), das hatten wir daHINten, ne. smock, das ist dieser, wo der- OHne (.) ÖFFnung, ja hier am HALS, aber das konnte man dicht machen, dass nirgendwo SCHNEE (.) REINfällt (hm). das ist extra eine KLEIdung für (.) holzfäller, dass sich- äh schnee fällt immer an einem äh runter. […] CORD, das ist ein CORD. so ein ding, ha=ha=äh=VIER fuß (.) mal VIER fuß (.) mal ACHT fuß, so ein 524 Interview Bruno Pichner, Z. 518-520. 525 Interview Franz Renner, Z.424-430. 526 Bailyn, Bernard/Morgan, Philip D.: Introduction. In: Dies. (Hg.): Strangers within the Realm. Cultural Margins of the First British Empire. Chapel Hill 1991, S. 1-31, hier S. 21. 527 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 32, Z. 54. 528 Bruno Pichner sprach im Interview wiederholt vom »bushcamp«, z.B. Z. 547, 553, 560, 570.

312 | G EFANGEN IN K ANADA ding haben wir (hm) äh so einen haufen haben wir dann immer täglich äh zurechtgesägt (hm), ne. JAA, ja und (.)- ACH so, das geht weiter! ACH so, ausdrücke ((beide lachen)), neue ausdrücke, ah da HEMlock, das ist diese- OHH mensch, nun weiß ich das DEUTsche wort nicht, äh für den BAUM. äh=äh balsam=BALsamtree (hm). äh wie heißt der auf deutsch? weiß nicht, BALsamtree sagt man auch. na, HIER ist er ja. spruce (.) ist=ist die TAnne, unsere tanne. PINE, das ist äh kiefer. TAmarack ist die äh lärche. BALsamtree. ja. da muss wohl doch ein kleiner- weiß ich nicht mehr und poplar, das ist die äh=äh die pappel (pappel, hm).«529

Andererseits präsentierte er mir dabei sein Wissen und prüfte gleichzeitig meines. Den Lernraum, den die Internierung für Bruno Pichner mit sich brachte, reinszenierte er im Interview, wobei die Vokabelliste als Dokument seines Bildungserfolgs eine wichtige Rolle spielte. Ausgehend davon tauchte Pichner regelrecht ins Englische ein und zeigte sich als Experte in Fragen der Waldarbeit. Bohlenwege, Berufsbekleidung, das cord als Standardraummaß der Holzwirtschaft sowie verschiedene Baumarten – die Nennung all dieser Elemente transportiert auch räumliche Informationen und trägt somit zur narrativen Ausgestaltung und Vergegenwärtigung des Raums bei.530 Indem der Erzähler zeigt, dass er dieses Vokabular beherrscht, beweist er seine Sach- und Sprachkompetenz sowie seine Vertrautheit mit der sprachlich als fremd charakterisierten Sphäre. Betrachtet man die Verwendung des Englischen in den übrigen Interviews, so lassen sich diese Begriffe aber auch als Mittel der mehrfachen Positionierung verstehen. Einerseits dient das Englische dazu, die Erzähler sprachlich in dem erzählten sozialen Setting zu verorten. Die englischen Elemente im Interview lassen sich als Nachhall der intensiven Auseinandersetzung mit dieser Sprache während des Aufenthalts in Kanada begreifen und verweisen zugleich auf die enge Kopplung von Spracherwerb und Arbeit. Die hohe Dichte englischer Wendungen in den Interviews lässt zudem vermuten, dass die temporäre Kontaktzone der Interniertenarbeit nur unter Zuhilfenahme des Englischen erzählbar ist. Andererseits ist der Einsatz englischer Begriffe auch ein Mittel, in der Interviewsituation Selbst- und Fremdpositionierungen vorzunehmen. Indem sie Englisch sprechen, transformieren die Erzähler das Interview in einen zweisprachigen Raum, was sich möglicherweise auch als Annäherung an die erzählte Situation interpretieren lässt. Doch vor allem ermöglicht die Verwendung des Englischen den Gesprächspartnern eine Selbstpositionierung gegenüber mir als Interviewerin und zugleich eine Fremdpositionierung meiner Person: Sprecher, deren Äußerungen stark mit englischen Elementen durchsetzt sind, betonen nicht nur ihre eigene Nähe zum englischen Sprachraum und zur vergangenen Kontaktzone, sondern machen mir als Interviewerin auch meine Fremdheit gegenüber diesem Bereich deutlich.531 Die zweite Sprachebene kann also nicht nur als kurzer

529 Ebd., Z. 851-868. 530 Zu den Fachbegriffen aus der Holzfällerei vgl. Elsevier’s Wörterbuch der Holzwirtschaft in sieben Sprachen. Band 2: Produktion, Transport, Handel. Zusammengestellt von Dr. h.c. W. Boerhave Beekman. München/Basel/Wien 1966. 531 Hier ließe sich in Anlehnung an Michael Bamberg von Positionierungen zweiter und dritter Ebene sprechen. M. Bamberg: Positioning between structure and performance, S. 337.

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Weg der Vergegenwärtigung gelesen werden, sondern, wie jede andere Fachsprache auch, als Medium der Distinktion fungieren. Abgesehen von konkreten Bildungsinhalten wird Kanada auch als Raum einer umfassenden Persönlichkeitsbildung dargestellt. Besonders deutlich wird dies in der Autobiografie von Hans Peter Jürgens. Dort schreibt er: »Wir waren in einem Land angekommen, das trotz des Stacheldrahtes die nächsten Jahre hindurch meinen Horizont, mein Wissen und auch meine Menschenkenntnis erweitern sollte. Die Jahre in diesem Land weckten in mir Fähigkeiten, die in einem normalen Umfeld sicher verborgen geblieben wären. Sie förderten den Wissensdurst und öffneten die ideologischen Schranken des Denkens, unter denen die große Mehrheit der jungen Menschen jener Zeit groß geworden war. Das Land ersetzte für fast fünf Jahre unsere Heimat und schuf die Bereitschaft zu einer Weltoffenheit, die auch vor dem Stacheldraht, der die Lager umschloß, nicht haltmachte. Der Internierte erhielt Zugang zu literarischen und kulturellen Erzeugnissen, die fast allen jungen Deutschen dieser Zeit vorenthalten wurden.«532

Dass Jürgens die Internierung in der Rückschau als radikale Entgrenzung deuten kann, wird auf den Aufenthalt in Kanada zurückgeführt. Dem Land und nicht etwa konkreten Personen schreibt Jürgens eine umfassende Agency zu, die eine Reihe positiver Entwicklungen seiner Persönlichkeit bewirkte. Zentrale Begriffe wie Heimat, Weltoffenheit, Kultur oder Wissen veranschaulichen, dass die Internierung für den Verfasser alles andere als eine Begrenzung, sondern vielmehr ein Privileg darstellt. Von Exklusion ist nicht die Rede: Das Internierungslager wird über den Stacheldraht hinweg mit dem Land verbunden. Kanada als Partizipations- und Beziehungsraum: Familiengeschichten Wie Albrecht Lehmann in seiner Untersuchung zur Erinnerung an die Kriegsgefangenschaft in Russland herausgearbeitet hat, bilden »freundschaftliche oder mindestens gute kollegiale Beziehungen zu sowjetischen Zivilisten«,533 die im Rahmen von Arbeitseinsätzen entstanden, einen wiederkehrenden Bestandteil von Gefangenschaftsnarrativen. Auch die ehemals in Kanada Internierten erzählten solche Geschichten. Dabei verorteten sich die Erzähler immer wieder in Sozialgefügen,534 in die sie durch Arbeit gelangt waren. Paradoxerweise charakterisieren sie diese zufällig entstandenen, temporären (Arbeits-)Beziehungen überwiegend als sehr eng, verbindlich und langlebig. Dass Arbeit in diesen Geschichten als Inklusionserfahrung erzählt wird, lässt sich vor dem Hintergrund der Exklusionserfahrung ›Gefangenschaft‹ als

532 H.P. Jürgens: Sturmsee und Flauten, S. 53. 533 A. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr, S. 97. 534 Zur Verankerung von Figuren in sozialen Settings siehe Emmott, Catherine: Constructing Social Space. Sociocognitive Factors in the Interpretation of Character Relations. In: Herman, David (Hg.): Narrative Theory and the Cognitive Sciences. Stanford 2003, S. 295-321, hier S. 318.

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Strategie der biografischen Sinnstiftung begreifen. Durch die Betonung von Zugehörigkeit konstruieren die Erzähler die Arbeitswelt als Partizipations- und Beziehungsraum. In den Erzählungen derjenigen Internierten, die auf Bauernhöfen arbeiteten, ist die vorbehaltlose Aufnahme in die Familie ein zentrales Motiv. Der dort erfahrene Familienanschluss repräsentiert in den Erzählungen einerseits etwas, das die Internierten seit Beginn ihrer Gefangenschaft entbehrt hatten. Andererseits fügt er sich in zweierlei Hinsicht nahtlos in ein Narrativ von Kanada als Einwanderungsland ein, denn die einheimischen Arbeitgeber waren meist keine gebürtigen Kanadier. In den Interviewerzählungen nehmen diese erfolgreiche Migranten die Internierten, die man auch als Zwangsmigranten auf Zeit bezeichnen könnte, bei sich auf und führen ihnen so vor Augen, wie eine funktionierende Gesellschaft im Kleinen entstehen kann. Die narrativ konstruierten Szenen des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft ähneln stark dem seit den 1920er Jahren diskutierten Motiv des kanadischen Mosaiks, das auf dem Prinzip der Diversität beruht:535 »The Canadian people today presents itself as a decorated surface, bright with inlays of separate coloured pieces, not painted in colours blended with brush on palette. The original background in which the inlays are set is still visible, but these inlays cover more space than that background, and so the ensemble may truly be called a mosaic.«536

Im Sprechen über soziale Beziehungen, die während des Aufenthalts bei kanadischen Farmern entstanden, zeigt sich zunächst eine große soziale Nähe, die auch sprachlich durch Possessivpronomina ausgedrückt wird: »ach HIER, das ist bei meinem farmer (hm). das ist mein zweiter farmer, aaro siLEN.«537 Durch diese sprachliche Realisierung positioniert sich der Erzähler in enger Verbindung zu den Kanadiern. An anderer Stelle nennt Bruno Pichner auch seine übrigen ehemaligen Arbeitgeber namentlich. Anhand seines Arbeits-Werdegangs erläutert er dieses Netzwerk und betont dabei die jeweilige Herkunft der relevanten Personen: »aber da kam ich dann zu mister urho aho, das waren (.) ALLes FINNen (ah ja), bei denen ich hier gewes- nachher, er ging dann wieder mit seiner frau- er hatte ein holzfällerlager und er ging dann mit seiner familie wieder ins holzfällerlager und dann lan=kam ich zu seinem be-

535 In der Absicht, die Kanadier mit der ethnischen Zusammensetzung ihrer Nation vertraut zu machen, erstmals systematisch ausgeführt in Gibbons volkskundlichem Überblick: Gibbon, John Murray: Canadian Mosaic. The making of a northern nation. Toronto 1938. Das kanadische Mosaik bildet einen Gegenentwurf zum Konzept des auf Assimilation ausgerichteten melting pot. Gibbons Idee von Kanada als kulturellem Mosaik wurde seit den 1970er Jahren zum offiziell verbreiteten Leitbild der kanadischen Einwanderungspolitik. Eine kritische Perspektive hierzu bietet Hutcheon, Linda: ›The Canadian Mosaic: A Melting Pot on Ice‹: The Ironies of Ethnicity and Race. In: Sojka, Eugenia (Hg.): (De)Constructing Canadianness. Myth of the Nation and Its Discontents. Katowice 2007, S. 230-249. 536 J.M. Gibbon: Canadian Mosaic, S. viii. 537 Interview Bruno Pichner, Z. 1334-1335. Es ließen sich noch mehr ähnliche Stellen aus diesem und anderen Interviews anführen.

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kannten, aaro siLEN und bei dem bin ich dann ziemlich lange gewesen und habe den GANzen winter- hier ʼ45/ʼ46 war ich dann in diesem äh bushcamp (hm). […] denn kam ich kurz bei gust stekman, war auch ein finne, pete splonik war ich kurze zeit, das war ein ukrainer- äh ja, wenn ich da noch daran denke. mit seiner frau saß ich denn vor so einem GROSSen RÜbenberg und dann wurden die rüben ja alle äh sauber geschnitten (hm), KOPF ab und also äh das grüne weg und dann sauber gemacht, ne vor- und dann erzählte sie von äh ihrer zeit, wie sie als äh junge (.) frau oder mädchen äh nach kanada kam und dann den PETE kennenlernte (hm), war ja auch ukrainer und äh=äh ALLE diese, bei denen bin=habe ich IMmer (.) zur familie gehört (ja), ich gehörte da mit dazu und wir haben ja noch- viele jahre haben wir noch miteinander korrespondiert, […] ne. aber bis in die fünfziger jahre, also fünf jahre, fünf, sechs, sieben jahre nach=(.)= nach unserem ausscheiden da aus kanada, haben wir immer noch korrespondiert (hm), ne (ja).«538

In dieser Passage, deren Rückgrat die chronologische Abfolge der verschiedenen Einsatzstationen bildet, konstruiert Bruno Pichner um die namentlich genannten Farmer und Holzfäller geteilte Räume, die durch ein Netzwerk miteinander verbunden sind. Durch die Erzählung der Szene, in der er in die Familien- und zugleich Migrationsgeschichte der Sploniks eingeführt wird, betont er erneut das enge, hierarchiefrei wirkende Verhältnis zu seinen Arbeitgebern. Pichner verortet sich durch diese Geschichte in der Familie. Die gemeinsame Arbeit – hier exemplarisch das Putzen der Rüben – ist ein Medium, durch das diese enge Zugehörigkeit in der erzählten Situation hergestellt und narrativ verdeutlicht wird. Anhand eines weiteren Beispiels lässt sich nachvollziehen, wie im Interview die Erschließung neuer sozialer Räume thematisiert wird. Mein Gesprächspartner Franz Renner war mit einer Gruppe von knapp 50 Internierten in einer Gerberei in einem Vorort von Toronto beschäftigt.539 Dort arbeiteten die Internierten an großen Bottichen, in denen die angelieferten Häute gegerbt wurden. Im Interview konstatierte er: »nach einer weile kannte ich MEHR leute in toronto als äh HIER in bremen«.540 Als Beispiel führte er ein Mädchen an, das den Sommer über in der Gerberei arbeitete: »ich habe mit der denn noch korrespondiert, die hat auch denn auch für mich mal ’47 TIME magazine abonniert (aha) und denn (hm) kriegte ich das geschickt. (3) ja, die hat mich immer auf dem laufenden gehalten.«541 Das Verhältnis zu den kanadischen Kollegen und Vorgesetzten in dieser Fabrik charakterisierte er als eng: »und hinterher, die VORleute, nich, die hielten sich dann an den einzelnen FEST, nich und sagten, ich will fritz haben und ich KARL (hm), nich (hm), die hatten alle ihre FESten jobs dann

538 Ebd., Z. 564-583. Die Erwähnung der Finnen geht darauf zurück, dass sie unter den kanadischen Holzfällern in den 1940er Jahren nicht nur zahlenmäßig eine wichtige Rolle spielten, sondern auch Mechanisierung und gewerkschaftliches Engagement vorantrieben: I. Radforth: Bush Workers and Bosses, S. 6. 539 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in der Gerberei in New Toronto (Work Camp Nr. 23) am 15. Februar 1945. ACICR, C SC, Canada. 540 Interview Franz Renner, Z. 543-544. 541 Ebd., Z. 555-558.

316 | G EFANGEN IN K ANADA hinterher (ja) bei den VORleuten, weil die vorleute wussten, nich, da können sie sich drauf verLASSen (hm), auf den betreffenden (hm).«542

Die Wertschätzung, die die Internierten von den Vorleuten erfuhren, sieht Franz Renner durch das untadelige Verhalten der Deutschen bedingt und gerechtfertigt. Die absolute Verlässlichkeit der einzelnen Arbeiter steht in seinen Augen in direkter Verbindung mit den (in diesem Zusammenhang paradox wirkenden) »festen Jobs«, die sie sich auf diese Weise erarbeiteten. Diese Erfolgsgeschichte exemplifiziert er anschließend an seinem eigenen Aufstieg innerhalb der Firma, für dessen narrative Thematisierung ein spezifisches räumliches Arrangement zentral ist: »und später brauchte=habe ich denn ja nicht, nicht mehr da geARbeitet, sondern durft=hatte da mit einen schreibtisch bei dem sales manager mit im büro (hm) dann.«543 Die Bürogemeinschaft mit dem kanadischen »sales manager« und nicht zuletzt der Schreibtisch als Signum der Angestelltenkultur versinnbildlichen Franz Renners beruflichen Erfolg.544 Im Mittelpunkt der Passage steht die Erschließung eines (sozialen) Raumes, der Internierten sonst kaum zugänglich war. Die Gerberei wird dabei nicht nur als Raum der Inklusion gedeutet, sondern auch als Raum des Erfolgs, innerhalb dessen der Schreibtisch und seine Position zum Beleg für soziale Anerkennung werden. Kanada als erinnerter und vergegenwärtigter Raum Dass eine besondere Qualität von sozialen Beziehungen Aufenthalte in Kanada zum Erlebnis werden lässt, kam auch in einem anderen Interview zur Sprache. Dabei ging es um einen Besuch in Kanada, den mein Gesprächspartner Hans Plähn zusammen mit seinem Sohn im Jahr 1999 unternommen hatte: »och, wir haben schon viel erlebt da (sohn: ja), das war sehr gut«.545 Was ihn zu dieser positiven Bewertung veranlasste, bezieht sich auf Kanada als spezifischen sozialen Raum. Den Kontakt zu der Bauernfamilie, bei der Hans Plähn als Gefangener gearbeitet hatte, beschrieb er als eng und auf selbstverständliche Weise inkludierend – »man gehörte ja dazu«. Vater und Sohn berichteten im Interview, dass es ihnen einerseits gelang, auf der Reise wieder an die alten Kontakte anzuknüpfen. Der kleine Junge aus den 1940er Jahren war »der chef vom ganzen jetzt«,546 und, wie Plähns Sohn sich erinnerte: »den habe ich da kennen gelernt (JK: hm), der sagte zu mir, ich könnte gleich da bleiben, ich könnte auch mal gleich da arbeiten.«547 In diesem – ernst gemeinten? – Angebot an den Sohn scheint sich die Geschichte zu wiederholen; zumindest als Option blitzt die Möglichkeit kurz auf, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Die Internierung hingegen scheint ausgeblendet zu sein.

542 Ebd., Z. 685-690. 543 Ebd., Z. 700-702. 544 Zur Möblierung von Büros siehe Beck, Raimund: Arbeitsräume für Angestellte. In: Lauterbach, Burkhart (Hg.): Großstadtmenschen. Die Welt der Angestellten. Frankfurt am Main 1995, S. 152-165, hier S. 159. 545 Interview Hans Plähn, Z. 212-213. 546 Ebd., Äußerung des Sohnes, Z. 680-681. 547 Ebd., Äußerung des Sohnes, Z. 682-683.

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Andererseits schlossen Vater und Sohn neue Bekanntschaften, und das auf eine Art und Weise, die ihnen typisch für Kanada erschien, wie folgende Geschichte illustriert: Beim Bezahlen im Supermarkt wurde aus unerfindlichen Gründen die Kreditkarte der beiden Reisenden nicht anerkannt, und auch das Bargeld reichte nicht mehr aus, um die ausgewählten Waren zu bezahlen. Eine andere Kundin schaltete sich ein; »und da sagt denn die fremde frau: I take the rest, sagt sie«.548 Anschließend seien sie, so der Sohn, »mit der noch eine HALbe stunde draußen«549 gestanden und hätten sich unterhalten, bis die Dame das Angebot, mit den beiden Deutschen »noch einen kaffee zusammen«550 zu trinken, aus Zeitnot ablehnen musste. Der Sohn meines Gesprächspartners schloss die Geschichte mit den Worten: »und so ging das uns (.) IMmer (.) da drüben.551 Hier wird deutlich, wie Erzählungen von unplanbaren positiven Erlebnissen während der »Erinnerungsreise«552 dazu genutzt werden, Kanada als Ganzes implizit von Deutschland abzusetzen. Das geschilderte Verhalten der Dame wich in den Augen der Reisenden offensichtlich stark von ihrem gewohnten Erfahrungshorizont ab und wird so zu einem Erzählstoff, der sich dazu eignet, exemplarisch die Besonderheiten Kanadas zu veranschaulichen und zu belegen. Die abschließende Bemerkung des Sohnes macht die exemplarische Erzählweise deutlich, die gerade aufgrund ihrer Ausschnitthaftigkeit generalisierende Rückschlüsse auf die weiteren Reiseerlebnisse und durch die Wendung »da drüben« implizit auch auf das ganze Land erlaubt. Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft und Offenheit gegenüber Fremden werden in dieser Geschichte als spezifisch kanadische Verhaltensweisen dargestellt, die den beiden Reisenden zu neuen Kontakten verhelfen und dazu beitragen, sich aufs Neue den (sozialen) Raum zu erschließen. Auf der Suche nach dem Standort des ehemaligen Lagers Farnham trug sich eine ähnliche Begebenheit zu: »hatte ich gesehen da, dass da einer mit der mischmaschine, mit GRAUen haaren (Sohn: hm). ich sage zu fritz: DEN fragen wir, DER weiß bestimmt (Sohn: wo das lager ist), wo das lager noch gewesen ist (JK: hm), nich (Sohn: hm). ja und äh, ja, und dann haben wir ein paar wörter gesprochen, nich und julia ich sage ja, die GAB es aber (JK: ah - lacht), ja, sieh, und da sind wir geblieben (JK: hm) (Sohn: ja, sind wir da hängen geblieben), ja, sind wir hängen geblieben.«553

Was genau zwischen dem Vater und dem grauhaarigen Fremden gesprochen wurde und wer die erwähnte Julia ist, spielt für das Funktionieren dieser Geschichte keine Rolle. Zentral ist, dass hier erneut Räume von sozialen Kontakten her narrativ erschlossen werden. Kanada wird dabei als Raum überaus positiver Erfahrungen dargestellt, als Raum, der soziale Beziehungen in einer hierzulande seltenen Qualität er-

548 549 550 551 552

Ebd., Z. 771. Ebd., Äußerung des Sohnes, Z. 775. Ebd., Äußerung des Sohnes, Z. 777. Ebd., Äußerung des Sohnes, Z. 780. Den Begriff »Erinnerungsreise« verwendet Albrecht Lehmann im Zusammenhang mit Reisen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen in frühere deutsche Gebiete Polens und Tschechiens. Lehmann, Albrecht: Flüchtlingserinnerungen im Erzählen zwischen den Generationen. In: BIOS 2 (1989), H. 2, S. 183-206, hier S. 193. 553 Interview Hans Plähn, Z. 787-794.

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möglicht. Die Begegnungen auf der Reise ziehen weitere Kreise. Ausgehend von der Erzählung über die darauf folgende spontane Einladung zum Mittagessen breiteten Vater und Sohn im Interview ein ganzes Netzwerk von Kontakten – Nachbarn, deren Bekannte, oder umgekehrt? – vor mir aus, in dem für mich die Grenzen zwischen den Zeitebenen verschwammen. Welche Kontakte bestanden noch aus den 1940er Jahren? Welche waren jüngeren Datums? Die Erinnerungsreise von Vater und Sohn steht als Erzählstoff auf einer Stufe mit den Internierungserlebnissen des Vaters. Im Interview schöpfen die Erzähler aus den beiden eng miteinander verflochtenen Erlebniszusammenhängen, was sich bei der Frage nach der Darstellung Kanadas besonders deutlich zeigt: Kanada besteht hier aus unzähligen Kontakten und aus einem zwischen Vater und Sohn geteilten und narrativ rekonstruierten Erlebnisraum, in dem die generationalen Grenzen keine Rolle mehr zu spielen scheinen, wie der Sohn betont: »da schnacken WIR beiden, als wenn ICH daBEI gewesen wäre«.554 Hier zeigt sich, dass die Internierung als besondere Form der Kriegserfahrung nachhaltig in Beziehungsräume hineinwirkt. Vater und Sohn bilden eine transgenerationale Erinnerungsgemeinschaft, die dadurch noch an Bedeutung gewinnt, dass der Vater nach eigener Aussage mit niemandem sonst über seine Zeit in Kanada gesprochen hat.555 Hier wird Kanada als Raum konstruiert, der seine biografische Relevanz für die Erzähler nicht ausschließlich, aber zu großen Teilen aus positiv erlebten sozialen Beziehungen gewinnt. Freundschaften aus der Zeit der Internierung zeichnen sich den Erzählern zufolge durch eine besondere Herzlichkeit und Stabilität aus. Damals wie heute haben die Erzähler erfahren, dass es in Kanada möglich ist, auf unkomplizierte Weise funktionierende soziale Beziehungen zu Fremden aufzubauen. Die Wiederholung dieser Erfahrung während der einzigen Reise an die Orte der Internierung legitimiert eine generalisierende Deutung dieser Erlebnisse als typisch. Zugleich zeigt sich hier, auf welche Weise Reisen an Orte, die mit der persönlichen Kriegserfahrung verknüpft sind, »den Krieg erzählbar […] machen«556. Die Orte an sich scheinen nur insoweit Relevanz zu besitzen, wie sie mit sozialen Situationen in Verbindung stehen. Kanada als Raum symbolischer Deutungen In der Schilderung dieser Reise wird Kanada als Gedächtnislandschaft präsentiert, als eine Art profanes, familiales Mnemotop, das der gemeinsamen Erinnerung und der intergenerationellen Sinnstiftung dient.557 Wie Albrecht Lehmann am Beispiel von

554 Ebd., Äußerung des Sohnes, Z. 835-836. 555 Probleme des intergenerationalen Erzählens sowie des Erzählens aus zweiter Hand behandelt exemplarisch der Beitrag Kestler, Judith: Opas Erzählungen? Kriegsgeschichten aus zweiter Hand. In: Bayerische Blätter für Volkskunde N.F. 8/9 (2006/07 [2008]), S. 88-97. 556 Köstlin, Konrad: Erzählen vom Krieg – Krieg als Reise II. In: BIOS 2 (1989), H. 2, S. 173-182, hier S. 179. 557 Zum Konzept des Mnemotops siehe Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 42002, S. 59-60; Glasner, Peter: Mnemotop. In: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 383-384.

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Flüchtlingserinnerungen nachgewiesen hat, dienen Reisen wie diese auch dazu, »sich der Familiengeschichte als eines übergenerationellen Erfahrungsraumes zu vergewissern«558. Das gemeinsame Erzählen von Vater und Sohn über die Kanada-Reise lässt sich auch als Hinweis auf eine Semiotisierung des (sozialen) Raumes verstehen. Allen Orten, Begegnungen und Erlebnissen wird explizit oder implizit eine Verweisfunktion zugeschrieben. Auch andere Erzähler konstituierten Kanada als Raum, dessen biografische Relevanz (konkret und symbolisch) über die Internierung hinausweist. Das zeigt sich besonders an dem Kommentar meines Gesprächspartners Bruno Pichner zum Namen seines ersten Einsatzortes außerhalb des Lagers: »hier oben ist äh SUNshine, das war der erste ort. und das war ja ein gutes äh zeichen, ne so ein name, wenn man DAhin kommt (ja), ne das dorf, das hieß äh sunshine, ne.«559 Hier verbindet sich die erzählte Vorausdeutung des Ortsnamens als gutes Omen mit einer angedeuteten positiven Evaluation des Aufenthalts in Kanada, die an vielen anderen Stellen und in anderen Texten explizit thematisiert wird. Besonders deutlich wird die symbolische Dimension von Raumerfahrung in einer Passage aus demselben Interview, in der mein Gesprächspartner Bruno Pichner ausgehend vom Namen des Bushcamps »Little Pic River« symbolische Verbindungslinien zu seinem Nachnamen zog: »und äh hier am äh nord äh shore ((klopft auf das Fotoalbum)) äh=äh nordküste, meine ich, da war unser CAMP: little. pic. river. und unseren jungen nennen wir PIC! ne (hm) zufäll- ja ach so nee, meine=meine FUNKabkürzung äh auf WAche: PIC (hm), ne also nur die ersten drei (ja) buchstaben und denn, das machte meiner frau, wie sie das las, überall war PIC, und denn eins, zwei, drei, hatten wir einen KLEInen pic (hm). ((beide lachen)) das war mein sohn denn, ne. na, und denn ausgerechnet hier, little. pic. river. (schön, ja), ne also da PASST IMmer alles, komisch.«560

Die enge und nachhaltige Verbindung der eigenen Biografie mit dem Lager in Kanada erstreckt sich in den Augen meines Gesprächspartners auch auf seine Berufstätigkeit als Schiffsoffizier, Kapitän und Lotse nach dem Krieg, wo ihn seine Funkabkürzung an Kanada erinnerte und verdichtet sich erneut im Kosenamen für den Sohn. Die symbolischen Deutungen schaffen Verbindungslinien, die dazu dienen, die Internierung in die eigene Biografie zu integrieren. Die Relevanz des Raumes besteht für die ehemaligen Internierten also nicht in naturräumlichen Gegebenheiten, sondern in der Intensität der Kontaktmöglichkeiten mit Land und Leuten und nicht zuletzt mit sich selbst. Das Erzählen von der kanadischen Internierung ermöglicht eine Vielfalt von Verknüpfungen: Potenziell steht alles mit allem in Verbindung, kann alles auf alles verweisen. Eine Collage aus den Erinnerungsunterlagen von Bruno Pichner (vgl. Abbildung 24) zeigt, wie Kanada für ihn zum biografischen Thema wurde, das seinen Niederschlag in Texten und Zeichnun-

558 A. Lehmann: Flüchtlingserinnerungen im Erzählen zwischen den Generationen, S. 195196. 559 Interview Bruno Pichner, Z. 834-836. 560 Ebd., Z. 824-831.

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gen fand, die wiederum als Darstellungsmedium von Raum im Interview fungierten: »HIER, lake superior! ich bin später mal DA gewesen (hm), auch meine TOCHter ist auch mal DA gewesen. und äh hier am äh nord äh shore ((klopft auf das Album)) äh=äh nordküste, meine ich, da war unser CAMP: little. pic. river.«561 Abbildung 24: Collage von Bruno Pichner

Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

561 Ebd., Z. 823-826.

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Die raumbezogene Analyse der Interviews und autobiografischen Texte zeigt, dass sich die durch die Internierung bedingte spezifische Art der Raumwahrnehmung auch in der Retrospektive niederschlägt: Vor allem der Arbeitseinsatz der Internierten erzeugte nicht nur reale geteilte Räume, sondern beeinflusst auch die Raumdarstellung in Interviews und Erinnerungstexten. Die dargestellten Lesarten schließen einander nicht aus, sondern durchdringen und überlagern sich. Kanada wird als gegenweltlicher Raum guten Lebens dargestellt, erscheint als erinnerter und vergegenwärtigter Erlebnisraum, als Freiraum, als Raum persönlicher Bewährung und des Lernens, als Beziehungs- und Partizipationsraum sowie als Raum vielfältiger symbolischer Deutungen. Überwachte Räume spielen im Erzählen von der Arbeit in Kanada so gut wie keine Rolle. Techniken der narrativen Raumkonstitution sind dabei untrennbar mit Strategien der Selbst- und Fremdpositionierung verquickt. Der in den Texten konstruierte space of alterity, innerhalb dessen sich verschiedene Räume bzw. Raumdeutungen differenzieren lassen, besitzt nichts Bedrohliches, sondern bietet den Erzählern bzw. Verfassern vielfältige Möglichkeiten, sich zu verorten. Topografische Merkmale Kanadas besitzen dabei keine Relevanz an sich, sondern werden nur dann bedeutsam, wenn sie mit Erlebnissen oder sozialen Beziehungen verknüpft werden können. Diesen wird in vielen Texten eine spezifische canadianness zugeschrieben, die anhand eigener Erlebnisse authentifiziert wird.562 Diese positiv besetzte Gegenwelt repräsentiert genau das Gegenteil dessen, was üblicherweise mit Internierung und Kriegsgefangenschaft in Verbindung gebracht wird: Kanada wird von den ehemaligen Internierten mit körperlichem und geistigem Wohlergehen, mit Naturerlebnis, Bereicherung, Inklusion, Partizipation und sinnstiftenden sozialen Beziehungen verknüpft. In den narrativ konstituierten Räumen verdichten sich also wesentliche Aspekte der subjektiven Internierungserfahrung der Erzähler. Die Contact Zone kann auch hier als Rahmenkonzept fungieren, in das sich die Raumdeutungen einfügen.

562 Vgl. zu diesem Konzept die kritischen Beiträge in Sojka, Eugenia (Hg.): (De)Constructing Canadianness. Myth of the Nation and Its Discontents. Katowice 2007.

6. Zeit

In der Kontaktzone der Internierung trafen nicht nur die Raumnutzungsstrategien der Insassen und der Bewacher aufeinander, sondern auch ihre jeweiligen Zeitstrategien.1 Als Möglichkeiten strategischen Handelns »in der Zeit und durch die Zeit«2 begreift Helga Nowotny unter anderem: »beschleunigen oder verlangsamen; befristen; versprechen; warten und warten lassen; im richtigen Augenblick handeln, entscheiden oder abwarten«3. Diese Handlungsweisen gerieten im Lager teils miteinander in Konflikt, teils verzahnten sie sich auch ineinander. Gemeinsam bildeten sie die unverwechselbare Zeitlandschaft der Internierung. Zeit wurde dabei als Medium der Verregelung, der Kontrolle und damit letztlich der Machtausübung wirksam, das von den Akteuren auf unterschiedliche Art und Weise angeeignet und gedeutet wurde. Zeithandeln in der Contact Zone der Internierung lässt sich somit als Feld der alltäglichen Aushandlung von Macht und Ordnung begreifen. Eine zeitbezogene Untersuchung der Internierung wirft daher Fragen nach den unterschiedlichen Logiken auf, die mit den akteursspezifischen Perspektiven auf Zeit und mit Zeithandeln verknüpft waren. Diese zeigen sich etwa an situativ gewählten Positionierungen zu Zeitstrukturen anderer Akteure, besonders deutlich jedoch an Konflikten zwischen Zeitstrategien von Bewachern und Bewachten. Wie entstanden im Internierungsalltag »strategische Kampfplätze«,4 auf denen Differenzen in der Priorisierung und Nutzung von Zeit ausgetragen wurden? Wie wurden dabei Eigenzeitkonstruktionen wirksam und sichtbar? Zudem ist zu klären, wie sowohl in der Wahrnehmung der Insassen als auch aus der Perspektive der Wachen und humanitären Helfer die Zeitdimensionen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft miteinander verwoben waren und wurden. Wie wurden Vergangenheit und Zukunft von den Internierten angeeignet und gedeutet?5 Welche Ressourcen und Orientierungspunkte zogen sie für ihr alltägliches Zeithan-

1 2 3 4 5

Zum Begriff der Zeitstrategien siehe H. Nowotny: Eigenzeit, S. 146. Ebd., S. 147. Ebd. Ebd., S. 116. Rosa, Hartmut: Vergangenheit. In: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 617-620, hier S. 618.

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deln heran?6 Welche Möglichkeiten der Sinnstiftung entwickelten sie in ihrem Zeithandeln, und welche Praktiken waren damit verbunden? An welchen Punkten wies das Zeitverhalten der Akteure über das »Gegenwartshandeln«7 hinaus? Die Untersuchung von Zeitstrategien der Internierten, der humanitären Helfer und der Bewacher betrifft also nicht nur bloße Fragen von Zeitverwaltung oder ›Zeitmanagement‹, sondern eröffnet Zugänge zu Macht- und Kontrollstrategien, aber auch zu Bewältigungsstrategien und zu situativ ausgehandelten Freiräumen. In der Retrospektive lenkt die Frage nach der Zeit den Blick auf die gesamtbiografische Integration der Internierung als eigener Lebensphase. Dabei ist auch zu klären, welche Faktoren die retrospektive Deutung der Internierungszeit im Rahmen von Interviewnarrationen beeinflussen.

Z EITSTRATEGIEN

ALS

M ACHTSTRATEGIEN

Ebenso wie eine materiale und symbolische räumliche Begrenzung gehört zu jeder Form von Gefangenschaft die Verfügungsgewalt der Gewahrsamsmacht über die Zeit der Insassen. Sie erstreckt sich nicht nur auf deren in Gefangenschaft verbrachte Lebenszeit, sondern auch auf die Alltagszeiten8 der Gefangenen und führt dazu, dass letztlich die gesamte Organisation von Zeitlichkeit in der Internierung von Machtfragen durchdrungen ist oder umgekehrt: dass die Organisation von Macht und Herrschaft von Fragen der Zeitlichkeit durchdrungen ist. Deutlich wird dies beispielsweise, wenn man die Internierung als Wartesituation betrachtet; das Warten bzw. das Vermögen, andere Menschen warten zu lassen, ist ein »Indikator von Inferiorität und Superiorität«, so Helga Nowotny.9 Zeitstrategien der Gewahrsamsmacht lassen sich also, sofern sie auf die Lenkung, Überwachung und Regulierung der Insassen und ihrer Tätigkeiten gerichtet sind, als Macht- und Ordnungsstrategien sowie als Herrschaftstechniken begreifen. Nowotny zufolge wird dieser Machtaspekt von Zeit vor allem dann greifbar, wenn Konflikte um Fragen der zeitlichen Organisation entstehen.10 Exemplarisch zeigen dies die Beschwerden von Insassen kanadischer Lager über die häufig nur wenige Stunden zuvor angekündigten Verlegungen.11 Der Protest der Internierten gegen diese Praxis rückt die raumzeitliche Verfügungsgewalt der ka-

6

Dücker, Burckhard: Zeit. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2008, S. 782-783, hier S. 782. 7 Ebd. 8 Zu den Konzepten »Alltagszeit« und »Lebenszeit« siehe Alheit, Peter: Alltagszeit und Lebenszeit. Über die Anstrengung, widersprüchliche Zeiterfahrungen »in Ordnung zu bringen«. In: Zoll, Rainer (Hg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit. Frankfurt am Main 1988, S. 371-386, hier S. 373. 9 Schilling, Heinz: Zeitlose Ziele. Versuch über das lange Warten. In: Ders. (Hg.): Welche Farbe hat die Zeit? Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens. Frankfurt am Main 2002, S. 245-310, hier S. 310. 10 H. Nowotny: Eigenzeit, S. 108. 11 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 42. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*.

Z EIT

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nadischen Behörden ins Blickfeld. Diese äußerte sich aber auch »in den Zeitordnungen, die Prioritäten und Geschwindigkeiten, Anfang und Ende, Inhalt und Form der in der Zeit zu erfüllenden Tätigkeiten vorschreiben«12. Zeitstrategien der kanadischen Lagerverwaltung als Machtstrategien zu betrachten, bedeutet nicht nur, diese Zeitordnungen in ihrer rhythmisierenden und strukturierenden Funktion zu untersuchen, sondern auch, danach zu fragen, welche Ziele die Gewahrsamsmacht mit den jeweiligen Strategien verband, wie sie diese Strategien durchsetzte und inwiefern sie dabei mit gegenläufigen Strategien und widerständigen Praktiken der Internierten konfrontiert war. Denn, so Helga Nowotny: »Zeit […] hat mit Macht zu tun, die Menschen übereinander mithilfe von Strategien der Zeit ausüben. […] Wie bei jeder Form von Macht, gibt es eine Gegen-Macht, und jede Strategie findet ihre Gegen-Strategie.«13 Zeitordnungen In Überwachen und Strafen definiert Michel Foucault drei Hauptelemente zeitlicher Disziplinierung, die er aus dem klösterlichen Leben herleitet: »Festsetzung von Rhythmen, Zwang zu bestimmten Tätigkeiten, Regelung der Wiederholungszyklen«14. Die zentrale disziplinierende Zeitstrategie der kanadischen Behörden und Lagerkommandanten beim Umgang mit den deutschen Internierten war die Strukturierung des Tages durch die Festlegung eines verbindlichen Zeitplans. Dass diese Maßnahmen aus Sicht der Internierten als Fremdbestimmung bewertet wurden, spiegelt auch Rudolf Beckers stakkatoartiger Bericht an den Vater in einem seiner ersten Briefe aus der Gefangenschaft: »Morgens um 6.30 ist Wecken. Um 7.30 werden wir aus den Schlafräumen herausgezählt, ob auch nicht einer während der Nacht ausgekniffen ist. Um 9.00 gibtʼs Frühstück! Um 11.45 Zählung. Um 12.30 Essen. Dann Mittagsruhe, da es um 6 Uhr dann das Abendbrot gibt. Um 21.30 Zählung, um 22.30 Licht aus und Nachtruhe.«15

Beckers briefliche Wiedergabe des Lager-Zeitplans unterstreicht auch sprachlich den hohen Grad an Verbindlichkeit, der die einzelnen Punkte des Tagesablaufs kennzeichnete. Die Briefpassage vermittelt, dass das Wecken, die Zählungen und Mahlzeiten zeitlich nicht verhandelbar, sondern jeweils exakt auf eine Uhrzeit festgelegt waren. Wie alle internierten Seeleute kannte auch der Schiffsoffizier Becker einen rigiden, extern vorgegeben Zeitplan. Auf den deutschen Handelsschiffen der Vorkriegszeit wurde meist im sogenannten Drei-Wachen-System gearbeitet,16 auf Segelschiffen auch im Zwei-Wachen-System,17 bei dem die Seeleute im Wechsel jeweils

12 13 14 15 16

H. Nowotny: Eigenzeit, S. 108. Ebd., S. 146. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 192. Rudolf Becker an seinen Vater, 9. April 1940. DSM, III A 3324 b. Ehlers, Paul: Der Tarif-Vertrag für die deutsche Seeschiffahrt. Neu bearbeitet und erweitert von Kurt Ehlers. Hamburg 1933, S. 47-48. (§ 13, Absatz 4) 17 Henningsen, Henning: Wachsysteme an Bord von Seeschiffen. Eine Untersuchung zur internationalen historischen Entwicklung. In: Schiff und Zeit 23 (1986), S. 21-31, hier S. 29.

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für vier Stunden arbeiteten und schliefen.18 Im Vergleich dazu war der Nachtschlaf in den Lagern nicht mehr durch den Schichtbetrieb beeinträchtigt. Diesen Aspekt von Lagerzeit in Abgrenzung zur Schiffszeit sprachen auch zwei meiner Gesprächspartner an: In der Internierung war »jede Nacht eine Bauernnacht«.19 Doch auch abgesehen davon war das Verhältnis der Seeleute zum Zeitplan im Lager grundlegend anders als auf dem Schiff, trug der Zeitplan im Lager doch zur reibungslosen Abwicklung der Einsperrung und Überwachung bei. Das thematisierte Rudolf Becker explizit, wenn er die morgendliche Zählung der Gefangenen seinem Vater gegenüber damit begründete, es müsse überprüft werden, »ob auch nicht einer während der Nacht ausgekniffen ist«20. Hier übernimmt er die Perspektive der Wachen, um dem Vater das Wesentliche der Einsperrungssituation vor Augen zu führen. In der Zeitordnung des Lagers materialisierte sich das hierarchische Überwachungsverhältnis zwischen den Internierten und ihren Bewachern. Der durch tägliche Wiederholung bestätigte Tagesablauf demonstrierte die Definitionshoheit des Lagerpersonals über die Zeit der Gefangenen. Er begrenzte Handlungsspielräume der Internierten und unterteilte den Tag in Phasen von Aktivität und Ruhe. Dabei erstreckte er sich auch auf die Anordnung der Körper im Raum, indem er festlegte, wer sich wann wo aufzuhalten hatte oder nicht aufhalten durfte.21 Für die Wachen war der Zeitplan ein Mittel, um ihre vorrangige Aufgabe – die Einsperrung und Überwachung der deutschen Seeleute – zuverlässig erledigen zu können. Im Kontrast zu Beckers Darstellung des Tagesablaufs, in der die einzelnen Programmpunkte alternativlos erscheinen, zeigen zahlreiche kanadische Quellen, dass die Wachen diese zeitlichen Fixpunkte häufig gegen Widerstände seitens der Internierten durchsetzen mussten. Ähnlich wie der Zaun lässt sich auch der Zeitplan als eine Struktur der Einsperrung betrachten, an der sich die Internierten immer wieder abarbeiteten. Gegenstrategien der internierten Seeleute zielten darauf ab, Zeiteinteilung, Tätigkeiten und Aufenthaltsorte selbst zu bestimmen, also raumzeitliche Autonomie wiederzugewinnen und die Überwachung und Kontrolle zumindest punktuell zu stören oder außer Kraft zu setzen. So ist beispielsweise im Tagebuch des Lagers Monteith ein Vorfall nachzulesen, der die Auflehnung von drei Internierten gegen die verordnete Nachtruhe zeigt:

18 Feldkamp, Ursula: Leben an Bord eines Kap-Hoorn-Fahrers. In: Dies. (Hg.): Rund Kap Hoorn. Mit Frachtseglern zur Westküste Amerikas. Bremen 2003, S. 106-124, hier S. 114. Einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung und Organisation des Zwei- und DreiWachen-Systems gibt H. Henningsen: Wachsysteme an Bord von Seeschiffen. Generell galt jedoch laut Abschnitt C des Tarifvertrags für die deutsche Seeschiffahrt: »Die Schiffsleitung kann […] die Verteilung der Arbeitszeit beliebig regeln, und der Schiffsmann hat die vorgeschriebenen Arbeitsstunden einzuhalten […].« P. Ehlers: Der Tarif-Vertrag für die deutsche Seeschiffahrt, S. 38. 19 Interview Bruno Pichner, Z. 1059. Im Seemannsjargon steht ›Bauernnacht‹ für ungestörten Nachtschlaf. 20 Rudolf Becker an seinen Vater, 9. April 1940. DSM, III A 3324 b. 21 Foucault spricht in diesem Zusammenhang von der »Kunst der Verteilungen«. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 181.

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»Around midnight it was reported an escape was attempted by 3 PW. On close check up it was learned these men were apparently playing cards or gambling in a hut other than their own and were making their way back to their own huts when contacted and arrested. On the lesser charge they were given detention.«22

Das nächtliche Kartenspiel der Internierten ist als Verteidigung von Eigenzeit gegenüber der »Fremd-Zeit«23 des Lagers zu betrachten, wofür Sanktionen offensichtlich in Kauf genommen wurden. Die Strafen dienten als Sicherungssystem, das die Durchsetzung der Regeln auch durch Abschreckung gewährleisten sollte.24 Doch die Internierten besaßen beträchtliche Spielräume, sich zu den raumzeitlichen Regeln und den damit verbundenen Sanktionen zu positionieren. Die Missachtung der Nachtruhe zugunsten einer attraktiveren, aber verbotenen Tätigkeit spiegelt eine situative Priorisierung seitens der Internierten wider und lässt sich daher auch als Ermächtigungsversuch begreifen. Kontaktzeit als Konfliktzeit: Der roll call Die Zeitpunkte im Tagesplan, die das hierarchische Überwachungsverhältnis und damit auch die Zeithoheit der Bewacher am deutlichsten demonstrierten, waren die sogenannten roll calls, die Zählungen der Gefangenen. Sie bildeten den wichtigsten Taktgeber des Lagerlebens und schufen täglich mehrfache Kontaktzeiten, zu denen die Zeitabläufe der Internierten und der Wachen miteinander synchronisiert werden mussten. Die wiederholten Zählungen, die – mit wenigen Ausnahmen – immer zur selben Zeit stattfanden, dienten dazu, die Anwesenheit der Gefangenen zu kontrollieren und Fluchtversuche dank der engmaschigen Überwachung frühzeitig zu entdecken. Der roll call besaß aber auch eine symbolische Dimension, die in der konkreten Interaktion sichtbar wurde: Beim roll call wurde die Konstellation aus Mächtigen und ihren Untergebenen situativ immer wieder aufs Neue verhandelt und durchgesetzt. Darin ähnelt der roll call dem von Bretschneider et al. beschriebenen Lagersport in totalen Institutionen, der durch eine »performativ reaktualisierte, den Körpern selbst eingeschriebene scharfe Trennung zwischen Häftlingen und Aufsichtspersonal« eine »Inszenierung von Konfrontation und Differenz« herstellte.25 Auch aufgrund dieses inhärenten konfrontativen Potenzials zwischen den beiden Gruppen und damit zugleich zwischen Eigen-Zeit der Seeleute und Fremd-Zeit des Lagers schien der roll call widerständiges Handeln der Insassen in besonders starkem Maße herauszufordern. Für die Gefangenen bedeutete der roll call, in der Reihenfolge ihrer Gefangenennummern anzutreten und zu warten, bis alle Insassen gezählt und gegebenenfalls

22 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 61, 16. Januar 1946. LAC, RG 24, 15393. 23 H. Nowotny: Eigenzeit, S. 42. 24 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 75-76. 25 F. Bretschneider/M. Scheutz/A.S. Weiß: Machtvolle Bindungen – Bindungen voller Macht, S. 18.

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vom Kommandanten inspiziert worden waren.26 Für die Wachen bedeutete es, den Überblick über eine große Menschenmenge von mehreren hundert, in manchen Lagern auch über tausend Mann zu behalten, deren Bereitschaft zur Kooperation nicht unbedingt vorausgesetzt werden konnte. Anhand von zwei Bildquellen lässt sich zum einen die Position der Internierten zur Zählung pointiert darstellen. Zum anderen veranschaulichen diese Abbildungen, dass die Internierten in der Kontaktzone des Lagers auch die Perspektive der Wachen auf diese konfliktträchtige Interaktion antizipierten. Abbildung 25: »Morgen Roll-call«

Bildpostkarte der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe, undatiert. Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

Die Bildpostkarte mit dem Titel »Morgen Roll-call« stammt aus einer Postkartenserie, die typische Szenen des Lagerlebens zeigt. Zu sehen sind fünf Männer in Unterwäsche und Schlafanzug, von denen vier mit geschlossenen Augen oder schlafend und teils unrasiert im Stehen auf etwas zu warten scheinen. Lediglich einer der Abgebildeten scheint sich zu bewegen; er ist im Begriff, seinen schlafenden Kollegen anzustupsen. Die eigentliche Durchführung des roll call durch das kanadische Wachpersonal ist im Bild nicht sichtbar. Die Zeichnung zeigt die Perspektive der Internierten auf die Lagerzeit, die offensichtlich als fremdbestimmt wahrgenommen wurde – auch dann zur Zählung Aufstellung nehmen zu müssen, wenn man eigentlich schlafen möchte, führte den Lagerinsassen die eigene untergeordnete Position in der hierarchischen Ordnung des Lagers immer wieder deutlich vor Augen. Einerseits bringt die Zeichnung durch die demonstrative Zurschaustellung von Passivität zum Ausdruck, dass der zeitliche Rhythmus, den die Gewahrsamsmacht vorgab, dem eigenen (Bio-) Rhythmus, der Eigenzeit der Gefangenen also, mitunter zuwiderlief. Auch Klagen von Internierten über den Lärm des nächtlichen Zählkommandos zeigen, wie sehr

26 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 71.

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diese Zählungen als massiver Eingriff in die Erholungsphase wahrgenommen wurden, was gegenüber den Wachen auch thematisiert wurde.27 Andererseits ist es auch eine Form von Widerständigkeit, den roll call schlafend über sich ergehen zu lassen sowie ein zusätzlicher Schritt der Distanzierung, diese Situation im Bild festzuhalten. Abbildung 26: Die Parade als Konfliktfeld

Zeichnung des Internierten Otto Ellmaurer aus der Serie »Humor hinter Stacheldraht«, Camp Fredericton, New Brunswick. Quelle: Sammlung David J. Carter, Elkwater, Alberta, Kanada.

Im Gegensatz zur Statik von Abbildung 25 zeigt Abbildung 26, ebenfalls aus der Feder eines Internierten, eine gänzlich andere Szene, die sich tagsüber in einem Internierungslager abgespielt haben könnte. Im Camp herrscht reges Leben: Im linken Bildhintergrund musiziert ein Gefangener auf einem Banjo, rechts schaut ein Grüppchen von Internierten einem Kollegen zu, der an einer Staffelei sitzt und malt – vielleicht ein Selbstporträt des Zeichners? –, in der vorderen Bildmitte steht ein Mann in Unterhemd und raucht, weiter im Hintergrund gehen Gefangene umher. Damit sind wesentliche Alltagspraktiken der Internierten im Bild festgehalten. Das Lager ist durch Zelte, einen Zaun, einen Wachturm sowie ein langgestrecktes einstöckiges Gebäude im rechten Bildhintergrund angedeutet, aus dessen Tür ein Gefangener tritt. Zwischen einem Zelt und einem Strommast ist eine Wäscheleine gespannt. Inmitten des geschäftigen Treibens steht ein beleibter Wachsoldat in Uniform, ohne dass die Internierten von ihm Notiz zu nehmen scheinen. Seine Aussage in der Sprechblase definiert die Situation für den Betrachter: »It’s so nice and homelike - - - but that

27 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 17, 5. November 1941. LAC, RG 24, 15391. Die Internierten wurden normalerweise einmal pro Nacht gezählt. War Diary Camp Petawawa, Folder 2, Vol. 43, 31. Mai 1943. LAC, RG 24, 15396.

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goddamn parade«. Die darauf folgenden grafischen Marker, sogenannte grawlix, signalisieren zensierte Schimpfwörter und Flüche.28 Die Zeichnung setzt die imaginierte Perspektive der Wachen auf den roll call künstlerisch um und deutet den roll call bzw. die parade als auch für die Wachen negativ besetzte Aufgabe, die in der Betriebsamkeit des Lagerlebens schwer zu bewältigen war. Durch diese Zuschreibung stellt die Zeichnung also implizit eine Verbindung zwischen den Wachen und den Gefangenen her: Beide Gruppen empfinden den roll call als lästig. Bei aller parodistischen Zuspitzung verweist diese Darstellung auf ein reales Problem der Wachen. Denn auch in anderen Quellen wird deutlich, dass die täglich mehrmals stattfindenden roll calls als Kontaktzeiten zu begreifen sind, die durch den impliziten Zwang zur Synchronisierung nicht selten zu Konfliktzeiten gerieten.29 Wenn die zeitlichen Strukturierungsstrategien der Gewahrsamsmacht und der Wachen auf widerständige Zeitpraktiken der Internierten trafen, konnte der roll call zum Aushandlungsfeld von Macht und Ermächtigung werden. Denn dieser Fixpunkt bot für die Gefangenen immer wieder aufs Neue die Gelegenheit, sich zu der vorgegebenen Zeitstruktur zu positionieren, sich entweder zu fügen, pünktlich und geduldig zu sein, oder sich absichtlich zu verspäten oder gar nicht zum roll call zu erscheinen und damit nicht nur die Zeitordnung, sondern die ganze Ordnung der Einsperrung infrage zu stellen. Die Gewahrsamsmacht hingegen setzte ihre Zeitstrategien gegen solche Widerstände durch und sanktionierte Störungen der Zeitstruktur. Für die Wachen bedeuteten die Zählungen allerdings nicht nur die Möglichkeit, ihre hierarchische Überlegenheit zu demonstrieren, sondern auch die Notwendigkeit dazu, wollten sie ihre Glaubwürdigkeit bewahren. Der roll call erfüllte damit nicht nur eine konkrete Überwachungsfunktion, sondern besaß in der Interaktion von Wachen und Insassen nicht zuletzt eine symbolische Dimension. Das zeigt sich auch, wenn man den roll call nicht nur als zeitlichen Fixpunkt untersucht, sondern auch in seiner lozierenden Funktion: Beim roll call wurden die Körper der Internierten an einem Platz versammelt und in eine räumliche Anordnung gebracht, die sich an der Nummerierung der Gefangenen orientierte. Jedem Internierten war dadurch ein Platz in der Menge zugewiesen. Nicht nur in der Einsperrung an sich war also lozierende Gewalt wirksam,30 sondern auch in den alltäglichen raumzeitlichen Ordnungsstrukturen, die die Gewahrsamsmacht in den Lagern implementierte. Die Abwesenheit beim roll call, das häufig belegte Verstecken einzelner Internierter, ist eben nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Praktik, die durch ihre Terminierung zu einem widerständigen Akt wird. Solche Praktiken lassen sich als symbolische »Zeitspiele«31 im Sinne Helga Nowotnys begreifen, in denen das Bestreben sichtbar wird, »zu spielen, Grenzen zu verschieben, auszuprobieren ›was gilt‹ und Grenzen neu zu setzen«.32

28 Walker, Mort: The Lexicon of Comicana. New York 2000, S. 52. 29 Mit Bezug auf Norbert Elias spricht Gabriela Muri von der Synchronisierung als übergeordnetem Ziel von Zeitordnungen, die individuelle und gesellschaftliche Zeitpraktiken zusammenbringen sollen. Vgl. G. Muri: Pause, S. 66. 30 J.P. Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, S. 106. 31 H. Nowotny: Eigenzeit, S. 156. 32 Ebd.

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Wenn die Gefangenen die akustischen Signale missachteten, die sie zum roll call und den Inspektionen riefen,33 hatten sie Strafen zu erwarten. So liest man im Lagertagebuch von Sherbrooke: »One P/W. placed in detention for kicking football after call had sounded on the bugle, for Camp Commandant’s inspection.«34 Mit Arrest wurde im Mai 1944 auch ein Internierter im Lager Sherbrooke bestraft, der sich versteckte und nicht zur Zählung erschien: »One P.O.W. missing on 0700 hrs count, after fourth count he was located.«35 Am darauffolgenden Tag gab es erneut einen ähnlichen Zwischenfall: »Count at 2200 hrs delayed as 3 Pʼs.O.W. were hiding. Located under hut and all placed under arrest.«36 An diesen Beispielen wird deutlich, dass bereits ein einzelner Gefangener erhebliche Verzögerungen und Störungen verursachen konnte. Diejenigen, die sich eigentlich nach dem Zeitplan der Bewacher richten und den Appell ohne Murren über sich ergehen lassen sollten, begannen, die Verbindlichkeit des Zeitplans zu missachten und damit nicht nur die Autorität der Bewacher infrage zu stellen, sondern ihnen zusätzlich auch praktische Probleme zu bereiten. Damit handelt es sich bei den Unpünktlichkeiten der Internierten um zeitbezogene Gegenstrategien im Sinne Helga Nowotnys, die das Verhältnis zwischen dem Wartenden und dem, der warten lässt, vorübergehend umzukehren versuchten und sich deshalb auch als Ermächtigungsstrategien verstehen lassen. Denn »selbst die offenkundige Ohnmacht des Wartenden, in der sich Macht- und Statusdifferentiale ausdrücken, bleibt begrenzt und für Gegenstrategien offen«37. Ziele dieser Gegenstrategien waren im Lager beispielsweise die Durchsetzung von Eigenzeit und damit die Wahrung oder Wiedergewinnung von Autonomie und Handlungsspielräumen. Auch bei anderen Gelegenheiten verstießen die Internierten gegen die ZeitRegeln der Wachen und verhielten sich widerständig, beispielsweise bei der Frage, wie oft und wie lange die Gefangenen, die zu einer Arbeitsgruppe gehörten, die Arbeit unterbrechen durften, um zu rauchen. Solche Konflikte um informelle Pausen sind aus volkskundlich-kulturanthropologischer Perspektive bisher vor allem für Kontexte der Industriearbeit untersucht worden. Wolfgang Kaschuba versteht sie als Versuch, das Zeitregime der Betriebsleitung »wenigstens punktuell durch ›Bedürfniszeit‹ zu brechen«38. Die Tatsache, dass der Lagerkommandant in Monteith es für nötig befand, die Pausendauer für die arbeitenden Internierten auf die Minute genau festzulegen, deutet darauf hin, dass die Internierten in diesem Lager ihre Bedürfnis-

33 Zur akustischen Zeiteinteilung innerhalb der Lager-Soundscape siehe Kestler, Judith: Eislauf im Dreivierteltakt – Musik als Zugang zur Alltagskultur in kanadischen Internierungslagern, 1941-1946. In: Bachir-Loopuyt, Talia u.a. (Hg.): Musik – Kontext – Wissenschaft. Musiques – contextes – savoirs. Interdisziplinäre Forschung zu Musik. Perspectives interdisciplinaires sur la musique. Frankfurt am Main u.a. 2012, S. 247-259, hier S. 253. 34 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Vol. 37, 28. Juni 1943. LAC, RG 24, 15394. 35 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 43, 6. Mai 1944. LAC, RG 24, 15400. 36 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 4, Vol. 43, 7. Mai 1944. LAC, RG 24, 15400. 37 H. Nowotny: Eigenzeit, S. 148. 38 Kaschuba, Wolfgang: Arbeitskörper und Freizeitmensch. Der industrielle Habitus und seine postindustriellen Metamorphosen. In: Dauskardt, Michael/Gerndt, Helge (Hg.): Der industrialisierte Mensch. 28. Deutscher Volkskundekongress Hagen 1991. Münster 1993, S. 45-60, hier S. 51.

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zeit zuvor eigenmächtig ausgedehnt hatten: »In future P.O.W. Working Parties, escorts and provosts will only be permitted to smoke 10 minutes in each hour, viz., from 10 minutes to the hour until the hour. This order will be rigidly enforced.«39 Diese Regelung sollte aber nicht nur die Internierten davon abhalten, die Rauchpause über Gebühr in die Länge zu ziehen, sondern auch die Eskorten und ihre Vorgesetzten zu Pünktlichkeit, Zeit- und Arbeitsdisziplin anhalten. Denn die Pausenzeit war geteilte Zeit, die, im Gegensatz zum roll call, die hierarchische Beziehung zwischen den beiden Parteien temporär nivellieren konnte, was nicht vorgesehen war. Gerade die Pause, von Gabriela Muri als »Form von Nicht-Handlung«40 bezeichnet, eröffnete im Beziehungsraum des Lagers offensichtlich Handlungsspielräume und wurde zum Kristallisationspunkt widerständiger Praktiken. Mit Hans Joachim Sperling lassen sich diese umkämpften Pausen als »Manifestationen des Eigensinns«41 nicht nur der Internierten, sondern auch der Wachen interpretieren. Die Anweisung des Lagerkommandanten lässt sich demgegenüber als Versuch verstehen, »den Eigensinn der Arbeitenden zu domestizieren«.42 Damit passt sie sich ein in die Reihe der anderen Disziplinierungs- und Kontrollmaßnahmen, die die Gewahrsamsmacht gegenüber den Internierten und den Wachen anwandte. Zeit füllen: Emotionsmanagement und Konfliktvermeidungsstrategien Zwar fungierte der Zeitplan der Wachen als externer Taktgeber für die Internierten, doch ihre Zeit war dadurch nur punktuell besetzt. Viele Stunden am Tag waren die Gefangenen sich selbst überlassen und konnten sich, alleine oder in Gruppen, nach eigenem Gutdünken im Lager bewegen. In diesen Zeiten war es für die Wachen schwieriger, den Überblick über die Gefangenen und ihre Stimmungslage zu bewahren. Aus Sicht der Lagerkommandanten bargen die zwischen den einzelnen Tagesordnungspunkten liegenden Phasen deshalb beträchtliches Gefahrenpotenzial. Zu den Zeitstrategien der Gewahrsamsmacht gehörte es aus diesem Grund auch, die Lagerinsassen zu beschäftigen bzw. in Kooperation mit den Hilfsorganisationen Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Gefangenen sich selbst beschäftigen konnten. Dr. Jerome Davis, der die kanadische YMCA-Kriegsgefangenenhilfe leitete und koordinierte, konstatierte nach den ersten sechs Monaten, in denen die YMCA zur Unterstützung der Gefangenen tätig gewesen war: »[…] many of the Canadian Commandants have expressed appreciation for the work because they have recognized that a happy busy prisoner is one who is far easier to care for than any other kind«43.

39 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 1, Vol. 2, Daily Routine Order, 24. Februar 1941. LAC, RG 24, 15392. 40 G. Muri: Pause, S. 67. 41 Sperling, Hans Joachim: Pausen: Zur Innenansicht der Arbeitszeit. In: Zoll, Rainer (Hg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit. Frankfurt am Main 1988, S. 565-579, hier S. 566. 42 Ebd., S. 569-570. 43 Bericht von Dr. Jerome Davis über die Arbeit der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe in Kanada von November 1940 bis Mai 1941. LAC, MG 28, I 95, 272, File 12.

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Tatsächlich zeigen die Tagebücher aus den kanadischen Lagern, dass die Kommandanten und ihre Mitarbeiter die Verhaltensweisen der Gefangenen genau beobachteten, um Rückschlüsse auf ihre emotionale und psychische Verfassung zu ziehen. Bereits nach dem ersten Internierungsjahr kam man beispielsweise in Mimico zu dem Schluss, dass Untätigkeit den Gefangenen nicht gut tat: »The internees are clearly being affected by the lack of work to do. They are getting so used to staying by their beds, that they dislike leaving them at all now, in many instances. It is manifestly apparent that internees should be kept employed in some way, if there is work available.«44 Der Umstand, dass die Seeleute zu lange im Bett liegen blieben, wird hier als körperliches Symptom für emotionales Ungleichgewicht interpretiert und implizit als Gefahr für die raumzeitliche Ordnung des Lagerlebens eingestuft. Der Vorschlag, die Internierten zu beschäftigen, um dadurch den Zustand der Lethargie zu beenden, zeigt, dass die Lagerkommandanten Beschäftigungsmöglichkeiten als emotionale Praktiken des mobilizing einsetzten. Monique Scheer versteht darunter »manipulations of body and mind to evoke feelings where there are none, to focus diffuse arousals and give them an intelligible shape, or to change or remove emotions already there«45. Oberflächlich betrachtet orientierten sich die Strategien der kanadischen Wachen am »Prinzip des Nicht-Müßiggangs«,46 das Michel Foucault als handlungsleitende Maxime in französischen und preußischen Gefängnissen des 18. Jahrhunderts ausgemacht hat. Während dort jedoch vor allem die bestmögliche Ausnutzung der Zeit unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, eine »Intensivierung der Zeitnutzung«47 also, angestrebt war, waren es in den kanadischen Internierungslagern überwiegend emotionale und psychologische Erwägungen, die eine Beschäftigung der Gefangenen aus Sicht der Bewachenden ratsam erscheinen ließen. Aus dem gleichen Grund kamen die Lagerkommandanten und die zuständigen kanadischen Behörden auch den Hilfsorganisationen entgegen, die Aktivitäten wie Theaterspiel oder das Musizieren im Orchester durch Sach- und Geldspenden unterstützten, und setzten sich zudem für Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten ein. Wie Martin Auger betont, betrachteten die kanadischen Kommandanten Arbeit als besonders attraktiven Zeitvertreib und als gute Ablenkungsmöglichkeit für Gefangene: »Labour projects helped camp authorities manage prisoner behaviour and reduced the risk of escape.«48 Nicht nur der zeitliche Aspekt, sondern auch die Aufwertung der Arbeit durch Entlohnung spielten dabei Auger zufolge eine Rolle: »Paying inmates for their labour made authorities hope that they would not dare bite the hand that fed them.«49 Auch hier zeigt sich deutlich, auf welche Weise die Wachen in der Interak-

44 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 7, 23. Januar 1941. LAC, RG 24, 15391. 45 Scheer, Monique: Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history)? A Bourdieuian approach to understanding emotion. In: History and Theory 51 (2012), H. 2, S. 193-220, hier S. 209. 46 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 197. 47 Ebd., S. 198. 48 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 115. 49 Ebd., S. 93.

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tion mit den Gefangenen Techniken des »emotional management«50 nutzten, um Arbeitsmotivation und Zufriedenheit zu steigern und so letztlich die Kontrolle der Insassen zu erleichtern. Neben der Arbeit erschien den Behörden auch Bildung als ein geeignetes Mittel, um die Gefangenen zu beschäftigen. Nach anfänglichem Zögern war man rasch überzeugt: »[…] such classes might help boost the morale of the prisoners and leave less time for idleness«51. ›Morale‹ steht hier als Chiffre für die emotionale Verfassung der Insassen, auf die im Sinne Monique Scheers emotional mobilisierend eingewirkt werden sollte. Die implizite Abwertung scheinbar unbesetzter Zeit als »idleness« ist Bestandteil dieser Argumentation: Die Faulheit der Internierten fürchteten die Lagerkommandanten vor allem aufgrund ihrer negativen Auswirkungen auf die Psyche des Einzelnen sowie die Gruppendynamik des ganzen Lagers. In Farnham etwa war sich die kanadische Lagerleitung bewusst, dass die Förderung von Bildungsaktivitäten der Internierten für die Verwaltung des Lagers einen großen strategischen Nutzen besaß: »The idea behind this is to give the internees as much mental activity as possible, as it takes their minds off their many worries and makes them that much easier to control. After all in the running of an internment camp, the expedient thing to do is to run it with as little trouble as possible from the prisoners.«52

Gute Zeitstrategien waren aus Sicht der Lagerkommandanten also solche, die halfen, unbesetzte Zeit zu tilgen und dadurch das Gesamtziel der Einsperrung mit möglichst wenig Aufwand und Störungspotenzial zu erreichen. Was hier aus dem Erfahrungswissen der Wachen hergeleitet wird, lässt sich auch an psychologische Erkenntnisse über die Auswirkungen von Langeweile auf Gefangene rückbinden. Bereits im Jahr 1918 betonte Adolf Lucas Vischer in seiner Darstellung der Stacheldrahtkrankheit, wie viel Aggressionspotenzial unter anderem durch Langeweile in Gefangenenlagern entstehen kann.53 Konflikte zu vermeiden, war aber nicht nur deshalb strategisch klug, weil sie die Überwachung und Disziplinierung der Gefangenen im Lager behindert hätten, sondern auch, weil die deutschen Behörden aufgrund des Reziprozitätsprinzips und der regelmäßigen Berichte der Schweizer Diplomaten an das Auswärtige Amt rasch von einer Eskalation der Zustände in einem kanadischen Lager erfahren hätten. Dabei bestand immer die Gefahr, dass aus Vergeltung kanadische Gefangene in deutschen Lagern darunter hätten leiden müssen, ganz zu schweigen vom drohenden Imageverlust für Kanada als Aufenthaltsstaat für Gefangene.54 Wachen und Hilfsorganisatio-

50 M. Scheer: Are emotions a kind of practice, S. 209. 51 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 119. Die zunächst nur zögerliche Befürwortung von Unterrichtsmöglichkeiten ist durch die Angst der Kanadier vor dem Vorwurf der Indoktrination von Gefangenen zu erklären. 52 War Diary Camp Farnham (A/40), 7. November 1940. Zitiert nach ebd., S. 118. 53 A.L. Vischer: Die Stacheldraht-Krankheit, S. 25. 54 Zum Prinzip der Reziprozität und Kanadas Angst vor deutschen Vergeltungsaktionen siehe M. Auger: Prisoners of the home front, S. 148, sowie Kapitel 2, S. 49 f.

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nen mussten also ein starkes Interesse daran haben, den Internierten sinnvolle Beschäftigungen zu ermöglichen, um nicht nur innerhalb des Lagers, sondern auch auf der diplomatischen Ebene Konflikte zu vermeiden. Die liberale Haltung der kanadischen Behörden und Kommandanten gegenüber den zahlreichen Betätigungen der Internierten war keineswegs zweckfrei, sondern entstand aus strategischen Erwägungen heraus, wie ein Eintrag im Tagebuch des Lagers Farnham unterstreicht: »If they are given considerable amount of freedom concerning internal affairs in the compound and as much self-government as possible, it has the effect of making them that much easier to control and govern.«55 Indem die Lagerkommandanten den Insassen viele Freiheiten zugestanden, bedienten sie sich gezielt einer Herrschaftstechnik, die die Kontrolle der Internierten erleichtern sollte. Diese Einstellung zeigten die Kommandanten auch, indem sie den Internierten bei bestimmten zeitlichen Angelegenheiten Mitspracherechte einräumten. So lässt sich nachweisen, dass einzelne Lagerkommandanten sich mit dem Vertrauensmann der Gefangenen bei der Festlegung der täglichen Radio-Sendezeiten abstimmten; gesendet wurde »at certain hours during the day as arranged between the Canadian authorities and the camp spokesmen«56. Auch bei der zeitlichen Planung von Arbeitseinsätzen der Internierten besprachen sich die Lagerkommandanten hin und wieder mit den Vertrauensleuten, so etwa in Monteith im September 1941: »Arrangements were made with the Engineers and the Pʼs. O.W. for a new schedule of working hours commencing on Monday 22nd instant which call for a larger number of men to work both mornings and afternoons, but fewer hours.«57 Aus den gleichen Gründen gehörte es zu den Zeitstrategien der Kanadier, den Internierten freie Zeiten – etwa Sonntage und Feiertage – als Kompensationsräume zuzugestehen, die für körperlichen und emotionalen Ausgleich sorgen sollten.58 Jede Art von ›Zeitvertreib‹ – egal ob Arbeit, Sport oder Bastelarbeiten – diente dem übergeordneten Ziel, jeden einzelnen Internierten und damit die Gesamtheit der Insassen mental zu stabilisieren, die Ruhe im Lager zu bewahren und Konflikte zu vermeiden. Gerade dem Sport wurde eine wichtige psychische Ventilfunktion zugeschrieben;59 viele Lagerkommandanten räumten daher Sportveranstaltungen viel Zeit ein, indem sie den Internierten Wettkämpfe ermöglichten oder selbst Sporttage ausriefen. In Monteith fand im Juli 1944 »a big all day Sports Day« 60 statt, und auch in Petawawa beraumte der Lagerkommandant im Frühjahr 1943 einen Sporttag an: »All P.O.W. working parties cancelled for day by order of Commandant, on account of Sports Day for Ps.O.W.«61 Diese Zeitstrategien lassen sich also als Konfliktvermeidungsstrategien und damit als aktives Emotionsmanagement der kanadischen Kommandan-

55 War Diary Camp Farnham (A/40), 7. November 1940. Zitiert nach ebd., S. 118. 56 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 22-23. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 57 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 1, Vol. 9, 19. September 1941. LAC, RG 24, 15392. 58 Zu Freizeit als Kompensationsraum siehe G. Muri: Pause, S. 157. 59 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 50. 60 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 42, 16. Juli 1944. LAC, RG 24, 15392. 61 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 43, 1. Mai 1943. LAC, RG 24, 15396.

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ten auffassen. Allerdings sind solche Maßnahmen nicht spezifisch für Kanada; auch in deutschen Kriegsgefangenenlagern des Zweiten Weltkriegs diente Sport aus Sicht der Kommandanten der Flucht- und Konfliktprävention.62 Daraus entstand ein paradoxes Grundmuster: Den Internierten wurden (vermeintliche) Freiräume zugestanden, die dazu dienten, sie indirekt zu disziplinieren und die Voraussetzungen für optimale Kontrollierbarkeit zu schaffen. Perspektive schaffen: Politische Zukunftsstrategien Die bereits angesprochene Förderung von Bildung muss auch noch aus einem anderen Blickwinkel als zeitbezogene Macht- und Kontrollstrategie betrachtet werden. Denn dass die Gefangenen ihre Zeit nutzten, um sich weiterzubilden, war nicht nur von kanadischer Seite gefördert, sondern auch aus Deutschland ausdrücklich gewünscht. Eine diesbezügliche Anweisung erging von der deutschen Regierung über die Schutzmacht an die Vertrauensleute der Lager. Im entsprechenden Schriftstück aus dem Jahr 1942 heißt es: »Die innerdeutschen Stellen haben Interesse an der Hebung des Bildungsstandes der deutschen Zivilinternierten im Britischen Reich. Es ist Aufgabe der Vertrauensmänner, die Einrichtung von Fachlehrgängen zur Berufsförderung der Zivilinternierten mit allen Mitteln zu fördern […]. Die innerdeutschen Stellen betrachten die Teilnahme an diesen Lehrgängen als selbstverständliche Pflicht eines jeden Zivilinternierten. Die Vertrauensmänner haben daher ihren ganzen Einfluss dahingehend geltend zu machen, dass sämtliche Zivilinternierte die für sie in Frage kommenden Lehrgänge regelmässig besuchen. Sie haben dafür zu sorgen, dass bei geeigneter Vorbildung – soweit noch nicht geschehen – alle Zivilinternierten sich auf das Abitur, und alle Handwerker auf die Meisterprüfung vorbereiten. […] Es muss das Bestreben jedes Zivilinternierten sein, nicht nur die Zeit der Internierung nutzbar zu verwerten, sondern auch ein Ziel anzustreben, dessen Erreichung für ihn nach der Rückkehr in die Heimat einen Vorteil in seiner Zukunft bildet.«63

Mit dieser Anordnung versuchten also auch die deutschen Behörden, Einfluss auf alltägliche Zeitpraktiken der Internierten zu nehmen, indem sie die Art und Weise der Zeitnutzung festlegten (»regelmässig«) und durch den expliziten, aber vagen Zukunftsbezug aufwerteten. Die Gründe für dieses Interesse an der Weiterbildung der Internierten liegen auf der Hand: Ein Fachkräftemangel war für die Zeit nach dem Krieg leicht zu prognostizieren. Glaubte man an einen deutschen Sieg, waren die Kriegsgefangenen, gerade die Seeleute, eine wichtige Ressource für den wirtschaftlichen Aufbau des vergrößerten deutschen Reichs.64 Demzufolge legten die deut-

62 Vgl. hierzu McCarthy, Tony: War Games. The Story of Sport in World War Two. London 1989, S. 158. 63 Zitiert in PA AA, Bern 4280. Hervorhebung im Original. 64 Die zentrale Rolle der Handelsschifffahrt in diesem Szenario, vor allem zur Versorgung der Kolonien und der Abwicklung des Außenhandels, wurde auch während des Krieges durch Propagandaschriften verbreitet, beispielsweise bei Schmidt, Alfred E.: Unsere Handelsma-

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schen Stellen nicht nur Wert auf die Bildungsinhalte, sondern auch auf die Regelmäßigkeit des Unterrichts und auf die Anwendbarkeit des Gelernten. Über die oben erwähnten Kommunikationskanäle versuchten sie, in ihrem Sinne auf die Unterrichtsgestaltung in den Lagern einzuwirken. Auch die Aktivitäten der Kanadier auf dem Gebiet der Reeducation lassen sich als politisch motivierte Zeitstrategien begreifen. Sie setzten bei den täglichen Zeitpraktiken der Internierten an, um eine nachhaltige Beeinflussung der Insassen in der Zukunft zu erreichen. Gerade anhand der Bildung wird deutlich, wie verschiedene, teils sogar gegensätzliche Beweggründe der beteiligten Akteure zum gleichen Endergebnis führen konnten. Sowohl die Insassen selbst als auch die deutschen und kanadischen Behörden hatten ein je unterschiedliches Interesse daran, vor allem solche Beschäftigungen zu fördern, die den Gefangenen eine Zukunftsperspektive boten. Dies führte dazu, dass in den Lagern jene Bildungsangebote und »numerous opportunities to pursue recreational activities«65 entstanden, die als typisch für die kanadische Internierungssituation gelten66 und mit dazu beitrugen, dass sich eine Bewertung der kanadischen Internierung als »home front victory«67 durchsetzen konnte. In diesem kanadischen Selbstlobtopos wird die Überführung praktischer Erfordernisse des Internierungsalltags in ein nationalisiertes Narrativ greifbar und damit auch die Transformation der Internierungsgeschichte in symbolisches Kapital des ehemaligen Gewahrsamslandes. Exemplarisch lässt sich in diesem Zusammenhang eine Passage aus Chris M. Madsens Studie über deutsche Kriegsgefangene in Kanada anführen: »The attitudes of former prisoners of war towards their captive years provide perhaps the best testimony of Canadian treatment.«68

Z EITSTRATEGIEN

ALS

B EWÄLTIGUNGSSTRATEGIEN

Für die Seeleute bedeutete die Internierung das vorläufige Ende ihrer Berufstätigkeit. Ob sie ihre Tätigkeit jemals wieder aufnehmen konnten, und wenn ja, wann dies der Fall sein würde, war zunächst nicht absehbar; schließlich verbüßten sie im Gegensatz zu verurteilten Strafgefangenen kein vorab festgesetztes Strafmaß. Diese Ungewissheit wirkte sich nicht nur auf ihre Zukunftsperspektive aus, sondern auch auf die individuelle und kollektive Bewältigung des neuen Alltags. Die potenzielle Endlosigkeit von Internierung und Kriegsgefangenschaft als wichtigster Unterschied zur zeitlich klar begrenzten Haftstrafe wird von vielen Autoren als besonders belastend beschrieben und auch in Selbstzeugnissen thematisiert.69 Ausgehend davon stellt sich nicht nur die Frage, wie sich das Zeiterleben der Seeleute im Internierungslager veränderte, sondern auch, wie sie aus dieser Situation heraus

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rine. Ihre Aufgaben, ihre Flotte und ihre Fahrensleute. Von Kapitän Alfred E. Schmidt, Seefahrtoberlehrer an der Reichs-Seefahrtschule zu Lübeck. Berlin 1941, S. 61-63. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 92. Ebd., S. 116. Ebd., S. 147. C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 96. Vgl. etwa J. Cazeneuve: Essai sur la psychologie du prisonnier de guerre, S. 84.

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Praktiken und Strategien des Umgangs mit Zeit entwickelten, die der Sinnstiftung und der Bewältigung der Internierungserfahrung dienten. Zu klären ist in diesem Zusammenhang auch, in welchem Verhältnis sich die Internierten dabei zu den von der Gewahrsamsmacht und den Hilfsorganisationen eingesetzten Zeitstrategien positionierten. Im Juni 1945 schrieb Rudolf Becker an seinen Vater: »Die Zeit wird jetzt länger als die verflossene. Wenn auch die ganzen 5 Jahre nichts als ein ewiger Wartezustand gewesen sind, das jetzige Warten ist das schwierigste. Früher zählten wir einen Monat nur einem Tage gleich, jetzt kommt uns ein Monat wie ein Jahr vor.«70 Beckers Reflexion über den Wandel seiner eigenen Zeitwahrnehmung ist charakteristisch für den selbstreflexiven Charakter des gesamten Briefkonvoluts und verweist darauf, dass Zeitfragen für die Gefangenen ein Kernthema in der Auseinandersetzung mit ihrer unfreien Situation bildeten. Der tiefgreifende Wandel des Zeitempfindens, den Becker in seinen Briefen aus der Internierung verschiedentlich anspricht, zeichnete sich häufig schon mit Beginn der Liegezeit in Überseehäfen nach Kriegsbeginn ab und spitzte sich nach der Gefangennahme zu. Im »Niemandsland der Gefangenschaft«71 wirkten nicht nur die räumlichen Gegebenheiten verunsichernd, sondern auch die fehlende zeitliche Begrenzung der Einsperrung.72 Während Forschungen zu Arbeitslosigkeit eine umfassende »Entstrukturierung«73 des Zeiterlebens und der Zeitnutzung auf einer alltäglichen Ebene in den Mittelpunkt stellen, waren die internierten Seeleute in ihrem Alltag auf andere Weise von Entstrukturierungserfahrungen betroffen. Wie am Beispiel des roll call deutlich wurde, waren durch die Einsperrung zeitliche Rahmenstrukturen vorgegeben, die stabilisierend wirkten, innerhalb derer jedoch auch Zeiten unbesetzt blieben. Die Internierung als Ganzes ist also weniger als »Zeitstrukturkrise«74 zu bezeichnen, sondern eher als Sinnstiftungskrise, zu deren Bewältigung die Seeleute auch zeitbezogene Praktiken und Strategien einsetzten. Diese dienten dazu, die belastenden Aspekte des Zeiterlebens im Lager zu reduzieren und jene Probleme zu mildern, die durch die Infragestellung der persönlichen Zukunftsperspektive entstanden. Manche Publikationen zum Alltagsleben in Gefangenenlagern vermitteln den Eindruck, die Internierten hätten wie in einem Ferienlager aus einem bestehenden Angebot an Freizeitaktivitäten wählen können und sich so die lange Zeit vertrieben. So schreiben etwa Chris Madsen und Robert Henderson über die Insassen kanadi-

70 Rudolf Becker an seinen Vater, 28. Juni 1945. DSM, III A 3324 b. 71 Jensch, Nikolaus: Über psychogene Störungen der Kriegsgefangenschaft. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift 74 (1949), H. 12, S. 368-370, hier S. 369. 72 Der Umgang mit ›zu viel‹ Zeit bei ungewisser Zukunftsperspektive ist seit der MarienthalStudie von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel auch als Schwierigkeit von Erwerbslosen bekannt. Vgl. Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul F./Zeisel, Hans: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt am Main 1975. 73 Moser, Johannes: »Time is what you make out of it.« Zeitwahrnehmung und Zeitpraxen von Arbeitslosen. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 33 (1999/2000), S. 67-79, hier S. 70. 74 S. Heinemeier: Zeitstrukturkrisen, S. 7.

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scher Lager: »Internees participated in a wide range of activities to fill the months and years.«75 An anderer Stelle ihrer Studie heißt es: »Most, now in their seventies or eighties, look back without rancour, some even affectionately at their experience in Canada. And, why should it be otherwise? The Canada that they remember is filled with soccer games, instructional courses, German plays, escapes, and the ›Battle of Bowmanville‹.«76

Hier wird die Aufzählung von Aktivitäten der Gefangenen zur Untermauerung der These benutzt, die Gefangenschaft sei für die Insassen im Großen und Ganzen eine mit interessanten Tätigkeiten angefüllte Zeit gewesen. Als Grundlage für diese positive Bewertung betrachtet Madsen den attraktiven ›Zeitvertreib‹. Diese einseitige Perspektive verharmlost nicht nur das Gefangenschaftserlebnis und die damit einhergehende psychische Belastung, sondern verkennt auch, dass die Entwicklung von Zeitstrategien – zu denen die angesprochenen »activities« gehören – ein fortwährender produktiver Prozess war, der vom individuellen Zeiterleben und dem Wandel von Zeitperspektiven abhing und auch Phasen von Orientierungslosigkeit und Desinteresse einschloss. Die Internierten setzten sich beinahe ununterbrochen mit diesem Thema auseinander, erprobten neue Praktiken und Strategien und wandelten sie dabei zugleich immer wieder ab, um sie den sich verändernden äußeren Gegebenheiten anzupassen und im Sinne eines emotionalen mobilizing auf ihre jeweilige innere Disposition einzuwirken.77 Patrick Farges vertritt im Zusammenhang mit kanadischen Lagern für Zivilinternierte die These, das intensive Leben im Lager habe auch dazu gedient, die eigene Ohnmacht angesichts dessen, was außerhalb des Lagers geschah, zu vergessen.78 Welche Strategien Gefangene in dieser Situation für sich in Erwägung zogen, hing von der subjektiven Wahrnehmung der Zeit ab. Obwohl die Internierung häufig vor allem als Phase langen Wartens dargestellt wird,79 die wie Langzeitarbeitslosigkeit einer Schwellenzeit ähnelt,80 zeigt sich in Selbstzeugnissen von Gefangenen, aber auch in wissenschaftlicher Literatur über das Zeiterleben von Lager- und Gefängnisinsassen ein zwiespältiges Verhältnis der Internierten zur verstreichenden Zeit: Auf der einen Seite steht – angesichts der (zu) langsam vergehenden Zeit – das Gefühl des ungeduldigen Wartens auf die Zukunft, auf der anderen Seite das bedauernde Zurückschauen auf die (zu) schnell und unwiederbringlich verstreichende Lebenszeit.

75 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 73. 76 Ebd., S. 96. Beim sogenannten Battle of Bowmanville protestierten deutsche Offiziere im kanadischen Lager Bowmanville handgreiflich und über mehrere Tage dagegen, dass sie als Vergeltung für die Fesselung kanadischer Gefangener in Deutschland ihrerseits gefesselt werden sollten. Ausführlich hierzu vgl. D.J. Carter: POW – behind Canadian barbed wire, S. 107-114. 77 M. Scheer: Are emotions a kind of practice, S. 209. 78 Farges, Patrick: Le trait d’union ou l’intégration sans l’oubli. Itinéraires d’exilés germanophones au Canada après 1933. Paris 2008, S. 123. 79 A. Lehmann: Gefangenschaft und Heimkehr, S. 40-41. 80 H. Schilling: Welche Farbe hat die Zeit, S. 11.

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Die emotionale Spannung zwischen diesen beiden Sichtweisen ist charakteristisch für das Zeiterleben von Internierten, wie Tracy Strong, Generalsekretär der YMCA, beobachtete: »They are men for whom it is agony to think too much about the past, and agony to think too much about the future.«81 Daraus resultierte seiner Ansicht nach eine fast zwangsläufige Hinwendung zur Gegenwart und eine Konzentration auf die Möglichkeiten ihrer zeitlichen (Re-)Organisation. Die Tage verkürzen: Strategien der Wahrnehmungsbeschleunigung Bei vielen Internierten entstand im Lager zunächst der Wunsch, die lange Zeit mit Aktivitäten zu füllen und dadurch das Gefühl der Langeweile zu bekämpfen, so auch bei Rudolf Becker. Er empfand allerdings nicht erst die Gefangenschaft, sondern auch die unvorhergesehene Liegezeit seines Schiffes in Brasilien bereits nach wenigen Wochen als »ein großes Warten«.82 Dieser »Hinhaltezustand«83 war für ihn vor allem durch Ereignis- und Beschäftigungslosigkeit sowie durch Eintönigkeit gekennzeichnet.84 Was Becker in seinen Briefen in immer neuen Formulierungen beschrieb, umreißt einerseits einen Zustand der Langeweile, gibt andererseits jedoch auch Aufschluss über Idealvorstellungen eines produktiven Lebens, die im Briefkontext immer auch im Hinblick auf den Adressaten gelesen werden müssen. Becker wünschte sich Bewegung und Veränderung, kurz: Er wollte seine gewohnte Tätigkeit als Schiffsoffizier auf großer Fahrt wieder aufnehmen: »Hoffentlich bekommen wir bald wieder Gelegenheit zu fahren […].«85 Das Bedürfnis, dem durch Langweile verlangsamten Zeiterleben86 etwas entgegenzusetzen, taucht in Beckers Briefen immer wieder auf. Dabei thematisierte er verschiedene Arten, mit der plötzlich im Überfluss vorhandenen Zeit umzugehen. Der Müdigkeit, die aus Monotonie resultieren kann,87 nachzugeben und einen Teil der Zeit einfach zu verschlafen, erschien nicht nur Rudolf Becker zumindest zeitweise attraktiv. Manchmal, so schrieb er an den Vater, »schlagen wir so die Zeit tot mit herumdösen und diskutieren«88. Beckers Formulierung transportiert die Ziellosigkeit dieser Beschäftigung, die ihn selbst nur vorübergehend zufriedenstellte. Es drängte ihn offensichtlich danach, »etwas [zu] unternehmen, das mir Beschäftigung gibt und Tageswerk ist«89. In dieser Äußerung zeigt sich ein deutliches Bedürfnis nach Struktur, nach einer Untergliederung der langen Zeit und dem Ausfüllen der

81 Zitat von Tracy Strong, Generalsekretär der YMCA, aus einem undatierten Text über die YMCA-Kriegsgefangenenhilfe. LAC, MG 28, I 95, 273, File 1. 82 Rudolf Becker an seinen Vater, Bahia, 24. Oktober 1939. DSM, III A 3324 a. 83 Rudolf Becker an seinen Vater, Pernambuco, 15. November 1939. DSM, III A 3324 a. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen. München 62001, S. 70. 87 Kast, Verena: Interesse und Langeweile als Quellen schöpferischer Energie. Ostfildern 3 2011, S. 150. 88 Rudolf Becker an seinen Vater, Bahia, 24. Oktober 1939. DSM, III A 3324 a. 89 Rudolf Becker an seinen Vater, Pernambuco, 7. Dezember 1939. DSM, III A 3324 a.

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einzelnen Tage. Entsprechend seinem Aufenthaltsort Bahia, später Pernambuco (Brasilien), begann Becker deshalb damit, im Selbststudium Portugiesisch zu lernen.90 Damit bediente er sich einer der vier Methoden des »time-filling«, 91 die John Laffin in seinen Überlegungen zur Gefangenschaft unterscheidet: handwerkliche, körperliche, intellektuelle oder imaginative Aktivitäten.92 Intellektualität bildete die gesamten Kriegsjahre hindurch die Basis für Beckers Beschäftigungen; in den Thematisierungen dieser Aufgaben gegenüber dem Vater wird punktuell ein familiärer Hintergrund greifbar, zu dem offensichtlich der regelmäßige Austausch über Literatur, Philosophie und Politik gehörte. Demgegenüber scheint im Hause Becker vor allem geistiger Stillstand legitimierungsbedürftig, wie das obige Zitat veranschaulicht. Die Ziellosigkeit der Situation schien sich auf Beckers Sprachenstudium zu übertragen, das ohne die rahmende Struktur eines Kurses stattfinden musste: »Man doktert so etwas am Portugiesischen herum«.93 In dieser Hinsicht bildete die Gefangenschaft für Becker zunächst keinen großen Gegensatz zur Liegezeit in Brasilien. Die Hauptschwierigkeit blieb auch im südenglischen Lager nahe Ascot bestehen: Es gab »wenig Möglichkeit, seinen Geist frisch zu halten«94. In Ermangelung von Alternativen hielt sich Becker zunächst weiter an das Portugiesischlernen, womit er sich »täglich mehrere Stunden«95 befasste. Anwenden konnte er seine Portugiesisch-Kenntnisse in England allerdings nicht mehr; das Sprachenstudium erfüllte für ihn dort offenbar hauptsächlich die Funktion, sich die Zeit zu vertreiben und das Gelernte im Kopf zu behalten. Weil Becker bei der Verlegung nach Kanada im Juni 1940 seine PortugiesischUnterlagen nicht mitnehmen konnte, war seine weitere Beschäftigung mit dieser Sprache stark eingeschränkt.96 Daran wird die Instabilität und Prekarität von Zeitstrategien in der Internierung deutlich: Ob und wie lange sich bestimmte Praktiken aufrechterhalten ließen, hing von äußeren Faktoren ab, die ein einzelner Internierter oft nicht beeinflussen konnte. Mit dem Wegfall des Portugiesischlernens finden sich viele Passagen in Beckers Briefen, in denen er erneut seine Langeweile andeutete, mal verklausuliert, mal deutlicher: »Mitzuteilen gibt es ja von hier nichts. Irgendeine den Geist frisch haltende Arbeit habe ich nicht, mein portugiesisches Lehrbuch ist auch in England geblieben. So herrscht bei mir intensivste geistige Verdunkelung von 0-24 Uhr.«97 Dass Becker in dieser Formulierung die Langeweile 24 einzelne, nicht gefüllte Stunden andauern lässt, unterstreicht die extreme Dehnung und Verlangsamung seines Zeitempfindens. Die Eintönigkeit des Lagerlebens, in der er »schon jeden Lagerinsassen von hinten« kannte und jedes Gesprächsthema »sich schon zum sound-

90 Zu diesem Zweck ließ sich Becker ein Portugiesisch-Lehrbuch und ein deutsch-portugiesisches Wörterbuch von seinem Vater schicken. Rudolf Becker an seinen Vater, Pernambuco, 7. Dezember 1939. DSM, III A 3324 a. 91 Laffin, John: The Anatomy of Captivity. London 1968, S. 158. 92 Ebd. 93 Rudolf Becker an seinen Vater, Pernambuco, 17. Januar 1940. DSM, III A 3324 a. 94 Rudolf Becker an seinen Vater, 2. April 1940. DSM, III A 3324 b. 95 Rudolf Becker an seinen Vater, 29. April 1940. DSM, III A 3324 b. 96 Rudolf Becker an seinen Vater, 21. Juli 1940. DSM, III A 3324 b. 97 Ebd.

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sovielten Male wiederholt«98 hatte, wirkt in Beckers Briefen aus den ersten Monaten in Kanada fast ausweglos, zumal eine »eigentliche, geregelte Beschäftigung«99 für ihn nicht zu finden war. Das änderte sich jedoch im November 1940: »Ich habe in etwa eine Beschäftigung gefunden. Ich bin der Obmann unseres Hospitals geworden, da wir keinen deutschen Arzt unter uns haben. Dadurch ist jeder Tag mit etwas ausgefüllt, und man hat etwas um sich, was Sorgen macht.«100 Nun zerfiel der Tag für Becker offenbar nicht mehr in 24 einzelne Stunden, sondern war als ganze Zeiteinheit durch die neue Tätigkeit besetzt. Hier zeigt sich, dass das Sprechen und Schreiben Internierter über Zeit häufig metaphorisch ist. Oft wird, wie hier, die Zeit zum leeren Gefäß, das gefüllt werden muss, oder es gilt, die Zeit zu verbrauchen, zu vertreiben oder gar totzuschlagen. Diese Denkbilder und Bezeichnungen gingen auch in wissenschaftliche Überlegungen zum Umgang von Internierten mit Zeit ein.101 Doch selbst wenn, wie in Beckers Fall, vorübergehend eine Aktivität gefunden war, änderte sich nichts an den unterhalb dieser Ebene bestehenden Hauptproblemen, dem Warten und der Monotonie: »Jeder Tag hat hier sein gleiches Gesicht.«102 Der Verweis auf das »hier« der Internierung macht deutlich, wie stark Beckers Zeiterleben durch das Lager als den Ort geprägt war, an dem er die Zeit verbringen musste. Der Raum des Lagers drückte der Zeit seinen Stempel auf.103 Die entstehende Langeweile veränderte die Haltung der Insassen gegenüber der Zeit. Sie erschien vielen wie eine »endlose Gegenwart«,104 so auch Rudolf Becker, der an seinen Vater schrieb: »Alles wartet auf die Zukunft, die ja heuer sein soll.«105 In Beckers Briefen wird auch deutlich, dass der Umgang der Internierten mit ihrer Zeit nicht statisch war, sondern jeden Tag aufs Neue situativ durch konkrete Handlungen definiert wurde. Nach etwas mehr als einem Jahr als Gefangener schrieb er: »Es fällt mir nicht mehr schwer, viele Stunden am Tag herumzulungern, ich habe mich akklimatisiert. Wenn erst der Winter vorbei ist, lege ich mich einfach den ganzen Tag in die Sonne.«106 Doch diese Äußerung markiert keinesfalls einen Wendepunkt in Beckers Zeitverhalten, sondern ist eine Momentaufnahme aus dem fortwährenden Prozess seiner persönlichen Auseinandersetzung mit der Zeit der Internierung, die durch den steten Kampf gegen die eigene »Trägheit«107 geprägt war. Diese Passage zeigt abermals Beckers Reflexion über das eigene Zeitverhalten. Aus seiner

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Rudolf Becker an seinen Vater, 25. August 1940. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 25. Oktober 1940. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 26. November 1940. DSM, III A 3324 b. Etwa in Formulierungen wie »consuming time«, siehe G. Carr: Engraving and Embroidering Emotions Upon the Material Culture of Internment, S. 140, oder »filling time«, vgl. C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 73. Rudolf Becker an seinen Vater, 13. Mai 1941. DSM, III A 3324 b. Zur wechselseitigen Abhängigkeit von Zeit und Raum siehe T. Hengartner: Zeit-Fragen, S. 16. Kern, Maria T.: Langeweile. Modell eines psychologisch-anthropologischen Phänomens. Egg bei Einsiedeln 2008, S. 104. Rudolf Becker an seinen Vater, 17. Oktober 1943. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 4. April 1941. DSM, III A 3324 b. Etwa im Brief Rudolf Beckers an seinen Vater, 5. Juli 1944. DSM, III A 3324 b.

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Formulierung spricht außerdem ein großzügiger und fast sorglos wirkender Umgang mit der enormen Menge an Zeit, die in Einheiten von vielen Stunden oder ganzen Tagen gemessen wird. Im nächsten Brief heißt es: »Aber im Augenblick macht es mir gar nichts aus, viele Stunden diskutierend herumzustehen und Blitzkriege theoretisch zu führen.«108 Dem Vater gegenüber wird diese vermeintlich unproduktive Beschäftigung als Ausnahme markiert. Die theoretische Kriegsführung in der Phase verstärkter deutscher Luftangriffe auf englische Städte, die Becker hier anspricht, lässt sich als imaginative Beschäftigung im Sinne John Laffins begreifen, die dem Ziel des time-filling diente.109 Wie hier deutlich wird, war die Frage, welche Zeitstrategie gerade angebracht erschien, einerseits von äußeren Gegebenheiten abhängig und andererseits Stimmungsschwankungen unterworfen und damit auch eine Frage der individuellen Tagesform. Welch hohen Stellenwert das Thema Zeit beispielsweise bei der Bewertung von Neuigkeiten über den Kriegsverlauf besaß, illustriert ein Brief Beckers an den Vater vom 14. Dezember 1941: »Meine Meinung über die neuesten Brände in der Welt schwankt noch. Wir fragen zu leicht eben, dauert es für uns hier länger oder stellt es eine Verkürzung unserer Gefangenzeit [sic] dar.«110 Alles konnte zur Frage nach der eigenen Internierungsdauer in Beziehung gesetzt werden – eine Perspektive, die Becker selbst offensichtlich auch kritisch sah, ohne sich ihr ganz entziehen zu können. Eine weitere Strategie des time-filling, die sportliche Betätigung,111 griff Becker, wie die meisten Internierten in kanadischen Lagern, vor allem in den Sommermonaten auf. Im Juni 1941 schrieb er: »Ich vertreibe mir meine Zeit jetzt mit braun werden, Frühsport, Fußball usw.«112 Die schweizerischen Diplomaten, die als Interessenvertreter Deutschlands die kanadischen Lager besuchten, beobachteten ebenfalls, dass Sport für die Internierten zu den wichtigsten Aktivitäten gehörte.113 Auch die Menge an Sportartikeln unter den Hilfsgütern, die von der YMCA geliefert wurden, unterstreicht die Relevanz des Sports.114 Schwimmen, in manchen Lagern auch Fischen oder Bootfahren, waren beliebte Sommerbeschäftigungen; im Winter trat Eishockey an ihre Stelle.115 Erving Goffman bezeichnet solche Unternehmungen in totalen Institutionen als »kollektive Ablenkungsbeschäftigungen«.116 Der Gewinn dieser Tätig-

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Rudolf Becker an seinen Vater, 23. April 1941. DSM, III A 3324 b. J. Laffin: The Anatomy of Captivity, S. 158. Rudolf Becker an seinen Vater, 14. Dezember 1941. DSM, III A 3324 b. J. Laffin: The Anatomy of Captivity, S. 158. Rudolf Becker an seinen Vater, 10. Juni 1941. DSM, III A 3324 b. Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 18. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 114 Die Ausgaben der YMCA für die Förderung sportlicher Aktivitäten zwischen 1940 und 1946 bildeten mit 56.613,28 kanadischen Dollar den zweitstärksten Posten nach den Kosten für Bildung und Unterricht. Siehe Consolidated Report of Finances, War Prisonersʼ Aid Committee for Canada, 31. Juli 1946. LAC, MG 28, I 95, 108. 115 Bericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in den Lagern Petawawa (P/33), Gravenhurst (C/20) und Bowmanville (30) in der Zeit zwischen Juli und September 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. 116 E. Goffman: Asyle, S. 72.

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keiten geht jedoch weit über bloße Ablenkung hinaus. In Äußerungen von Kriegsgefangenen in anderen Ländern kommt die Bewältigungsfunktion von Sport und Bewegung klar zum Ausdruck.117 Anhand von Beckers Briefen wird deutlich, dass diese Wirkung durch eine vorübergehende Veränderung des subjektiven Zeiterlebens erzielt wurde, wie Becker gegenüber seinem Vater betonte: »Sonne und Sport verkürzen die Tage.«118 Abgesehen von diesem individuellen und subjektiven Aspekt lassen sich sportliche Aktivitäten auch als Praktiken zur Herstellung einer zeitlichen Ordnung begreifen. Während seines ersten Winters in Kanada erschloss sich Rudolf Becker ein neues Betätigungsfeld, indem er »ein deutsch-englisches seemännisches Wörterbuch von etwa 7000 Wörtern«119 erstellte. Diese Aufgabe bildete zugleich eine Ressource für weitere, längerfristige Projekte, wie Beckers Idee zeigt, das Wörterbuch im nächsten Winter ins Spanische zu übersetzen.120 Und tatsächlich: Im Rückblick auf den Winter 1941/42 berichtete Becker, dass er das Wörterbuch mittlerweile »auf ca. 10.000 Worte gebracht«121 habe. Daneben erwähnte er »[e]ine Arbeit von 160 Schreibmaschinenseiten über Seeversicherung […]. Daran betätige ich meine Sammelwut. Es ist eigentlich die Liebhaberfortsetzung einer Arbeit, die ich einmal vor Jahren aus Langeweile während eines dreimonatigen Festungsaufenthalts begonnen hatte.«122 Anders als bei vielen Internierten, die sich mit Bastelarbeiten wie etwa dem Bau von Schiffsmodellen beschäftigten, überwog bei Becker stets die geistige Arbeit. Das kann als Beleg für Albrecht Lehmans These gelesen werden, dass in Zwangssituationen jeder Mensch auf individuell »erprobte Verhaltensmuster«123 zurückgreift, welche die Grundlage für Bewältigungsstrategien bilden können, wenn sie an die Erfordernisse der jeweiligen Situation angepasst werden. Indem Becker ambitionierte Projekte wie das Wörterbuch in Angriff nahm, verfolgte er eine Strategie, die Gillian Carr im Zusammenhang mit Bastelarbeiten bei britischen Zivilinternierten beobachtete: Die im Sinne der speziellen Zeitökonomie der Internierung »most effective items«,124 die Internierte anfertigen konnten, waren diejenigen, deren Herstellung sehr zeitaufwendig war. In diesen Objekten materialisiert sich Carr zufolge auch die emotionale Erfahrung des Interniertseins, zu der nicht zuletzt die Langeweile gehört, die durch die handwerkliche Arbeit bekämpft werden sollte.125 Die auf Abbildung 27 sichtbaren, teils sehr filigranen Artefakte lassen vermuten, dass auch ihre Herstellung sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat. Interessant ist die essenzialisierende und

117 T. McCarthy: War Games, S. 150. Gerade in Soldatenlagern spielte dabei auch die Vorstellung eine Rolle, den eigenen Körper fit und kampfbereit zu erhalten. 118 Rudolf Becker an seinen Vater, 13. Juni 1941. DSM, III A 3324 b. 119 Rudolf Becker an seinen Vater, 5. August 1941. DSM, III A 3324 b. 120 Ebd. 121 Rudolf Becker an seinen Vater, 8. Juli 1942. DSM, III A 3324 b. 122 Ebd. Zeitpunkt und Umstände des angesprochenen Festungsaufenthalts sind nicht zu eruieren. 123 A. Lehmann: Zwangskultur – Hungerkultur, hier S. 211. 124 G. Carr: Engraving and Embroidering Emotions Upon the Material Culture of Internment, S. 140. 125 Ebd., S. 143.

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banalisierende Zuschreibung seitens der kanadischen Lagerleitung in der originalen Bildunterschrift, die den Kontext und die Bewältigungsfunktion dieser Handwerksarbeiten weitgehend ausblendet. Abbildung 27: Internierte Seeleute im Lager Sherbrooke präsentieren Schnitzarbeiten und selbstgebaute Schiffsmodelle

Die originale Bildunterschrift lautet: »Handicrafts come natural to those prisoners of war. This display is a small sample of what they could exhibit in a hobbies’ show. They also enjoy sports, music, art, and acrobatics.« Quelle: PA AA, R 127.704.

Das Anlegen von Gärten und Parks im Lager lässt sich in ähnlicher Weise als zeitintensives und aufwendig zu planendes Großprojekt interpretieren, das zu jeder Jahreszeit und über einen langen Zeitraum hinweg Betätigungsmöglichkeiten bot. Nicht anders verhält es sich mit Beckers umfangreichen Arbeiten zu Seeversicherung und nautischem Vokabular. Sie waren das Ergebnis produktiver Zeitstrategien, die er für sich als Ausweg aus einer Situation der Beschäftigungslosigkeit nutzte. Zudem erleichterten sie, weitgehend unabhängig von äußeren Entwicklungen, die Fokussierung auf die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft. Beckers Äußerung, er habe »aus Langeweile« mit der Arbeit über Seeversicherung begonnen,126 bestätigt die Einschätzung von Dietmar Sauermann und Renate Brockpähler, wonach Langeweile bei Kriegsgefangenen »zum Motor«127 für Bildungsaktivitäten werden konnte. Dieses Phänomen ist freilich nicht auf Gefangene beschränkt. Auch aus anderen Wartesituationen können »neue Handlungsentwür-

126 Rudolf Becker an seinen Vater, 8. Juli 1942. DSM, III A 3324 b. 127 D. Sauermann/R. Brockpähler: »Eigentlich wollte ich ja alles vergessen …«, S. 81.

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fe«128 entstehen, wie Heinz Schilling in seinen Überlegungen über das lange Warten herausgearbeitet hat. Warten muss nicht passiv und unproduktiv sein, sondern bietet Raum für Aktivität und Produktivität. Ähnlich wie das Wiederaufgreifen seiner Portugiesisch-Studien129 im September 1941 zeigen auch Beckers Seerechts- und Wörterbuchprojekte seine langfristige Hinwendung zu diesen Interessengebieten. Im Selbststudium bearbeitete er neben den genannten Bereichen außerdem Psychologie, Volkswirtschaftslehre und Philosophie.130 Über einen langen Zeitraum hinweg kehrte er immer wieder zu bestimmten Tätigkeiten zurück, setzte sie fort oder baute sie aus.131 Mit dem Studium der portugiesischen Sprache und der Beschäftigung mit Seerecht und Seemannsvokabular hatte er sich Langzeitprojekte ausgesucht, die ein nahezu unerschöpfliches Betätigungsfeld bildeten und ganze Winter mit Arbeit zu füllen vermochten. Generell spielte die Frage, wie lange er sich wohl damit beschäftigen konnte, auch eine Rolle bei Beckers Bewertung von Büchern. Dies zeigt sich etwa in einem Brief, in dem er sich im Herbst 1943 für eine Büchersendung seines Vaters bedankte: »Vor allem das BGB [Bürgerliches Gesetzbuch; JK] macht mir furchtbar viel Freude. Ich kann mich damit jeden Tag ein paar Stunden beschäftigen.«132 An wenigen Stellen im Briefkonvolut ist erkennbar, dass Rudolf Becker diesen Beschäftigungen phasenweise nicht ausschließlich alleine nachging, sondern sie mit anderen teilte. So unterrichtete er ab Sommer 1942 Gesetzeskunde in einem Lehrgang für Anwärter auf das Kapitänspatent.133 Diese Art, die Zeit zu füllen, unterschied sich vom reinen Selbststudium durch einen höheren Grad an Strukturierung, Verbindlichkeit und Verantwortung. Etwas für andere zu tun, war auch eine Möglichkeit, sich nicht ständig mit sich selbst zu beschäftigen. Der Zusammenschluss mit Gleichgesinnten hatte noch weitere Vorteile: So berichtete Rudolf Becker in einem Brief an seinen Vater, dass »wir eine Arbeitsgruppe von 6 Mann gebildet haben«, in der »jeder über seine Angehörigen versucht hat, Buchmaterial zu verschaffen«134. Der Anschluss an eine Gruppe ermöglichte eine nachhaltige Literaturversorgung, die Becker alleine in diesem Maße nicht möglich gewesen wäre. Seine Beschäftigung erschien ihm dadurch für einen längeren Zeitraum gesichert: »Besondere Buchwünsche möchte ich nicht mehr äußern, da ich für die nächsten 12 Monate Beschäftigungsstoff ausreichend habe.«135 Der Zusammenschluss zu einer Gruppe erscheint hier als Ressource, welche die sinnstiftende Bewältigung der Gefangenschaft von einem individuellen zu einem gemeinsamen Projekt machte und dadurch entlastend wirken konnte.

128 H. Schilling: Zeitlose Ziele, S. 300. 129 Im Brief vom 5. September 1941 bat Rudolf Becker seinen Vater um die Zusendung eines Lehrbuchs, einer Grammatik und eines deutsch-portugiesischen Wörterbuchs. DSM, III A 3324 b. 130 Rudolf Becker an seinen Vater, 7. Juni 1943. DSM, III A 3324 b. 131 So erwähnte er diese Arbeiten, die er seit 1940/41 betrieb, noch im Januar 1944: Rudolf Becker an seinen Vater, 4. Januar 1944. DSM, III A 3324 b. 132 Rudolf Becker an seinen Vater, 24. Oktober 1943. DSM, III A 3324 b. 133 Rudolf Becker an die Reederei Hamburg-Süd, 30. August 1942. Abschrift in einem Schreiben der Reederei an Beckers Vater vom 10. November 1942. DSM, III A 3324 b. 134 Rudolf Becker an seinen Vater, 5. Juli 1944. DSM, III A 3324 b. 135 Ebd.

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An dieser Briefpassage lässt sich auch ablesen, wie Becker seine Zeitstrategien an die veränderte Zeitperspektive anpasste. Seit seiner Verlegung von England nach Kanada, bei der er sein Portugiesisch-Lehrbuch zurücklassen musste, wusste Becker, dass die geistige Arbeit nur so lange als Beschäftigung trug, wie Arbeits- und Lernmaterialien vorhielten. Im Jahr 1944 dachte er diesbezüglich bereits in größeren Zeiteinheiten als zu Kriegsbeginn. Nach fünf Gefangenschaftsjahren glaubte er offensichtlich nicht mehr, wie noch im März 1940, »an [ein] Ende in 3 Monaten«.136 Das bedeutet jedoch nicht, dass ihm das Warten im Lauf der Zeit leichter fiel. Im Gegenteil: Noch im Sommer 1944 konstatierte Becker: »Der vom Grübeln eingenommene Zeitraum wird immer größer.«137 Kurze Zeit später schrieb er: »Durch Ausfüllen des ganzen Tages versuche ich mich abzulenken u. zu betäuben.«138 Die implizite Schmerz-Metaphorik zeigt, dass auch Beschäftigung kein Garant für Zufriedenheit war. Hier wird noch einmal deutlich, auf welche Weise (gegenwartsbezogene) Zeitstrategien der Bewältigung des Gefangenendaseins dienten; sich zu beschäftigen, war »key to enduring life in an internment camp«, wie Gillian Carr betont.139 Besonders Lehrbücher waren dabei wertvolle Hilfsmittel, die »über manche müßige Stunde hinweghelfen« konnten, wie Becker schrieb.140 In dieser Formulierung verbirgt sich die vielfach wiederholte Erkenntnis, dass freie Zeit zur emotionalen Belastung – nach Einschätzung von Curt Bondy »sometimes the worst time«141 – für die Internierten werden konnte. Dies galt umso mehr, wenn eine geregelte Arbeit als Gegengewicht zur Freizeit fehlte, wenn also die gesamte Zeit freie Zeit war, die dadurch ihre Kompensationsfunktion verlor und in ihrem subjektiv langsamen Verstreichen den Gefangenen auf erschreckende Weise die potenzielle Endlosigkeit der Internierung vor Augen führte. Soweit seine Briefe Rückschlüsse darüber zulassen, widmete sich Becker vor allen Dingen Tätigkeiten, die sich im Rahmen des Erlaubten bewegten. Demgegenüber zeigen die Quellen, dass manche Internierte auch verbotenen Aktivitäten wie etwa dem Glücksspiel nachgingen. Die Aufzeichnungen in den Lagertagebüchern vermitteln allerdings nur den Blickwinkel der Bewacher, die nach Ansicht von Colin Burgess vor allem die Planung und Vorbereitung von Fluchtversuchen »as a way of occupying the long tedious days«142 betrachteten. Daneben nutzten die Internierten auch andere Angebote für Zeitvertreib: Rudolf Becker beispielsweise erwähnte in mehreren Briefen, dass zweimal pro Woche Kinofilme im Lager gezeigt wurden, die er sich gerne ansah.143 Monique Scheer hat darauf

136 137 138 139 140 141 142 143

Rudolf Becker an seinen Vater, 21. März 1940. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 12. August 1944. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 11. Oktober 1944. DSM, III A 3324 b. G. Carr: Engraving and Embroidering Emotions Upon the Material Culture of Internment, S. 140. Rudolf Becker an seinen Vater, 5. Juli 1944. DSM, III A 3324 b. Bondy, Curt: Problems of Internment Camps. In: The Journal of Abnormal and Social Psychology 38 (1943), S. 453-475, hier S. 472. C. Burgess: Escape, S. 121. Rudolf Becker an seinen Vater, 30. September 1941. DSM, III A 3324 b.

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hingewiesen, dass Mediennutzung ein wichtiger Bereich emotionaler Praxis ist;144 die brieflichen Thematisierungen von Filmabenden und Theateraufführungen als unterhaltsam und angenehm sind demnach Hinweise darauf, dass auch diese Beschäftigungen trotz ihrer vermeintlichen Passivität emotional mobilisierende Praktiken darstellen konnten. Manche Internierte besuchten auch Gottesdienste, nach Ansicht des Zensors in Fort Henry jedoch aus purer Langeweile. Neben einer geringen Zahl überzeugter Katholiken gab es dort seiner Einschätzung nach eine Reihe von »luke-warm Christians, who attend any religious service just to while their time away«145. Gleich welcher religiösen Überzeugung die Internierten waren – durch den Gottesdienstbesuch konnten sie einen überschaubaren Zeitabschnitt füllen; die Regelmäßigkeit der religiösen Angebote trug zudem zur Strukturierung des Lagerlebens bei. Ob die Internierten diesen religiösen Praktiken eine individuelle spirituelle Dimension beimaßen, lässt sich aus den Quellen nicht erschließen. Abbildung 28: Zeitvertreib im Lager Kananaskis

Zeichnung des Internierten Otto Ellmaurer aus der Serie »Humor hinter Stacheldraht«. Quelle: Sammlung David J. Carter, Elkwater, Alberta, Kanada.

Auch im Malen, Zeichnen und Schreiben fanden manche Internierten Beschäftigung, wie zum einen Abbildung 28 zeigt. Szenen aus dem Lagerleben zu beobachten und detailliert festzuhalten, war eine Möglichkeit, sich mit der Internierung auseinanderzusetzen. Zum anderen entstanden in den Lagern Texte wie etwa Harald Wentzels illustriertes Typoskript »Seeleute auf Jagd« aus dem Jahr 1943, das er laut Titelzusatz

144 M. Scheer: Are emotions a kind of practice, S. 210. 145 Intelligence Report Fort Henry (F/31), Dezember 1942. LAC, RG 24, 11250, File 10-2-331.

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im kanadischen Lager Petawawa verfasste und im Jahr 1987 in gereimte Form brachte.146 Darin erzählt er seine Erlebnisse zwischen Kriegsbeginn und Mai 1940, als er mit seinem Schiff vor der Insel Sabang in Sumatra lag und mit einem Kollegen Jagdausflüge in den Dschungel unternahm. Indem Wentzel diese Erlebnisse schreibend rekapitulierte und festhielt, bearbeitete er also ein Kapitel aus der unmittelbaren Vergangenheit und ließ gleichzeitig die Lagergegenwart zeitweise hinter sich, nutzte also das Schreiben als Erinnerungsarbeit und Bewältigungsstrategie. Strategien der Strukturierung und Rhythmisierung Die Freiheit der Internierten, die Zeiten zwischen den Fixpunkten im Tagesablauf des Lagers selbst zu gestalten, lässt sich auf der einen Seite als »Zeitsouveränität«147 verstehen.148 Andererseits brachte diese Freiheit innerhalb der durch die Gewahrsamsmacht gesetzten Zeitstrukturen auch einen »Zwang zur Eigenstrukturierung von Zeit«149 mit sich. Die Aktivitäten, die Internierte für sich alleine oder in Gruppen entwickelten, bezogen ihre Bedeutung nicht nur daraus, dass sie der Ablenkung und dem Zeitvertreib dienten, sondern auch aus ihrer rhythmisierenden Funktion. In den Quellen aus den Lagern wird sichtbar, dass dieser zeitliche Rhythmus »als stabilisierendes Ordnungsmoment«150 im Sinne von Sonja Windmüller fungierte. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die Internierten viel Aufwand darauf verwandten, diese einmal etablierten Zeitstrukturen aufrechtzuerhalten. In der Regel erstellten die Lehrer in den Lagern feste Stundenpläne, um die verschiedenen Kursangebote und die begrenzten Unterrichtsräume zu koordinieren.151 Die in Tabelle 13 exemplarisch aufgelisteten Unterrichtsfächer veranschaulichen die Notwendigkeit genauer Raum- und Zeitplanung und zugleich die Komplexität dieser Aufgabe.

146 Wentzel, Harald: Zwei Seeleute auf Jagd in Niederländisch-Indien [Typoskript]. Petawawa [1943]; Wentzel, Harald: Seeleute auf Jagd. Puloe Wė – Insel des Windes und des Sturmes. Niedergeschrieben in Petawawa, Canada zur Erinnerung an glueckliche Tage [Typoskript]. Lilienthal [1987]. Beide Versionen befinden sich in der Sammlung Peter Kiehlmann, Pinneberg. 147 I. Herrmann-Stojanov/C. Stojanov: Zeit als Ordnungsprinzip des individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesses, S. 124. 148 Zeitsouveränität wiederum ist »Voraussetzung für die Selbstgestaltung der zeitlichen Organisation des alltäglichen individuellen Lebens«. Ebd. 149 S. Heinemeier: Zeitstrukturkrisen, S. 69. 150 Windmüller, Sonja: Faszination Rhythmus. In: Zeitschrift für Volkskunde 106 (2010), H. I, S. 45-65, hier S. 52. 151 Manchmal waren den Besuchsberichten der YMCA-Sekretäre Stundenpläne der Lagerschulen beigefügt, etwa im Bericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Benjamin Spiro in Mimico/New Toronto (M/22) am 24. Dezember 1942. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3.

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Tabelle 13: Besuchte Unterrichtsstunden pro Monat und Fach in Camp Red Rock (R) 1940

1941

Okt.

Nov.

Dez.

Jan.

Feb.

März

Englisch

49

62

41

48

48

50

Französisch

24

24

20

24

24

24

Spanisch

38

34

33

38

32

37

Russisch

45

47

43

48

42

47

Schwedisch

12

14

13

14

12

13

Norwegisch

22

20

20

22

20

22

Niederländisch

12

12

10

12

18

28

Navigation

40

40

40

30

30

60

--

--

--

14

12

14

Stenografie

24

24

20

16

16

16

Mathematik

72

72

62

80

104

87

--

--

20

20

20

20

Elektrotechnik

12

12

8

12

12

12

Ingenieurswesen

40

40

40

40

40

40

Maschinist

40

58

62

72

72

70

Funk (Technik)

--

--

--

5

8

8

Funk (Bedienung)

--

--

--

38

81

107

Stunden gesamt

430

459

432

533

591

655

Teilnehmer gesamt

157

179

200

337

344

368

Fach

Amerikanische Geografie

Mechanik

Quelle: Bericht von Dr. Jerome Davis, Director for Canada, über die Arbeit der YMCA-Kriegsgefangenenhilfe in Kanada von November 1940 bis Mai 1941, S. 4-6. LAC, MG 28, I 95, 272, File 12.

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Die sogenannten educational leaders nahmen dadurch eine wichtige Rolle in der Lagerselbstverwaltung ein und waren neben den Wachen die wichtigsten Zeitstrukturierungsinstanzen. Ferien, die im normalen Leben die Schuljahreszyklen voneinander trennen und Lehrern wie Schülern als Erholungspausen willkommen sind, wurden von den internierten Unterrichtsplanern selbst als potenzielle Gefährdung dieser Struktur, ihrer Stabilität und Funktionalität betrachtet, wie die folgende Passage aus einem Besuchsbericht von Dale Brown zeigt: »The educational leader was telling me that they were afraid to give the students a holiday during the summer for fear that they just would not have the energy to take up their studies where they left off, because they had been interned now for nearly five years. He went on to say how he had seen too many men begin to spend their days lying on their backs on a mountain side looking up into the sky dreaming dreams. He felt it was essential to keep them from falling into this state of lethargy at all costs, but the problem was made more difficult because the leaders had exhausted all their ideas.«152

Die Skrupel, ob man den Internierten guten Gewissens Sommerferien geben könne, speisten sich aus dem Erfahrungswissen, dass die Zeitökonomie der Gefangenen zu labil war, um längere Phasen freier Zeit unbeschadet überstehen zu können. Ein Wechsel von Unterricht und Freizeit war aus Sicht der Unterrichtsplaner offensichtlich nur dann ohne Risiko, wenn die freie Zeit auf kurze Intervalle begrenzt blieb, die ihre Attraktivität und ihre Erholungswirkung aus dem vorübergehenden Kontrast zur Arbeit bezogen. Bei längeren unbesetzten Zeitspannen drohte ein Rhythmus- und Strukturverlust. Der Aufrechterhaltung des Unterrichts über den Sommer wurde demnach eine vorbeugende Wirkung gegen die zu befürchtenden körperlichen und geistigen Folgen zeitlicher Entstrukturierung zugeschrieben. Daran zeigen sich deutlich die vielfältigen Funktionen des Unterrichts für das Zeiterleben und die Zeitökonomie der Gefangenen: Der Unterrichtsbetrieb ersetzte eine regelmäßige Arbeit, füllte die Zeit, rhythmisierte sie durch Wochenzyklen, schuf für die Lernenden eine Zukunftsperspektive und versprach so eine zumindest teilweise Kompensation der Gefangenschaft. Unterrichtsbesuch war also kein bloßer Zeitvertreib, sondern auch eine Bewältigungsstrategie. Wie das Beispiel zeigt, basierte sie offensichtlich auf einer fortwährenden Selbstdisziplinierung der Akteure im Hinblick auf ihre Zeitnutzung, die wiederum mit emotional management verknüpft war. Deutlich werden dabei die impliziten Wertungen von Zeit, die nicht auf die Internierten beschränkt waren, sondern durchaus auch bei humanitären Helfern und Wachen konsensfähig waren: Tagträumend verbrachte Zeit galt als weniger wertvoll als die Zeit, die auf konzentriertes Lernen verwendet wurde. Zugleich unterstreicht dieses Beispiel, dass Zeitstrategien der Internierten, die am Anfang der Internierung gut funktioniert hatten, nach mehreren Jahren nicht mehr unbedingt die gleiche Wirkung erzielen mussten, weil sich die psychische und emo-

152 Bericht über die Besuche von Dale Brown, European Student Relief Fund, in den Lagern Monteith (Q/23), Petawawa (P/33), Bowmanville (30), Medicine Hat (132), Kananaskis (K/130), Lethbridge-Ozada (133) und Angler (X/101) im Zeitraum zwischen April und Juni 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3.

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tionale Disposition der Gefangenen verändert hatte. Die Verknüpfung der zurückliegenden fünf Internierungsjahre mit einer aktuellen situativen Aushandlung von Zeitpraktiken verdeutlicht darüber hinaus, dass die Entwicklung von Zeitstrategien oft unter Rückgriff auf Erfahrungswissen erfolgte. Vergangene Situationen wurden als Ressource zur Bewältigung aktueller Problemstellungen herangezogen. Dabei war es auch eine Herausforderung an die Kreativität der Planer, stabilisierende Zeitordnungen für die Lagerbelegschaft zu entwickeln. Die Sorgen des educational leader in Browns Bericht transportieren zudem Alltagstheorien über das Zeiterleben von Internierten, die sich aus Beobachtungen der Mitgefangenen speisten und Eingang in Alltagspraktiken fanden, so beispielsweise die Feststellung, dass die Instabilität der Zeitperspektive Lethargie hervorrufen kann.153 Diese Passage aus Browns Bericht rückt die regulierende Funktion der Gefangenenselbstverwaltung für das Lagerleben und für die Bewältigung der Gesamtsituation ins Blickfeld. Dem Tätigsein (nicht nur, aber auch durch Unterricht) wurde von den Gefangenen eine zentrale Bedeutung für die Strukturierung und Aufwertung ihrer Zeit beigemessen. Ein hohes Bewusstsein für die Prekarität dieser Struktur führte aufseiten der Planer dazu, dass als Konsequenz einer Sommerpause nicht nur das Scheitern des Unterrichtsprogramms antizipiert wurde, sondern auch die Bewältigung der Gesamtsituation fragwürdig erschien. In einem Tätigkeitsbericht des Leiters für den Lagerunterricht in Camp Fredericton wird der Stellenwert des Unterrichts für die Zeitstrategien der Internierten sehr deutlich benannt: »Den Bestrebungen der F.L.K. [Fredericton-Lager-Kurse; JK] ist der Leitgedanke vorangestellt, der Leere des Gefangenendaseins Inhalt zu geben: die Kameraden fuer sinnvolles Trachten und Wirken zu gewinnen, Freude an zielbewusster geistiger Arbeit zu wecken. Damit soll ein Gegengewicht geschaffen werden gegen die Einfluesse und Gefahren der Abgeschlossenheit und des Ausgeschaltetseins. So ist der Sinn und Zweck der Einrichtung die Zeit der Gefangenschaft auszufuellen, sie zu einer Bereicherung zu benutzen, das fachliche Wissen und das berufliche Koennen auf eine hoehere Stufe zu bringen, Kenntnisse und Faehigkeiten zu vermitteln, die sich jetzt und vor allem kuenftig zum Nutzen des einzelnen Kameraden und der Gemeinschaft verwenden lassen.«154

Hier wird auf metaphorische Weise über die Herausforderungen der Internierung gesprochen: »Abgeschlossenheit« und »Ausgeschaltetsein« markieren für den Verfasser einen Zustand der Exklusion und Passivität, der einen besonderen Umgang mit der leeren Zeit der Internierung erforderlich macht, um dem horror vacui zu begegnen. Dabei wird die individuelle Bewältigung in den Gedanken der Kameradschaftlichkeit eingebunden; Motivation und Einsatzbereitschaft aller sind nötig, um die Arbeitskraft jedes einzelnen Internierten im Sinne und zum Vorteil der Gemeinschaft zu erhalten oder wiederherzustellen. Ebenfalls greifbar ist in dieser Argumentation der Aspekt der Kompensation: Der potenzielle Mehrwert der Internierung, der Entwicklung statt Stagnation ermöglicht, ist nur dann zugänglich, wenn die Internierten aktiv

153 I. Vogt: Zeiterfahrung und Zeitdisziplin, S. 216. 154 Tätigkeitsbericht des Lager-Unterrichts-Leiters in Camp Fredericton (B/70), Dezember 1943, Auszüge. PA AA, R 127.957.

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handeln. Diese Sichtweise weist sowohl über die konkrete Situation der Einsperrung als auch über den einzelnen Insassen hinaus. Die Zielformulierung macht zudem deutlich, dass der Unterricht aus der Sicht der internierten Planer die bereits angesprochenen Zeitstrategien in sich vereinen konnte: Zeit »auszufuellen«, sinnstiftend und kompensierend zu wirken – sowohl individuell-biografisch als auch im Sinne der NS-Ideologie der Volksgemeinschaft – und eine Struktur zu schaffen. Letztere entstand nicht nur durch den Stundenplan, sondern auch durch die Gestaltung des Unterrichts in enger Anlehnung an die Form der Schule, die jeder der Männer kannte. So berichtete Kapitän Valentin Wenk seiner Reederei: »Zum Beleg der absolvierten Schulzeit werden in jedem Lehrfach Klassenarbeiten geschrieben und es wird ein Klassenbuch gefuehrt.«155 Im Lehrplan orientiere man sich, so Wenk, an den Prüfungsvorgaben der Bremer Seefahrtsschule. Wenk resümierte: »Die Lehrer sowie die Schueler verwenden unermuedlichen Fleiss auf diese Arbeiten nach dem Motto: Fleiss bringt Brot, Faulheit Not.«156 Die Institution ›Schule‹ wurde also in der Kontaktzone des Lagers nicht nur mit ihren äußeren Merkmalen und Strukturen implementiert, die – wie die Sitzanordnung (vgl. Abbildung 29) – regulierend und normierend wirkten und kompetitive Elemente enthielten. Abbildung 29: Navigationsunterricht im Lager Sherbrooke

Über der Tafel an der Wand hängen Modelle der deutschen Seekriegsflagge, neben dem Fenster eine technische Zeichnung. Quelle: PA AA, R 127.704.

155 Bericht des Kapitäns Valentin Wenk über die Unterrichtsmöglichkeiten und -Tätigkeiten an der Seefahrtsschule im Camp Petawawa (P/33) aus einem Schreiben an die HamburgAmerika-Linie, 3. Juli 1943. PA AA, R 127.957. 156 Ebd.

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Auch dem Fleiß als einer in die Institution eingeschriebenen und immer wieder aufs Neue durch sie reproduzierten Tugend wird in Wenks Äußerung ein zentraler Stellenwert zugeschrieben. Als Gegenteil von Müßiggang transportiert der Fleiß eine spezifische normative Vorstellung davon, wie mit Zeit umzugehen ist. Das von Wenk zitierte Motto sollte disziplinierend und strukturierend wirken und unterstreicht, wie bei der Bewältigung von zeitlicher Entstrukturierung und Sinnverlust auch ideologische Versatzstücke zur Ressource für alltägliche Praktiken werden konnten. Im Unterrichtsangebot der Lager liefen also Strategien und Wertungen aller beteiligten Akteure zusammen. Nicht nur aus Sicht der Internierten war der Unterricht ein attraktives Angebot, auch die Wachen hatten, wie oben bereits ausgeführt, gute Gründe, weshalb sie die Bildungsaktivitäten förderten. Anhand des Unterrichts wird zudem die Bedeutung zeitlicher Zyklizität deutlich. Zyklische Zeitstrukturen sind kein Alleinstellungsmerkmal von Gefangenenlagern,157 erhalten aber in dieser nur punktuell strukturierten Ausnahmezeit eine besondere Bedeutung als strukturierendes Element. Dale Brown vom European Student Relief Fund interpretierte dies als Hinweis auf die Existenz einer anthropologischen Konstante und resümierte im Jahr 1944: »So even behind barbed wire, men find it necessary to order their lives in cycles between strenuous work and play.«158 Die Bedeutung von zyklischer Zeit, die Brown hier hervorhebt, ist für die Organisation des Alltagslebens zentral, nicht nur in Ausnahmesituationen.159 Tatsächlich lässt sich in den kanadischen Lagern ein hoher Anteil regelmäßig wiederkehrender Abläufe und Termine feststellen, der die Zeit nicht nur für die einzelnen Internierten, sondern für die ganze Lagergesellschaft gliederte. Sonntage beispielsweise waren durch besondere, diesem Tag vorbehaltene Aktivitäten wie Fußballspiele, Schallplattenkonzerte160 und auch Gottesdienste161 klar von den Werktagen abgegrenzt. Indem die Internierten diese Unternehmungen auf Sonntage legten, strukturierten sie die Zeit und formten einen Wochenzyklus. Auch die Gestaltung von Feier- und Gedenktagen trug – abgesehen von ihrer politischen und identitätsstiftenden Funktion – zur Schaffung von Regelmäßigkeiten bei.162 Oft waren die Feiertage auch mit zeitbezogenen Privilegien verbunden, die die Internierten mitunter mit dem Lagerkommandanten aushandelten

157 I. Herrmann-Stojanov/C. Stojanov: Zeit als Ordnungsprinzip des individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesses, S. 116. 158 Bericht über die Besuche von Dale Brown, European Student Relief Fund, in den Lagern Monteith (Q/23), Petawawa (P/33), Bowmanville (30), Medicine Hat (132), Kananaskis (K/130), Lethbridge-Ozada (133) und Angler (X/101) im Zeitraum zwischen April und Juni 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. 159 M. Crang: Zeit : Raum, S. 418; I. Herrmann-Stojanov/C. Stojanov: Zeit als Ordnungsprinzip des individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesses, S. 116. 160 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 2, 18. Juni 1944. LAC, RG 24, 15396. 161 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 35, z.B. 13. September 1942 sowie wöchentlich an den darauffolgenden Sonntagen. LAC, RG 24, 15396. 162 Zum Umgang der Nationalsozialisten mit Feier- und Gedenktagen siehe Käs, Rudolf: Der braune Kalender. Die nationalsozialistischen Feiertage. In: Ders./Schwarz, Helmut/Zelnhefer, Siegfried (Red.) (Hg.): Unterm Hakenkreuz. Alltag in Nürnberg 1933-1945. München 1993, S. 42-49.

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oder gegen Widerstände durchsetzten, wie etwa in Camp Mimico: »Ps.O.W. refused to work as they consider Easter Monday a holiday.«163 An Heiligabend wurden üblicherweise eine gemeinsame Feier und ein Gottesdienst abgehalten, außerdem gab es Spiele und Unterhaltungsveranstaltungen.164 Der Beginn der Nachtruhe – das sogenannte lights out – wurde mit Erlaubnis des Kommandanten auf 0.30 Uhr verschoben.165 Auch an Silvester durften die Gefangenen bis Mitternacht feiern.166 Arbeitsfrei waren der Karfreitag, abgesehen von notwendigen Küchendiensten,167 und der Ostermontag.168 Hitlers Geburtstag wurde in verschiedenen Camps gefeiert, war jedoch kein offizieller Feiertag in allen Lagern.169 Der 1. Mai wurde, beispielsweise im Jahr 1944 in Monteith, mit einem Fußballturnier, weiteren Sportveranstaltungen, einem Maibaum sowie einem Konzert begangen.170 Besondere Aktivitäten oder Befreieung von der Arbeit gab es zudem verschiedentlich an Pfingsten,171 Christi Himmelfahrt,172 Erntedank173 und am 9. November, der in Deutschland seit 1933 als »Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung«174 bezeichnet und auch in den kanadischen Lagern begangen wurde: »German holiday no P.O.W. work parties.«175 Auch Geburtstage der Insassen waren ein Bestandteil des Feiertagskalenders, wie ein Brief eines in Monteith internierten Zivilisten aus dem Jahr 1941 zeigt: »Der Bäcker backt jeden Tag Torten, da fast täglich ein und auch mehrere Geburtstagskinder vorhanden sind, also auch immer Abnehmer dafür da sind, so werde auch ich im engeren Freun-

163 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 3, Vol. 34, 26. April 1943. LAC, RG 24, 15391. 164 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 48, 24. Dezember 1944. LAC, RG 24, 15392. 165 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 50, 24. Dezember 1943. LAC, RG 24, 15396. 166 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 50, 31. Dezember 1943. LAC, RG 24, 15396. 167 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 43, 23. April 1943. LAC, RG 24, 15396. 168 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 42, 26. April 1943. LAC, RG 24, 15396. 169 War Diary Camp Sherbrooke (N/42), Folder 5, Vol. 55, 20. April 1945. RG 24, 15401. Nur zehn Tage später ist im Lagertagebuch die Reaktion der Gefangenen auf die Nachricht von Hitlers Tod dokumentiert: »No excitement in Camp«. Ebd., 1. Mai 1945. Zu den Feiern an Hitlers Geburtstag vgl. auch Kapitel 7, S. 435-436. 170 War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 3, Vol. 4, 1. Mai 1944. LAC, RG 24, 15392. Maifeiern sind auch aus zahlreichen anderen Lagern belegt. 171 War Diary Camp Chatham (10), Folder 2, Vol. 1, 28. Mai 1944. LAC, RG 24, 15396. 172 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 44, 2. Juni 1943. LAC, RG 24, 15396. 173 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 1, Vol. 16, 5. Oktober 1941. LAC, RG 24, 15391. 174 Grube, Frank/Richter, Gerhard: Alltag im Dritten Reich. So lebten die Deutschen 19331945. Hamburg 1982, S. 136. 175 War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 3, Vol. 41, 9. November 1943. LAC, RG 24, 15391.

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deskreis einen gemütlichen Nachmittag veranstalten.«176 Die Internierten nutzten die guten Versorgungsbedingungen in den kanadischen Lagern also auch, um an Gewohnheiten von zu Hause anzuknüpfen, die Unterschiede zwischen Werk- und Feiertagen markierten. Die schiere Menge an Fest- und Feiertagen strukturierte die Zeit jedoch nicht nur durch ihre jährliche Wiederkehr, sondern auch auf andere Weise: Im dicht bestückten Festkalender betrug der Abstand zwischen zwei Feiertagen kaum einmal mehr als ein paar Wochen. Der nächste Festtag war somit stets ›in Sichtweite‹, und die Planung von Feiern und Sportwettkämpfen sowie die Vorbereitung von Festessen bildeten an sich bereits einen Zeitvertreib für einen Teil der Internierten. Die Weihnachtsbäckerei etwa wurde in der Regel Anfang Dezember in Angriff genommen, zunächst in Form der ›Bestellung‹ von Zutaten bei der YMCA, dann durch das eigentliche Backen.177 Auch die Beschaffung von Weihnachtsbäumen und Beleuchtungssets in ausreichender Zahl wurde etwa im Lager Fredericton schon zu Beginn der Adventszeit in die Wege geleitet.178 Zeitrechnungen und Strategien des aktiven Wartens Die Internierten warteten nicht nur jahrelang auf das Ende des Krieges und ihrer Internierung, sondern auch Tag für Tag auf Informationen aus Deutschland. Der Zustand der kriegsbedingten Trennung Kriegsgefangener von ihren Angehörigen und Freunden ist laut der Historikerin Annette Becker vor allem durch das tägliche Warten geprägt.179 Im Unterschied zum jahrelangen Warten auf das Kriegsende zerfiel diese Art des Wartens in immer wieder neu beginnende, unterschiedlich lange Phasen; man wartete sich von Brief zu Brief. Dabei erzeugten die Trennung von der Familie und die kriegsbedingten Störungen im Verkehrs- und Kommunikationssystem für die Wartenden raumzeitliche Ungleichzeitigkeiten, die zur Belastung werden konnten. Die teils monatelangen Brieflaufzeiten machten die Distanz zwischen dem Hier der Gefangenschaft und dem Dort in Deutschland für die Internierten auch zeitlich erfahrbar, wie Rudolf Becker beklagte: »Was augenblicklich in Europa vor sich geht, können wir hier nicht einmal ahnen, die Postverbindung ist ja noch nicht wiederhergestellt und die letzten Briefe von Euch waren aus den ersten Junitagen.«180 Die einzige Möglichkeit zu erfahren, ob und wann der eigene Brief an die Familie angekommen war, bestand darin, weiter auf eine Antwort zu warten. Doch selbst beim Erhalt erfreulicher Nachrichten von zu Hause stellte sich sogleich die bange

176 Schreiben eines Internierten an seine Familie, 3. Juni 1941. Abschrift in den Akten des Auswärtigen Amtes. PA AA, R 127.702. 177 Empfangsbestätigung und Dankesschreiben des Vertrauensmannes in Camp Fredericton (B/70) für eine Lieferung von Gewürzen, Cranberries, Honig und anderen Backzutaten durch die YMCA, 15. Dezember 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). 178 Schreiben des Vertrauensmannes in Camp Fredericton (B/70) an die YMCA mit der Bitte um Lieferung von acht elektrischen Baumbeleuchtungen, 4. Dezember 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5 (70). 179 A. Becker: Art, Material Life and Disaster, S. 27. 180 Rudolf Becker an Hanne und Peter Külbel, 25. August 1940. DSM, III A 3324 b.

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Frage nach der Aktualität dieser Information. Mehr noch als in Friedenszeiten war jeder Brief aus Deutschland auch ein Brief aus der Vergangenheit. In den Nutzungsweisen der Briefkommunikation lassen sich Strategien der Internierten beobachten, die dieser raumzeitlichen Verunsicherung durch Vergewisserung zu begegnen suchten. So schrieb Rudolf Becker kurz nach Beginn der Gefangenschaft an seinen Vater: »Ich werde von jetzt ab Euch allwöchentlich Montags einen Brief schreiben, falls nichts besonderes eintritt. Nummeriert bitte Eure Briefe.«181 Dieser Auftakt zu Beckers jahrelanger Korrespondenz mit seinem Vater zeigt zwei wichtige Strategien: Zum einen wird hier der Akt des Briefeschreibens selbst als zeitstrukturierende Tätigkeit thematisiert, die in festgelegten Abständen stattfinden sollte. Damit entstand ein Gegengewicht zu dem unregelmäßigen und durch lange Pausen geprägten Rhythmus, in dem Briefe aus Deutschland in Kanada eintrafen. Im Laufe der Gefangenschaft veränderte Becker die Abstände zwischen den eigenen Briefen, behielt jedoch die prinzipielle Rhythmisierung des Schreibens bei und passte sie in die durch die Reglementierung des Postverkehrs vorgegebene Struktur ein: »Wöchentlich kann ich 1 solchen 24-Zeilen-Brief schreiben und werde Euch zumindest alle 14 Tage einen zukommen lassen.«182 In Beckers Vorsatz, immer montags nach Hause zu schreiben, den er übrigens im Oktober 1942 erneut bekräftigte,183 wird ein Bedürfnis nach Ordnung, Regelmäßigkeit und zyklisch wiederkehrenden Beschäftigungen sichtbar, das auch in anderen Bereichen des Lageralltags zum Tragen kam. Zum anderen bediente sich Becker mit seiner Aufforderung, die Briefe zu nummerieren, einer gängigen Strategie in Feldpost- und Kriegsgefangenenbriefen. Die Nummerierung der Briefe und die Dokumentation ihrer Ankunftsdaten halfen herauszufinden, welche Briefe ihren Empfänger wann erreichten. So heißt es am 13. Mai 1941 in einem Brief: »Mein lieber Vater! Am 29.4. traf Dein Brief No. 19 vom 28.3. bei mir ein. Damit habe ich alle Briefe von 1-13 und 16-19 erhalten.«184 Verzeichneten beide Seiten diese Informationen lückenlos, so ließen sich dadurch kooperativ Brieflaufzeiten ermitteln – sofern der Zensor die Nummerierung nicht entfernte.185 Bereits für den Ersten Weltkrieg sind solche Routinen des Zählens und Kalkulierens belegbar.186 Rudolf Becker kam nach längerer Beobachtung des Briefwechsels mit dem Vater zu dem Schluss, »daß es eine Zensurstelle unter den vielen gibt, die mir z.B. Deinen Brief vom 1. Sept. zukommen läßt, wenn der vom 1. Oktober bei ihr eingetroffen ist. Sorgfältiger Vergleich der Ankunftsdaten bringt mich zu diesem Schluß.«187 Das von Becker eingesetzte Verfahren diente der Vergewisserung und

181 182 183 184 185

Rudolf Becker an seinen Vater, 9. April 1940. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 1. September 1940. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 17. Oktober 1942. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 13. Mai 1941. DSM, III A 3324 b. So beklagte Rudolf Becker gegenüber seinem Vater: »Da die Nummer ausgestrichen waren [sic], konnte ich leider nicht feststellen, welche meiner Briefe Dich erreicht haben.« Rudolf Becker an seinen Vater, 6. Dezember 1942. DSM, III A 3324 b. 186 Vgl. hierzu Martha Hannas Untersuchung französischer Briefe aus dem Ersten Weltkrieg: Hanna, Martha: A Republic of Letters: The Epistolary Tradition in France during WW I. In: American Historical Review 108 (2003), H. 2, S. 1338-1361, hier S. 1354. 187 Rudolf Becker an seinen Vater, 14. November 1943. DSM, III A 3324 b.

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strukturierte Kontakte, die andernfalls zu zerfallen drohten. Dabei erzeugte es die Illusion von Berechenbarkeit und Planbarkeit, wie Beckers These über die Arbeitsweise der Zensurstelle zeigt. Die Bedeutung dieser Strategien lässt sich auch daran ablesen, dass sie selbst zum Konversationsgegenstand wurden. In vielen von Beckers Briefen finden sich Bezugnahmen auf das Protokollieren, Zählen und Nummerieren von Briefen, deren Erhalt stets an den Sender zurückgemeldet wurde: »Euer Brief vom 10.3. traf am 27.4. bei mir ein. Damit ist alle bis zu diesem Datum abgeschickte Post in meinen Besitz gelangt, wenn meine Karthotek [sic] stimmt.«188 Veränderungen in dem beobachteten Rhythmus registrierte Becker aufmerksam: »Die Post kam in den letzten Wochen etwas ins Stocken. Ganz nervös wird man dadurch. Das kommt aber wohl daher, daß sie für uns beinahe der einzige Gegenstand zur Aufrechterhaltung der Anteilnahme an der Außenwelt ist.«189 Becker nummerierte allerdings nur Briefe an den Vater; er war die wichtigste Bezugsperson und mit ihm korrespondierte er am regelmäßigsten. Klara Löffler charakterisiert am Beispiel des Soldaten Richard M. »die Aufzählung [der] Briefe und Päckchen, die […] seit dem letzten Brief eingegangen sind«190 als festen Bestandteil der Briefeinleitung. Wie der Soldat Richard M. positioniert Becker diese Informationen in den allermeisten Fällen am Briefanfang, was die große Bedeutung unterstreicht, die er ihnen beimisst. Das Zählen und Protokollieren zeigt, wie wichtig Briefe während der Internierung für die »Aufrechterhaltung familialer und freundschaftlicher sozialer Kontakte«191 und für ein subjektives Empfinden von Überblick, Kontrolle und Sicherheit waren.192 Zählen und Nummerieren spielten auch als Techniken der individuellen Zeiteinteilung und der zeitlichen Vergewisserung eine wichtige Rolle. In Rudolf Beckers Briefen zeigt sich, wie er die seit Beginn der Gefangenschaft verstreichende Zeit genau im Auge behielt. Der Tag der Gefangennahme fungierte für ihn die ganze Internierung hindurch als zeitlicher Bezugspunkt mit zäsurhaftem Charakter: »Morgen ist für mich 2-jähriger Gefangenentag.«193 Diese Bezeichnung transportiert eine eigene Markierung von Zeit; durch die Äußerung gegenüber dem Vater stellte Becker diskursiv eine Wertigkeit her, die offensichtlich seiner eigenen zeitlichen Orientierung förderlich war und sie zugleich an den Briefpartner vermittelte. Der Vergewisserung über die Gefangenenzeit diente auch die Nummerierung der im Lager verbrachten Sommer und Winter, die in Beckers Briefen oft beiläufig erfolgte: »Noch nie hat mir vor einem Winter so gegraut, wie vor dem kommenden 5., der im Oktober schon wieder in vollem Schwung ist.«194 Die Selbstverständlichkeit,

188 189 190 191

Rudolf Becker an Hanne und Peter Külbel, 10. Juni 1941. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 17. Oktober 1943. DSM, III A 3324 b. K. Löffler: Aufgehoben, S. 100. Schikorsky, Isa: Kommunikation über das Unbeschreibbare. Beobachtungen zum Sprachstil von Kriegsbriefen. In: Wirkendes Wort 42 (1992), H. 2, S. 295-315, hier S. 297. 192 K. Löffler: Aufgehoben, S. 66. Margaretta Jolly spricht in diesem Zusammenhang auch von »virtual relationship[s]«, vgl. Jolly, Margaretta: War Letters. In: Dies. (Hg.): Encyclopedia of life writing. Autobiographical and biographical forms. London 2001, S. 927928, hier S. 928. 193 Rudolf Becker an seinen Vater, 5. März 1942. DSM, III A 3324 b. 194 Rudolf Becker an seinen Vater, 4. April 1944. DSM, III A 3324 b.

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mit der die Gefangennahme als Beginn dieser Zeitrechnung herangezogen wurde, machte eine Erläuterung offensichtlich überflüssig. Auch in den Briefen anderer Internierter findet sich die Zählung von Jahreszeiten, wobei der kanadische Winter öfter thematisiert wird als der Sommer: »Nun kommt hier in wenigen Wochen zum zweitenmal [sic] der furchtbare Winter.«195 Auch das Zählen und Benennen von »Gefangenensommern«196 kann als Versuch verstanden werden, Fixpunkte zu schaffen und sich der im Lager verbrachten Zeit auch im Hinblick auf eine gesamtbiografische Perspektive zu vergewissern. Wie Becker sich darüber hinaus in seinen Alltagspraktiken mit dem Verstreichen der Zeit auseinandersetzte, zeigt sich auch in seinem Wunsch nach einem »Abreißkalender«197 für das Jahr 1943. Als »zeitliche Landkarten«198 erfüllen Kalender wichtige »Orientierungs- und Entlastungsfunktionen«.199 Unabhängig von der konkreten Form unterstützen sie die Rückbindung des eigenen, leicht aus dem Gleichgewicht zu bringenden subjektiven Zeiterlebens an eine ›objektive‹ Kalenderzeit. Im Gegensatz zu einem Terminkalender dient ein Abreißkalender weniger dazu, anstehende Verabredungen festzuhalten, sondern das Vergehen jedes einzelnen Tages oder jeder Woche durch das Abreißen eines Kalenderblatts symbolisch nachvollziehbar zu machen. Im Jahr 1944, als sich der Briefverkehr zwischen Kanada und Deutschland weitgehend stabilisiert hatte, trafen in regelmäßigen Abständen Briefe aus Deutschland im Lager ein und etablierten für Rudolf Becker eine neue Zeiteinteilung: »Da die Absendung Deiner Briefe wegen ihrer Regelmäßigkeit zu einer für mich erfreulichen Institution geworden ist, so wirst Du Dir meine Unruhe erklären können, wenn ein Brief einmal viel mehr als die übliche Beförderungsdauer unterwegs ist.«200 Die Zyklizität und Gleichmäßigkeit des Briefeschreibens und Postempfangs wurde also nicht nur um ihrer selbst willen geschätzt, sondern auch, weil sie die immanente Prekarität des Briefverkehrs im Krieg wenigstens teilweise ausglich. Generell schien Regelmäßigkeit im Kontext der Internierung positiv besetzt zu sein. Strategien der lebenszeitlichen Kompensation Jean Cazeneuve, dessen Essay über die Psyche des Kriegsgefangenen sich aus seinen eigenen Erfahrungen in einem deutschen Stalag speiste, berichtet in seinem Text, dass sich die meisten Kriegsgefangenen dort sehr rasch eine Beschäftigung suchten, um die Zeit zu füllen. Doch Cazeneuve beobachtete auch, dass viele Insassen den zunächst aus dem Augenblick heraus gewählten, erstbesten Zeitvertreib wie etwa das Kartenspiel bald als nicht mehr befriedigend empfanden, sondern sich stattdessen eine andere Art von Beschäftigung wünschten, nämlich »des occupations auxquelles ils

195 Aus einem Brief eines internierten Seemannes aus Kanada an seine Familie, 10. August 1941. Abschrift in PA AA, R 127.913. 196 Rudolf Becker an seinen Vater, 27. Juli 1944. DSM, III A 3324 b. 197 Rudolf Becker an seinen Vater, 2. Mai 1942. DSM, III A 3324 b. 198 G. Muri: Pause, S. 172. 199 Ebd. 200 Rudolf Becker an seinen Vater, 5. Juli 1944. DSM, III A 3324 b.

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puissent assigner un but«201. Dieses Bedürfnis war auch Rudolf Becker nicht fremd. Es entstand vor allem, wenn die eingangs erwähnte vergangenheitsorientierte Perspektive auf die verfließende Zeit in den Vordergrund trat, so wie es John Laffin plastisch beschreibt: »For the prisoner, time escapes from future to past, rather like thick molasses oozing from a hole in a drum and seeping downhill. The prisoner tries not to think about the passing of time, for if he does, he becomes depressed by the irrecoverable days that have been stolen from him.«202

Das schmerzliche Empfinden, dass die verstreichende Zeit unausgefüllte und unwiederbringlich verlorene Lebenszeit war, stellte sich nicht unbedingt erst ein, wenn mehrere Jahre vergangen waren. Rudolf Becker beispielsweise artikulierte dieses Verlust-Gefühl bereits nach drei Monaten Liegezeit in Brasilien: »Jahre seines Lebens so zu verlieren, dass [sic] paßt mir doch nicht ganz.«203 Auch in den folgenden Jahren thematisierte er diesen Zeit-Verlust immer wieder in den Briefen an seinen Vater. Der Verlust ist hier eine Art Metapher für Fremdbestimmung und die daraus resultierenden subjektiv empfundenen Sinnstiftungsprobleme. Die Internierung erscheint in diesen Äußerungen als eine außerhalb der Zeit liegende Sphäre, von der aus Becker das Leben an sich vorbeiziehen sah. So schrieb er im Frühjahr 1942 im Zusammenhang mit einer Buchbestellung an seinen Vater: »Bedenke, daß alles was nach Mitte 1939 gedruckt, erlassen und sonst veröffentlicht ist, für mich Neuerscheinung ist.«204 In Beckers prinzipiellem Einspruch gegen den Verlust von Lebenszeit schwingt eine Sichtweise auf Zeit mit, die an die protestantische Ethik erinnert, hier jedoch vor allem im familiären Beziehungsrahmen verankert zu sein scheint.205 In der Kommunikation mit dem Vater äußerte Rudolf Becker immer wieder seine Vorstellungen von Nützlichkeit und Wertigkeit bestimmter Beschäftigungen und bestätigte sie dadurch als gemeinsamen Referenzrahmen und als Bewertungsmaßstab für sein Zeitverhalten in der Internierung. Reiner Müßiggang war gegenüber dem Vater rechtfertigungsoder doch zumindest erläuterungsbedürftig; einen hohen Wert schrieb Becker vor allem der Zeit zu, die er mit geistiger Arbeit füllte. Doch obwohl sein Selbststudium wichtige zeitstrategische Funktionen erfüllte, indem es Zeit besetzte, Perspektive schuf und den Lebenszeit-Verlust ein Stück weit ausglich, war es für ihn offensichtlich dennoch von geringerem Wert als eine »eigentliche, geregelte Beschäftigung«.206

201 Sinngemäß: »Beschäftigungen, denen sie ein Ziel zuschreiben können.« J. Cazeneuve: Essai sur la psychologie du prisonnier de guerre, S. 72-73. Übersetzung JK. 202 J. Laffin: The Anatomy of Captivity, S. 157. 203 Rudolf Becker an seinen Vater, Pernambuco, 7. Dezember 1939. DSM, III A 3324 a. 204 Rudolf Becker an seinen Vater, 5. März 1942. DSM, III A 3324 b. 205 Zu den Grundgedanken der protestantischen (Zeit-)Ethik, an die Beckers Position erinnert, siehe Neumann, Enno: Das Zeitmuster der protestantischen Ethik. In: Zoll, Rainer (Hg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit. Frankfurt am Main 1988, S. 160-171, hier S. 165. Siehe auch G. Muri: Pause, S. 46; I. Herrmann-Stojanov/C. Stojanov: Zeit als Ordnungsprinzip des individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesses, S. 119. 206 Rudolf Becker an seinen Vater, 25. Oktober 1940. DSM, III A 3324 b.

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Mehrfach grenzte er in seinen Briefen seine vielfältigen Studien gegen eine ›echte‹ Arbeit ab. Das Selbststudium war für ihn nicht mehr als ein Notbehelf, der jedoch für lange Zeit, nämlich bis zum Beginn der Farmarbeit im Jahr 1945, die einzige Beschäftigung bleiben musste. Die Zeitstrategien, die die Internierten für sich anwandten, und die subjektive Bewertung dieser Strategien waren in erheblichem Maße durch eigene Wertvorstellungen geprägt, die mitunter, wie in Beckers Fall, mit der Internierungssituation unvereinbar schienen und daher in der Auseinandersetzung mit dieser Situation besonders deutlich hervortraten. Die Maxime der Nützlichkeit zeigt sich in Beckers Zeitverhalten insofern, als er wenigstens durch die Art und Weise der Zeitnutzung gegenzusteuern versuchte, wenn schon der Lebenszeit-Verlust durch die Internierung nicht gänzlich zu verhindern war. Seine Strategien zielten darauf ab, den durch das »Zeitloch«207 der Internierung bedingten Erfahrungsverlust zumindest durch den Erwerb neuer Fähigkeiten und Kenntnisse wettzumachen. Wie er in seinen Briefen mehrmals explizit betonte, spielte für ihn der Gedanke der Kompensation eine wesentliche Rolle bei der Wahl seiner Beschäftigungen: »In der Gefangenschaft habe ich nur den einen Wunsch und lebe nur dem einen Ziele, am Ende nicht dümmer dazustehen, als am Anfange und so sind meine Tage mit unermüdlichem Lernen ausgefüllt. Nur so lenke ich mich ab, vermeide den nagenden Groll, der niedergekämpft sein will, um nicht ganz die Façon für das Leben zu verlieren, in das ich mich nach Jahren wieder einpassen muss.«208

Neben dem Verlust-Thema zeigt sich hier ein weiterer Aspekt, der Beckers Nachdenken über Zeit prägte und sein Handeln beeinflusste. Nach der Zwangspause der Internierung wieder einen Platz in einer Gesellschaft zu finden, die sich während der eigenen Abwesenheit verändert hatte, ohne zu wissen, »[w]o ich […] im Leben wieder anknüpfen werde«209 – auf diese Herausforderung wollte er vorbereitet sein. Diese Formulierung verdeutlicht aber auch, dass die Internierung für ihn nicht erst in der Rückschau einen Bruch in der Biografie bedeutete. Bei vielen Internierten löste die Empfindung einer biografischen Zäsur mit ungewissen Zukunftsaussichten Orientierungslosigkeit und Angst aus.210 Das »Problem einer Verknüpfung von Alltagszeit

207 Wolfgang Nahrstedt bezeichnet den in der protestantischen Ethik negativ konnotierten Müßiggang als »Zeitloch« und argumentiert, dass sich daran der protestantische »horror vacui« zeige. Nahrstedt, Wolfgang: Raubt uns die Freizeit den letzten Schlaf: Freizeitpädagogik rund-um-die-Uhr? In: Fromme, Johannes/Hatzfeld, Walburga/Tokarski, Walter (Hg.): Zeiterleben – Zeitverläufe – Zeitsysteme. Forschungsergebnisse zur Zeittheorie und Zeitökonomie mit ihren Konsequenzen für Politik, Planung und Pädagogik. Dokumentation der 7. Bielefelder Winterakademie vom Februar 1990. Bielefeld 1990, S. 9-25, hier S. 18. 208 Rudolf Becker an seinen Vater, 29. August 1942. Eine Abschrift dieses Briefes findet sich im Brief von M. Kieker an Beckers Vater. DSM, III A 3324 b. 209 Rudolf Becker an seinen Vater, 28. Juni 1945, DSM, III A 3324 b. 210 Dies beobachteten gefangene Ärzte in verschiedenen Kriegsgefangenenlagern des Zweiten Weltkriegs, siehe etwa N. Jensch: Über psychogene Störungen der Kriegsgefangenschaft, S. 369.

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und Lebenszeit«211 fällt in Krisensituationen wie der Internierung besonders ins Gewicht, wie Peter Alheit betont: »Solange es nicht gelingt, die beschädigte Lebensperspektive wieder ›in Ordnung zu bringen‹, stehen auch die alltagszeitlichen Handlungsorientierungen zur Disposition. Umgekehrt ist der konsistente biografische Selbstplan bedroht, wenn ihm die Folie alltagszeitlicher Realisierung entzogen wird.«212 Rudolf Becker versuchte, durch seine Beschäftigungen die Alltagszeit der Gefangenschaft sinnstiftend mit seiner Lebenszeit zu verbinden, indem er Verpasstes nachholte, einen möglichen Bedarf zu antizipieren versuchte und sich dadurch auf seine Weise so weit wie möglich auf Kommendes vorbereitete: »Ob alle Arbeit auch für die Zukunft einen Zweck hat, will ich dahingestellt lassen. […] Ich studiere dabei alle Pläne für die Organisation der Zukunftswelt, angefangen bei Keyneʼs Economical Consequences of the Versailles Treaty bis zu den neuesten Betrachtungen der engl. u. amerikanischen Gewerkschaften.«213

Was sich in vielen retrospektiven Quellen und laut Albrecht Lehmann sogar ausschließlich in der Rückschau der Nachkriegsperspektive als Topos der ›verlorenen Jahre‹ verfestigte,214 kommt in Beckers Korrespondenz mit dem Vater mehr als einmal zur Sprache. Der alltägliche, persönliche Kampf gegen den (Bedeutungs-)Verlust von Lebenszeit während der Gefangenschaft ist in den Briefen immer wieder Thema. Meist ist dies mit Biografisierungen verbunden, also Prozessen der Bedeutungsordnung »in der Besinnung auf das eigene, gelebte Leben«.215 Dies stützt Peter Alheits These, wonach die perspektivische und alltagszeitliche Reorganisation des Lebens in Krisensituationen »explizite biographische Thematisierungen einschließt«216. So bilanzierte Becker im Oktober 1942: »Mir gehen durch die Gefangenschaft viele Jahre Lebenserfahrung gegenüber meinen Alterskameraden verloren. Vergiß nicht, daß ich 27 war, als ich von Hamburg fuhr, ich bin jetzt 31. Geistig bin ich leider in vielem der 27jährige geblieben, vielleicht habe ich sogar eine rückschrittliche Entwicklung durchgemacht. Ich kann es nicht ändern. Vorwürfe brauche ich mir keine zu machen, denn müßig bin ich während der Gefangenschaft nie gewesen. Rosten will ich nicht.«217

211 Zum Problemfeld der wechselseitigen Abhängigkeit von Alltags- und Lebenszeit vgl. P. Alheit: Alltagszeit und Lebenszeit, S. 372. 212 Ebd., S. 377. 213 Rudolf Becker an seinen Vater, 11. Oktober 1944. DSM, III A 3324 b. 214 A. Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf, S. 146. Als verwandten Topos kann man die »gestohlenen Jahre« bezeichnen, vgl. H.J. Schröder: Die gestohlenen Jahre. 215 Marotzki, Winfried: Qualitative Biographieforschung. In: Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von/ Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 175-186, hier S. 179. 216 P. Alheit: Alltagszeit und Lebenszeit, S. 376-377. 217 Rudolf Becker an seinen Vater, 28. Oktober 1942. DSM, III A 3324 b.

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Becker stellte in diesem Brief einen Zusammenhang zwischen der Gefangenschaft und einer Stagnation, ja sogar Degeneration seiner persönlichen Entwicklung her. Zugleich führte er dem Vater gegenüber sein unermüdliches Tätigsein als Kompensationsstrategie an, wobei der Nicht-Müßiggang als implizite Norm zum Ausdruck kommt. Die Passage lässt sich deshalb auch als Versuch interpretieren, im Rahmen der Briefkommunikation Vorstellungen der in Deutschland Gebliebenen von der Gefangenschaft als Zeit des Müßiggangs zu korrigieren. Becker setzte damit eine Schreibstrategie ein, die in Kriegsbriefen häufiger vorkommt und die sich mit Isa Schikorsky als »Imagepflege«218 bezeichnen lässt. In dieser Passage zeigt sich aber auch, wie problematisch in der Gefangenschaft eine »sinnstiftende Biographisierung«219 geworden war, die das gelebte Leben ordnete und mit einer gesamtbiografischen Perspektive verknüpfte. Dass der Anteil der unbesetzten Zeit an der Lebenszeit und damit auch der Lebensarbeitszeit mit zunehmender Internierungsdauer stetig wuchs, war nicht nur problematisch für die kohärente Darstellung der eigenen Biografie, sondern auch emotional belastend. Der Gedanke der lebenszeitlichen Kompensation durch Unterricht und Selbststudium ist auch in anderen Quellen greifbar. Dabei wurde nicht nur das Lernen an sich als Ausgleich für die verlorene Zeit betrachtet, sondern die Überlegungen gingen noch einen Schritt weiter: Bereits frühzeitig äußerten die Vertrauensmänner und Lehrer in den Lagern den Wunsch, dass den internierten Schülern »später mit Rücksicht auf ihre verlorene Zeit und ihre hier erworbenen Kenntnisse eventuell ein Teil der Schul- und etwa noch fehlende Fahrzeit erlassen werden kann«220. Hier wird ein quasiökonomisches Zeitdenken sichtbar, in dem Zeitverluste durch Zeitgewinne ausgeglichen oder zumindest gemildert werden konnten, sodass die Bilanz unter dem Strich wieder stimmte und die Gefahr des internierungsbedingten Verlusts von Lebens(arbeits)zeit abgewendet schien. Diese Sichtweise fand auch Eingang in die deutschen Richtlinien für den Unterrichtsbetrieb in den Lagern, wie ein diesbezüglicher Vorschlag des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zeigt: »Der für die Ablegung einer Prüfung zum Seeschiffer und Seesteuermann sowie zum Schiffsingenieur und Seemaschinisten vorgeschriebene Schulbesuch […] kann den internierten Seeleuten des Deck- und Maschinenpersonals, die Fortbildungskurse während der Zeit der Internierung besuchen, entsprechend der erworbenen Kenntnisse gekürzt[,] in Ausnahmefällen vielleicht sogar ganz erlassen werden.«221

Die Internierten wurden über diese Regelung informiert222 und hatten damit die Gewissheit, dass ihre Studien im Lager nach dem Krieg anerkannt und bei der Berech-

218 I. Schikorsky: Kommunikation über das Unbeschreibbare, S. 301. 219 W. Marotzki: Qualitative Biographieforschung, S. 179. 220 Abschrift eines Schreibens von Kapitän Kurt Krieger, Camp Farnham (A/40), an die Unterweser-Reederei vom 4. Juni 1942. PA AA, R 127.957. 221 Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an das Auswärtige Amt, 1. Juli 1942. PA AA, R 127.957. 222 Die Vertrauensmänner der Internierten wurden im Oktober 1942 durch die Schutzmachtvertreter von dieser Übereinkunft in Kenntnis gesetzt. PA AA, R 127.957.

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nung der verbleibenden Ausbildungszeit berücksichtigt würden. Wie oben gezeigt wurde, beruhte diese Überlegung freilich nicht nur auf dem Mitleid gegenüber den Seeleuten, sondern hatte handfeste volkswirtschaftliche Gründe. Wer zu diesem Zeitpunkt von einem Sieg Deutschlands ausging, musste berücksichtigen, dass der Bedarf an gut ausgebildeten Seeleuten innerhalb kurzer Zeit rasant ansteigen würde. Bekanntmachungen wie die obenstehende sollten für die Internierten einen zusätzlichen Anreiz zur Teilnahme an den Kursen schaffen. Insgesamt betrachtet unterscheiden sich die Aktivitäten der in Kanada internierten Seeleute nicht sehr stark von denen anderer Gefangener, die unter ähnlich günstigen Bedingungen eingesperrt waren, auch nicht von denen, die Gefangene in Lagern des Ersten Weltkriegs entwickelten, wie die Historikerin Annette Becker betont: »The prisoners of the Great War, like those of all wars where they are not tortured or killed through overwork, engaged in the same activities: they drew, waited, organised classes, washed and sewed clothing, waited, looked across the barbed wire, grew flowers and vegetables, played music, wrote, waited, did sports, and waited.«223

G ESCHENKTE Z EIT ? D EUTUNGSKONSTITUTION UND E RZÄHLSTRATEGIEN Kriegsgefangene »fühlen sich«, so Peter Steinbach, »oft mehrfach bestraft: Ihrer Lebenszeit beraubt durch ihre Führung, durch die sich anschließende Gefangenschaft, durch die Ablehnung der Gesellschaft, in die sie nach ihrer Entlassung zurückkehren, empfinden sie sich als mißverstanden, isoliert, vereinsamt«224. Die Annahme, dass für die Insassen »die in der Anstalt verbrachte Zeit verlorene, vergeudete und nicht gelebte Zeit ist, die abgeschrieben werden kann«,225 findet sich bereits in Erving Goffmans Überlegungen zur totalen Institution.226 Bei den ehemaligen Internierten, mit denen ich gesprochen habe, war das anders: Niemand von ihnen sprach von verlorenen oder gar »gestohlenen Jahren«227. Auch Albrecht Lehmanns Feststellung, dass sich »[v]erlorene Zeit des Lebens« immerhin »als gewonnene Zeit des Erzählens«228

223 A. Becker: Art, Material Life and Disaster, S. 31. Um besser zu verstehen, welche Rolle die älteren Besatzungsmitglieder und deren Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg für die Gestaltung des Lagerlebens spielten, wäre eine Analyse der Seemannslager aus dem Ersten Weltkrieg und der dort entwickelten Praktiken nötig, die bislang allerdings noch aussteht. 224 Steinbach, Peter: Die sozialgeschichtliche Dimension der Kriegsheimkehr. In: Kaminsky, Annette (Hg.): Heimkehr 1948. München 1998, S. 325-340, hier S. 338. 225 E. Goffman: Asyle, S. 71. 226 Auch in der Arbeit der WK wurde die Frage diskutiert, inwieweit Kriegsgefangenschaft verlorene Zeit bedeutete. Kurt Böhme kam jedoch zu dem Schluss, dass dem nicht so sei, vgl. Böhme, Kurt: Geist und Kultur der deutschen Kriegsgefangenen im Westen. München 1968, S. 26-27. 227 Vgl. H.J. Schröder: Die gestohlenen Jahre. 228 A. Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf, S. 285.

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erweist, konnte in den Interviews mit ehemaligen Internierten nicht in dieser Form bestätigt werden. Während Lehmann davon ausgeht, dass sich der durch Krieg und Gefangenschaft bedingte Verlust von Lebenszeit durch einen Gewinn an Erzählstoffen ausgleicht, betrachteten meine Gesprächspartner die Internierung offensichtlich eher als persönlichen Gewinn, der sich auch in der Erzählbarkeit ihrer Erlebnisse zeigt, jedoch nicht darauf beschränkt ist. In den Interviews vermittelten sie überwiegend sehr positive Deutungen der Gefangenschaft, die man, aufgrund des großen zeitlichen Abstands zur Internierung, als weitgehend verfestigt betrachten muss. Doch wie kommen diese Deutungen zustande? Welche konkreten Erzähltechniken setzten meine Gesprächspartner ein, um im Interview zu plausibilisieren, dass die Internierung für sie eben gerade keine verlorene Zeit war? Und in welcher Beziehung stehen diese Konstruktionen zu den Internierungsbedingungen, aber auch zu Biografisierungen sowie zu Erzählbedingungen im Interview? »Ich habe so einiges Spaßiges erlebt«: Positive Charakterisierungen der erzählten Zeit Laut Winfried Marotzki bedeutet biografisierendes Erzählen »in retrospektiver Einstellung Zusammenhänge herzustellen, die es erlauben, Ereignisse und Erlebnisse in sie einzuordnen und Beziehungen untereinander wie auch zur Gesamtheit herzustellen«229. Anhand exemplarischer Äußerungen lässt sich veranschaulichen, wie die Interviewten biografisierendes Erzählen mit der Herstellung von Deutungen verknüpfen. Mein Gesprächspartner Bruno Pichner beispielsweise verwendete mehrmals im Interview den Begriff »Spaß«, um so der erlebten und erzählten Situation retrospektiv eine bestimmte (Erlebnis-)Qualität zuzuschreiben, die eng mit einer spezifischen biografischen Phase verknüpft ist: »eins ist ja dabei, man war SO jung und darum- SO jung und darum hat ja alles noch SPASS gemacht (hm), nich. gerade alles diese FREMde äh lebensweise, diese fremden EINdrücke und so weiter, oh MANN oh mann! so ist es mir, ja, ergangen nach- die ers=das erste jahr bei der=als gefangener war allerdings nicht so schön (hm), aber nachher ging es doch.«230

Diese Passage stammt aus der achten Minute des Interviews. Weil der Erzähler den Begriff »Spaß« nicht nur hier stark betonte, sondern ihn auch im weiteren Verlauf des Interviews noch mehrmals wiederholte, lässt sich diese Stelle als Initial begreifen, das bereits zu Beginn des Interviews eine zentrale Deutung des Erzählers vermittelt.231 Diese bezieht sich vor allem auf das Erleben der Gefangenschaft als Jugendlicher: Die Wiederholung der Wendung »SO jung« betont die altersmäßige Distanz des Erzählers zu seinem früheren, jüngeren Ich und verortet den subjektiv empfundenen Spaß in der Jugend meines Gesprächspartners. Zugleich wird der Spaß durch das »noch« als vergangenes Phänomen markiert. Sein damals jugendliches Alter präsentiert Pichner als Ursache für die positive Interpretation der vielen Fremdheitserfah-

229 W. Marotzki: Qualitative Biographieforschung, S. 179. 230 Interview Bruno Pichner, Z. 160-164. 231 Jeggle, Utz: Das Initial. In: Tübinger Korrespondenzblatt 38 (1991), S. 33-36.

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rungen, welche die Internierung mit sich brachte. Die positiven Emotionen schienen den Erzähler im Interview geradezu einzuholen, wie sein vage emotionaler Ausruf »oh MANN oh mann!« zeigt.232 Aufgrund seiner Position am Satzende fungiert der Ausruf als Bündelung des zuvor Gesagten, er fasst »den Gefühlswert der vorangegangenen Aussage zusammen«233. Spaß macht etwas, wenn es Befriedigung bietet, freudig stimmt, glücklich macht oder Vergnügen bereitet.234 Konstruktionsabbrüche in der ganzen Passage weisen jedoch darauf hin, dass diese emotionalen Erzählinhalte schwierig kohärent zu versprachlichen sind. Wenn Pichner von »Spaß« spricht, könnte das also auch leidvolle Erfahrungen überdecken. Tatsächlich klammert er ja aus der positiven Gesamtdeutung sein erstes Jahr als Gefangener aus und wählt zur näheren Charakterisierung dieser Zeit die litotische Formulierung »nicht so schön«, welche die Kernaussage durch Verneinung des Gegenteils betont. Zwischen der anschließenden Wertung »Aber nachher ging es doch« und dem anfänglichen »Spaß« besteht eine Diskrepanz, die den Spaß-Charakter der ganzen Internierung wieder etwas relativiert. In der Wahl des Pronomens »man« drückt sich einerseits eine Kausalität und Regelhaftigkeit aus, andererseits aber auch ein emotional distanziertes Verhältnis zum Erzählinhalt. Was also bedeutet der »Spaß« in diesem Zusammenhang? Einerseits ist das »Spaß«-Motiv, wie Hans Joachim Schröder darlegt, ein häufiger Topos der positiven Lebensbilanzierung.235 Darüber hinaus ist es auch denkbar, dass der Erzähler durch die häufige Betonung des Spaßigen Vorstellungen von Internierung und Kriegsgefangenschaft korrigieren wollte, die auf seine Erlebnisse nicht zutreffen. Weitere Stellen, an denen das »Spaß«-Motiv auftaucht, geben Hinweise darauf, worin in den Augen des Erzählers der Spaß bestand und wie die positiven Deutungen zustande kommen: »mathematik (.) konnte man sich ja GANZ konzentrieren. wir hatten keine zeitschriften, wir hatten kein RAdio und das einzige, was interessant war, mit dem ANderen: du, wie machst du DAS? wenn die aufgabe so geht (hm), ne, SO haben wir uns äh, haben wir die Abende und die TAge rumge- und das war=hat spaß gemacht (ja, glaube ich), ne.«236

Hier lässt sich ablesen, wie der Erzähler aus den beschränkten Möglichkeiten der Gefangenschaft eine positive Deutung herleitet, indem er den Mangel an Information und Unterhaltung zu einem erwünschten Fehlen von Ablenkung umdeutet: Gemeinschaftliches Lernen, Austausch und die Konzentration auf ein Thema werden im

232 Diese Interjektion transportiert Emotionalität, ohne die Gefühle des Sprechers jedoch näher zu beschreiben. Zur Bedeutung von Interjektionen für die Vermittlung von Emotionen siehe Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion. Tübingen/Basel 2007, S. 154-155. 233 Ebd., S. 157. 234 Dornseiff, Franz: Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen. 8., völlig neu bearbeitete und mit einem vollständigen alphabetischen Zugriffsregister versehenen Auflage von Uwe Quasthoff. Berlin/New York 2004, S. 174, 179. 235 Schröder, Hans Joachim: Topoi des autobiographischen Erzählens. In: Hengartner, Thomas/Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Festschrift für Albrecht Lehmann. Berlin 2005, S. 17-42, hier S. 34. 236 Interview Bruno Pichner, Z. 232-236.

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Rückblick als Voraussetzungen für ein positives Erleben dieser Situation interpretiert, das auch im erinnernden Nacherleben die negativen Aspekte zu überlagern scheint. Der Spaß ist in dieser Darstellung also untrennbar verbunden mit einer als erfüllend empfundenen Art und Weise, Zeit zu verbringen, was in Pichners abgebrochener Äußerung »haben wir die Abende und die TAge rumge-« zum Ausdruck kommt, sich noch deutlicher aber in einer anderen Passage des Interviews findet: »und DANN wa=hatten wir nachHER das LERNen, was uns VOLLkommen (.) äh=äh=äh AUSgefüllt hat (hm), das LERNen. äh, die AUFgaben lösen, oh WIE macht man DAS? und denn, wenn das nun äh=äh sieben hoch zwei addiert mit sieben hoch acht und äh (.) WAS? und AH so (ja, ja) ((lacht)) (3) ich wei=weiß nicht mehr im einzelnen, ne. und äh DAS hat uns äh=äh gut ausgefüllt, ne (hm), algebra und diese mathe=mathematik, ne.«237

Hier ist zu erkennen, dass die Beschäftigung mit Mathematik in der Wahrnehmung des Erzählers eben nicht nur ein bloßer Zeitvertreib war, sondern eine erfüllende Tätigkeit. Das »Spaß«-Motiv taucht auch beiläufig-resümierend im Interview auf, etwa als der Erzähler mir beim Blättern in seinem Fotoalbum ein Bild von einer Farm zeigte, auf der er gearbeitet hatte: »na, (1) ach ja, ich habe so einiges spaßiges erlebt, oh gott.«238 Diese resümierende Äußerung wird aber nicht weiter ausgeführt, sondern bleibt unkonkret. Die abschließende Anrufung einer höheren Instanz – »oh gott« – verweist, wie das eingangs zitierte »oh MANN oh mann!«, nicht nur auf Konventionen der gesprochenen Sprache, sondern auch auf ein inneres Resümee, das der Erzähler mir jedoch vorenthält.239 Gelungene Kompensation: Internierung als Erfolgsfaktor Die zweite Art, wie die Gesprächspartner positive Deutungen herstellten und plausibilisierten, ist der Verweis auf biografische Entwicklungen, die durch die Internierung ausgelöst wurden. Bestimmten Erlebnissen und Erfahrungen, die sie in der Internierungszeit verorteten, schreiben die Erzähler vorteilhafte Effekte zu; die Internierung wird in diesen Deutungen als Voraussetzung späterer Erfolge dargestellt. Zugleich betonen diese Lesarten die nachhaltige biografische Wirkmächtigkeit der Internierungserfahrung für die Betroffenen: »ich habe ja, äh weil ich äh geARbeitet habe, hab=habe ich das äh UMgangs(.)SPAnisch, das UMgangs(.)ENGlisch (hm), ich konnte mit allem klarkommen, ne (ja, toll). und äh und=und deshalb ähm habe ich davon profitiert, dass das meine kollegen waren (hm), ne und habe dann die schu- und dadurch habe ich dann NACHher hier auch die SCHUle besuchen können äh und=und wurde geRAde wie es LOSging mit der schiffahrt, war ich gerade DA als junger (.) mann und habe SCHNELL noch die fu=ja, funkerei, ja dann MAche ich das. wusste ich mal

237 Ebd., Z. 1089-1094. 238 Ebd., Z. 521. 239 Diese Deutungen lassen sich freilich auch als identitätsbezogene Aussagen lesen: Auf der Ebene der narrativen Identität präsentiert sich der Erzähler hier als Person, die dem Leben auch unter widrigen Umständen gute Seiten abgewinnen kann.

368 | G EFANGEN IN K ANADA gar nicht (hm), bin denn noch telegraPHIST geworden, habe das denn noch äh- ich konnte in dem alter mit einem mal gut LERnen, also es ist mir alles zugeflogen und so wurde ich sogar noch äh telegraphist und das war die voraussetzung äh als junger schiffsoffizier UND TElegraPHIST, man musste BORDfunker (hm) sein, ne und (.) das ka=habe ich denn (ja) auch noch gemacht, ne. und SO kam ich mit dem ersten schiff- und dann (.) lernte ich auch noch äh meine frau kennen und denn eins, zwei, drei hatte ich genug äh fahrzeit, dass ich die navigationsschule besuchen konnte, NUR für LEUte, die äh schon in der gefangenschaft äh=äh vor=vor(.)gebildet worden waren, die=die äh schon kurse in gefangenschaft- und da (.) war ich (.) gerade DA und (hm, hat alles gepasst) bokbokbok ((lacht)).«240

In dieser Passage leitet der Befragte seine Fähigkeiten und Kompetenzen sowie seinen beruflichen Erfolg direkt aus seiner Internierung her, zum einen aus der Arbeit als Gefangener, die ihm zu fundierten Sprachkenntnissen verhalf, zum anderen aus dem langjährigen Zusammensein mit Kollegen, das die Voraussetzung für den intensiven Seefahrtsschul-Unterricht in den Internierungslagern bildete. Gerade dieser Unterricht erwies sich seiner Meinung nach im Nachhinein als Bildungsvorteil. So betonte mein Gesprächspartner, dass nur die Internierung ihm den späteren Besuch der Seefahrtsschule – die hier nur als »Schule« bezeichnet wird – ermöglichte: »dadurch habe ich dann NACHher hier auch die SCHUle besuchen können«. Den Vorteil, den ihm der Unterricht in der Gefangenschaft verschafft hatte, betont er sogar ein zweites Mal. Die Internierung erscheint dabei als exklusive Erfahrung, die für einen ausgewählten Personenkreis den Grundstein für eine erfolgreiche Laufbahn legte. Das zeigte sich nicht nur an der inhaltlichen Vorbereitung auf den Navigationsunterricht, sondern auch am Zeitpunkt der weiterführenden nautischen Ausbildung: »geRAde wie es LOSging mit der schiffahrt« standen mein Gesprächspartner und seine Schicksalsgenossen bereit, um in der Nachkriegszeit ihre Seefahrtskarriere zu starten. Den unausgesprochenen Kontext dieser Äußerung bildet die prekäre Situation der deutschen Seeleute nach Kriegsende: Aufgrund der zwangsweisen Ablieferung der verbleibenden deutschen Schiffe an die Alliierten sowie des Verbots von Schiffsneubauten und eigenständigem Seeverkehr kam die deutsche Seeschifffahrt über lange Jahre fast vollständig zum Erliegen.241 Das lautmalerische »bokbokbok« des Erzählers, unterstützt durch lebhaftes Gestikulieren, verdeutlicht abschließend das reibungslose Ineinandergreifen der verschiedenen Schritte innerhalb dieser Erfolgsgeschichte. Als Ausbildungsstufe wird die Internierung hier in den persönlichen Werdegang integriert und der eigentlichen Laufbahn fast als eine Art Propädeutikum vorgeschaltet. In dieser positiven Deutung verknüpft der Interviewte also die Internierung unmittelbar mit seiner Berufslaufbahn in der Nachkriegszeit. Die Internierung bildet in seiner Erzählung den Start in ein erfülltes Leben, in dem sich neben beruflichem Erfolg auch privates Glück einstellte. In einer späteren Passage des Interviews brachte mein Gesprächspartner die Dankbarkeit zum Ausdruck, die er aus diesem Grund später gegenüber den Lehrern der Lager-Schule empfand:

240 Interview Bruno Pichner, Z. 804-821. 241 Siehe Bessell, Georg: Norddeutscher Lloyd, 1857-1957. Geschichte einer bremischen Reederei. Bremen 1957, S. 182-183. Das genannte Verbot wurde erst 1951 vollständig aufgehoben.

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»wir HATten ja anfangs (1) nicht mal LEHRbücher (hm) (2) und äh die jungen (.) äh=äh schiffsoffiziere, die uns da unterrichtet haben, mensch, ich habe mich (.) NIE (.) bei denen (.) beDANKen können (hm). (1) die äh=äh- nachher denn gingen wir so auseinander, aber im NACHhinein dachte ich denn: MENSCH, was HAben DIE (.) doch eigentlich geTAN (.) äh, ohne äh=äh einen DANK (.) von uns zu bekommen (hm).«242

Der Befragte thematisiert die schwierigen Bedingungen, unter denen der Unterricht im Lager stattfinden musste und hebt dadurch die Leistung der Lehrer besonders hervor. Deren Erfolg zeigt sich besonders im zuvor wiedergegebenen eigenen Lebenslauf, jedoch erst »im Nachhinein«; hier wird die retrospektive Reflexion des Sprechers greifbar, die er mit dem positiven Gefühl der Dankbarkeit verknüpft. Abgesehen vom beruflichen Erfolg wird die Internierung hier auch als Schlüssel zum ›eigentlichen‹ Ich dargestellt, als äußerer Anlass, der dazu führte, dass der Erzähler eigene innere Anlagen und Fähigkeiten entdeckte und in der Folge ein reicheres, erfüllteres Leben führen konnte als zuvor. Durch das intensive Lernen in der Internierung »kriegte ich interesse dafür UND und=und entwickelte (.) äh FÄhigkeiten, von denen ich gar nichts äh gewusst hatte (hm), äh gar nicht geAHNT hatte, dass ich äh solche äh reSERven hatte, ne (hm)«.243 Besonders deutlich wird dieser Stellenwert der Internierung als Motor der persönlichen und beruflichen Entwicklung auch anhand einer Passage aus dem Interview mit Franz Renner, in der dieser meine Frage kommentarlos umdrehte: »JK: denken sie denn, dass ihre erfahrungen aus der SEEfahrt ihnen in der ganzen lager- und internierungszeit in irgendeiner weise geHOLfen haben? FR: ja, bis zum gewissen grade, würde ich sagen, hat diese (.) mehr als 7jährige (.) äh interNIErung (.) einen doch irgendwie geprägt- bilde ich mir ein (hm). zumindest habe ICH, perSÖNlich, also (1) BILdungsmäßig sehr viel profitiert. denn habe ich mich dafür- nich, da- (2) freund von mir, mit dem ich zusammen war (hm), auch ein gebildeter mann (hm), nich, und äh wenn man etwas LERnen konnte, irgendwie, dann habe ich daran TEILgenommen (hm), nich, sodass ich als 20jähriger (.) konnte ich schon LAgerdolmetscher sein (ja) und gegenüber den (ja) den gefangenen dann RAUS zu (1) zum zahnarzt das (hm) und so was, nich. JA, doch, für mich persönlich hat es was geBRACHT (hm), denn was hätte ich sonst als volksschüler machen können? (hm), nich. nun war es damals (.) ja so, man konnte ruhig von der dorfschule kommen, von der einklassigen dorfschule und äh steuermannslehrgang und kapʼtänslehrgang (ja) machen, das einzige war, man musste diese PRÜfungen auch bestehen (hm), DANN (hm), nich, das war der WITZ, nich (ja). das setzte natürlich FLEIß voraus (hm), nich, dass man sich damit befasste, und dadurch dass ich natürlich (1) in der (1) gefangenschaft eben diese (1) vielen unterrichtsstunden schon gemacht hatte (3)- ja, (2) (hm) war es natürlich insofern für mich perSÖNlich ein enormer VORteil (hm), insofern- ABgesehen davon, dass ich (.) mein LEben da in sicherheit gebracht hatte (hm), nich.«244

242 Interview Bruno Pichner, Z. 1920-1925. 243 Ebd., Z. 798-800. 244 Interview Franz Renner, Z. 849-870.

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Statt auf meine Frage einzugehen, ob und wenn ja, wie die Erfahrungen aus der Seefahrt ihm bei der Bewältigung der Internierung geholfen hatten, legte mir Franz Renner ausführlich dar, auf welche Weise ihm die Internierung in seinem weiteren Leben zum Vorteil gereicht hatte. Dabei findet sich genau das gleiche Muster wie bei Bruno Pichner: Durch die im Lager erworbene Bildung wird die Internierung zur Voraussetzung für den persönlichen Aufstieg und die Überwindung von Grenzen. Dass sie darüber hinaus auch für das Überleben steht, wird demgegenüber nur knapp erwähnt. Auch in anderen Interviews zeigt sich die Tendenz, die Phase der Internierung durch die Betonung des dadurch bedingten Bildungs- und Erfahrungsgewinns aufzuwerten. Das bezieht sich sowohl auf ›klassische‹ Bildungsinhalte – »ich habe die ganze=ganze äh geschichte der philosophie mit diesem professor wegener (hm) auch noch absolviert da (hm), nich.«245 – als auch auf einen erweiterten Bildungsbegriff: »also äh was ich da in gefangenschaft geLERNT hat=hatte, das reicht für das leben, DACHte ich mir (hm) und=und wenn ich jetzt heute sage, das reicht für ZWEI leben ((lacht)) (hm – lacht), nich.«246 Allerdings sind solche Deutungen nicht frei von Ambivalenzen: Hans Peter Jürgens etwa sprach im weiteren Verlauf des Interviews auch von seinem Erstaunen darüber, »wie schnell ich äh das aufgeholt habe nachher, nich (hm) in jeder beziehung«247. Wenn es etwas aufzuholen gibt, hat man vorher etwas verpasst. Doch in dieser Passage lässt sich nicht nur ein Hinweis auf unterschwellige Deutungen der Internierung als Verlust oder Zäsur sehen, sondern auch eine Strategie der beiläufigen positiven Selbstthematisierung als jemand, der auch unter widrigen Umständen sein Ziel erreicht. Diese Interpretation verbindet sich mit der häufigen Thematisierung gelungener Kompensation durch Bildung. Die positive Deutung der Internierung ermöglicht den Erzählern eben auch, sich selbst auf der Gewinnerseite zu positionieren. Zur Konstruktion positiver Deutungen führten die Erzähler vorteilhafte Entwicklungen in ihrem weiteren Leben auf die Internierung zurück, entweder indem sie diese dort ihren Ausgang nehmen ließen oder indem sie die Internierung in eine (Kausal-)Kette glücklicher Umstände einbanden, in der sie eine lineare Entwicklung des Lebenslaufs ermöglichte. Auf diese Weise wird die Deutung mit Verweis auf die eigene Biografie quasi-empirisch abgesichert. Relativierung: Internierung als kleineres Übel Die dritte Variante positiver Deutungen der Internierungserlebnisse basiert auf der – häufig unausgesprochenen – Frage, was meinen Gesprächspartnern stattdessen hätte widerfahren können. Solche Konstruktionen werden mit dem Konzept des »possible self«248 greifbar. In Abwandlung von Hazel Markusʼ und Paula Nuriusʼ Überlegungen zum possible self, das vor allem ein als realisierbar vorgestelltes Ich meint, spricht die Biografieforscherin Karoline Tschuggnall von einem anderen möglichen Ich, das autobiografische Erzählungen mindestens ebenso stark formen kann.

245 246 247 248

Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1213-1214. Ebd., Z. 1024-1027. Ebd., Z. 1769-1770. Markus, Hazel/Nurius, Paula: Possible Selves. In: American Psychologist 41 (1986), H. 9, S. 954-969.

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Tschuggnall begreift »das Ich einer fiktiven Autobiographie«249 als Schlüssel zu den Deutungen der eigenen Biografie, die ein Interviewpartner im Erzählen herstellt und präsentiert: »Ein narrativer Selbstentwurf impliziert nicht nur Vorstellungen davon, wie man war, ist und in Zukunft sein wird, sondern auch Ideen darüber, wie man in der Vergangenheit hätte gewesen sein können und in Zukunft zu sein hofft, wünscht oder befürchtet.«250 In dieser Lesart sind possible selves nicht nur, wie von Markus und Nurius ausgeführt, »cognitive bridges between the present and future«,251 sondern auch das Material, aus dem Erzähler Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart errichten können. Sie konstituieren eine Deutungsfolie für das aktuelle Selbstbild und für die Deutung der gesamten Lebensgeschichte.252 Bei einem Teil der Interviews fragte ich explizit nach der persönlichen Alternativgeschichte der Gesprächspartner und damit auch nach einem möglichen Ich: »Was denken Sie, wie wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie nicht interniert worden wären?« Auf diese Frage antwortete Albert Peter, der auf Jamaica interniert war, ohne Zögern: »Dann wäre ich tot.« Anschließend erläuterte er diese Einschätzung näher, indem er mir aufzählte, wie viele seiner männlichen Verwandten – der Bruder, zwei Cousins – im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Damit machte er klar, dass diese Möglichkeit für die Mitglieder der Hitlerjugend-Generation immer im Raum stand und die Deutung der eigenen Kriegserlebnisse maßgeblich beeinflusst. Plausibilität erhielten diese possible selves in der konkreten Erzählsituation also durch die Einbindung zeithistorischer Wissensbestände über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs, die anhand familiärer Erfahrungen verifizierbar werden. Das mögliche Ich, das am drastischsten vor Augen führt, wie gut man es selbst getroffen hat, ist demnach das Ich, das den Krieg gar nicht oder zumindest nicht unversehrt überlebt hätte, wenn es nicht interniert worden wäre. Dieses mögliche Ich war nicht nur explizit, sondern auch implizit in den Gesprächen präsent, beispielsweise wenn die Interviewpartner ihren eigenen Lebenslauf mit dem anderer Personen verglichen. Den Rahmen bildete dabei meist der generationale Zusammenhang; die Erzähler verglichen sich mit Angehörigen ihrer peer group, mit den Altersgenossen und mit der Familie. Vor diesem Hintergrund muss die Bewertung der eigenen Biografie unweigerlich positiv ausfallen, besonders wenn man, wie Albert Peter, »der EINzige überLEbende«253 der eigenen Familie ist. Auch Hans Peter Jürgens wertete die Internierung auf, indem er sie als Rettung vor den Gefahren des Krieges präsentierte. Diese Tatsache führt er als Hilfe bei der Bewältigung der Internierungserfahrung an: »geholfen hat zweifellos dabei das bewusstsein, dass man am LEben war, nich und wenn man denn sein lebensalter betrachtete, dass die wahrscheinlichkeit sehr groß geworden, wenn=dass man z=zu den vielen anderen, die ja auf (ja) nem u-boot gelandet wären oder in RUSSland oder

249 Tschuggnall, Karoline: Erzählte und gelebte Geschichten. Narrative Dimensionen eines biographischen Interviews. In: Journal für Psychologie 7 (1999), H. 1, S. 56-66, hier S. 59. 250 Ebd. 251 H. Markus/P. Nurius: Possible Selves, S. 961. 252 Ebd., S. 955. 253 Interview Albert Peter, Z. 476-477.

372 | G EFANGEN IN K ANADA so (1) mit dem unsicheren, SEHR unsicheren ausgang, nich. denn in MEInem umfeld, aus meiner letzten schulklasse, sind drei mann übergeblieben. ((räuspert sich)) das ist der jahrgang (gibt einem dann schon zu denken) ʼ24 (hm) gewesen (hm), nich. nun war das eine relativ kleine klasse, wir waren nur neun mann (hm), nich (trotzdem, ein drittel), aber auf einem humanistischen gymnasium (hm), nich, das waren die kleinsten klassen, weil das (lacht) längst aus der mode war (hm, hm) ((lacht)). ABER (1) trotzdem, nich äh- (3)«254

Aus heutiger Perspektive betrachtet, steht die Internierung demnach viel stärker für die Kontinuität der Lebensgeschichte als für eine Unterbrechung. Hans Peter Jürgens berichtete, wie er dank der guten Beziehungen seines Vaters, der Kapitän war, kurz vor dem Auslaufen aus Hamburg im Frühsommer 1939 als Kadett auf die Viermastbark PRIWALL kam. Rückblickend äußerte er sich dazu folgendermaßen: »ich kann heute nur sagen: gott sei dank (ja), ne. denn (.) mit meinem alter- denn hätte ich den ganzen krieg vor mir gehabt (ja), ja. und, gut, naja (lacht). so habe ich es überlebt, zumindestens und ich muss sagen, ich habe wahrscheinlich erheblich MEHR gelernt als auf der schule, denn (hm) im LAger, da habe ich auch alles mögliche nachgemacht […]. mein SINN stand danach, bei der seefahrt zu bleiben, nich und denn- ich habe es gar nicht erst versucht (ja), das abitur nachzumachen. aber wie gesagt, der unterricht im lager, der war natürlich umfassend auch und das habe ich auch alles mitgemacht (ja).«255

Hier verbindet sich die positive Deutung der Internierung als bereichernde Erfahrung mit der Interpretation als Überlebenschance. Häufiger als solche expliziten Thematisierungen alternativer Erlebnisse sind allerdings implizite Verhandlungen dessen, was den Erzählern auch hätte geschehen können.256 Oft werden dazu Episoden genutzt, in denen es vordergründig um eine andere Person geht. Als wir beispielsweise beim Blättern in den Unterlagen meines Gesprächspartners Bruno Pichner auf eine Zeichnung stießen, auf der er eine Seebestattung festgehalten hatte, kommentiert er das Bild folgendermaßen: »das ist wie die (2) unsere äh (1) toten, weil da äh – es wurde ja mit maschinengewehrfeuerNICH äh- ja, auch auf uns, bei un=bei uns wurde keiner getroffen, aber (.) im anderen boot, das war ziemlich voll besetzt, da ge=haben sie dann mit maschinengewehrfeuer reingehalten mal und äh (.) waren einige tote, DREI tote (hm) und äh viele (.) verle=verwundete. und das wurdezwei tage später (.) wurden die dann der see übergeben.«257

Die Passage zeigt, dass die Erfahrung des gewaltsamen Todes im sozialen Nahbereich der Schiffsbesatzung ihren festen Platz in der Erinnerung meines Gesprächspartners hat. Täter wie Opfer bleiben in dieser Schilderung namenlos, doch die Identifikation des Sprechers mit den Erschossenen zeigt sich in der Bezeichnung »unsere

254 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1788-1798. 255 Ebd., Z. 424-434. 256 Hier greift erneut das Konzept der possible selves, vgl. H. Markus/P. Nurius: Possible Selves; K. Tschuggnall: Erzählte und gelebte Geschichten. 257 Interview Bruno Pichner, Z. 424-430.

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toten«. Nebenbei erwähnte er, dass er selbst in dieser Situation unversehrt blieb, da in seinem Boot »keiner getroffen« wurde. Hier besteht eine Verwandtschaft zu den von Hans Joachim Schröder untersuchten »Glück gehabt«-Geschichten, deren wichtigster Subtyp um Beschießungserlebnisse kreist.258 Eine ähnliche implizite »Glück gehabt«-Deutung schwang auch mit, als mein Gesprächspartner Franz Renner auf den Untergang des britischen Gefangenentransporters ARANDORA STAR zu sprechen kam: »FR: da sind zwei (.) seeleute unserer besatzung mit ums leben gekommen (hm) und zwar bei dem untergang der ARANdora STAR JK: ja das war ja ganz schlimm, ja. FR: ist ihnen das ein begriff (ja, ja) arandora star? nich, wo die italiener, juden, deutsche juden UND seeleute (seeleute, ganz schön viele auch) ja (ja). der=der kapʼtän hat sich dann den=den kapʼtän von der adolph woermann, von dem passagierschiff auf der brücke geholt, ihm zu helfen bei den RETtungsmaßnahmen (hm). der prien hat seinen LETZten torPEdo (.) da REINgesetzt (hm).«259

So wie Franz Renner berichteten alle meine Gesprächspartner von Kollegen, die auf der Überfahrt als Gefangene ertranken oder bei Fluchtversuchen erschossen wurden.260 So sprach Herbert Suhr beispielsweise die beim Untergang des niederländischen Gefangenentransporters VAN IMHOFF zu Tode gekommenen Seeleute an.261 Solche Episoden fungieren, wie Hans Joachim Schröder meint, »als Folie zur Pointierung der ›Glück gehabt‹-Erfahrung«.262 Besonders deutlich wird die Bedrohlichkeit des Todes anderer in Bruno Pichners Schilderung eines Gefangenentransports: »wie ich da nach äh port loco transportiert wurde, (1) äh das hatten sie ja schon mal mitgekriegt (ja), ne und (.) auf DER fahrt wurde einer von uns erschossen (hm), von äh einem- ein NEger, der erschoss einen von unseren kollegen da. und der, ja, wie alt war er, 19, 20 oder (hm) so? und äh, dann in DIESen äh BAMboohütten und äh=äh die FAHRT allein immer=immer mit dem geWEHR vor der brust, sobald man sich be(.)wegte, das ist mir DOCH so ziemlich an die GRÄten gegangen (.) und äh (.) ich äh (.) war- ja, mensch=ich finde nun nicht so die RICHtigen WORte, äh ich war denn doch so ein bisschen ver(.)stockt. ich redete nicht mehr, sodass die anderen schon geFAHR witterten, wenn einer sich so ganz äh IN SICH so zuRÜCKzieht. […] das war- da (.) habe ich mal einen TIEFpunkt gehabt, ja (.) äh und wurde dann durch einen kollegen da äh=äh heRAUSgeholt (hm) aus dem loch. denn WENN man so verSTOCKT ist, denn kann man einiges MACHen (hm). man kann soweit gehen, dass man sagt: och, das lohnt

258 H.J. Schröder: Die gestohlenen Jahre, S. 883. 259 Interview Franz Renner, Z. 943-951. 260 So berichtete zum Beispiel Hans Peter Jürgens, der gemeinsam mit Bruno Pichner in Gefangenschaft geriet, ebenfalls von der Beschießung der Rettungsboote durch die Besatzung des englischen Kreuzers NEWCASTLE und von einer weiteren Erschießung in Sierra Leone, die der von Bruno Pichner geschilderten ähnelt. 261 Interview Herbert Suhr, Z. 266 und weitere Stellen. 262 H.J. Schröder: Die gestohlenen Jahre, S. 884.

374 | G EFANGEN IN K ANADA DOCH nicht, geh REIN in den STACHeldraht (ja) und LASS dich abKNALLen oder so (2) (hm) KANN=(ja)=KANN=könnte ich mir äh vorstellen.«263

In dieser Passage beschreibt der Erzähler, wie er nach der Erschießung eines etwa gleichaltrigen Kollegen unter Schock stand. Die Emotionen, die dieses Miterleben auslöste, konnte der Erzähler im Interview lediglich metaphorisch andeuten: »das ist mir DOCH so ziemlich an die GRÄten gegangen«. Dass er im Interview »nicht so die RICHtigen WORte« fand, lässt die Intensität dieser traumatischen Erfahrung zumindest erahnen.264 Aufschlussreich ist die Thematisierung des potenziellen Suizids am Ende der zitierten Passage: Hier wählte der Erzähler die distanzierte Form des »man«, und auch wenn er die Suizidgedanken nicht explizit in Bezug auf sich selbst artikulierte und durch das Modalverb im Konjunktiv in hypothetische Überlegungen verwandelte, wird aus dem narrativen Kontext deutlich, dass es dabei sehr wohl um seine eigene Person ging. Das hier geschilderte Krisenerlebnis schmälert allerdings die positive Gesamtbewertung nicht, gerade weil für Pichner letztlich alles ein gutes Ende nahm: Er kehrte wohlbehalten und um wesentliche Erfahrungen bereichert nach Hause zurück, wie aus verschiedenen anderen Passagen deutlich wird: »BP: das ist noch einmal port loco hier, das sind die= (die hütten) die=die buschhütten DA (aha), in denen wir wohnen und dann wurden so viele von uns malariakrank (hm), weilJK: sie auch oder-? BP: we=weil, ne, ICH NICHT, ich habe immer glück gehabt.«265

Dass er »immer glück gehabt« hat, ist Pichners persönlicher Erklärungsansatz für das Unerklärbare, seine Antwort auf die unausgesprochene Frage: Warum ich nicht? Sein Glück-Haben wird durch den Hinweis auf das konkrete Nicht-Glück der anderen, nämlich die Malaria-Erkrankung vieler Kollegen, noch hervorgehoben. Glück zu haben, besteht also unter anderem darin, körperlich unversehrt zu bleiben.266 »heute bin ich so weit, dass ich im grunde genommen FROH war, BIN, dort gewesen zu sein«,267 bekannte Hans Peter Jürgens im Interview, und auch in den anderen Gesprächen finden sich ähnliche Äußerungen. Inwieweit sind diese Deutungen einer Internierungssituation außergewöhnlich? Arnold Krammer hat beobachtet, das ehemalige Kriegsgefangene, die in den USA interniert waren, ihre Gefangenschaft als beste Zeit ihres Lebens bewerten.268 Auch der kanadische Historiker Martin Auger schreibt in seiner Studie über Kriegsgefangenenlager in Quebec: »Although some prisoners maintained hard grudges about their internment, many others confessed to

263 Interview Bruno Pichner, Z. 1232-1257. 264 Zur Schwierigkeit, Emotionen zu verbalisieren, siehe M. Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion, S. 235. 265 Interview Bruno Pichner, Z. 456-461. 266 Vgl. auch H.J. Schröder: Die gestohlenen Jahre, S. 887. 267 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1403-1404. 268 A. Krammer: Prisoners of War, S. 23.

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having derived immeasurable benefits from the experience.«269 Die positive Deutung der Gefangenschaft seitens der ehemaligen Internierten ist mittlerweile als Topos in einschlägige kanadische Untersuchungen eingegangen,270 der für den ehemaligen Gewahrsamsstaat möglicherweise auch als entlastendes Narrativ fungiert. Auch wenn die verhältnismäßig guten Internierungsbedingungen in kanadischen Lagern zum Entstehen positiver Deutungen beigetragen haben, sind diese doch nicht ausschließlich darauf zurückzuführen; sie lassen sich mindestens ebenso sehr aus persönlichen biografischen Konstellationen nach der Internierung herleiten, die im Interview zutage treten und aktualisiert werden. Im Erzählen konnten die ehemaligen Internierten narrativ und performatorisch Zusammenhänge zwischen Lebensereignissen herstellen, Brüche reparieren und dabei Deutungen formulieren, kurz: die Vergangenheit erzählend auf die Gegenwart beziehen und den Geschehnissen Bedeutung verleihen.271 Dabei ist davon auszugehen, dass sich zum Zeitpunkt des Interviews bereits ein Bedeutungswandel vollzogen hat, im Zuge dessen Ereignisse und Erlebnisse aus der Zeit der Internierung in Bezug auf das gesamte Leben immer wieder neu gewichtet und bewertet werden.272 Einerseits vergrößern sich mit zunehmendem Abstand zur Internierung die Deutungsspielräume, andererseits verfestigen sich aber auch Deutungen. Volker Depkat betont, dass jede Bedeutung und individuelle Sinnstiftung auch selektierend wirkt; sie »verbindet vergangene Erlebnisse mit der Gegenwart des sich erinnernden Subjekts – und sie reguliert zugleich die Auswahl der geschilderten Erlebnisse«273. Der Volkskundler Hans Moser beobachtete diesen fortwährenden Bedeutungswandel seiner Erfahrung als Kriegsgefangener in sowjetischen Lagern: »Im übrigen war das Erlebnisbild im Lagerdasein ein anderes als im Finale des Gefängnisaufenthalts und es wurde wieder anders auf der späten Heimfahrt und veränderte sich noch mehr in der Erinnerung der Heimgekehrten und zwar nicht bloß individuell, sondern generell.«274 Dabei spielte nicht nur die zeitliche, sondern auch die räumliche Distanz zum Ort der Gefangenschaft eine wichtige Rolle; Raum und Zeit als Erlebnis- und Erinnerungsdimensionen zeigen sich auch hier als ineinander verschränkt. Wie eng jede Deutungskonstitution bei aller Individualität der Lebensgeschichte auch mit dem Aspekt der Generationalität verbunden ist, wird sichtbar, wenn man im Vergleich noch einmal Rudolf Becker zu Wort kommen lässt: In mehreren Schreiben an deutsche Medienvertreter äußerte er noch in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren die Ansicht, die Seeleute seien »auf offener See gekidnappt« worden und hät-

269 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 150. 270 Ein weiteres Beispiel hierfür wäre C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 96. 271 Depkat, Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), H. 3, S. 441-476, hier S. 456. 272 Robinson, John A.: Perspective, meaning and remembering. In: Rubin, David C. (Hg.): Remembering our past. Studies in autobiographical memory. Cambridge 1999, S. 199217, hier S. 202. 273 V. Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, S. 456. 274 Moser, Hans: Gedanken zur heutigen Volkskunde. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1954), S. 208-234, hier S. 221.

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ten sich im Lager in »Geiselhaft«275 befunden. Indem er die kanadischen Lager als »Konzentrationslager der Alliierten«276 bezeichnete, markierte er die Internierung ausdrücklich – und wohl auch in provokativer Absicht – als erlittenes Unrecht und Raub an Lebenszeit. Während meine Gesprächspartner am Anfang ihrer seemännischen Laufbahn standen, als sie interniert wurden, und nach dem Krieg meist rasch und in jungen Jahren in günstige Positionen gelangten, empfand der etwa zehn Jahre ältere Becker im Vergleich dazu die Internierung sehr wohl als Unterbrechung seiner Karriere, die sich durch diese Form der Kriegserfahrung in eine andere Richtung entwickelte. Kontextualisierungen: Zeitgeschichte und Lebensgeschichte Die in den Interviews formulierten Deutungen der Internierung sind freilich nicht ohne Bezug auf den zeithistorischen Kontext zu verstehen. Zwei Fälle zeigen besonders deutlich, wie die Gesprächspartner selbst bzw. weitere im Interview anwesende Personen Rahmungen und Kontextualisierungen verwendeten, um ihre eigenen Deutungen abzusichern und zu plausibilisieren, aber auch um Positionierungen vorzunehmen. So schaltete sich etwa die Ehefrau eines Befragten in das Interview ein, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte, indem sie eine eigene Einschätzung in den Raum stellte: »war ja nich so ne schöne Zeit«.277 Dabei wird nicht klar, ob sie sich auf die Zeit des Nationalsozialismus bezog, auf die Kriegsjahre oder aber auf die Internierungsjahre ihres Mannes, die Gegenstand des Interviews waren. In jedem Fall setzte sie damit für das weitere Erzählen ihres Mannes einen Rahmen, der positive Deutungen dieser Zeit zumindest erläuterungsbedürftig machte und zugleich eine distanzierende Funktion erfüllte. Tatsächlich distanzierte sich mein Gesprächspartner mehrmals deutlich vom Nationalsozialismus, vor allem, indem er die politischen Akteure intellektuell abwertete: »da könn se ma sehn wie blöd die verantwortlichen dafür waren«.278 Noch stärker war die Zeitgeschichte im Interview mit Franz Renner präsent. Das ganze Gespräch war durchzogen von zeitgeschichtlichen Kontextualisierungen, die zugleich als Selbstpositionierungen des Erzählers zu verstehen sind. Zum einen nutzte er Verweise auf das Kriegsgeschehen dazu, nachträglich erworbene Wissensbestände beiläufig in seine Erzählung einzuflechten, beispielsweise über die Hintergründe der Verlegung nach Kanada: »am 20. juNO 1940 (hm) da haben sie uns da (.) aufgeladen=hingeschickt, weil im parlament eben dies verLANGT wurde (ja, ja), nich«.279

275 Rudolf Becker an Stefan Aust, 14. Januar 2003. DSM, III A 3324 a. Auch auf einem maschinenschriftlichen Lebenslauf in Beckers Nachlass findet sich der handschriftliche Zusatz »Geiselhaft im Konzentrationslager«. 276 Rudolf Becker an Stefan Aust, 14. Januar 2003. DSM, III A 3324 a. 277 Interview Heinz Ricklefs, Z. 15. 278 Ebd., Z. 84-85. 279 Interview Franz Renner, Z. 197-199.

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Zum anderen ließ er in seiner Erzählung eine Reihe prominenter Zivilinternierter auftreten: Graf Albrecht Montgelas,280 Ernst Hanfstaengl,281 der in den 1920er Jahren ein enger Vertrauter Hitlers gewesen war, sowie Baron Constant Pilar von Pilchau, der die Londoner Niederlassung des Norddeutschen Lloyd geleitet hatte.282 Diese Figuren bringen Zeitgeschichte in Renners Lebensgeschichte und positionieren ihn zugleich als Person, die privilegierten Zugang zu zeithistorisch relevanten Netzwerken und Wissensbeständen hat. Vor allem am Beispiel von Ernst Hanfstaengl wird dies deutlich. Beim Erzählen über die Mitgefangenen im englischen Lager Lingfield berichtete Renner: »darunter war zum beispiel der ehemalige naziPRESSEchef, nich, der pressechef der nsdap, doktor ernst hanfstaengl (hm). der war ja geFLOhen vor seinem (ja) riVAlen (hm) goebbels, nich (hm), der ihm (hm) wohl an den KRAgen wollte (ja). offenbar war er AUCH mittellos (hm). er (.) saß mit den SEEleuten (hm) am tisch (ja), daher kannte ich ihn (hm). (3) nich, wenn man ihn dann fragte, nich, herr hanfstaengl, wer macht- was macht denn der hanfstaenglverLAG, ist ja ein verlag in (hm) münchen (hm), ist ihnen geläufig (ja), ein kunstverlag. war auch ein KUNSThistoriker. was wern’s halt machen? sagt er, HITLERbilder (lacht, hm). ja.«283

Aus der räumlichen Nähe zu Hanfstaengl, der in der gleichen Baracke wohnte wie Renner, wird eine Nähe Renners zu Personen abgeleitet, die sich ihrerseits zwar nicht unmittelbar im Zentrum des Weltgeschehens, jedoch zumindest zeitweise nah genug an den beteiligten Personen befunden hatten, um den Kriegsverlauf kompetent beurteilen zu können: »und dann wohnte ich zusammen in der baracke- da war immer noch (.) der hanfstaengl, der war zwischen die SEEleute geraten (ja), nich, der war in DER baracke, in der ich wohnte (hm) (1) nich. und als DAS bekannt wurde, dieser ANgriff (.) auf (.) russland, da sagt er: DAS ist unser untergang (hm), das ist der UNtergang. JETZT ist er WAHNsinnig geworden (hm), nich.«284

Hier ist zu erkennen, wie Renner seine Nähe zu Hanfstaengl und dessen Beurteilung von Hitlers Wahnsinn auch dazu verwendet, distanzierende Äußerungen über die Protagonisten des Nationalsozialismus in seine Erzählung zu integrieren. Zudem wertet der Kontakt zu berühmten Männern Renners Erlebnisse in der Internierung auf. So berichtete er über einen weiteren Mitbewohner in der Baracke, »ein äh beKANNter deutscher STRAFrechtslehrer, professor doktor arthur wegner. ist ihnen der ein begriff?«285 Beiläufig erwähnte Renner, dass besagter Wegner »mit kaiser (.)

280 Zu den Umständen von Montgelasʼ Internierung vgl. Barnes, James J./Barnes, Patience P.: Nazis in Pre-War London 1930-1939. The Fate and Role of German Party Members and British Sympathizers. Brighton/Portland 2010, S. 251-252. 281 Ebd., S. 252. 282 Ebd. 283 Interview Franz Renner, Z. 108-116. 284 Ebd., Z. 291-296. 285 Ebd., Z. 326-328.

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wilhelm da in doorn«286 korrespondiert und »auch an der genfer konvenTION mitgearbeitet«287 hatte. Nicht ohne Stolz reicherte Renner seine eigene Lebensgeschichte wie einen Hypertext mit Verweisen auf die Lebensgeschichten berühmter Männer an. Die Internierung bildete ein Netzwerk, durch das er mit ihnen verbunden war. Schließlich bildete die Internierung im Interview mit Franz Renner auch eine Ressource, die ihn befähigte, mir eine durch ihn selbst authentifizierte Alternativgeschichte zu erzählen, die wiederum unterstreicht, in welch privilegierter Position er sich befand. Auf meine Frage, wie er das Kriegsende erlebt habe, antwortete er: »das kriegsENDE? das habe ich HIER (1) ((zeigt auf ein Foto)) in dieser fabrik erlebt (hm), als äh lagersprecher (ja), camp spokesman nannte sich das (hm) und zwar musste ich denn VORlesen, nich, the german forces on lea SAND- on land (.) and sea and on the air have been utterly defeated and germany surrendered UNconditionally (hm). und das war am SIEBten MAI (hm). da hatte ein journalist, ich glaube, er hieß al kennedy (hm), nich, der war dafür, wie DIE sagen, in the DOGhouse geraten (hm), die hatten nämlich sich beSPROchen, die staatschefs (hm), die wollten alle geMEINsam am ACHten MAI beKANNT geben (ja), dass der waffenstillstand unterschrieben ist (hm). und der sagte, dass alle=die welt hat (.) das recht zu wissen ((klopft mit dem finger)), dass das JETZT unterschrieben ist (ja) und das war am siebten MAI (ja), nich. und da habe ich das am siebten mai dann vorgelesen (hm), nich, dass der krieg jetzt zu ENde ist«288

Die Internierung wird hier als privilegierte Position der Geschichtserfahrung markiert, die den Erzähler sogar in die Lage versetzte, gängiges Allgemeinwissen über den Zweiten Weltkrieg aus erster Hand zu korrigieren. Die Integration zeitgeschichtlicher Verweise in die Internierungserzählung lässt sich also als Strategie der Aufwertung der eigenen Erlebnisse durch Anreicherung mit Zeitgeschichte verstehen, die an Albrecht Lehmanns eingangs zitierte Beobachtung anschließen kann, wonach in der Erzählbarkeit der Kriegserlebnisse auch ein Gewinn liegen kann.289 Bei Renner folgt dieses Erzählen dem Motto ›Mittendrin statt nur dabei‹; gerade seine als privilegiert herausgestellte Position bildet eine wesentliche Grundlage für seine positive Bewertung der Internierungszeit. Welche Art der Deutungskonstitution man auch betrachtet: Die Biografie wird zur Evaluationsfolie für die Internierungserlebnisse. Doch umgekehrt muss die Erzählbarkeit der Internierungserlebnisse mit Gabriele Rosenthal auch als Hinweis auf die lebensgeschichtliche Bedeutung der Internierung verstanden werden: »Je höher die biografische Relevanz von historischen Ereignissen und Phasen, umso mehr führt dies zur biografischen Selbstvergewisserung und damit zur Erzählung. Die biografische Notwendigkeit zur Erzählung ist damit auch abhängig von der Generationszugehörigkeit des Erzählers.«290 Darüber hinaus zeigt sich an den Beispielen, dass Er-

286 287 288 289 290

Ebd., Z. 334-335. Ebd., Z. 350. Ebd., Z. 637-648. A. Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf, S. 285. Rosenthal, Gabriele: Erzählbarkeit, biographische Notwendigkeit und soziale Funktion von Kriegserzählungen. Zur Frage: Was wird gerne und leicht erzählt. In: Hartewig, Karin

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fahrungen wie die Internierung »auf der Ebene der biografischen Sinnstiftung und Identitätsherstellung so konstruiert werden, dass sie für die Betroffenen weniger belastend sind, verständlich werden, selbstwerterhaltend wirken, Kontinuität herstellen und Zukunftsperspektiven eröffnen«291. In allen Interviews wird außerdem deutlich, dass die positive und sinnstiftende Bewertung der Internierung auch auf Aspekte der Contact Zone zurückgeführt wird: Sei es das Lernen durch den Kontakt mit Kollegen, die Fremdsprachenkenntnisse durch den Umgang mit Kanadiern, der Austausch mit prominenten Mitgefangenen – all diese Faktoren sind als Phänomene der Contact Zone einzustufen, denen im Erzählen Bedeutung verliehen wird.

(Hg.): Der lange Schatten. Widerspruchsvolle Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit aus der Mitte Europas. 1939-1989 (= BIOS-Sonderheft). Leverkusen/Opladen 1993, S. 5-24, hier S. 22. 291 G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität, S. 74.

7. Identität

D IFFERENZPRODUKTION IN DER I NTERNIERUNG

DER

C ONTACT Z ONE

»das ging ja immer NUR um NAZIS, von DEUTschen war eigentlich gar nicht so viel die rede (nee klar). es waren immer NAZIgefangene, nich.«1

Jede Form von Internierung führt mit ihrer Kernkonstellation – auf der einen Seite die Eingesperrten, auf der anderen Seite die Einsperrenden – dazu, dass Fremd- und Selbstpositionierungen in ihrer Eigenlogik zentrale Bedeutung besitzen. Zäune, Regeln und die Interniertenkleidung dienten auch in Kanada dazu, räumlich, materiell und diskursiv eine Distanz zwischen den internierten Seeleuten und ihren Bewachern herzustellen, die Entstehung differenzierter Wissensbestände über die jeweils anderen zu verhindern und aus den eingesperrten Individuen eine äußerlich homogene Gruppe zu formen. Begreift man Internierung als kulturelle Praxis, die in einer Contact Zone verortet ist, so sind demnach nicht nur die Praktiken zu untersuchen, die dazu dienten, diese Distanz herzustellen und zu legitimieren, sondern auch die Deutungs- und Zuschreibungsprozesse, die durch diese Leerstelle erst ermöglicht wurden. Die Quellen spiegeln das asymmetrische Machtverhältnis, das die Internierung als solche kennzeichnet: In Lagertagebüchern oder Intelligence Reports aus den Internierungsjahren ist nur der Blick der kanadischen Wachen auf die Insassen greifbar. Medientexte zeigen eine Facette der öffentlichen Thematisierung der deutschen Internierten, die vor allem Rückschlüsse über ihre Inszenierung als ›Andere‹ innerhalb eines öffentlichen Diskurses zulässt. Die Perspektive der Gefangenen auf ihre Bewacher ist in Quellen aus den 1940er Jahren hingegen nicht zu fassen, sondern lediglich in der Retrospektive von Interviews und lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen. Zwar werden auf beiden Ebenen Bilder von Anderen produziert, doch besonders aufseiten der Einsperrenden lassen sich die oben beschriebenen Prozesse als »Othering« beschreiben,2 vor allem deshalb, weil sie zum Ziel hatten, die Internierten als unterlegene Andere zu konstruieren und damit deren Einsperrung diskursiv zu legitimie-

1 2

Interview Franz Renner, Z. 705-707. G.C. Spivak: The Rani of Sirmur; S.Q. Jensen: Othering, identity formation and agency.

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ren. Auch wenn dies nicht der Hauptzweck der polizeilichen Erfassungsfotos war, welche die RCMP von jedem Internierten anfertigte, so lassen sich diese Bilder doch als Beispiel für Praktiken des Othering interpretieren, die Uniformität herstellten und den Gefangenenstatus der Fotografierten festschrieben (Abbildung 30).3 Abbildung 30: Das polizeiliche Erfassungsfoto als Dokument des Othering

Die Abkürzung »E.M.S.« in der Kopfzeile der Karteikarte steht für »Enemy Merchant Seaman«. Quelle: Nachlass Rudolf Lell.

Vor diesem Hintergrund ist zunächst zu fragen, an welchen Punkten und in welcher Form solche Bilder vom ›Anderen‹ greifbar werden, wer sie produzierte, in Umlauf brachte und strategisch einsetzte. Am Beispiel der Presseberichterstattung über Fluchtversuche wurde bereits deutlich, dass mediale Bilder der Gefangenen in den Verlauf der ideologischen und realen Fronten eingepasst wurden und bestehende Grenzziehungen reproduzierten. Doch welche weiteren Grenzlinien gab es, welche Deutungsspielräume bestanden abseits der offiziell erlaubten Bilder? Im Hinblick auf retrospektive Narrationen der ehemaligen Internierten ist zu klären, in welchen Kontexten Bilder von Anderen eine Rolle spielen: Wie stellen die Erzähler Differenz her und welche Erzählstrategien sind damit verbunden? Welche Funktionen erfüllen diese Zuschreibungen und Positionierungen innerhalb der Narrationen? Wie setzen sich die Erzähler mit Fremdheitszuschreibungen auseinander und welche Rolle spielen dabei Kategorien wie Nationalität, Status oder Geschlecht?

3

Vgl. hierzu Regener, Susanne: Ausgegrenzt. Die optische Inventarisierung des Menschen im Polizeiwesen und in der Psychiatrie. In: Fotogeschichte 10 (1990), H. 38, S. 23-38, hier S. 37.

I DENTITÄT

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»The real Nazi is a wolf to handle«: Etikettierungen In den ersten Jahren der Internierung konnten die Kanadier kaum einschätzen, wer eigentlich ihre Gefangenen waren.4 Einer der Gründe hierfür lag in der Behandlung, die die Internierten vor ihrer Verlegung durch die Briten erfahren hatten, denn »[b]ezüglich des individuellen Hintergrunds der Internierten machte das britische Kriegsministerium keine Unterschiede. So kam es, dass deutsche Juden, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen waren, in einem Lager bei Clacton-onSea auf deutsche Gefangene von aufgebrachten NS-Handelsschiffen trafen, die als Zivilinternierte behandelt wurden, da sie nicht Teil der Wehrmacht waren.«5 Hier wird deutlich, dass die Nationalität bzw. Staatsangehörigkeit als Kernkategorie des Othering alle weiteren Differenzierungen überlagerte. Diese mangelnde Differenzierung seitens der Briten ging einher mit angsterzeugender Propaganda, die auch in die Kommunikation mit der kanadischen Regierung Eingang fand: Großbritannien hatte Kanada im Jahr 1940 nur überzeugen können, diese heterogene Gefangenengruppe aufzunehmen, indem es betonte, wie gefährlich diese Personen seien.6 Das verwendete Attribut »dangerous enemy aliens«7 traf – mit beiden Zuschreibungen: gefährlich und feindlich – allenfalls auf einen Bruchteil der in Kanada Ankommenden zu, prägte jedoch die Wahrnehmung der deutschen Gefangenen durch die kanadische Öffentlichkeit nachhaltig.8 So kursierten in Kanada Warnungen wie die eines Vertreters des Department of Forestry: »The real Nazi is a wolf to handle«.9 Die Subsumtion aller deutschen Gefangenen unter das Etikett »Nazi«, die »amalgamation of civilian internees and prisoners of war into the same category«10 und die Verwendung abschreckender Zuschreibungen wichen nur langsam einer differenzierteren Wahrnehmung der deutschen Kriegsgefangenen durch die Kanadier. Dass die Anfangszeit der Internierung in Kanada von Unsicherheit und Unkenntnis auf allen Seiten geprägt war und dass die Gefühle der Kanadier gegenüber den Deut-

4 5 6

Vgl. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 31. R. Held: Kriegsgefangenschaft in Großbritannien, S. 31. A. Puckhaber: Ein Privileg für wenige. Die deutschsprachige Migration nach Kanada im Schatten des Nationalsozialismus. Münster 2002, S. 195. Ausführlicher hierzu vgl. Kapitel 4, S. 136. 7 Draper, Paula Jean: The Camp Boys. Refugees from Nazism interned in Canada, 19401944. In: Iacovetta, Franca/Perin, Roberto/Principe, Angelo (Hg.): Enemies within. Italian and Other Internees in Canada and Abroad. Toronto u.a. 2000, S. 171-193, hier S. 172. 8 Die Hauptleidtragenden dieses Missverständnisses waren jüdische Flüchtlinge, die in England als feindliche Ausländer interniert, nach Kanada weiterverschifft und dort zunächst gemeinsam mit sogenannten Reichsdeutschen, auch Seeleuten, untergebracht worden waren. Vgl. M. Seyfert: »His Majesty’s Most Loyal Internees«, S. 170. Es dauerte mehrere Monate, bis die jüdischen Internierten mit ihren Protesten gegen diese Situation bei den kanadischen Behörden Gehör fanden. Siehe P.J. Draper: The accidental immigrants (1983), S. 53; J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 62. 9 So die Aussage eines Mitarbeiters des Department of Forestry im Juli 1940. Zitiert nach B. Waiser: Park Prisoners, S. 218. 10 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 31.

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schen zum Teil heftige Reaktionen der Betroffenen hervorriefen, berichtete auch der schweizerische Konsul J. Oertly: »On one hand the Canadian military personnel in charge of Internment Operation as well as the Canadian public looked upon these first German P/W more as criminal prisoners than prisoners of war. […] On the other hand, the German P/W, flushed with victory and fully confident about the ultimate outcome of the war, prompted many to feelings of arrogance and unwarranted criticism and complaints referring to matters which later on were considered as entirely satisfactory.«11

An diesem Zitat zeigt sich, wie stark die Wahrnehmungsbedingungen auch vom Bild der deutschen Soldaten beeinflusst waren, die schließlich in Kanada die größte Gefangenengruppe bildeten.12 In der Wahrnehmung der kanadischen Öffentlichkeit war das Bild des Deutschen zudem unauflösbar eng mit dem Begriff des ›Nazis‹ verbunden. Chris M. Madsen führt das nicht nur auf die Wirkung der Propaganda, sondern auch auf die isolierte Lage Kanadas abseits der europäischen Kriegsschauplätze zurück, die näheren Kontakt mit Deutschen tatsächlich nur ermöglichte, wenn sie als Gefangene ins eigene Land kamen.13 Die zeittypische Gleichsetzung von Deutschen und Nationalsozialisten besitzt ihre Entsprechung aber auch in der damaligen Außendarstellung Deutschlands als homogener NS-Staat. Sie macht zudem deutlich, dass Kriegsgefangene und Internierte in der Gesellschaft des Gewahrsams- bzw. Aufenthaltsstaates immer auch als »Informationsträger und […] Repräsentanten ihrer nationalen Gesellschaft«14 gelten. Indem die Kanadier alle Insassen als »Nazi Prisoners« etikettierten, zogen sie eine klare Grenze zwischen »denen« und »uns«, zwischen »Feind« und »Freund«, zwischen den »Bösen« und denen, die für die gerechte Sache kämpften. Zwar entwickelten die kanadischen Behörden in der zweiten Hälfte des Krieges ein immer detaillierteres Raster, um die deutschen Gefangenen vor allem nach ihrer politischen Überzeugung zu klassifizieren; in die Öffentlichkeit gelangte diese Kategorisierung in Nazis, Anti-Nazis und später auch Kommunisten allerdings kaum. Auch das ab August 1944 eingeführte PHERUDA-System zur feineren Erfassung der deutschen Gefangenen war nur für den internen Gebrauch gedacht. Es sollte dabei helfen, die Internierten nach der Befragung durch Military Intelligence und Camp In-

11 Aus dem Bericht »Personal Experiences gained by Mr. J. Oertly, Consul of Switzerland, Toronto, in connection with Inspection of German P/W Camps in Canada« = Anlage zum Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945). BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 12 Nach Angaben von Martin Auger befanden sich etwa 34.000 deutsche Soldaten in kanadischen Lagern. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 3. 13 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 15. 14 Zagovec, Rafael A.: »The Mind of the Enemy«. Kriegsgefangenenverhöre und die Moralanalysen der westalliierten Aufklärung. In: Bischof, Günter/Karner, Stefan/Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Zehn Jahre Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Wien/München 2005, S. 267-286, hier S. 269.

I DENTITÄT

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telligence Officers in eine von drei Kategorien einzuordnen: Schwarz (Nazis), Grau (keine starken politischen Interessen oder Überzeugungen) und Weiß (Anti-Nazis).15 Die Farben dienten lediglich zur Benennung der drei Kategorien und nicht zur äußeren Kennzeichnung der Gefangenen durch Abzeichen oder Ähnliches. Die Etikettierung der deutschen Internierten als ›Nazis‹ wird auch in Interviews und lebensgeschichtlichen Texten angesprochen. Die Dichte der narrativen Auseinandersetzung mit diesem Etikett zeigt, dass die Erzähler in verschiedenen Situationen mit solchen propagandistischen Zuschreibungen konfrontiert waren und sie in die Reflexion ihrer Internierungserlebnisse mit einbezogen. Oft wird in diesem Zusammenhang die vermutete Angst der Kanadier vor den ›Nazis‹ thematisiert, so etwa im Interview mit Franz Renner: »aber zuerst sagten mir auch die damen, ja, wir haben WUNders was, nich, was da wohl passieren würde (hm), wenn die nazis in die fabrik kommen (ja). nich, das ging ja immer NUR um NAZIS, von DEUTschen war eigentlich gar nicht so viel die rede (nee klar). es waren immer NAZIgefangene, nich.«16

Ausgehend von der Schilderung der vielen Kontakte zu Kanadiern, die er bei der Arbeit in der Gerberei knüpfen konnte,17 thematisiert Renner hier die anfänglichen Vorbehalte der kanadischen Arbeiterinnen gegenüber den internierten Seeleuten, in denen das Attribut »Nazis« die zentrale Rolle als Projektionsfläche für Ängste spielte, die durch die Kriegspropaganda geschürt wurden. Dass er die Passage als Rückblick anlegt, gibt ihm die Gelegenheit, diese Ängste implizit als unbegründet und zudem als überwunden darzustellen. Durch die Betonung »das ging ja immer NUR um NAZIS, von DEUTschen war eigentlich gar nicht so viel die rede« nimmt er eine Trennung zwischen Nazis und Deutschen und damit eine Entpolitisierung der Deutschen vor. Das ›Nazi‹-Etikett in diesem Kontext anzusprechen, ist eine Möglichkeit, den Nationalsozialismus auf dem Umweg über diese Zuschreibung zu thematisieren. Es erlaubt dem Sprecher, sich auf eine Art und Weise indirekt dazu zu positionieren, die vieles unausgesprochen lässt, aber genug andeutet, um zu vermitteln, dass er sich mit dieser Zuschreibung nicht identifiziert wissen möchte. Indem er den Kanadiern eine undifferenzierte Wahrnehmung der internierten Deutschen vorwirft, kann er seinen Wunsch nach Distanzierung von der ›Nazi‹-Zuschreibung ausdrücken, ohne sich hinsichtlich seiner damaligen politischen Ansichten erklären zu müssen. Im Gegensatz dazu verwendete Hans Plähn das Motiv der Angst vor den deutschen Internierten für eine Variante des selbstaufwertenden Sprechens. Auf meine Frage, wie er die Kontakte mit dem Wachpersonal erlebt hatte, antwortete Hans Plähn: »erst mit=hatten wir nur alte vet=äh veteranen da, nich (hm). ja, und dann die hatten ja auch manschetten vor uns, dass wir ihnen ausbüxen und auch so, nich. nee und dann, [unverständ-

15 Zu PHERUDA vgl. M. Auger: Prisoners of the home front, S. 78-79, sowie Kapitel 4, S. 193 f. 16 Interview Franz Renner, Z. 703-707. 17 Vgl. Kapitel 5, S. 315-316.

386 | G EFANGEN IN K ANADA lich] die jungs von (.) ding=äh [unverständlich] der=der in=in der normandie gekämpft hatten, die kommen jetzt alle rüber und DEM werde ich was belegen, nich (hm), ihr fackelt (hm) nicht lange mit uns (hm), nich. im gegenteil: wenn es nachher hieß, es war feierabend, dann mussten WIR erst dem seine knarre wieder suchen (hm), hat er die irgendwo versteckt gehabt ((beide lachen)). ja, das waren die jungen leute denn (hm), nich (hm), ja. die hatten ganz etwas anderes im kopf (ja) als wie mit uns dort herumzustehen, nich.«18

Plähn unterscheidet in seiner Antwort zwischen den Veterans Guards, die bereits im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten und nun an der Heimatfront Dienst taten, und den jüngeren Kanadiern. Er erzählt zunächst von der Angst der älteren Wachen vor den internierten Seeleuten – »die hatten ja auch manschetten vor uns« – und spricht dann über das Verhalten der »jungs«. Deren anfängliche Drohungen entlarvt er als substanzlos. Sein Bericht über die Unfähigkeit der jungen Wachen, verantwortungsvoll mit ihren Waffen umzugehen, lässt sich als paternalistisches Sprechen begreifen, welches das hierarchische Verhältnis zwischen den Gefangenen und den Wachen umkehrt und letztere narrativ entmachtet. Auch Heinz Ricklefs berichtete von der anfänglichen Angst der Wachen im ersten kanadischen Lager, in dem er untergebracht war: »im la:ger (.) da wurden wir dann auf mehrere hütten verteilt und äh: durften die nich verlassen (hm) ((hustet)) und ((hustet)) die wachtposten die=des waren veteranenguards die hatten se ja dafür eingezogen (ja) nich die s=b=wa:gten sich nich ins lager ((lacht)) die v=verdammten totschläger von deutschen (hm) nich und denn war da (.) ein äh: ganz netter alt=älterer sergeant major und äh: (.) der hat=sa:chte denn zu den andern da die=die=da=da=da ihr seid verrückt ihr braucht da keine angst zu (hm) haben und die glaubten ihm das nich ((lacht)) und dann äh: is er (.) alleine ins lager gegang’ nich und die haben gesagt MENSCH mach das nich du kommst da nich wieder raus ((lacht)) (hm) nich und äh (.) denn war der noch gar nich ganz drin ((lacht)) und (.) denn (.) guckte er ganz erstaunt bei ei’m der äh insassen (.) der hatte (.) sich äh irgendwie (.) ne geeignetes material mit ins lager genomm’ und mit von BORD genomm’ und der schliff nun sein TAschenmesser daran und denn guckte er (hm) der=der=der alte ((lacht)) und ne: und dann hat er eben das denn bereitwillig gezeigt (hm) nich und dann war das für den alten mann in ordnung (ja) nich. nich also, der war von ALlen der normalste (hm) nich und die gabs ja AUCH da immer, nich.«19

Der Protagonist dieser Episode ist ein kanadischer Sergeant Major, der – »von ALlen der normalste« – trotz der Warnungen seiner Soldaten unerschrocken den Kontakt zu den Internierten sucht und sich nicht einmal von einem Gefangenen einschüchtern lässt, der gerade sein Messer schleift. Um die Ängste zu beschreiben, die aufseiten der Wachsoldaten herrschten, zitiert der Erzähler zeittypische Vorurteile gegenüber den Deutschen, die als Beschimpfung artikuliert werden: »die verdammten totschläger von deutschen«. Im weiteren Verlauf der Interviewpassage markiert er die Angst der Wachen als irrational und vermittelt dabei eine Positionierung der Seeleute als gewitztes, aber harmloses Völkchen. Das mehrmalige Lachen des Erzählers unter-

18 Interview Hans Plähn, Z. 306-315. 19 Interview Heinz Ricklefs, Z. 277-293.

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streicht, dass es sich um eine heitere Geschichte handelt, in der jedoch auf Kosten der kanadischen Wachen gelacht wird: Sie werden als unsoldatische Angsthasen charakterisiert, die sich von einem Häuflein Seeleute einschüchtern lassen. Anhand dieser Episode distanziert sich der Erzähler von der negativen Zuschreibung, indem er die antideutschen Stereotype der Kanadier dekonstruiert, statt sich in eine Verteidigungsoder Rechtfertigungshaltung zu begeben. Die beiden letzten Beispiele reproduzieren also zunächst die konfrontativ-antagonistische Konstellation zwischen Wachen und Internierten, deuten sie aber jeweils unterschiedlich und verknüpfen die narrative Distanzierung von negativen Zuschreibungen mit individuellen Erzählstrategien. Beiläufig werden dadurch auch die offiziellen Regelwerke in ihrer Tragweite für die Interaktion zwischen Gefangenen und Wachen relativiert, wie die Episode über das verlegte Gewehr zeigt. Die öffentliche Meinung als Argument und Akteur Nach dem Ende des phoney war20 zeigte sich die kanadische Gesellschaft besonders »sensitive«21 hinsichtlich der deutschen Gefangenen im eigenen Land. Wenn es um die Interessen der Internierten ging, agierten die zuständigen Behördenvertreter deshalb von Anfang an sehr vorsichtig gegenüber der Öffentlichkeit. Bereits im Oktober 1940 hatte E.H. Coleman, Under Secretary of State, zu bedenken gegeben: »There is a considerable body of public opinion in Canada which, without considering all the features involved, is inclined to protest against what they are pleased to describe as ›coddling‹ of German prisoners of war and German civilians interned in this country.«22 Im Mittelpunkt stand nun nicht mehr in erster Linie die abstrakte Angst vor den Gefangenen selbst, sondern die Kritik am vermeintlichen ›Schmusekurs‹ der Regierung gegenüber den Gefangenen. Diese Unterstellung spielte immer wieder eine Rolle in Einzelfallentscheidungen über die Gestaltung des Lagerlebens. Die öffentliche Meinung wirkte somit indirekt als Akteur auf die Internierung ein, denn die kanadische Regierung suchte alles zu vermeiden, was ihr von der Öffentlichkeit als Schwäche gegenüber dem Feind hätte ausgelegt werden können. Gleichzeitig stand außer Frage, dass man sich in der Behandlung der Gefangenen und Internierten an der Genfer Konvention orientieren würde, nicht nur im Hinblick auf das Reziprozitätsprinzip und die Situation der kanadischen und britischen Gefangenen in deutschem Gewahrsam. Dies führte dazu, dass in der Öffentlichkeit immer wieder Gerüchte und Unmut über die vermeintlich weiche Linie gegenüber den Gefangenen aufkamen.23

20 Bezeichnung für die Phase militärischer Inaktivität von der Kriegserklärung Englands und Frankreichs an Deutschland bis April 1940. Zum Begriff phoney war vgl. phoney war. In: Dear, I.C.B. (Hg.): The Oxford Companion to World War II. Oxford/New York 2001, S. 691-692. 21 Schreiben E.H. Coleman, Under Secretary of State, an John W. Beaton, YMCA, 20. Februar 1941. LAC, MG 28, I 95, 273, File 1. 22 Schreiben E.H. Coleman, Under Secretary of State, an John W. Beaton, YMCA, 25. Oktober 1940. LAC, MG 28, I 95, 273, File 1. 23 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 14.

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Als Stimmungsbarometer für die öffentliche Meinung fungierten dabei die Wachen der Veterans Guard. Als Veteranen des Ersten Weltkriegs kam ihnen dabei auch die Rolle einer moralisch über alle Zweifel erhabenen Instanz zu. So bezog etwa der Kommandant des Lagers Mimico die Meinung der Wachen explizit in seine Überlegungen zur Gestaltung der ersten Internierten-Weihnachtsfeier im Jahr 1940 mit ein: »As the Veterans Guard personnel […] are being very critical of the good treatment and food given the internees and are informing their numerous friends accordingly, it seemed better not to indent for turkey; furthermore turkey is not a national Christmas article of fare in Germany. Beef is what is usually eaten, there.«24 Hier wird das Nationalstereotyp vom Deutschen als Rindfleischesser als Argument gegen den weihnachtlichen Truthahn verwendet, der eine gefährliche Annäherung an nordamerikanische Gepflogenheiten bedeutet hätte. Das gewichtigere Argument jedoch bildet die Gefahr, dass durch die Wachen auch die Öffentlichkeit von der guten Versorgung der Internierten erfahren könnte. Mit kritischen Äußerungen des Wachpersonals angesichts ihrer Hilfsaktionen musste sich auch die YMCA auseinandersetzen. Solche Einwände basierten meist auf dem Vergleich zwischen der Situation der Internierten und derjenigen der Wachen, wie aus einem Brief des Generalsekretärs der YMCA, Richard S. Hosking, vom Januar 1941 hervorgeht: »We are meeting some criticism, particularly from the guards of these prison camps who are veterans of the last war. […] here and there we hear the remark that the prisoners are getting far more than the guards are by way of entertainment, writing paper, games etc.«25 Befürchtungen, den Deutschen gehe es in den kanadischen Lagern zu gut, wurden vielleicht auch durch die Unkenntnis seitens der kanadischen Bürger über die tatsächlichen Lebensumstände in den Camps gespeist. Außer bei Fluchtversuchen durften die Medien aus Sicherheitsgründen nicht über die Lager berichten.26 Was bei Fluchtversuchen über die Deutschen in der Zeitung stand, war nicht gerade dazu angetan, Ängste und Vorurteile abzubauen, wie Stephania Cepuch betont: »In the minds of the Canadian population, POW escapes were synonymous with danger in the early years of the war. Wartime propaganda painted the German soldier to be a vicious man with no respect for human life, ready to kill or destroy with little or no provocation.«27 Auf die eingeschränkten Möglichkeiten der Berichterstattung reagierte die Presse auch mit Unterstellungen eines zu milden Kurses gegenüber den Lagerinsassen, wie Chris M. Madsen darlegt: »kept in the dark, the press and large segments of the general public called for a tougher line in the treatment of interned Germans«28. Das Verbot der Medienberichterstattung löste immer wieder derart wilde Spekulationen über die Gefangenen und die Zustände in den Lagern aus, dass die Regierung im November 1943 beschloss, die Veröffentlichung von Artikeln und Bildern in Printmedien zu erlauben, sofern dazu Material verwendet wurde, das vom Wartime Information Board

24 War Diary Camp Mimico (M/22), Folder 1, Vol. 6, 20. Dezember 1940. LAC, RG 24, 15391. 25 Schreiben Richard S. Hosking an E.M. Robinson, Springfield, USA, 16. Januar 1941. LAC, MG 28, I 95, 272, File 11. 26 Vgl. hierzu Anm. 289 auf S. 260. 27 Siehe S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 30. 28 C.M. Madsen/R.J. Henderson: German prisoners of war in Canada, S. 14.

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freigegeben oder zur Verfügung gestellt wurde.29 Besuche von Journalisten in den Lagern fanden erst nach Kriegsende statt.30 Für die Dauer des Krieges war also das Bild der Lager und der Gefangenen in der kanadischen Öffentlichkeit einer propagandistischen Regulierung und Lenkung unterworfen, die den Lesern möglichst wenig Anlass bieten sollte, an der Kompetenz und Integrität ihrer Regierung zu zweifeln. Stinktiere oder die Angst vor der Grenzüberschreitung Wo die Toleranzgrenzen der kanadischen Öffentlichkeit im Hinblick auf die vermeintlich zu gute Behandlung der gefangenen Deutschen verliefen, zeigen exemplarisch zwei Medientexte der frühen Kriegsjahre. Sie beziehen sich auf einen Vorschlag von Dr. Jerome Davis (YMCA), der sich im Herbst 1941 mit einer Anfrage an die Stadt Toronto gewandt hatte. Davis wollte wissen, ob der städtische Riverdale Zoo einige Waschbären entbehren könne, um sie deutschen Gefangenen leihweise zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise könne man das harte Los der Lagerinsassen zumindest etwas mildern. Nicht nur der Vorschlag selbst, sondern vor allem das von Davis in diesem Zusammenhang benutzte Wort »to amuse« erhitzte in der sich daraufhin entzündenden Debatte die Gemüter. Unter der Überschrift »Plan to ›Amuse‹ Nazis Opposed. Toronto Officials Would Give Prisoners Skunks, Not Raccoons« berichtete die Zeitung The Windsor Daily Star am 13. November 1941 über eine Sitzung in der City Hall von Toronto. Im Mittelpunkt des Treffens stand eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen dem für die Zooverwaltung zuständigen Civic Parks Committee31 und dem Board of Control.32 Erstere befürworteten Davis’ Vorschlag, letztere hielten ihn für »ridiculous« und »just plain crazy«.33 Die Mitglieder des Board of Control unter dem Vorsitz des Bürgermeisters von Toronto, Frederick Joseph Conboy, »expressed ›amazement‹ on learning that the committee had unanimously adopted the parks commissioner’s suggestion that one adult female and two young male raccoons be taken out of the zoo and sent to the Nazi prisoners. The three animals were valued at $120, and Toronto would be expected to pay the cost of crating.«34 Prinzipiell falsch sei diese Entscheidung, so Conboy. Schließlich handele es sich um feindliche Gefangene, und dem Steuerzahler könne nicht zugemutet werden, für deren »amusement«35 Geld auszugeben. Controller Robert Hood Saunders schlug

29 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 59. 30 So besuchten im Oktober 1945 Vertreter verschiedener regionaler und überregionaler Zeitungen das Lager Monteith. Vgl. War Diary Camp Monteith (Q/23), Folder 4, Vol. 58, 2. Oktober 1945. LAC, RG 24, 15393. Ähnliche Belege gibt es für Sherbrooke, vgl. RG 24, 15401. 31 Eines von mehreren Committees des Toronto City Council. 32 Das Board of Control war zu dieser Zeit Teil der kommunalen Verwaltung von Toronto. Es bildete die Exekutive des Toronto City Council und bestand aus vier gewählten Mitgliedern und dem Bürgermeister. 33 The Windsor Daily Star, Donnerstag, 13. November 1941, S. 1. Enthalten in LAC, MG 28, I 95, 272, File 11. 34 Ebd. 35 Ebd.

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vor, stattdessen drei Stinktiere zu spenden, mit denen die Gefangenen spielen könnten, und ein anderes Mitglied des Gremiums führte das Prinzip der Reziprozität ins Feld, um Davis’ Vorschlag abzuqualifizieren: »I feel reasonably sure that our Allied prisoners in German camps only get the bare necessities of life. I bet they don’t get any raccoons to play with.«36 Ein weiterer Gegner der Idee fügte hinzu: »Think of those poor unfortunate animals being forced to associate with Nazi prisoners.«37 Dieser »bitter clash of opinion«38 schlägt sich auch in einem zeitnah erschienenen Cartoon nieder (Abbildung 31). Der unter dem Titel »Pet Coon suggested to amuse German Prisoners – News Item«39 veröffentlichte Comicstrip stammt von dem kanadischen Zeichner und Cartoonisten Harry Hall.40 Im November 1941 wurde er in der von Hall gezeichneten Reihe »News’n Nonsense« im Evening Telegram abgedruckt, einer populären Abendzeitung, die sich als Anwalt des kleinen Mannes verstand und seit ihrer Gründung im späten 19. Jahrhundert für ihre enge Bindung an England bekannt war.41 Der Comic setzt sich karikierend und ironisierend mit Davis’ umstrittenem Vorschlag auseinander und greift das in der Debatte zum Reizwort gewordene »amuse« mehrfach auf. Abbildung 31: »Pet Coon Suggested to Amuse German Prisoners«

Cartoon des kanadischen Zeichners Harry Hall. Quelle: Erschienen im November 1941 im Evening Telegram42

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Ebd. Ebd. Ebd. Als Zeitungsausschnitt enthalten in LAC, MG 28, I 95, 272, File 11. »Coon« ist eine umgangssprachliche Abkürzung des Wortes »Raccoon« (Waschbär). 40 Harry Hall lebte von 1893 bis 1954. Eine knappe Biografie findet sich bei Desbarats, Peter/ Mosher, Terry: The Hecklers. A History of Canadian Political Cartooning and a Cartoonists’ History of Canada. Toronto 1979, S. 238. 41 Halls Reihe »News’n Nonsense« erschien seit 1935 im Toronto Telegram (im November 1941 hieß die Zeitung Evening Telegram). Die Zeitung erwarb sich im Lauf der Zeit einen Ruf als scharfer Beobachter der Lokal- und Kommunalpolitik. Vgl. Fetherling, Douglas: The rise of the Canadian newspaper (Perspectives on Canadian Culture, 6). Toronto 1990, S. 97, 105; Rutherford, Paul: The Making of the Canadian Media. Toronto u.a. 1978, S. 57-58. 42 Undatierter Zeitungsausschnitt in der Akte LAC, MG 28, I 95, 272, File 11. Grobe Datierung über den Abgleich mit anderen in dieser Akte enthaltenen Zeitungsausschnitten.

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Der Protagonist des Cartoons ist durch seine angedeutete Uniform mit Schulterklappen und Mütze sowie durch seinen starken, lautmalerisch hervorgehobenen Akzent als deutscher Soldat gekennzeichnet. Thema des Comics sind Tiere als Gesellschafter für deutsche Gefangene; in einer sich steigernden Reihe werden Alternativen zu den von Davis vorgeschlagenen Waschbären präsentiert, die allesamt keine typischen Haustiere sind: Die Reihe beginnt mit einem Flohzirkus, wird fortgesetzt mit einem Äffchen, das auf einer vom Deutschen betätigten Drehorgel sitzt, gefolgt von einer Schlange, die sich mehrfach um den Hals des Protagonisten gewunden hat, und einem Stinktier. Diese Tierparade erinnert an Jahrmarktsattraktionen und nimmt damit Bezug auf das umstrittene »amusement«43 der Gefangenen. Die Kontextualisierung der Bilder und der beiden Textebenen transportiert jedoch vor allem negative Deutungen: Während Flöhe als lästiges Ungeziefer Juckreiz verursachen und Krankheiten übertragen, erinnert der Affe an abgerichtete Tiere, mit denen (nicht nur, aber auch italienische) Leierkastenmänner seit dem 19. Jahrhundert durch die Straßen zogen, um ihre Darbietung attraktiver zu machen.44 Die Schlange gilt als doppelzüngig, gefährlich und falsch. Im Zentrum des Comics stehen die von Saunders in die Diskussion eingebrachten Stinktiere. Seit der Besprechung in der City Hall spielten sie eine zentrale Rolle in der Debatte um Davis’ Vorschlag. Der im Comic abgebildete Deutsche kommentiert das Erscheinen des Stinktiers mit dem Ausruf »Skunks! Ve hass Millions of dem in Germany!« und reproduziert so die von Controller Saunders eingeführte Verknüpfung zwischen deutschen Gefangenen und Stinktieren. Gegenüber Saunders’ Vorschlag, den Gefangenen Stinktiere zukommen zu lassen, geht der Comic mit dem im fünften Panel abgebildeten britischen Löwen jedoch noch einen Schritt weiter. Der Untertitel kommentiert bissig: »Prisoners wouldn’t need amusing if they were supplied with a British Lion. At least they wouldn’t have to worry about killing time.« Mit der Bezeichnung »british lion« im Text wird auf den Schildhalterlöwen im Wappen des Vereinigten Königreichs und damit auf Großbritannien selbst Bezug genommen.45 Die deutlich gezeichneten Krallen an den Vordertatzen des Löwen unterstreichen seine Wehrhaftigkeit, die jedoch nicht gegen den Betrachter gerichtet ist – dieser wusste sich schließlich im Kampf gegen Deutschland Seite an Seite mit Großbritannien.46 Zum Wortspiel wird die Wendung »killing time« durch die

43 The Windsor Daily Star, Donnerstag, 13. November 1941, S. 1. Enthalten in LAC, MG 28, I 95, 272, File 11. 44 Hocker, Jürgen: Drehorgel. In: Finscher, Ludwig (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Sachteil 2, Böh – Enc. Kassel u.a. 1995, Sp. 1513-1521, hier Sp. 1519. 45 Der britische Löwe fungiert auch in anderen kanadischen Medientexten aus der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkriegs als ikonischer Repräsentant Englands. Siehe Hou, Charles/ Hou, Cynthia: Great Canadian political cartoons, 1820 to 1914. Vancouver 1997, S. 220; Vance, Jonathan Franklin William: Maple Leaf Empire. Canada, Britain, and Two World Wars. Don Mills 2012, Bildtafel 20 und Bildunterschrift zu Tafel 21. 46 Jonathan F. Vance führt in seiner Studie »Maple Leaf Empire. Canada, Britain, and Two World Wars« ein Poster als Beispiel an, auf dem der britische Löwe mit Krone, Schwert

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übriggebliebene Mütze des Soldaten, die nahelegt, dass der britische Löwe diesen bereits verschlungen hat. Im letzten Panel tritt unter der Überschrift »Sez Melinda« ein Markenzeichen Halls auf: Vor einem Bretterzaun, an dem ein Plakat für den Kauf kanadischer Kriegsanleihen wirbt, verkündet das Mädchen Melinda: »Grandma sez [=says] in these dark days it is well to remember that if we must strike be sure to strike at the enemies of democracy«. Dieses Bild gibt den zuvor dargestellten Szenen den zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Rahmen, denn Melindas Äußerung ruft dem Leser nachdrücklich den Ernst der Lage ins Bewusstsein – man befindet sich in einem Krieg gegen die Feinde der Demokratie. Auf diese Weise wird die existenzielle Bedeutung angemessenen Verhaltens gegenüber dem Feind für den Fortbestand der Demokratie herausgehoben – die Verknüpfung dieses Appells mit dem WaschbärenProblem bleibt dem Betrachter überlassen.47 Welche Charaktereigenschaften einen typischen »enemy of democracy« ausmachen, wird in den ersten vier Bildern deutlich dargestellt: Die zahlreichen negativen Eigenschaften des deutschen Gefangenen werden dabei durch die Tiere versinnbildlicht, die ihm der Zeichner zur Seite gestellt hat. Anhand von Mimik, Gestik und Äußerungen wird der Deutsche als körperlich wie geistig unterlegen präsentiert. Sein wohlgenährtes Gesicht mit dem angedeuteten Doppelkinn wirkt gelangweilt, behäbig und dümmlich; zudem verdeutlicht es, dass es dem Deutschen rein körperlich an nichts fehlt – eine zeichnerische Randbemerkung in Richtung der YMCA. Der karikierte Akzent und das fehlerhafte Englisch des Soldaten offenbaren seine Beschränktheit. Zudem wird der Gefangene als Lügner entlarvt, wenn er singt: »I don’t vant to set der vorld on fire!« – die Kriegsereignisse bis zum Herbst 1941 hatten bereits das Gegenteil bewiesen. Die Single »I don’t want to set the world on fire« der USamerikanischen Band »The Ink Spots« war im August 1941 bei Decca herausgekommen und erreichte Platz vier der Billboard-Charts.48 Dass der deutsche Soldat im Bild dieses Liebeslied trällert, veranschaulicht auch, dass er bereits Zugang zu den gängigen Unterhaltungsmedien der Zeit hatte. Mit der Entgegnung »You won’t, buddy!« führt der Affe die Selbstüberschätzung des Deutschen vor und verweist ihn zugleich in seine Grenzen. Der Deutsche wird hier als größenwahnsinnige Figur charakterisiert, die erfolglos versucht, ihre verwerflichen Ziele hinter der harmlos-heiteren Fassade eines Drehorgelspielers zu verbergen. Die Zuschreibung negativer Eigenschaften wird schließlich durch den selbstentlarvenden Verweis auf Deutschland abgerundet, den der Soldat angesichts des Stinktiers äußert. Sowohl auf der visuellen als auch auf der textlichen Ebene verfolgt der Cartoon durchgehend die Strategie, die deutschen Gefangenen lächerlich zu machen. Dabei reproduziert er deren Subsum-

und Churchill-Zigarre Seite an Seite mit dem ebenfalls bewaffneten kanadischen Biber in die Schlacht zieht. Ebd., Bildtafel 20. 47 Nach McCloud gehört es zur Spezifik von Comics, dass es dem Betrachter stets gelingt, die in den einzelnen Panels abgebildeten »Augenblicke zu verbinden und gedanklich eine in sich zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit zu konstruieren.« Vgl. McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg 2001, S. 75. 48 Warner, Jay: The Billboard Book of American Singing Groups. A History 1940-1990. New York 1992, S. 38-39.

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tion unter die Gruppe der Soldaten, die die Wahrnehmung der deutschen Internierten generell prägte. Angesichts dieser Komplexitätsreduktion, die zur Konstruktion binärer Differenz genutzt wird, lässt sich dieser Comic als Teil des öffentlichen Diskurses über die Behandlung deutscher Kriegsgefangener und Internierter in Kanada lesen. Wie der zuvor untersuchte Zeitungsartikel stützt er sich auf ein medial vielfach präformiertes Feindbild des Deutschen als ›Nazi‹, greift es auf und wandelt es durch Verweise auf einen tagesaktuellen Fall situationsspezifisch ab. Als Feinden der Demokratie wird den Deutschen in beiden Quellen das Recht auf ›amusement‹ abgesprochen. Im Gegensatz zu den üblichen Unterhaltungsangeboten in den Lagern bedeutete Davis’ Vorschlag, Waschbären aus dem Zoo von Toronto in ein Kriegsgefangenenlager zu schicken, offensichtlich eine bedrohliche Überschreitung der Grenze zwischen der kanadischen Zivilgesellschaft und dem Lager, die eine diskursive Verstärkung dieser Grenze erforderte. Für die Konstruktion größtmöglicher Distanz zwischen der kanadischen Gesellschaft und den Deutschen werden in den Medienquellen alle argumentativen und bildlichen Möglichkeiten ausgeschöpft: Zunächst wird verdeutlicht, was für eine Zumutung es für den Steuerzahler sei, diese Belustigung für den Feind aus eigener Tasche zu bezahlen. Damit konnten sich die Kommunalpolitiker sicher sein, die Bevölkerung – sofern überhaupt nötig – auf ihre Seite zu ziehen. Als zusätzliches Argument wird ins Feld geführt, es sei geradezu eine Beleidigung für die Waschbären, mit Nazis eingesperrt zu sein. Die Tiere werden damit über die Deutschen gestellt. Möglicherweise besaß der Vorschlag von Dr. Jerome Davis für die Gegner der Idee auch eine symbolische Dimension: Waschbären, auch die mittlerweile in Europa lebenden Exemplare, stammen aus Nordamerika. Waschbären zu den Deutschen ins Lager zu schicken, hätte also auch bedeutet, dem Feind ein Stück des eigenen Kulturund Naturerbes auszuliefern. Der in der Debatte geäußerte Gegenvorschlag, den Deutschen Stinktiere zur Verfügung zu stellen, wenn man ihnen denn partout Tiere ausleihen müsse, zog die Idee des YMCA-Sekretärs ins Lächerliche und verwies die Deutschen in die unappetitliche Sphäre, in der das Stinktier sein übel riechendes Sekret versprüht. Für Davis’ humanitäre Überlegungen war in dieser Diskursformation kein Platz. Das für die Hilfsorganisationen handlungsleitende Prinzip der ›Reciprocity‹ konnte hier nicht greifen, der Vorstoß ging ins Leere und wurde im karikierenden Medienformat und durch überzeichnete Gegenvorschläge disqualifiziert. Im Zusammenhang mit Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers kam das Thema der nach Meinung einiger Medienvertreter zu großzügigen Behandlung der Internierten auch in manchen Interviews zur Sprache. So berichtete Franz Renner: »da stand denn eines TAges in der zeitung, nich: (5) there are two wrong ways to treat prisoners, nich, ah JA, die überschrift war: nazi sailors (.) pushed church goers off the side walk (hm), hm. also die hätten da die LEUte vom GEHweg runtergeSCHUBBT (hm), die geRAde auf dem weg zur KIRche waren (ja), nich, dieser spaziergang- und dann mussten wir das stoppen. da=der=das war SO in der presse, nich- ZWEI verkehrte wege gibt es, gefangene zu behandeln: deutschland bringt sie UM und wir verHÄTscheln sie (hm), nich, dass wir da spazie-

394 | G EFANGEN IN K ANADA ren gehen durften (ja). ja (hm), das war aber eben reine PRESSEsache (hm). die leute an sich, die waren uns eigentlich ganz-«49

Hier thematisiert Renner, der sich im ganzen Interviewverlauf als passionierter Zeitungsleser präsentiert hatte, wie sich die mediale Berichterstattung über die Internierten auf deren Alltag auswirkte. Die in der Zeitung erhobenen Vorwürfe kennzeichnet er dabei als Meinungsmache der Medien und als Konstrukt, das weder mit der Realität noch mit der tatsächlichen Einstellung der Bevölkerung etwas zu tun hatte. Zum einen lässt sich in dieser Passage sein subjektiver Erklärungsansatz für das Aussetzen des Spaziergang-Privilegs sehen; zum anderen enthält sie eine Auseinandersetzung mit den Vorbehalten der Medien gegenüber solchen Privilegien und mit der Wirkmächtigkeit der medial vermittelten Bilder. Dabei greift der Erzähler das Argument der Verweichlichung auf, das auch im Zusammenhang mit der Waschbärendebatte verschiedentlich genannt wurde. Interessant ist seine Positionierung der Presse als nicht greifbarer, doch machtvoller Akteur, der durch die Produktion und Zirkulation negativer Bilder Spielräume der Internierten einschränken konnte. Indem Renner andeutet, dass die Zuschreibung als rempelnde Nazis für die alltägliche Interaktion mit kanadischen Zivilisten, wie er sie beim Arbeitseinsatz erlebte, folgenlos blieb, nimmt er eine Trennung zwischen den Medien und den Bürgern vor. Diese fungiert auch als entlastendes Narrativ, das die angesprochene Feindseligkeit auf die abstrakt bleibenden Medienvertreter begrenzt und die übrigen Interaktionen im sozialen Nahbereich als vorurteilsfrei bewertet. Zudem fügt sich diese narrative Ausweitung der eigenen Urteilskraft in Renners Selbstpräsentation im restlichen Interview ein.50 Dass der Diskurs über die angeblich zu gute Behandlung der Gefangenen in Interviews aufgegriffen wird, ist wenig verwunderlich. Doch die Anthropologin Jane Dusselier hat im Zusammenhang mit der Internierung japanischstämmiger Bürger in den USA während des Zweiten Weltkriegs auf Kontinuitäten dieser Argumentation aufmerksam gemacht, die bis in den heutigen wissenschaftlichen Diskurs hineinragen: »Some internment scholars have been hesitant to write about […] the creation of golf courses, for fear that these re-territorialization activities might be interpreted as evidence that internees were ›pampered‹.«51 Hier zeigt sich die Langlebigkeit und Wirkmächtigkeit solcher Diskursfragmente und der impliziten moralischen Bewertungskriterien, die damit verknüpft wurden. »German Heini«: Positiv gedeutete Fremdheitszuschreibungen Während im offiziellen Propagandadiskurs die Nationalität die wichtigste Kategorie der Differenzkonstruktion bildete, verwenden die Erzähler in retrospektiven Narrationen ein wesentlich vielfältigeres Spektrum an Kategorien, um Fremdheit zu verhandeln. Dabei zeigt sich Differenz und Alterität als nicht ausschließlich negativ besetztes Thema, sondern als Erzählressource, die erhebliche Deutungsspielräume eröffnet.

49 Interview Franz Renner, Z. 675-683. 50 Vgl. Kapitel 6, S. 376-378. 51 J.E. Dusselier: Artifacts of Loss, S. 78.

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Ausgehend von der Schilderung einer Kieferentzündung, die er sich außerhalb des Stammlagers in einem work detachment zugezogen hatte, beschreibt Bruno Pichner in einem seiner schriftlichen Erinnerungstexte einen Aufenthalt im Krankenhaus von Port Arthur. In seiner Darstellung der Begegnungen mit dem dortigen Pflegepersonal spricht er die Fremdheitszuschreibung der Kanadier gegenüber den Deutschen an: »Nach den vielen Jahren unter Männern habe ich die persönliche Betreuung der jungen Krankenschwestern genossen, besonders als ich wieder meine englischen Sprachkenntnisse anwenden konnte. Als Exot wurde ich von Catherine, Stella und Maryorie liebevoll betreut. Auch die kleine Röntgenschwester, ganz in weiß gekleidet, hatte es mir angetan. Sie hatte so eine flötende, leicht lispelnde Aussprache. Während ich mit dem Kopf unter dem X-Ray-Schirm lag, erklärte sie mir den weiteren Vorgang beim folgenden Ton: »Hold your breath! Don’t breathe!« um dann vor die Tür zu gehen. Das hatte mir zuvor noch nie jemand gesagt. Sie half mir dann noch beim Aufstehen. Der kurze Aufenthalt im General-Hospital war wirklich ein einmaliges Erlebnis.«52

Indem der Verfasser sein erzähltes Ich als »Exot« positioniert, stellt er eine Statusdifferenz zu den anderen Patienten her, die in seiner Deutung zur Begründung für die als besonders intensiv empfundene Zuwendung wird: »Als Exot wurde ich von Catherine, Stella und Maryorie liebevoll betreut.« Der von Pichner gewählten Selbstbezeichnung als »Exot« liegt die Annahme zugrunde, dass es eine solche Fremdheitszuschreibung der Krankenschwestern gegenüber dem erzählten Ich gab. Zwar ist der Exotenstatus, den Pichner seinem erzählten Ich zuschreibt, kaum anders herzuleiten als aus seiner Nationalität und seinem Gefangenenstatus. Doch die Kategorie der Nationalität wird hier allenfalls indirekt über das Thema Sprache verhandelt. Im Gegensatz zu den Bezugnahmen auf zeittypische Feindbilder und Nationalstereotype, die sich in den oben zitierten Interviewpassagen finden, nimmt der Verfasser durch die Bezeichnung »Exot« eine entnationalisierte und damit auch entpolitisierte Differenzzuschreibung vor, die sich nahtlos in seine positive Deutung der gesamten Situation einfügt. Pichners Darstellung des Krankenhausaufenthalts wird zudem von einer weiteren konfliktfreien Differenzkonstruktion geprägt, die sich hauptsächlich auf die Kategorie des Geschlechts stützt und die eigene Wahrnehmung des Verfassers in den Vordergrund rückt: Der Erzähler stellt die Frauenwelt des Krankenhauses der Männerwelt des Lagers gegenüber. Durch die englische Sprache und die angelsächsischen Vornamen werden die Schwestern zwar einer fremden Nation zugeordnet, treten jedoch nicht in erster Linie als Repräsentantinnen Kanadas auf, sondern werden als Verkörperung mädchenhaft-reiner Weiblichkeit inszeniert. Dabei vollzieht der Verfasser durchweg positive Zuschreibungen, die auch plausibilisieren, weshalb er alltägliche Situationen aus dem Klinikalltag zu einmaligen Erlebnissen umdeutet. Sie belegen die von ihm empfundene Fremdheit der Umgebung, spiegeln ihm jedoch auch seine eigene Fremdheit in diesem Setting. Seine Deutung der Begegnungen klammert die politischen und zeitgeschichtlichen Kontexte aus. Indem der Verfasser die subjektiv empfundene und gleichzeitig antizipierte Fremdheit des Internierten in

52 Erinnerungstext Bruno Pichner, S. 3. Sammlung Bruno Pichner.

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einen Exotenstatus umdeutet, vollzieht er eine Aufwertung dieser Fremdheit, die möglicherweise auch belastende Aspekte ausblendet. Auch Heinz Ricklefs schildert in seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen einen Krankenhausaufenthalt. Wie Pichner thematisiert er in diesem Rahmen Fremdheit und Differenz, verhandelt diese Zuschreibungen und Deutungen im Unterschied zu Pichner aber explizit entlang der Kategorie Nationalität sowie unter politischem Vorzeichen. Die acht Manuskriptseiten umfassende Geschichte beginnt in einem Bushcamp, wo sich Ricklefs beim Holzfällen verletzte, sodass er operiert werden musste: »Aus sanftem Schlummer erwacht, stellte ich fest, daß ich bereits in ein Krankenzimmer zurückgebracht worden war. An meinem Bett saß eine Oberschwester. Nachdem ich mein Erstaunen darüber geäußert hatte, daß ich schon in einem Zimmer untergebracht war, sagte sie anerkennend: ›Ah, he talks English pretty good.‹«53

Anhand dieser ersten Begegnung zwischen der Krankenschwester und dem Patienten schildert Ricklefs einen spezifischen, von ihm antizipierten neugierigen Blick der Kanadier, der nach Bestätigung von Fremdheit sucht. Im weiteren Verlauf der Geschichte beschreibt Ricklefs, wie er im Krankenhaus als exemplarischer Deutscher rasch zur Attraktion wurde und Besuch von verschiedenen Krankenschwestern sowie von Angehörigen seiner Mitpatienten bekam, denn »alle wollten […] mal den German Heini sehen«54. Ricklefs hebt aus dem Kreis der Akteure eine Person besonders heraus, indem er uns zunächst mitteilt, dass sie, anders als alle anderen, den Erzähler nicht beachtete. Dennoch – oder gerade deshalb – wird sie eingehend beschrieben: »Eine der Schwestern hielt sich viel bei einem jungen Patienten auf. Sie war groß, stark und dunkelhaarig und sang ihrem Freund Walzer von Strauß vor. Ich hatte die Vermutung, daß sie eine jüdische Emigrantin war, die vielleicht Sehnsucht nach ihrer alten Heimat hatte.«55

Bei der Entlassung aus dem Krankenhaus tritt diese Krankenschwester erneut in Erscheinung: »Als ich am Eingang des Geländes zusammen mit meinen Bewachern auf das Transportfahrzeug wartete, kam die große schwarzhaarige Schwester vorbei und sagte: ›Na, du freust dich wohl, daß du uns wieder verlassen kannst? Du magst uns wohl nicht leiden?‹ Ich hatte das Gefühl, daß sie mit uns nur sich selber meinte und beeilte mich zu sagen, daß ich durchaus alle gerne mochte, aber mich nur ungern in einem Hospital aufhalte. Soviel hatte ich damals jedenfalls begriffen, wenn die Juden, wie die Nazis behaupteten, Weltfeind Nr. 1 wären, das Mädchen hatte ganz bestimmt keine Schuld daran.«56

53 54 55 56

Ricklefs, Heinz: Erinnerungen 1919 bis 1946. Ms. Bremerhaven o.J., S. 198. Ebd., S. 199. Ebd., S. 201. Ebd., S. 203.

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Die Einschätzung des Erzählers, dass es sich bei der dunkelhaarigen Schwester um eine Jüdin handele, basiert lediglich auf einer »Vermutung«.57 Durch die Erwähnung ihrer Musikalität und ihres dunklen oder schwarzen Haars hebt Ricklefs sie aus der Reihe der übrigen Schwestern heraus und knüpft damit auch an gängige Zuschreibungen und Stereotype über Juden an.58 Der Verfasser nutzt die Figur der vermeintlichen jüdischen »Emigrantin« in beiden Passagen, vor allem aber in der Abschiedsszene, für eine vorsichtige Thematisierung des nationalsozialistischen Antisemitismus und eine Reflexion seiner eigenen politischen Haltung. An die Schilderung des kurzen Gesprächs, in dem eine unausgesprochene Bedeutungsebene einen Rechtfertigungsdruck erzeugt, schließt der Erzähler eine Evaluation seines früheren Selbst und seines damaligen Wissensstandes an. Diese wird nur durch die zuvor vorgenommene Zuschreibung des Jüdischseins plausibel. Ricklefs interpretiert diese Begegnung in der Fremde als Konfrontation mit eigenen, ideologisch beeinflussten Stereotypen. Sein abschließender Kommentar suggeriert zugleich, dass das erzählte Ich sich bereits in einem frühen Stadium der Distanzierung vom Nationalsozialismus befand. Aufschlussreich ist in der gesamten Krankenhaus-Passage vor allem der Umgang mit der Kategorie der Nationalität. Nicht nur die vermeintliche »Emigrantin« und eine »Küchenhilfe französischer Abkunft«,59 sondern auch die Mitpatienten des Erzählers werden durch ihre Nationalität bzw. ethnische Herkunft gekennzeichnet: »Im gleichen Zimmer lagen noch zwei eingeborene Kanadier und ein eingewanderter Jugoslawe.«60 Nationalität und Status – einheimisch, vielleicht auch indigen oder eingewandert – scheinen hier die Wahrnehmung des Erzählers und die narrative Rekonstruktion der Begebenheit zu strukturieren: In diesem multinationalen Setting ist Ricklefs zwar nicht der einzige Fremde, doch er ist anders fremd als die übrigen Personen. Indem die Schwestern, Patienten und Besucher ihn fortwährend begutachten und bewerten, bilden sie zugleich eine Instanz, die ihm sein Anderssein und seinen herausgehobenen Status wiederholt bescheinigt und spiegelt: »he doesn’t look that old«, »he talks English pretty good«, »handsome guy«.61 Die Information, dass es

57 Ebd., S. 201. 58 Ricklefs’ Betonung der Musikalität der Krankenschwester ist als philosemitisches Stereotyp einzustufen, das eine Aufwertung »von […] Juden als besonderen Kulturträgern« vornimmt. Vgl. Curio, Claudia: Philosemitismus. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. Berlin/New York 2010, S. 266-268, hier S. 267. Die Erwähnung der schwarzen Haare der Krankenschwester wird hier zwar nicht zu einer negativen Charakterisierung verwendet, knüpft aber an antijüdische Bilder an, in denen das dunkle Haar als Element einer vermeintlich typisch jüdischen Physiognomie fungiert. Siehe Schleicher, Regina: Antisemitismus in der Karikatur. Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im deutschen Kaiserreich (1871-1914). Frankfurt am Main 2009, S. 47-50. Zum Bildtypus der schönen Jüdin vgl. Haibl, Michaela: Zerrbild als Stereotyp. Visuelle Darstellungen von Juden zwischen 1850 und 1900. Berlin 2000, S. 63-91. 59 H. Ricklefs: Erinnerungen 1919 bis 1946, S. 201. 60 Ebd., S. 199. 61 Ebd., S. 109.

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sich um einen deutschen Internierten handele, zeitigt bei allen Akteuren positive Reaktionen, die durch die Erwähnung der zahlreichen Geschenke – »Apfelwein, Kekse, Schokolade und dgl. mehr«62 untermauert werden. Gleichzeitig fungieren die geschenkten Objekte in Ricklefs’ Geschichte als materiale Zeugen und Auslöser für Annäherungsprozesse zwischen Kanadiern und Deutschen, etwa ein geschenktes Puzzle, bei dessen Lösung ihm die Krankenschwestern Gesellschaft leisten.63 Die Reflexionen über das eigene Deutschsein, die in diese Geschichte integriert sind, sind meist mit einen Verweis auf den Nationalsozialismus verknüpft: »Natürlich wurde auch hier über Politik gesprochen. Ich war damals noch durchaus überzeugt, daß die abgetretenen führenden Männer des dritten [sic] Reiches in der Mehrzahl ordentliche Leute waren und die Art, wie ich deren Ideengut sah, fanden meine Gesprächspartner auch wohl gar nicht so schlecht. Außerdem war ich kein politischer Eiferer und konnte mir durchaus auch andere politische Ideen anhören.«64

In der ganzen Passage vermischen sich entlastende und rechtfertigende Narrative mit Strategien der Selbstaufwertung. So transportieren die wiedergegebenen Komplimente der Besucher indirekte positive Selbstaussagen über das erzählte Ich: Es kommt bei den anderen Akteuren gut an, weniger trotz als vielmehr gerade aufgrund des Deutschseins. Der Verfasser positioniert sich aber auch direkt als politisch gemäßigt und offen für »andere politische Ideen«. Die geschilderten Situationen interpretiert er als Positionierungszwänge, aber auch als Positionierungsmöglichkeiten. Vergleicht man die Krankenhausgeschichten von Bruno Pichner und Heinz Ricklefs, so zeigen sich in der je unterschiedlichen Kontextualisierung der Episoden sowie im unterschiedlichen Grad ihrer Durchdringung mit Zeitgeschichte erhebliche Deutungsspielräume. Die beiden Geschichten sind auch Beispiele dafür, dass die Erzähler zahlreiche andere Aspekte mitverhandeln können, wenn Fremdheitszuschreibungen zum Erzählstoff werden. Gemeinsam ist beiden Beispielen die Deutung des Fremdseins als Basis für vorübergehende Inklusionserlebnisse: Die Neugier der Kanadier auf den Fremden verschafft Ricklefs Besuch und Geschenke, die Neugier der Krankenschwestern auf den internierten Pichner zeigt sich in besonders intensiver Zuwendung. Kleidung: Exklusion und Inklusion Medial gestützte Differenzkonstruktionen spielten nicht nur eine zentrale Rolle für die Legitimation von Exklusion und Internierung, sondern lassen sich auch als Repräsentationen und zugleich als Konstituenten von Exklusion verstehen. Im sozialen Nahbereich des Lagers oder der gemeinsamen Arbeit: Diesseits abstrakter, medial konstruierter Bilder von den deutschen Internierten als gefährlichen Nazis gab es andere Medien, die solche Positionierungen transportierten. Besonders die Kleidung fungierte als ein solches wichtiges Medium der Herstellung und Vermittlung von Ex-

62 Ebd., S. 200. 63 Ebd., S. 202. 64 Ebd., S. 200.

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klusion, aber auch von Inklusion. Als temporäre Hülle illustriert sie, dass es sich bei diesen Positionierungen oft nur um vorübergehende Zuschreibungen handelte. Auf der Suche nach zeitgenössischen Einblicken in die optische und vestimentäre Markierung von Differenz zeigt sich eine scharfe Trennung zwischen dem Lager und den Arbeitseinsätzen außerhalb, die mit der zeitlichen Einordnung der Bilder zusammenfällt: Auf Fotografien aus den Lagern sind die Seeleute durch ihre uniformartige Kleidung – Hose mit rotem Streifen auf der Seitennaht, ein großer roter Kreis auf dem Rücken der Hemden (vgl. Abbildung 32) – eindeutig als Internierte gekennzeichnet. Obwohl der Arbeitseinsatz am Status der Gefangenen offiziell nichts änderte, ist die Interniertenkleidung als Marker für Differenz auf Fotografien aus Farmarbeitskontexten verschwunden, die kurz vor oder nach Kriegsende entstanden. Diese Bilder lassen sich nicht nur als Hinweis darauf interpretieren, dass die Internierten ihre ungeliebte Uniform bei der ersten Gelegenheit ablegten, sondern auch als Indiz für die gestiegene Bereitschaft der kanadischen Gesellschaft, die optische Differenzmarkierung der Gefangenen abzuschwächen. Schließlich besaßen die Internierten keine Zivilkleidung, wenn sie aus dem Lager auf die Farm kamen. Zivilkleidung galt als potenziell fluchterleichternd und war den Internierten deshalb verboten. Abbildung 32: Interniertenkleidung

Der Streifen an der Seitennaht und der Kreis auf dem Hemdrücken bestanden aus rotem Stoff und waren fest eingenäht, damit sie von den Internierten nicht abgetrennt werden konnten. Im Fotoalbum von Bruno Pichner ist das Bild folgendermaßen kommentiert: »Kapt. Stammel füttert den Lagerbären«. Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

Dies galt explizit auch für den Arbeitseinsatz, wie eine Anweisung im Lagertagebuch von Mimico verdeutlicht: »If, as and when the special clothing has been issued to P.O.W. II Class, all men proceeding from the compound on working parties and fa-

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tigues shall wear this and not their civilian clothes.«65 Was die Internierten auf den Fotos tragen, hatten sie also von den Farmerfamilien bekommen oder mit deren Hilfe beschafft. Die Farmer durften für die Gefangenen bzw. in ihrem Auftrag bestimmte Waren aus einer Liste von ›approved goods‹ kaufen; Zivilkleidung gehörte nicht zu den erlaubten Artikeln.66 Sofern die Arbeit des Gefangenen eine ausgesprochene Arbeitskleidung erforderte, musste sie vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden.67 Bereits im April 1943 hatte eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup ergeben, dass gerade die ländliche Bevölkerung, die damals fast die Hälfte der kanadischen Gesamtbevölkerung ausmachte,68 deutschen Gefangenen als Arbeitskräften recht aufgeschlossen gegenüberstand.69 Ängste, die die kanadische Propaganda seit Anfang des Krieges bewusst geschürt hatte, konnten in der Folgezeit durch die gemeinsame Arbeit abgebaut werden.70 Dennoch sollte man sich als heutiger Betrachter von den oft nur spärlich kommentierten Bildern nicht dazu verleiten lassen, die Existenz äußerlicher Unterschiede zwischen der Kleidung der Kanadier und der Internierten zu negieren und die Bilder als Dokumente umfassender Inklusion zu lesen: Ob die Internierten neue oder abgelegte Kleidung trugen, mag für einen zeitgenössischen Betrachter offensichtlich gewesen sein, heutzutage ist es ohne Kontextwissen nicht zu bestimmen. Im Nachlass des internierten Motorenwärters Rudolf Lell befindet sich ein Foto aus dem Jahr 1946 (Abbildung 33).71 Es entstand auf der Farm von Martin Klemm in Glanworth, Ontario, wo Lell etwa ein Jahr lang arbeitete. Das Bild, das anlässlich eines Besuchs von Bekannten aufgenommen wurde, zeigt den Farmer Martin Klemm mit seiner Frau und seinem Sohn sowie zwei internierten Farmarbeitern. Die Fotografierten sind so angeordnet, dass das Ehepaar Klemm die beiden Internierten in die Mitte nimmt; mittig vor ihnen sitzt auf einem Stuhl der Sohn, der auf einem Akkordeon spielt. Auch hier ist ohne Kontextwissen nicht unbedingt zu entschlüsseln, dass zwei der abgebildeten Personen Gefangene sind: Die Internierten stehen nicht am Rand, sondern sind integriert und bilden mit dem Sohn das Zentrum der Familienfotografie. Private Aufnahmen wie diese lassen sich nicht nur aufgrund der Kleidung, sondern auch aufgrund der Anordnung der Fotografierten als temporäre Inszenierungen von Inklusion begreifen, die einen Gegenentwurf zu offiziellen Bildern vermitteln und diese dadurch zugleich infrage stellen. Kommentare in den Interviews, die sich auf den ersten Blick nahtlos an solche Bilder anschließen, müssen daher im gleichen Maße als Konstruktionen von Nähe und belonging interpretiert werden, wie medial vermittelte Fremdheitszuschreibun-

65 Vgl. War Diary Camp Mimico (M/22), Folder 1, Vol. 2, Camp Orders, 12. August 1940. LAC, RG 24, 15391. 66 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 67. 67 Ebd., S. 65. 68 Im Jahr 1941 lebten 45,7% der Kanadier auf dem Land. Vgl. Urquhart, M.C. (Hg.): Historical Statistics of Canada. Cambridge/Toronto 1965, Series A 15-19. 69 S.H. Cepuch: ›Our guests are busy‹, S. 63. 70 Ebd., S. 73. 71 Vgl. zur Biografie von Rudolf Lell sowie zu seinem Fotoalbum J. Kestler: Kriegsgefangenschaft und Weltreise.

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gen als Konstruktionen von Distanz und Differenz einzustufen sind. Auf meine Frage, wie es war, sich vor der Repatriierung von der Familie zu verabschieden, bei der er knapp zwei Jahre verbracht hatte, antwortete Hans Plähn ohne Zögern: »ja, das war hart, auch für die kinder, nich (hm). man gehörte ja dazu, nich (ja)«.72 Hier verortet er sich im Kollektiv der Familie.73 Vor dem Hintergrund von Krieg und Internierung ist diese Zugehörigkeit gleichbedeutend mit einer Statusaufwertung, die Plähn im Interview als Tatsache präsentierte und geradezu in den Rang einer sozialen Gesetzmäßigkeit (»man«) erhob. Abbildung 33: Familie Klemm mit zwei internierten Arbeitskräften, Glanworth, Ontario, Frühjahr 1946

Von links nach rechts: Nani Klemm, Rudolf Lell, der Sohn der Familie (sitzend, mit Akkordeon), ein weiterer Internierter, Martin Klemm (mit Flasche). Quelle: Nachlass Rudolf Lell.

72 Interview Hans Plähn, Z. 463-464. 73 J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 498.

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Verschiebungen: Entfremdungsgeschichten Die konfrontative Konstellation aus Bewachten und ihren (fremden) Bewachern zeigt sich bei Weitem nicht so verfestigt, wie sie oft dargestellt wird. So wie die Darstellung von Kanadiern in den Interviews nicht nur unter dem Vorzeichen der Differenzkonstruktion zu betrachten ist, findet diese in den Interviews auch in narrativen Zusammenhängen statt, wo sie möglicherweise weniger zu vermuten wäre. Dies zeigt sich exemplarisch an zwei Entfremdungsgeschichten, die in den Interviews im Zusammenhang mit der Rückkehr der Erzähler nach Deutschland erzählt wurden. So schilderte Bruno Pichner, wie einer seiner Kollegen auf dem Heimweg nach Flensburg in Kiel durch seine Großzügigkeit Aufsehen erregte: »und ich weiß noch, da kam denn auch eine junge frau mit=mit einem kleinen äh jungen, ob das ein BRUder oder WAS das war, weiß ich nicht, äh und äh (.) äh dann äh, der war so (.) hungrig und so und denn hatte EIner noch so ein paKET, der diese äh=äh BUtter=ähm=portion (hm) und äh=äh gab er dem jungen. und da war denn noch ein äh=äh deutscher, junger deutscher drin und da sagt der: man merkt, ihr seid noch nicht lange in deutschland ((lacht)) (ah). denn wenn einer etwas hatte, das beHIELT er (ja), ne, das gibt er doch nicht an einen wildfremden weg, ne.«74

Das leichtfertige Verschenken der wertvollen kanadischen Butterration in dieser Geschichte entlarvt den Schenker als Fremden; die Reaktion des Beobachters macht ihm zugleich sein eigenes Fremdgewordensein deutlich. Auch Franz Renner berichtete, wie er bei der Rückkehr nach Bremen durch eine unübliche Frage für Irritation sorgte: »ich war ja bald zehn jahre weg aus deutschland (hm), insgeSAMT (ja), nich. als ich am bahnhof an=abgeladen wurde hier in bremen, da fragte ich den polizisten, wo stehen hier denn die TAxis? da guckt er mich an, der denkt (hm), ich weiß nicht, wie spät das ist hier (hm) ((lacht)).«75

In beiden Beispielen dient die Kenntnis ungeschriebener sozialer Regeln als Kategorie, an der Fremdheit und Zugehörigkeit verhandelt wird. Während Erving Goffman in seinem Modell der totalen Institution davon ausgeht, dass Bewacher und Bewachte einander stets »durch die Brille enger, feindseliger Stereotypien«76 sehen, lässt sich am Beispiel der kanadischen Internierung deutscher Seeleute zeigen, dass die Zuschreibungsprozesse in der Contact Zone komplexer waren: Die Quellenauszüge illustrieren, dass abhängig von der Perspektive, dem narrativen bzw. medialen Kontext sowie dem Entstehungszeitpunkt der jeweiligen Quelle unterschiedliche Kategorien zur Verhandlung von Fremdheit und Differenz herangezogen werden. Die dabei entstehenden Fremdheitskonstruktionen verweisen auf Diskursformationen und Wissensbestände sowie auf Prozesse der Abgrenzung und Distanzierung, aber auch der Annäherung und Integration. Sie sind ein Bestand-

74 Interview Bruno Pichner, Z. 617-624. 75 Interview Franz Renner, Z. 784-788. 76 E. Goffman: Asyle, S. 19.

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teil der Deutungskonstitution seitens der ehemaligen Internierten und werden in narrative Verhandlungen von Identität integriert.

V ERGEMEINSCHAFTUNG UND K ONSTRUKTIONEN KOLLEKTIVER I DENTITÄT »The prison or prison camp is the scene of a new society, which exists precariously in the shadow of the detaining power and whose members feel the pull of their previous political commitments, not least because these are likely to be their future commitments as well.«77

Durch den anfangs wenig differenzierten Blick der kanadischen Gesellschaft sowie durch konkrete Akte des Othering wurden die internierten deutschen Seeleute als homogenes Kollektiv konstituiert, das in der öffentlichen Wahrnehmung, gerade in den frühen Kriegsjahren, häufig in der Gruppe der kriegsgefangenen deutschen Soldaten aufging. Auf der anderen Seite des Othering, innerhalb der Zwangsgemeinschaft der Internierten, vollzogen sich zur gleichen Zeit vielschichtige Identifizierungsprozesse, die in der Contact Zone der Internierung mit den Differenzkonstruktionen und propagandistisch aufgeladenen Zuschreibungen von außen Hand in Hand gingen. Zwar besaßen die in kanadischen Lagern gefangenen Seeleute äußerlich betrachtet mindestens drei Gemeinsamkeiten: Sie waren männlich, deutsch und hatten vor ihrer Gefangennahme auf einem deutschen Handelsschiff gearbeitet. Diese drei Kategorien fungierten jedoch keineswegs als Eckpfeiler einer geschlossenen kollektiven Identität. Neben vielen weiteren bildeten sie symbolische Ressourcen, aus denen die Internierten eine ganze Reihe von kollektivierenden Selbstbildern und Identitäten entwickelten. Wie Claus Leggewie betont, sind »die Anknüpfungspunkte solcher Konstrukte […] unbegrenzt: Es kann sich dabei um fiktive Abstammungsgemeinschaften und erweiterte Verwandtschaftsgruppen handeln, aber ebenso kommen Alters- und Generationskohorten, Religionsgemeinschaften, korporative Verbände und räumliche Nachbarschaften in Frage.«78 Zahlreiche konkrete, individuelle Sprechakte und Handlungen der Internierten lassen sich als kollektivierende Selbstpositionierungen und damit auch als Elemente eines doing identity begreifen. Ihre situative Herstellung verweist auf die von Wolfram Lutterer herausgestellte »Fluidität«79 und Kontextabhängigkeit von Identitätskonstruktionen und spiegelt sich auch in den verschie-

77 M. Walzer: Prisoners of War, S. 778. 78 Leggewie, Claus: Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft. In: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Frankfurt am Main 1994, S. 46-65, hier S. 53. 79 Lutterer, Wolfram: Identitäten, Alteritäten – Normativitäten? In: Fludernik, Monika/Gehrke, Hans-Joachim (Hg.): Normen, Ausgrenzungen, Hybridisierungen und ›Acts of Identity‹. Würzburg 2004, S. 23-43, hier S. 40.

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denen Quellen wider: Die Bilder, die internierte Seeleute von sich und ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen entwarfen und entwerfen, bilden stets nur Momentaufnahmen aus einem größeren kommunikativ-diskursiven Kontext und transportieren sprecher- und adressatenabhängige Deutungen kollektiver Identitäten. Ein internierter Schiffsoffizier betonte in Briefen an seinen Vater andere Aspekte als ein Lagerführer in einem Beschwerdebrief und wiederum andere als ein 85-jähriger Kapitän im Ruhestand, der im Interview von seiner Internierung erzählte. Diese situative Konstruktion von »Wir-Gruppen«80 wirft eine Reihe von Fragen auf: Entlang welcher Kategorien wurde Zugehörigkeit verhandelt bzw. diskursiv hergestellt und wie lassen sich sowohl die Kategorien als auch die Konstrukte an die soziale und politische Zusammensetzung der Schiffsbesatzungen rückbinden? Welche Vorstellungen und Bilder kollektiver Identitäten wurden mit Wir-Gruppen-Konstruktionen verknüpft? Wie lassen sich diese Selbstbilder historisch kontextualisieren und welche Diskurse wurden in solchen Wir-Gruppen-Konstruktionen aufgegriffen? Dabei ist vor allem zu untersuchen, an welchen Punkten und in welcher Form diese Konstruktionen auf den Internierungsalltag, besonders auf die Interaktion der Internierten mit den kanadischen Wachen und den humanitären Helfern zurückwirkten. Wo gewannen sie Handlungsrelevanz, etwa in Form konkreter Loyalitäten? In welchen kommunikativen und argumentativen Konstellationen wurden Konstruktionen kollektiver Identitäten erzeugt bzw. greifbar? Welche Ziele und Strategien waren damit verbunden? Nicht zuletzt ist zu fragen, wie die Gesprächspartner in den Interviews Wir-Gruppen konstruierten und diese Entwürfe kollektiver Identitäten in narrative Logiken einpassten. Anhand welcher Kategorien werden in der Rückschau Vergemeinschaftung und Zugehörigkeit thematisiert und welche Deutungen der Internierung entstehen dadurch? »Immer die Dummen«: Opferdiskurse und Wir-Gruppen-Konstruktionen Rudolf Beckers Briefe erfüllten vor allem den Zweck, den Vater über Erlebnisse und Ansichten des Sohnes auf dem Laufenden zu halten. Doch zugleich lassen sie sich als Medium einer fortwährenden »Wir-Gruppen-Konstruktion«81 begreifen. Becker sprach nicht nur für sich, sondern präsentierte sich durch die Verwendung des Pronomens ›wir‹ auch als Mitglied seiner Schiffsbesatzung, als ein Internierter unter den Insassen seines Lagers und als Vertreter des gesamten seemännischen Berufsstandes. Diese unterschiedlichen Wir-Gruppen verweisen aufeinander; die Reichweite des ›wir‹ ist abhängig vom jeweiligen kommunikativen Kontext und erschließt sich oft auch nur auf diesem Weg. Am 6. September 1939 schrieb Becker aus Bahia, wo sein Schiff vor Anker lag:

80 Vgl. Lilli, Waldemar/Klima, Rolf: Eigengruppe. In: Fuchs-Heinritz, Werner u.a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie. Unter Mitarbeit von Eva Barlösius, Daniela Klimke, Urs Stäheli, Christoph Weischer. Wiesbaden 2007, S. 152. 81 Vgl. hierzu C. Leggewie: Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft, S. 53.

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»Persönlich haben wir sonst irgendwelche Nachteile durch den Krieg bis jetzt nicht gehabt. Jedenfalls ist für uns die Situation im Augenblick noch nicht so ernst, wie sie für Euch vielleicht ist. Wie lange wir hier in Bahia liegenbleiben werden und was mit uns geschieht, ist natürlich ungewiß.«82

Hier vermittelt die Verwendung des Pronomens ›wir‹ nicht nur Rudolf Beckers Positionierung als Teil der Bordgemeinschaft und seine Orientierung am geteilten beruflichen Alltag. Als »(adressaten-)exklusives«83 ›wir‹ konstituiert es auch ein ›wir hier‹ und damit zugleich ein implizites ›ihr dort‹ der Angehörigen zu Hause. Dieses adressatenexklusive ›wir‹ ist ein durchgehendes Merkmal von Beckers Briefen aus der Internierung. Zur räumlichen Verortung der Wir-Gruppe der Seeleute tritt in vielen Briefen ihre finanzielle Versorgung als Leitthema, an dem Becker den Status dieser Gruppe festmacht und sie gleichzeitig konstruiert. Mal beiläufig – »Geld haben wir auch keines.«84 –, mal ausführlich schilderte Rudolf Becker seinem Vater die Probleme der Besatzungsmitglieder, die nun plötzlich auf unbestimmte Zeit ohne Heuer auskommen mussten. Besonders in den Briefen aus den Jahren 1940 bis 1942 wird deutlich, wie Becker Wir-Gruppen durch das Sprechen über deren jeweiligen Status konstituiert. Beckers Konstruktionen der Seeleute als Gruppe sind von der Überzeugung getragen, in vielerlei Hinsicht gegenüber verschiedenen anderen Gruppen benachteiligt zu sein. Statusbedrohung und Statusverlust durch Krieg und Internierung sind in Beckers Augen die Hauptgemeinsamkeiten der Gruppenmitglieder und bilden in seinen Briefen die Basis für die Wir-Gruppen-Konstruktion. Dabei ist auch Beckers eigene Sprecherposition als Schiffsoffizier und angehender Kapitän zu berücksichtigen: Das Sprechen über den Statusverlust der gesamten Gruppe war eine Möglichkeit, den eigenen Statusverlust zu verhandeln. In seinem Brief an den Vater vom 15. November 1939 beklagte sich Rudolf Becker bitter über die finanzielle Lage der in Brasilien abwartenden Seeleute: »Mit unserem Devisenvorschuss ist es noch nicht anders geworden. Wir sollen immer noch 5 Mark Vorschuß haben, aber die Konsulate haben von ihren vorgesetzten Behörden immer noch keine Anweisungen, dass die die Auszahlungen vornehmen sollen. Die Reedereien aber haben ihre Zahlungen schon seit dem 30. September eingestellt. Uns selbst ist auch noch keine Nachricht zugegangen, ob Gehaltszahlungen noch stattfinden oder wie das gehandhabt wird. […] Wer dafür eigentlich zuständig ist, ist uns nicht ganz klar, denn bis jetzt hat es niemand für nötig gehalten, auch nur einen Brief oder ein Telegramm hierüber uns zukommen zu lassen. So arm sind wir noch nie durch die Strassen gelaufen. Wir gehen auch kaum an Land. Höchstens mal zum Baden, denn das kostet nichts.«85

82 Rudolf Becker an seinen Vater, 6. September 1939. DSM, III A 3324 a. 83 Maas, Utz: »Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand«. Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer historischen Argumentationsanalyse. Opladen 1984, S. 73. 84 Rudolf Becker an seinen Vater, 13. September 1939. DSM, III A 3324 a. 85 Rudolf Becker an seinen Vater, 15. November 1939. DSM, III A 3324 a.

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Becker nimmt hier nicht nur eine Trennung zwischen der Wir-Gruppe der internierten Seeleute und den Angehörigen in Deutschland vor, sondern auch zwischen den Seeleuten und den Behörden respektive den Reedereien. Diese Distanzierung vermittelt die Isolation der Seeleute und ihr Herausfallen aus den Strukturen und Kommunikationswegen ihrer Arbeitgeber und ihres Heimatlandes. Zwar begriff sich Becker nach wie vor als Deutscher und betrachtete auch die Seefahrt als nationale Angelegenheit, doch wesentlich stärker als das eigene Deutschsein steht in den Briefen seine berufliche Identität im Vordergrund. Als charakteristisch für die Lage der Seeleute vor der Gefangennahme empfand er auch, »dass man uns von Deutschland aus so schlecht unterrichtet hält, in welcher Situation wir uns eigentlich befinden, wem wir unterstehen, wem wir verpflichtet sind, ob unser alter Reeder noch Forderungen an uns hat, wer andererseits derjenige ist, der uns betreut«86. Durch die Klage über unklare Loyalitäten und das Herausgelöstsein aus dem Sozialgefüge der Reederei stellt Becker die Seeleute auch auf der sozialen Ebene als benachteiligte Gruppe dar: »Wie unser augenblickliches Verhältnis zur Reederei ist, weiß ich nicht und kann man hier bei den Vertretungen auch nicht erfahren.«87 Das Thema der Abhängigkeit spielte eine wichtige Rolle bei Beckers Präsentation der Seeleute als geschädigter Gruppe. Dies zeigt sich auch in einem Schreiben aus dem Dezember 1939: »Die Reedereien konnten nicht schnell genug ihren Agenturen mitteilen, dass alle Geldzahlungen an die Besatzungen zu unterbleiben haben, da sie von jetzt ab durch die Konsulate erfolgen, aber den Konsulaten geht keine Nachricht von ihren vorgesetzten Behörden zu, dass sie die Auszahlungen vornehmen sollen. So kommen wir in den Zustand, dass an Land für uns gesammelt wird, damit wir mal Seife usw. bekommen. Das notwendigste geht nämlich nach 4 Monaten aus, wenn man nur für 2 Monate Reise sich eingerichtet hatte. Was wir auf dem Segelschiff taten, weil die Reisedauer 3 Monate betrug, die Haare selbst zu schneiden, das tun wir jetzt sogar, während wir im Hafen liegen. Alte Fähigkeiten werden wieder ausgenutzt. Jede Woche wäscht und plättet man sein Zeug selber, was hier keinem Europäer einfällt, denn soviel hat jeder an Land, dass er seine Wäsche einer Farbigen zur Reinigung geben kann. Vielleicht herrscht in Deutschland die Ansicht, dass wir hier ein Herrenleben führen, weil wir im neutralen Ausland sitzen.«88

Hier wird auf Zurücksetzungs- und Kränkungserfahrungen rekurriert, um eine WirGruppe der Seeleute herzustellen. Das anfängliche Ausbleiben von Zahlungen und Hilfeleistungen wird als Affront interpretiert, dessen Thematisierung im Brief zugleich dazu dient, die diskursive Gruppenkonstruktion zu festigen. Ein zentraler Bezugspunkt ist dabei der Vergleich des eigenen Lebensstandards mit dem der übrigen in Brasilien lebenden Europäer. Im Gegensatz zu diesen konnten es sich die unverschuldet verarmten Seeleute nicht leisten, farbiges Personal mit der Wäsche zu beauftragen. Becker schreibt den Seeleuten einen zweitklassigen Status zu, den er vor allem am Zwang zu vermeintlich unstandesgemäßem Verhalten festmacht. Zugleich hebt er jedoch mit den eigentlich längst obsolet gewordenen Haushaltspraktiken auch

86 Rudolf Becker an seinen Vater, 7. Dezember 1939. DSM, III A 3324 a. 87 Rudolf Becker an seinen Vater, 13. September 1939. DSM, III A 3324 a. 88 Rudolf Becker an seinen Vater, 7. Dezember 1939. DSM, III A 3324 a.

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die kulturellen Ressourcen hervor, die es den Seeleuten dennoch ermöglichten, ihren Alltag zu bewältigen. In Beckers Klage darüber, dass er seine Wäsche selbst waschen und bügeln musste, verbirgt sich dabei auch ein Hinweis auf seine eigene Position an Bord und seine daraus abgeleiteten Ansprüche: Als Offizier war er es sicher weniger gewöhnt, sich selbst um solche Angelegenheiten zu kümmern, doch bei den Mannschaften war es durchaus verbreitet, die Kleidung selbst zu waschen. Indem Becker schließlich den Vorwurf antizipiert, die Schiffsbesatzungen führten unter brasilianischer Sonne ein »Herrenleben«, verstärkt er die Konstruktion des ›wir hier‹ und des ›ihr dort‹, entkräftet ihn jedoch zugleich durch den Bericht über die geleistete Hausarbeit. Für Becker verwies die häufig angesprochene finanzielle Lage der Seeleute also stets auch auf die Frage nach ihrer sozialen Anerkennung. Das zeigt sich besonders an seinen Berichten über die Weihnachtsfeiern. An Weihnachten 1939 hatten die Seeleute in Brasilien noch nicht über eigenes Geld verfügt, waren dafür aber auf Initiative des deutschen Konsulats von ortsansässigen Deutschen beschenkt worden: »Wir haben uns dazu sehr gefreut denn selbst hätten wir uns das ja nicht kaufen können. […] Für mich waren es die ersten Weihnachten, die ich als Mittelloser erlebte und einmal Geschenke entgegennahm, die gutmütige andere Leute für uns über hatten.«89

Dankbarkeit und Freude über die Geschenke mischen sich in Beckers Brief mit der gruppenkonstituierenden Thematisierung der eigenen Bedürftigkeit. Auch in Beckers Bericht über das in Kanada verbrachte Weihnachtsfest 1942 wird deutlich, dass er die finanzielle Versorgung als Indikator für den Status der Seeleute, als Zeichen für Anerkennung oder Exklusion begriff. Nachdem die angekündigten Weihnachtspakete der deutschen Regierung ausgeblieben waren, schrieb er an den Vater: »Lass Dich doch garnicht verkohlen, daß es sowas für Seeleute gibt. Diese Pakete waren ausdrücklich nur für Wehrmachtsangehörige bestimmt. Uns erreichte nur von der ganzen Aufzählung die Weihnachtsbroschüre. Was Leute, die bei der Seefahrt 60 Jahre und älter geworden sind, dazu sagen, brauche ich Dir nicht zu schreiben. Wir haben aber seit 1939 moralische Ohrfeigen bekommen, daß wir über sowas nur noch höhnisch lächeln […]. Zum letzten Weihnachtsfeste wurde an uns von der Heimat nicht gedacht. Neben diesem tatsächlich zu tausenden hierher geschickten Paket standen für jeden Soldaten noch 17 Dollar zum Einkauf von Geschenken in Canada zur Verfügung. Wenn ich alles, was mir jetzt durch den Kopf geht, niederschreiben würde, dann würde es kein Brief, sondern ein Buch. Du kannst jeden hier fragen, ob er seinen Beruf nach dem Kriege noch ausüben möchte, Du würdest keinen finden. We never got sea-sick but we got awfully sick of the sea.«90

In diesen Zeilen beschreibt Becker, wie sich die wiederholten Momente der Enttäuschung auf die Einstellung der Seeleute gegenüber ihrem Beruf auswirkten. Dabei spielt erneut der Vergleich eine zentrale Rolle, diesmal mit kriegsgefangenen Soldaten. Die Frustration über die ausgebliebenen Weihnachtsgeschenke bewirkte Becker

89 Rudolf Becker an seinen Vater, 17. Januar 1940. DSM, III A 3324 b. 90 Rudolf Becker an seinen Vater, 8. März 1943. DSM, III A 3324 b.

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zufolge eine Distanzierung aller Mitgefangenen von den deutschen Behörden und vom Berufsfeld Seefahrt. Die Konsequenz, die Becker aus diesen Erfahrungen zieht und verallgemeinernd für die ganze Gruppe der internierten Seeleute prognostiziert, ist eine radikale Abkehr vom Berufsfeld Seefahrt. Ausgehend von einem Bericht über Neuzugänge im Lager schrieb Becker im Dezember 1943 an seinen Vater: »Die Zahl der Seeleute hat sich verdreifacht und in gleicher Weise ist die Zahl derjenigen gestiegen, die der Seefahrt für immer lebewohl sagen wollen, wenn die Freiheit mal wieder winkt. Das ist ein Punkt, in dem Einmütigkeit herrscht.«91 Paradoxerweise stellt diese Distanzierung von der Seefahrt die Wir-Gruppe der Seeleute nicht infrage; vielmehr beschreibt Becker die Auswirkung der Herabsetzungserfahrungen als Stärkung des Zusammenhalts. Im Zuge solcher Klagen konstituiert er die Schiffsbesatzungen auch als Gruppe, die seiner Meinung nach allen Grund dazu hat, sich für die erfahrene Nichtachtung zu rächen, die sie permanent erfährt: »Mach [sic] die Zeit kommen, da wir manch einem es heim zahlen können, dass er uns als Seemann nicht so ganz auf der Rechnung gehabt hat.«92 Im selben Brief ist zu erkennen, wie eng die Nationalität für Becker mit der beruflichen Identität der Seeleute verquickt war: »Über die ganze Einstellung des Konsulats etwas zu schreiben, hieße prinzipielles über diese Einrichtung schreiben. Wir sind als Seeleute vielleicht empfindlicher als der gewöhnliche Auslandsdeutsche, aber es berührt einen doch komisch wenn ein deutscher Konsul, der aufrichtig Wert darauf legt, Deutscher zu sein, einen Sohn hat, der im brasilianischen Heer Unteroffizier ist und dieser Sohn in geheim zu haltende Fragen der Schiffsexpedition mehr hinein riecht, als ein deutscher Kapitän, der außerdem noch Kapitänleutnant der Reserve ist. Ihr seht, es ist nicht bloß der Kampf um das Geld hier, sondern es geht auch um manches Prinzipielles.«93

Hier wertet Becker die Seeleute gegenüber den Auslandsdeutschen auf und schreibt ihnen implizit eine besondere moralische Integrität zu, die sie dazu prädestiniert, über das Verhalten des Botschaftspersonals zu urteilen. Diese Eigenschaft besteht Becker zufolge in einer ausgeprägten Sensibilität für den Umgang mit dem Nationalen. Dass die deutsche Nationalität in Beckers Augen einen wesentlichen Bestandteil der beruflichen Identität von Seeleuten bildete, zeigt auch eine Passage aus einem Brief, den Becker im Jahr 1943 an seinen Vater schrieb: »Irren tun sich nach meiner Ansicht auch die Leute, die z.B. von der Seefahrt das Schlagwort verbreiten, daß sie international sei. Innerhalb des nationalen Wirtschaftsgefüges gibt es sicher keinen Volkswirtschaftszweig, der so stark des nationalen Moments als Unterlage bedarf als die Seefahrt.«94

91 92 93 94

Rudolf Becker an seinen Vater, 14. Dezember 1943. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 25. Januar 1940. DSM, III A 3324 b. Ebd. Rudolf Becker an seinen Vater, 24. Juli 1943. DSM, III A 3324 b.

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Hier wird die Wir-Gruppe der Seeleute in die imagined community der Nation eingeordnet und damit auch sozial verortet und legitimiert.95 Vor allem in Beckers Briefen aus der ersten Hälfte der Internierung ist die Frage der finanziellen und materiellen Versorgung dominant und zugleich das wichtigste Feld der Wir-Gruppen-Konstruktion. Dabei zeigt sich, dass der Gruppe der Seeleute keine inneren Gemeinsamkeiten wie etwa bestimmte Charaktereigenschaften zugeschrieben werden, sondern dass sie von außen, nämlich durch die Art und Weise konstituiert wird, wie mit ihr umgegangen wird. So schrieb Becker im Mai 1940 an den Vater: »Pakete bekommen wir ja alle gemeinsam nicht mehr im Augenblick und da fühlt sich denn auch keiner benachteiligt.«96 Die Zurücksetzungserfahrung wird hier als gleichmachendes und vergemeinschaftendes Erlebnis dargestellt. Auch andere Aspekte der Internierung unterstreichen in Beckers Augen ebenfalls die Benachteiligung der internierten Seeleute, so etwa eine längere Phase im Jahr 1941, die die Internierten »ohne Zeitung« verbringen mussten. Resigniert-zynisch schrieb Becker: »Wenn der Krieg mal zuende ist, dann wird schon jemand kommen, und uns davon unterrichten.«97 Hier werden die internierten Seeleute als isolierte und vom Weltgeschehen abgeschnittene Gruppe dargestellt: »Was in der Welt vor sich geht, erfahren wir nicht.«98 Jedes Ausbleiben von Geld, Informationen oder Hilfeleistungen interpretierte Becker als gravierende Herabwürdigung seines Berufsstandes und als Bestätigung des zweitklassigen Status der Seeleute. Ein Umstand, den Becker mehrfach ansprach und an dem sich die Wir-GruppenKonstruktion besonders gut beobachten lässt, ist der völkerrechtliche Status der internierten Seeleute. Immer wenn sich dieser Status veränderte,99 kommentierte Becker die Neuerungen. Neben der finanziellen Lage ging es dabei auch um die Möglichkeit der vorzeitigen Repatriierung durch Gefangenenaustausch: »Es gab zwar am 14. Juli einen leichten Schlag mit dem Holzhammer, als uns durch die Zeitungen eine Ausführung Edens [Kriegs- und später Außenminister in Churchills Kriegskabinett; JK] im Unterhaus bekannt wurde, daß Deutschland u. England ein Abkommen über den Austausch von Zivilinternierten abgeschlossen, daß Seeleute davon aber nicht betroffen werden, da sie als Kriegsgefangene betrachtet werden. Du kannst Dir denken, daß die Enttäuschung über diesen neuen Anschiss riesengroß war. 3½ Jahre lang haben uns höchste Regierungsstellen des Heimat-, Gewahrsam- u. Schutzstaates immer wieder unter die Nase gerieben, daß wir nur die Rechte von Zivilisten haben u. jetzt springen für diese einmal Vorteile heraus, da sind wir wieder nicht dabei.«100

Die Einstufung der Seeleute änderte sich mehrfach im Lauf des Krieges, doch in Beckers Augen resultierten diese Änderungen in immer neuen Benachteiligungen und Zurücksetzungserfahrungen. Bereits anlässlich der Klassifizierung von Seeleuten

95 96 97 98 99 100

Vgl. B. Anderson: Imagined Communities. Rudolf Becker an seinen Vater, 24. Mai 1940. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 23. April 1941. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 21. März 1940. DSM, III A 3324 b. Vgl. Kapitel 3, S. 125-130, sowie Kapitel 4, besonders S. 132-134. Rudolf Becker an seinen Vater, 27. Juli 1944. DSM, III A 3324 b.

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als Kriegsgefangene in Kanada im Sommer 1942 hatte Becker eine Schlechterstellung der Seeleute im Vergleich zu anderen Gefangenengruppen konstatiert: »Vor einigen Tagen wurde uns die wichtige Mitteilung gemacht, daß wir jetzt Vollkriegsgefangene sind und in den vollen Genuß der Genfer Konvention kommen sollen, aber (auf der Welt hat eben alles ein aber) die Frage der Bezahlung u. Arbeit bleibt so geregelt wie bisher. Das [sic] die Bezahlungsregelung hätte geändert werden können, siehst du an folg[endem]. Mittellose Zivilisten erhalten auf Antrag vom Schweizer Konsul $ 4.00 Unterstützung im Monat, Seeleute aller Ränge erhalten $ 4.00 Taschengeldspende der Reedereien über den Schweizer Konsul. Der einfache Soldat der Wehrmacht erhält $ 6.00 der Chargierte $ 11.00, der Leutnant $ 21.00, der Generalmajor $ 65.00 durch Vermittlung der kanadischen Militärbehörden. Da die Wehrmacht eine umfangreiche Beförderung ihrer gefangenen Angehörigen vorgenommen hat, sind fast alle in annehmbaren Soldklassen. Du kannst Dir denken, daß uns da die Frage nach der Bezahlung auch interessiert hat.«101

Diese detaillierte Aufzählung wirft die Frage auf, ob die Bezahlung als ungenügend empfunden wurde, weil sie tatsächlich nicht reichte, um den Bedarf der Seeleute zu decken, oder weil nahezu alle anderen mehr bekamen. Hier fungiert der Vergleich mit Soldaten als Mittel der Wir-Gruppen-Konstitution, der zugleich verdeutlicht, dass jedes ›wir‹ »dichotom angelegt«102 ist. Seine Bedeutung bezieht dieser Vergleich hier auch aus der Tatsache, dass Becker selbst Offizier war. Ein Teil der Kränkung entstand offensichtlich dadurch, dass er genauso behandelt wurde wie »alle Ränge« und dadurch im Ergebnis sogar schlechter gestellt war als »der einfache Soldat der Wehrmacht«. Die Aufzählung der Summen, die kriegsgefangene Soldaten monatlich erhielten, quantifiziert die von Becker empfundene Herabsetzung. Hier zeigt sich die Internierung der Seeleute auch als egalisierende Zwangsvergemeinschaftung, im Gegensatz zur Abstufung nach militärischem Rang bei der Wehrmacht. Beckers WirGruppen-Konstruktion lässt offen, wie inklusiv dieses ›wir‹ ist. In den meisten Briefen bleibt unklar, in welchem Maße Becker beispielsweise auch Heizer und Schiffsjungen, die Mannschaftsgrade also, darunter verstanden wissen wollte. Gerlinde Mautner spricht in diesem Zusammenhang von der »diffusen Referenz«103 des ›wir‹, das, gerade bei größeren Wir-Gruppen, »entpersonalisiert und oftmals unscharf«104 bleibt. Eine soziale Differenzierung innerhalb der Wir-Gruppe nimmt Becker nicht explizit vor; schließlich ist das ›wir‹ auch »eine sprachliche Realisierungsform, die dazu verwendet wird, Gleichheit zu implizieren«105. Daher muss an vielen Stellen offen bleiben, wer aus Beckers ›wir‹ ausgeschlossen blieb. Doch Passagen wie die oben zitierte

101 Rudolf Becker an seinen Vater, 20. August 1942. DSM, III A 3324 b. 102 Mautner, Gerlinde: We are not like them and never have been. Zum persuasiven Potential der Wir-Gruppen-Konstruktion. In: Hoffmann, Michael/Keßler, Christine (Hg.): Beiträge zur Persuasionsforschung. Unter besonderer Berücksichtigng textlinguistischer und stilistischer Aspekte. Frankfurt am Main 1998, S. 177-190, hier S. 178. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Wodak, Ruth u.a.: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt am Main 1998, S. 99.

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deuten an, dass innerhalb der Wir-Gruppe Bruchlinien zwischen Schiffsoffizieren und Mannschaftsgraden verliefen. Ein Schreiben Beckers an seine Reederei verdeutlicht diese Sollbruchstelle und damit auch die Grenzen der Wir-Gruppe: »Am 18.8. wurde uns mitgeteilt, dass wir von jetzt ab als Vollkriegsgefangene behandelt würden und in den vollen Genuss der Genfer Konvention kommen sollen. Durch diese uns zuteilgewordene Herausstellung aus der Gruppe der Zivilinternierten, der wir bisher angehörten, werden uns wahrscheinlich einige Lagerverbesserungen erwarten. Es wird damit auch voraussichtlich eine unterschiedliche Behandlung von Offizieren und Mannschaften erfolgen, die in gewissem Sinne erwünscht erscheint. Es sind weniger die Heizer und Matrosen als gerade die Offiziere gewesen, die in der Gefangenschaft am meisten zurückstehen mussten. Die Härte liegt in der sich daraus ergebenden viel grösseren seelischen Belastung, denn die Gefangenschaft bedeutet weniger eine körperliche als eine psychische Härte, und das erträgt ein Aelterer bedeutend schwerer, als der unbelastete Jüngere. Den Grossteil der älteren Leute stellen aber in der Gefangenschaft die Offiziere.«106

An dieser Passage ist die Bedeutung von Beckers Sprecherposition als Schiffsoffizier für die Wir-Gruppen-Konstruktion zu erkennen. Zugleich verweist die Selbstverständlichkeit, mit der Becker gegenüber seinem Arbeitgeber die Schiffsbesatzung hierarchisch untergliedert und seine eigenen Ansprüche kundtut, auf Konventionen und Regeln des Berufsfeldes Seefahrt sowie den Stellenwert von Status und dessen symbolischer Repräsentation. Auch andere internierte Schiffsoffiziere beklagten sich über die gemeinsame Unterbringung; solche Äußerungen sind unter anderem in Besuchsberichten des CICR dokumentiert.107 Für Becker war noch eine weitere Facette mit dem Thema der Unterbringung verknüpft, wie der folgende Briefauszug zeigt: »Erfahren habe ich dadurch, daß mein Erster [Offizier] vom A[ntonio].D[elfino]. hier eingetroffen ist, er ist aber als Offz. der Marine in dem hier besten Lager, kann mit 21 Dollar Sold im Monat ein besseres Gefangenenleben führen, vor allem ist für ihn das uns seelisch so schwer belastende Problem der Egalité, Fraternité und Liberté gelöst.«108

Anhand des exemplarischen Falls eines ehemaligen Handelsschiffsoffiziers und dessen finanziellen ›Aufstiegs‹ durch den Wechsel zur Kriegsmarine baut Becker einen Gegensatz zwischen Handels- und Kriegsmarine auf, der die Wir-Gruppen-Konstruktion der internierten Handelsschiffsbesatzungen, vor allem aber der Offiziere unter ihnen stärkt. Zugleich deutet er seine Identifikation mit bzw. Orientierung an den militärischen Offizieren an und skizziert damit eine übergreifende Wir-Gruppe der Offiziere, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu Kriegs- oder Handelsmarine. Dass es für ihn dabei um mehr als nur um Geld ging, unterstreicht der folgende Auszug:

106 Rudolf Becker an die Reederei Hamburg-Süd, 30. August 1942. Abschrift in einem Brief der Reederei an Friedrich Becker vom 10. November 1942. DSM, III A 3324 b. 107 Vgl. Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Neys (N/100) vom 26. Januar 1943. ACICR, C SC, Canada. Bericht des Schweizer Konsuls in Petawawa (P/33) vom 27. und 28. Juli 1943. PA AA, Bern 4268. 108 Rudolf Becker an seinen Vater, 30. Juli 1942. DSM, III A 3324 b.

412 | G EFANGEN IN K ANADA »Am Weihnachtsabend hörten wir übrigens ein wunderbares Weihnachtskonzert einer deutschen Militärkapelle aus einem an unser Seemannslager angrenzendes Kriegsgefangenenlager. Man hatte allgemein das Gefühl wieviel würdiger man als Mensch in Kriegszeiten ist, wenn man zu der waffenführenden Kategorie gehört.«109

Ausgehend von dem Konzert, bei dem die Seeleute nur Zaungäste waren, thematisiert Becker hier sein Streben nach Distinktion. Der Schlüsselbegriff der ›Würde‹ verdeutlicht, dass es Becker auch um verletztes Standesbewusstsein ging, wenn er sich über die ungenügende Versorgung der Seeleute beklagte. Durch den Vergleich seiner eigenen Lage mit der von gefangenen Soldaten konstituiert Becker auch in vielen anderen Briefen eine Gruppe der zivilen Seeleute, die zum Opfer der Umstände werden, weil sie keine standesgemäße Behandlung erfahren: »Bei allem Gleichgemachten, wie ist doch alles ungleich. Die eine Gruppe Kriegsgefangene bemüht sich um die Erlaubnis, von den ihnen in der Gefangenschaft ausgezahlten Geldern Überweisungen in den Heimatstaat machen zu können, die andere Gruppe muß jedes Vierteljahr darum bangen, daß ihre Wohlfahrtsunterstützung ausbleibt. Das neueste Gerücht und zugleich die neueste Erklärung dafür, daß es mit uns nicht funktioniert und ein so furchtbarer anarchistischer Geist für die Zukunft großgezogen wird, ist, daß, ehe die wohlbedachte und so edel gehandhabte Sorge von höchster Stelle um uns zur Umwandlung in die Praxis kommt, von einer sich ganz schlau eingeschalteten kommunistischen Zersetzungszelle vereitelt wird mit dem Ziel, den Novembermatrosen 18 wieder erstehen zu lassen.«110

Durch die ironische Wiedergabe dieser Verschwörungstheorie und die Anspielung auf den Matrosenaufstand vom November 1918 konstruiert Becker an dieser Stelle zudem eine Traditionslinie, die in seinen Augen die im Zweiten Weltkrieg internierten Schiffsbesatzungen mit den Marinematrosen des Ersten Weltkriegs verband. Die Behandlung der Seeleute in der Internierung brachte für Becker vor allem negative Aspekte des Berufsfeldes Seefahrt ans Tageslicht, die in seine Wir-Gruppen-Konstruktionen einfließen. Vor allen Dingen aus der finanziellen Schlechterstellung im Vergleich zu gefangenen Soldaten entstand in seinen Augen eine drastische Benachteiligung der Seeleute. In seinen Briefen an den Vater vermittelte er das frustrierende Gefühl, im entscheidenden Moment immer durch das Raster zu fallen und nicht von Verbesserungen zu profitieren. Auch die in der Internierung eingeschränkte Verfügbarkeit von Informationen wird stellenweise in diesem Sinne gedeutet. Jede konstatierte Ungerechtigkeit oder Zweitklassigkeit in der Behandlung verknüpfte Becker mit der Gruppe der internierten Seeleute. Diese Wir-Gruppen-Konstruktion stützt sich auf Beckers subjektive Wahrnehmung, dass Seeleute stets zu kurz kommen. Damit stellt er eine implizite Rangfolge auf, die in zwei Richtungen funktioniert: Was ihre Behandlung durch den Gewahrsamsstaat angeht, stehen die Seeleute im Vergleich mit Soldaten oder Zivilinternierten ganz unten, in einer imaginären Opfer-Hierarchie dafür aber weit oben. Entscheidend für die Wir-Gruppen-Konstruktion ist einerseits der durch Kriegsbeginn und Internierung faktisch veränderte Status

109 Rudolf Becker an seinen Vater, 4. Januar 1944. DSM, III A 3324 b. 110 Rudolf Becker an seinen Vater, 5. April 1943. DSM, III A 3324 b.

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der Schiffsbesatzungen, andererseits ein angenommener sozialer Status der Gruppe, den Becker als strukturell bedingt betrachtete und der nun in seinen Augen durch Krieg und Internierung sicht- und spürbar wurde. Das Bild vom Seemann, das Becker in seinen Briefen entwirft, könnte kaum weiter entfernt sein vom populären Bild des trotz gelegentlicher Melancholie meist gutgelaunten Seemannes, der in allen Lebenslagen zurechtkommt.111 In der Nachkriegszeit zog Becker die Konsequenzen aus diesem Gefühl der Benachteiligung, indem er bei der Erarbeitung des neuen Seemannsgesetzes mitarbeitete und sich für eine Besserstellung der Seeleute engagierte. 112 Dass Becker trotz der Radikalität seiner Aussagen keine ausgefallene Einzelmeinung vertrat, verdeutlicht ein Text von Kapitän Hermann Ahlers über seine Gefangennahme.113 Nach seiner vorzeitigen Repatriierung verfasste Ahlers im Herbst 1944 einen ausführlichen Bericht über seine Tätigkeit als Kapitän der WARTENFELS.114 In die Schilderung seiner Erlebnisse aus den Jahren 1939 bis 1944 mit der Gefangennahme im Hafen von Diego Suarez auf Madagaskar und der Internierung in Südafrika bindet Hermann Ahlers an verschiedenen Stellen ähnliche kollektivierende Selbstzuschreibungen ein wie Becker. Darin charakterisiert er die Seeleute als »Stiefkinder des Schicksals«, was sich »besonders in Kriegszeiten«115 zeige. Denn »[w]ir Seeleute sind immer die Dummen und werden im Kriege von der Gegenseite aufgegriffen, wo immer man uns erwischen kann, und da spielt es nur eine geringe Rolle, ob man nun in Südafrika oder sonstwo interniert wird«116. Ahlers postuliert hier eine Art Konstante, die durch die Internierung vieler Seeleute im Ersten und Zweiten Weltkrieg für ihn bewiesen war. Für Ahlers sind die Entbehrungen des ohnehin harten Seemannsberufs mit zusätzlichen Nachteilen verknüpft, die Seeleute – im Unterschied zu Soldaten – im Kriegsfall erfahren: »Ist der Beruf des Seemanns mit seinem Jagen und Hasten und oft langen Dienstzeiten beim Hafen aus, Hafen ein, schon in Friedenszeiten ein anerkannt schwerer bei recht mäßiger Bezahlung, so gerät der Fahrensmann in Kriegszeiten meist erst richtig vom Regen in die Traufe – falls er nicht zu den Glücklichen gehört, die sich gerade in der Heimat befinden, oder sie erreichen können […]. Es ist mir bekannt, daß die Stellung auf Wehrsold vielfach als eine wenig ideale Lösung empfunden wird, besonders nicht von den Junggesellen, und nun erst das totale

111 Vgl. T. Heimerdinger: Der Seemann. 112 Schiffahrts-Streik. Offiziere von Bord. Der Spiegel 32 vom 08.08.1956, S. 18-19, hier S. 19. 113 Ahlers, Hermann: D. »Wartenfels« der deutschen Dampfschiffahrtsgesellschaft Hansa, Bremen. Bericht des Kapitäns Hermann Ahlers über das Schicksal des Schiffes und der Besatzung in den Jahren 1939 bis 1944 (Wegen Mangel an Unterlagen nach bester Erinnerung aus dem Gedächtnis aufgeschrieben). Bremen-Lesum 1944. Sammlung Peter Kiehlmann, Pinneberg. 114 Aus dem Bericht geht nicht eindeutig hervor, für wen er gedacht war. Eine Reihe ähnlicher Kapitänsberichte legt jedoch nahe, dass Ahlers den Text für seine Reederei, die DDG Hansa in Bremen, verfasste. 115 H. Ahlers: D. »Wartenfels« der deutschen Dampfschiffahrtsgesellschaft Hansa, Bremen, S. 17. 116 Ebd., S. 18. Hervorhebung im Original.

414 | G EFANGEN IN K ANADA Wegfallen desselben, wenn Internierung erfolgt! Im letzten Kriege sind unsere Gagen voll durchgelaufen, ob an Bord oder interniert, und dafür kann vieles angeführt werden: Ein Soldat kann gefangen genommen werden, die Regel ist es aber nicht! Der Seemann aber wird meist früher oder später gefangen gesetzt, es ist praktisch die Regel! Solange wie man an Bord ist, geht praktisch der Dienstbetrieb weiter, und das oft unter schweren und auf die Dauer kaum erträglichen Lebensbedingungen […].«117

Trotz der Unterschiede in der Textgattung wiederholen sich hier gruppenkonstituierende Techniken wie der Vergleich sowie Motive, die auch Rudolf Becker zur negativen Charakterisierung seines Berufsstandes verwendet: schwere Arbeit bei schlechter Bezahlung in Friedenszeiten, finanzielle Benachteiligung im Vergleich zu Soldaten in Kriegszeiten sowie ein berufsbedingt erhöhtes Risiko, in Gefangenschaft zu geraten. Angesichts der relativen Privilegiertheit der Schiffsbesatzungen in Kanada halten diese Konstruktionen eines Opferstatus einer historischen Kontextualisierung aus heutiger Perspektive freilich kaum stand. Die Beispiele zeigen, wie einzelne Verfasser aus der Internierungserfahrung heraus in spezifischen kommunikativen Kontexten Wir-Gruppen konstituierten. Als Kriterien für die Bestimmung der jeweiligen Wir-Gruppe griffen sie dabei auf den von außen hergestellten Status der Gruppe, auf Erfahrungen, die den Mitgliedern dieser Gruppe gemeinsam sind, und vor allem auf Vergleiche mit anderen Gruppen zurück. Diese Vergleiche machen Distinktionsbestrebungen der Sprecher und damit auch einen wichtigen Teil ihres Selbstverständnisses sichtbar. Vor allem Becker bezieht sich auf Konstitutionselemente, die von außen an die Seeleute herangetragen wurden; er spezifiziert die Beschaffenheit dieser Wir-Gruppe kaum durch Zuschreibungen von (inneren) Eigenschaften. Daran wird deutlich, wie sich äußere Faktoren von Internierung – im Fall der internierten Seeleute vor allem die lange Wartezeit vor Beginn der finanziellen Unterstützung und die finanzielle Schlechterstellung – unmittelbar auf Identitätskonstruktionen der Betroffenen auswirken. Die Wir-Gruppe der (internierten) Seeleute wird als Zwangs- und Erlebnisgemeinschaft von Personen dargestellt, die »jahrelang auf engem Raum in vollkommen gleichgeschalteter Weise zusammen leben mussten«;118 daran macht Becker den postulierten Opferstatus fest. Ob und wenn ja, in welcher Weise diese Wir-Gruppen-Konstruktion für Becker oder Ahlers alltägliche Handlungsrelevanz gewann, muss dahingestellt bleiben. Ähnliche Opferkonstruktionen treten vereinzelt auch in retrospektiven Darstellungen der Internierung auf, etwa bei Harald Wentzel. Er kommentiert in seiner Chronologie zur Seefahrts-Legende die Einstufung der Seeleute als Gefangene zweiter Klasse mit den Worten: »wir Seeleute waren mal wieder schlecht beraten«.119 Äußerungen wie diese werfen die Frage auf, ob hier nicht auch ein Topos vorliegt, der zumindest punktuell die positiven Deutungen der Internierung überschreibt.

117 Ebd., Hervorhebungen im Original. 118 Rudolf Becker an die Reederei Hamburg-Süd, 30. August 1942. Abschrift enthalten in Schreiben der Reederei an Friedrich Becker vom 10. November 1942. DSM, III A 3324 b. 119 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 29, Z. 22.

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»Das waren wir Seeleute«: Selbstaufwertendes Sprechen und Bilder kollektiver Identität In vielerlei Hinsicht sind die Wir-Gruppen-Konstruktionen in Interviews mit ehemaligen Internierten komplementär zu denjenigen in Rudolf Beckers Briefen. Dieser Befund muss vor allen Dingen auf das Alter der Befragten – sie waren im Schnitt zehn bis 15 Jahre jünger als Becker – und auf den Erzählzeitpunkt zurückgeführt werden: Die Erzähler waren während der Internierung durch ihr Alter und ihre Position innerhalb der Schiffsbesatzung am unteren Ende der Hierarchie verortet. Distinktion und Statusverlust spielten für das Erleben der Internierung womöglich eine weniger große Rolle als für Schiffsoffiziere. Gleichzeitig blickten sie zum Zeitpunkt der Interviews auf eine jahrzehntelange Berufstätigkeit in der Seefahrt zurück, die ihren ehemaligen Status als Berufsanfänger mit kaum mehr als drei Jahren Fahrtzeit längst überlagert hatte. In dieser Zeit hatten sie, auch durch Mitgliedschaften in Lotsenbruderschaften oder Vereinen wie den Cap-Horniers, einen seemännischen Habitus entwickelt, der auch das Sprechen im Interview prägte.120 Im Gespräch entwarfen die Befragten ihren Berufsstand als geschlossene »community of practice«,121 der sie einen spezifischen Habitus zuschrieben. Durch die Perspektive des ›wir‹ positionieren sich die Erzähler als Teil dieser Gruppe. Die Seeleute, wie sie in diesen Interviewpassagen präsentiert werden, gleichen sich in wesentlichen Charakterzügen und Einstellungen. Obwohl vereinzelt Distinktionsbestrebungen von Kapitänen und Offizieren thematisiert werden,122 agieren sie wie ein Mann und zeigen dabei eine kollektive Agency.123 Treten Einzelpersonen als Handelnde auf, so werden sie als typische Repräsentanten der Gesamtheit gedeutet. Im Ganzen ergibt sich ein durchweg positiv konnotiertes Bild der Seeleute als robust, gesellig, zupackend, lernfähig, sprachbegabt und kreativ, dabei ordnungsliebend und auf Sauberkeit bedacht, hilfsbereit und kameradschaftlich, offen, direkt, sachlich, weltoffen und politisch neutral. Die Zuschreibung dieser Wesenszüge erfolgt häufig anhand von Beispielerzählungen und wird durch Faktizitätsmarkierungen im Sinne eines »das waren wir SEEleute«124 als verallgemeinerbare Tatsache präsentiert. Die Eigenschaften sind im jeweiligen Erzählkontext positiv konnotiert: Zwar seien Seeleute durch ihre Berufstätigkeit quasi heimatlos, doch dadurch seien sie auch verpflanzbar und hätten kein

120 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1987, S. 277. 121 Wenger, Etienne: Communities of practice. Learning, meaning, and identity. Cambridge 1998. 122 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1226-1236. 123 Die Frage nach der Agency in einem Text »betrifft den Umgang mit der Frage, ob und in welchen Aspekten und Bereichen seines Lebens er [der Erzähler, JK] sich als handelnde Person, als Zentrum der Geschehnisse seines Lebens, als Inhaber von Kontrollmöglichkeiten und Entscheidungsspielräumen erlebt, oder ob und hinsichtlich welcher Erfahrungen er sich von heteronomen Mächten dirigiert fühlt […].« G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität, S. 59. 124 Interview Herbert Suhr, Z. 2033-2034.

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Heimweh.125 Wie mehrere Interviewpartner betonen, liege das unter anderem an einer gewissen inneren Haltung und Disponiertheit, einer Art festem Wesenskern: »ich würde wieder seemann werden (hm). das ist- das steckt drin«.126 Der Modus des exemplarischen Erzählens127 dient dazu, die den Seeleuten zugeschriebenen Eigenschaften anhand konkreter Situationen zu veranschaulichen. So berichtete Franz Renner, wie Seeleute im deutschen Entlassungslager Munsterlager kurzerhand einen Tisch zu Brennholz verarbeiten: »die seeleute wissen sich ja immer SELber zu HELfen, nich, (1) hier ist nicht geHEIZT, zwanzig grad minus draußen (hm), nich, weil nach n=n=sechsundvierzig (3)- da ist ja ein TISCH, zack zack zack (.) in den ofen mit (hm), nich, gab natürlich GROßen krach, nich (hm), in deutschland hätte man gar keine tische und wir stecken einen in den ofen. (hm)«128

Während Rudolf Becker Umstände der Internierung, wie etwa die Unterbringung, für die Konstruktion eines Opferstatus verwendete, werden sie hier als Möglichkeit für eine positive Wir-Gruppen-Konstruktion genutzt, indem die Problemlösungsfähigkeit der Seeleute und ihre Agency in den Mittelpunkt gerückt werden. Der einleitende Satz – »die seeleute wissen sich ja immer SELber zu HELfen, nich« – vermittelt durch das »ja« zum einen die Selbstverständlichkeit und durch das »immer« zum anderen die Verallgemeinerbarkeit der geschilderten Begebenheit. Die Zerstörung von Mobiliar wird in einen Akt kreativer Selbsthilfe und widerständiger Aneignung umgedeutet und als Zuschreibung von Tatkraft in die essenzialisierende Konstruktion einer seemännischen Kollektividentität integriert. Die hier vermittelte Akzeptanz des Destruktiven steht nur in scheinbarem Widerspruch zu anderen Erzählsequenzen, in denen den Seeleuten fast bürgerliche Vorstellungen von Ordnung und Sauberkeit zugeschrieben werden. Die Erzähler führen diese Ordnungsliebe auf die Sozialisation an Bord zurück. Auf dem Schiff erfuhren die Seeleute trotz aller Heterogenität eine strukturell erzwungene Vergemeinschaftung, die sich, vor allem auf der Stufe der Schiffsjungen, auch in regelmäßigen Putz- und Reinigungsaufgaben äußerte.129 So wie die Seeleute vor der Internierung »das schiff in ordnung hielten«,130 bot die »schiffsmäßige Routine«131 auch im Lager Orientierung, wie Hans Peter Jürgens berichtete: »und äh, was SEHR wichtig war, in der=in der geSAMten gefangenschaft, in allen baracken, war immer (.) das AUFklaren, es wurde (.) immer für äußerste SAUberkeit gesorgt, das war den seeleuten auch wirklich in fleisch und blut übergegangen, nich also wurde ordnung ge-

125 Interview Bruno Pichner, Z. 1201-1215. 126 Interview Herbert Suhr, Z. 2503-2504. 127 Röhrich, Lutz: Erzählforschung. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der europäischen Ethnologie. 3., überarb. u. erw. Aufl. Berlin 2001, S. 515-542, hier S. 532. 128 Interview Franz Renner, Z. 778-782. 129 U. Feldkamp: Leben an Bord eines Kap-Hoorn-Fahrers, S. 110. 130 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 193.194. 131 H.P. Jürgens: Sturmsee und Flauten, S. 53.

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schaffen, nich also BETTen gebaut usw., nich dass alles so liegen blieb den ganzen tag (hm) wie vielleicht woANders, nich (ja) in solDAtenlagern und äh in diesen KLEInen baracken, da wurde- einmal in der woche wurde das=der boden gescheuert (hm), nich mit=mit WAsser=WAsser und BEsen, nich (hm), wurden die ecken sauber gehalten (hm). haben die kanadier, die staunten denn da. Die engländer, die haben noch mehr gestaunt (hm).«132

Hier dient die Thematisierung von Sauberkeit der Vermittlung einer positiv besetzten Seemannsidentität. Die Passivkonstruktionen verweisen auf die regelhafte Durchsetzung einer Ordnung. Das erwähnte Staunen der Kanadier und Engländer konstruiert eine indirekte positive Selbstaussage. Während Rudolf Becker Tätigkeiten wie Waschen und Bügeln als Zeichen von Statusverlust interpretierte, vermittelt diese Art der narrativen Verhandlung eine Deutung der Internierung als Rahmen positiver narrativer Identitätskonstruktion. Eventuelle hierarchische Unterschiede innerhalb der Gruppe der Seeleute werden nivelliert. Im weiteren Verlauf des Interviews beschrieb Jürgens detailliert, wie die Seeleute in den Baracken durch selbstgefertigte Möbel und Trennwände mehr Komfort und Privatsphäre schufen. Die Wohnräume wurden »verfeinert«133 und mit den »bequemsten«134 Möbeln bestückt – wiederum Beispiele, die einen zentralen Wesenszug der Seeleute veranschaulichen sollen. So resümierte Jürgens: »die seeleute besaßen alle diese fähigkeit, nich, aus NICHTS etwas zu machen (hm). das ist auch eine eigenheit, die da voll zum tragen kam (hm).«135 Hier fungieren die bescheidenen Lebensumstände der Internierung wiederum als Folie für eine narrative Aufwertung der eigenen peer group und die Konstruktion einer homogenen Seemannsidentität. In zahlreichen exemplarischen Geschichten unterstreichen meine Gesprächspartner, dass Seeleute meist intuitiv wissen, wie man eine Sache angehen muss. Ihr umfassendes handwerkliches Geschick verschafft ihnen – ähnlich wie ihre Virtuosität mit Putzeimer und Besen – in diesen Episoden zudem die Wertschätzung ihrer Bewacher und Arbeitgeber. Bruno Pichner schilderte im Interview, wie er auf einer kanadischen Farm ein respekteinflößend großes Pferd beschlagen musste: »und da musste ich ja nun (.) mitHELFen und denn dieses GROße ding, OH GOTT oh gott (lacht), musste ich mitHELFen beim äh (beschlagen) beim beschlagen, ne ((lacht)). ja und hier, da machte ich ja alle arbeiten, ne (hm): melken, füttern, misten, pflügen, eggen, mähen, pferde pflegen, versorgen- […] äh (3) TJA (2) aber man war ja anstellig. als SEEmann lernt man ja sowieso, alles ANzuPACKen. ohne worte. man PACKT an, ne. und das wurde DA äh ANerkannt, ne. da war=man=man stellte sich nicht so unbeholfen an, man ging RAN und MACHte DAS (ja), ne«136

Auch hier wird die positive Selbstaussage über Dritte vermittelt. Pichners Versprachlichung – »als SEEmann lernt man ja sowieso, alles ANzuPACKen« – transportiert,

132 133 134 135 136

Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1304-1313. Ebd., Z. 1323. Ebd., Z. 1326. Ebd., Z. 1334-1336. Interview Bruno Pichner, Z. 963-971.

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ähnlich wie die bereits genannten Beispiele, die soziale Regelhaftigkeit und Selbstverständlichkeit von Geschicklichkeit und Einsatzbereitschaft auch bei ungewohnten Aufgaben. Ähnlich argumentierte Hans Plähn in seiner Antwort auf meine Frage, was er denn so den ganzen Tag im Lager gemacht habe: »ich? der als- hier in diesem lager bin ich als (.) plumber, da war ich- die öfen eingestellt, noch kein rohr drauf und so, nich (hm) und denn irgendwie [unverständlich], nich (hm) can you fix it? oh sure, i can, nich, ich konnte ja alles als seemann, nich (hm).«137

Plähn präsentiert sich hier mit großer Selbstverständlichkeit als Alleskönner. Die Reinszenierung einer Szene, in der seine Fähigkeiten verhandelt werden, dient als Beleg für seine Selbstzuschreibung. Auf ähnliche Weise wie in den oben zitierten Beispielen wird der beanspruchte Status als »Allrounder«138 kausal mit dem Seemannsein verknüpft. Timo Heimerdinger lokalisiert dieses Motiv in den Interviews mit Seeleuten, die er im Rahmen seiner Studie durchgeführt hat. Er beobachtet, dass die Befragten bestimmte positiv konnotierte Eigenschaften essenzialisieren und als Teil ihres Charakters präsentieren.139 Das von meinen Gesprächspartnern vermittelte kollektivierende Selbstbild von Seeleuten entspricht einem traditionellen, stereotyp heteronormativen Männlichkeitsbild, das durch die Deutungen der Erzähler im jeweiligen narrativen Kontext eindeutig positiv konnotiert wird. Im Erzählen über die Internierung erzeugten meine Gesprächspartner Konstruktionen eines ›echten‹ Seemannes und ordneten sich diesem kollektiven Identitätsentwurf narrativ zu. Interessant ist die Frage, welche Bedeutung solche Konstruktionen im Erzählen über Krieg und Internierung besitzen. Zum einen handelt es sich meist um einen unproblematischen Erzählstoff, der heitere Geschichten generiert, die effektvoll und ›einfach‹, oft in Form einer Anekdote, zu erzählen sind. Diese Geschichten klammern Belastendes aus und enthalten kalkulierbare Pointen. Individualität wird durch das ›wir‹ und die Zuschreibung kollektiver Agency aufgelöst. Zum anderen bedienen und reproduzieren diese Episoden auch eine Reihe von Topoi, die landläufig mit dem Seemannsberuf assoziiert werden.140 Das Interview über die Internierung wird also zur Bühne für eine narrative Selbstinszenierung, die Belastendes in Schach hält und narrativ in einen Erzählstoff transformiert, der auch dem Zuhörer Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. Konstruktionen einer kollektiven Seemannsidentität werden auch aus dem Kontext der Interaktionssituation heraus plausibel.141

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Interview Hans Plähn, Z. 249-253. T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 335. Ebd., S. 336. Vgl. ebd., S. 196-199. Vgl. Deppermann, Arnulf: Interview als Text vs. Interview als Interaktion. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research 14 (2013), Nr. 3, Art. 13. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1303131.

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»In meiner Hütte liegen 42 Hermonthen«: Kameradschaft und strategisches Sprechen Ein Seemann konnte im Lager mehreren Gruppen zugleich angehören, beispielsweise nicht nur seiner ehemaligen Schiffsbesatzung, sondern auch neu entstehenden Gruppen wie der Bewohnerschaft einer bestimmten Baracke oder der Fußballmannschaft des Lagers. Nicht zuletzt boten Nationalität und Berufsstand als »imagined communities«142 Identifikationsmöglichkeiten, die trotz ihrer Abstraktheit Handlungsrelevanz für den Lageralltag besaßen und als symbolische Ressourcen von den Internierten aufgegriffen wurden. Auch nationalsozialistische Vorstellungen von Kameradschaft und Volksgemeinschaft reichten in die Kontaktzone der Internierung hinein und prägten die Kommunikation und Interaktion der Internierten untereinander, mit den Wachen und humanitären Helfern.143 All diese Formen von Vergemeinschaftung, die trotz ihrer unterschiedlichen Reichweite eng aufeinander bezogen waren, verdichteten und überlagerten sich im Mikrokosmos des Camps. Das Lager bildet einen vielfach vernetzten Kristallisationspunkt, an dem in Form von Diskursivierungen, Materialisierungen und Verkörperungen doing identity greifbar wird. Zahlreiche Fotografien in Nachlässen und Sammlungen internierter Seeleute vermitteln einen Eindruck von der Vielzahl unterschiedlichster Gruppierungen in den kanadischen Seemannslagern. Ausgehend von den Aktivitäten der Internierten in der Lagerselbstverwaltung und im Bereich von ›Freizeit‹ und Bildung differenzierte sich die Lagergesellschaft nach und nach aus. Küchenbelegschaften, Orchester, Theatergruppen, Sportmannschaften oder Künstlergruppen posierten als Gruppe für den Fotografen (vgl. Abbildung 34 bis Abbildung 36) und boten durch ihre gemeinsame Tätigkeit nicht nur die Möglichkeit der Teilhabe, sondern auch den Rahmen für temporäre und fluktuierende Identitätskonstruktionen im Sinne einer »community of practice«.144

142 Anderson betont, dass als imagined communities alle Gemeinschaften gelten können, die aufgrund ihrer Größe keinen persönlichen Kontakt aller ihrer Mitglieder untereinander erlauben. B. Anderson: Imagined Communities, S. 6. Zur Übertragung von Andersons Konzept der imagined community auf andere Formen kollektiver und individueller Identität siehe Altnöder, Sonja/Lüthe, Martin/Vejmelka, Marcel: Anders: Identitäten. Identitätsund Alteritätsdiskurse in den Kulturwissenschaften. In: Dies. (Hg.): Identität in den Kulturwissenschaften. Perspektiven und Fallstudien zu Identitäts- und Alteritätsdiskursen. Trier 2011, S. 1-17, hier S. 9-10. 143 Vgl. Kühne, Thomas: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert. Göttingen 2006; Reeken, Dietmar von/Thießen, Malte (Hg.): ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013; Bajohr, Frank/Wildt, Michael (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2009. 144 E. Wenger: Communities of practice.

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Abbildung 34: Die Eishockeymannschaft der WESER-Besatzung in einheitlichen Trikots, Fredericton, vor Mai 1943

Über dem Namen des Schiffs ist die Reedereiflagge des Norddeutschen Lloyd abgebildet, bestehend aus gekreuztem Anker und Schlüssel über einem Kranz aus Eichenlaub. Quelle: PA AA, R 127.704.

Abbildung 35: »Die Küchen-Mannschaft« im Lager Petawawa, ca. 1942/43

Wie viele andere Gruppenbilder wurde auch dieses Foto als Postkarte gedruckt. Es zeigt die in der Küche arbeitenden Internierten. Die vorliegend verwendete Überschrift wurde von Harald Wentzel auf der Bildrückseite eingetragen. Quelle: Nachlass Harald Wentzel, Sammlung Peter Kiehlmann.

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Abbildung 36: Theatergruppe in einem kanadischen Seemannslager, undatiert

Zu sehen sind die teils fantasievoll kostümierten Akteure einer Theateraufführung in einem namentlich nicht bekannten kanadischen Lager für deutsche Seeleute. Quelle: Sammlung Bruno Pichner.

Zumindest in der Anfangszeit der Internierung bot die Erlebnisgemeinschaft mit ihren ehemaligen Kollegen vielen Seeleuten sozialen Rückhalt. Doch darüber hinaus traten die Besatzungsmitglieder eines Schiffes innerhalb der Lagerbelegschaft nicht immer als distinkte Gruppe in Erscheinung. Viele Schiffe waren vor der Gefangennahme nur noch mit kleiner Besatzung gefahren und im Laufe der Internierung wurden Besatzungsmitglieder häufig durch Verlegungen voneinander getrennt. Die Seeleute der HERMONTHIS jedoch blieben zusammen; unter der Ägide ihres Kapitäns erhielten sie das soziale Gefüge der Schiffsbesatzung – unter dem Vorzeichen der ›Kameradschaft‹ – auch in der Internierung aufrecht. Zwar ist der alltägliche Umgang der Besatzungsmitglieder miteinander nicht mehr zu rekonstruieren, doch anhand von Briefen lässt sich untersuchen, wie sich die Besatzung gegenüber Dritten positionierte. Der ehemalige Kapitän des Schiffes, Karl Aschoff, verfasste im Lager Kananaskis einen ausführlichen Brief an den Schweizerischen Generalkonsul. Er beginnt folgendermaßen: »Sir, As Captain of the German Motorship ›Hermonthis‹ of the Hamburg American Line, and as Spokesman for the entire crew, I beg to submit the following report regarding our apprehension and treatment pursuant thereto:«145

145 Bericht des Kapitäns Karl Aschoff der Hermonthis (HAPAG) an den Schweizer Generalkonsul, Kananaskis, 9. Juni 1941. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70.

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Aschoff tritt hier entsprechend seiner früheren Rolle als Kapitän des Schiffes auf, der die Besatzungsmitglieder gegenüber Dritten vertritt. In seinem Bericht wählt Aschoff stets die vergemeinschaftende Perspektive des ›wir‹: »When the ›Prince Henry‹ came up, our ship was already in a sinking condition and aflame. The crew was in the boats. However, under threat of machine guns and revolvers, we were ordered back on board the ›Hermonthis‹ to extinguish the fire.«146 In welcher Form er nach wie vor als Kapitän für seine 52-köpfige Schiffsbesatzung Verantwortung übernahm (obwohl diese Position de facto mit der Gefangennahme obsolet geworden war), wird etwa anhand seiner Klage über die unzureichende Unterbringungssituation an Bord des kanadischen Kreuzers deutlich: »there were no provisions for the proper accommodation of my men«147. Aschoffs Intervention lässt sich auf der einen Seite als Festhalten am Status des Kapitäns verstehen. Andererseits fügt sich seine Initiative in das nationalsozialistische »Leitbild der Kameradschaft«148 ein, das Handlungsoptionen und Rollenvorstellungen bereitstellte, die wiederum dazu dienen sollten, Kameradschaft zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. In seiner Beschwerde über das Lager Kananaskis wird dieser Führungsanspruch mit einer nationalistisch-überheblichen Argumentation verknüpft: »[…] this camp should not be considered as a fit and proper place for the crew of a German ship. A forced living together with criminals, jailbirds etc. is not desirable and not permissable under the regulations laid down in the Geneva Convention.«149

Die vermeintlichen Kriminellen, über die Aschoff hier spricht, waren deutsche Zivilinternierte, zum Teil auch jüdische Flüchtlinge, mit denen sich die Seeleute das Lager Kananaskis teilen mussten. Nach außen zieht Aschoff hier – ganz im Sinne des übersteigerten Nationalgefühls der NS-Ideologie – eine klare Grenze zwischen (s)einer deutschen Schiffsbesatzung und den übrigen Internierten im Lager. Nach innen scheint der ehemalige Kapitän durch seine »paternalistische Autorität«150 eine große Rolle für die Aufrechterhaltung und Stabilisierung der Gruppe gespielt zu haben. Mehrmals trat er als Mittler zwischen der Besatzung und der Reederei sowie als Interessenvertreter einzelner Besatzungsmitglieder auf. Im Zuge seiner Schilderung des Weihnachtsfestes 1941 in einem Schreiben an die HAPAG wird dies besonders deutlich: »Die Post hat grosse Freude ausgeloest bei der gesamten Gefolgschaft; die guten Wuensche zum Fest waren trotz der unverstaendlichen Verspaetung fuer jeden Mann eine Aufmunterung und das langentbehrte Gefuehl der Verbundenheit erhielt neuen Auftrieb. In den Weihnachtstagen hatten wir doch alle den gewohnten Weihnachtsgruss sehr entbehrt. Das Fest an sich war den Umstaenden entsprechend sehr schoen. Wir wurden von allen Seiten ueppig beschenkt.

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Ebd. Ebd. T. Kühne: Kameradschaft, S. 18. Bericht des Kapitäns Karl Aschoff der Hermonthis (HAPAG) an den Schweizer Generalkonsul, Kananaskis, 9. Juni 1941. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70. 150 T. Kühne: Kameradschaft, S. 12.

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Ganz gross hatte sich Lima gemacht. Die Damen der Gesellschaft hatten sich vorgenommen, dass keiner von der geliebten ›Hermonthes‹ leer ausgehen sollte, sodass ein jeder sein Weihnachtspaket erhielt und ausserdem erreichte mich ein Scheck von 400 U.S.A. Dollar als Festgabe fuer die Gefolgschaft.«151

Die HERMONTHIS-Besatzung wird hier als Gruppe präsentiert, die auch außerhalb des Lagers besondere Wertschätzung genießt; als Beleg dafür führt Aschoff das Engagement deutscher Frauen in Lima an.152 Im Rahmen der Schilderung der Weihnachtsfeiertage hebt Aschoff auch an anderer Stelle die Besatzung seines Schiffes in ihrer Bedeutung für die Lagergesamtheit hervor: »Die Hermonthes Baeckerei sorgte fuer braune Kuchen, Pfeffernuesse und das uebliche Weihnachtsgebaeck.«153 Er berichtet weiterhin, dass die »gesamte Gefolgschaft«154 zum Dank für die Weihnachtsgaben eine Spendenaktion für das Deutsche Rote Kreuz durchführte: »Die einzelnen Briefe sind von mir der versammelten Mannschaft vorgelesen worden und haben besondere Genugtuung hervorgerufen. Bei der Bekanntgabe der Sonderzuwendung und des Weihnachtsgeschenkes erhoben sich spontan Rufe nach einer 2. Sammlung fuer das Deutsche Rote Kreuz. Die gesamte Gefolgschaft bat mich, als Ausdruck ihrer Dankbarkeit fuer die Fuersorge der Heimat, die sowohl unsren Angehoerigen daheim, als auch uns hier draussen zu Gute kommt, die 2. Sammlung zu uebernehmen. Bei drauffolgender Abstimmung wurde von den 53 Mitgliedern einstimmig beschlossen je 25 Rmk. zu spenden, sodass eine Summe von 1325 Rmk (Eintausenddreihundert-fuenfundzwanzig) dem Roten Kreuz zugefuehrt werden koennen. Ich bitte die H.A.L. diesen Betrag an das Rote Kreuz ueberweisen zu wollen. Die Quittungen der einzelnen Leute sind in meiner Hand.«155

Dabei betont Aschoff, dass dieser Beschluss einstimmig gefasst worden sei. Ob das der Realität entspricht, sei dahingestellt, doch zeigt die gemeinsame Spendenaktion nicht nur die integrative Kraft dieser Gruppe und ihres Leiters, sondern die intendierte Außenwirkung als starke, harmonische Gemeinschaft. Dies spiegelt sich auch in der gleichmachenden Bezeichnung, die Aschoff für die Besatzungsmitglieder wählt, wenn er berichtet, dass in seiner Baracke »42 Hermonthen«156 untergebracht seien. Als besonders kameradschaftliche Gruppe wird die Besatzung der HERMONTHIS noch ein weiteres Mal dargestellt: Als ein Besatzungsmitglied vom Tod seiner Mutter er-

151 Brief des Kapitäns Karl Aschoff an die Reederei HAPAG, 18. Februar 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4. 152 Die HERMONTHIS lag von September 1939 bis März 1941 in Callao, dem wichtigsten Hafen Perus, der nur wenige Kilometer westlich von Lima liegt. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 2, S. 29. 153 Brief des Kapitäns Karl Aschoff an die Reederei HAPAG, 18. Februar 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4. 154 Ebd. 155 Ebd. Im Original ist die Passage von »Bei der Bekanntgabe« bis »ueberweisen zu wollen« durch Unterstreichung hervorgehoben. 156 Schreiben Kapitän Karl Aschoff an die Reederei HAPAG, 18. Februar 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4.

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fuhr, beschlossen seine Kollegen, einen Kranz für das Grab zu stiften. Aus diesem Anlass schrieb Aschoff an die Tante des Hinterbliebenen: »Der herbe Verlust, der unsern lieben Kameraden Otto betroffen hat, veranlasst mich diese Zeilen an Sie zu richten. […] Die Kameraden und ich haben alles getan um ihn aufzurichten. Durch die Hapag wird Ihnen ein Kranz zugehen, den ich Sie bitte, im Namen der Hermonthis Kameraden am Grabe niederzulegen. […] Indem ich Ihnen mein Bedauern zu dem herben Verluste ausdruecke, verbleibe ich mit herzlichen Gruessen Ihr Karl Aschoff, Kapt. M/S ›Hermonthis‹.«157

Dieser Brief des Kapitäns, in dem er sich als Initiator der Kranzspende inszeniert, scheint die Internierung auszublenden. Die darin verwendete Rhetorik der Kameradschaft macht deutlich, wie dieser Begriff im Sinne einer kameradschaftlichen Volksgemeinschaft auch auf die Angehörigen der Besatzungsmitglieder ausgedehnt wurde. Otto A. selbst schrieb wenige Tage später an seine Tante: »Auch meine Kameraden versuchen alles, um mich wieder ins alte Gleis zu bringen.«158 Er berichtete ihr, »dass alle Bordkameraden einen Kranz gestiftet haben«159. Hier zeigt sich, wie Kameradschaft durch konkrete Praktiken und kommunikative Akte als Bindungsform erzeugt wurde. Durch ihre Orientierung am Ideal der Kameradschaftlichkeit verhielt sich die Besatzung der HERMONTHIS konform in Bezug auf die nationalsozialistische Ideologie. Durch die Spendenaktion zugunsten des Roten Kreuzes demonstrierten die Besatzungsmitglieder ihre Bereitschaft, Opfer zu bringen und bekräftigten so gleichzeitig ihre Bindung an die ganze nationalsozialistische Volksgemeinschaft.160 Die Kranzspende für das Grab der Mutter von Otto A., die er selbst und Aschoff als Akt der Kameradschaft bezeichneten, stabilisierte die Besatzung nach innen, indem sie »alltagsmoralische Tugenden der Fürsorge und Selbstlosigkeit«161 zur Maxime erhob. Durch sein Engagement für die ganze Besatzung und besonders für das Wohl von Otto A. legte Kapitän Aschoff dabei genau die Art von Kameradschaftlichkeit zwischen oben und unten an den Tag, die Thomas Kühne zufolge im Nationalsozialismus »als umfassendes soziales Schmiermittel«162 fungierte. Ein kameradschaftlicher Führer wie Aschoff »lebte in der Welt seiner Mannschaft«163 und identifizierte sich deshalb wie selbstverständlich mit den Sorgen und Nöten einzelner Besatzungsmitglieder. Zwar verlief häufig eine Trennlinie horizontal durch die Besatzung, die die Offiziere von den übrigen Seeleuten des eigenen Schiffes separierte bzw. sie zu einer

157 Schreiben Kapitän Karl Aschoff an die Tante des Besatzungsmitglieds Otto A., 11. Juli 1942. ACICR, G 17/29. 158 Schreiben Otto A. an seine Tante, 15. Juli 1942. ACICR, G 17/29. 159 Schreiben Kapitän Karl Aschoff an die Tante des Besatzungsmitglieds Otto A., 11. Juli 1942. ACICR, G 17/29. 160 Spendenbereitschaft war ein wichtiger Teil des nationalsozialistischen Verständnisses von Kameradschaftlichkeit innerhalb der Volksgemeinschaft, wie Thomas Kühne am Beispiel der Spenden für das Winterhilfswerk zeigt: T. Kühne: Kameradschaft, S. 98. 161 Ebd., S. 100. 162 Ebd., S. 103. 163 Ebd.

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schiffsübergreifenden Gemeinschaft zusammenschloss. Doch auch wenn viele Offiziere, wie etwa Rudolf Becker, um Distinktion bemüht waren und die Auffassung von der Schiffsbesatzung als unverbrüchliche Gemeinschaft mitnichten immer teilten, wirkte die Idee der Kameradschaft in die Internierung hinein und konnte dort Gruppen wie die Schiffsbesatzung nach innen stabilisieren. Ebenso aber wurde sie in diesem Rahmen auch immer wieder aufs Neue durch konkrete Handlungen hervorgebracht und stärkte die Bindung der Internierten an die übrige Volksgemeinschaft. Diese Art von (Volks-)Kameradschaft »stiftete Zusammenhalt« und stärkte implizit »die Grenzziehung nach außen«.164 Hier überschneidet sich das Konzept der Kameradschaft mit der Idee der imagined community von Benedict Anderson; die Nation ist ihm zufolge »conceived as a deep, horizontal comradeship«165 und wird ebenfalls als klar umgrenzt imaginiert. Das ideologische Konstrukt der Kameradschaft ließ sich in der Seefahrt besonders gut verankern. Das populäre Bild vom Seemann als »Gruppenwesen«166 sowie die Ideale der »Schiffsfamilie«167 und der Bordgemeinschaft boten der nationalsozialistischen Propaganda zahlreiche Anknüpfungspunkte.168 Schließlich sei, so Thomas Siemon, »kaum ein Ort vorstellbar, an dem die sozialintegrativen Gemeinschaftskonzepte ähnlich wirksam werden konnten«169 wie auf einem Schiff. In diesem Ideologiegebäude repräsentierte die Bordgemeinschaft die übergeordnete Betriebsgemeinschaft, wie Siemon am Beispiel des Norddeutschen Lloyd überzeugend herausgearbeitet hat.170 Auch in der Internierung wurde sie durch die Korrespondenz vieler Seeleute, vor allem vieler Offiziere und Kapitäne, mit ihrer Reederei aufrechterhalten. An diesen Mitteilungen wird deutlich, wie sehr die Seeleute sich, ganz im Sinne der Verquickung von Betriebspolitik und NS-Propaganda, als »Gefolgschaft«171 begriffen. Doch diese Briefe fungierten nicht nur als Vergewisserung der eigenen Bindung an den Arbeitgeber, sondern etablierten auch eine Beziehung zur übergeordneten community der deutschen Seefahrt, die stabilisierend wirken konnte. So schrieb Aschoff an seine Reederei:

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Ebd., S. 120. B. Anderson: Imagined Communities, S. 7. T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 197-198. T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 195-216. Die Bordgemeinschaft im nationalsozialistischen Geiste. In: Jahrbuch der AuslandsOrganisation der NSDAP für die Seeschiffahrt 2 (1941), S. 57-68; Iba, Hans: Von der »roten Zelle« zur nationalsozialistischen Bordgemeinschaft. Ein Kampf um die Seele des deutschen Seemannes. In: Jahrbuch der NSDAP Auslandsorganisation 4 (1942), S. 85106; Wegener, Alexander: Das Gesicht des deutschen Seemannes. In: Jahrbuch der Auslands-Organisation der NSDAP für die Seeschiffahrt 2 (1941), S. 17-27. Kritisch hierzu u.a.: Geffken, Rolf: Jammer & Wind. Eine alternative Geschichte der deutschen Seeschiffahrt vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hamburg 1985, S. 46-50; P. Kuckuk: Seefahrt unter dem »Hungerhaken«, S. 109. 169 T. Siemon: Ausbüxen, Vorwärtskommen, Pflicht erfüllen, S. 258. 170 Ebd., S. 216-221. 171 Zum Begriff der Gefolgschaft vgl. ebd., S. 257.

426 | G EFANGEN IN K ANADA »In der Hoffnung dass wir unsere Fahrten recht bald wieder aufnehmen koennen danken wir herzlichst fuer alles Gedenken der Hapag und gruessen alle Arbeitskameraden daheim und draussen in inniger Verbundenheit. Kapitaen & Gefolgschaft M.S. ›Hermonthis‹«172

Die wiederholten Verweise auf Hilfeleistungen der Reedereien in den Schreiben vieler Kapitäne beleuchten noch einen weiteren Aspekt dieser Kommunikationsakte. Die Beziehungen zwischen den internierten Schiffsbesatzungen und ihren Arbeitgebern lassen sich als »zweckfunktionale und nicht selten hochideologisierte Allianzen kollektiven Eigennutzes«173 auffassen, die Habbo Knoch als NS-spezifische Verformung der »solidarischen Gemeinschaftsbeziehungen«174 interpretiert, die durch das nationalsozialistische Konstrukt der ›Volksgemeinschaft‹ zerstört worden waren. Das Beispiel der HERMONTHIS zeigt zudem, wie in der Lagergesellschaft neben den offiziellen hierarchischen Strukturen aus dem gewählten spokesman und seinen Mitarbeitern noch weitere Hierarchisierungen bestanden, die jeweils an bestimmte Formen und Vorstellungen von Vergemeinschaftung gebunden waren. Narrative Konstruktionen von Kameradschaft Solidarität und ›Kameradschaft‹ innerhalb eines seemännischen Netzwerks bilden eine Kernkategorie in der retrospektiven Darstellung des Berufsstandes und einen zentralen Teil des Selbstverständnisses meiner Gesprächspartner. Die Selbstzuschreibung von Kameradschaftlichkeit wird oft anhand von Geschichten vorgenommen, in deren Zentrum Verhaltensweisen stehen, die in idealtypischer Weise veranschaulichen, was nach Meinung der Erzähler einen spezifisch seemännischen Zusammenhalt ausmacht. In diesen Darstellungen manifestiert sich die seemännische Gruppensolidarität unter anderem darin, dass Konflikte intern geregelt werden, ohne Dritte zu involvieren. Denunziantentum liegt dem ›echten‹ Seemann fern, wie Hans Plähn im Interview durch eine Geschichte aus der Zeit vor der Gefangenschaft unterstrich: Er hatte sich unerlaubt vom Schiff entfernt, die Arbeit versäumt und sich erst am nächsten Tag wieder an Bord gemeldet – in Kriegszeiten ein noch schwereres Vergehen als sonst. Im Interview inszenierte Plähn die darauffolgende Begegnung mit dem Kapitän durch wörtliche Rede und begleitende Gestik: »na wo war jes? [laut; plattdeutsch für: »Wo warst du?«; JK] (Sohn: hm) und [unverständlich] war an land. ja wie er war an land? schwaps, rums [unverständlich] nie wieder (Sohn: ja, ja) (JK: hm) sieh, und das war seine strafe, nich (Sohn: ja, das [unverständlich] gemacht) schön, nich? der andere hätte einen gleich vor’n kriegsgericht (beide anderen: ja) nich, aber DER, nich

172 Brief des Kapitäns Karl Aschoff an die Reederei HAPAG, 18. Februar 1942. LAC, RG 24, 6583, File 3-3-6, Vol. 4. 173 Knoch, Habbo: Gemeinschaften im Nationalsozialismus vor Ort. In: Reeken, Dietmar von/ Thießen, Malte (Hg.): ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NSGesellschaft vor Ort. Paderborn 2013, S. 37-63, hier S. 50. 174 Ebd.

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der war noch richtig noch so’n (.) echten seemann (Sohn: ja), ein manöver und so, nich (beide anderen: hm), nich.«175

Durch die lautmalerische und gestische Reinszenierung einer saftigen Ohrfeige führte Plähn seinem Sohn und mir vor, wie ein ›echter‹ Seemann Fehlverhalten sanktioniert.176 Die Möglichkeit einer militärstrafrechtlichen Ahndung steht in seiner Erzählung als bedrohliche Alternative im Raum, bleibt jedoch im Konjunktiv. Einerseits spiegelt sich in dieser Situation das von Timo Heimerdinger herausgearbeitete Darstellungsmuster »von Seefahrt als einer zugleich kameradschaftlich wie hierarchisch organisierten Männergemeinschaft, die durch die Enge des Bordlebens und die Erfahrung des aufeinander Angewiesenseins gekennzeichnet ist«.177 Andererseits lässt sich die im Interview re-inszenierte Ohrfeige auch als eine Realisierung von Kameradschaftlichkeit lesen, die Thomas Kühne zufolge typisch für militärisch-hierarchisch geprägte Strukturen der NS-Zeit ist. Das paternalistische Decken von Fehltritten durch den Vorgesetzten schweißte zusammen und stärkte die Abgrenzung nach außen.178 Dass sie im Interview so plastisch präsentiert wird, zeigt die Wirkmächtigkeit des Konstrukts »Kameradschaft« für die retrospektive Thematisierung von Internierung, aber auch die Herstellung von Kameradschaft im Erzählen anhand exemplarischer Interaktionssituationen. Hilfsbereitschaft ist ein wichtiger Teil eines seemännisch-kameradschaftlichen Verhaltenskodex. So waren etwa in Hans Peter Jürgens’ Darstellung der Nachkriegszeit in Cuxhaven »alle institutionen der engländer […] praktisch von seeleuten besetzt (hm), nich. WOHnungsämter, nich, also die=die beHÖRden, die ENGlischen verwaltungsbehörden, da saß immer irgendwie ein älterer kap’tän oder sonst was«179. Wie Jürgens weiter erläutert, liegt es auch an der »seeleute- mannslobby«, dass Seeleute nach dem Krieg in der öffentlichen Verwaltung seiner Heimatstadt so präsent waren, denn »einer holte den anderen da ((räuspert sich)) (hm), nich und sch=schoben sich in=in die entsprechenden positionen (hm) und berufe«.180 Jürgens kennzeichnet diesen Fall nicht als Ausnahme, sondern als Regel. Auch in den schriftlichen Erinnerungen an die Internierung tauchen typische Motive kameradschaftlichen Verhaltens auf und werden an die Seeleute als Träger rückgebunden. So schildert Harald Wentzel, wie er »ein paar Getreue zusammen«181 rief, nachdem sein Vater ihm als Hühnersuppe getarnte Konservendosen mit Rum nach Kanada geschickt hatte: »Dann oeffneten wir gemeinsam die erste Dose«.182 Dieses Motiv des Teilens und vor allem des gemeinschaftlichen Alkoholkonsums interpre-

175 Interview Hans Plähn, Z. 1022-1028. 176 Hier zeigt sich die Bedeutung von Theatralität bzw. theatralischer Verkörperung im Interview. Vgl. T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 22-39, zu Verkörperung bes. S. 36-38. 177 Ebd., S. 329. 178 T. Kühne: Kameradschaft, S. 120. 179 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1536-1539. 180 Ebd., Z. 1528-1529. 181 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 33, Z. 55. 182 Ebd., Z. 56.

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tiert Thomas Kühne als Element der sozialen Praxis kameradschaftlicher Bindung.183 Er versteht sie als »Set an Alltagsritualen, die Kameradschaft erzeugten«.184 Durch die Integration solcher Episoden in Interviews und autobiografische Texte wird diese Vergemeinschaftungserfahrung auf der Textebene aktualisiert. Sie besitzt dabei immer auch einen Aspekt der Exklusion. So berichtete Hans Peter Jürgens, »dass (1) WIR doch relativ zusammen hielten, die=die besatzung von der priwall (hm). wir waren alle in der gleichen AUSgangsposition zur SEE gegangen, wollten alle kap’tän werden (hm) und kamen nun in gefangenschaft und äh KANNten uns nun schon ZWEI jahre, nich die wir da in chile gesessen hatten (hm), wir kannten alle die eigenheiten, die=die jeder mitbrachte in diese (hm) in DIEse gemeinschaft und insofern äh ist es doch ein sonderclub gewesen (ja) in gewisser beziehung, nich.«185

Hier ist die Wir-Gruppe deckungsgleich mit der ehemaligen Schiffsbesatzung, die vom Erzähler in ihrer ambivalenten Funktion als »Sonderclub« kommentiert wird: Was für dessen Mitglieder ein egalitäres Inklusionserlebnis ermöglichte, war für Außenstehende ein elitärer, hermetisch abgeschlossener Zirkel. Dementsprechend lässt sich in den vorliegenden Beispielen die sprachliche Konstruktion von Geschlossenheit innerhalb der seemännischen Gemeinschaft durch das ›wir‹ als Thematisierungsregel ausmachen.186 Die narrative Funktion dieser Passage besteht in der Positionierung des Erzählers als Teil dieser exklusiven Gemeinschaft. Habbo Knoch unterstreicht in seinen Überlegungen zu Gemeinschaften im Nationalsozialismus, dass es »den Nachkriegserinnerungen vorbehalten [war], andere Konnotationen von ›Gemeinschaft‹ gegenüber den rassistisch, autoritär oder interessenfunktional aufgeladenen Bedeutungen von Gemeinschaft zu aktivieren und Gemeinschaft als solidarischen, kameradschaftlichen oder egalitären Verbund zu betonen«187. Dies zeigt sich in den Interviews mit ehemaligen Internierten sehr deutlich: Die Bindungskraft der Seeleute untereinander wird weitgehend von konkreten Kategorien der In- und Exklusion befreit und stattdessen durch essenzialisierende Zuschreibungen narrativ hergestellt, die durch exemplarische Situationen untermauert werden.188 Die Funktion des Erzählens im Interview besteht möglicherweise auch darin, etwas festzuschreiben, das nur flüchtig erlebt werden konnte, wie Thomas Kühne hervorhebt: »Auf Dauer gestellt wurde die absolute Kameradschaft erst durch die Erinnerung. Ansonsten war sie eine Sache des Augenblicks.«189

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T. Kühne: Kameradschaft, S. 160-161. Ebd., S. 161. Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1434-1441. Zu Thematisierungsregeln siehe J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 557-566. H. Knoch: Gemeinschaften im Nationalsozialismus vor Ort, S. 48-49. Ebd., S. 49. T. Kühne: Kameradschaft, S. 149.

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Internierung als Raum seemännischer Identitätsarbeit Welche Rolle das Bewusstsein, nach wie vor Teil einer durch den Berufsstand verbundenen community zu sein, für die Organisation des Alltags spielte, kommt unter anderem in der Gründung von Seefahrtsschulen in den Lagern zum Ausdruck. Der Unterricht war auf die spezifischen Ausbildungsgänge deutscher Seefahrtsschulen hin zugeschnitten. Vorbildung, Kenntnisstand und angestrebter Abschluss bestimmten, wer welchen Kurs belegen konnte. Sowohl für nautische als auch für technische Berufe gab es vielfältige Unterrichtsangebote, die sich nach der damals üblichen Nomenklatur ausdifferenzierten; im technischen Zweig wurden vor allem Kurse für die Patente C3 bis C6 abgehalten, im nautischen Bereich für die Patente A5 und A6. Daneben gab es fast überall ein großes Angebot an Sprachkursen sowie vereinzelt weitere berufsbildende Kurse.190 Laut einer Umfrage des Deutschen Roten Kreuzes aus dem Jahr 1942 hatten in Camp Farnham bis zu diesem Zeitpunkt bereits Vorbereitungskurse für die Patente C3 (Seemaschinist II), C4 (Seemaschinist) und C5 (Schiffsingenieur II) sowie ein Sonderkurs zur Motorenkunde stattgefunden. Alle diese Kurse umfassten mehrere Fächer, im Fall des C5-Kurses beispielsweise Maschinenkunde, Motorenkunde, Wärmelehre, Mathematik, Mechanik, Elektrotechnik, Deutsch, Gesetzeskunde, Zeichnen, Stoffkunde und Schiffbau.191 In anderen Lagern war das Angebot noch größer. In Kananaskis etwa wurde der A5-Lehrgang (I. Offizier) parallel auf drei Kursniveaus unterrichtet, dazu gab es einen A6-Kurs (Kapitänspatent), technische Kurse für die Patente C3, C5 und C6 (Schiffsingenieur) sowie eine Funkerausbildung. In Monteith nahmen im September 1944 insgesamt 177 Seeleute an Kursen für Schiffsoffiziere teil und 148 Seeleute an Kursen für Schiffsingenieure und Seemaschinisten.192 Als Lehrende fungierten – ganz im Sinne kameradschaftlichen Engagements – Schiffsoffiziere und Ingenieure.193 Die Kurse orientierten sich an den Lehrplänen und Prüfungsbestimmungen der Reichsseefahrtsschule in Bremen.194 Dort sollten sich die Internierten nach dem Krieg mit dem Zeugnis aus dem Lager ihre Leistungen anerkennen lassen können (vgl. Abbildung 37).

190 Die Durchführung des Unterrichts unterlag in manchen Feldern gewissen Einschränkungen. So war etwa der Umgang mit Chemikalien durch den Aufenthaltsstaat reglementiert. 191 Übersicht über im Lager [Farnham] vorhandene Ingenieure und technisch Interessierte, 6. Juli 1942. ACICR, G 17/29. 192 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls Oertly und des Vizekonsuls Somm in Monteith (Q/23) am 14. und 15. September 1944. PA AA, R 127.951. 193 Das geht aus verschiedenen diesbezüglichen Aufstellungen hervor, etwa aus der Anlage zum Bericht des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Kananaskis (K/130) am 23. Januar 1943. ACICR, C SC, Canada. 194 Bericht des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Kananaskis (K/130) am 23. Januar 1943. ACICR, C SC, Canada.

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Abbildung 37: Zeugnis von Rudolf Lell aus dem Lager Monteith, 1945

Aufgeführt sind die Noten aus dem Schuljahr 1944/45. Der Beglaubigungsstempel am unteren Bildrand zeigt, dass diese Zeugnisse für ihre Inhaber noch weit nach dem Krieg bedeutsam sein konnten, etwa im Zusammenhang mit der Berechnung von Rentenansprüchen aufgrund von Ausbildungszeiten. Quelle: Nachlass Rudolf Lell.

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In einem Schreiben an die Unterweser-Reederei aus dem Sommer 1942 betonte der Vertrauensmann des Lagers Farnham, Kapitän Kurt Krieger, dass die Kurse »von unserem Nachwuchs mit großem Eifer besucht werden«195. Angesichts des Mangels an Fachbüchern bat Krieger bei der Reederei um Unterstützung, indem er unterstrich, wie lohnenswert dieses Engagement sei: »Diese Spende würde der Ausbildung unseres Nachwuchses dienen und käme damit letzten Endes nicht nur wieder den Spendern sondern unserer Seefahrt zugute. Weiter bitte ich, mir durch die Seefahrtsschulen und technischen Lehranstalten eingehende Lehrpläne aller Kurse und Fächer für alle Befähigungszeugnisse, auch für Fischdampfer, zukommen zu lassen, damit wir unsere Lehrgänge hier so weit wie möglich denen der Schulen anpassen können.«196

Die auch im übrigen Text von Kriegers Brief wiederholte Betonung »unseres Nachwuchses« zeigt, welch hohen Stellenwert für ihn die Tradierung seemännischen Wissens im Rahmen der Seefahrtsschulen im Lager besaß. Dabei scheint Krieger nicht nur auf den seemännischen Nachwuchs seiner eigenen Reederei abzuzielen, sondern auf die gesamte deutsche Seefahrt. Hier wird erneut die imagined community der deutschen Seefahrt in ihrer Relevanz für die Gestaltung des Lageralltags greifbar. Denn durch die Teilnahme an solchen Kursen konnten junge Seeleute auch ihre berufliche Identität profilieren oder überhaupt erst entwickeln. Sie wurden in gruppenspezifische Wissensbestände, Fachsprache und Verhaltensnormen eingeführt, und obwohl sie ihren Beruf während der Internierung nicht ausüben konnten, erfuhren sie im Rahmen dieses Unterrichts eine Professionalisierung und dadurch auch eine nachhaltige Konsolidierung ihrer berufsspezifischen Identität. Über die konkrete berufsqualifizierende Funktion dieser Unterrichtsangebote hinaus sind Lager-Seefahrtsschulen deshalb auch als Labor seemännischer Identitätsarbeit zu begreifen. Doch nicht nur die Seeleute selbst bildeten Akteure maritimer Identitätskonstruktion. Elemente und Versatzstücke einer ›maritimen‹ Identität wurden auch von den humanitären Helfern bereitwillig aufgegriffen und im Rahmen strategischer Sprechakte eingesetzt. Am Beispiel der Ernährung lässt sich zeigen, wie die internierten Seeleute aus ihrem Beruf den Anspruch auf einen Sonderstatus ableiteten und dadurch zugleich eine seemännische Identität konstruierten. Die dabei verwendeten Argumente und Positionierungen wurden von den Vertretern der Hilfsorganisationen in ihre eigenen Stellungnahmen integriert. So bezogen die Gefangenen im Lager Mimico zusätzliche Milchrationen, was der CICR-Delegierte Ernest L. Maag bereits in seinem Besuchsbericht vom Oktober 1941 ausführlich dargelegt hatte und in einer Stellungnahme gegenüber der Schutzmacht aus dem Jahr 1942 folgendermaßen begründete: »I have heard from various medical officers that the seamen require these vitamins particularly because their diet on board ship usually is deficient of these, and while in camp here this gives them a fair chance to build up their health. […] During the winter months, when there is little

195 Schreiben des Vertrauensmannes Kurt Krieger, Camp Farnham (A/40) an die UnterweserReederei in Bremen, 4. Juni 1942. PA AA, R 127.957. 196 Ebd.

432 | G EFANGEN IN K ANADA demand for refreshing drinks between meals, these seamen have been in the habit of drawing additional whole milk rations to allow them to dispense a hot cup of coffee between meals, which is a little comfort to which, I am sure, they are welcome and which again helps to augment the vitamin supply of which they are deficient, due to their peacetime occupation.«197

Die seemännische Berufstätigkeit und die damit zusammenhängende Gefahr von Mangelernährung auch in Friedenszeiten werden hier als Argument dafür angeführt, den Seeleuten eine zusätzliche Vitaminversorgung in Form von Milch oder, im Sommer, Buttermilch zukommen zu lassen. Abgesehen davon, dass viele Seeleute zu diesem Zeitpunkt bereits länger als ein Jahr in Gefangenschaft waren und in den kanadischen Lagern ausgewogene Kost zu sich nahmen,198 war Mangelernährung auf deutschen Handelsschiffen der späten 1930er Jahre kaum noch ein Thema. Schwerwiegende Avitaminosen wie Beriberi und Skorbut waren vor allem auf den Frachtseglern des 15. bis 19. Jahrhunderts vorgekommen und ließen sich durch moderne Kühltechnik an Bord der Schiffe seit der Zwischenkriegszeit weitgehend vermeiden.199 Es ist also eher unwahrscheinlich, dass der Wunsch nach einer zusätzlichen Milchration auf eine tatsächliche Mangelernährung zurückging. Wahrscheinlicher ist, dass populäre Vorstellungen über die entbehrungsreiche Lebenswirklichkeit von Seeleuten eingesetzt wurden, um eine Besserstellung zu erreichen, dass es sich hier also um durch Maag als cultural broker vermitteltes strategisches Sprechen mittels Zuschreibungen handelt. Kanadische Seemannslager als Außenposten nationalsozialistischer Volksgemeinschaft Während der Zusammenhalt innerhalb der seemännischen Berufsgruppe durch die Zugehörigkeit der Seeleute zu unterschiedlichen Reedereien eher dezentral war, wirkte die Kategorie der Nationalität auf eine sehr viel umfassendere Art und Weise in den Alltag der Internierten hinein. Wie daraus Positionierungszwänge entstehen konnten, lässt sich am Beispiel der Taschengeldauszahlung an die internierten Seeleute nachvollziehen. Denn mit der Unterzeichnung der Quittungsliste für den Taschengeldempfang unterschrieben die Seeleute gleichzeitig folgenden Passus: »Durch meine Unterschrift bestaetige ich, dass ich den Voraussetzungen entspreche, die die Deutsche Regierung an die Gewaehrung der Taschengeld-Spende geknuepft hat, d.h. dass ich dem Reiche die Treue halte und unterstuetzungsbeduerftig bin.«200 Taschen-

197 Auszug aus Schreiben des Schweizerischen Generalkonsuls an das Department of External Affairs, enthält das Schreiben Maags, 1942. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-22. 198 Dies geht aus den Wochen-Speiseplänen hervor, die im Rahmen der Lagerbesuche durch Hilfsorganisationen dokumentiert wurden. 199 Zu Avitaminosen auf Frachtschiffen der großen Fahrt siehe Volbehr, Klaus: Gesundheit an Bord. Kleine Geschichte der Hygiene und Arzneimittelversorgung auf Schiffen. Bearbeitet und herausgegeben von Klaus-Peter Kiedel. Hamburg/Bremerhaven 21987, S. 69-75. 200 PA AA, R 146.449. Die Quittungslisten sind nach Schiffen sortiert und innerhalb der Schiffsbesatzung alphabetisch geordnet. Internierte, die sich zum fraglichen Zeitpunkt

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geld bekamen nur diejenigen Internierten, die sich weiterhin zur nationalsozialistischen Regierung bekannten. Wurde den deutschen Behörden Gegenteiliges bekannt, so stellten sie die Zahlungen ein, wie im Fall zweier Besatzungsmitglieder des D. BALDUR: Nachdem ein vorzeitig repatriierter deutscher Kapitän seiner Reederei, der Seereederei Frigga aus Hamburg, mitgeteilt hatte, dass zwei Seeleute des D. BALDUR in Kanada »sich von der nationalsozialistischen Regierung losgesagt haben und nichts mehr mit Deutschland zu tun haben wollen«,201 strich die Reederei die beiden Männer von der Empfängerliste der Taschengeldspende.202 Gerade Kapitäne nutzten die ihnen zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume und Kommunikationswege für Denunziationen. So enthielten die Berichte mancher Kapitäne an ihre Reedereien Namen von ›abtrünnigen‹ Seeleuten, die von den Firmen in vorauseilendem Gehorsam an das Auswärtige Amt weitergeleitet wurden. So veranlasste etwa die Unterweser-Reederei im Mai 1943, die Zahlungen für einen Überarbeiter einzustellen, der mit der Besatzung der GONZENHEIM in Gefangenschaft geraten war und sich dort von Deutschland losgesagt hatte.203 Im Zusammenhang mit Denunziationen in Deutschland begreift Inge Marszolek Exklusion als »ein der ›Volksgemeinschaft‹ inhärentes Angebot«,204 das durch Denunziationen durchgesetzt werden konnte. Die denunziatorische Praxis ist Marszolek zufolge hier »Teil jener kommunikativen Figurationen, in denen sich die ›Volksgemeinschaft‹ immer wieder neu produzierte«205. Die beiden Beispiele führen vor Augen, wie »Denunziationen […] das Ausgrenzungsdenken in die konkrete, alltägliche Lebenspraxis«206 transportierten und dabei auch in die Contact Zone der Internierung gelangten.

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nicht im Lager befanden oder aus anderen Gründen die Sammelliste nicht unterzeichnen konnten, unterschrieben Einzelquittungen, die dann nachgereicht wurden. Schreiben der Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt an das Auswärtige Amt, 19. September 1944. PA AA, R 127.895. In dem Schreiben wird weiterhin ausgeführt, dass die beiden Seeleute nun von den Kanadiern »in ein Gefängnis gesperrt« worden seien und »zu schweren Arbeiten gezwungen« würden. Dies ist als NS-Propaganda einzustufen. Statt in ein »Gefängnis« wurden die Betroffenen in solchen Fällen in sogenannte »protective custody« verbracht, wo sie vor Vergeltungsakten der übrigen Lagerinsassen geschützt waren. Zwangsarbeit gab es in Kanada nicht, egal zu welcher politischen Überzeugung die Gefangenen sich bekannten. Ebd. Schreiben der Unterweser-Reederei an das Auswärtige Amt, 24. Mai 1943. PA AA, R 127.957. Marszolek, Inge: Verhandlungssache: Die ›Volksgemeinschaft‹ – eine kommunikative Figuration. In: Reeken, Dietmar von/Thießen, Malte (Hg.): ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013, S. 65-77, hier S. 76. Zum Verhältnis von Volksgemeinschaft und Ausgrenzung siehe auch Wildt, Michael: ›Volksgemeinschaft‹ – eine Zwischenbilanz. In: Reeken, Dietmar von/Thießen, Malte (Hg.): ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort. Paderborn 2013, S. 355-369, hier S. 362. I. Marszolek: Verhandlungssache, S. 77. H. Knoch: Gemeinschaften im Nationalsozialismus vor Ort, S. 48.

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Der Begriff der ›Reichstreue‹, der im Zusammenhang mit den Taschengeldzahlungen zentral war, hatte bei den Internierten von Anfang an für Verunsicherung gesorgt. So erkundigte sich der Vertrauensmann des Lagers Fredericton, J.R. Brendel, bereits im Sommer 1941 brieflich beim Schweizer Konsul, was damit eigentlich gemeint sei. Vor allem interessierte ihn: »What prove [sic] could be asked to call an applicant ›reichstreu‹ and are there any leads or definition given on this matter by your Government?«207 Unabhängig davon, welche Kriterien man für die Bewertung der Reichstreue eines Internierten heranzog, war damit jeder Einzelne angesprochen und gezwungen, sich entweder zu Deutschland zu bekennen oder sich davon loszusagen, sich also in jedem Fall zu positionieren. Bekräftigte ein Internierter seine Reichstreue durch seine Unterschrift, so ließ er sich zugleich unter eine politisch eindeutig definierte nationale Identität subsumieren. Die Taschengeldzahlungen fungierten damit als Mittel, durch das Zugehörigkeit und Inklusion verhandelt und Exklusion durchgesetzt werden konnte, sofern sich jemand diesem Bekenntnis verweigerte. Der Fall der beiden Besatzungsmitglieder der BALDUR zeigt also auch, wie prekär die Zugehörigkeit der Internierten in dieser Hinsicht war: Selbst ein noch so kameradschaftlicher Kapitän konnte in finanzieller Hinsicht nichts mehr für ein Besatzungsmitglied tun, das sich selbst nicht mehr als reichstreu bezeichnete. Abgesehen von solchen Positionierungszwängen gab es während der Internierung zahlreiche Möglichkeiten für die Seeleute, ihre Identifikation mit Nazi-Deutschland freiwillig zu bekunden. So konnten die Internierten seit 1943 im Lager Sportprüfungen absolvieren und sich die Leistungen auf das Reichssportabzeichen anrechnen lassen.208 Nicht zuletzt durch die hierfür vorgeschriebene Überprüfung der »Deutschblütigkeit des Bewerbers«209 war die streng reglementierte Leibesertüchtigung weitaus mehr als eine rein sportliche Angelegenheit. Denn die in Aussicht gestellte Gratifikation bestand nicht nur in dem Abzeichen, sondern mindestens ebenso sehr in der Bekräftigung der Teilhabe an der leistungsbetonten nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.210 Dies lässt sich jedoch nicht nur als Vertiefung der nationalen Bindung und Bestätigung des eigenen Deutschseins gegenüber sich selbst und den Mitgefangenen verstehen, sondern auch als gezielte Demonstration nationalen Selbstbewusstseins gegenüber den Bewachern. Die Historikerin Laura Hannemann versteht solche »Demonstrationen nationalsozialistischer Verbundenheit als Teil eines natürlichen Schul-

207 Schreiben des Vertrauensmannes aus Camp Fredericton (B/70) an den Schweizer Konsul vom 22. August 1941. LAC, RG 24, 11247, File 9-1-3-70. 208 Schreiben des Auswärtigen Amtes an die Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt, 14. Mai 1943. PA AA, R 127.957. Das Reichssportabzeichen war 1934 aus dem Deutschen Turnund Sportabzeichen hervorgegangen und wurde seit 1937 durch das Reichssportamt verliehen. Näheres bei Bernett, Hajo: Der Weg des Sports in die nationalsozialistische Diktatur. Die Entstehung des Deutschen (Nationalsozialistischen) Reichsbundes für Leibesübungen (Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport, 87). Schorndorf 1983, S. 90. 209 Schreiben des Auswärtigen Amtes an die Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt, 14. Mai 1943. PA AA, R 127.957. 210 Zum Zusammenhang zwischen Sportwettbewerben, dem Leistungsgedanken und der Konstruktion von Volksgemeinschaft siehe H. Knoch: Gemeinschaften im Nationalsozialismus vor Ort.

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terschlusses gegen die Gewahrsamsmacht«211 und sieht sie in einem der Internierung inhärenten »Unterlegenheitsgefühl«212 der Gefangenen begründet. Getreu dem Ziel der NS-Propaganda, »den einzelnen Seemann zu einem würdigen Vertreter und Repräsentanten unseres Volkes«213 zu erziehen, hatte dieser zudem »draußen im Ausland nicht zuerst Heizer oder Matrose, sondern […] vor allem ein Deutscher«214 zu sein. Diese Propaganda reichte in vielen Fällen bis ins Lager hinein: Eigens für die internierten Seeleute wurde aus Deutschland über Kurzwelle die Rundfunksendung »Blinkfeuer Heimat« gesendet, die vor allem dazu diente, Grußbotschaften der Familien an die Gefangenen zu übermitteln: »Die Angehörigen können […] etwa alle 2-3 Monate die Durchgabe eines Grusses beantragen. Die Grüsse werden dann auf Formblättern, die seitens der Auslands-Organisation der NSDAP. zur Verfügung gestellt werden, aufgenommen und durch den Sprecher verlesen.«215 Gemäß ihrer propagandistischen Funktion gemahnte beispielsweise die Weihnachtssendung 1944 eindringlich daran, dass auch diese Weihnacht »unter dem unerbittlichen Gesetz des Krieges« stehe, »der Opfer um Opfer von uns allen fordert«.216 Die propagandistische Nutzung des Weihnachtsfestes durch den NS-Staat und die geschickte Verquickung der ideologischen Botschaft mit moralischer Unterstützung zeigt sich auch an den Weihnachtskarten der deutschen Regierung, die über das CICR an die Internierten gelangten.217 Dass diese Propaganda ihre Wirkung nicht gänzlich verfehlt hatte, lässt sich auch am Gebrauch nationalsozialistischer Symboliken und Benennungen in der Internierung ablesen. Entsprechend dem NS-Führerkult kreisten auch die Bekundungen des Deutschseins in den kanadischen Lagern stark um die Person Adolf Hitlers. So lässt sich belegen, dass vielerorts alljährlich bis zur deutschen Kapitulation Hitlers Geburtstag gefeiert wurde.218 Ob die Arbeit für diesen Tag ausgesetzt werden durfte und der

211 L. Hannemann: Gesandte in Fesseln, S. 184. 212 Ebd. 213 Mittel, Franz: Der Seemann als Repräsentant des Volkes. In: Jahrbuch der NSDAP Auslandsorganisation 4 (1942), S. 22-33, hier S. 32. 214 Ebd. Die Idee, dass der deutsche Seemann im Ausland sein Land repräsentieren solle, ist keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern lässt sich bereits für die Kolonialzeit belegen. Vgl. T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 158-160. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich dabei um eine Kontinuitätslinie handelt; die Konzeptualisierung des Seemannes im Nationalsozialismus unterschied sich in vielen Aspekten von der des Kaiserreichs. 215 Mitteilung im Rundschreiben der Hamburg-Amerika-Linie (undatiert). PA AA, R 127.967. 216 Wort- und Musikdokumentation zur Sendung »Blinkfeuer Heimat«. Weihnachtssendung des Deutschen Kurzwellen-Senders. Deutscher Kurzwellensender, 20. Dezember 1944. Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main. DRA 2874456. 217 Ein Muster einer solchen Karte, die im Jahr 1941 die Weihnachtswünsche Görings überbrachte, findet sich in LAC, RG 24, 6583, File 3-3-5, Vol. 5. Auf der Karte sind zwei nationalsozialistische Umarbeitungen bekannter Weihnachtslieder abgedruckt (Stille Nacht und O du Fröhliche). 218 Etwa für das Lager Mimico/New Toronto (M/22), LAC, RG 24, 15391. Für Petawawa (P/33): LAC, RG 24, 15396. Für Sherbrooke (S/42): RG 24, 15401. Für Monteith (Q/23): LAC, RG 24, 15393.

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20. April als richtiger Feiertag begangen werden konnte, hing von der Erlaubnis des jeweiligen kanadischen Lagerkommandanten ab. Ein Eintrag im Lagertagebuch von Petawawa dokumentiert, dass dieser Tag im Jahr 1943 dort tatsächlich arbeitsfrei war: »No P.O.W. working parties out today, permission having been granted the P.O.W. to observe their leader’s birthday. No special celebration except a concert put on by the Ps.O.W. in their own recreation hall.«219 In den beiden folgenden Jahren schien sich diese Praxis etabliert zu haben. Während in den frühen Kriegsjahren in den Lagertagebüchern ausführlich auf die Besonderheit des Tages eingegangen wurde, lautet der Eintrag vom 20. April 1945 in Sherbrooke nur noch lapidar: »PW holiday (Hitlers birthday)«.220 Die Internierten führten damit die FührerGeburtstagsfeiern fort, die in Deutschland seit 1933 einen immer höheren Stellenwert erlangt hatten.221 Sie lassen sich als Manifestationen nationalsozialistischer Volksgemeinschaft im Sinne Habbo Knochs begreifen, die den Raum des Lagers in einen nationalsozialistisch aufgeladenen Repräsentationsraum transformierten.222 In der (symbolischen) Kommunikation mit dem Personal des Aufenthaltsstaates demonstrierten Internierte regelmäßig ihre deutsche Nationalität in ihrer übersteigert nationalistisch-nationalsozialistischen Form. So war auch der ebenfalls im Zuge des Führerkults als »Standardformel«223 etablierte Hitlergruß in den Lagern verbreitet und offensichtlich selbst gegenüber kanadischen Wachen gängig: »In connection with marks of respect and the salute by prisoners of war and internees to Canadian camp officers and non-commissioned officers, the ›Heil Hitler‹ greeting by raising the right arm was commonly accepted as the official greeting in the camps after this had been agreed upon by Great Britain and the German Reich.«224 Als kommunikativer Code bildete der Hitlergruß ein Element der Figuration von Volksgemeinschaft.225 Gleichermaßen präsent war in den Internierungslagern das Hakenkreuz als nationalsozialistisches Leitsymbol. Auf Fotos ist es etwa als Bestandteil von Schnitzarbeiten der Internierten zu sehen.226 Auch die bereits angesprochene Bezeichnung »Kraft durch Freude« für die Lagerfarm in Monteith227 und das Veranstaltungspro-

219 War Diary Camp Petawawa (P/33), Folder 2, Vol. 43, 20. April 1943. LAC, RG 24, 15396. 220 War Diary Camp Sherbrooke (S/42), Folder 5, Vol. 55, 20. April 1945. RG 24, 15401. 221 Zur Rolle der Geburtstagsfeiern als Motor und Gradmesser des Personenkults um Hitler vgl. Kershaw, Ian: Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung. Stuttgart 1999, S. 77-80, 85, 94, 102, 173-174. 222 H. Knoch: Gemeinschaften im Nationalsozialismus vor Ort, S. 43. 223 I. Kershaw: Der Hitler-Mythos, S. 81. 224 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 23. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 225 Vgl. I. Marszolek: Verhandlungssache. 226 Canadian Army Photos aus dem Lager Sherbrooke, undatiert. PA AA, R 127.704. Auch in Abbildung 27 auf S. 345 ist ein Reichsadler mit Hakenkreuz zu erkennen. 227 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls John Oertly und des Vizekonsuls A.F. Somm in Monteith (Q/23) am 14. und 15. September 1944. PA AA, R 127.951. Vgl. auch Kapitel 5, S. 219 (Anm. 89).

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gramm in Sherbrooke228 ist als Repräsentation nationalsozialistischer Herrschaft und damit auch als Verweis auf die NS-Ideologie aufzufassen, die das Lager »zur kommunikativen Schnittstelle für Wertvorstellungen des Nationalsozialismus«229 machte. Solche Titulierungen dürfen jedoch nicht als Äußerungen eines Kollektivs missverstanden werden; vielmehr waren es in den meisten Fällen Einzelpersonen, die kraft ihrer Position als Vertrauensmann und der damit verbundenen Autorität einen hohen Konformitätsdruck erzeugen konnten. Das Lager bildete also nicht nur einen Repräsentationsraum im Sinne Knochs, sondern auch einen politisch besetzten Macht- und Interaktionsraum, in dem beispielsweise die Vertrauensleute die Einführung von Benennungen wie »KdF-Farm« durchsetzen konnten. In Sherbrooke scheint der Vertrauensmann, Kapitän Kurt Krieger, eine zentrale Rolle für diesen demonstrativen Umgang mit Nazi-Symbolen gespielt zu haben. Im Januar 1943 forderte er die Internierten auf, Hitlerbilder und Bekundungen nationalsozialistischer Siegesgewissheit über den Barackentüren anzubringen. Vom Lagerkommandanten wurde Krieger ob dieser Provokation in einem Bericht als »trouble maker of the meanest type«230 bezeichnet, bevor er seines Amtes enthoben wurde. Inwieweit einzelne Internierte durch solche Praktiken auch subjektiv empfundenem Patriotismus oder Nationalgefühl Ausdruck verliehen, muss offen bleiben. Doch zumindest punktuell lassen sich die Beweggründe für das Aufgreifen nationaler Symboliken durchaus nachverfolgen, vor allem dann, wenn solche Positionierungen aus strategischen Gründen vorgenommen wurden und mit konkreten Zielen verknüpft waren. So schrieb der Vertrauensmann im Lager Fort Henry, Heinrich Meyer, im Juli 1942 an den Schweizer Generalkonsul: »Seitdem Kaffee und Tee in Kanada rationiert worden ist, ist es uns nicht mehr möglich diese beiden Artikel durch unsere Kantine zu kaufen. Sie werden vielleicht wissen, dass Kaffee für uns Deutsche kein Luxus, sondern fast eine Notwendigkeit ist, und somit werden Sie es verstehen, dass dieses Verbot eine harte Tatsache für uns bedeutet. Mit Rücksicht darauf, dass wir in einem Fort untergebracht sind, ist es verständlich, dass bei den Leuten durch den dauernden Aufenthalt zwischen Mauern, die die von der Sonne ausgestrahlte Hitze kaum entweichen lassen, das Bedürfnis in verstärktem Maße besteht, sich durch ein Getränk zu erfrischen. Da man aber auch den Leuten nicht zumuten kann, ausser den Mahlzeiten den ganzen Tag Limonade oder Milch zu trinken, würde ich es als einen entgegenkommenden Schritt ansehen, wenn man uns besondere Erlaubnis erteilen würde, pro Mann und pro Woche ein halbes Pfund Kaffee

228 KdF-Veranstaltungen vom 14. Mai bis 8. August 1944. Liste aus dem Camp Sherbrooke (S/42), 8. August 1944. PA AA, Bern 4270. Vgl. auch Kapitel 5, S. 222. Das Label KdF verwendeten internierte Seeleute auch in anderen Aufenthaltsstaaten. Auf einem Foto aus der Sammlung eines in Jamaica internierten Seemannes sind etwa die Notenständer der Lagerkapelle einheitlich gestaltet und tragen einen KdF-Schriftzug. Foto aus dem Internierungslager Up Park Camp, Kingston, Jamaica. Sammlung Albert Peter, Fremantle. 229 H. Knoch: Gemeinschaften im Nationalsozialismus vor Ort, S. 43. 230 Zitiert nach M. Auger: Prisoners of the home front, S. 78.

438 | G EFANGEN IN K ANADA einkaufen zu dürfen. Ich bitte Sie höflichst, Herr Generalkonsul, sich dieser Bitte zu widmen und Sie an maßgebender Stelle zu unterstützen. […]«231

Zu Beginn seiner Argumentation stellt Meyer zunächst auf essenzialisierende Weise zwei Tatsachen in den Raum: Deutsche brauchen Kaffee – dies sei auch bei Schweizern allgemein anerkannt –, und es kann den konkreten Deutschen, um die es hier geht, nicht zugemutet werden, zur Erfrischung Milch oder Limonade zu sich nehmen. Er erhöht die Dringlichkeit seines Anliegens durch die Nennung der ungünstigen räumlichen Situation in der ehemaligen Festungsanlage Fort Henry. Damit lässt sich dieses Schreiben in eine ganze Reihe von Beschwerden über das Fort einreihen.232 Waren es jedoch in der Mehrzahl der Beschwerdebriefe die Kälte und Feuchtigkeit der Festungsmauern, die Anlass zu Klagen gaben, so ist es nun die von den Wänden gespeicherte Hitze, der man, Meyer zufolge, am besten mit einer guten Tasse Kaffee abhelfen kann. Ganz abgesehen davon, dass hier die Praxis der Beschwerde um ihrer selbst willen greifbar wird, ist der Umgang mit dem Nationalen aufschlussreich: Abseits offensichtlich politischer Themen taucht die Nationalität auf dem Terrain der Genussmittel eher unerwartet auf. Sie wird dazu benutzt, die Ansprüche der durch den Schreiber vertretenen Gruppe ausführlich zu rechtfertigen und eine Besserstellung zu erreichen. Durch eine willkürliche Setzung – Deutsche brauchen Kaffee – wird dabei ein Aspekt einer nationalen Identität definiert und als zentrales Argument präsentiert, wobei sich der Schreiber selbst unter diese Entität subsumiert (»uns Deutsche«). Martin Auger interpretiert solche für Kanada belegten Praktiken als gezielte Provokationen der Internierten gegenüber dem Lagerpersonal im Rahmen eines Stellvertreterkrieges mit symbolischen Ressourcen.233 Zu den »Strategien zur Herstellung bzw. Verteidigung kollektiver I[dentität]en« gehört eben, so Jürgen Straub, auch die »Berufung auf vermeintlich vorhandene und zu bewahrende […] Traditionen, die Propagierung verbindlicher Zukunftsorientierungen und nicht zuletzt die offen polemische Abgrenzung von Anderen als ›Feinden‹«.234 Dass Konstruktionen von ›Seemannsidentität‹ nicht losgelöst von einer ›deutschen‹ Identität betrachtet werden können,235 schon gar nicht in einem totalitären System wie dem Nationalsozialismus, verdichtet sich in diesem Brief eines deutschen Seemannes vom Oktober 1940: »Wir sind hier ca. 900 Seeleute im Camp, leider auch ungefähr 200 Hebräer und Emigranten. Die Grössenverhältnisse der Flaggen der Kriegs- und Handelsflotten aller Länder ist verschie-

231 Schreiben Heinrich Meyer an den Schweizerischen Generalkonsul, 6. Juli 1942. LAC, RG 24, 11246, File 9-1-3-31. Tatsächlich waren Kaffee, Tee und Zucker in Kanada seit Frühjahr 1942 rationiert, siehe G. Broad: A Small price to pay, S. 7. 232 Vgl. Kapitel 5, S. 231-234. 233 M. Auger: Prisoners of the home front, S. 78. 234 J. Straub: Identität, S. 271. 235 Auch Timo Heimerdinger verweist – allerdings vor allem anhand des Marinematrosen im deutschen Kaiserreich – auf die Figur des patriotischen Seemannes, in dem sich Nationalstolz und berufsspezifisches Standesbewusstsein überlagern. T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 158-160.

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den, das eine merke Dir jedoch, die Schönste und an Ruhm und Ehren grösste, ist unser deutsches Hakenkreuzbanner.«236

An Äußerungen wie dieser wird erneut deutlich, dass das Lager nicht als abgeschlossener Raum zu denken ist, sondern als Kontaktraum, in dem sich lagerspezifische Identitätskonstruktionen mit anderen Identifikationsangeboten des konkreten historischen Kontexts überschneiden, vermischen und in individuellen wie kollektivierenden Äußerungen manifestieren, die jeweils kontext- und adressatenabhängig sind. So wird der Vertrauensmann des Lagers Chatham in einem kanadischen Zeitungsartikel aus dem Oktober 1945 mit folgenden Worten zitiert: »›Those of us here have followed the sea most of our lives and did not know too much about the political situation in Germany itself,‹ the spokesman said. ›Many of us have been in the German merchant navy all our lives. If we hadn’t been seamen we probably would have been ordered into the armed services.‹«237

Hier wird aus der beruflichen Mobilität eine Seemannsidentität konstruiert, die als Strategie der eigenen Entpolitisierung dient. Distanzierungen: Der Mythos des unpolitischen Seemanns Das kollektivierende ›wir‹ ist ein Modus des Sprechens, der eine entindividualisierte Verhandlung belastender Themen ermöglicht238 und muss daher auch als Teil narrativer Entlastungsstrategien begriffen werden. Damit diese Erzähltechnik gelingt, braucht es eine Gruppe von ›Anderen‹, denen das zugeschrieben wird, wovon man selbst sich distanzieren möchte. Politische Entlastung und Distanzierung vom Nationalsozialismus versuchen die Erzähler vor allem durch die narrative Abgrenzung gegenüber Soldaten herzustellen, was sich unter anderem an der Konstruktion einer Differenz zwischen Marine und Handelsmarine zeigt. So sei es nicht selbstverständlich, dass »man die marine zu den seeleuten (ja) zählen will«.239 In Beispielerzählungen rücken sie Wesenszüge ins Zentrum, in denen sich Seeleute besonders stark von Soldaten unterscheiden. Durch die Abgrenzung nach außen homogenisieren diese Geschichten zugleich die eigene Gruppe.240

236 Schreiben eines internierten Seemannes aus dem Camp Red Rock (R) an seine Familie, 18. Oktober 1940. PA AA, R 127.913. 237 Hitlerism Dead Issue, Many Nazis like Canada. The Globe and Mail vom 11.10.1945. 238 Zu Kollektivierungen vgl. J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 496. 239 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 732-733. 240 Zur Dialektik von Alterität und Identität siehe Schwibbe, Gudrun: Anderssein. Zur Mehrdimensionalität narrativer Alteritätskonstruktionen. In: Schmidt-Lauber, Brigitta/Schwibbe, Gudrun (Hg.): Alterität. Erzählen vom Anderssein. Göttingen 2010, S. 13-31, hier S. 13. Im Rahmen seiner gänzlich anderen Fragestellung kommt Timo Heimerdinger ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Distinktionen eine wichtige Rolle in den Selbstpräsentationen von Seeleuten spielen. Siehe T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 315-316.

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Als wichtige Vergleichsfolie fungieren in den Interviews Soldaten. Durch diese Kontrastierung unterstreichen die Erzähler ihren eigenen Status als Zivilisten, der mit der Zuschreibung zahlreicher positiver Eigenschaften verknüpft wird, während die Soldaten alle negativen Charaktermerkmale auf sich vereinen. Ausgehend von der Ankunft in einem Work Camp schilderte Franz Renner eine konfrontative Situation zwischen Soldaten und Seeleuten: »da kamen wir da mit äh diesen fünfundzwanzig seeleuten kamen wir da an (2) und einer, der hatte da schon geguckt, das lager ist ja VOLL, sagt er, die sind alle von der REICHSwehr (hm). REICHSwehr?, sagten die, wir sind die DEUTsche WEHRmacht (hm), ja, aber (.) denn ging das=denn ging das da LOS, die sprachen kein englisch, nich, da ging das schon mit los (hm). der=der chef von denen, das war denn der höchste (.) unteroffiziersDIENSTgrad, ein feldwebel von der FELDgendarmerie (hm), der war da der lagerführer=sprach natürlich KEIN WORT ENGlisch (hm), nich, und denn sagten sie, wir brauchen welche, die englisch sprechen, sagt der kommandant (hm), nich, und da hatten die fünfundzwanzig seeleute, die hatten gleich so SCHLÜSSELposten (hm), die in einem LAger besetzt werden (hm) müssen, ob das mit NACHschub, verPFLEgung (ja) und=und alles ist (ja)«241

Dass die Soldaten »natürlich« kein Wort Englisch sprachen, ist eine Konstruktion »des Selbstverständlichen«.242 Indem die Seeleute absichtlich oder ungewollt nicht die korrekte Bezeichnung Deutsche Wehrmacht, sondern Reichswehr verwenden, schaffen sie eine sprachliche Distanz zu den deutschen Soldaten, die auf der inhaltlichen Ebene noch unterstrichen wird: Die im Interview vorgenommene Kontrastierung243 der deutschen Wehrmacht mit den englischsprachigen Seeleuten vermittelt die Gegensätzlichkeit der beiden Gruppen. Sie transportiert eine intellektuelle Aufwertung der Seeleute und eine Abwertung des Soldatischen. Renner stellt heraus, dass es den Seeleuten gelang, binnen kürzester Zeit die »Schlüsselposten« zu besetzen. Paradox ist dabei, dass der Erzähler den Seeleuten damit quasi-soldatische Fähigkeiten zuschreibt. Dass die Seeleute Bereiche wie den »Nachschub« kontrollieren, deren Benennung eine Nähe zum Militärischen suggeriert, macht sie und nicht die Soldaten zu Strategen. Diese Art der Thematisierung lässt sich als Teil einer Strategie der Distanzierung vom Militärischen begreifen, die wiederum Teil einer Distanzierung vom Nationalsozialismus ist, wenn man mit Gabriele Rosenthal davon ausgeht, dass es eine gängige biografische Strategie der Entpolitisierung nationalsozialistischer Vergangenheit ist, die NS-Zeit auf die Kriegsjahre zu reduzieren.244 Hans Peter Jürgens beschrieb im Interview, wie Seeleute und Soldaten auf der Heimreise nach Deutschland im englischen Lager Bury aufeinandertrafen: »da war der lagerstamm, der war=bestand wohl aus deutschen soldaten, die waren (.) eigentlich korrupt, durch und durch (hm), nich. die verschoben, ging ja hauptsächlich um essen usw.

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Interview Franz Renner, Z. 734-745. J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 497. Zu Mitteln der sprachlichen Kontrastierung im Interview vgl. ebd. Rosenthal, Gabriele: Leben mit der NS-Vergangenheit heute. Zur Reparatur einer fragwürdigen Vergangenheit. In: Vorgänge 28 (1989), H. 3, S. 87-101, hier S. 93.

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(hm), nich also ihre sachen und äh ging der erste schub gefangener von kanada kam und das waren seeleute damals, die räumten aber in dem einen lager in bury auf (hm), nich. das hat genau ein paar tage gedauert, dann waren die aus, weg, dann waren die abge=ab(.)geschickt (hm). die lager=die englische lagerleitung, die hatte angst, dass denen was passiert wohl (hm) ((räuspert sich)). und denn war wieder ruhe.«245

Indem der Erzähler das Verhalten der Soldaten als »korrupt« bewertet, beansprucht er moralische Deutungshoheit und erhebt sich über die Soldaten. Durch die Feststellung ihrer charakterlichen Verkommenheit liefert er gleich zu Beginn die Legitimation für die Tätlichkeiten der Seeleute. Die metaphorische Bezeichnung des ›Aufräumens‹ suggeriert systematische, ordnende Tätigkeit statt affektgeladener Prügelei; damit markiert Jürgens die Gewaltanwendung als Mittel zur Herstellung von Ordnung. Diese Passage vermittelt also eine moralisch begründete Distanzierung von den Soldaten, die durch semantische Grenzziehungen unterstützt wird. Kurz nach der Erwähnung der tätlichen Übergriffe in Bury berichtet Jürgens, wie emotional unaufgeregt die Seeleute die Nachricht von der deutschen Kapitulation aufgenommen hätten, »nicht […] wie in soldatenlagern«.246 Diese beiläufige Bemerkung schreibt dem Soldatischen eine höhere Identifikation mit dem Nationalsozialismus zu und baut gleichzeitig eine emotionale Distanz zwischen den Seeleuten und der NS-Ideologie auf. So unterstreicht auch Herbert Suhr: »wenn WIRKlich MENschen diese sache SACHlich und mit versTAND (1) HINter sich gebracht haben, dann sind WIR das gewesen (hm).«247 Ob »diese sache« die Internierung oder den Krieg als Ganzes meint, geht aus der Passage nicht hervor. Doch weitere Äußerungen des Erzählers legen nahe, dass auch er den Seeleuten eine emotionale Distanz zum Nationalsozialismus zuschreibt. Seeleute seien schließlich »keine fanatiker«. 248 Auch Hans Peter Jürgens betonte mit Nachdruck: »das lager war unpolitisch, VÖLLig unpolitisch. das lag einmal daran, dass es se=SEEleute waren, die sind unpolitisch, normal, das bleiben sie auch, nich.«249 Die hier vorgenommene Objektivierung250 und Markierung des Selbstverständlichen251 verstärkt die essenzialisierende Festschreibung des Unpolitischen. Der Erzähler evoziert die Vorstellung eines festen, unveränderlichen Wesenskerns, um den unpolitischen Seemann zu konstruieren. Der Nationalsozialismus erscheint demgegenüber als vorübergehendes Phänomen, von dem die Seeleute nicht berührt werden. Ganz ähnlich argumentiert Harald Wentzel in seinem Erinnerungstext »Chronologie zur Seefahrts-Legende«, wenn er schreibt: »Mit der neu installierten Regierung in Berlin hatten wir naturgemaess nicht viel im Sinn. […] wir selbst waren in der Politik ziemlich unbedarfte Leute«.252 Seine Positionierung bleibt vage: Mit der Regie-

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Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1455-1463. Ebd., Z. 1484-1486. Interview Herbert Suhr, Z. 1222-1223. Ebd., Z. 1442. Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1488-1490. J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 496. Ebd., S. 497. H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 9, Z. 55-59.

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rung »nicht viel im Sinn« haben kann für Ablehnung wie für Indifferenz stehen. Ebenso wie Hans Peter Jürgens’ »normal« transportiert Wentzels »naturgemaess« eine essenzialisierende Auffassung der in Anspruch genommenen Haltung und damit auch deren Unveränderbarkeit. Wentzels Betonung der eigenen politischen Unbedarftheit lässt sich mit Dorothee Wierling als Mittel und Zeichen für die »Abwehr des Politischen«253 interpretieren. Wie Olaf Jensen gezeigt hat, deutet die Betonung der eigenen Unwissenheit in Interviews meist auf einen Rechtfertigungsdiskurs hin, der die Sprecher von individuellen Schuldzuweisungen entlasten soll.254 Die Beanspruchung einer unpolitischen Haltung vermittelt eine umfassende Distanzierung vom Nationalsozialismus.255 In seinem Text schreibt Wentzel weiter: »Ueber den Ausgang des Krieges machten wir uns nichts vor – wir Seeleute waren schon immer Realisten, jetzt mehr als zuvor!«256 Auch diese Bemerkung Wentzels unterstreicht seine Konstruktion eines überzeitlichen Wesenskerns und die damit verbundene Distanzierung vom Nationalsozialismus. Der Verweis auf »den Ausgang des Krieges« impliziert, dass die Seeleute nicht an einen Sieg glaubten. Ulrike Jureit liest solche Entlastungsnarrative als Zeichen für eine »narrative Harmonisierung«.257 Franz Renner veranschaulichte die NS-kritische Haltung der Seeleute wie folgt: »ich glaube, wir waren sechshundert gefangene (hm). nich, wenn ich da so denke, wie wir da ankamen, da gab es dann ja auch allerhand leute eben aus Afrika, DEUTsche, dass sich einer hinstellt dann und sagt, äh mich hat der ortsgruppenleiter von windhuk hier EINgesetzt, äh, ich soll dieses lager führen (hm). so. da haben die seeleute, die hörten sich das an, hm, tja, er ist schon beim kommandanten gewesen und hat gefragt, ob wir das=ob wer was dagegen hat äh, wenn wir abends die natioNALhymne singen, nich. aber er habe da noch keine befriedigende antwort (ja). denn sagten die, da dröhnte das dann so aus HEIzerkreisen und seeleutekreisen: du IDIOT, wie is dat denn mit TABAK? (hm), nich. und denn dauerte das glaube ich bis zum nächsten tag, denn haben sie den (.) weggeJAGT (hm) und haben da- da haben wir denn den=die=den wir als SPREcher wollten, den haben wir auf ZUruf erstmal gewählt (ja), nich. und das war ein erster offizier von=(1)=von der HANsa (hm), weiß ich noch, MENK (hm), nich. die leute riefen MENK und denn (hm) zack (hm) und (ja) denn machte (ja) der erste(hm) hatte die sache hand und fuß (hm).«258

Indem sich die Seeleute in Renners Erzählung einer NS-Führung verweigern, werden sie als politisch Handelnde gezeigt, die zur Durchsetzung ihrer Interessen allerdings

253 Wierling, Dorothee: »Übergänge schaffen«. Zum Erzählen und Beschweigen eines Erfahrungsschatzes. In: Geulen, Christian/Tschuggnall, Karoline (Hg.): Aus einem deutschen Leben. Lesarten eines biographischen Interviews. Tübingen 2000, S. 37-54, hier S. 42. 254 Jensen, Olaf: Geschichte machen. Strukturmerkmale des intergenerationellen Sprechens über die NS-Vergangenheit in deutschen Familien. Tübingen 2004, S. 137. 255 Ebd., S. 218. 256 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 28, Z. 35-36. 257 Jureit, Ulrike: Ein Traum in Braun. Über die Erfindung des Unpolitischen. In: Geulen, Christian/Tschuggnall, Karoline (Hg.): Aus einem deutschen Leben. Lesarten eines biographischen Interviews. Tübingen 2000, S. 17-36, hier S. 23. 258 Interview Franz Renner, Z. 211-227.

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die gleichen Mittel einsetzen wie die als nationalsozialistisch gekennzeichneten Auslandsdeutschen. Hier wird die Handelsschifffahrt durch die Einführung des Schiffsoffiziers als Gegenspieler des Nazis nicht als unpolitisches, sondern als anti-nationalsozialistisches Milieu charakterisiert. Die unpolitische oder regimekritische Haltung der Seeleute wird in den Beispielen erzähltechnisch vor allem durch Abgrenzungen und Distanzierungen untermauert. In den analysierten Interviews verdichten sich Krieg und Nationalsozialismus symbolisch in der Gruppe der Soldaten. Lässt der Krieg als übergeordnete Thematik der Interviews aus Sicht der Erzähler eine strikte Grenzziehung zur militärischen und politischen Sphäre notwendig erscheinen, um sich nicht dem Verdacht der Mittäterschaft auszusetzen? Die Konstruktion des unpolitischen Seemannes in den Interviews legt den Schluss nahe, dass hier, ähnlich wie im »Mythos des unpolitischen Soldaten«259, eine narrative Entpolitisierung vollzogen wird. Gabriele Rosenthal zufolge unterstreichen solche Passagen, dass die Erzählenden »auch mit ihrem Soldatsein in den Nationalsozialismus nicht verstrickt waren bzw. sind«260. Gleichzeitig bildet diese Art der Präsentation »eines schon immer unpolitischen Lebens«,261 so Rosenthal, eine »der verbreitetsten und erfolgreichsten Strategien, mit der man sich aus den Verstrickungen zu lösen versucht«262. Die Formel des unpolitischen Seemannslagers deutet also auf eine verdeckte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hin. Sie zeigt die Seeleute implizit nicht mehr nur als gewitzte Gefangene, die in heiteren Anekdoten auftreten, sondern verweisen auf ein größeres, generationales und nationales ›wir‹ sowie auf die Rechtfertigungszwänge, die für Angehörige der Hitlerjugend-Generation im Interview subjektiv entstehen können. Schwierige Positionierungen: Der Seemann und die Jüdin Während das Sprechen über den unpolitischen Seemann »wie ein Erzählen als wiederholende[s] Bestätigen«263 im Sinne Dorothee Wierlings wirkt, zeigt sich an anderer Stelle stärker die Verarbeitungsfunktion des Erzählens. Dabei spielt die Verknüpfung mit einem generationalen ›wir‹ eine Rolle. Olaf Jensen hat am Beispiel intergenerationaler Interviews über den Nationalsozialismus herausgestellt, wie unausgesprochene Vorwürfe einen Rechtfertigungsdiskurs erzeugen können, der unterschiedliche Stufen der Verarbeitung sichtbar macht.264 Dies lässt sich auch im Interview mit Heinz Ricklefs beobachten. Er erzählte mir eine Alternativversion zur Krankenschwester-Episode aus seinem Erinnerungsbericht. Die vermeintliche »Jüdin«, die im Erinnerungstext als Krankenschwester eingeführt wurde, tritt nun als Freundin eines Patienten in Erscheinung:

259 G. Rosenthal: Leben mit der NS-Vergangenheit heute, hier S. 94. 260 Ebd. 261 Rosenthal, Gabriele: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt am Main 1995, S. 164. 262 Ebd. 263 D. Wierling: »Übergänge schaffen«, S. 46. 264 O. Jensen: Geschichte machen, S. 379.

444 | G EFANGEN IN K ANADA »von einem (.) bett (.) da kam’ keine das waren junge leute (.) da ne=ne: ’n junges mädchen (.) und (.) ’n junger mann. und die äh: kam’ nich zu mir (hm) aber komischerweise ((lacht)) sangen die gemeinsam lieder (hm) (.) und das waren deutsche lieder (hm) nich also ne: äh: des=das=da (.) die=die äh: dies mädchen musste wohl die heimat verlassen (hm) und hat da GANZ offensichtlich SCHWER unter gelitten (ja) (8) und (.) die=die kam’ nich zu mir aber ne: äh: wie gesacht die sang’ deutsche lieder ((lacht)) (hm) und wie ich entLASsen wurde da musste ich unten im forum vom hospital ne: auf äh den transporter warten (hm) und da KAM dieses mädchen (hm) nich und äh: dann weiß nich ob sie mich angesprochen hatte oder=oder ich sie und denn=denn äh hat se auf englisch gesagt ja (.) ihr mö:cht uns ja nich leiden ((lacht)) (hm) und (.) bei dem zusamm’hang den ich vermutete da hab ich aber GANZ aber SOFORT beteuert nich (hm) das sei ABSOLUT nicht der fall (hm) und ne: äh: ich=ich äh hielte ganz viel von ihr nich. (hm) (2) ne: äh: (2)«265

Gegenüber der im vorangehenden Kapitel betrachteten schriftlichen Version dieser Episode sind einige inhaltliche Veränderungen festzustellen. Aus der im älteren Text noch als »Vermutung« bezeichneten Annahme, das dunkelhaarige Mädchen sei Jüdin, wird hier die Mutmaßung, sie habe aus der »Heimat« fliehen müssen. Ricklefs’ Hinweis, das Mädchen habe »GANZ offensichtlich SCHWER unter gelitten«, transportiert Empathie angesichts ihres Flüchtlingsschicksals. Verändert hat sich auch der Beginn des Gesprächs zwischen Heinz Ricklefs und dem Mädchen. Statt einer Frage formuliert sie eine Feststellung: »ihr mö:cht uns ja nich leiden«. Deren Wiedergabe wird vom Erzähler im Interview durch Lachen begleitet, das hier, ebenso wie das stellenweise starke Stottern, ein Anzeichen für Verbalisierungsschwierigkeiten beim Umgang mit schwierigem Erzählstoff sein kann. Die in dieser Aussage vorgenommene Fremdpositionierung verweist – unter der Prämisse, dass es sich um eine deutsche Jüdin handelt – auf den Antisemitismus und schafft eine konfrontative Konstellation zwischen den beiden Gruppen des »ihr« und des »uns«. Ricklefs’ erzählte Reaktion deutet darauf hin, dass er sich – »bei dem zusamm’hang den ich vermutete« – von ihr als Deutscher angesprochen sieht. Dass er sich einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sieht, zeigt sich sowohl an seiner Wortwahl als auch an der Emphase, mit der er im Interview klarstellt, dass er »GANZ aber SOFORT beteuert« habe, »das sei ABSOLUT nich der fall […] und […] ich […] hielte ganz viel von ihr«. Hier ignoriert der Erzähler die Implikationen des »ihr« und des »uns« in ihrer Feststellung und spricht das Mädchen als Individuum an, wobei er den Rechtfertigungsdruck in ein Kompliment verwandelt: »ich hielte ganz viel von ihr«. Dieser Ebenenwechsel lässt sich als Abwehrstrategie verstehen. Erst in der unmittelbar anschließenden Evaluation der Begebenheit nennt der Erzähler beim Namen, was so viel Unbehagen auslöst: »manchmal (5) hat man ja da auch fal- irgendwie (1) den juden gegenüber FALSCH reagiert (hm) nich und (.) ne: warum wussten wir eigentlich ((lacht)) selber gar nich (frau: naja ich meine wir waren ja auch alle erZOgen inner nazizeit) VERzogen (frau: das WAR ja so) (hm) (frau: LEHrer (1) das waren ja NAzis bis oben hin ((lacht)) und wir haben das ja auch geGLAUBT) (klar) (frau, schneller: aber meine eltern haben das NIE geglaubt die haben immer=die haben

265 Interview Heinz Ricklefs, Z. 453-466.

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immer mit mir geschimpft wenn ich was gesa:cht hab ((lacht)) (1) ja das war alles anders) (hm) (7) so: war das ((lacht))«266

Hier bildet der Generationszusammenhang die unausgesprochene Wir-Referenz. Stockend und mit mehrmaligem Lachen verbalisiert Heinz Ricklefs seine Überlegungen. Auch hier deuten die lange Pause und die Korrektur darauf hin, dass die Inhalte für ihn schwierig anzusprechen sind.267 Dennoch ermöglicht die Figur der jungen Frau dem Erzähler, den Antisemitismus und seine eigene Verstrickung zu thematisieren. Dabei wirkt Ricklefs’ Aussage zunächst vordergründig wie ein persönliches Schuldeingeständnis: »manchmal (5) hat man ja da auch fal- irgendwie (1) den juden gegenüber FALSCH reagiert«. Aufschlussreich ist jedoch die Wahl des Verbs ›reagieren‹: Es verbindet ein passives Selbstverständnis des sich unter Zugzwang wähnenden Erzählers mit einer Agentivierung268 der Juden, die als Entlastungsversuch gedeutet werden kann. Die Formulierung, »man« habe sich nicht richtig verhalten, verweist auf die Deutung des Erzählers, dass es sich um ein allgemeines Phänomen handelte. Wie wenige Andeutungen genügen, um vor allem bei Angehörigen der Hitlerjugend-Generation eine Rechtfertigungssituation zu erzeugen, zeigen die darauf folgenden Gesprächsbeiträge von Ricklefs’ Gattin, die den durch ihren Mann reinszenierten Rechtfertigungsdruck sofort aufnimmt. Auf sein Eingeständnis der Ratlosigkeit angesichts seines damaligen Verhaltens – »warum wussten wir eigentlich ((lacht)) selber gar nich« – schaltet sie sich in das Gespräch ein, um ihre eigene Begründung dafür zu liefern und gleichzeitig sich selbst und ihren Mann, eigentlich aber ihre ganze Generation in Schutz zu nehmen. Dazu präsentiert sie ihre Altersgruppe als Opfer der nationalsozialistischen Erziehung – »LEHrer (1) das waren ja NAzis bis oben hin« – und führt demgegenüber in ihrer Entlastungsrede die politische Integrität ihres eigenen Elternhauses an. Während ihr Mann sich durch den Einwurf – »VERzogen« – von der nationalsozialistischen Erziehung distanziert, vollzieht sie eine »explizite Entpolitisierung des eigenen Sozialisationsmilieus«,269 die laut Gabriele Rosenthal als eine von drei Hauptstrategien zur Entpolitisierung der NS-Vergangenheit in Interviews beobachtet werden kann. Deutlich wird hier auch, wie generational geteilte Erlebnishorizonte in die Interviewsituation hineinwirken. Dieser Interviewauszug zeigt, wie dominant der Diskurs über die Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen des Nationalsozialismus in den Interviews mit ehemaligen Internierten wirken kann. Die Interviews sind intergenerationale Gesprä-

266 Ebd., Z. 466-473. 267 Nach Schwitalla tritt stockendes Sprechen vor allem »bei imageberührenden, peinlichen Themen« auf. Schwitalla, Johannes: Gesprochene Sprache – dialogisch gesehen. In: Fritz, Gerd/Hundsnurscher, Franz (Hg.): Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen 1994, S. 1736, hier S. 25. 268 Zum Begriff der Agentivierung vgl. Lucius-Hoene, Gabriele: »Und dann haben wir’s operiert«. Ebenen der Textanalyse narrativer Agency-Konstruktionen. In: Bethmann, Stephanie u.a. (Hg.): Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit. Weinheim/Basel 2012, S. 40-70, hier S. 42. 269 G. Rosenthal 1989: Leben mit der NS-Vergangenheit heute, S. 92-93.

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che, in denen, so Harald Welzer, »jeweils auch Mitglieder generationell unterschiedlich definierter Kollektive, Mitglieder verschiedener Erinnerungsgemeinschaften also, miteinander sprechen«270. Die intergenerationale Interviewsituation scheint Positionierungs- und Rechtfertigungszwänge hervorzubringen, die sich in bestimmten Erzählkontexten vervielfachen, verdichten und überlagern: Das erzählte Ich muss sich wiederholt gegenüber Juden positionieren, der Erzähler im Interview muss sich gleichzeitig gegenüber seinem früheren Selbst, gegenüber der Interviewerin und gegenüber dem Diskurs über die Verantwortung der Deutschen in Bezug auf den Nationalsozialismus positionieren. Sowohl er als auch seine Frau sprechen nicht nur für sich, sondern für ihre ganze Generation. Über Internierung und damit auch über die eigenen Kriegserlebnisse zu sprechen, ermöglicht nicht nur die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, sondern kann offensichtlich auch dazu zwingen. Episoden und Figuren aus dem Internierungskontext, die den Erzähler mit seinem Deutschsein konfrontieren, werden zur narrativen Verarbeitung der eigenen Rolle innerhalb der deutschen Vergangenheit benutzt.271 Ohne dass die nationalsozialistischen Verbrechen beim Namen genannt werden,272 dienen sie als Ausgangspunkt für die erzählerische Auseinandersetzung mit Fragen der (nationalen) Identität. Zusammenfassend wird deutlich, dass die Internierung selbst ebenso wie das Sprechen über die Internierung nicht nur Chancen zur Identitätsarbeit barg, sondern von den Akteuren auch immer wieder diesbezügliche Positionierungen einforderte. In den entstehenden Identitätskonstruktionen spiegelt sich auch die Öffnung und Verschiebung von Deutungsspielräumen wider. Konnte unter bestimmten Bedingungen die Subsumtion unter eine bestimmte Gruppe vorteilhaft erscheinen, so war diese Annäherung unter Umständen bereits kurze Zeit später obsolet. »Innerlich waren wir alle zusammengerückt«: Partizipation und Statusnivellierung Dies zeigt ein abschließender Blick in Harald Wentzels Erinnerungsgedicht. In der Darstellung seiner Zeit auf der Tabakfarm der Familie Tack finden sich zahlreiche Konstruktionen eines übergreifenden, quasi-familiären ›wir‹. Bei der Schilderung von Arbeitsabläufen nimmt Wentzel die Perspektive der Gruppe ein und spricht wie ein Familienmitglied für alle, was auf Partizipation, Inklusion und emotionale Verbundenheit verweist. Der Gebrauch des Possessivpronomens »unserer« ebenso wie die durchgehende Verwendung des Pronomens »wir« im übrigen Text zeigen die starke Identifikation mit der Familie, der Farm und der gemeinsamen Arbeit. Dies wird beispielsweise in Wentzels Mitfiebern über den Ausgang der Ernte im Jahr 1945 deutlich:

270 H. Welzer: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch, S. 171. 271 Weitere Beispiele dafür sind etwa Erzählungen über Gespräche, die die Internierten mit Wachen über Politik und den Nationalsozialismus geführt haben. 272 Das deckt sich mit Gabriele Rosenthals Beobachtung, dass in Interviewerzählungen über den Nationalsozialismus die belastenden Aspekte verschwiegen werden. G. Rosenthal: Leben mit der NS-Vergangenheit heute, S. 91.

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»Viele Arbeitshaende waren nun gefragt, auch guter Rat – erst holten wir uns Nachbarn, dann Indianer aus dem Reservat. Fuer das ›Curen‹ in den Kilns sorgte ein Fachmann, ›Bill‹ – er reiste extra fuer uns aus Georgia an, und von seinem Glueck und Geschick hing nun alles ab – wir tippten auf Glueck! Umschichtig wurde alle 5 Tage eine Kiln geleert und der fertig ›gecurte‹ Tabak in die grosse Scheune gefuehrt, der wurde vom ›Schaetzer‹ spaeter begutachtet und berochen, der Verkaufspreis ›en bloc‹ ausgehandelt und besprochen. Danach hatten wir den ganzen Winter zu tun, die Blaetter zu sortieren und zu packen, im Striproom! Im Fruehling lieferten wir 22 Tons besten Tabak ab, in Ballen, danach kam der große ›Scheck‹ – zur Freude von allen.«273

Hier scheint der Status des Gefangenen zu verschwinden, ebenso wie andere Bindungen außerhalb der Farmerfamilie. Ein Gruppenfoto in Wentzels Fotoalbum, das sechs weibliche Erntehelferinnen zeigt, trägt die Aufschrift: »Our Tiers, Leafhanders etc. Two Rutherfords, Mariette, Blondie, Martel, Francis and kilns in background. September 1946«.274 Die englischsprachigen Kontextinformationen positionieren Wentzel in der Wir-Gruppe der Farmer. Das spezialisierte Vokabular zeigt zudem seine Kompetenz im Umgang mit den Feinheiten des Tabakanbaus: »Tiers« und »Leafhanders« sind Bezeichnungen für Positionen der damals auf den Tabakfarmen Ontarios stark arbeitsteiligen Ernte.275 Und auch die Verwendung der Vokabel »kiln« (Darre) zur Kennzeichnung der im Hintergrund sichtbaren Gebäude verortet Wentzel in der community of practice der Tabakfarmer. Die Betitelung der Mädchen als »our Tiers« vermittelt die starke Identifikation Wentzels mit der Tabakfarm der Familie Tack, auf der er über ein Jahr lang arbeitete. Besonders die Beschreibung des Abschieds von der Farm ist ein Anlass, diese neue Wir-Gruppe noch einmal zu bekräftigen: »Wir merkten, innerlich waren wir alle zusammengerueckt!«276 Als Beleg für die Intensität und Langlebigkeit seiner Beziehung zu Familie Tack führt Wentzel schließlich noch gegenseitige Besuche und den bis in seine Schreibgegenwart andauernden Briefkontakt an:

273 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 36, Z. 32-46. 274 Ein Handschriftenvergleich mit anderen Dokumenten aus Wentzels Nachlass belegt zweifelsfrei, dass es sich um Wentzels eigene Handschrift handelt. 275 Die Gegend am Nordufer des Eriesees war zu dieser Zeit das wichtigste Tabakanbaugebiet in Kanada. Siehe Britnell, George Edwin/Fowke, Vernon C.: Canadian Agriculture in War and Peace, 1935-50. Stanford 1962, S. 359. Zur Geschichte des Tabakanbaus im Südwesten Ontarios vgl. Davis, Albert B.: Tobacco in Ontario. Washington D.C. 1968 und Scott, W.A./Haslam, R.J.: Production, Harvesting and Curing of Dark Tobacco in Ontario. Ottawa 1951. 276 H. Wentzel: Chronologie zur Seefahrts-Legende, S. 36, Z. 59-62.

448 | G EFANGEN IN K ANADA »und noch heute existieren briefliche Bande mit der jüngsten Tochter Agnes, Aggie genannt, sie macht mich noch heute mit allen Ereignissen bekannt.«277

Die Konstruktion dieser Wir-Gruppe und Wentzels Positionierung in deren Zentrum lässt sich auch als Strategie der Statusaufhebung bzw. -nivellierung interpretieren: Im ›wir‹ gibt es keine Unterschiede mehr zwischen den Familienmitgliedern und dem »hired man«,278 der eigentlich ja ›nur‹ ein Internierter ist. Die Beispiele aus Wentzels Gedicht zeigen die Fluidität von Wir-Gruppen-Konstruktionen. Zugleich reflektieren sie soziale Prozesse der Contact Zone und lassen erkennen, wie die Entstehung neuer Loyalitäten in die Deutung der Internierung – in diesem Fall als persönlicher Erfolg – einfließen konnte. Zwar lösen sich in der Retrospektive Identitäts- und Wir-Gruppen-Konstruktionen aus den konkreten strategischen Zusammenhängen, die während des Krieges für die Seeleute bedeutsam gewesen waren. Doch der narrative Einsatz solcher communities in Interviews oder Autobiografien folgt nicht grundsätzlich anderen Logiken als im Lageralltag, sondern findet lediglich unter radikal anderen Bedingungen statt. In beiden Kontexten werden solche Konstruktionen situativ vollzogen und für konkrete Kommunikations- und Interaktionsprozesse modelliert, die sowohl im jeweiligen Augenblick als auch in biografischer Perspektive für den jeweiligen Akteur ›Sinn machen‹. Immer geht es dabei um die Frage, welche Vor- oder Nachteile mit der Positionierung als Mitglied einer bestimmten Gruppe verbunden sind und welches Bild von sich selbst und der Gruppe dem jeweiligen Gegenüber vermittelt werden soll. Insbesondere die Analyse der Interviews hat gezeigt, wie verschiedene Positionierungen voneinander abhängen, wechselseitig aufeinander verweisen oder einander ausschließen. Das Sprechen und Schreiben über die Internierung zeigt sich dabei als Raum, in dem sowohl »Seemannsverkörperungen«279 als auch die Auseinandersetzung mit Krieg und Nationalsozialismus Platz haben und teils eng miteinander verknüpft sind.

I NTERNIERUNG ALS G RENZSITUATION UND T RANSFORMATIONSERFAHRUNG »Meine Sehnsucht nach 6½ Jahren mal etwas anderes zu sein als Gefangener Nr. 13843 läßt mich hoffen, daß eines Tages mal eine amtliche Stelle die Ungewißheit in der ich lebe, durch eine Erklärung beseitigt und ich damit dem Individualleben wieder zurückgegeben werde. Aber wer denkt daran?«280

277 278 279 280

Ebd., Z. 48-50. Ebd., S. 35, Z. 36. T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 285. Rudolf Becker an seinen Vater, 1. Juli 1946. DSM, III A 3324 b.

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»It is really impossible to convey to anyone outside, the feelings of a man who month after month is confined in the narrow space behind the barbed wire.«281 Mit diesem Verweis auf das Unsagbare der Internierungssituation umriss der YMCA-Sekretär Dr. Jerome Davis die Auswirkungen der Internierung auf die individuelle psychische und emotionale Stabilität der Internierten in den kanadischen Lagern. Dabei betonte er besonders, dass die Kontaktzone der Internierung aufgrund der Enge und mangelnden Privatsphäre auch psychisch bedrückende Aspekte besaß. Er fuhr fort: »There is no privacy; a feeling of oppression, of longing to see his old friends and the homeland often overcomes a man. No matter how good the conditions, there is worry and fear about what is happening to loved ones at home. Unless a man can be occupied, he is apt to grow morose or to lose his mental balance. As time goes on, one sees this more clearly.«282

Auch Wissenschaftler haben die Internierung verschiedentlich als Grenzsituation geschildert, die zu einer psychischen und identitätsbezogenen Veränderung der Betroffenen führt.283 Einige dieser Forscher erfuhren während des Zweiten Weltkriegs am eigenen Leib, was es bedeutet, interniert zu sein, und beschrieben die Internierung als tiefgreifende Alteritätserfahrung.284 Wie beispielsweise der französische Soziologe Jean Cazeneuve während seiner Kriegsgefangenschaft an sich selbst feststellte, vollziehen sich an jedem Gefangenen unweigerlich »de grands et profonds bouleversements dans ses actes, ses pensées, ses sentiments et peut-être même sa personnalité«285. Diese Veränderungen lösen beim Betroffenen, so Cazeneuve, eine geradezu alptraumhafte Verunsicherung aus: Indem der Gefangene seinen gegenwärtigen Zustand einer glücklicheren Vergangenheit gegenüberstellt, »il en vient à douter par instants de sa propre identité, se demande anxieusement s’il est bien le même qui autrefois était libre«286. Auch der Sozialwissenschaftler Curt Bondy gelangte während des Zweiten Weltkriegs zu der Auffassung, dass jede Form der Internierung radikale

281 Bericht über die Besuche des YMCA-Sekretärs Dr. Jerome Davis in den Lagern Fort Henry/Kingston (F/31), Petawawa (P/33), Farnham (A/40), Île-aux-Noix (I/41), Île-SteHélène (S/43), Fredericton (B/70), Espanola (E/21), Mimico (M/22), Neys (W/100) und Angler (X/101) (Sammelbericht) im Dezember 1942 und Januar 1943. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. 282 Ebd. 283 Robert C. Doyle beispielsweise spricht im Zusammenhang mit captivity narratives von einer »spiritual transformation«. Vgl. R.C. Doyle: Voices from captivity, S. 86. 284 Mit Alteritätserfahrung ist in diesem Zusammenhang die Erfahrung des eigenen Anderswerdens gemeint. Vgl. dazu G. Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein, S. 20. 285 »… große und tiefgreifende Umwälzungen in seinen Handlungen, seinem Denken, seinen Gefühlen und vielleicht sogar seiner Persönlichkeit«. J. Cazeneuve: Essai sur la psychologie du prisonnier de guerre, S. 2-3. Übersetzung JK. Cazeneuve war vorübergehend in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. 286 »… beginnt er zeitweise an seiner eigenen Identität zu zweifeln, fragt sich voller Angst, ob er noch derselbe ist, der er damals war, als er frei war«. Ebd., S. 3. Übersetzung JK.

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körperliche, mentale und moralische Veränderungen zur Folge hat.287 Es sei ausgeschlossen, einen längeren Aufenthalt in einem Internierungslager ohne Persönlichkeitsveränderung zu überstehen. Als Ursachen betrachtete Bondy die Isolation, soziale Degradierung, potenzielle Endlosigkeit und allgemeine Ungewissheit von Internierungssituationen.288 Besonders die unausweichliche Konfrontation mit sich selbst im »Niemandsland der Gefangenschaft«289 könne Angstzustände auslösen, so auch der ehemalige Lagerarzt Nikolaus Jensch, der seine Ausführungen auf Beobachtungen stützte, die er während seiner Gefangenschaft in einem amerikanischen Lager in Frankreich anstellte. Zwar war die äußere Lebenssituation der deutschen Schiffsbesatzungen in kanadischen Lagern weitaus besser als die der drei genannten Autoren in deutschen und französischen Lagern, doch auch unter diesen Bedingungen konnten biografische Sinnstiftung, Rollenverständnis und Identität ins Wanken geraten. Der Statusübergang der Gefangennahme und die Auseinandersetzung mit der temporär aufgezwungenen Rolle des Internierten stehen in enger Verbindung mit Erfahrungen des eigenen Anderswerdens, die kontextabhängig je unterschiedlich ermittelt werden. Ausgehend von diesen Beobachtungen ist zunächst nach der individuellen Auseinandersetzung mit der Grenzsituation der Internierung zu fragen: Wie gingen die internierten Seeleute mit der potenziellen Identitätsbedrohung und der durch die Internierung bedingten Alteritätserfahrung um? Wie bewältigten sie diese biografische Zäsur und welche Strategien der biografischen Integration setzten sie ein? In diesem Zusammenhang ist auch die Rolle der humanitären Helfer zu analysieren, denen das psychische Wohlergehen der Internierten qua Mandat ein Anliegen sein musste und die, wie die eingangs zitierten Beobachtungen von Jerome Davis zeigen, den Diskurs über die psychische Situation der Lagerinsassen entscheidend prägten. Perspektiven und Strategien: Internierung als Krise Bei der Suche nach Hinweisen auf individuelle Identitätsarbeit stößt man in den Quellen aus der Zeit der Internierung auf wesentlich mehr blinde Flecken als etwa bei der Frage nach Raumpraktiken oder kollektivierenden Identitätskonstruktionen. Eine Momentaufnahme wie Abbildung 38, die erkennen lässt, in welcher Weise Malerei im Lager als Medium der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich dienen konnte, ist eine absolute Rarität.

287 C. Bondy: Problems of Internment Camps, hier S. 461. Bondy war im Jahr 1938 für einen Monat in Buchenwald inhaftiert. Vgl. Nicolaysen, Rainer: Bondy, Curt Werner. In: Kopitzsch, Franklin (Hg.): Hamburgische Biografie. Göttingen 2008, S. 59-61, hier S. 60. 288 C. Bondy: Problems of Internment Camps, S. 461. 289 N. Jensch: Über psychogene Störungen der Kriegsgefangenschaft, S. 369.

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Abbildung 38: Malerei als Medium der Selbstvergewisserung

Ein Internierter mit seinem Selbstporträt. Die originale Bildunterschrift lautet: »Hans Moser of Vienna, Austria, paints in his spare time. He painted centre picture of himself by means of mirror.« Quelle: CWM 19830444-047, George Metcalf Archival Collection, © Canadian War Museum.

Dass ein großer Teil dessen, was Internierung für den Einzelnen bedeutete, auf der Ebene der Quellen im Allgemeinen nicht greifbar ist, verweist auf die Situation der Internierung zurück: Die Wachen konzentrierten sich hauptsächlich auf beobachtbare Verhaltensweisen der Internierten, die Rückschlüsse auf gruppendynamische Prozesse und eventuelle Gefährdungen der Lagersicherheit zuließen. Die einzigen Quellen, in denen die Internierten selbst während ihrer Gefangenschaft psychische Veränderungen und Identitätsthemen artikulierten, sind Briefe, die jedoch den bereits thematisierten Einschränkungen durch innere und äußere Zensur unterworfen waren.290 Zur Aufgabe der humanitären Helfer gehörte es, die kanadischen Regierungsbehörden auf Schwierigkeiten aller Art aufmerksam zu machen und gegebenenfalls Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Anders als bei der Unterstützung der räumlichen Ausgestaltung des Lagers sowie der Förderung sportlicher und künstlerischer Aktivitäten war der Spielraum der Hilfsorganisationen jedoch begrenzt, wenn es um die Linderung von psychischen Folgen der Einsperrung ging. Da sie an der Internierung an sich nichts ändern konnten, beschränkte sich ihre Handlungsmacht weitgehend auf die Benennung von Symptomen. Im Rahmen ihrer kurzen Besuche konnten sich die Vertreter der Hilfsorganisationen und der Schutzmacht zudem nur mit manifesten Problemen befassen, die häufig bereits eine Vorauswahl durch den Vertrauensmann

290 Vgl. Kapitel 2, S. 56-57.

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der Internierten durchlaufen hatten. Bei der Beurteilung der Situation in den Lagern standen einzelne Personen mit diagnostizierten Erkrankungen im Vordergrund.291 Die Vertreter der Hilfsorganisationen blickten durch einen mandatsbedingten Filter auf die Situation in den Lagern und konzentrierten sich auf Phänomene und Entwicklungen mit Krankheitswert. Die kleinen, schleichenden Veränderungen, die vielleicht nur Betroffene an sich selbst bemerkten, blieben in den Besuchsberichten undokumentiert. Wer sich mehr schlecht als recht mit der Situation arrangierte, ohne den Lagerarzt aufzusuchen oder sich auffällig zu verhalten, tauchte in offiziellen Quellen kaum auf. Diese Leerstelle zwischen offiziellen Berichten und privaten Briefen weist auf die immanenten Grenzen der Forschung hin. Symptome und ihre Deutungen Selbstmordversuche unter den Lagerinsassen waren ein Alarmsignal für Wachen und humanitäre Helfer, das auf drastische Weise zeigte, welche psychischen Folgen die Internierung im Einzelfall haben konnte. Insgesamt nahmen sich in kanadischer Gefangenschaft 14 Deutsche das Leben,292 davon vier Seeleute.293 Sie sind gemeinsam mit den übrigen in Gefangenschaft verstorbenen Deutschen auf dem Woodland Cemetery in Kitchener, Ontario beigesetzt (vgl. Abbildung 39). Im Juni 1944 unternahm der in Monteith internierte ehemalige Kochsmaat der CASSEL (Hamburg-Amerika-Linie) einen Selbstmordversuch durch Erhängen. Nachdem er »von einem Kameraden entdeckt und abgeschnitten«294 worden war, verstarb er auf dem Weg ins Krankenhaus. In einem Schreiben an das Schweizerische Generalkonsulat betonte der Vertrauensmann des Lagers, Kapitän Krieger, mit Nachdruck, dass »[di]e Ursache des Freitodes dieses Kameraden […] ausschliesslich in der ungeheuren seelischen Belastung zu suchen [sei], die die zu lange Gefangenschaft hinter Stacheldraht mit sich bringt«295.

291 Diese Gefangenen erhielten in der Regel ohne Probleme die medizinisch notwendige Behandlung. So kam im November 1942 ein Psychiater ins Lager Mimico, um einige Insassen zu untersuchen. War Diary Camp Mimico/New Toronto (M/22), Folder 2, Vol. 29, 20. November 1942. LAC, RG 24, 15391. 292 J.J. Kelly: The prisoner of war camps in Canada 1939-1947, S. 210. 293 Vgl. Schreiben des Auswärtigen Amtes an OKW, OKM und SKL, 13. April 1945. PA AA, R 127.941. Neben Suizidfällen in Monteith und Mimico sind einige erfolglose Selbstmordversuche dokumentiert. 294 Schreiben des Lagerführers Kurt Krieger, Camp Monteith (Q/23) an das Schweizerische Generalkonsulat, 3. Juli 1944. PA AA, R 127.898. 295 Ebd.

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Abbildung 39: Gedenktafel für deutsche Gefangene auf dem Woodland Cemetery in Kitchener, Ontario

Die Tafel befindet sich am Eingang zum deutschen Gräberfeld. Quelle: Foto Judith Kestler.

Weitaus häufiger als Selbstmorde werden in den Quellen jedoch Fälle von psychischer Erkrankung thematisiert. Während der Schweizer Konsul in mehreren Berichten »nervöse Erkrankungen«296 oder »nervöse Störungen«297 erwähnte, sprach der CICR-Delegierte Ernest L. Maag meist von »mental sickness«298 oder »dépression mentale«299. Dieses medizinische Vokabular stellte eine vermeintliche Eindeutigkeit her, indem es Zuschreibungen in Form von Diagnosen fixierte. Die Deutung dieser Symptome ist in allen Berichten ähnlich: Die mentalen Belastungen wurden allgemein auf die lange Dauer der Gefangenschaft zurückgeführt. Nach Beobachtung der humanitären Helfer verschärften sie sich sowohl bei Bewegungsmangel,300 besonders im Winter, als auch »[u]nter dem Druck der unerfreulichen Nachrichten von zu Hause«.301 Als wirkungsvolle Gegenmittel, die ohne großen Aufwand Linderung brach-

296 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls J. Oertly und des Vizekonsuls A.F. Somm in Monteith (Q/23) am 14. und 15. September 1944. PA AA, R 127.951. 297 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Monteith (Q/23) am 16. und 17 Mai 1944. PA AA, R 127.705. 298 Ernest L. Maag an das CICR, Genf, April 1942. ACICR, G 17/29. 299 Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Neys (W/100) am 21. April 1942. ACICR, C SC, Canada. 300 Ernest L. Maag an das CICR, Genf, April 1942. ACICR, G 17/29. 301 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Monteith (Q/23) am 16. und 17. Mai 1944. PA AA, R 127.705.

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ten, betrachteten die Verfasser der Besuchsberichte daher vor allem Sport und Arbeit im Freien, letztere am besten in den Work Camps im Wald. Dale D. Brown war der Meinung, »that those who accept the work and the primitive life of these camps will return to Germany more healthy, physically, mentally and spiritually, than those returning from the [permanent; JK] camps«302. Dieser Eindruck deckt sich mit der Beobachtung eines deutschen Lagerpsychiaters in einem deutschen Flüchtlingslager in Dänemark, der feststellte, dass angemessene Arbeit der psychischen Gesundheit von Gefangenen zuträglich sei und »einen erheblichen Teil der aus der Lagersituation sich ergebenden ungünstigen Einflüsse«303 mildern würde. In seltenen Fällen gaben die humanitären Helfer in ihren Berichten auch wieder, wie die Wachen die psychische Situation der Insassen wahrnahmen. So schrieb Ernest L. Maag nach seinem Besuch in Sherbrooke im Frühjahr 1944: »Les effets psychologiques de l’internement prolongé se manifestent de façon croissante, notamment par la fabrication illégale de spiritueux, que ces hommes distillent en se servant de produits de tous genres, ce qui, d’après le médecin du camp (un médecin allemand interné) est tout à fait nuisible à leur santé.«304 Die illegale Schnapsbrennerei der Internierten wird hier als Symptom für psychische Krisen und mentale Probleme interpretiert, die aus der langen Gefangenschaftsdauer resultierten. Gemäß der Perspektive des CICR, die das körperliche Wohlergehen der Gefangenen in den Mittelpunkt stellte, wird das Verhalten der Internierten mit einem Gesundheitsdiskurs verknüpft. Dies geschieht unter Berufung auf den Lagerarzt, der Maags Sichtweise auf die Schnapsbrennerei der Internierten offensichtlich durch sein medizinisches Urteil beeinflusste. Wie überhaupt das meiste, was die psychische Belastung durch die Internierung betrifft, firmieren solche Meldungen in vielen Besuchsberichten unter dem Schlagwort ›Moral‹. Wie in der Redewendung von der ›Moral der Truppe‹ ist dieser Begriff als Chiffre für die psychische Verfassung und den Durchhaltewillen der Internierten zu verstehen. Als Indikator für die Moral fungierte in den Berichten der humanitären Helfer beispielsweise die Neigung der Internierten zu Unbotmäßigkeiten oder Fluchtversuchen. Häufig wird ›Moral‹ in einem Atemzug mit der (körperlichen) Gesundheit der Internierten genannt: »Abgesehen vom psychologischen Moment ist Gesundheit und Moral der Internierten auf befriedigender Stufe und die im Lager herrschenden Verhältnisse lobenswert.«305 Die Moral wurde als eine vom Kriegsgeschehen und der

302 Dale D. Brown (European Student Relief Fund): Report of Educational Activities in Canadian Prisoner of War Camps, October 1 to December 31, 1944. LAC, MG 28, I 95, 273, File 3. 303 Reichner, Hans: Über Lagerneurosen. In: Studium Generale 3 (1950), H. 1, S. 9-21, hier S. 11. 304 »Die psychologischen Effekte der langen Internierung zeigen sich in zunehmendem Maße, besonders an der illegalen Herstellung von Spirituosen, die diese Männer unter Verwendung von Produkten aller Art destillieren, was dem Lagerarzt (einem internierten deutschen Arzt) zufolge eindeutig schädlich für ihre Gesundheit ist.« Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Sherbrooke (N/42) am 6. März 1944. ACICR, C SC, Canada. Übersetzung JK. 305 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Sherbrooke (N/42) am 23. September 1943. PA AA, R 127.704.

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jeweiligen Internierungsdauer abhängige veränderliche Größe betrachtet, was sich beispielsweise in vielen Berichten des Schweizer Konsuls zeigt: »Es ist ganz selbstverständlich, dass Moral und Ausdauer dieser alt-Internierten [sic] unter dem Druck des Kriegsgeschehens am Abbröckeln ist.«306 Aus diesen Zeilen und anderen ähnlichen Passagen spricht auch die notgedrungene Konzentration auf die Internierten als Kollektiv, welche die Besuchsberichte prägt. Manche der Internierten machten sich die Fokussierung der humanitären Helfer und der Wachen auf diagnostizierbare und therapierbare Zustände strategisch zunutze. So berichtete der Seemann Gerhard H., der im Herbst 1944 im Rahmen eines Gefangenenaustausches vorzeitig nach Deutschland repatriiert worden war, dem Auswärtigen Amt über die Hintergründe seiner Heimkehr: »Ich war der Sache überdrüssig und sann nach einem Ausweg, aus der Gefangenschaft. Nachdem ich alle möglichen Krankheiten vorgetäuscht hatte und an einen Austausch nicht zu denken war, griff ich zu einem Brutalmittel. Ich hing mich im Februar d.J. auf, um die Aufmerksamkeit der Kanadier auf mich zu lenken, was dann auch vorzüglich glückte. Ich erhielt am anderen Tag einen Spezialarzt und wurde als Geisteskrank [sic] in eine Heilanstalt überführt, hier spielte ich dann weiter und wurde – nachdem ich drei weitere Spezialärzte gesehen habe – am 20. August d.J. auf dem Austauschwege in die Heimat geschickt.«307

Dieser Seemann wusste offensichtlich genau, dass ein Selbstmordversuch die Bewacher in höchste Alarmbereitschaft versetzen würde und Handlungszwänge erzeugen musste. Indem er die Behörden täuschte und »spielte«, setzte er seinen Körper strategisch ein, um seine Freilassung zu erreichen. Das freimütige Bekenntnis dieses Internierten ist aus wissenschaftlicher Sicht ein Glücksfall, zeigt es doch eine Form widerständigen Handelns, die aus ihrer Eigenlogik heraus sonst in den Quellen kaum auftauchen kann. Hier schuf sich ein Internierter Handlungsspielräume, indem er gegebene Strukturen und Hilfsangebote dezidiert entgegen der eigentlich intendierten Zielsetzung nutzte und dabei (die auf anderen Gebieten sehr wirksamen) Werte wie die ›Kameradschaft‹ bewusst nicht zur Orientierung heranzog, sondern einer eigensinnigen, extrem individualisierten Agenda folgte. Selbst wenn es sich bei den von Gerhard H. geschilderten Erlebnissen um eine nachträglich ausgedachte Heldengeschichte handeln sollte, die das eigene Leiden an der Internierung verdeckte, indem sie es narrativ in eine Agency-Geschichte transformierte, zeigt sich darin eine höchst rationale Auseinandersetzung mit den Strukturen und Mechanismen der Gefangenenfürsorge.

306 Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls in Monteith (Q/23) am 16. und 17. Mai 1944. PA AA, R 127.705. 307 Gerhard H. an das Auswärtige Amt, 31. Oktober 1944. Die Akte trägt den handschriftlichen Vermerk »zurück über Göteborg am 7. September 1944«. PA AA, R 127.941.

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Gefangenenaustausch und vorzeitige Repatriierung als Argumentationsfelder Dass Gerhard H. seine vorzeitige Repatriierung durch einen Selbstmordversuch und eine vorgetäuschte psychische Krankheit erreichte, wirft auch ein neues Licht auf die Stellungnahme, die Kapitän Krieger als Vertrauensmann des Lagers Monteith und als offizieller Vertreter der Internierten im September 1944 über den Schweizer Konsul an das Auswärtige Amt schickte: »Zu Eingang dieses Berichtes muss ich feststellen, dass während eines halben Jahres in diesem Lager 4 Kameraden Selbstmordversuche, davon 2 mit tödlichem Ausgang, verübt haben, und dass ferner 8 Kameraden in eine Geisteskrankenanstalt überführt wurden. Diese Tatsache ist äusserst bedenklich und erschreckend und muss zu den schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft Anlass geben, denn nur die allerschlimmsten Fälle, bei denen eine Heilung schon nicht mehr möglich ist, werden in die Anstalt gebracht.«308

Bei den Forderungen der Internierten nach Austauschmöglichkeiten für langjährige Gefangene spielten Selbstmordversuche eine zentrale Rolle. Kriegers Argumentation und das vage bedrohliche Szenario in seinem Text beruhen auf der unausgesprochenen Annahme, dass die psychischen Erkrankungen und Suizidversuche durch die Gefangenschaft verursacht wurden. Doch tatsächlich sind auch Fälle dokumentiert, in denen ein solcher Zusammenhang nicht eindeutig nachweisbar war, so etwa der Selbstmord des Internierten Carl H., der sich im Mai 1941 im Lager Mimico erhängte, nachdem er zuvor erfolglos versucht hatte, durch wiederholte Fluchtversuche seine Erschießung herbeizuführen.309 Im kanadischen Lagertagebuch wird Carl H. als »mentally-deranged« bezeichnet, jedoch ohne Verweis auf die Internierung als möglichen Auslöser dieses Zustands.310 Weiterhin betonte Krieger, »dass eine vier- und fünfjährige Gefangenschaft eine Unmenschlichkeit ist, deren geistigen und seelischen Belastungen viele Gefangene nicht gewachsen sind«311. Bei der Schilderung seiner Beobachtungen zeichnete er ein drastisches Bild: »Die Anzahl der Gefangenen, die mit den Nerven soweit herunter sind, dass ständig die Gefahr eines Zusammenbruches besteht, nimmt beständig und

308 Anlage zum Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls J. Oertly und des Vizekonsuls A.F. Somm in Monteith (Q/23) am 14. und 15. September 1944: Bericht des Vertrauensmannes Kapitän Krieger, betreffend langjährige Gefangenschaft, vom 15. September 1944. PA AA, R 127.951. 309 Vgl. hierzu den Bericht über den Besuch des CICR-Delegierten Ernest L. Maag in Mimico (New Toronto) (M/22), vom 3. Juni 1941. LAC, RG 24, 11249, File 9-5-3-22. 310 War Diary Camp Mimico (New Toronto) (M/22), Folder 1, Vol. 11, 29. Mai 1941. LAC, RG 24, 15391. 311 Anlage zum Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls J. Oertly und des Vizekonsuls A.F. Somm in Monteith (Q/23) am 14. und 15. September 1944: Bericht des Vertrauensmannes Kapitän Krieger, betreffend langjährige Gefangenschaft, vom 15. September 1944. PA AA, R 127.951.

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in beängstigender Weise zu. Die Stacheldraht-psychosen [sic] treten nicht nur bei den älteren Jahrgängen auf, sondern sind in allen Altersklassen zu finden.«312 Interessant ist Kriegers Verwendung des Begriffs der »Stacheldraht-psychosen«. Seine Argumentation erweckt den Eindruck, als setzte er diesen Begriff bewusst als Reizwort ein, das beim Empfänger Assoziationen an A.L. Vischers Studie zur Stacheldrahtkrankheit wecken sollte.313 Ob Krieger sich dabei auf eine gesicherte Diagnose des Lagerarztes bezog oder lediglich seine eigene Deutung der psychischen Veränderungen präsentierte, bleibt unklar. Der Stacheldraht fungiert hier erneut als Chiffre für alle negativen Aspekte der Internierung,314 auch für pathologische Persönlichkeitsveränderungen. Wenn Krieger mit seinem Schreiben etwas erreichen wollte, musste er Begriffe wählen, die die Handlungsbereitschaft beim Empfänger erhöhten. Indem er sich das entsprechende medizinische Vokabular zu eigen machte, verlieh er seiner Argumentation mehr Nachdruck als mit einer bloßen Beschreibung einzelner Zustände. Diese Verwendung des Stacheldrahts als Chiffre setzt sich auch in der folgenden Passage fort, in der Krieger seine Position zudem mit Zahlen zur Altersverteilung und Internierungsdauer der Seeleute untermauerte: »Etwa 60% der Lagerbelegschaft befindet sich im 5. und jetzt z.T. im 6. Jahr in Gefangenschaft, 95% sind länger als 3 Jahre gefangen. Dies hat seine Ursache darin, dass die meisten Schiffe in den ersten Kriegsmonaten in Gefangenschaft gerieten. In kaum einem anderen Lager ist der Prozentsatz der langjährigen Gefangenen so hoch wie bei den Seeleuten und in keinem anderen Lager sind so hohe Altersunterschiede. Sehr viele von den alten Seeleuten waren bereits im Weltkriege 4 und 5 Jahre gefangen und sitzen nun wieder die gleiche Zeit – 10 Jahre ihres Lebens – hinter Stacheldraht. In gleicher Weise muss man sich auch die Gefahren für die jungen Seeleute klar machen, die mit 14, 15, 16 und 17 Jahren in Gefangenschaft gerieten und nun Anfang der Zwanziger Jahre stehen – 5 Jugend und Lehrjahre [sic] hinter Stacheldraht.-«315

Krieger warnte weiter: »Die Gefahr für jeden Einzelnen, sowohl für die Jugendlichen als auch für die Alten, ist sehr sehr gross und das gemeinschaftliche lange Lagerleben zeigt heute alle Zeichen dieser Gefahr.«316 Krieger betonte die Bedrohlichkeit der Situation für alle Internierten. Er schloss sein Schreiben mit einem Appell an das Verantwortungsgefühl der zuständigen Behörden, einen Gefangenenaustausch herbeizuführen, »bevor ein allgemeiner geistiger und seelischer Niederbruch der Gefangenen zu tage [sic] tritt«317.

312 313 314 315

Ebd. A.L. Vischer: Die Stacheldraht-Krankheit. Vgl. Kapitel 5, S. 244-245 sowie S. 254-255. Anlage zum Bericht über den Besuch des Schweizer Konsuls J. Oertly und des Vizekonsuls A.F. Somm in Monteith (Q/23) am 14. und 15. September 1944: Bericht des Vertrauensmannes Kapitän Krieger, betreffend langjährige Gefangenschaft, vom 15. September 1944. PA AA, R 127.951. 316 Ebd. 317 Ebd.

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Kriegers Ausführungen und die Tatsache, dass er sie über die Schutzmachtvertretung nach Deutschland sandte, werden vor dem Hintergrund verständlich, dass Deutschland und Großbritannien zu dieser Zeit über den Austausch von Gefangenen verhandelten. Doch anders als im Ersten Weltkrieg und entgegen der Hoffnungen vieler Internierter erzielten die Krieg führenden Staaten keine prinzipielle Übereinkunft, die einen Austausch langjähriger Gefangener ermöglicht hätte.318 Der Schweizer Konsul konstatierte daher: »The lack of such an agreement made itself particularly felt in camps where the merchant seamen were housed inasmuch as these men who were quite often of an advanced age had been interned since the first days of the war, i.e. for five years and over. […] Camps included prisoners and internees who had already been interned during the war of 1914/18.«319

Die einzige Chance für die internierten Seeleute, vor Kriegsende nach Deutschland zurückzukehren, lag in der Repatriierung aus gesundheitlichen Gründen nach der Untersuchung durch eine gemischte Ärztekommission.320 Neben den gemischten Kommissionen, die insgesamt viermal durch die Lager reisten, gab es sogenannte Interimskommissionen, die aus kanadischen Ärzten bestanden und auf kanadische Initiative zusammentraten.321 Erst ab 1943 bestand für die Internierten die Möglichkeit, sich einer solchen Kommission vorzustellen, um sich für die vorzeitige Repatriierung zu bewerben. Der großen Zahl an Repatriierungswilligen stand jedoch nur eine geringe Zahl verfügbarer Plätze gegenüber. So geht aus einer Aufstellung der Schutzmachtvertretung im Dezember 1944 hervor, dass zu diesem Zeitpunkt in ganz Kanada nur 80 Internierte heimschaffungsberechtigt

318 Rudolf Becker kommentierte die Angelegenheit folgendermaßen: »Viele können […] nicht verstehen, daß es im letzten Krieg im Juli 1918 gelungen ist, ein Abkommen zustande zu bringen, nachdem alle, die länger als 18 Monate gefangen saßen, zumindest in ein neutrales Ausland gebracht werden sollten und daß in diesem Kriege diese Verhandlungen viel viel schleppender und komplizierter durchgeführt werden.« Brief an den Vater vom 5. März 1944. DSM, III A 3324 b. 319 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 52-53. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 320 K. Böhme: Hilfen für die deutschen Kriegsgefangenen 1939-1956, hier S. 356. Die Kommissionen mussten aus einem Arzt der Gewahrsamsmacht und zwei Ärzten aus neutralen Ländern bestehen. Letztere zu rekrutieren, erwies sich als besonders schwierig. Das CICR wurde von den Krieg führenden Staaten damit beauftragt, geeignete Ärzte zu nominieren, und unterstützte die Kommissionen bei ihrer Arbeit. Siehe F. Bugnion: Le Comité International de la Croix-Rouge et la Protection des Victimes de la Guerre, S. 209. Zur kanadischen Sichtweise auf die problematischen Verhandlungen siehe Vance, Jonathan Franklin William: The Trouble with Allies: Canada and the Negotiation of Prisoners of War Exchanges. In: Moore, Bob/Fedorowich, Kent (Hg.): Prisoners of war and their captors in World War II. Oxford 1996, S. 69-85, hier S. 71-74. 321 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 51. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*.

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waren, die im Januar 1945 nach Deutschland aufbrechen konnten.322 Die größte Gruppe von Seeleuten wurde im August 1943 repatriiert (165), kleinere Gruppen folgten im Februar, Mai und August 1944. Nur bei fünf der insgesamt acht Repatriierungstransporte waren Seeleute an Bord.323 Zwischen November 1940 und Januar 1945 wurden insgesamt 304 Seeleute vorzeitig repatriiert.324 Gerade weil die Austauschmöglichkeit von vielen herbeigesehnt worden war, konnte sie zur zusätzlichen psychischen Belastung werden. Dies wird anhand von Rudolf Beckers Beobachtungen der Stimmungslage im Camp Monteith vor und während der Auswahluntersuchungen ersichtlich. Durch enttäuschte Hoffnungen auf eine Austauschmöglichkeit sah Becker die ohnehin labile Verfassung der Gefangenen noch weiter gefährdet. Besuche von Ärztekommissionen zeitigten seiner Beobachtung nach stets »große Aufregung mit enormem Nervenverschleiß«325. Abgewiesene Interessenten versetzte die Untersuchung durch die Ärztekommission oft in »helle Aufregung, der zig Erschöpfungszustände folgten. Viele mußten feststellen, daß sie die wohlgelungene Nervenprobe nicht bestanden und ihre eigene Widerstandskraft gegenüber solchen Anstrengungen überschätzt hatten.«326 Im Zusammenhang mit der Möglichkeit vorzeitiger Repatriierung hielt Becker es auch für wahrscheinlich, dass jemand eine psychische Krankheit vortäuschen würde, um vorzeitig nach Hause zu gelangen, schätzte jedoch die Chancen als gering ein, damit durchzukommen: »Hier würden es tausende schriftlich geben, wenn […] so ein freimütiges Bekenntnis die Gefangenschaft beenden würde. Eine Austauschkommission, der man so etwas versichert, glaubt es leider nicht.«327 Dass jemand wie Gerhard H. mit einer solchen Täuschung Erfolg haben könnte, hielt Becker offensichtlich nicht für möglich. Kontinuitäten und Brüche: Interniertenbriefe als Raum der Selbstthematisierung Die emotionale und psychische Belastung durch die Internierung resultierte zu einem guten Teil aus dem Erlebnis einer unfreiwilligen Statuspassage. Diese war an der markanten Interniertenkleidung sowohl für Außenstehende als auch für die Insassen selbst sichtbar. Wie in einer Anstaltskleidung328 materialisierte sich darin der neue Status, der den Gefangenen buchstäblich übergestülpt wurde. Erving Goffman zufolge vollzieht sich beim Eintritt in eine totale Institution für den Neuankömmling unweigerlich ein »Rollenverlust«.329 Goffman schreibt: »Die Zugehörigkeit zu totalen

322 Abschrift eines Telegramms der Schutzmachtvertretung an die deutsche Regierung vom 7. Dezember 1944. BArch-MA, RM 7/1906. 323 Summary report respecting the Application of the Prisoners of War Convention in Canada (1939-1945), S. 51. BAR, E2200.150-01#1000/219#2*. 324 Ebd. Einzelheiten zu den Repatriierungstransporten, den Schiffen und Ankunftsdaten siehe die Übersicht in PA AA, R 127.882. 325 Rudolf Becker an seinen Vater, 4. April 1944. DSM, III A 3324 b. 326 Ebd. 327 Rudolf Becker an seinen Vater, 12. Mai 1944. DSM, III A 3324 b. 328 E. Goffman: Asyle, S. 27. 329 Ebd., S. 25.

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Institutionen […] unterbricht automatisch die Rollenplanung, denn die Trennung des Insassen von der weiteren Welt dauert rund um die Uhr an und kann jahrelang dauern.«330 Die erzwungene Abgabe persönlicher Gegenstände – die »Wegnahme der Identitäts-Ausrüstung«331 – unterstreiche diese Unterbrechung noch und demonstriere dem neuen Insassen die Bedeutungslosigkeit seines bisherigen Lebens. Auch bei der Ankunft der Seeleute im Internierungslager wurden diese Schritte der Distanzierung vom Leben ›draußen‹ vollzogen und untermauerten den neuen Status. Rudolf Becker beispielsweise musste sein Sparbuch,332 sein Seefahrtsbuch333 sowie seine Adressliste abgeben.334 »Das kann ja einen Seemann nicht erschüttern«: Strategien der Vergewisserung Briefe zeigen Momentaufnahmen aus dem Prozess der Auseinandersetzung mit dieser Statuspassage und der Grenzsituation der Internierung. Schreiben war eine Möglichkeit, die Statuspassage der Internierung in der Kommunikation mit Angehörigen und Freunden, aber auch für sich selbst immer wieder neu zu deuten. Ob ein Internierter die Gefangennahme eher als biografischen Bruch darstellte oder ob er diesen Bruch glättete und überschrieb, hing von der individuellen Disposition und der jeweiligen Beziehung ab, in deren Rahmen der Brief geschrieben wurde. Zu fragen ist also, welche Strategien die Internierten entwickelten, um sich schreibend mit dieser potenziellen Zäsur auseinanderzusetzen, und wie sich diese Strategien im Hinblick auf die Schreibbedingungen deuten lassen. Nicht nur die zeitliche Nähe zu den beschriebenen Erlebnissen prägte die Briefe, sondern auch der zeittypische Kommunikationskontext. So finden sich in den untersuchten Briefen einige Beispiele dafür, wie die Schreiber die Bruchstelle der Internierung in abgeschwächter Form thematisierten oder die Internierung sogar durch bestimmte Schreibstrategien in ihre jeweilige Biografie integrierten. Oft vermieden die Verfasser dabei gleichzeitig alles, was die Adressaten in Aufregung hätte versetzen können. So schrieb ein Seemann im Oktober 1941 aus Kanada an seine Frau: »Mit 7 Kameraden von der ›Morea‹ bin ich in dieses Lager ›Camp‹ 23 gekommen. […] Nun heisst es, sich erstmal wieder einleben in die neuen Verhältnisse. Na, Du weisst ja, dass man als Fahrensmann sich überall zurechtfindet und so lange wird die ganze Sache wohl nicht mehr dauern. Wir haben ja warten gelernt, ohne uns erschüttern zu lassen.«335

Ein anderer Seemann, der den Untergang der ARANDORA STAR überlebt hatte und anschließend nach Australien transportiert worden war, schrieb von dort in ähnlichem

330 331 332 333 334 335

Ebd. Ebd. Rudolf Becker an seinen Vater, 8. Juli 1942. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 10. Juli 1943. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 29. September 1940. DSM, III A 3324 b. Brief eines internierten Seemannes aus Camp Monteith (Q/23) an seine Frau, 24. Oktober 1941. PA AA, R 127.705.

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Duktus an Freunde in Deutschland. Er bat sie, sich keine Sorgen zu machen, denn »soʼn oller Bootsmann wird nicht mürbe werden, da kann kommen, was mag«336. Ein Dritter schloss einen Brief an seine Frau mit den Worten: »Mache Dir keine Sorgen um mich, uns geht die Sonne nicht unter. Vielleicht gondelt man mit uns noch weiter durch die Weltgeschichte, aber das kann ja einen Seemann nicht erschüttern.«337 Die drei Briefe demonstrieren Durchhaltewillen und Zuversicht, indem sie auf einen festen seemännischen Wesenskern verweisen, der die Statuspassage der Gefangennahme zu überschreiben scheint. Die Wendungen in den zitierten Briefen erinnern an den Topos des starken Seemannes,338 müssen jedoch auf den spezifischen Kommunikationskontext von Krieg und Gefangenschaft bezogen werden. Inhaltlich wie formal transportierten sie Sicherheit statt Verunsicherung, und zwar nicht nur für die Empfänger, sondern auch für die Schreiber selbst. Generell können Briefe auch der Selbstvergewisserung des Verfassers dienen, wie Ruth I. Cape erläutert: »Private letters […] can help individuals […] to come to terms with a new, potentially threatening environment that creates a sense of insecurity that they might feel about themselves. Letter writing could thus be seen as a means of self-reassurance.«339 Doch die oben zitierten Formulierungen lassen sich auch als Zeichen von Gefühlskontrolle interpretieren. Abgesehen davon, dass »Emotionalität jeglicher Art […] eine potentielle Quelle intersubjektiver Peinlichkeit«340 darstellen kann, wie Andreas Reckwitz schreibt, dient die Affektkontrolle gerade in Kriegsbriefen dem kommunikativen und sozialen Zweck, den Empfänger zu beruhigen.341 Zugleich enthebt die Verwendung fester und verallgemeinernder Sprachbilder den Verfasser der Notwendigkeit, seine individuelle Gefühlslage näher zu erläutern. Durch den Verweis auf eine seemännische Wesensart, die bei der Bewältigung von Krisen helfe, rücken

336 Brief eines internierten Seemannes, Australien, 10. Oktober 1940. PA AA, R 127.895. 337 Auszug aus dem Brief eines internierten Seemannes, Camp Fort Henry (F/31) an seine Frau, 18. Juli 1940. PA AA, R 127.913. 338 T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 197. 339 Cape, Ruth I. (Hg.): Youth at War. Feld post Letters of a German Boy to His Parents, 1943-1945 (Studies on Themes and Motifs in Literature, 104). New York u.a. 2010. 340 Reckwitz, Andreas: Umkämpfte Maskulinität. Zur Historischen Kultursoziologie männlicher Subjektformen und ihrer Affektivitäten vom Zeitalter der Empfindsamkeit bis zur Postmoderne. In: Borutta, Manuel/Verheyen, Nina (Hg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne. Bielefeld 2010, S. 57-77, hier S. 68. 341 Waren es in Briefen von der Front häufig existenziell bedrohliche und buchstäblich ›unbeschreibliche‹ Erlebnisse, die vom Schreiber ausgespart wurden, um die Angehörigen zu schonen und ihnen keine unnötigen Sorgen zu bereiten, so konnte in der Gefangenschaft auch die psychische Belastung durch die Einsperrung einer inneren Zensur unterliegen. Vgl. M. Humburg: »Jedes Wort ist falsch und wahr – das ist das Wesen des Worts.«, S. 82. Bestimmte Informationen wurden den Empfängern von Kriegsbriefen daher auch bewusst vorenthalten; Isa Schikorsky führt das Verschweigen schwieriger Themen als eine von fünf Sprachhandlungsstrategien an, die typisch für Kriegsbriefe seien. Sie würden »meist im thematischen Kontext von Kriegserlebnissen und -erfahrungen mit sehr starker emotionaler Belastung eingesetzt.« Siehe I. Schikorsky: Kommunikation über das Unbeschreibbare, S. 301-304.

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die Schreiber ihre professionelle Persona in den Vordergrund, die Statuspassage der Gefangennahme wird negiert. Bilder von seemännischer Identität wirken in diesem Zusammenhang biografisch integrierend und stellen sowohl retro- als auch prospektiv Kontinuität her. Das Festhalten an der beruflichen Identität lässt sich auch als Widerstand gegen den Statuswechsel begreifen und bekräftigt die Überzeugung, dass der Gefangenenstatus den vorherigen nicht einfach ablöst. In Anlehnung an Klara Löfflers Analyse der Briefe eines deutschen Soldaten ließe sich eine weitere Lesart der Briefpassagen an der Formel vom »Fahrensmann« festmachen, der »sich überall zurechtfindet«.342 Wie Löffler darlegt, war es während des Zweiten Weltkriegs gängig, »in den Briefen fortwährend die deutsche Tüchtigkeit, insbesondere die Fähigkeit deutscher Soldaten, mit jeder Situation fertig zu werden, unter Beweis zu stellen«343. Die Betonung der eigenen Unerschütterlichkeit in den genannten Beispielen ähnelt zudem der Rhetorik der Gewöhnung, die der Historiker Peter Knoch anhand von Feldpostbriefen als Signal für die »Erstarrung und Abtötung der eigenen Lebensfülle«344 ausgemacht hat, die Menschen im Krieg erleben.345 Solche Formeln deuten darauf hin, dass der Schreiber sich in einer krisenhaften Situation befindet, die damit verbundenen Empfindungen jedoch nicht explizit artikulieren kann oder will. Ähnlich wie die in Feldpostbriefen häufig auftretende Rede von der Gewöhnung an den Ausnahmezustand hat die Seemannsidentität in den Interniertenbriefen den Stellenwert einer Alltagstheorie,346 die die Komplexität der Situation auf ein für Schreiber wie Empfänger erträgliches Maß reduzierte. »Many of the most interesting or disturbing effects of war on personal identity«, so Margaretta Jolly, »are precisely those that are downplayed in letters«347. Verfestigte Bilder einer Seemannsidentität können, müssen aber nicht unbedingt ein Hinweis auf emotionale Leerstellen im Text sein. »Meine Laufbahn und Ziele sind zerstört«: Internierung als Zäsur Der Blick in das umfangreiche Konvolut an Briefen Rudolf Beckers zeigt nicht nur, dass er seine Gefangennahme als tiefgreifenden biografischen Einschnitt empfand, sondern auch, durch welche Schreibstrategien er diese Überzeugung zum Ausdruck brachte. Seinem Vater, an den die meisten seiner Briefe gerichtet waren, machte er wiederholt und auf unterschiedliche Weise deutlich, dass er die Internierung als Be-

342 Brief eines internierten Seemannes aus Camp Monteith (Q/23) an seine Frau, 24. Oktober 1941. PA AA, R 127.705. 343 K. Löffler: Aufgehoben, S. 116. 344 Knoch, Peter: Kriegserlebnis als biographische Krise. In: Gestrich, Andreas (Hg.): Biographie – sozialgeschichtlich. Göttingen 1988, S. 86-108, hier S. 106. 345 Klara Löffler zitiert ähnliche Beispiele aus den Soldatenbriefen von Richard M., der »versucht […] in den Briefen fortwährend die deutsche Tüchtigkeit, insbesondere die Fähigkeit deutscher Soldaten, mit jeder Situation fertig zu werden, unter Beweis zu stellen.« K. Löffler: Aufgehoben, S. 116. 346 P. Knoch: Kriegserlebnis als biographische Krise, S. 106. 347 Jolly, Margaretta: War Letters. In: Dies. (Hg.): Encyclopedia of life writing. Autobiographical and biographical forms. London 2001, S. 927-928, hier S. 928.

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drohung seiner biografischen Kontinuität betrachtete. Obwohl Becker zum Zeitpunkt des Schreibens noch interniert war, bezogen sich diese Äußerungen nicht ausschließlich auf seine Schreibgegenwart, sondern enthielten oft auch rückblickende Deutungen der Gefangennahme, die trotz des Adressatenbezugs stellenweise Züge eines Selbstgesprächs tragen. So interpretierte Becker im zweiten Jahr seiner Internierung die Gefangennahme explizit als starken Bruch in der eigenen Biografie, indem er eine Rückprojektion seiner eigenen illusionslosen Haltung mit einer Zwischenbilanz verband: »Ich war mir auch von Anfang an bewusst, dass mein Leben zu einem Abschluss gekommen war mit meiner Gefangennahme. Meine Laufbahn und Ziele sind zerstört, das Leben muss ich von vorne wieder anfangen.«348

Auf objektivierende Art und Weise vermittelt er seine Sicht auf die Internierung als destruktive Erfahrung und Moment biografischer Diskontinuität. An anderer Stelle machte er eher beiläufig deutlich, dass er seine berufliche Laufbahn »als unfreiwillig unterbrochen«349 betrachtete, thematisierte dabei jedoch den Bruch explizit. Begreift man Briefe mit Peter Bürgel als »besonders prägnanten Ausdruck des SelbstBewußtseins«, die »immer auch etwas von der Identität der schreibenden Person spiegeln«,350 so rückt hier auch Beckers Selbstpräsentation als ehrgeizig und karrierebewusst in den Blickpunkt, die seine Bewertung der Internierung stark beeinflusste. Das Sprechen über Veränderungen, die Becker an sich selbst beobachtete, sowie das Reflektieren über allgemeine Merkmale und Auswirkungen des Gefangenendaseins nehmen in Beckers Briefen viel Raum ein. Schreibend konnte er über sich selbst in dieser Situation reflektieren, Selbstentwürfe formulieren und Selbstzweifel artikulieren. Oft beziehen sich diese auf konkrete Anlässe in der alltäglichen Lebenswelt des Lagers, die Becker beim Schreiben mit Identitätsfragen verknüpfte. Das Schreiben in solchen Situationen ist, mit Miriam Dobson gesprochen, »a medium for reconciling past and present and fashioning a workable sense of self«351. In Beckers Briefen greifen dabei Thematisierungen von Identitäts- und Alteritätsprozessen ineinander:352 Denn das wichtigste Mittel, mit dem Becker gegenüber seinem Vater plausibel machte, wie sehr er die Internierung als biografischen Bruch empfand, sind Alteritätskonstituierungen. »Alterität konstituiert sich«, Gudrun Schwibbe zufolge, »im Vergleich mit verschiedensten Instanzen, Gruppen oder Einzelpersonen, in Auslotung oder Überschreitung eigener Grenzen, in Selbst- ebenso wie in Fremdzuschreibungen«353. Die Alteritätskonstituierungen bilden einen roten Faden durch das gesamte Brief-Konvolut und vermitteln zwischen den Zeilen, dass die Internierung für Becker eine Zäsur darstellte.

348 Rudolf Becker an Margrit Kieker, 19. August 1942. Abschrift des Briefes im Schreiben von M. Kieker an Beckers Vater. DSM, III A 3324 b. 349 Rudolf Becker an seinen Vater, 1. Juli 1942. DSM, III A 3324 b. 350 P. Bürgel: Der Privatbrief, S. 283. 351 M. Dobson: Letters, hier S. 61. 352 G. Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein, S. 26. 353 Ebd., S. 26.

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Doch die Briefe bilden diesen Prozess des Anderswerdens nicht in Form einer linearen Entwicklung ab: Zu unterschiedlichen Zeitpunkten rückte Becker jeweils unterschiedliche Veränderungen in den Vordergrund, die er an sich bemerkte und die er auf die Internierung zurückführte. Die Briefe lassen sich gleichermaßen als Medium der Selbstreflexion wie als adressatenbezogene Identitätskonstruktionen lesen, die aus dem Versuch erwuchsen, dem Vater zu vermitteln, wie es ist, ein Gefangener zu sein. Die äußere Ereignislosigkeit und Gleichförmigkeit der Internierung, die Becker in den Briefen immer wieder beschrieb, steht dabei in krassem Gegensatz zu den inneren Veränderungen, die er an sich selbst beobachtete oder vermutete. Zwar schrieb er zum Beispiel im April 1943 an den Vater: »Von mir selbst gibt es nichts Neues zu berichten, da sich nichts verändert hat. Es gibt ja kaum ein Leben, das in seiner Ausgestaltung so stabil wie das eines Zivilinternierten-Seemannes ist.«354 Doch insgesamt betrachtet fiel sein Urteil über Veränderungen ambivalent aus: »Ob die letzten beiden Jahre Spuren an mir hinterlassen haben, kann erst von anderen, die ewig in Freiheit waren, festgestellt werden. Gesundheitlich bin ich wohlauf, Haarausfall oder sonstige Alterserscheinungen plagen mich nicht, etwas nervöser bin ich vielleicht geworden.«355

Die Veränderungen, die Becker in seiner gesamten Korrespondenz anspricht, lassen sich weitgehend den auch in Gudrun Schwibbes Kategoriensystem zur Erfassung von Alterität(en) genannten Themen Körper/Psyche, Kognitionen, Emotionen, Soziale Beziehungen und Verhaltensweisen zuordnen, ergänzt um das Thema der intellektuellen Leistungsfähigkeit.356 Dabei beschrieb Becker durchgängig degenerative Veränderungen; so konstatierte er an sich beispielsweise »geistige Rückentwicklungen«.357 Zwar führte Becker die konstatierten Veränderungen zunächst auf den Moment der Gefangennahme zurück, doch gleichzeitig schrieb er sie der langen Internierungsdauer zu und stellte sie als offenen Prozess dar, der die Alteritätserfahrung immer mehr vertiefte. Die Gefangennahme bezog für ihn ihre einschneidende Bedeutung vor allem aus dem Umstand, dass ihr eine mehrjährige Gefangenschaft folgte, weniger aus dem Moment der Statuspassage im engeren Sinne. Dies zeigt sich an dem folgenden Ausschnitt aus einem Brief Beckers an seinen Vater: »In diesen Tagen waren es 2 Jahre, da ich Hamburg verließ. Das ist eine Zeit, lange genug, die sicher an uns nicht spurlos vorübergegangen ist. Eine Bilanz zu ziehen, wäre verfrüht, sie fiele auch vielleicht zu ungerecht aus. Aber darüber bin ich mir klar, daß nicht derselbe Mensch eines Tages wiederkommen kann, wie er vor Jahren geschieden ist.«358

Obwohl Becker hier nicht ausführt, worin die Veränderungen bestehen, lässt er keinen Zweifel daran, dass die Internierung eine umfassende Verwandlung seiner Persönlichkeit in Gang gesetzt hatte. In diesem Fall überlagern sich also die von Gudrun

354 355 356 357 358

Rudolf Becker an seinen Vater, 27. April 1943. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 8. Januar 1942. DSM, III A 3324 b. G. Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein, S. 23-24. Rudolf Becker an seinen Vater, 4. Januar 1944. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 22. August 1941. DSM, III A 3324 b.

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Schwibbe vorgeschlagenen beiden Zeitdimensionen Prozess und Moment zur Erfassung von Alteritätskonstituierungen und bilden zusammen die Spezifik der internierungsbedingten Alteritätserfahrung.359 In vielen Briefen projiziert Becker zudem die Veränderungen, die er bereits an sich festgestellt hat, weiter in die Zukunft. Er setzt Imaginationen und antizipierte Fremdzuschreibungen ein, um die durch die Internierung ausgelösten irreversiblen und tiefgreifenden Veränderungen zu thematisieren. Manche Veränderungen brachte er zur Sprache, indem er sich die Wahrnehmungen seines Vaters im Moment der Wiederbegegnung vorstellte: »Wenn Du mich mal wiedersiehst, wird Dir sicher auffallen, daß ich stupide geworden bin.«360 Die imaginierte Rückkehr wird hier als Moment eingeführt, in dem die durch die Internierung bedingten Charakterveränderungen für den Vater deutlich zutage treten, der – so die Fantasie Rudolf Beckers – den zurückgekehrten Sohn mit dessen jüngerem Selbst vergleichen würde. Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, dass die Vorstellung, wie der Vater ihn in Erinnerung haben könnte, für Becker dem Blick in einen verzerrenden Spiegel glich, der Veränderungen überdeutlich sichtbar machte. Auch an anderen Stellen wird eine externe, vermeintlich objektive Bewertungsinstanz eingeführt: »Die Angehörigen werden die Zurückkehrenden als zynisch und skeptisch geworden in Empfang nehmen müssen.«361 Aber auch ohne die explizite Nennung einer urteilenden Figur spielt die Rückkehr eine wichtige Rolle bei der Verhandlung des Anderswerdens: »Ich bin mir klar darüber, dass ich nicht als umgänglicher Mensch zurückkehre.«362 Diese demonstrativ nüchterne Formulierung ist keine bloße Selbstreflexion, sondern auch als Warnung an die Daheimgebliebenen zu lesen, sich keine Illusionen über die Persönlichkeit des künftigen Heimkehrers zu machen. Neben dieser prognostischen Art, Alteritätserfahrungen zu thematisieren, setzte Becker auch die entgegengesetzte Blickrichtung ein und verglich Verhaltensweisen, die er gegenwärtig an sich beobachtete, explizit mit seinem früheren Ich. So bemerkte er: »Durch die langen Jahre der Gefangenschaft kann ich das nicht mehr wie früher, Ärgernisse einfach mit einem Schultern [sic] schütteln abzutun.«363 Ausgehend von einer Selbstbeobachtung artikulierte er die wachsende Distanz zu seinem früheren Ich, wobei der Zeitpunkt des ›früher‹ unspezifisch bleibt. Im Mittelpunkt steht der wahrgenommene Verlust psychischer Belastbarkeit. Auch geänderte Einstellungen und Bewertungsmaßstäbe thematisierte Becker durch expliziten Vergleich mit vergangenen Verhaltensweisen:364

359 360 361 362

G. Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein, S. 23. Rudolf Becker an seinen Vater, 23. April 1941. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 12. August 1944. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an Margrit Kieker, 19. August 1942, Abschrift im Brief von M. Kieker an Beckers Vater. DSM, III A 3324 b. 363 Rudolf Becker an seinen Vater, 10. September 1942. DSM, III A 3324 b. 364 Zur Bedeutung des Vergleichs für Alteritätskonstituierungen sowie zur Unterscheidung verschiedener Vergleichsebenen (Makro-, Meso- und Mikro-Ebene) siehe G. Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein, S. 23.

466 | G EFANGEN IN K ANADA »Manchmal überrasche ich mich selbst bei einer teuflischen Freude darüber, wenn ich erfahre, daß es anderen schlecht geht. Früher wäre mir das nicht eingefallen u. auch heute sagt mir der Verstand, daß das nicht die richtige Einstellung ist, aber das Gemüt oder wie man es nennen will, funktioniert nicht mehr verstandesmäßig. Andere haben mir aber die gleiche Entwicklung bestätigt u. das beruhigt mich etwas.«365

Fast in Form einer Beichte gesteht Becker hier moralische Verfehlungen. Im Abgleich mit früher verinnerlichten moralischen Maßstäben bewertet er sein aktuelles Verhalten als falsch, den momentanen Umständen entsprechend jedoch als normal und damit entschuldbar. Neben den Vergleich mit seinem früheren Ich tritt hier zusätzlich der Vergleich mit Mitgefangenen. Der Vater wird als frühere Sozialisationsinstanz angesprochen und zum Richter über das Verhalten seines Sohnes erhoben. Aus dieser Passage spricht auch eine subjektiv empfundene Wehrlosigkeit gegenüber der Eigendynamik neuer Verhaltensmuster. Besonders deutlich zeigt sich dies bei den Briefen, in denen Becker pathologisierend über seine Alteritätserfahrung spricht: »Derselbe Mensch bin ich nicht geblieben. Wenn ich auch kein körperlich Kriegsverletzter bin, so bin ich doch ein hochprozentiger seelischer Invalide. Das Leiden soll erst mal wieder kuriert werden, das kann man nur in vorsichtiger freiheitlicher Heilbehandlung vollbringen.«366

Der durch die Internierung ausgelösten umfassenden Alteritätserfahrung schreibt Becker hier Krankheitswert zu. Für seine Argumentation nutzt er die symbolische Figur des Kriegsversehrten; indem er sich selbst in die verwandte Kategorie des seelischen Invaliden einordnet, beansprucht er einen Opferstatus. Im Unterschied zum körperlich Kriegsversehrten ist ein »seelischer Invalide« von außen nicht als »Kriegsverletzter« zu erkennen. Seine Verletzungen gehen nicht unbedingt auf einen eindeutig bestimmbaren Moment der Verwundung zurück, sondern entstehen kumulativ durch die lange Dauer der Internierung. Das pathologisierende Sprechen über die Auswirkungen der Internierung auf die eigene Person vermittelte dem Vater, dass Rudolf Becker den biografischen Übergang der Internierung als Bruch und Verletzung seiner psychischen Integrität empfand. Zugleich machte er deutlich, dass Internierung, auch wenn sie weitab der Kriegsschauplätze stattfand, eine Form von Kriegserfahrung war.367 Die hier auch angesprochene Verwandlung in einen neuen, jedoch versehrten Menschen ist ein Motiv, das Becker öfter verwendet, um zu vermitteln, wie tiefgreifend die Internierung auf sein Selbstbild einwirkte. Im Sommer 1944 bekam das pathologisierende Sprechen über die Auswirkungen der Internierung tatsächlich eine körperliche Grundlage: Die »Schmerzen im Unterleib«,368 die Becker dem Vater im

365 Rudolf Becker an seinen Vater, 14. November 1943. DSM, III A 3324 b. 366 Rudolf Becker an Margrit Kieker, 19. August 1942. Abschrift des Briefes im Schreiben von M. Kieker an Beckers Vater. DSM, III A 3324 b. 367 Zum Kriegsinvaliden als Symbol der Kriegserfahrung siehe Kienitz, Sabine: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923 (Krieg in der Geschichte, 41). Paderborn 2008, S. 23. 368 Rudolf Becker an seinen Vater, 27. Juli 1944. DSM, III A 3324 b.

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Juli 1944 beschrieb und die ihn zu diesem Zeitpunkt bereits »seit Monaten«369 plagten, würde man heute wohl als psychosomatische Beschwerden bezeichnen. Im Oktober kommentierte er den unverändert schmerzhaften Zustand, der jedoch durch keinen organischen Befund zu untermauern war, folgendermaßen: »Von allen Seiten ist mir […] versichert worden, daß lediglich eine nervöse Konstitution daran Schuld ist und daß alle Beschwerden mit einer Umweltveränderung sich zurückbilden können, wenn man sich die nötige Pflege angedeihen läßt.«370 Die angesprochene »Umweltveränderung« impliziert das Ende der Internierung, das zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht absehbar war. Über die genauen Ursachen seiner Nervosität schwieg sich Becker aus; stattdessen sprach er über seine Symptome. Dies deckt sich mit Martyn Lyons’ Analyse französischer Soldatenbriefe des Ersten Weltkriegs: Wo Psychisches unsagbar wird, schreiben die Verfasser über den Zustand des Körpers.371 Auch andere der angesprochenen Charakterveränderungen begründete Becker gegenüber dem Vater mit Verweis auf bestimmte Folgen der Kriegssituation: Es sei »so einsam um einen geworden, weil die Großzahl der Freunde das Leben nicht fortsetzen durfte, daß man sich wie ein 90jähriger fühlt, der alle überlebt hat u. nun alleine übriggeblieben ist«372. Beckers Vergleich seiner Person mit einem Greis vermittelt die drastische Veränderung, vor allem den Verlust sozialer Beziehungen. Internierung und Krieg schienen in seinen Augen einen beschleunigten Alterungsprozess in Gang zu setzen, mit den typischen Begleiterscheinungen wie Einsamkeit und Verlusterfahrungen. Einerseits machte er dadurch deutlich, dass seine psychische Verfassung von äußeren Bedingungen abhing, die er selbst nicht beeinflussen konnte. Andererseits vertiefte der Tod der Freunde die Zäsur zwischen der Internierungs- bzw. Kriegszeit und Beckers früherem Leben. Eine einzige Interpretation einer Alteritätserfahrung, die nicht klar als negativ gekennzeichnet ist, findet sich in einem Brief aus dem ersten Jahr der Gefangenschaft. Im November 1940 schrieb Rudolf Becker an seinen Vater: »Mache Dir wegen meiner keine Sorgen, ich bin jung und längst nicht so empfindlich mehr, wie Du mich vielleicht noch in Erinnerung hast […].«373 Hier wird den Erlebnissen eine abhärtende Wirkung zugeschrieben, die dazu befähigt, belastende Situationen besser zu überstehen.374 Diese Konstitution wird hier – typisch für Kriegsbriefe – zur Beruhigung des Vaters eingesetzt. Gleichzeitig vermittelt die Passage jedoch auch, dass das Bild des Vaters von seinem Sohn nicht mehr aktuell ist. Alle anderen Beispiele hingegen zeigen, wie Becker implizit oder explizit stets negative Bewertungen in die Beschreibung der jeweiligen Veränderung integrierte. Was er an sich beobachtete, interpretierte er durchweg negativ, als »rückschrittliche Entwicklung«,375 Verringerung der

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Ebd. Rudolf Becker an seinen Vater, 11. Oktober 1944. DSM, III A 3324 b. M. Lyons: French Soldiers and Their Correspondence, hier S. 90. Rudolf Becker an seinen Vater, 17. Oktober 1943. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 12. November 1940. DSM, III A 3324 b. Auch hier kommt einem die Rhetorik der Gewöhnung in den Sinn, die Peter Knoch in Feldpostbriefen untersucht hat. P. Knoch: Kriegserlebnis als biographische Krise, S. 106. Vgl. dazu auch S. 462. 375 Rudolf Becker an seinen Vater, 28. Oktober 1942. DSM, III A 3324 b.

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Lebensfülle, krankhafte Abweichung vom Normalzustand und Verzerrung seiner eigentlichen Persönlichkeit.376 Die Internierung erscheint in Beckers Briefen an den Vater als unaufhaltsame Abwärtsspirale, deren Sog er sich nahezu hilflos ausgeliefert sah. Diese negative Bewertung ergab sich für ihn logisch aus der Unvereinbarkeit seiner aufgezwungenen Situation mit seinem eigenen Lebensentwurf: Jede einzelne Veränderung, die er an sich wahrnahm, entfernte ihn immer weiter von seinem früheren Leben und stellte eine Rückkehr zu diesem Lebensentwurf und zu früheren Zukunftsvorstellungen radikal infrage. Dass Anderswerden für Becker etwas schlechtes war, wird auch durch die häufigen generalisierende Feststellungen vermittelt, über die er sich vom Status eines Internierten distanzierte. So schrieb er im September 1940 an seinen Vater: »Jeder Soldat bekommt ja einmal Urlaub, aber 1 Gefangener hat das Pech, den ganzen Krieg in unveränderter Form dem Zwang unterworfen zu sein. Man möchte doch einmal seinen K.Z.-Anzug ausziehen und mal wieder R. Becker und nicht Nr. 13483 sein.«377 Hier erfüllt der Gebrauch des Pronomens »man« eine distanzierende Funktion. Außerdem zeigt sich, dass bei der Auseinandersetzung mit dem Gefangenenstatus die von Gudrun Schwibbe beschriebene Symboldimension von Alterität eine wichtige Rolle spielt:378 Die Gefangenennummer oder die Interniertenkleidung repräsentieren auch beim Schreiben die ungeliebte Rolle und werden für distanzierende Äußerungen herangezogen. Becker schien eine klare Auffassung davon zu besitzen, was seine eigentliche Identität ausmachte, und betrachtete sie als unvereinbar mit dem Gefangenenstatus. Der Internierte als Alteritäts- und Gegenfigur Für Becker war es offensichtlich wichtig, seinem Vater die Auswirkungen der Internierungssituation auf die Handlungsspielräume und die Persönlichkeit eines Internierten zu erklären. Dieses Schreibthema lässt sich als Versuch verstehen, dem Vater die fremde Sphäre des Gefangenenlagers zu vermitteln und ihm dadurch auch die Veränderungen näherzubringen, die Becker an sich selbst wahrnahm. Untersucht man, wie Becker in seinen Briefen an den Vater die Lage eines Gefangenen konzipiert, so zeigt sich, dass er dafür vor allem Exklusion, Fremdbestimmung, Abhängigkeit und begrenzte Handlungsspielräume heranzieht. Durch Äußerungen zu einzelnen Facetten der Internierungssituation konstituiert Becker ›den Gefangenen‹ als umfassende Alteritätsfigur: Der Gefangene ist anders als das eigene frühere Ich, anders als alles, was im Vorkriegsleben für gleichaltrige Männer gesellschaftlich als normal galt und damit auch anders als alles, was der Vater kannte. Die Konstruktion eines umfassend ›anderen‹ Gefangenen erfüllte auch die Funktion, die Vorstellung einer biografischen Zäsur, die Becker subjektiv mit der Gefangenschaft verband, zu untermauern. Für Beckers Konstruktion des Internierten als Alteritätsfigur spielen individuelle Theorien über diese Figur eine wichtige Rolle. In allgemeinen, oft objektivierenden

376 Zur Bewertungsdimension innerhalb von Alteritätsprozessen siehe G. Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein, S. 23-24. 377 Rudolf Becker an seinen Vater, 29. September 1940. DSM, III A 3324 b. 378 G. Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein, S. 23, 25.

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Äußerungen vermittelte Becker vor allem solche Aspekte des Interniertendaseins, die der Vater sich nicht auf anderem Wege erschließen konnte. So begründete Rudolf Becker etwa die angebliche Inhaltslosigkeit seiner Briefe damit, dass »ein Internierter […] keine eigene Weltanschauung«379 habe. In diesem Zusammenhang beklagte er auch, dass die Zensurvorschriften »allen Briefen bis zur Unterschrift das persönliche Element nehmen«380. Die starke Einschränkung der freien Meinungsäußerung interpretierte Becker als Verbot, überhaupt eine Meinung zu besitzen, was unterstreicht, dass er die Internierung als Verlust von Persönlichkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auffasste. Das Bild eines Internierten, das Becker für seinen Vater entwarf, zeigte ein defizitäres Wesen ohne eigene Meinung und ohne Ausdrucksmöglichkeiten. Auf die Frage des Vaters nach seiner Meinung zu den USA stellte Becker dementsprechend klar, dass die Gefangenen vor allem in politischen Fragen zu Zurückhaltung und Passivität gezwungen sei. Er könne ihm »keine politische Kritik schreiben, ein Internierter kritisiert nämlich nicht, der wartet nur ab«381. Hier lässt sich erkennen, dass Beckers Beschreibung der Lage eines Internierten auf die Verhaltensregeln und Einschränkungen verweist, mit denen er selbst in der Internierung konfrontiert war. Ein weiteres Thema, das er dem Vater eindringlich zu vermitteln versuchte, waren die Auswirkungen der Exklusion auf die politische Meinungsbildung eines Gefangenen. Dem Vater gegenüber machte er deutlich, dass er alle politischen Ereignisse aus einem einseitigen Blickwinkel, aus der »Gefangenenperspektive«382 beurteilte, die seines Erachtens »auf das Ganze gesehen natürlich eine Froschperspektive«383 war. Auch über die Art und Weise, wie die Internierung auf das Selbstwertgefühl von Lagerinsassen einwirkte, dachte Becker schreibend nach. Dabei bleibt unklar, ob er aufgrund der Beobachtung anderer oder aus eigener Erfahrung zu dieser Auffassung gelangte: »Bestätigt hat sich dabei der letzte Abschnitt Deines Briefes über den Charakter eines Internierten. Das habe ich auch schon herausgefunden, daß der die Zeit am besten übersteht, der mit einer riesigen Portion Superioritätskomplexe angefangen hat, wenn er mal wieder entlassen wird, sind es dann vielleicht ganz geringe Inferioritätskomplexe.«384

An dieser Stelle zieht sich Becker auf die Rolle eines scheinbar unbeteiligten Beobachters zurück und theoretisiert über die unvermeidliche Schwächung des Selbstwertgefühls, die Internierte im Lager erfahren. Dabei verschweigt er allerdings, welchen Bezug seine Aussage zu seiner eigenen Person besitzt. Gerade bei diesem schwierigen Thema liegt die Lesart nahe, dass es sich auch um eine Distanzierungsstrategie handelt, von der eigenen Person zu abstrahieren und das Thema auf allgemeiner Ebene zu verhandeln.

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Rudolf Becker an seinen Vater, 11. August 1940. DSM, III A 3324 b. Ebd. Rudolf Becker an seinen Vater, 30. September 1941. DSM, III A 3324 b. Rudolf Becker an seinen Vater, 30. Juli 1942. DSM, III A 3324 b. Ebd. Rudolf Becker an seinen Vater, 14. Dezember 1941. DSM, III A 3324 b.

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Neben allgemeinen Äußerungen vermitteln aber auch dezidiert persönliche Positionierungen Beckers, dass ein Internierter für ihn eine Gegenfigur war. Vor allem die Abweichung von gesellschaftlichen Normen war in Beckers Augen kennzeichnend für das Gefangenendasein. So konstatierte er: »Über Deine Anfragen bezüglich meiner Zukunftsgedanken kann ich Dir nur schreiben, daß man die in der Gefangenschaft kaum fassen kann. Bei beraubter Freiheit steckt man so voller anormaler Wünsche, Begierden, Pläne, daß das nicht der Wirklichkeit entspricht. Was ich jetzt in diesem Zustand alles möchte, ist so absurd, daß Psychologen mich als schweren Neuropathen charakterisieren würden. Z.B. wenn ich so auf das Ende des Winters hoffe, dann möchte ich erst mal in eine Gegend, wo es mal ein ganzes Jahr keinen Schnee gibt.«385

Becker verknüpft hier eine allgemeine Aussage über die Auswirkungen von Gefangenschaft auf die Wünsche der Insassen mit einer Selbstaussage, die deutlich macht, dass er diesen Realitätsverlust an sich selbst feststellte, sich also in dieser Hinsicht als typischen Gefangenen empfand. Umgekehrt lässt sich dieser Abschnitt auch als Versuch begreifen, an sich selbst beobachtete Verhaltensweisen durch den Verweis auf Allgemeingültiges zu erklären oder zu rechtfertigen. Diese Passage transportiert Beckers Auffassung von Gefangenschaft als einem anormalen, krankhaften Zustand. Das pathologisierende Sprechen über die Wünsche eines Gefangenen konstituiert das Bild vom Gefangenen als Patient, der nur noch eingeschränkt zurechnungsfähig ist. Dass Becker seine Wünsche als »absurd« bezeichnete, unterstreicht, dass er sie als extreme Abweichung von einem gesellschaftlich anerkannten Normalitätshorizont einstufte, den er selbst offensichtlich so sehr verinnerlicht hatte, dass er als Kontrastfolie dienen konnte. Wie das Sprechen über Internierung Normen und Werte sichtbar macht, zeigt sich auch an Beckers Klage darüber, dass ihm im Vergleich mit seinen Altersgenossen durch die Internierung einige Jahre Lebenserfahrung fehlten.386 Offensichtlich war das Lager in seinen Augen kein Ort, an dem Leben stattfand und an dem er Lebenserfahrung hätte sammeln können. Vielmehr betrachtete er die Internierung als Ursache einer negativ zu bewertenden Abweichung vom idealtypischen Lebenslauf, den er vor allem durch das Erreichen finanzieller und beruflicher Eigenständigkeit in einem bestimmten Lebensalter definiert sah. Beides war ihm durch die Gefangenschaft verwehrt. Seinem Vater schrieb Becker im Frühjahr 1943: »Deinen Söhnen hast Du gegeben, was menschenmöglich war. Vorbereitung und Start zu einem anständigen, ausgefüllten und aufbauenden Leben hast Du uns gegeben. Wir sind jetzt in dem Alter, daß Du die Früchte sehen solltest. Aber als ich Dich zum letzten Male besuchte, war ich 27 Jahre. Jetzt werde ich 32. Seit Jahren lebe ich wie ein Wohlfahrtsempfänger von gelegentlichen Taschengeldspenden und charitativen [sic] Zuwendungen; daß ich mir in meinem 32. Lebensjahr noch keine Daseinsberechtigung würde erworben haben, konnte ich nicht ahnen.«387

385 Rudolf Becker an seinen Vater, 3. März 1943. DSM, III A 3324 b. 386 Rudolf Becker an seinen Vater, 28. Oktober 1942. DSM, III A 3324 b. 387 Rudolf Becker an seinen Vater, 5. April 1943. DSM, III A 3324 b.

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Diese Art der selbstanklagenden Thematisierung lässt sich auch als Bewältigungsund Rechtfertigungsstrategie angesichts eines subjektiv wahrgenommenen Erwartungsdrucks verstehen. Im Abgleich mit dem sozial konstruierten Normalitätshorizont – festgemacht an »dem Alter, daß Du die Früchte sehen solltest« – tritt für Becker ein weiteres Charakteristikum des Gefangenenstatus zutage. Denn ein Internierter stand nach Beckers Erfahrung nicht auf eigenen Füßen, sondern war auch finanziell vom Wohlwollen anderer abhängig. Die Möglichkeit zur Berufsausübung zeigt sich hier als zentraler Identitätsbaustein, dessen Fehlen Beckers Selbstkonzept offensichtlich stark verunsicherte. Im Zuge seines Schreibens entwarf Becker den Gefangenen nicht nur als Gegenbild zu seiner als ›eigentlich‹ imaginierten persönlichen Identität, sondern auch als Abweichung von gesellschaftlich normierten Erwartungen, als Antithese zum Normbürger. Sosein und Anderswerden: Identität und Alterität im Interview mit ehemaligen Internierten Obwohl die Internierung zum Zeitpunkt der Interviews sehr weit zurücklag, erwies sie sich in den Gesprächen mit ehemaligen Internierten als Thema von ungebrochener biografischer Relevanz. Die Internierung gehört für sie offensichtlich zu den »besonders bedeutsamen persönlichen Erfahrungen, die wie Leuchttürme aus dem Rest der Erinnerungen herausragen«388. Die Internierungserlebnisse zeigten sich in den Interviews als biografische Tatsache, als Lebensthema und Ressource für Identitätskonstruktionen. Dies wirft die Frage auf, welche Erzählstrategien die Befragten einsetzen, um ihre Internierung mit Identitätsentwürfen zu verknüpfen. Diese Fragen schließen an das Konzept der narrativen Identität an, wie es Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann formulieren. Sie verstehen narrative Identität als situativ konstruierte und aktivierte Identität, »deren Gültigkeit auch von den spezifischen Gegebenheiten ihrer Entstehungssituation abhängt«389. Narrative Identitätskonstruktionen sind also durch Wechselwirkungen zwischen der gegenwärtigen Lebenssituation der Befragten, Konstruktionen vergangener Lebenssituationen und dem konkreten Erzählkontext beeinflusst.390 So wie beim Schreiben einer Autobiografie Selbstkonzepte in den Text mit einfließen und Identitätskonstruktionen erzeugen,391 lässt sich auch das Erzählen als doing identity begreifen.392 Lucius-Hoene und Deppermann bezeichnen dementsprechend »die narrative Identität als eine im Prozess des Erzählens hergestellte Form der Selbstvergewisserung. […] Das Interview wird so als sich vollziehende Identitätskonstruktion verstanden, in der sich die autobiografische Darstellung von Identität mit der performativen und interaktiven Herstellung von Identität verbindet.«393

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R. Pohl: Das autobiographische Gedächtnis, S. 77. G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität, S. 55. Vgl. J. Brockmeier: Identity, S. 456. Ebd. G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität, S. 52. Ebd., S. 10. Hervorhebungen im Original.

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Hinsichtlich der retrospektiven Verhandlung der Internierungserlebnisse stellt sich die Frage, wie die Erzähler die Internierung in ihre Biografie integrieren und welche Rolle das Erzählen über die Internierung für die Konstruktion narrativer Identität spielt. Dabei ist auch zu untersuchen, inwieweit die ehemaligen Internierten ihr persönliches Anderswerden reflektieren, thematisieren und als Ressource für narrative Identitätskonstruktionen nutzen: An welchen Themenfeldern verankern die Erzähler ihr narratives doing identity? Wie werden Alteritätserfahrungen und Identitätskonstruktionen mit der Kontaktzone ›Internierung‹ verknüpft? Wie ist die potenzielle Bruchstelle der Internierung gesamtbiografisch integrierbar und welche Techniken der narrativen Kontinuitätsherstellung setzen die Befragten ein?394 Ambivalente Deutungen In den meisten Fällen ergibt sich ein ambivalentes Bild: Die Internierung markiert zwar eine Zäsur und steht damit auch für biografische Diskontinuität, zum Interviewzeitpunkt konnten die Befragten jedoch auf eine mehrere Jahrzehnte umfassende Phase kontinuierlicher biografischer Entwicklung zurückblicken. Die Internierung als Bruch besaß für die Befragten keine große Bedeutung mehr. Im Gesamtbild überwiegt der Eindruck biografischer Kontinuität, die die Befragten nicht nur anhand verschiedener Themen über den Einschnitt der Internierung hinweg herstellten, sondern auch mit direktem Verweis auf die Internierung. Oft geschah das beiläufig, wie bei meinem Gesprächspartner Franz Renner, der mir erzählte, dass seine Frühstücksgewohnheiten auf die Internierung zurückgehen: »aber MORgens gab es regelmäßig, das habe ich beibehalten, porridge (ah ja). ja.«395 Ein Beispiel für die erwähnte ambivalente Haltung zur Bruchstelle Internierung ist das Interview mit Hans Peter Jürgens. Einerseits kennzeichnete er die Internierung explizit als Zäsur. So konstatierte er: »auf jeden fall ist es ein gewaltiger einschnitt in das leben gewesen, (2) wenn man auch diesen ganzen ZEITablauf vor sich=sich vor augen hält und in meinem persönlichen falle auch, weil (.) diese zeit ja völlig in meine entwicklungsjahre hineinfiel (hm).«396 Andererseits machte er implizit deutlich, dass die Internierung zwar eine potenzielle biografische Bruchstelle hätte sein können, sich in seinem Fall allerdings nicht als Karrierehindernis erwies: »und denntrotz dieser (.) fünfjährigen gefangenschaft bin ich auch sehr JUNG kap’tän geworden (hm), ich war (.) mit 33 jahren kap’tän bei ’ner GROßen reedeREI (hm) [unverständlich] nich (hm). und das TROTZ gefangenschaft (ja).«397 Die Markierung der Internierung als Zäsur gibt dem Erzähler die Gelegenheit, den eigenen Erfolg umso deutlicher darzustellen.398 Dieser besteht nicht einfach nur im Erreichen des Kapitänspostens, sondern im Überwinden einer potenziellen Krise. Jürgens nutzt hier also

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Ebd., S. 52. Interview Franz Renner, Z. 145-146. Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1764-1767. Ebd., Z. 1030-1033. Zu den unterschiedlichen Arten von Erfolg in autobiografischen Zusammenhängen siehe Danahay, Martin A.: Success and Life Writing. In: Jolly, Margaretta (Hg.): Encyclopedia of life writing. Autobiographical and biographical forms. London 2001, S. 850.

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die Thematisierung der Internierung als Zäsur für eine positive Selbstaussage, durch die er seine Leistungsfähigkeit hervorhebt und dem von ihm erreichten Status zusätzliche Bedeutung verleiht. Im gesamten Interview überwogen jedoch Passagen, in denen der Erzähler diese Zäsur durch verschiedene thematische Linien überformte. Als Klammer für die biografische Integration der Internierung fungierte bei Jürgens vor allem die Malerei – schließlich lag der Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit in einer »Atelierbaracke«399 in Monteith. Seine Bildmotive, etwa die sinkende ERLANGEN, verweisen zugleich auf die Seefahrt als zweite Klammer, die sein ganzes Leben von der Kindheit und Jugend über die Gefangennahme und die spätere Kapitänslaufbahn umfasst. Wie er im Sprechen über die Seefahrt auch biografische Kontinuität konstruierte, zeigt sich an einer Situation aus dem Interview: Hans Peter Jürgens führte mich vor ein Regal, in dem Modelle aller Schiffe standen, auf denen er jemals gefahren war: »möchten sie mal sehen? (hm) alle meine schiffe.«400 Anhand dieser Schiffsmodelle erzählte er mir eine Kurzfassung seiner Biografie. Zwischen der Viermastbark PRIWALL und den Schiffen, die Jürgens nach dem Krieg als Kapitän führte, standen völlig gleichrangig auch Modelle der englischen Schiffe, auf denen er als Gefangener transportiert wurde: die Kreuzer NEWCASTLE und CARNAVON CASTLE sowie die Truppentransporter LETITIA und DUCHESS OF BEDFORD.401 »Der da hinten, der bin ich«: Zur Präsentation von Identität im Interview In vielen Interviews dienten den Erzählern autobiografische Materialien als Anschauungsmaterial für die Herstellung und Präsentation von Identität. Diese Dokumente fungierten zugleich als Auslöser für assoziatives Erzählen: Einzelne Begriffe und Bilder erwiesen sich oft als Einstieg in einen neuen Erzählstrang. Jutta BuchnerFuhs spricht in diesem Zusammenhang vom homo narrans, der sich »in Bilderge-

399 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 900. Ähnliche regelmäßige Zusammenkünfte von Malern gab es in den meisten Lagern, wenn auch nicht immer in einer eigenen »Atelierbaracke«. Vgl. hierzu den Bericht über die Besuche des YMCA-Sekretärs Dr. Hermann Boeschenstein in den Lagern Farnham (A/40), Sherbrooke (N/42), Bowmanville (30), Monteith (Q/23), Neys (W/100), Angler (X/101), Wainright (135), Kananaskis (K/130), Lethbridge-Ozada (133), Medicine Hat (132), Chatham (10), Grande Ligne (44) zwischen April und Juni 1945 (Sammelbericht). LAC, MG 28, I 95, 273, File 5. 400 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1093. 401 Nach der Begegnung mit dem Kreuzer NEWCASTLE leitete der Kapitän der ERLANGEN die Selbstversenkung ein. Vgl. hierzu ausführlich L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 1939-1945, Bd. 2, S. 17. Aus britischer Perspektive siehe Haines, Gregory: Cruiser at War. London 1978, S. 133-134. Bei der CARNAVON CASTLE handelt es sich um einen britischen Hilfskreuzer, der Gefangenentransporte von Freetown (Sierra Leone) nach England durchführte. L. Dinklage/H.J. Witthöft: Die deutsche Handelsflotte 19391945, Bd. 2, S. 76. Die LETITIA brachte Gefangene von England nach Kanada und die DUCHESS OF BEDFORD transportierte im Jahr 1946 die Gefangenen zurück nach England. H.P. Jürgens: Sturmsee und Flauten, S. 51.

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schichten«402 erzählt. So auch mein Gesprächspartner Bruno Pichner: Er griff beim Erzählen über den Krieg auf umfangreiche autobiografische Materialien zurück. Vor allem das gemeinsame Durchblättern seines Fotoalbums nutzte er, um auf frühere Ichs zu verweisen und im Gestus des Zeigens biografisch relevante Momente sowie Facetten der eigenen Identität anzusprechen. Dieser Gestus verweist auf die Bedingungen, unter denen sich in jeder Interviewsituation Identitätskonstruktionen vollziehen: klarer Adressatenbezug, Interaktion mit der Interviewerin und Performanz. So kommentierte der Befragte eines der Fotos in seinem Album mit den Worten: »ach SO, DANN geht es nun rüber nach kanada und (.) hier that’s me, ja da (hmhm) und das ist die (1) äh verbliebene (.) besatzung der erLAngen (ja) im sommer (.) ’42 (hm).«403 Hier erzählte er im Präsens von seiner Verlegung nach Kanada – »dann geht es nun rüber«. Dieses Eintauchen in den erzählten Kontext zeigt sich auch im englischen Hinweis »that’s me«, dem ersten von vielen englischen Fragmenten, die mein Interviewpartner im Gespräch verwendete. Diese kurze Passage ist ein typisches Beispiel für beiläufige Verweise auf die eigene Identität.404 Auch in anderen Interviews nahmen die Sprecher auf diese Weise Bezug auf ihr jüngeres Selbst, so etwa Hans Peter Jürgens: »der da hinten, der bin ICH, der sich gerade eine zigarette da (1) in den mund steckt.«405 Interessant (allerdings auch alltagssprachlich durchaus üblich) ist in beiden Beispielen, dass die Erzähler im Präsens auf die Bilder von sich verweisen. Beide Male lautet die zentrale Aussage: Das bin ich, und nicht etwa: Das war ich einmal oder: So sah ich früher aus. Dieses vergegenwärtigende Sprechen überbrückt die zeitliche Distanz von 70 Jahren und zeugt von einer bruchlosen Identifikation mit dem jüngeren Ich. Ebenfalls bei der Durchsicht seiner Unterlagen stieß mein Gesprächspartner Bruno Pichner auf eine Liste: »und DANN- ach so, HIER, meine spitznamen: saupiquet, ökonomo plattdütsch, strohdack, ich hatte so furchtbare- [gestikuliert] (aha) und denn lord sagte man auch dann pichNER und kitcheNER, das war ja (ach so) very close (ja) ((lacht)), ne darum äh hat man eine zeitlang- und don bruno e flaco, das waren die äh spanier da und ich war, weil ich so DÜNN war, ne- (hm) und äh auch in kanada sagte man auch SKINny guy (aha), ne. ich habe erst ge- ich wusste nicht, was das- wissen sie, jaja, ne und denn habe ich nachgeguckt im buch (.) skinny ›nur aus haut und knochen bestehend‹ ((lacht)) (lacht) (3) zement-ede- ach so, das hatte ich auch, weil wir an bord alles äh mit äh=mit äh zement äh=äh konserVIERT haben (hm) auf dem segelschiff. und da wurde ich dann lord ede von zement (oh ja, klangvoller name) ((lacht))«406

402 Köstlin, Konrad: Photographierte Erinnerung? Bemerkungen zur Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. In: Brunold-Bigler, Ursula/Bausinger, Hermann (Hg.): Hören – Sagen – Lesen – Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag. Bern 1995, S. 395-410, hier S. 400. 403 Interview Bruno Pichner, Z. 745-747. 404 Die Verwendung der englischen Sprache lässt sich hier, ähnlich wie in anderen Passagen, möglicherweise auch als bewusste Demonstration von Sprachkompetenz begreifen. 405 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 298-299. 406 Interview Bruno Pichner, Z. 506-516.

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In dieser Passage präsentiert der Erzähler Namen, die als Spitznamen gedeutet werden. Sie verweisen auf multiple (sozial konstruierte) Identitäten, deren Ursprung mein Gesprächspartner in verschiedenen Ländern und sozialen Kontexten (Arbeit auf dem Schiff, Aufenthalt in Südamerika, Internierung in Kanada) verortet. Die Spitznamen stützen sich auf äußere Merkmale des Erzählers wie die blonden Haare (Strohdack) und den drahtigen Körperbau (flaco, skinny) oder auf bestimmte Tätigkeiten, die er an Bord der PRIWALL verrichtete. Die Aufzählung seiner deutschen, französischen, spanischen und englischen Spitznamen gibt dem Sprecher Gelegenheit, verschiedene Aufenthaltsorte und soziale Kontexte Revue passieren zu lassen. Vor allem in den fremdsprachigen Spitznamen spiegelt sich dabei auch die Kontaktzone der Internierung. Besonders seine Bemerkung, dass er die Bedeutung des Wortes »skinny« nachschlagen musste, verdeutlicht, dass diese Spitznamen im wahrsten Sinne des Wortes Fremdzuschreibungen waren, mit denen er sich zunächst auseinandersetzen musste. Mittlerweile gehören sie aber fest zu ihm, sodass er sie deshalb auch als »meine Spitznamen« bezeichnete. Er präsentierte sie als verschiedene Facetten seiner Identität, deren nachhaltige Bedeutung weit über ihre temporäre Verwendung (»hat man eine zeitlang …«) hinausreicht, was sich auch in der Niederschrift im Album zeigt. »That’s your most impressionable age«: Internierung als Interpretationspunkt Zur Ressource für Identitätskonstruktionen wird die Internierung im autobiografischen Erzählen und Schreiben vor allem, da sich für die Erzähler in der Zeit der Internierung verschiedene Arten von biografischen Wendepunkten verdichten. Dies ist charakteristisch für Erinnerungen an Krieg407 und Gefangenschaft. So zeigte sich in einer Oral-History-Studie über die gemeinsamen Erfahrungen von deutschen und amerikanischen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs, dass die Gefangenschaft ein Kernthema für die autobiografische Selbstpräsentation der Betroffenen bildet: »Almost all agree that their imprisonment […] was the central experience of their lives.«408 Diese zentrale Erfahrung lässt sich mit Gabriele Rosenthal als »Interpretationspunkt«409 bezeichnen. Rosenthal verwendet diesen Begriff für Phasen oder Erlebnisse, die vom Betroffenen selbst »als tiefe Einschnitte«410 in die Biografie erlebt werden. Neben entwicklungspsychologisch relevanten Wendepunkten und Statusübergängen ist ein Interpretationspunkt einer von drei Typen biografischer Wendepunkte, die Rosenthal unterscheidet. Mit Blick auf die Interviews mit ehemaligen Internierten wird schnell deutlich, dass hier nicht bloß einer der drei Wendepunkte zu diagnostizieren ist, sondern dass sich innerhalb dieses Samples alle drei Typen biografischer Wendepunkte verdich-

407 So hat beispielsweise Albrecht Lehmann gezeigt, welch herausragende Stellung die Soldatenerfahrungen im Leben der Erzähler einnehmen. Vgl. A. Lehmann: Militär als Forschungsproblem der Volkskunde, S. 238. 408 L.H. Carlson: We were each other’s prisoners. S. viii. 409 G. Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 134. 410 Ebd.

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ten: Zum einen war mit der Gefangenschaft eine zweimalige Statuspassage verbunden – vom freien Zivilisten zum Gefangenen zum Heimkehrer. Zum anderen bezieht die Internierung ihre entwicklungspsychologische Relevanz aus der Tatsache, dass die von mir Befragten oft noch als Jugendliche in Gefangenschaft gerieten und nach fünf bis sechs Jahren als junge Erwachsene im Alter von etwa 24 Jahren zurückkehrten, also ihre Spätadoleszenz im Lager verbrachten.411 Einer meiner Gesprächspartner thematisierte im Interview explizit die Bedeutung dieser Phase für seine Persönlichkeitsentwicklung.412 Er sagte: »man war ja so JUNG, man- that’s your most imPRESSionable age, you know«.413 In dieser Äußerung spiegelt sich paradigmatisch wider, wie gerade die jüngeren Internierten in der Contact Zone der Internierung zahlreiche neue Eindrücke aufnahmen und wie die liminale Phase der Internierung als Phase der Horizonterweiterung aufgefasst wird.414 Die Internierung ist also auch ein Interpretationspunkt, der in der Rückschau die Jugend vom Erwachsenenalter trennt415 bzw. den Startpunkt des Erwachsenendaseins markiert, sodass es nachvollziehbar scheint, wenn die Erzähler zentrale biografische Entwicklungen ihres Lebens als Erwachsener darauf zurückführen. In den Interviews mit ehemaligen Internierten entstanden Career oder Status Passage Narratives (Kenneth Plummer),416 die um die Internierung als biografischen Wendepunkt organisiert sind.417 Als entscheidend für Status Passage Narratives betrachtet Plummer »shifts into major new roles«418. In den Internierungserzählungen geht es jedoch nicht nur um den Statusübergang vom Seemann zum Gefangenen, vom Jugendlichen zum Erwachsenen, sondern es kommen weitere Übergänge hinzu, die die Phase insgesamt mit biografischer Bedeutung aufladen und zu einem Reservoir an Erzählstoffen machen. Besonders die temporären Rollenwechsel in Arbeitskontexten – meist Holzfäller und Farmarbeiter, aber auch ausgefallenere Tätigkeiten wie die eines Nachtwächters in einer Schokoladenfabrik419 – eignen sich besonders gut zur Entwicklung von Identitätsnarrativen, wie Pichners Kommentar zur Liste seiner Spitznamen verdeutlicht.

411 412 413 414

415 416 417 418 419

Ebd., S. 136. Ebd. Interview Albert Peter, Z. 191. Vgl. Turner, Victor W.: Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage. In: Spiro, Melford E. (Hg.): Symposium on new approaches on the study of religion. Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. Seattle 1964, S. 4-20. G. Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 143. Plummer, Ken: Documents of Life 2. An Invitation to a Critical Humanism. London u.a. 2001, S. 194. Ebd. Ebd. Interview Bruno Pichner, Z. 192, Z. 503.

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Die Internierung als Ressource narrativer Identitätskonstruktion Dass die Internierung sich im Interview auf vielfältige Weise als biografischer Interpretationspunkt erweisen kann, zeigt sich auch daran, wie die Erzähler zentrale Lebensthemen mit der Internierung verknüpfen oder sie narrativ in dieser Zeit verorten. Wie die Befragten einzelne Aspekte ihrer aktuellen Selbstpräsentation auf die Internierung zurückführen, lässt sich exemplarisch am Interview mit Hans Peter Jürgens festmachen. Bereits nach acht Minuten unseres Gesprächs thematisierte er die verschiedenen Facetten seiner Identität als Schriftsteller, Seefahrts-Zeitzeuge und Maler: »es sei denn (.) mein lebenslauf (.) interessiert sie? (1) kurz? kurz (ja). mit bildern (.) und- die ich überall ausgestellt habe (oh, das ist ja eine ganze menge) und wo meine bilder alle hängen, nich (ja), das ist natürlich interessant. nich, und der grundstock ist- HIERfür (.) ist in gefangenschaft gelegt worden (hm), nich, also das sind- ich habe ja einige BÜcher geschRIEben und äh BILDer und so weiter, aber das werden sie sicher wissen, nich. ich habe das aktualisiert bis zu diesem jahr (hm), die letzte ausstellung war auf der rickmer rickmers jetzt (hm) (1) im späten frühjahr. und im nächsten jahr werde ich wahrscheinlich in flensburg eine aus- da ist jetzt noch ein journalist, der sich wieder daran gemacht hat (hm), noch ein buch über mich zu schreiben-«420

In Fachkreisen wird Jürgens als »der bedeutendste lebende Marinemaler«421 bezeichnet, dessen Werk »seinesgleichen sucht«.422 Die zahlreichen Gemälde im Eingangsbereich und im Wohnzimmer seines Hauses, wo das Interview stattfand, dokumentieren und belegen sein künstlerisches Schaffen. Wie ein roter Faden zog sich durch das Interview die hier bereits angerissene Frage, wie er durch und in der Internierung zum Maler wurde: »in DIESem lager da habe ich (.) meine künstlerischen (.) aktivitäten begonnen ((räuspert sich)), indem ich die barackenwände (das war das mit dem BILDerbuch dann – lacht) bemalte, ne mit dem BILDerbuch (ja), die geschichte (sehr schön). und äh (2) eigentlich hörte ich NIE ganz auf, natürlich mit den primitiven mitteln anfangs und (.) denn auch meistens zeichnerisch, nich aber- (hm) (2) RICHtige BILDer, das kam alles nach dem KRIEG (hm) (2) und (2) auch (.) als gefangener in MONteith nachher in einer atelierbaracke da (.) habe ich auch mehr ZU= zugeguckt und geZEICHnet (hm) als=als ge=ge=geMALT. es mangelte natürlich auch an FARben oder was, ne (klar). und äh (.) nicht JEder bewacher war nun begeistert von meinen bildern und mir farbe zu bringen (hm – lacht) [unverständlich] ((räuspert sich)) (2) aber (2) es ist trotzdem äh (3) eigentlich immer=je=jederzeit ein RUNder tag gewesen (ja), nich.«423

In dieser Form präsentierte mir Jürgens den Gründungsmythos seiner künstlerischen Laufbahn, deren Beginn er im Lager Knapdale in Schottland verortete. Die zitierte Passage enthält einen Verweis auf eine Episode, die Jürgens in seiner Autobiografie

420 421 422 423

Interview Hans Peter Jürgens, Z. 122-132. Scholl, Lars U.: Deutsche Marinemalerei 1830-2000. Helgoland 2002, S. 83. Ebd. Interview Hans Peter Jürgens, Z. 894-905.

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»Sturmsee und Flauten«424 erzählt und die ich vor dem Interview gelesen hatte: Nachdem er in Knapdale unerlaubterweise die Innenwände einer Wohnbaracke bemalt hatte, wurde er zum Kommandanten gerufen, erhielt jedoch statt der befürchteten Strafe den Auftrag, ein Bilderbuch für dessen Sohn zu malen. Mein Verweis auf »das mit dem BILDerbuch« zeigt, wie hier auch Jürgens’ schriftstellerische Tätigkeit in das Interview hineinragt. Die Interaktion während des gesamten Gesprächs war durch wiederholte Verweise auf sein Buch geprägt, die in seinen Augen auch Auslassungen im gesprochenen Wort legitimierten, wie Jürgens bereits in den ersten Interviewminuten klarstellte: »habe ich alles hier aufgeschrieben, haben sie gelesen (hm), brauche ich nicht wiederholen, nich.«425 Wichtig ist in diesem Zusammenhang weniger, wie der Erzählfluss sich dadurch verändert, sondern vielmehr, wie durch Verweise auf die Präsenz dieses unausgesprochenen, jedoch öffentlichen Textes auch Jürgens’ Identität als Schriftsteller dicht in das Gespräch integriert wird. Den Stoff für das Schreiben lieferten Internierung und Seefahrt und auf demselben Stoff basiert auch Jürgens’ öffentliches Auftreten als Zeitzeuge. Die Passage verdeutlicht aber auch, wie dem Befragten die Herstellung und Darstellung seiner Identitäts im autobiografischen Schreiben und Erzählen indirekt über positive Selbstaussagen gelingt: Jürgens präsentierte sich nicht nur in der Interviewsituation als Maler, indem er beispielsweise seine Gemälde an der Wohnzimmerwand kommentierte, sondern ließ auch innerhalb seiner Erzählung bestimmte Personen als Instanzen auftreten, die diese Facette seiner Identität validieren und für seine Qualitäten bürgen.426 Die Erzähltechnik indirekter Positionierungen zeigt sich auch bei anderen Themen, die im Zusammenhang mit der Internierung zur Sprache kamen, beispielsweise in der Passage, in der er unterstreicht, welch entscheidende Rolle der ehemalige Leiter des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven als Mäzen für die Bekanntheit seiner Bilder und für die Festigung seines Rufs als Marinemaler spielte: »bei den SCHIFFen bin ich HÄNgen geblieben, bin FESTgenagelt worden da (hm), weil (.) die abnehmer fanden (ja) und äh (.) ein großer (.) abnehmer oder ein GROßer (1) befürworter und äh (2) war der gute herr schlechtriem (hm) vom deutschen schiffahrtsmuseum. also der mochte meine bilder leiden und stellte sie überall aus (hm) und so weiter.«427

Auf ähnliche Art hob Jürgens im Interview seine populärwissenschaftlichen Publikationen zur Schifffahrtsgeschichte hervor, durch die er in shiplover-Kreisen Berühmt-

424 H.P. Jürgens: Sturmsee und Flauten. In diesem Buch stellt Jürgens neben seiner beruflichen Laufbahn als Kapitän und Lotse auch die Internierung ausführlich dar. 425 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 24-25. Ähnliches beschreibt Marketa Spiritova im Zusammenhang mit research-up-Situationen, vgl. Spiritova, Marketa: Narrative Interviews. In: Bischoff, Christine/Oehme-Jüngling, Karoline/Leimgruber, Walter (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie. Bern 2014, S. 117-130, hier S. 123. 426 Zum Selbstlobtabu und daraus resultierenden indirekten oder impliziten positiven Selbstaussagen vgl. J. Kruse: Qualitative Interviewforschung, S. 496. 427 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1057-1061.

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heit erlangt hatte.428 Als ›objektive‹ Gradmesser für seinen Erfolg auf diesem Gebiet zog er im Interview Auflagenzahl und Übersetzungen heran: »und (.) denn habe ich natürlich BÜcher illustriert, etliche (ja), pa=paar selbst geschrieben (hm) auch, nich. (1) dieses WALfangbuch da, püh (hm), ein (1) zwei auflagen gehabt (hm), und das andere, das ist sogar ins TSCHEchische übersetzt worden (ach ja), diese ›alle meere haben ufer‹ (hm), nich.«429

Auch das starke Interesse der Medien an seiner Person und seiner Lebensgeschichte, vor allem aber an den Kriegserlebnissen und den Erfahrungen auf einer Kap-HoornUmsegelung im Sommer bzw. Südwinter 1939, nutzte Jürgens in vergleichbarer Weise für seine Selbstpräsentation als ›professioneller‹ Zeitzeuge: »und ja, und JETZT ist einer dabei und schreibt- will nochMAL ein buch über mich schreiben (hm). (2) der sagt, da ist soviel stoff (.) (ja) drin in meinem leben, vielleicht hat er recht (glaube ich gern – lacht). ((lacht)) (2) i=ich habe nichts dagegen.«430

428 Galuppini, Gino/Jürgens, Hans Peter (Hg.): Weltenzyklopädie der Schiffe. München 1985-1988; Jürgens, Hans Peter: Abenteuer Walfang. Wale, Männer und das Meer. Herford 1979; Ders.: Alle Meere haben Ufer. Die Abenteuer der Entdeckungen. München 1974; Neuber, Hermann (Hg.): Das Jahr der Stürme. Nach Original-Einsatzberichten erzählt. Mit Illustrationen von Hans Peter Jürgens. Bremen 1979; Neuber, Hermann/Jürgens, Hans Peter: Schiffbruch und Strandung. Vom selbstlosen Einsatz deutscher Ruderrettungsboote. Herford 1979. 429 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1069-1073. Er bezog sich an dieser Stelle auf H.P. Jürgens: Alle Meere haben Ufer. 430 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1073-1076. Der biografische Erlebnisbericht auf der Basis von Interviews mit dem Journalisten Stefan Krücken, auf die Jürgens an dieser Stelle rekurrierte, ist 2008 erschienen: Krücken, Stefan: Sturmkap. Um Kap Hoorn und durch den Krieg – die unglaubliche Geschichte von Kapitän Jürgens. Appel/Nordheide 2008. Nach der Veröffentlichung nahm Jürgensʼ Medienpräsenz stark zu: Der Tatort-Darsteller Axel Prahl sprach eine Hörbuch-Fassung des Buches und der Ankerherz-Verlag veranstaltete Lesungen mit Axel Prahl und Hans Peter Jürgens. Die Vermarktungsstrategie des Verlages setzte offensichtlich auf umfassende Medienpräsenz von Hans Peter Jürgens. Artikel von Stefan Krücken über ihn erschienen im Internet auf spiegel.de und dem zugehörigen Zeitgeschichts-Portal einestages.de. Krücken dokumentierte auch Jürgensʼ Reise ans Kap Hoorn auf einem Luxus-Kreuzfahrtschiff: Krücken, Stefan: Schiffstour zum Kap Hoorn: Zwei Zeiten, ein Ziel. In: Spiegel Online vom 05.05.2010. http://www.spiegel.de/reise/ fernweh/schiffstour-zum-kap-hoorn-zwei-zeiten-ein-ziel-a-692323.html. Eine Online-Suche nach Hans Peter Jürgens ergibt zahlreiche Treffer. Neben der Präsentation auf der Homepage des Ankerherz-Verlages und einem ausführlichen Wikipedia-Artikel gibt es eine Reihe von weiteren Medientexten, Ausstellungshinweisen und Interviews mit Hans Peter Jürgens, etwa Krücken, Stefan: Hans Peter Jürgens, Viermastbark »Priwall«. In: mare 57 (2006), August. http://www.mare.de/index.php?article_id=1115&setCookie=1.

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Durch die Nennung des in Schifffahrtskreisen bekannten Namens Peter Tamm und einer mit ihm verbundenen Institution verleiht er der Zeitzeugen-Rolle besonderes Gewicht:431 »was ich ihnen hier heute erzähle, das habe ich (5) vor ein paar tagen (1) äh (.) auch erzählt (hm) und zwar einem filmteam (hm), von peter tamm angestellt (hm), der=der sein museum einrichtet (ah ja – lacht) ((lacht)). ja, da in hamburg (hm). die waren den ganzen tag hier mit fünf mann (hm), nich und haben mich über- naja, es ging hauptsächlich um kap hoorn (hm), aber (.) natürlich blieb das dann=das VOR- und nachher äh (2) nicht ausgespart, nich. u=und meine bilder, ich habe ja (hm) auch jede menge bilder (ja) und so weiter überall hängen.«432

An diesen Passagen wird auch deutlich, wie vorgefertigte Texte die Identitätskonstruktion im Interview teilweise vorstrukturierten. Verschiedene Versionen von Jürgens’ Lebensgeschichte, die für ganz konkrete Nutzungs- und Verwertungskontexte verfertigt wurden, waren im Gespräch implizit und explizit präsent. Sie akzentuieren je unterschiedliche Identitätsfacetten des Erzählers, die er im Sprechen über die Internierung situativ aktivierte. Mit Aleida Assmann ist dabei davon auszugehen, dass Wiederholung die Erfahrung mehr und mehr überschreibt und das zurückdrängt, was nicht wiederholt wird: »Wir erinnern uns an vieles in dem Maße, wie wir Anlässe finden, davon zu erzählen. Je öfter man etwas erzählt, desto weniger erinnert man sich an die Erfahrung selbst und desto mehr erinnert man sich an die Worte, mit denen man zuvor davon erzählt hat.«433 Mit der Erwähnung von Kap Hoorn im zuletzt zitierten Interviewausschnitt ist ein weiteres zentrales Identitätsthema eingeführt, das im Interview mit Hans Peter Jürgens präsent war: seine Mitgliedschaft in der Amicale Internationale des Capitaines au Long Cours Cap Horniers (A.I.C.H.) und bei den deutschen Cap-Horniers.434 Mitglied durften nur Kapitäne werden, die im Lauf ihres Seemannslebens das sturmumtoste Kap Hoorn an der Südspitze Südamerikas auf einem Frachtsegelschiff umrundet hatten. Zum einen verwies Jürgens – der beim Interviewtermin am Revers seines dunklen Anzugs eine Anstecknadel mit dem Emblem der Cap-Horniers trug – im Zusammenhang mit der Geschichte der PRIWALL, auf der er Kap Hoorn umsegelt hatte, bereits zu Beginn des Gesprächs beiläufig auf einen Artikel im Albatros, dem Mitteilungsblatt der deutschen Cap-Horniers.435 Zum anderen entwickelte sich die The-

431 Peter Tamm war jahrzehntelang Geschäftsführer der Springer-Verlags-Holding und Gesellschafter bei der Verlagsgruppe Koehler/Mittler, die sich auf populärwissenschaftliche Darstellungen schifffahrts- und marinegeschichtlicher Themen spezialisiert hat. Im Jahr 2008 wurde das Internationale Maritime Museum Hamburg eröffnet, das Tamms umfangreiche Privatsammlung zur Schifffahrts- und Marinegeschichte zeigt. 432 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 1778-1785. 433 A. Assmann: Wie wahr sind Erinnerungen, S. 108. 434 Nach der Selbstauflösung der A.I.C.H im Jahr 2003 trug die ehemalige deutsche Sektion, der Jürgens vorstand, den Titel »AICH-Traditions-Freundschaftsbund deutscher Kap Horner«. 435 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 60. Es handelt sich um folgenden Artikel: Burmester, Heinz: Das Ende der Priwall. In: Der Albatros (1979), H. 2, S. 233-234.

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matisierung von Jürgens’ Mitgliedschaft bei den Cap-Horniers aus meiner Nachfrage nach Kontakten mit anderen ehemaligen Internierten nach dem Krieg: »JK: wenn sie sich NACH dem krieg getroffen haben, waren das dann HAUPTsächlich die leute, die sie von der PRIwall kannten oder-? HPJ: nur=eigentlich nur von der priwall (ja) und nachHER (1) äh (1) also ICH war ungefähr der ERste, der den kap hoornern bei(.)trat (ja), ich hatte ja nun mein kapʼtänspatent, alles und äh (.) und denn habe ich die mehr oder mit=die=diese alle nachgeholt hier (hm), nich, DIE alle gar ni=gar nicht mehr zur SEE fuhren, nich.«436

Wie bereits in den oben zitierten Beispielen, nutzte Jürgens bei der beiläufigen Erwähnung seines Amts als Präsident der deutschen Sektion der Cap-Horniers schließlich die indirekte positive Selbstaussage (hier mit passiver Agency), um zentrale Identitätsbausteine zu verhandeln: »man hatte mich ja zum (2) zum präsidenten der deutschen cap-horniers gemacht«.437 Diese Beispiele aus dem Interview mit Hans Peter Jürgens verdeutlichen, dass die Internierung eine hohe Dichte an identitätsrelevanten Erzählstoffen hervorbrachte, aus denen die Erzähler im Interview schöpfen konnten. Im Erzählen von der Internierung wird immer auch die unausgesprochene »Frage nach dem ›wie und wer war ich?‹«438 beantwortet. »Nun war ich Kanadier«: Die Verwandlung Im Interview mit Bruno Pichner zeigt sich exemplarisch, wie der Erzähler das Anderswerden an bestimmten Episoden und Begebenheiten festmacht, die offenbar effektvoll erzählbar und biografisch bedeutsam sind. Als Ausgangspunkt für die narrative Thematisierung einer Transformationserfahrung wählte er seine Rückkehr nach Deutschland: »JA (.) und (.) EINen tag vor weihnachten kam ich zurück, mein opa- die saßen da vor der kleinen BRENNhexe (.) und wärmten sich (die hände), ne die STÜcke HOLZ, die sie besorgt hatten für ein bisschen WARMwasser und wärmten sich gleichzeitig dabei und denn- er ziTIErte ein gedicht, ja, das=das äh=äh von äh von SEUme äh: ein kaNAdier der noch europens übertünchte höflichkeit nicht kannte und ein HERZ von verstellung frei im BUsen fühlte, kehrte von der NACHT=äh kehrte=kehrte von der nach=von der JAgd HEIM (hm). ne und dann ähda- DIEses gedicht hatten wir- früher als KINDer hat er uns das ab und zu mal so äh=äh vorgetragen, ne und äh das fanden wir so TOLL und NUN war ICH kaNAdier (ja, sozusagen) nach all den JAhren, ne und kam, ne und wusste nichts ((lacht)), ne von dieser bösen welt, ne, wusste ich nicht, ne.«439

436 Interview Hans Peter Jürgens, Z. 376-383. 437 Ebd., Z. 1999-2000. 438 Maschke, Sabine: Klassentreffen – eine biografische (Gruppen-)Reise. Eine empirische Untersuchung über Biografisierungsprozesse im Rahmen von Klassentreffen. Univ. Diss. Siegen 2003, S. 46. 439 Interview Bruno Pichner, Z. 1013-1025.

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Vordergründig geht es in dieser Passage um die Heimkehr meines Gesprächspartners zu seiner in kargen Verhältnissen lebenden Familie. In der Schilderung dieser Situation lässt der Erzähler seinen Großvater das Gedicht »Der Wilde«440 von Johann Gottfried Seume (1763-1810) rezitieren, zu dem er selbst anschließend aus heutiger Perspektive Stellung nimmt. Wenige Sekunden danach wiederholte er im Interview den erinnerten Gedichtanfang: »IRgendwo habe ich (.) habe ich das auch, das gedicht. ein kaNAdier der noch europens übertünchte höflichkeit nicht kannte (lacht) und denn sagte opa: was hat der hitler bloß mit uns (hm) gemacht? (2) MENSCH, wie ist das möglich, wa?«441 In dieser Szene fungiert das (sehr freie) Zitat des Gedichts »Der Wilde« von Johann Gottfried Seume als Material für die Verhandlung einer zentralen Alteritätserfahrung im Leben des Erzählers,442 die sich im Moment der Heimkehr nach acht Jahren Internierung offenbarte und anhand dessen im Interview erzählbar wurde: »und NUN war ICH kaNAdier (ja, sozusagen) nach all den JAhren, ne«. In seiner Stellungnahme identifiziert sich der Erzähler explizit mit der Hauptfigur aus dem Gedicht, einem »Kanadier«. Doch die Szene lässt vieles offen: So bleibt unklar, in welcher Form sich die Verwandlung manifestiert, ob der Satz »NUN war ICH kaNAdier« in der erzählten Zeit oder in der Erzählzeit gesprochen wird und damit auch, ob die Titulierung als »Kanadier« eine Selbstzuschreibung des Erzählers oder eine Fremdzuschreibung aus der Perspektive des Großvaters ist, ebenso ob die Frage »wie ist das möglich« Teil der Äußerung des Großvaters in der erzählten Zeit ist oder ob sie eine Reflexion des Erzählers in der Erzählzeit darstellt.443 Der Protagonist in Seumes Gedicht ist ein kanadischer Ureinwohner, der aufgrund seines selbstlosen Verhaltens gegenüber einem Weißen als Beispiel für die literarische Figur des Edlen Wilden des 18. Jahrhunderts gelten kann. In der Literaturwissenschaft wird der Edle Wilde auch »als hybride Figur begriffen […]. In einem Spiegelverhältnis vereint er unterschiedlich entworfene Eigenschaften des Eigenen

440 Der Gedichtanfang, auf den sich Bruno Pichner im Interview bezog, lautet im Original: »Ein Kanadier, der noch Europens/Übertünchte Höflichkeit nicht kannte,/Und ein Herz, wie Gott es ihm gegeben,/Von Kultur noch frei, im Busen fühlte,/Brachte, was er mit des Bogens Sehne/Fern in Quebecs übereisten Wäldern/Auf der Jagd erbeutet zum Verkaufe.« Zitiert nach Brode, Hanspeter (Hg.): Deutsche Lyrik. Eine Anthologie. Frankfurt am Main 1990. 441 Interview Bruno Pichner, Z. 1033-1034. 442 Ironischerweise wurde Johann Gottfried Seume (1763-1810) durch den Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel gegen seinen Willen als Soldat nach Kanada verkauft, um dort als einer von Zigtausenden Deutschen die britischen Truppen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu unterstützen. Zur Verarbeitung des Kanada-Aufenthalts in Seumes Autobiografie vgl. G. Sigrist: Kanada – Wunschraum, Kanada – Wunschtraum, S. 210; Seume, Johann Gottfried: Mein Leben. Nebst der Fortsetzung von G.J. Göschen und C.A.H. Clodius. Herausgegeben von Jörg Drews. Stuttgart 1991. 443 Vgl. zu den beiden Darstellungsweisen der erzählten und der Erzählzeit und ihre Implikationen für die Position des Erzählers zum erzählten Geschehen G. Lucius-Hoene/A. Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität, S. 25.

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mit dem Topos der Fremdheit«444. Der Edle Wilde ist somit eine Figur, die sich für die Verhandlung unterschiedlicher Alteritätserfahrungen eignet. So wie die Andersartigkeit des Seume’schen Kanadiers erst in der Konfrontation mit einem Weißen deutlich wird, verknüpft Pichner seine Transformation mit dem Moment der Rückkehr zu seiner Familie. Doch was bedeutet es, dass mein Gesprächspartner das Gedicht von Seume in die Schilderung seiner Heimkehr integriert und es durch das wiederholte Zitat sogar noch hervorhebt? Für die Internierten war die Heimkehr aus der Gefangenschaft eine potenzielle biografische Bruchstelle, die in ihrer verunsichernden Wirkung dem Statusübergang der Gefangennahme in nichts nachstand. Als eine Ursache für diese Verunsicherung lassen sich Entfremdungs- und Alteritätsprozesse begreifen, die im Moment der Heimkehr auf beiden Seiten greifbar wurden und konfrontatives Potenzial besaßen.445 Bruno Pichner nutzte im Gespräch die Wiederbegegnung mit seiner Familie, in der die Gedichtrezitation des Großvaters als Deutungsangebot die zentrale Rolle spielt, für die narrative Verhandlung einer problematischen Alteritätserfahrung.446 Veränderungen, die sich während seiner Abwesenheit vollzogen haben, etikettiert er, indem er das Deutungsangebot des Großvaters aufgreift und sich mit explizitem Bezug auf Seumes Gedicht als »Kanadier« bezeichnet. Das Gedichtzitat fungiert also als mehrdeutiger Verweis, der dem Erzähler eine ausführliche Beschreibung seiner Alteritätserfahrung abnimmt und nebenbei einen effektvollen erzählerischen Akzent setzt. Die Alteritätserfahrung, die Pichner damit andeutet, ist weder eine Veränderung zum Negativen noch zum Positiven, sondern ein Seitenwechsel. Die Internierung erscheint hier als Verwandlungsreise, die mit einem Wechsel der Fronten einhergeht – ein Motiv, das in Kriegserzählungen nicht selten auftritt. So berichtet Konrad Köstlin von einem Deutschen, der in jungen Jahren als Infanterist an der Niederschlagung des Boxeraufstandes im Jahr 1902 in China

444 Kaufmann, Stefan/Haslinger, Peter: Einleitung: Der Edle Wilde – Wendungen eines Topos. In: Fludernik, Monika/Haslinger, Peter/Kaufmann, Stefan (Hg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg 2002, S. 13-30, hier S. 28. 445 Wie problematisch die Wiedereingliederung der Heimkehrer in die radikal veränderte deutsche Nachkriegsgesellschaft für alle Beteiligten sein konnte, lässt sich auch daran ablesen, dass die Konfrontation des Heimkehrers mit der ihm fremd gewordenen Heimat (und umgekehrt) zu einem Topos in Kriegserinnerungen und literarischen Verarbeitungen dieses Themas geworden ist. Vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: Gefangenschaft. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 5. Berlin/New York 1987, Sp. 833-846, hier Sp. 840-841. Allgemein zur Kriegsheimkehr vgl. P. Steinbach: Die sozialgeschichtliche Dimension der Kriegsheimkehr, S. 325-340. 446 Ohne sie überinterpretieren zu wollen, sind die Veränderungen, die Pichner im Gedichtanfang gegenüber dem Original vornimmt, aufschlussreich für die Deutung der Passage. Während er die Heimkehr im zitierten Gedichtanfang durch Betonung besonders akzentuiert, befindet sie sich im Original gar nicht an dieser Stelle, sondern erst einige Verse später. Die dadurch entstehende Analogie – sowohl im Gedicht als auch in der geschilderten Szene kehrt ein Kanadier heim – verknüpft das Gedicht noch stärker mit der erzählten Situation der Heimkehr.

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beteiligt war und »danach den Spitznamen ›Chines‹ bekam«447. Hier wie in der oben zitierten Passage fließt das Aufenthaltsland und damit auch nicht nur die geografische, sondern auch die politische Dimension der Erlebnisse als Nationalitätenbezeichnung in eine Fremdzuschreibung ein. Die Bezeichnung als »Kanadier« verortet die Alteritätserfahrung in der Kontaktzone der Internierung. Die Bezeichnung »Kanadier« ist also eine Metapher, die zur Verhandlung der eigenen Alteritätserfahrung verwendet wird.448 Dabei zeigen sich deutlich die allgemeinen Funktionen metaphorischen Sprechens, das »sowohl beleuchten als auch verbergen«449 kann. Im konkreten Fall bedeutet das: Die Metapher vom »Kanadier« eröffnet dem Erzähler Spielräume, ein schwieriges Thema anzusprechen, blendet jedoch gleichzeitig auch aus, was an ihm alles nicht in dieses Bild des Kanadiers passt, beispielsweise seine nach wie vor deutsche Nationalität und der unerfüllt gebliebene Immigrationswunsch. Monika Schwarz-Friesel begreift Metaphern »als Ausdrucksvarianten unserer Sprache, mit denen wir insbesondere das Schwer-Fassbare, SchwerBeschreibbare unserer Gefühls- und Erlebenswelt konzeptuell greifbar machen und benennen, mit denen wir komplexe abstrakte Sachverhalte komprimiert und mentalbildhaft wiedergeben«450. Diese Offenheit des metaphorischen Sprechens ist ein Grund dafür, dass sich an dieser Szene neben dem Bereich der Fremdheit und Transformation auch noch weitere Lesarten festmachen lassen. Fragt man nach dem verbindenden Element zwischen Bruno Pichners erzähltem Ich und dem »Kanadier« aus Seumes Gedicht, zeigt sich, dass diese Passage auch den Themenkomplex von Moral und Schuld verhandelt und damit politische Implikationen besitzt. Hierfür ist ein weiterer Aspekt der Figur des Edlen Wilden aufschlussreich: Der Edle Wilde verkörpert christlich-humanistische Werte und ist den Europäern (die lediglich vorgeben, ihr Handeln daran zu orientieren) dadurch moralisch überlegen.451 Besonders in der Rezeption von Voltaires Roman L’Ingénu (1767) ist der zivilisationskritische Gehalt dieser Figur betont worden.452 Folglich ist für Monika Fludernik »[d]ie Alterität des Edlen Wilden […] Teil der verlorenen Unschuld der europäischen Zivilisation«.453 Diese moralische Dimension scheint auch für meinen Gesprächspartner von Bedeutung zu sein. Um zu verstehen, wie sich Pichner zu Seumes »Kanadier« in Beziehung setzt, sei nochmals an die Bemerkung erinnert, die er an das Gedicht-Zitat anschließt: »und NUN war ICH kaNAdier (ja, sozusagen)

447 K. Köstlin: Krieg als Reise, S. 102. 448 Zur Bedeutung metaphorischen Sprechens für die Analyse qualitativer Interviews siehe J. Kruse/K. Biesel/C. Schmieder: Metaphernanalyse. Kruse bezieht sich auf die Metapherndefinition von George Lakoff und Mark Johnson, vgl. Lakoff, George/Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 52007. 449 J. Kruse/K. Biesel/C. Schmieder: Metaphernanalyse, S. 67. 450 M. Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion, S. 201. 451 S. Kaufmann/P. Haslinger: Einleitung, S. 22. 452 Fludernik, Monika: Der »Edle Wilde« als Kehrseite des Kulturprogressivismus. In: Dies./ Haslinger, Peter/Kaufmann, Stefan (Hg.): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos. Würzburg 2002, S. 157-176, hier S. 160. 453 Ebd., S. 172.

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nach all den JAhren, ne und kam, ne und wusste nichts ((lacht)), ne von dieser bösen welt, ne, wusste ich nicht, ne«. Mit dem Adjektiv »böse« führt Pichner den Themenkomplex von Moral und Schuld in die Passage ein. Unausgesprochen schwingt dabei der historische Epochenbruch zwischen Nationalsozialismus und Krieg auf der einen und der Nachkriegszeit auf der anderen Seite mit. Durch die Betonung seines früheren Nichtwissens positioniert er sich außerhalb der »bösen welt« und leitet diese Positionierung aus seiner Identität als »Kanadier« her. Die bereits benannte moralische Dimension wird durch Pichners Eingriffe in den Gedichttext zusätzlich gestärkt: Statt wie im Original »ein Herz, wie Gott es ihm gegeben, von Kultur noch frei« sagt der Erzähler: »von verstellung frei« und betont damit, dass der Kanadier des SeumeGedichtes eine redliche, integre Figur ist. Die Wiederholung der Gedichtpassage im Zusammenhang mit der Frage des Großvaters, »was hat der hitler bloß mit uns (hm) gemacht?« spitzt die moralische Frage auf den ganz konkreten Fall Deutschlands im Nationalsozialismus zu. Hier geht es auch um die Aushandlung von Opferpositionen und um die Frage, wie der zurückgekehrte »Kanadier« die Daheimgebliebenen sieht und bewertet. Denn die Positionierung als »Kanadier« bedeutet auch, auf der Seite der Alliierten zu stehen. Hinter der vordergründigen Verhandlung einer persönlichen Erfahrung steht die Thematisierung generational typischer Probleme der Vergangenheitsbewältigung. Die Transformation zum Kanadier befreit den Erzähler vom generational bedingten Generalverdacht der Täterschaft oder doch zumindest des Mitläufertums. Denn als »Kanadier« ist Pichner – anders als seine daheimgebliebenen Angehörigen – buchstäblich außen vor, wenn es um die Frage nach Schuld und Verantwortung der Deutschen geht.454 Das Sprechen über Alterität anhand der Figur des Kanadiers ist also auch ein Weg, um – zumindest andeutungsweise – über die Geschehnisse während des Nationalsozialismus zu sprechen. Hier zeigt sich, dass rückblickende Reflexionen und Deutungen des persönlichen Anderswerdens in der Interviewnarration auch dazu dienen können, auf indirektem Weg problematische Themen zu verhandeln. Trotz der Verwandlung des Erzählers in einen »Kanadier« spielen jedoch auch biografische Kontinuitäten in dieser Szene eine Rolle. Damit ist das Spannungsfeld umrissen, das zu ambivalenten Narrationen führt: Die verwandtschaftliche Grundkonstellation ist unverändert. Zwar macht der Erzähler durch die Gegenüberstellung von »früher« (Kindheit) und »NUN« (Rückkehr aus der Gefangenschaft) deutlich, dass die Internierung zwei Lebensphasen voneinander trennt. Doch in der erzählten Passage verschränkt die Gedichtrezitation auch die verschiedenen Zeitebenen miteinander. Innerhalb der erzählten Zeit verbindet es die vergangene Kindheit des Erzählers mit seiner Rückkehr in der erzählten Gegenwart. Durch den Verweis »IRgendwo habe ich (.) habe ich das auch, das gedicht« verknüpfte mein Gesprächspartner darüber hinaus auch die erzählten Zeiten der Kindheit und der Ankunft bei der Familie mit seiner Erzählgegenwart im Jahr 2007. Das Gedicht bildet somit einen überzeitlichen Identifikationspunkt und stellt über die Gefangenschaft und die Heimkehr

454 Man könnte hier von Alteritätsverhandlung auf der Meso-Ebene sprechen, also im Abgleich mit Anderen. Vgl. hierzu das Schema zur mehrdimensionalen Erfassung von Alterität(en) bei G. Schwibbe: Erzählungen vom Anderssein, S. 23.

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hinweg biografische Kontinuität her, die durch die mehrfache Statuspassage und die Transformation zum »Kanadier« nicht geschmälert wird. Mit Blick auf die Interviewinteraktion und den narrativen Kontext der »Kanadier«Passage wird deutlich, dass diese Figur innerhalb des Interviews auch als Projektionsfläche fungiert, die sich im Hinblick auf die zuvor erzählten Erlebnisse meines Gesprächspartners interpretieren lässt. Die Passage besitzt auf doppelte Weise resümierenden Charakter: Es geht nicht nur um eine Bilanzierung der Gefangenschaft ausgehend vom Moment der Rückkehr, sondern auch um eine Zwischenbilanz des Interviews nach den ersten anderthalb Stunden des Gesprächs, in denen ich bereits erfahren hatte, dass mein Gesprächspartner als lumberjack in den Wäldern Ontarios gearbeitet und dabei fließend Englisch gelernt hatte. Die Selbstbezeichnung und Positionierung als »Kanadier« unter Zuhilfenahme von Seumes Gedicht führte mir also noch einmal vor Augen, mit wem ich es hier zu tun hatte und wie es gekommen war, dass ein Leichtmatrose aus Flensburg zum Kanadier wurde. Diese Geschichte verweist exemplarisch auf den größeren Kontext von Internierung als Kontaktzone, die sich nicht nur auf die alltägliche Interaktion während der Internierung erstreckte, sondern sich auch in der retrospektiven Verhandlung von Internierungserfahrung spiegelt: So fanden die jährlichen Ehemaligentreffen der internierten Seeleute nach dem Krieg unter der Bezeichnung »Kanadiertreffen« statt. In Seefahrtskreisen bürgerte sich zudem die Bezeichnung »Kanada-Clique«455 für diejenigen Kollegen ein, die in Kanada interniert gewesen waren und dort Navigationskurse besucht hatten. Diese Zuschreibungen zeigen die nachhaltige biografische Relevanz und identitätsstiftende Funktion der Internierung in Kanada.

455 Auskunft von Iko Eiben, Verein der Kapitäne und Schiffsoffiziere zu Hamburg e.V. (E-Mail vom 27. Juni 2008).

8. Resümee

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung war die Frage nach Internierung als kultureller Praxis. Dabei diente das Konzept der Contact Zone als theoretischer Rahmen, der verschiedene akteursgebundene Sichtweisen auf Internierung sowie verschiedene Zeitebenen in einem multiperspektivischen Ansatz verband. Dieser Zugang kombiniert den Blickwinkel der Internierten mit demjenigen der Bewacher (sowohl der Wachen vor Ort als auch der kanadischen Behördenvertreter), der kanadischen Zivilisten und Medien, der humanitären Helfer und teilweise auch der deutschen Behörden. Hinzu kommen, und darin besteht eine Besonderheit der Studie, die in Interviewnarrationen und autobiografischen Texten vermittelten Perspektiven ehemaliger Internierter. Die untersuchten Quellen repräsentieren also eine Vielzahl nicht nur von Positionen, sondern auch von zeitlichen Perspektiven. Jeder Standpunkt verweist auf spezifische Wahrnehmungs- und Entstehungsbedingungen, die besonders gut ausgeleuchtete Bereiche, aber auch blinde Flecken erzeugen. Die multiperspektivische Vorgehensweise setzt die jeweiligen Sichtweisen zueinander in Beziehung und legt offen, wie Praktiken, Diskurse und Deutungen aufeinander bezogen sind und aufeinander verweisen. Der Ansatz erzeugt also eine Vervielfachung von Stimmen, die jedoch nicht bloß unvermittelt nebeneinander stehen. Das Zueinander-In-Beziehung-Setzen von Quellen unterschiedlicher Perspektiven auf der Ebene des Forschungsdesigns und der Methodologie macht Beziehungen und Bezugnahmen sichtbar, die im Material angelegt sind. Im Forschungsprozess erhellen sich somit, ähnlich einem hermeneutischen Zirkel, die unterschiedlichen Quellen und Perspektiven gegenseitig. Dabei geht es nicht um einen kontrollierenden Abgleich etwa zwischen dem, was im Interview gesagt wird, und dem, wie es ›wirklich‹ war, oder zwischen dem, was in Archivalien thematisiert, in Interviews jedoch verschwiegen wird. Vielmehr schärft die Auswertung der Archivalien den Blick für die Spezifik der Interviews und umgekehrt. Die zeitliche Multiperspektivität erlaubt es, Phänomene, die in den Archivalien auftauchen, durch die Narrativierung meiner Gesprächspartner aus größerer Distanz zu betrachten und beispielsweise nach der Verfestigung von Deutungen oder nach der Transformation von Erlebnissen in erzählbare Erfahrungen zu fragen. Dieser multiperspektivische Ansatz ist zudem ein Weg, um der Komplexität von Internierung als kultureller Praxis gerecht zu werden, ohne die hierarchisch-dualistische Rahmenstruktur aus Eingesperrten und Bewachern zu reproduzieren und damit die Darstellung auf eine vermeintlich dominante Perspektive zu verengen. Umgekehrt balanciert die Perspektivenvielfalt einseitige Gewichtungen und Interpretatio-

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nen aus, etwa in Form einer Überhöhung des widerständigen Potenzials der Internierten,1 und verhindert die damit häufig verbundene Ausblendung von Kontexten und alternativen Deutungen. Die Analyse von Interaktionen, Zuschreibungen, Deutungen und Praktiken unter einer Kontaktperspektive erfasst zahlreiche Ebenen von Internierung. Doch der Ansatz dieser Studie erschöpft sich nicht darin, konkrete Kontaktstellen auszumachen, zu beschreiben und ihre Eigenlogik offenzulegen. Vielmehr zeigt er auch, welche Bedeutung diese Berührungspunkte im Gesamtgefüge besaßen bzw. welche Bedeutung ihnen von den unterschiedlichen Akteuren zugeschrieben wurde. Kontakt kann im Zusammenhang mit Internierung Konflikt bedeuten, aber auch auf Inklusion, Aneignung, Koalitionen, Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung, Ermächtigung, Aushandlungsfelder von Identitäten, symbolische Kommunikation oder Möglichkeiten strategischen Handelns verweisen. Die Untersuchung solcher Aspekte unter den Gesichtspunkten von Raum, Zeit und Identität hat gezeigt, wie ihre Zeitlichkeit, ihre Umsetzung in räumliche Strategien und Arrangements mit sozialen Positionierungen im Identitätsraum des Lagers ineinandergriffen. Am Beispiel von Eigen-Räumen der Internierten ist besonders deutlich geworden, wie die konkrete Funktion als räumliche Rückzugsmöglichkeit mit vergemeinschaftenden und identitätsstiftenden Aspekten verknüpft war, die in einer lagerspezifischen Zeitperspektive oft nur kurze Zeit Bestand hatten. Dass die hier eingenommene Kontaktperspektive nicht gleichbedeutend mit einer Relativierung oder Harmonisierung des Bildes von Einsperrung ist, verdeutlicht beispielsweise die Analyse des raum- und zeitbezogenen Umgangs mit dem der Internierung inhärenten Konfliktpotenzial. Die Untersuchung von Praktiken wie dem Handel der Internierten mit selbstgebauten Schiffsmodellen führt vor Augen, wie Insassen und Wachsoldaten Geschäftsbeziehungen eingehen konnten, die vorübergehend eine alternative Deutung der hierarchischen Beziehung ermöglichten. Narrative Konstruktionen von Komplizenschaft verweisen auf diesen Aspekt der Internierung. Am Beispiel der politischen Überzeugungen hat die Studie gezeigt, dass die Lagergesellschaft von wechselnden Zugehörigkeiten und Loyalitäten geprägt war, die zeitweilig quer zu den strukturell vorgegebenen Fraktionierungen in Eingesperrte und Bewacher verliefen. Temporäre Koalitionen zwischen einzelnen Internierten bzw. Gruppen von Internierten und ihren Bewachern waren Gegenstand situativer Aktualisierungen und wurden vor allem von Nachrichten über das Kriegsgeschehen beeinflusst. Der Umgang mit Differenzkonstruktionen und Fremdheitszuschreibungen bildete sowohl für die Internierten als auch für die Wachen einen wesentlichen Teil von Internierung. Kollektive wurden in der Kommunikation der Internierten mit Hilfsorganisationen und Wachen auch strategisch eingesetzt; die Kontaktperspektive zeigt eben auch diesen Aspekt von Vergemeinschaftung. Am Beispiel der Lagergärten und besonders der Aussaat von Pflanzensamen aus Deutschland wurde dargestellt, wie Strategien der Beheimatung und Aneignung des Lager-Raumes diesen zugleich mit symbolischer Bedeutung aufluden, die immer auch ein Kommunikationsangebot an die Bewacher enthielt, und welche Rolle die Hilfsorganisationen dabei als Förderer

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Zum Problem der Überschätzung von Widerständigkeit siehe ausführlich B.J. Warneken: Die Ethnographie popularer Kulturen, S. 240.

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von Eigeninitiative für die Entstehung solcher symbolischer Räume spielten. Sportarten wie etwa das horseshoe-pitching sind eines von vielen Beispielen für die temporär nachweisbare Übernahme von ›fremden‹ Praktiken durch die Internierten. Zahlreiche Inklusionsnarrative zeugen davon, wie stark die Contact Zone auch in die Deutungskonstitution verwoben ist. Durch die Internierung ausgelöste individuelle Transformationsprozesse sind ein wichtiges Thema für die Konstruktion narrativer Identität. Ein Ergebnis der Beschäftigung mit der Internierung deutscher Handelsschiffsbesatzungen in Kanada bildet die Erkenntnis, dass es sich hierbei um eine spezifische Form von Internierung handelt, wie ein YMCA-Sekretär nach einer Reihe von Lagerbesuchen bemerkte: »The Canadian Prisoners of War situation has a face of its own.«2 Ihr eigenes Gesicht bekam die Internierung deutscher Seeleute vor allem durch die im Hinblick auf den beruflichen Hintergrund homogene Zusammensetzung der Insassen in den Lagern, durch die Tatsache, dass es sich bei den Internierten um Zivilisten handelte, durch die lange Dauer bzw. den häufig vergleichsweise frühen Beginn der Internierung in den ersten Kriegsmonaten, die äußeren Bedingungen der Einsperrung sowie durch die arbeitsbedingten Kontakte mit der kanadischen Zivilbevölkerung. Die Studie zeigt auf verschiedenen Ebenen die Produktivität von Internierung: Sie brachte kodifizierte und ungeschrieben Regeln, Praktiken wie etwa das Rundendrehen, Strategien, Narrationen und mentale Bilder hervor, die unter anderen Bedingungen nicht oder nicht in dieser Form entstanden wären. Gleiches ist für den Krieg allgemein bereits verschiedentlich festgestellt worden.3 Diese Objektivationen und Subjektivationen entstanden nicht voraussetzungslos, sondern waren beeinflusst von Ressourcen wie Wissensbeständen und Beziehungen, welche die Akteure in die Contact Zone der Internierung mitbrachten. So beruhte beispielsweise Rudolf Beckers Projekt, ein seemännisches Wörterbuch zu erstellen, auf seinem professionellen Wissen als Schiffsoffizier, doch die Idee entsprang der spezifischen Zeitökonomie der Internierungserfahrung. Die Produktivität von Internierung betrifft aber auch das Wissen darüber, welche Argumentationsstrategie Erfolg versprechend war, wenn es darum ging, bei der Regierung des Aufenthaltsstaates eine Veränderung zugunsten der Internierten zu erwirken. Ebenso lassen sich Herrschaftstechniken und die ihnen zugrundeliegenden Logiken in ihrer konkreten Modellierung entlang der Internierungserfahrung als Produkte der Contact Zone begreifen. Nicht nur die Unmöglichkeit, bestimmte Tätigkeiten aus der Zeit vor der Gefangenschaft weiter zu betreiben, prägte den Alltag der Internierten, sondern auch das Kennenlernen und Ausprobieren neuer Beschäftigungen; nicht nur die erzwungene Trennung von Familie und Freunden war typisch für die Internierung, sondern auch zahlreiche Gelegenheiten, neue Kontakte zu knüpfen. Wie die Bezeichnung als »Kanada-Clique« zeigt, konstruieren die ehemaligen Internierten aus der Erfahrung der Internierung Bilder kollektiver Identität, die auf eine

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Bericht über den Besuch des YMCA-Sekretärs Dr. Conrad Hoffman in den Lagern Gravenhurst (C/20), Monteith (Q/23) und Petawawa (P/33) von Juli bis September 1945. LAC, MG 28, I 95, 273, File 5. Vgl. etwa S. Kienitz: Beschädigte Helden, S. 344.

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Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft verweisen. Internierung kann also auch retrospektive Vergemeinschaftung bedeuten. Die ›Kanada-Clique‹ transformiert die Exklusion der Internierung in die Exklusivität derer, die dabei gewesen sind. Unabhängig davon, ob sie währenddessen Zusammengehörigkeitsgefühle empfunden haben oder nicht, bleiben die Mitglieder der ›Clique‹ durch die Erinnerung an eine gemeinsame Erfahrung verbunden, die Außenstehenden nur bedingt vermittelbar ist. Sie sprechen die gleiche Sprache, die zum Teil auch in die familiäre Erinnerung Eingang fand.4 Das Netzwerk der ehemaligen Internierten bildete auch ein soziales Kapital, das sie aus der Internierung mit nach Hause brachten. Die Untersuchung hat demnach gezeigt, dass sich die Internierung auch mit Hinblick auf die Insassen als extreme räumliche, soziale und kulturelle Verdichtung denken lässt, die Personen mit vielen Gemeinsamkeiten, doch unterschiedlichem biografischem Hintergrund für eine gewisse Zeitspanne eng zusammenbrachte. In den rückblickenden Deutungen der ehemaligen Gefangenen erscheint die Internierung geradezu als Entwicklungsbeschleuniger, als Ressource und als kulturelles wie soziales Kapital. Für die meisten meiner Gesprächspartner repräsentierte das Lager den Ort, an dem ihre Nachkriegs- bzw. Berufsbiografie begann. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich eine neue Perspektive auf Internierung als transnationalen Möglichkeitsraum, der sich im Lager materialisierte, jedoch nicht darauf beschränkt war, sondern das gesamte Netzwerk der mit der Internierung beteiligten Akteure umfasste. Während die konkreten Ergebnisse, zu denen die vorliegende Studie kommt, die historische Spezifik der untersuchten Form von Internierung widerspiegeln und daher nicht auf andere Beispiele zu übertragen sind, ist diese Perspektive der Internierung als Möglichkeitsraum sehr wohl auf andere Kontexte der Einsperrung und Überwachung anwendbar. Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht; so konstatierten etwa Dietmar Sauermann und Renate Brockpähler in ihrer Studie über Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft in Russland, »daß in den oft engen Grenzen des Zwangssystems Kriegsgefangenschaft viele Formen der subjektiven Freiheit und der Selbstbestimmung möglich waren«5. Doch neu ist die mikro- und multiperspektivische Fundierung dieser Erkenntnis: Während Sauermann und Brockpähler von Erinnerungen ehemaliger Lagerinsassen auf den Lageralltag rückschließen, konnte die vorliegende Arbeit nicht nur zeigen, wie dieser Möglichkeitsraum entstand und wie die beteiligten Akteure sich darin positionierten, sondern auch, wie er aus unterschiedlichen Perspektiven bewertet wurde und in Diskurse über die Internierung einging. Das Lager als Möglichkeitsraum zu gestalten, wurde als Teil einer Herrschaftstechnik begriffen, welche die Eigeninitiative der Internierten förderte, um ihre Kontrollierbarkeit zu gewährleisten.6 Das wirft wiederum Licht auf den Möglichkeitsraum als intentional erzeugten Raum, der im Internierungsalltag unterschiedlichen Akteuren zu unterschiedlichen Zwecken diente.

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Zum Erzählen von Internierungsgeschichten aus zweiter Hand vgl. J. Kestler: Opas Erzählungen? Kriegsgeschichten aus zweiter Hand, sowie ausführlich Dies.: Kriegsgefangenschaft und Weltreise. D. Sauermann/R. Brockpähler: »Eigentlich wollte ich ja alles vergessen …«, S. 5. Vgl. hierzu die Überlegungen von Curt Bondy zur Führung eines Internierungslagers. C. Bondy: Problems of Internment Camps, S. 468.

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In der Gesamtschau erweist sich die Internierung deutscher Seeleute in Kanada damit als vielschichtige und ambivalente kulturelle Konstellation:7 Die in der vorliegenden Studie unternommene dichte Beschreibung medial vermittelter Bilder und rekonstruierter Praktiken zeigt, dass diese Form von Internierung zwar eine Begrenzung der äußeren Lebensumstände bedeutete, aber zugleich in vielerlei Hinsicht auch als Entgrenzung aufgefasst werden kann. Untersucht man die Contact Zone als Raum situativer strategischer Positionierungen, dann werden nicht einfach nur Handlungs- und Deutungsspielräume sichtbar, sondern vor allem deren diskursive und praktische Herstellung in konkreten Kommunikations- und Interaktionssituationen. Viele der rekonstruierbaren Handlungen in der Contact Zone ergeben erst Sinn, wenn man sie in ihrer Relationalität und ihrer Ausrichtung auf ein konkretes Gegenüber untersucht, das eine andere Position repräsentierte.8 Die Analyse von politisch motivierten Konflikten und der entsprechenden räumlichen Arrangements hat gezeigt, dass Internierte auch vorübergehend Koalitionen mit den Bewachern eingingen, wenn es strategische Vorteile versprach. Am Beispiel solcher temporärer Loyalitäten zeigt sich exemplarisch auch das Ineinandergreifen der drei Analysekategorien Raum, Zeit und Identität: Auch über räumliche Arrangements wurden Identitäten ausgehandelt und repräsentiert, die, wie die räumlichen Arrangements selbst, oftmals nur vorübergehend Bestand hatten. Aus einem Bestreben nach Fixierung und Orientierung in einer komplexen sozialen Situation wie der Internierung erwuchsen Zuschreibungen, die Positionierungen sowohl ein- als auch herausforderten. Die Untersuchung der dabei eingesetzten Stereotype und ideologisch präformierten Wertungen ergab, dass sowohl Positionierungschancen als auch Positionierungszwänge charakteristisch für Internierung als Contact Zone und für retrospektive Deutungen sind. Die alltägliche Interaktion in der Internierung war für die Akteure eine Möglichkeit, Handlungsspielräume auszuloten. Besonders für die Internierten bot sie auch eine Chance, die eigene Agency zu erfahren und zugleich – im Sinne symbolischer Kommunikation – auch zu demonstrieren. Wie die Analyse der räumlichen Praktiken und Ordnungen und insbesondere der Blickregimes innerhalb der Lager gezeigt hat, ist dabei die Frage nach der Sichtbarkeit von Handlungen zentral. Die Studie macht aber auch auf blinde Flecken aufmerksam, die selbst durch einen multiperspektivischen Ansatz nicht gänzlich aufgelöst werden können. So scheint die Internierung deutscher Seeleute in Kanada spezifische Narrative zu produzieren: In den Interviews werden vor allem – oft in anekdotischer Form – Erfolgsgeschichten und Inklusionsnarrative erzählt, die den Befragten Gelegenheit zu positiven Selbstaussagen geben. Geschichten über belastende Erfahrungen kommen hingegen kaum vor.9 Insgesamt fallen die Deutungen sehr homogen aus und besitzen einen positiven

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Zum Begriff der kulturellen Konstellation siehe Lindner, Rolf: Vom Wesen der Kulturanalyse. In: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), H. II, S. 177-188, hier S. 184. Hier bewahrheitet sich einmal mehr Rolf Lindners viel zitierter Hinweis, wonach »die Kulturanalyse ein Denken in Relationen erfordert«. Ebd., S. 179. Für eine ausführliche Analyse dieses Befunds siehe Kestler, Judith: Internierung erzählen – Gewalt erzählen? Narrationsanalytische Perspektiven auf Interviews mit Besatzungsmitgliedern deutscher Handelsschiffe. In: Gehmacher, Johanna/Löffler, Klara (Hg.): Storylines

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Tenor. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie dieses Bild – jenseits der konkreten narrativen Deutungskonstitution im Interview – zustande kommen konnte. Ein Erklärungsansatz liegt in der gesellschaftlichen Situation der Nachkriegszeit, die von spezifischen Deutungskonkurrenzen geprägt war.10 Gerade weil in der jungen Bundesrepublik »Kriegsgefangenengeschichte als Leidensgeschichte«11 verhandelt wurde, war im öffentlichen Opferdiskurs für Heimkehrer aus einer vergleichsweise privilegierten Gefangenschaftssituation wie der kanadischen kaum Platz – ganz abgesehen von der Frage, ob alle heimgekehrten Seeleute gerne einen Opferstatus für sich beansprucht hätten, wie Rudolf Becker es tat. Die damalige Unzugänglichkeit einer Opferposition hatte jedoch nicht nur mit der gesellschaftlichen Konstellation aus Flüchtlingen und Vertriebenen, den spät heimkehrenden Kriegsgefangenen aus Russland und den vielen Gefallenen zu tun, sondern auch mit der gesellschaftlichen Marginalisierung und dem zeittypischen Image von Seeleuten. Das in Liedern und Medientexten popularisierte Bild des »freien Seemanns«12 ist nur schwer mit dem Bild eines eingesperrten Seemanns in Einklang zu bringen. Im September 1945 lief der Film »Große Freiheit Nr. 7« in den deutschen Kinos an, dessen Hauptdarsteller Hans Albers zum Inbegriff eines Hamburger Seemannes und, wie Timo Heimerdinger herausgestellt hat, »Teil eines Mythos’ von der Seefahrt«13 wurde. Auch angesichts der vielen filmisch und musikalisch inszenierten Seemanns-Imaginationen der 1950er und 1960er Jahre, die stark um die Emotionalität von Fernweh, Sehnsucht und Freiheit kreisten, war der eingesperrte Seemann kaum darstellbar. Im Hinblick auf diese medialen Festschreibungen auf der einen Seite und die erwähnten Opferkonkurrenzen auf der anderen Seite konnte es für ehemalige Internierte auch ein Ausweg sein, die biografische Tatsache der eigenen Gefangenschaft positiv, also als befreiendes Erlebnis und Entwicklungsraum zu deuten, um biografische Kohärenz durch »narrative Harmonisierung«14 zu erreichen. Dass zudem jeder Erhebungszeitpunkt auch eine bestimmte Perspektive erzeugt oder favorisiert, verdeutlicht ein Auszug aus einem Rundschreiben der deutschen evangelischen Seemannsmission aus dem November 1945. Darin bewertete der Seemannspastor Wilhelm Thun, damals Geschäftsführer des Reichsfachverbandes Deutsche Seemannsmission, die Kriegsfolgen für die Seeleute aus seiner professionellen Sicht und stellte fest: »Unsere Seeleute kehren nach und nach aus der Kriegsgefangenschaft müde und hoffnungslos heim und klopfen mit ihrer inneren und äußeren Not an unsere Türen.«15 In den für die vorliegende Studie erhobenen Interviews wird diese Phase unmittelbar nach der Rückkehr aus der Internierung weitgehend ausgeblendet bzw. im Erinnern durch spätere biografische Entwicklungen überformt. Für

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and Blackboxes. Autobiografie und Zeugenschaft in der Nachgeschichte von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Wien 2016, S. 63-83. Vgl. P. Steinbach: Die sozialgeschichtliche Dimension der Kriegsheimkehr, S. 325-340. Ebd., S. 338. T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 198. Ebd., S. 260. U. Jureit: Ein Traum in Braun, S. 23. Zitiert nach Freese, Reinhard: Geschichte der deutschen Seemannsmission. Bielefeld 1991, S. 69.

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die ehemaligen Internierten bestand offenbar 70 Jahre später weder eine (biografische) Notwendigkeit noch eine Interesse daran, einen Opferstatus zu beanspruchen. Ein weiterer Erklärungsansatz für die Homogenität der positiven Deutungen von Internierung ist die altersmäßig bedingte Ausdünnung der Erlebnis- und Erinnerungsgemeinschaft der ehemaligen Internierten, die in der generational homogenen Samplestruktur der vorliegenden Studie zusätzlich zugespitzt wird. Das hat zur Folge, dass die anzunehmende vergangene Deutungsvielfalt verengt und mögliche Deutungskonkurrenzen unter den Betroffenen ausgeblendet werden. Wie viele ehemalige Internierte Zeit ihres Lebens über ihre Erlebnisse geschwiegen haben oder auch im Nachhinein subjektiv unter ihrer Internierung litten, muss ebenso offen bleiben wie die Frage, inwieweit positive Deutungen auch als Überlagerungen belastender Erfahrungen aufgefasst werden können. Ein weiterer Grund für die Homogenität der positiven Deutungen liegt möglicherweise auch in einem nicht ausschließlich persönlichen, sondern auch milieuspezifischen Interesse der Interviewpartner an Tradierung, insbesondere an der Tradierung positiver Bilder. Vor allem die Interviews mit ehemaligen Kapitänen zeigen, dass die Ebene des Seefahrts-Zeitzeugen sehr stark in den Narrationen mitschwang. Diese Rolle geht mit einem spezifischen Selbstverständnis und auch mit einer bestimmten Positionierung zu Tradition und Moderne einher. Die Hinwendung zu einer vermeintlich ›guten alten Zeit‹ zeigt sich beispielsweise an der häufig thematisierten Distanzierung von der Containerschifffahrt und den mit ihr verbundenen Umbrüchen der maritimen Arbeitswelt,16 die für die Befragten allerdings nicht im Widerspruch zu ihrer Auffassung von Seemannschaft als festem Wesenskern stand. Mit der Positionierung als Vertreter einer vergangenen Epoche der Schifffahrtsgeschichte ist meist auch eine explizite oder implizite Wertung dieser Vergangenheit verknüpft. Für das Sprechen über Krieg und Internierung ist es nicht zu vernachlässigen, wenn die Rolle eines Seefahrts-Zeitzeugen die des Internierungszeitzeugen durchdringt, da sie Deutungen rahmen kann. Einige Erzähler sprachen auch als Repräsentanten der Segelschiffszeit und damit als letzte Vertreter eines in dieser Form nahezu ausgestorbenen Berufsstandes. Ein Narrativ, das dabei immer wieder auftauchte, ist die Markierung der Seefahrt als entbehrungsreiche und abhärtende Erfahrung, die die Erzähler im Jugendalter durchlebten, als harte Schule des Lebens und als eine spezifische Form des coming of age, die auch gegen andere belastende Erlebnisse imprägniert. Solche Narrative verweisen auf die Sozialisation einiger Gesprächspartner auf dem Segelschiff, zu der üblicherweise und historisch verbürgt auch ein gewisses Maß an Gewalt und Schikane gehörte, etwa bei der Äquatortaufe der Neulinge.17 Dass diese Entbehrungen positiv gedeutet und in einen seemännischen Habitus integriert werden, wirft die Frage auf, inwieweit diese Art des Erzählens Rückschlüsse auf milieuspezifische Konventionen des Umgangs mit belastenden Erlebnissen, Gewalt und Leiden zulässt. Die populäre Figur des ›Seemannsgarn‹ erzählenden Seemannes, der allen brenzligen Situationen mit knapper Not entkommt, ist ein weiteres Identifikationsangebot, das in

16 Vgl. Schemmer, Janine: Schicht(en)wechsel. Eine empirische Untersuchung zum Umbruch der Arbeitswelt im Hamburger Hafen. In: VOKUS. Volkskundlich-kulturwissenschaftliche Schriften 20 (2010), Nr. 1, S. 15-30. 17 Vgl. U. Feldkamp: Leben an Bord eines Kap-Hoorn-Fahrers.

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die Interviewsituationen hineinragte und daher in seiner Relevanz für die Deutungskonstitution zu bedenken ist.18 Doch die Frage nach der Genese der positiven Deutungen in diesem Fall von Internierung ist auch noch unter einem weiteren Blinkwinkel zu betrachten: »Inevitably such an environment tends to breed an atmosphere of monotony, boredom, and tedium, and this in turn changes easily and frequently into one of surliness, peevishness, or pugnacity.«19 Was Elmo Paul Hohman hier mit Bezug auf Handelsschiffe schreibt, könnte sich genauso gut auf die Bedingungen des Zusammenlebens in einem Gefangenenlager beziehen. Nicht umsonst ist Erving Goffmans Modell der »totalen Institution« auch auf Schiffe übertragen worden,20 und auch Michel Foucault veranschaulichte seine Überlegungen zur Heterotopie sowohl an Orten der Einsperrung als auch an Schiffen.21 Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit Seeleute für eine erfolgreiche Bewältigung der Internierung prädestiniert waren. Waren sie auf die Anforderungen der Internierung besser vorbereitet als andere Zivilinternierte oder als Soldaten, weil sie über Routinen und Regeln des Zusammenlebens auf engem Raum verfügten, die bei der kollektiven Organisation und individuellen Bewältigung der Internierung halfen? Vieles von dem, was in der räumlichen und sozialen Verdichtungssituation der Internierung entstand und geschah, entzieht sich aufgrund mangelnder Quellenbasis einem wissenschaftlichen Zugriff, etwa die Frage, wie Wissens- und Erfahrungsaustausch abseits institutionalisierter Formate wie etwa der Unterrichtskurse vonstattenging oder welche Deutungen die Wachen als Privatpersonen auf die internierten Deutschen entwickelten. Das sind Leerstellen, mit denen sich jede Form von Alltagsgeschichtsschreibung abfinden muss.22 Interessant wäre in diesem Zusammenhang besonders die Frage, welche Wissensbestände über Internierung und Gefangenschaft unter den Internierten zirkulierten, etwa durch eigene Einsperrungserfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg – im Februar 1915 waren in Großbritannien knapp 20.000 Seeleute interniert23 – oder narrativ vermittelte familiäre Erfahrungen, und wie sie Deutungen, Praktiken und Bewältigungsstrategien der Akteure beeinflussten. Die noch ausstehende Aufarbeitung der Internierung deutscher Seeleute im Ersten Weltkrieg würde eine andere Art der historischen Kontextualisierung erlauben, insbesondere eine detailliertere Untersuchung der Rolle von älteren Internierten für die Gestaltung des Lagerlebens. Mit Leerstellen in den Quellen ist man auch konfrontiert, wenn es um die Frage nach langfristigen Lernerfahrungen24 und Kulturtransfers geht, die möglicherweise

18 Zu ›Seemannsgarn‹ und Erzählerwartungen vgl. T. Heimerdinger: Der Seemann, S. 332-333. 19 Hohman, Elmo Paul: Seamen Ashore. A Study of the United Seamen’s Service and of Merchant Seamen in Port. New Haven 1952, S. 211. 20 Vgl. Lisch, Ralf: Totale Institution Schiff (Soziologische Schriften, 20). Berlin 1976. 21 Zum Schiff als Heterotopie vgl. M. Foucault: Von anderen Räumen, hier S. 327. 22 C. Lipp: Perspektiven der historischen Forschung und Probleme der kulturhistorischen Hermeneutik, S. 206. 23 Panayi, Panikos: Prisoners of Britain: German Civilian, Military and Naval Internees during the First World War. In: Dove, Richard (Hg.): Totally Un-English? Britain’s Internment of ›Enemy Aliens‹ in Two World Wars. Amsterdam 2005, S. 29-43, hier S. 30. 24 M. Aust/D. Schönpflug (Hg.): Vom Gegner lernen.

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aus Kontaktstellen im Rahmen der Internierung entstanden, wie Laura Hannemann betont: »Adaptionen im Alltagsbereich – etwa von Nahrungsmitteln, Kleidungsstilen und Sportarten – sind […] allenfalls noch für die Zeit der Kriegsgefangenschaft nachzuweisen, will man hingegen ihren Transfer nach Deutschland dokumentieren, steht man vor Quellenproblemen […].«25 Auch die materielle Kultur der Internierung konnte bislang nur textlich oder visuell vermittelt untersucht werden.26 Vertreter der neueren POW Cultural Studies wie Gillian Carr begreifen Objekte aus Internierungslagern als »reified articulations of spoken and unspoken emotions«27 und heben die Bedeutung von materieller Kultur als Schlüssel zur Emotionalität von Internierungserfahrung hervor: »It can also reveal the emotions experienced during internment as people expressed their homesickness, their frustrations, their boredom, their depression and, ultimately, their exaltation at liberation into the objects that they made.«28 Eine systematische Untersuchung von Sachzeugnissen aus der kanadischen Internierung ist allerdings angesichts der disparaten Überlieferungssituation ein komplexes Unterfangen, das eine Erweiterung des methodischen Zugangs erfordert. Aus der zeitlichen und sozialen Ausweitung der Contact-Zone-Perspektive ergeben sich jedoch zahlreiche Anstöße für weiterführende Forschungen: Sei es, auf der Seite der kanadischen Behörden und der humanitären Helfer, die Frage nach der Zirkulation des empirisch gewonnenen Wissens über die ›Funktionsweise‹ von Internierung oder, bei kanadischen Bürgern, die Verhandlung von Wissensbeständen über ›die Deutschen‹ im Hinblick auf Geschichtsbild und familiäres Erinnern,29 intergenerationelles Erzählen von der Internierung,30 die familiäre Überlieferung von Erinnerungsobjekten sowohl in den Familien der Internierten als auch in denen von ehemaligen Wachsoldaten oder, nicht zuletzt, das unübersichtliche Feld von Privatsammlungen und Sammlern, die sich mit der Internierung der Handelsschiffsbesatzungen befassen – diese Fragen bieten eine weitere Vervielfachung von Perspektiven auf Internierung als Kontaktzone und transnationales Forschungsfeld.

25 L. Hannemann: Gesandte in Fesseln, S. 193. 26 Vgl. zur Bedeutung narrativ evozierter Objekte im Sprechen über die Internierung Kestler, Judith: »Mit Axt und Säge«. Zur erzählstrategischen Relevanz von Dingen in leitfadengestützten Interviews. In: Braun, Karl/Dieterich, Claus-Marco/Treiber, Angela (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse, Dinge, Praktiken. Würzburg 2015, S. 183-193. 27 G. Carr: Engraving and Embroidering Emotions Upon the Material Culture of Internment, S. 143. 28 Ebd. 29 Vgl. Keppler, Angela: Soziale Formen individuellen Erinnerns. Die kommunikative Tradierung von (Familien-)Geschichten. In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 137-159. 30 J. Kestler: Opas Erzählungen. Fragen des intergenerationellen Erzählens sind bislang besonders im Zusammenhang mit Wissen über Nationalsozialismus und Holocaust untersucht worden, vgl. etwa H. Welzer: Erinnern und weitergeben; Ders.: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch; Ders./Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch. Frankfurt am Main 52005; O. Jensen: Geschichte machen.

Anhang

S UMMARY Based on the example of the internment of German merchant shipping crews in Canada during the Second World War, the aim of this study is to analyze internment as a cultural practice. According to this approach, internment is not defined by seeing the camp as an institution, rather it is understood and studied in terms of its concrete enactment by all historical actors. Actors in this context are not only the interned seamen and their guards, but also members of humanitarian aid organizations and members of the general Canadian public. A multi-perspective, multi-method approach is followed throughout, which contrasts and relates the views, positions and strategies of all these historical protagonists. This also involves a combination of two time lines through the analysis of historical archived material and empirical qualitative methods. The concept of »Contact Zone« by Mary Louise Pratt, focusing on co-presence, interaction and integration of different practices and interpretations, provides a theoretical framework for the current study. The analysis of qualitative interviews with former internees forms the empirical part of this work, and is extended by the analysis of the following plurality of sources: autobiographical writings, drawings and paintings of former internees, photographs, newspaper articles, reports from humanitarian aid organizations and representatives of the protecting power that visited the camps, internees’ letters of complaint, files from the Canadian authorities, and private letters by internees. This study develops a cultural anthropological interpretation of internment, reconstructs its inner logic and, using Pratt’s framework of Contact Zone, shows how this form of confinement can be analyzed as a complex space for social interaction. As a result, this study contributes to the historical understanding of the significance of daily life during the war and is of particular importance to the academic fields of anthropology of war (Kriegsvolkskunde) and POW Cultural Studies.

498 | G EFANGEN IN K ANADA

T RANSKRIPTIONSZEICHEN (.)

Mikropause (< 1 sek.)

(1), (2), (3) …

Pausen in Sekundenlänge

=

Verschleifungen, schnelle Anschlüsse, Stottern

:

Vokaldehnung

-

Wort- oder Satzabbruch

AkZENT

Primärakzent im Satz

Ak!ZENT!

Besonders starker Akzent

((lacht)), ((hustet))

außersprachliche Ereignisse/Störungen/Handlungen (des Erzählers)

(hm, ah ja)

sofern nicht anders gekennzeichnet: Redebeitrag der Interviewerin innerhalb des Redebeitrags der Interviewperson

(?)

Nicht zweifelsfrei transkribierbares Wort/Passage

[unverständlich]

beim Transkribieren aufgrund undeutlicher Artikulation, Nebengeräuschen oder gleichzeitigen Sprechens mehrerer Personen unverständliche Passage

[Erläuterung]

Inhaltliche Erläuterungen (z.B. Fachbegriffe, Dialektausdrücke etc.)

A NHANG

| 499

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS A.I.C.H. AA ACICR AO Art. BArch-MA BAR BRT CAAE CBC CICR DAF DPW DRK EPD EMS HJ ICRC IKRK ISH ITF KdF KM KMD kn LAC MD MS NCO NDL NSBO NSDAP ÖTV OKM OKW PA AA P.C. POW Pte. PW P/W QCR RCAF RCAMC RCMP

Amicale Internationale des Capitaines au Long Cours Cap Horniers Auswärtiges Amt Archiv des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Auslandsorganisation [der NSDAP] Artikel Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg im Breisgau Schweizerisches Bundesarchiv Bern Bruttoregistertonnen Canadian Association for Adult Education Canadian Broadcasting Corporation Comité International du Croix-Rouge Deutsche Arbeitsfront Directorate of Prisoners of War, Ottawa Deutsches Rotes Kreuz Eidgenössisches Politisches Departement Enemy Merchant Seamen Hitlerjugend International Committee of the Red Cross Internationales Komitee vom Roten Kreuz Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter Internationale Transportarbeiter-Föderation NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« Kriegsmarine Kriegsmarinedienststelle Knoten Library and Archives Canada, Ottawa Military District Motorschiff non-commissioned officer Norddeutscher Lloyd Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr Oberkommando der Kriegsmarine Oberkommando der Wehrmacht Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Privy Council for Canada Prisoner of War Private Soldier (niedrigster Rang in der kanadischen Armee) Prisoner of War Prisoner of War Quebec Central Railroad Royal Canadian Air Force Royal Canadian Army Medical Corps Royal Canadian Mounted Police

500 | G EFANGEN IN K ANADA

RM RVM RVS SBG SKL Sm VDI VGC WK YMCA Z.

Reichsmark Reichsverkehrsministerium Reichsverkehrsgruppe Seeschiffahrt See-Berufsgenossenschaft Seekriegsleitung Seemeilen Verein Deutscher Ingenieure Veterans Guard of Canada Wissenschaftliche Kommission für die Dokumentation des Schicksals der deutschen Kriegsgefangenen des 2. Weltkriegs Young Men’s Christian Association Zeile

A NHANG

| 501

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Standorte der Internierungslager für deutsche Seeleute in Kanada | 148 Abbildung 2: Ansicht des Lagers Monteith, 1942 | 207 Abbildung 3: Plan des Lagers Farnham, 1941 | 208 Abbildung 4: Abendessen im Lager Mimico, undatiert | 218 Abbildung 5: Ein Internierter im Lager Sherbrooke bei der Arbeit an einem Blumenbeet im Vorgarten einer Baracke, 1944 | 220 Abbildung 6: Internierte Seeleute im Lager Sherbrooke bei der Arbeit an Frühbeeten, 1944 | 221 Abbildung 7: Teilansicht des Lagerparks in Fredericton, vor Mai 1943 | 224 Abbildung 8: Kartenspiel in einer Wohnbaracke im Lager Sherbrooke, undatiert | 229 Abbildung 9: Wohnbaracke mit Stockbetten im Lager Petawawa, undatiert | 230 Abbildung 10: Innerer Festungshof von Fort Henry, 1940 | 232 Abbildung 11: Gefangene nach dem roll call in Fort Henry, undatiert | 233 Abbildung 12: Das Lager Monteith im Jahr 1942 | 244 Abbildung 13: »Die Rundendreher« | 253 Abbildung 14: Weihnachtskarte aus dem Lager Mimico | 255 Abbildung 15: Ein Buddelschiff aus dem Lager Fredericton | 266 Abbildung 16: Vier ehemalige Internierte auf dem Gelände des früheren Lagers Neys am Lake Superior, 1989 | 277 Abbildung 17: Internierte beim Eishockeyspielen in Fort Henry, undatiert | 284 Abbildung 18: Internierte beim horseshoe-pitching im Lager Sherbrooke, 1944 | 284 Abbildung 19: »Join the Nazis and see Canada« | 287 Abbildung 20: Internierte beim Flößen im Bushcamp 77, ca. 1944 | 304 Abbildung 21: Mittagspause im Holzfällerlager 77, ca. 1944 | 304 Abbildung 22: »Moose!« | 307 Abbildung 23: Internierungserinnerung als Collage | 310 Abbildung 24: Collage von Bruno Pichner | 320 Abbildung 25: »Morgen Roll-call« | 328 Abbildung 26: Die Parade als Konfliktfeld | 329 Abbildung 27: Internierte Seeleute im Lager Sherbrooke präsentieren Schnitzarbeiten und selbstgebaute Schiffsmodelle | 345 Abbildung 28: Zeitvertreib im Lager Kananaskis | 348 Abbildung 29: Navigationsunterricht im Lager Sherbrooke | 353 Abbildung 30: Das polizeiliche Erfassungsfoto als Dokument des Othering | 382 Abbildung 31: »Pet Coon Suggested to Amuse German Prisoners« | 390 Abbildung 32: Interniertenkleidung | 399 Abbildung 33: Familie Klemm mit zwei internierten Arbeitskräften, Glanworth, Ontario, Frühjahr 1946 | 401 Abbildung 34: Die Eishockeymannschaft der WESER-Besatzung in einheitlichen Trikots, Fredericton, vor Mai 1943 | 420 Abbildung 35: »Die Küchen-Mannschaft« im Lager Petawawa, ca. 1942/43 | 420 Abbildung 36: Theatergruppe in einem kanadischen Seemannslager, undatiert | 421 Abbildung 37: Zeugnis von Rudolf Lell aus dem Lager Monteith, 1945 | 430 Abbildung 38: Malerei als Medium der Selbstvergewisserung | 451

502 | G EFANGEN IN K ANADA

Abbildung 39: Gedenktafel für deutsche Gefangene auf dem Woodland Cemetery in Kitchener, Ontario | 453 Die Bildquellen sind auf der Seite vermerkt, auf der die jeweilige Abbildung erscheint. Trotz intensiver Recherche ist es der Verfasserin leider nicht in allen Fällen gelungen, die Inhaber von Bild-und Fotorechten der abgebildeten Werke ausfindig zu machen. Bisher nicht ermittelte Rechteinhaber werden gebeten, sich mit der Verfasserin in Verbindung zu setzen.

A NHANG

| 503

T ABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Entwicklung der Altersstruktur deutscher Handelsschiffbesatzungen | 93 Tabelle 2: Verteilung der aus den deutschen Ländern stammenden Seeleute auf deutschen Frachtschiffen (auf Basis der seemännischen Berufszählung, 1934) | 94 Tabelle 3: Herkunft der Seeleute auf deutschen Frachtschiffen (1939) | 95 Tabelle 4: Entwicklung der NSDAP-Mitgliederzahlen unter deutschen Seeleuten | 96 Tabelle 5: Durchbruchsversuche deutscher Handelsschiffe in den ersten Kriegsmonaten | 110 Tabelle 6: Verluste deutscher Handelsschiffe zwischen August 1939 und April 1943 | 111 Tabelle 7: Internierte deutsche Seeleute – Zahlenmäßige Entwicklung weltweit (19401944) | 123 Tabelle 8: Anteil der in Kanada internierten deutschen Seeleute (1940-1944) | 124 Tabelle 9: Deutsche Seeleute in britischem Gewahrsam (1940-1944) | 124 Tabelle 10: Übersetzung von Dienstgraden der Handelsmarine in militärische Dienstgrade für die Behandlung von Handelsschiffsbesatzungen als Kriegsgefangene | 130 Tabelle 11: Schiffstransporte internierter deutscher Seeleute nach Kanada | 140 Tabelle 12: Internierungslager für deutsche Seeleute in Kanada | 147 Tabelle 13: Besuchte Unterrichtsstunden pro Monat und Fach in Camp Red | 350

Quellen- und Literaturverzeichnis

I NTERVIEWS

UND

G ESPRÄCHE

Hans-Peter Jürgens, geboren 1924, Interview am 28. August 2007 Albert Peter, geboren 1924, Interview am 17. Juli 2008 Bruno Pichner, geboren 1921, Interview am 27. Dezember 2007 Hans Plähn, geboren 1923, Interview am 22. Juli 2008 Franz Renner, geboren 1922, Interview am 24. Mai 2008 Heinz Ricklefs, geboren 1919, Interview am 23. Mai 2008 Herbert Suhr, geboren 1912, Interview am 22. Juli 2008 Ron Ridley, Kurator in Fort Henry, Kingston, Gespräch am 3. September 2009

K ORRESPONDENZ E-Mail von Iko Eiben, Verein der Kapitäne und Schiffsoffiziere zu Hamburg e.V. (27. Juni 2008) E-Mail von Ursula Feldkamp, Deutsches Schiffahrtsmuseum Bremerhaven (11. Juni 2012) E-Mail von Wayne Mullins, National Yacht Club, Toronto (29. August 2013)

F ILME The Enemy Within (52 min 04 s). Regie: Eva Colmers. 2003.

Q UELLEN

AUS

P RIVATSAMMLUNGEN

Sammlung David J. Carter, Elkwater »Humor hinter Stacheldraht« (Cartoons von Otto Ellmaurer)

506 | G EFANGEN IN K ANADA

Sammlung Albert Peter, Fremantle, Australien Fotografien Sammlung Peter Kiehlmann, Pinneberg Kapitänsbericht Hermann Ahlers Nachlass Harald Wentzel Sammlung Judith Kestler, Würzburg Nachlass Rudolf Lell Sammlung Bruno Pichner, Flensburg Fotografien und Erinnerungsberichte Sammlung Hans Plähn, Lunden Plan des Lagers Farnham Sammlung Heinz Ricklefs, Bremerhaven Erinnerungen 1919 bis 1946. Ms. O.J. Sammlung Günther Spelde, Bremerhaven Bericht von Leo Meinhardt über die Zeit seiner Internierung im 2. Weltkrieg von April 1940 bis September 1946. Ms.

ARCHIVALIEN Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA AA) Deutsche Gesandtschaft Bern RZ 512 Referat Kult E/Nf Schweizerisches Bundesarchiv, Bern (BAR) E2200.150-01 Schweizerische Vertretung, Montreal: Zentrale Ablage Archiv des Deutschen Schiffahrtsmuseums, Bremerhaven (DSM) III A 3324 Korrespondenz Rudolf Becker

Q UELLEN -

UND

L ITERATURVERZEICHNIS

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Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main (DRA) 2874456 Wort- und Musikdokumentation zur Sendung »Blinkfeuer Heimat« New Brunswick Internment Museum, Fredericton Fotografien Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg im Breisgau (BArch-MA) RM 12 II Marineattachés, 1933 bis 1945 RM 7 Seekriegsleitung Archiv des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Genf (ACICR) B G 17 Correspondance Générale C SC Länderakten Kanada und Großbritannien Photothèque des ACICR Fotografien Sammlung Fort Henry, Kingston SC Swiss Consulate IR Inspection Reports Fotografien Library and Archives Canada, Ottawa (LAC) RG 24 Department of National Defence MG 28, I95 National Council of Young Men’s Christian Associations of Canada Military History Research Center, Canadian War Museum, Ottawa Fotografien aus der George Metcalf Archival Collection

G EDRUCKTE

UND ONLINE VERFÜGBARE

Q UELLEN

800 German Seamen Interned in Canada. Merchant Sailors Brought From Far East Where Their Ships Immobilized Long Ago. The Globe and Mail vom 14.08.1942. 5,500 Nazi Prisoners at Work. Their NSS Rating Ranges from »Indifferent« to »Splendid«. The Financial Post vom 26.05.1944. At Home and Abroad. Join the Army, See the World. Time vom 28.09.1942.

508 | G EFANGEN IN K ANADA

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Q UELLEN -

UND

L ITERATURVERZEICHNIS

| 509

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UND

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Gesa Köbberling Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt Herausforderungen Sozialer Arbeit zwischen individueller Hilfe und politischer Intervention Juli 2017, ca. 370 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3866-0

Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.) So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch 80 wegweisende Projekte mit Geflüchteten März 2017, ca. 350 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3829-5

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Kultur und soziale Praxis Bärbel Völkel, Tony Pacyna (Hg.) Neorassismus in der Einwanderungsgesellschaft Eine Herausforderung für die Bildung Januar 2017, 258 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3454-9

Anna Gansbergen, Ludger Pries, Juliana Witkowski (Hg.) Versunken im Mittelmeer? Flüchtlingsorganisationen im Mittelmeerraum und das Europäische Asylsystem Oktober 2016, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3676-5

Maren Ziese, Caroline Gritschke (Hg.) Geflüchtete und Kulturelle Bildung Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld September 2016, 440 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3453-2

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Laila Huber Kreativität und Teilhabe in der Stadt Initiativen zwischen Kunst und Politik in Salzburg Mai 2017, ca. 370 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3664-2

Daniel Volkert Parteien und Migranten Inkorporationsprozesse innerhalb der SPD und der französischen PS Mai 2017, ca. 375 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3828-8

Christian Lahusen, Stephanie Schneider (Hg.) Asyl verwalten Zur bürokratischen Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problems März 2017, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3332-0

Christian Lahusen, Karin Schittenhelm, Stephanie Schneider Europäische Asylpolitik und lokales Verwaltungshandeln Zur Behördenpraxis in Deutschland und Schweden Februar 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3330-6

Daniel Kofahl, Sebastian Schellhaas (Hg.) Kulinarische Ethnologie Beiträge zur Wissenschaft von eigenen, fremden und globalisierten Ernährungskulturen Februar 2017, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3539-3

Marie-Theres Modes Raum und Behinderung Wahrnehmung und Konstruktion aus raumsoziologischer Perspektive August 2016, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3595-9

Christoph Bareither Gewalt im Computerspiel Facetten eines Vergnügens Juni 2016, 368 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3559-1

Francis Müller Mit Behinderung in Angola leben Eine ethnografische Spurensuche in einer von Tretminen verletzten Gesellschaft Mai 2016, 152 Seiten, kart., zahlr. Abb.;, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3480-8

Donja Amirpur Migrationsbedingt behindert? Familien im Hilfesystem. Eine intersektionale Perspektive Mai 2016, 312 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3407-5

Dieter Haller Tanger Der Hafen, die Geister, die Lust. Eine Ethnographie April 2016, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3338-2

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