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German Pages 518 Year 1995
MANFRED RAUH
Geschichte des Zweiten Weltkriegs Zweiter Teil: Der europäische Krieg 1939-1941
Geschichte des Zweiten Weltkriegs Zweiter Teil: Der europäische Krieg 1939-1941
Geschichte des Zweiten Weltkriegs Zweiter Teil:
Der europäische Krieg 1939-1941
Von
Manfred Raub
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Rauh, Manfred: Geschichte des Zweiten Weltkriegs I von Manfred Rauh. Berlin : Duncker und Humblot. ISBN 3-428-07300-2 Teil 2. Der europäische Krieg 1939 - 1941. - 1995 ISBN 3-428-08397-0
Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-07300-2 (Gesamtwerk) ISBN 3-428-08397-0 (2. Teil)
Vorwort Band I meines insgesamt auf drei Bände angelegten Werkes wurde vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, damals noch in Freiburg, jetzt in Potsdam, herausgegeben. Der vorliegende Band 2 und der nachfolgende Band 3 werden dagegen ausschließlich unter meiner Verfasserschaft und alleinigen Verantwortung veröffentlicht. Die gedanklichen und methodischen Leitlinien für die Anlage des Gesamtwerkes werden im 1. Band ebenso dargelegt wie in den Folgebänden. Mit meiner Darstellung ist nicht beabsichtigt, einen Beitrag zum pluralistischen Spektrum bloßer Meinungen, insbesondere nicht der tagespolitischen, zu leisten. Vielmehr unternehme ich damit den Versuch, zweierlei miteinander zu verbinden: einerseits die bewährte Einsicht der Historie, jede Epoche müsse aus sich selbst heraus verstanden werden, nicht aus den Gegebenheiten einer späteren Gegenwart, und andererseits die Ergebnisse der Erkenntnislehre, welche von der begrifflichen Erfassung und erklärenden Durchdringung des Gegenstands logische Stringenz verlangt, um nicht kurzsichtig oder opportunistisch an gängigen Vorurteilen kleben zu bleiben. Es ist mir eine angenehme Pflicht, denjenigen zu danken, die bislang mein Werk über den Zweiten Weltkrieg förderten: zunächst den Herren vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Brigadegeneral Dr. Roth, LWDir Dr. Boog und WDir Dr. Joachim Hoffmann, sodann den beteiligten Bibliotheken und dem Bundesarchiv- Militärarchiv. Mein besonderer Dank gilt dem Verleger, Herrn Prof. (Rep. Öst.) Dr. jur. h. c. Norbert Simon, und dem Haus Duncker & Humblot, das sich unter dem Wahlspruch "Vincit Veritas" um die Wissenschaft verdient macht. Manfred Rauh
I Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil
Der europäische Krieg 1939-1941 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Kriegführung und Politik im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Der Krieg gegen Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Das Verhältnis der Mächte nach dem Hitler-Stalin-Pakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. "Weserübung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4. Der Westfeldzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 II. Politisch-strategische Entscheidungen nach dem deutschen Westfeldzug . . . . . . . . . . . 201
I. Blitzkriegstrategie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I 2. Das Verhältnis der Mächte vom Sommer 1940 bis zum Sommer 1941 . . . . . . . . . . 227 3. Der Krieg gegen England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 4. Die Atlantik-Charta ................................................... ·... . ... . . 322
m.
Der deutsche Rußland-Feldzug 1941 .............................................. 345
I. Die Vorbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 2. Die "verbrecherischen Befehle" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 3. ,,Barbarossa"- die Zerstörung eines Feldzugsplans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506
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Vorbemerkung Der Krieg, der durch den deutschen Einmarsch in Polen am 1. September 1939 sowie die Kriegserklärungen Englands und Frankreichs am 3. September begann, war zunächst noch kein Weltkrieg. Es handelte sich in den Jahren bis 1941 um eine europäische Auseinandersetzung, die wiederum in drei Etappen gegliedert werden kann: erstens der Krieg Deutschlands gegen das britisch-polnisch-französische Bündnis, der durch die wohlwollende Neutralität Sowjetrußlands gegenüber dem Reich gefördert wurde und mit dem deutschen Sieg im Westen vorläufig zum Abschluß kam; sodann zweitens eine Zwischenphase, in welcher Britannien allein weiterkämpfte und in Deutschland die Entscheidung über die Fortführung des Krieges anstand, insbesondere über das künftige Verhältnis zur Sowjetunion; schließlich drittens der deutsche Rußlandfeldzug des Jahres 1941, der den europäischen Krieg auf seinen Höhepunkt brachte, während zugleich die Weichen gestellt wurden für die Ausweitung des Krieges zum eigentlichen Weltkrieg. Erst mit dem Kriegseintritt der USA Ende 1941flossen die bis dahin getrennten Auseinandersetzungen in Buropa und in Ostasien zusammen zu jenem globalen Kampf zwischen den Achsenmächten und der sog. Anti-Hitler-Koalition, der im Vollsinn des Wortes als Weltkrieg bezeichnet werden kann. Dennoch waren in dem Krieg, der 1939 entfesselt wurde, die Keime des späteren Weltkrieges bereits angelegt; aus dem europäischen Krieg erwuchs nicht durch Zufall der spätere Weltkrieg. Dies gilt für die einzelnen Länder in verschiedener Weise. Die britischen Appeaser um Premierminister Chamberlain und Außenminister Halifax hielten zwar bis in den Krieg hinein an ihrer Einschätzung fest, daß ein neuerlicher Weltkrieg unter Teilnahme der USA eine amerikanische Weltführungsrolle unvermeidlich machen und die nur noch mühsam aufrechterhaltene Stellung Britanniens als Großmacht unterhöhlen würde. Den Krieg wünschten sie deshalb auf Buropa zu beschränken und hofften ihn allein mit ihrem Alliierten Frankreich erfolgreich zu bestehen. Erst Premierminister Churchill, seit Mai 1940 Nachfolger Chamberlains, schwenkte bedingungslos auf die Unterstützung durch Amerika um, womit er sich zugleich dem Führungsanspruch der USA unterwarf. Auch der russische Diktator Stalin scheint anfangs mit einem auf Buropa beschränkten, langwierigen Abnützungskrieg zwischen Deutschland und den europäischen Westmächten gerechnet zu haben, in welchem am Ende Rußland, nicht aber Amerika, zum Zünglein an der Waage zu werden versprach. Dagegen ist in Deutschland das Eingreifen Amerikas schon bald einkalkuliert worden. Wie deutsche Diplomaten und der Generalstab des Heeres spätestens seit 1938 die Beteiligung der USA an einem europäischen Krieg vorhersagten, so erwartete auch der
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Vorbemerkung
Oberbefehlshaber der Marine, Admiral Raeder, auf längere Sicht den amerikanischen Kriegseintritt, worauf er Hitler im Oktober 1939 hinwies. Hitler selbst betrachtete etwa zur selben Zeit die augenblickliche außenpolitische Lage, namentlich die Verständigung mit Rußland durch den Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939, nur als Übergangszustand. Man darf dabei getrost unterstellen, daß er selbst schwerlich die Absicht hatte, den Nichtangriffsvertrag mit Stalin auf Dauer zu halten. Umgekehrt erwartete Hitler aber auch von Stalin nicht, und ebensowenig von den USA, daß sie langfristig neutral bleiben würden. In einer Denkschrift vom 9. Oktober 1939 verwies er auf den Faktor Zeit, denn dieser arbeite für die Westmächte und werde auf längere Sicht die gegnerische Koalition des Ersten Weltkriegs wieder ermöglichen, also den Kampf Amerikas und Rußlands gegen Deutschland, dem das Reich nicht gewachsen sein konnte. Für Hitler stellte sich damit der europäische Krieg von vornherein als Wettlauf mit der Zeit dar; ging dieser Wettlauf mit der Zeit verloren, so mußte Deutschland der Übermacht seiner Gegner, vor allem dem amerikanischen Potential, mit Notwendigkeit erliegen. 1 Eine Schlüsselrolle kam dabei den USA zu. Über die letzten Absichten des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt gesicherte Aussagen zu machen, ist zwar sehr schwierig, weil er seine innersten Gedanken geschickt zu verbergen wußte und nur gelegentlich etwas davon aufscheinen ließ. Doch darf man mit einiger Gewißheit feststellen, daß er je länger desto mehr in die Fußstapfen seines bedeutenden Vorgängers aus dem Ersten Weltkrieg, Woodrow Wilson, trat, der eine auf das internationale Recht gegründete Weltfriedensordnung unter amerikanischer Führung erstrebt hatte. In diesem Sinn erklärte Roosevelt im Jahr seines Amtsantritts, 1933, die alte Politik, die alten Allianzen, die alten Verbindungen und Gleichgewichte zwischen den Mächten hätten sich als untauglich erwiesen für die Erhaltung des Weltfriedens. Das entsprach vollauf den Gedanken Wilsons, der an die Stelle der alten Macht- und Gleichgewichtspolitik eine Gemeinschaft der Staaten und Völker hatte setzen wollen. Im Gegensatz zu der im amerikanischen Kongreß und in der Öffentlichkeit verbreiteten Stimmung des Isolationismus, also des Heraushaltens aus den Händeln und Streitigkeiten der übrigen Welt, war Roosevelt damit ein "Intemationalist", der die USA in der Verantwortung erblickte, für die Errichtung einer dauerhaften Weltfriedensordnung zu sorgen, in welcher Amerika kraft seiner überlegenen Stärke, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, einen bestimmenden Einfluß weltweit geltend machen konnte. Eine derartige, auf das Völkerrecht, auf den friedlichen Austrag von Streitigkeiten und auf die amerikanische Führung gegründete Weltordnung sah Roosevelt in den 1930er Jahren zunehmend gefährdet durch das nationalsozialistische Deutschland, durch Japan und Italien. Diese drei Länder verkörperten für Roosevelt geradezu das Gegenprinzip zu einer Welt des Friedens, des Rechts und der amerikanischen Vormachtstellung; diese drei Länder betrieben Machtpolitik reinsten Wassers, wie schon Wilson sie hatte 1 Zu Britannien D. Reynolds, Creation. Zu Stalin D. Geyer, Osteuropa-Handbuch, 282. Zu Raeder G. Wagner, Lagevorträge, 27 (10. 10. 1939). Hitlers Denkschrift vom 9. 10. 1939 in Jacobsen, Vorgeschichte, 4 ff.
Vorbemerkung
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überwinden wollen; sie standen für Gewalt, Eroberung, Aufteilung der Erde in getrennte Einflußräume, Zurückweisung des amerikanischen Führungsanspruchs und am Ende gar Bedrohung der USA selbst. Je stärker sich dies herausschälte, umso mehr fühlte Roosevelt sich als Bewahrer und Fortführer des Erbes von Präsident Wilson. William Bullitt, am Ende des Ersten Weltkriegs bereits Mitarbeiter von Wilson, nunmehr Botschafter in Paris und Berater Roosevelts, schrieb Ende 1937, Roosevelt glaube offensichtlich, Gott habe den Mantel Wilsons um seine Schultern gelegt. Finanzminister Morgenthau meinte 1940, der Präsident habe in der Außenpolitik geradezu einen Messias-Komplex. 2 Folgt daraus, daß der amerikanische Kriegseintritt langfristig wahrscheinlich oder sogar unvermeidlich war, wie man in Deutschland annahm? Vor einer ähnlichen Frage war Präsident Wilson im Ersten Weltkrieg gestanden, und er hatte sie anfangs dahingehend beantwortet, daß der. amerikanische Kriegseintritt nicht zweckdienlich sei. War Roosevelt entschlossen, eine neue Weltfriedensordnung durch die amerikanische Teilnahme am Krieg herbeizuführen, und wenn ja, seit wann? Die Frage ist bis heute strittig; es ist aber festzuhalten, daß Roosevelt den Krieg aus seinen Erwägungen nie ausgeschlossen hat. Bereits in einer seiner ersten Kabinettssitzungen 1933 brachte er selbst die Rede auf einen möglichen Krieg mit Japan und seestrategische Pläne hierfür. Anläßlich der Sudeten-Krise 1938 begrüßte er zwar die Erhaltung des Friedens, aber nicht aus einer Scheu vor bewaffneten Auseinandersetzungen überhaupt, sondern weil er die unabsehbaren Folgen eines europäischen Krieges fürchtete, in welchem die europäischen Westmächte auf eine militärische Auseinandersetzung mit Deutschland wegen ihres Rückstandes in der Rüstung nicht genügend vorbereitet waren oder bei welchem die Sowjetunion der eigentliche Gewinner sein könnte. Einen Frieden um jeden Preis erstrebte Roosevelt dennoch nicht; ungeachtet jener Überlegungen bot er im September 1938 der britischen Regierung die Beteiligung der USA an einer Blockade Deutschlands an und stellte für den Fall einer unmittelbaren Bedrohung Englands das Eingreifen amerikanischer Truppen in Aussicht. Dem lag die Überzeugung zugrunde, daß die vordersten Verteidigungslinien der USA nicht im Atlantik und Pazifik verliefen, sondern in Europa und Ostasien. Roosevelt stand damit von vornherein im Widerspruch zu der isolationistischen Stimmung im Kongreß und bei der Mehrheit seiner Landsleute. Noch im Februar 1941 machte sich ein führender Vertreter des Isolationismus, La Follette, über die von der Regierung an die Wand gemalte Bedrohung der westlichen Hemisphäre lustig, indem er meinte, man solle nicht glauben, daß 80 Millionen Deutsche in der Lage seien, über die USA herzufallen, die mächtigste Industrienation der Welt mit ihren 130 Millionen Einwohnern, und dies um so weniger, als die Deutschen nach der Eroberung des mittleren und westlichen Europa doppelt so viele unterworfene und aufsässige Europäer bändigen müßten, von der riesigen russischen Militärrna2 Roosevelt 1933 in Rosenman, Papers II, 544 ff. (28. 12. 1933). Bullitt und Morgenthau nach Junker, Nationalstaat, 33 f. Ferner Dallek. Divine, Chance. Marks. Schwabe, Ära.
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Vorbemerkung
schine in ihrem Rücken ganz zu schweigen. Wenngleich diese Auffassung von der relativen Unverwundbarkeit Amerikas nicht gänzlich abwegig war, so dachten Roosevelt und seine engsten Berater doch vom Beginn an darüber hinaus. Im Grunde hat Roosevelt als Haupt der amerikanischen Internationalisten die Absichten Hitlers seit Jahren vor dem Krieg richtig eingeschätzt, selbst wenn die Kenntnis von Hitlers Schriften in den USA wenig verbreitet war, und ebenso richtig den Zustand der Mächtebeziehungen in Europa und Ostasien. Der amerikaDisehe Botschafter in London, J.P. Kennedy, brachte im März 1939 Gedanken zu Papier, die er vorher mit Roosevelt besprochen hatte. Ähnlich wie der Präsident selbst bei verschiedenen anderen Gelegenheiten verwies Kennedy darauf, die USA dürften eine Niederlage Britanniens und Frankreichs gegen die Achsenmächte nicht hinnehmen. Andernfalls würde Deutschland zur beherrschenden Macht in Europa aufsteigen, Rußland wäre der Gewalt Deutschlands und Japans ausgeliefert, die Kolonien aller anderen europäischen Länder würden zwischen den Achsenmächten aufgeteilt, wodurch Japan eine unangreifbare Position in Ostasien erhielte, die USA würden einen großen Teil ihres Auslandsvermögens und ihres Außenhandels verlieren, sie wären zu umfangreichen Rüstungen gezwungen, wodurch ihr Lebensstandard zusätzlich gesenkt würde, was soziale Unruhe erzeugen müsse, schließlich könnten sich die Achsenmächte die Hilfsmittel der eroberten Länder zunutze machen, um sie gegen die USA zu verwenden. 3 Die Ziele Hitlers und die weltstrategische Lage, wie sie zu jener Zeit bestanden, wurden damit von Roosevelt und seinen Mitarbeitern wie Kennedy ziemlich genau erfaßt. In der Tat hegte Hitler ja den Plan, abgesehen von der Bereinigung der polnischen Frage, zunächst die europäischen Westmächte niederzuwerfen, um anschließend die Hände frei zu haben für den Kampf um den russischen Lebensraum, wobei er anscheinend zeitweise auch mit dem Gedanken spielte, im Erfolgsfall sogar die Auseinandersetzung mit den USA nicht zu scheuen. Die Errichtung großer wirtschaftlicher und militärischer Machtblöcke durch die Achsenmächte auf der europäisch-asiatisch-afrikanischen Landmasse war demnach eine wirkliche Gefahr, von der Amerika nicht unberührt bleiben konnte, auch wenn man wie die Isolationisten annahm, daß damit noch keine unmittelbare Existenzgefährdung der USA verbunden sei. Von besonderer Bedeutung war hierbei die Rolle Rußlands. Es ist ja auffällig, daß Kennedy in der eben genannten Niederschrift vom Frühjahr 1939 annahm, die europäischen Westmächte könnten von den Achsenmächten besiegt werden, ohne daß Rußland ihnen zu Hilfe kam, so daß die Sowjetunion anschließend von der Gnade Deutschlands und Japans abhing. Dem lag offenbar eine bestimmte Auffassung vom Verhalten Rußlands selbst zugrunde. Die Rußlandkenner unter den amerikanischen Diplomaten, wie der damals noch unbekannte George F. Kennan, gingen spätestens seit der Mitte der 1930er Jahre davon aus, daß 3 Roosevelt 1933 nach Junker, Weltmarkt, 141. Roosevelt 1938 nach Schwabe, Regierung, 106, 127 f. Dallek, 285. Hearden, 106ff. La Pollette und Kennedynach Junker, Nationalstaat, 22, 26f.
Vorbemerkung
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Stalin vor allem in Buropa jede friedliche Regelung von Streitfragen verhindern, vielmehr dafür sorgen wollte, andere Länder in den Krieg gegeneinander zu verwickeln. Diese Einschätzung, die derjenigen in London und Paris vollauf entsprach, konnte von Roosevelt nicht einfach übergangen werden, so daß er sich immer wieder die Frage vorlegte, ob die USA, England, Frankreich sowie Rußland wirklich zusammenarbeiten könnten, und sich darum bemühte, genauere Kenntnis über die Politik, die Stärke und militärische Widerstandskraft der Sowjetunion zu erlangen. Denn Rußland war, wie er es 1936 einmal ausdrückte, ein wesentlicher Faktor im Zusammenhang mit Krieg oder Frieden in Europa; Stalin konnte, indem er mit den Westmächten zusammenwirkte, Hitler eindämmen, er konnte ihn aber auch zum Krieg ermuntern und einen Krieg Deutschlands mit den Westmächten mittelbar oder unmittelbar fördern. Hatte Roosevelt sich anfangs noch um Ansätze zu einer Zusammenarbeit mit Stalin bemüht, so stellte er derartige Versuche seit dem Jahr 1938 ein, nachdem die europäischen Appeaser deutlich sichtbar darangegangen waren, die Sowjetunion aus der Regelung europäischer Angelegenheiten auszuschließen. Während die europäischen Appeaser seit dem Münchner Abkommen vom September 1938 und der Isolierung Rußlands nur noch darauf hoffen konnten, Hitler werde vielleicht doch noch Vernunft annehmen und sich mit einer friedlichen Revisionspolitik begnügen, scheinen Roosevelt und seine engsten Berater einen Krieg weitgehend für unvermeidlich gehalten zu haben - einen Krieg, bei welchem Hitler sich zunächst, unbehelligt von Rußland, gegen den Westen wenden würde, so daß anschließend, wie Kennedy im Frühjahr 1939 meinte, die Sowjetunion allein dem Willen Deutschlands und Japansausgeliefert sein würde. Die deutsch-russischen Annäherungsversuche des Jahres 1939, über die man in Washington verhältnismäßig gut unterrichtet war, betrachtete Roosevelt mit steigender Sorge. Es würde durchaus in der Logik der amerikanischen Überlegungen liegen, wenn, wie berichtet wird, Roosevelt im Sommer 1939 einen eindringlichen Appell an Stalin gerichtet haben soll: Falls die Sowjetregierung sich mit Hitler einige, dann sei es so sicher wie die Nacht dem Tag folge, daß Hitler, sobald er Frankreich erobert habe, sich gegen Rußland wenden werde, und daß dann die Sowjets an der Reihe seien. 4 Damit eröffneten sich in der Tat Perspektiven, die Amerika nicht gleichgültig lassen konnten. Schon im Ersten Weltkrieg hatten Präsident Wilson und sein Außenminister Lansing die große eurasische Liga von Deutschland über Rußland bis Japan gefürchtet bzw. die Zusammenfassung des Potentials dieser Länder im Wege politischer Verbindung oder kriegerischer Unterwerfung. Eben diese Möglichkeit zeichnete sich nun wieder am Horizont ab. Es war der Sinn von Wilsons Weltfrie4 Zu Kennan dessen Memoiren, 79 ff. Zur Meinung amerikanischer Diplomaten auch Bullitt, President, 154 ff., 245 ff., 263. Bennett, Roosevelt, 106. Roosevelt 1936 nach Davies, Botschafter, XII. Allgemein zur amerikanischen Rußland-Politik Knipping, Rußlandpolitik, 13 ff. und passim. Roosevelts Warnung an Stalin 1939 nach Davies, Botschafter, 349 (Juli 1939). Vgl. Knipping, Rußlandpolitik, 20 ff., 34 ff.
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Vorbemerkung
densplan gewesen, mit der Überwindung der herkömmlichen Machtpolitik zugleich die Zusammenballung eines derartigen Machtpotentials auf dem eurasischen Kontinent zu verhindern. Durch das Scheitern von Wilsons Plan war die alte Machtpolitik wieder zum Zug gekommen, die nicht mehr, wie die Appeasementpolitik es versucht hatte, durch die Errichtung eines gefestigten europäischen Gleichgewichts aufgefangen werden konnte. Wenn Hitler und Stalin erklärtermaßen das europäische Gleichgewicht überwinden wollten, so stand nicht bloß ein Krieg um die Vorherrschaft in Europa in Aussicht, sondern am Ende gar ein Kampf um die Weltherrschaft. Dieser Kampf um die Weltherrschaft konnte von Hitler-Deutschland seinen Ausgang nehmen, indem das Dritte Reich, nachdem es mit Stalins Duldung die europäischen Westmächte überwunden hatte, im Verein mit den anderen Achsenmächten einen großen eurasischen Machtblock errichtete, insbesondere Rußland unter seine Botmäßigkeit brachte und damit über ein Potential verfügte, das ihm in Zukunft auch den Kampf gegen Amerika gestattete oder zumindest diesen Kampf nicht von vornherein aussichtslos machte. Auf der anderen Seite konnte die Vereinigung des deutschen und des russischen Potentials sowie gegebenenfalls der Anschluß des japanischen aber auch durch politische Übereinkunft entstehen, wie es mit dem deutsch-russischen Neutralitätsvertrag vom 23. August 1939 der Fall zu sein schien. Bereits in einer amerikanischen Kabinettssitzung vom 25. August 1939 wurden aus dem deutsch-russischen Vertrag weltpolitische Folgerungen gezogen. Man befürchtete ein Zusammenwirken des Reiches mit der Sowjetunion, eine Aufteilung des Balkans zwischen Berlin, Moskau und Rom, eine Übernahme der holländischen und belgiseben Kolonien, schließlich einen japanischen Griff nach den Besitzungen Britanniens und Frankreichs in Asien. Der Abteilungsleiter im Außenministerium Berle, der Roosevelt nahestand, vermerkte im Anschluß an ein Gespräch mit Außenminister Hull am 3. September 1939, kurz nach Kriegsbeginn: Die USA könnten nicht auf einen Sieg der europäischen Westmächte bauen. Sollte sich deren Niederlage abzeichnen, so könnten die USA entweder selbst in den Krieg eintreten; oder die USA könnten die Westeuropäer aufgeben und sich im Atlantik dem Entscheidungskampf stellen gegen ein russisch-deutsches Europa, das nach der Weltherrschaft strebe. Roosevelt selbst meinte im Dezember 1939, bei einem deutsch-russischen Angriffsbündnis sei die amerikanische Zivilisation in Gefahr; der amerikanische Welthandel und die südamerikanischen Länder müßten dann der Koalition anheimfallen, sofern die USA nicht willens seien, gegen ein deutschrussisch beherrschtes Europa in den Krieg zu ziehen. Selbst wenn die Verbindung zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion sich nicht verfestigte, selbst wenn der frühere Gegensatz wieder aufbrach, wie in Amerika viele hofften, brauchte sich die Lage für die USA nicht wesentlich zu entspannen. Denn in diesem Fall trat wieder die andere Möglichkeit in Geltung, daß Rußland vom Dritten Reich oder von diesem in Gemeinschaft mit Japan unterworfen wurde, so daß die USA sich ebenfalls einer die. Kontinente umspannenden Machtzusammenballung gegenüberfanden. 5
Vorbemerkung
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Angesichts dieser Sachlage darf man zweifellos annehmen, daß Roosevelt schon vor Ausbruch des europäischen Krieges, spätestens jedoch im Anschluß daran, den späteren Kriegseintritt Amerikas für unvermeidlich erachtete. Daraus muß nicht folgen, daß er diesen Krieg auch wünschte, wenngleich die europäische Auseinandersetzung und die Beteiligung Amerikas daran für die USA durchaus günstige Zukunftsaussichten eröffnete. In der Tat wurde die amerikanische Wirtschaft, wie man es gelegentlich ausgedrückt hat, durch die Mobilisierung für den Krieg und die Rüstungsproduktion aus einer seit der Weltwirtschaftskrise anhaltenden zehnjährigen Depression mit einer empfindlichen Schrumpfung des Volkseinkommens wieder befreit, wodurch den beiden großen Plagen der 1930er Jahre, der Arbeitslosigkeit und dem Brachliegen großer Teile der Produktionskapazität, ein Ende bereitet wurde. Sodann gab ein Krieg, der durch amerikanisches Eingreifen und durch überlegene amerikanische Stärke entschieden wurde, den USA Gelegenheit, den Frieden nach ihren Vorstellungen zu gestalten und namentlich eine amerikanische Führungsrolle auf politischem wie wirtschaftlichem Gebiet durchzusetzen. Doch waren solche Überlegungen sicher nicht die einzigen und vielleicht nicht einmal die entscheidenden Beweggründe für Roosevelts Handeln. Vielmehr erwuchs aus dem Verhalten der Achsenmächte und Rußlands tatsächlich eine Gefährdung Amerikas, die zwar nach Ansicht der Isolationisten von der Regierung übertrieben wurde, die aber eine weitblickende Politik auch nicht außer acht lassen durfte. Den Ausschlag für Roosevelts Handeln werden freilich andere Erwägungen gegeben haben. Die kühne Vision Präsident Wilsons war es gewesen, eine Revolution der internationalen Beziehungen zu bewerkstelligen, das Verhältnis der Staaten untereinander weltweit auf eine neue Grundlage zu stellen, die klassische Machtpolitik, das klassische Völkerrecht sowie die klassische Staatensouveränität gleichermaßen zu überwinden und mit der Errichtung einer organisierten Völkergemeinschaft den Frieden, das Recht und die Existenz aller zu sichern. Mit dem Scheitern von Wilsons Plan war, wie Lansing schon 1919 gesagt hatte, an die Stelle des Idealismus wieder die offene Anerkennung des Grundsatzes getreten, daß Gewalt und Selbstsucht die maßgebenden Faktoren der internationalen Zusammenarbeit seien. Diese Wiederkehr der alten Machtpolitik, die Lansing als Rückfall in den zynischen Materialismus bezeichnete, hatte seit dem Ersten Weltkrieg das Zusammenleben der Völker bestimmt, und sie war es, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg führte. Die herkömmliche Machtpolitik war es, die zur Aufteilung der Welt in Machtblöcke führte, die Stalin veranlaßte, die Achsenmächte gegen die Westmächte auszuspielen, die bei Hitler ihre weltanschaulich-fanatische Übersteigerung fand in dem Wunsch nach einer rassisch bestimmten Weltherrschaft, und die durch all dies schließlich Amerika selbst gefährdete. Für Roosevelt, der sich je länger desto mehr als Wilsons Erben verstand, wurde dies zum Anlaß, die Teils Zur amerikanischen Kabinettssitzung vom August 1939 Ickes li, 695 ff., 703. Berle nach Langer/Gleason, Challenge, 203. Roosevelt 1939 in dessen Personal Letters IV, 967f. (14. 12. 1939).
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Vorbemerkung
nahme der USA am Krieg langfristig als notwendig zu betrachten - nicht bloß, um die USA zu sichern, die Achsenmächte in ihre Schranken zu verweisen und eine Erscheinung wie Hitler unschädlich zu machen, sondern vor allem deswegen, um den Versuch zu unternehmen, die alte Machtpolitik ein für allemal zu beseitigen und jenes auf dauerhaften Frieden und allgemeine Wohlfahrt gerichtete Zusammenleben der Völker zu erreichen, welches Wilson auf die Vernunft aller Beteiligten hatte gründen wollen und welches seitdem durch Mangel an Einsicht und gutem Willen zuschanden gemacht worden war. Es ist nicht zuviel gesagt, daß Roosevelt den Kreuzzug Wilsons für eine neue Weltfriedensordnung, für eine organisierte Staatengemeinschaft jenseits des souveränen Machtstaats wieder aufnehmen wollte, einen Kreuzzug, der nur durch vollen Einsatz Amerikas im Krieg das gewünschte Ergebnis zu zeitigen versprach. Im August 1941, Monate vor dem amerikanischen Kriegseintritt, verkündete Roosevelt zusammen mit Churchill der Welt die berühmte Atlantik-Charta, dietrotzder noch bestehenden amerikanischen Neutralität ein Programm der amerikanischen Kriegs- und Friedensziele enthielt - ein Programm, welches, wie noch zu zeigen sein wird, nur durch den Kriegseintritt der USA und durch kompromißlose Entfaltung ihrer Stärke zu verwirklichen war, welches seine Wurzeln in früheren Jahren hatte und welches die von Wilson begonnene Revolution der internationalen Beziehungen an ihr Ende führen sollte. Was Roosevelt dabei zunächst überwinden mußte, war das Widerstreben seiner eigenen Landsleute. Seit dem schmählichen Mißlingen von Wilsons erstem Kreuzzug trugen sie lange kein Verlangen nach einem zweiten. Im März 1940 bezeichnete Roosevelt sich selbst als einen Rufer in der Wüste; wovon er kündete, war freilich zunächst weniger das Schaffen einer neuen Weltfriedensordnung als vielmehr die Gefährdung Amerikas durch die Achsenmächte. Wenn er dabei seinen Landsleuten immer wieder versprach, sie aus dem Krieg herauszuhalten, so deckte sich das sicher nicht mit seinen wirklichen Absichten. Andererseits war er gezwungen, auf die isolationistische Stimmung der Öffentlichkeit Rücksicht zu nehmen. Ein Präsident, der gegen den erklärten Mehrheitswillen des Kongresses und der Bevölkerung gehandelt hätte, wäre nicht nur alsbald von ihnen im Stich gelassen worden, sondern er wäre auch - anders als die diktatorischen Alleinherrscher in den totalitären Staaten - wohl demnächst von der politischen Bildfläche verschwunden, ohne seinen Zielen im geringsten gedient zu haben. So war Roosevelt auf Jahre hinaus dazu verurteilt, den Gang der Ereignisse abzuwarten, um teils politische Überzeugungsarbeit zu leisten und teils unter dem Eindruck der äußeren Ereignisse das Bewußtsein im Kongreß und in der Öffentlichkeit reifen zu lassen, daß Amerika nicht umhinkönne, die Gegner der Achsenmächte zu unterstützen. Obwohl Meinungsumfragen ein zunehmendes Verständnis für die Gefährdung Amerikas bei der Bevölkerung anzeigten, wäre noch im Jahr 1941 der Kongreß mit Sicherheit nicht für eine Kriegserklärung aus eigenem Antrieb zu haben gewesen, so daß Roosevelt nur auf Verwicklungen mit den potentiellen Kriegsgegnern hinarbeiten konnte, die Amerika als den Angegriffenen erscheinen ließen. Dies wurde schließlich erreicht, als Japan am 7. Dezember 1941 mit einem Schlag ge-
Vorbemerkung
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gen die amerikanische Pazifikflotte den Krieg eröffnete und am 11. Dezember Deutschland sowie Italien sich anschlossen. 6 Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage im allgemeinen und der Ziele Hitlers im besonderen war demnach auf längere Frist der amerikanische Kriegseintritt und damit die Ausweitung des europäischen Krieges zum Weltkrieg ein Ereignis, das mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eintrat. Die amerikanische Regierung konnte und wollte nicht zulassen, daß auf der eurasischen Landmasse eine gewaltige Machtzusammenballung entstand, die ihrerseits nach der Weltherrschaft zu greifen vermochte, sei es infolge einer friedlichen Vereinigung des deutschen und des russischen Potentials oder sei es infolge einer Eroberung Rußlands durch die Achsenmächte. Und Roosevelt selbst war entschlossen, in den Kreuzzug für eine neue Weltfriedensordnung einzutreten, wie es sich jahrelang, noch verhältnismäßig undeutlich, ankündigte und 1941 dann ziemlich unmißverständlich ausgesprochen wurde. Hitler traf demnach das Richtige mit seiner Annahme, ihm bleibe nur ein begrenzter Zeitraum für die Verwirklichung seiner Eroberungsabsichten, solange der Isolationismus die USA unbeweglich machte. Was er dagegen nicht traf, war die Einsicht, daß das amerikanische Potential in einem Weltkrieg auf jeden Fall den Ausschlag geben würde. Das erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, als seien der europäische Krieg und der parallel dazu stattfindende Krieg in Ostasien zwischen Japan und China nur Vorstufen gewesen, gewissermaßen die Einleitung zu einem umfassenden, weltweiten Krieg, bei dem es nicht bloß darum ging, die sog. Aggressorstaaten zu züchtigen, sondern bei dem, jedenfalls nach den Absichten Roosevelts, weit mehr auf dem Spiel stand: nämlich die Zertrümmerung des alten Systems der Machtpolitik überhaupt und dessen Ersetzung durch ein neues System internationaler Zusammenarbeit. Wenn das zuträfe, wenn der europäische und der ostasiatische Krieg nur den Auftakt für den eigentlich entscheidenden, den Weltkrieg darstellen würden, dann wäre es wohl gar zulässig, die Zeit bis Ende 1941 bloß kursorisch abzuhandeln, gleichsam als Einleitung zu einem Hauptteil. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Das gilt in zweierlei Hinsicht. Erstens verlief der Weg hin zum Weltkrieg sozusagen nicht geradlinig. Es ist eine naheliegende Beschäftigung für Historiker, nachträglich festzustellen, daß alles so kommen mußte, wie es kam. Für die Zeitgenossen jedoch gab es, wie überall in der Geschichte, immer wieder eine Offenheit der Situation, in welcher andere Entscheidungen und andere Richtungen des Geschehens immerhin vorstellbar waren. Gerade der europäische Krieg mit seiner raschen Abfolge verschiedener Feldzüge, mit seinem häufigen Wechsel des Kriegsschauplatzes, mit seinen öfters eintretenden Pausen bot vielfach Raum für einen schnellen Wandel der Lage im Großen und Kleinen, für unvorhergesehene, 6 Zur amerikanischen Wirtschaft Junker, Struktur, 314. Vgl. MOFA, Weltkrieg VI, 27ff. (Beitrag Boog). Lansing in dessen Friedens-Verhandlungen, 108f., 110. Zur Atlantik-Charta Dokumente zur Deutschlandpolitik I/1, 438 ff.; I/2, 3 ff. Roosevelt 1940 nach Junker, Nationalstaat, 31. Ferner Schwabe, Ära, passim. Angermann, 210ff.
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Vorbemerkung
nicht selten wohl auch unvorhersehbare Überraschungen, für neue Entscheidungen, für ein Schwanken des Kriegsglücks- kurz: für eine Offenheit der Situation. Diese Offenheit, die der Zeitgenosse vorfindet, schließt sich für die historische Betrachtung nur dadurch, daß man feststellt, warum es so kam, wie es kam. Erst wenn die Frage nach dem Warum zureichend beantwortet ist, weiß man, daß es so und nicht anders kommen mußte. Aber die Frage nach dem Warum ist häufig zu stellen, und sie ist längst nicht überall beantwortet. Oftmals hätten sich die Dinge theoretisch - auch ganz anders entwickeln können. Ob in der Zeit des Polen-Feldzugs die deutsche Wehrmacht einem entschlossenen Angriff der Westmächte hätte standhalten können, ist durchaus fraglich; die Niederlage Deutschlands wäre schon damals vorstellbar gewesen. Der Wunsch der britischen Appeaser, die USA aus dem europäischen Krieg gänzlich fernzuhalten, hätte sich erfüllen können, wenn der deutsche Widerstand im Winter 1939/40 imstande gewesen wäre, Hitler zu beseitigen. Die Beendigung des europäischen Krieges und die Errichtung eines europäischen Gleichgewichts auf der Grundlage der Vorkriegsverhältnisse hätten dann die Folge sein können; zum Weltkrieg wäre es nie gekommen. Daß Hitler nach dem siegreichen Westfeldzug alsbald auf den russischen Lebensraumkrieg lossteuerte, entsprach zwar seiner weltanschaulichen Voreingenommenheit, doch ließ es eine Anzahl sonstiger, politischer oder militärischer Lösungen nicht zum Zug kommen. Der deutsche Rußlandfeldzug des Jahres 1941 hätte bei einem anderen Verlauf auch ein anderes Ergebnis des Krieges insgesamt bewirkt - wohl nicht in dem Sinn, daß Deutschland dann vielleicht doch eine Siegeschance besessen hätte, als vielmehr in dem Sinn, daß die wahrscheinliche deutsche Niederlage dann auf ganz andere Weise zustande gekommen wäre. Zweitens: Wenn es zutrifft, daß ein wesentlicher Inhalt des eigentlichen Weltkriegs der Kampf um eine neue Weltfriedensordnung war, dann fiel eine grundlegende Vorentscheidung bereits in der Zeit des europäischen Krieges. Der Entschluß zum Rußlandfeldzug von 1941 und der Verlauf dieses Feldzuges hatten auch Auswirkungen auf die Umsetzung von Roosevelts Weltfriedensplan, denn dieser erhielt in der Folgezeit eine andere Gestalt als die ursprünglich vorgesehene. Daß die Sowjetunion, nachdem sie den Ansturm der Wehrmacht aufgefangen hatte, ab Ende 1941 damit rechnen konnte, einen Hauptanteil am Sieg über Deutschland zu erringen und bei Kriegsende eine der herausragenden Mächte zu sein, ließ einschneidende Veränderungen am ursprünglichen Programm der Atlantik-Charta unvermeidlich werden. Über das Schicksal der Atlantik-Charta und über das Schicksal von Roosevelts neuer Weltfriedensordnung wurde auf den Schlachtfeldern entschieden - zuerst und am nachhaltigsten auf den russischen Schlachtfeldern des Jahres 1941. Der europäische Krieg war also nicht nur der Vorspann des eigentlichen Weltkriegs, sondern man könnte, wollte man es zugespitzt ausdrücken, das Verhältnis sogar umkehren: Der eigentliche Weltkrieg war, so betrachtet, eher der Nachspann des europäischen Krieges. Seit dem Rußlandfeldzug von 1941 war an der deutschen Niederlage kaum noch zu zweifeln; im eigentlichen Weltkrieg ging es nicht
Vorbemerkung
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mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie des Sieges über die Achsenmächte, und vor allem ging es um die Frage, was von Roosevelts Weltfriedensplan noch zu retten war. Es hat deshalb einen guten Grund, den Ereignissen zwischen 1939 und 1941 eindringlich nachzugehen und die in vielen Fällen anzutreffende Offenheit der Situation zu durchleuchten.
I. Kriegführung und Politik im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts 1. Der Krieg gegen Polen
Unterscheidet man, wie es eingangs geschehen ist, in dem europäischen Krieg 1939-1941 drei Abschnitte, so wurde die erste Etappe bis zum Sommer 1940 geprägt vom Hitler-Stalin-Pakt. Dieser Vertrag, der bekanntlich in seinem geheimen Zusatzprotokoll eine Aufteilung Polens und anderer ostmitteleuropäischer Gebiete in Interessensphären beinhaltete, diente für die russische Seite dem Zweck, Hitler den Weg in den Krieg freizugeben - und zwar in einen europäischen Krieg, welcher, anders als Hitler hoffte, notwendigerweise die europäischen Westmächte miteinbeziehen mußte. Für Stalin brachte dies einen doppelten Vorteil. Einerseits konnte die Sowjetunion ihre seit dem Ersten Weltkrieg festgehaltenen Revisionsziele verfolgen, also in ihren Herrschaftsbereich bzw. in ihre Grenzen einen Großteil derjenigen Gebiete wieder eingliedern, welche Rußland infolge des Ersten Weltkriegs eingebüßt hatte: über die aus der Zertrümmerung Polens anfallenden Territorien hinaus auch die baltischen Länder sowie das an Rumänien verlorene Bessarabien. Andererseits ließ ein wegen Polen entbrennender Krieg zwischen Deutschland und den Westmächten die Sowjetunion in der Hinterhand, so daß sie die Schwächung der Kriegsgegner abwarten und zu gegebener Zeit mit weiteren Forderungen hervortreten oder selbst in den Krieg eingreifen konnte. In diesem Sinne hatte Stalin bereits 1925 erklärt, daß bei einem zukünftigen Krieg die Sowjetunion nicht abseits stehen, sondern als letzter auftreten und das entscheidende Gewicht in die Waagschale werfen werde. In diesem politischen Schachspiel, das die zukünftige Machtverteilung in ganz Buropa und darüber hinaus zum Inhalt hatte, war Polen nur ein unbedeutender Bauer, abgesehen davon, daß Polen infolge des deutsch-russischen Einvernehmens ohnedies in eine fast hoffnungslose Lage geriet. 1 Der deutsche Polen-Feldzug, der am 1. September 1939 begann, war nach kaum einer Woche praktisch schon entschieden, wenngleich die Kämpfe sich bis gegen Ende September hinzogen und letzte Gefechte noch Anfang Oktober stattfanden. An diesem Feldzugsverlauf war aus operativer Sicht wenig Überraschendes, beI Vgl. zu den sowjetischen Zielen den ersten Band dieser Untersuchungen. Der Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und Rußland vom 23. 8. 1939 in ADAP, Ser. D, Bd 7, 205 ff. Zu Stalins Wunsch nach Entfesselung des Krieges Hosoya, 311 (Anm. 65). Ferner J. Hoffmann, Angriffsvorbereitungen.
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merkenswert waren dagegen seine strategisch-politischen Begleitumstände. Der Chef des Wehrmachtführungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), General Alfred Jodl, sagte bald nach Kriegsende aus, "wenn wir nicht schon im Jahre 1939 zusammenbrachen, so kommt das nur daher, daß die rund 110 französischen und englischen Divisionen im Westen sich während des Polenfeldzuges gegenüber den 23 deutschen Divisionen völlig untätig verhielten." Das ist augenscheinlich eine Äußerung aus berufenem Munde, über die es sich nachzudenken lohnt, selbst wenn die von Jodl genannten Zahlen das tatsächliche Kräfteverhältnis ein wenig überspitzt darstellen. Dessen ungeachtet bleibt es richtig, daß die Westmächte im Herbst 1939 und zumal während des Polen-Feldzugs den deutschen Streitkräften deutlich überlegen waren. Trotzdem unternahmen sie keinerlei Anstalten, dem polnischen Bundesgenossen zu Hilfe zu eilen oder eine Entscheidung des Krieges schon im Herbst 1939 zu suchen. Polen wurde, offenbar mit Vorsatz, in einer ziemlich schmählichen Weise im Stich gelassen; die Westmächte opferten -um das Bild vom Schachspiel noch einmal aufzugreifen - den polnischen Bauern ohne Bedenken. Warum war das so? Will man diese Frage beantworten, so sind zunächst einmal die Stärkeverhältnisse sowie die operativen Bedingungen genauer zu beleuchten. Der Generalstabschef des deutschen Heeres, General Franz Halder, machte sich am 14. August 1939 Gedanken über die Möglichkeit eines französischen Angriffs, wenn starke deutsche Kräfte im Osten gebunden waren. Wie bei der wohlorganisierten Arbeit des deutschen Generalstabs nicht anders zu erwarten, ging Haider von den verhältnismäßig zuverlässigen Angaben aus, welche die zuständige Abteilung des Generalstabs (Fremde Heere West) über den voraussichtlichen französischen Aufmarsch und die entsprechende Kräftegliederung zur Verfügung gestellt hatte. Für den deutschen Aufmarsch war seit der Aufmarschanweisung "Fall West" vom 18. 1. 1939 die Absicht maßgeblich, die Befestigungszone im Westen (Westwall) zu halten und so die Grenze zu schützen, und zwar je nach politischer Lage entweder gegen örtliche Teilvorstöße oder gegen einen Großangriff. Haider veranschlagte nun die beiderseitigen Kräfte- unter der Voraussetzung, daß der französische und der deutsche Aufmarsch planmäßig verliefen, weil kurzfristige Änderungen technisch nicht möglich waren - auf 106 französische und 102 deutsche Divisionen an allen Fronten, wobei Deutschland gegen die Gefahr eines französischen Großangriffs in den ersten Wochen äußerstenfalls an die 50 Divisionen im Westen bereitstellen konnte. Tatsächlich verfügte die Heeresgruppe C, welche die Westgrenze zu verteidigen hatte, am 10. September 1939 über rund 44 Divisionen, obwohl ein französischer Großangriff nicht in Sicht war. Von daher sind die vorhin genannten Zahlen aus dem Munde Jodls richtigzustellen. Das französische Heer machte bei Kriegsbeginn nicht 106 Divisionen im Mutterland mobil, wie der deutsche Generalstab annahm, sondern 99, doch ist die Abweichung so gering, daß das Lagebild dadurch nicht nennenswert verzerrt wird. Bis Anfang Oktober traten zu diesen französischen Divisionen noch einige britische, die einen französischen Angriff hätten verstärken können. Wie Jodl zu der Annahme kam, diesen gut 100 Divisionen der 2 Rauh, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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I. Kriegführung und Politik im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts
Westmächte seien bloß 23 deutsche gegenübergestanden, ist nicht leicht zu erklären. Möglicherweise hatte Jodl dabei den Umstand im Auge, daß man im deutschen Heer bei den Infanteriedivisionen des im Mobilmachungsfall aufzustellenden Kriegsheeres mehrere "Wellen" unterschied (zu jener Zeit vier). Die aktiven Divisionen des Friedensheeres bildeten die erste Welle, während sich die Divisionen der folgenden Wellen in wechselndem Maße aus aktiven Stämmen und verschiedenen Arten von Reservisten zusammensetzten. Da die Reservedivisionen einen unterschiedlichen und in den ersten Wochen nach der Aufstellung häufig recht geringen Kampfwert besaßen, hat Jodl vielleicht nur die Divisionen bestimmter Wellen als voll einatzfähig betrachtet und kam so zu seiner insgesamt unzutreffenden Angabe. 2 Freilich sind solche Zahlen allein noch wenig aussagekräftig und stellen höchstens Laien zufrieden. Weit wichtiger ist die Frage, die vermutlich auch bei Jodl durchschimmert, nämlich diejenige nach der Kampfkraft der beteiligten Streitkräfte (Ausbildung, Bewaffnung usf.), sodann vor allem die Frage, wann, wo und wie die Truppen eingesetzt werden, also die Frage nach der operativen Führung, die im deutschen Generalstab immer als Kunst des beweglichen, raschen oder überraschenden, Schwerpunkte bildenden Kräfteansatzes verstanden wurde. Gemäß den Angaben der zuständigen Feindlageabteilung im Generalstab rechnete Haider damit, daß von den über 100 französischen Divisionen 15 an der italienischen Grenze gebunden waren und dort nicht ohne weiteres abgezogen werden konnten. An der deutsch-französischen Grenze in ihrer ganzen Länge erwartete er 44 Divisionen bzw. Verbände in ähnlicher Stärke, während an der belgiseben Grenze sowie in rückwärtigen Bereitstellungsräumen 47 Divisionen vermutet wurden. Angesichts dieser Kräftegliederung hielten Haider und der Generalstab örtliche, taktische Angriffe an verschiedenen Stellen für möglich und einen operativen Großangriff, falls die Kräfte an geeigneter Stelle entsprechend konzentriert wurden. Wo die geeignete Stelle für den operativen Großangriff lag, blieb zu ergründen. Dabei mußte bedacht werden, daß unterdessen die deutsche Westbefestigung, der Westwall, streckenweise so weit ausgebaut war, daß er der Verteidigung einen ansehnlichen Rückhalt bot, vor allem an dem südwestlichen Vorsprung der deutschen Grenze zwischen dem Rhein und Luxemburg. Im Anschluß an die Aufmarschanweisung West vom Januar 1939 wies dieser Streifen die stärksten Verteidigungskräfte der ganzen Westfront auf. Der 1. Armee, die dort das Oberkommando führte, standen gemäß ursprünglicher Planung mindestens 13, später einige weitere Divisionen zur Verfügung, darunter allein sieben der kampfkräftigsten ersten Welle, während an den übrigen Abschnitten der gesamten Westfront nur noch fünf Divisionen der ersten Welle aufmarschierten. Ein französischer Großangriff im Be2 Jodl in IMG, Bd 15, 385 f. (4. 6. 1946). Haider in dessen KTB I, 3 ff., 22. Die Aufmarschanweisung West in Jacobsen, Vorgeschichte, 31 ff. Die Stärke der Heeresgruppe C nach Müller-Hillebrand II, 22. Zu den deutschen Feindlagenachrichten und dem französischen Aufmarsch Liss, Westfront, 26 ff., 72 ff., passim. Ferner MGFA, Militärgeschichte IV, 386f. MGFA, Weltkrieg V/1, 708ff. (Beitrag Kroener). Jacobsen, Gelb, I ff.
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reich der 1. Armee war zwar nicht ausgeschlossen, doch scheint Haider an diese Möglichkeit keinen Gedanken verschwendet zu haben - wahrscheinlich weil ein französischer Durchbruch an dieser Stelle so zeitaufwendig gewesen wäre, daß unterdessen ausreichende deutsche Verstärkungen, gegebenenfalls von der Ostfront, hätten herangeführt werden können. Auch einen französischen Vorstoß über den Oberrhein oder durch die Schweiz befürchtete der deutsche Generalstab nicht, da auf solchem Wege in kurzer Zeit keine entscheidenden Erfolge zu erzielen waren, so daß dieser Abschnitt von der 7. Armee mit verhältnismäßig schwachen Kräften gesichert wurde. Die Achillesferse der deutschen Westfront blieb der Abschnitt hinter der luxemburgischen, belgiseben und niederländischen Grenze, der von der 5. Armee verteidigt werden sollte. Solange die genannten Länder neutral waren oder ihre Neutralität nicht verletzt wurde, entstand hier keine Gefahr, so daß die Aufmarschanweisung West für diesen Abschnitt mit geringen Kräften auszukommen glaubte. Allerdings hielt die Aufmarschanweisung ein französisches Vorgehen durch Luxemburg für wahrscheinlich und stellte für den Fall, daß einer französischen Offensive auch der belgisehe Raum zur Verfügung stand, eine Verstärkung durch Heeres- und Luftwaffenverbände in Aussicht. Einem derartigen Fall wandte sich Halders ganze Aufmerksamkeit zu. Zwar hatte die Abteilung Fremde Heere West bereits im Laufe des Jahres 1939 die Einsicht gewonnen, die Westmächte rechneten bei einem Krieg mit dessen langer Dauer und hofften auf eine fortwährende Steigerung ihrer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Mittel, die ihnen den Endsieg sichere. Dazu gehöre auch die anfangs wirtschaftliche, später vielleicht zudem militärische Unterstützung durch die USA. Es bestehe daher die Möglichkeit, daß die Westmächte auf den Versuch, eine militärische Entscheidung zu Lande im Angriff zu erzwingen, zunächst verzichteten. Doch vermochte man im Generalstab nicht mit Sicherheit zu sagen, ob Frankreich, wiewohl ein baldiger Großangriff aus langfristigen strategischen Gründen eigentlich unnötig zu sein schien, aus Rücksicht auf den polnischen Verbündeten nicht doch zum Angriff schritt. In seinen Überlegungen am 14. August 1939 streifte Haider kurz die politischen Fragen, die durch einen französischen Vorstoß über belgisches oder sogar holländisches Gebiet aufgeworfen wurden, beschränkte sich dann aber auf den militärischen Aspekt eines solchen Unternehmens. Im Grunde stellten Halders Erwägungen ein Musterbeispiel für das operative Denken des Generalstabs dar, indem der ungünstigste Fall eines schnellen, entschlossenen Zupackens durch den Gegner an der verwundbarsten Stelle angenommen wurde. In diesem Sinne richtete Haider sein Augenmerk zunächst auf die besonders beweglichen "schnellen" Truppen des französischen Heeres, die er gemäß den Angaben zur Feindlage auf acht motorisierte, zwei mechanisierte und drei KavallerieDivisionen veranschlagte (tatsächlich gab es von den motorisierten Divisionen nur sieben, dafür aber eine Panzerdivision zusätzlich). Haider erwartete, daß zwei von diesen beweglichen Divisionen zusammen mit anderen Verbänden binnen weniger Tage in Luxemburg einrückten, um es als französischen Aufmarschraum in die 2*
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Hand zu nehmen. Desgleichen schätzte er, eine motorisierte Vorausgruppe von etwa sieben bis neun Divisionen könnte binnen einer Woche Teile Belgiens als Aufmarschraum in Besitz nehmen. Weitere Kräfte in Stärke von etwa 22 Divisionen könnten binnen zwei Wochen sowie zusätzlich 14 Divisionen binnen drei Wochen nachgeführt werden, so daß aus dem luxemburgisch-belgischen und gegebenenfalls dem holländischen Raum zwei bis drei Wochen nach der Mobilmachung bis zu 50 französische Divisionen zum Großangriff antreten könnten. Davon würde der Bereich der 5. Armee betroffen, wo innerhalb zwei Wochen etwa 25 Divisionen bereitgestellt werden könnten, später etwa 35. Allein nach der Zahl der Divisionen und Soldaten war das Verhältnis gar nicht so ungünstig; für eine erfolgreiche Abwehr des ersten Ansturms hätten diese Kräfte unter vorteilhaften Bedingungen wohl ausgereicht. Der Pferdefuß der Angelegenheit zeigte sich zum einen darin, daß die betreffenden deutschen Verbände fast durchwegs Reservedivisionen waren mit vielfach älterem oder wenig ausgebildetem Personal. Haider nahm eine vorzeitige, getarnte Aufstellung derartiger Verbände in Aussicht, was dann in größerem Maßstab verwirklicht wurde, als am 26. August die Mobilmachung ohne öffentliche Verkündigung für das gesamte Kriegsheer erfolgte. Doch reichte der geringe Zeitgewinn zweifellos nicht aus, um die Ausbildungsmängel der Reservedivisionen zu beheben. Zum anderen war die deutsche Seite in der Bewaffnung weit unterlegen. Erstens rechnete Haider bei dem besagten französischen Großangriff mit rund 2 500 Panzern (50 bis 60 Abteilungen). Diese Schätzung, die auf die Feindlageangaben zurückging, war sicher zu hoch, da Frankreich bei Kriegsausbruch nur 48 Panzerabteilungen besaß. Dennoch hätte Frankreich eine gewaltige Überlegenheit an Panzern ins Feld führen können, da die deutsche Westfront über gar keine Panzer verfügte, während ein französischer Großangriff bei entschlossener Kräftekonzentration wohl an die 2 000 Panzer zum Einsatz hätte bringen können. Zweitens wäre die deutsche Verteidigung an Artillerie und Panzerabwehr weit unterlegen gewesen. Schon die französische Divisionsartillerie war erheblich stärker als die deutsche. Außerdem konnten an Heeresartillerie aus der gesamten Westfront höchstens 300 Rohre zusammengekratzt werden. Dagegen rechnete Haider mit 1 600 Geschützen der französischen Heeresartillerie bei einem Großangriff, was wahrscheinlich realistisch war. Unter diesen Umständen hätte ein energisch geführter französischer Großangriff wohl einige Erfolgsaussichten besessen. Das sah anscheinend auch Haider so, der sich notierte, die Abwehrschlacht an der holländisch-belgiseben Grenze bedürfe der Zuführung von Artillerie aus dem Osten sowie - im nördlichen Abschnitt - der Verlegung der Abwehr an ein Wasserhindernis für Panzer, d. h. an die Maas. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C, General Leeb, wandte sich am 2. September an den Oberbefehlshaber des Heeres, Brauchitsch, und bestätigte die Überlegungen des Generalstabs, wenn er ausführte, die deutsche Front zwischen Rhein und Mosel sei stark ausgebaut und besetzt, so daß dort keine unmittelbare Gefahr drohe. Ein französischer Stoß gegen den Oberrhein sei operativ von geringer Bedeutung. Dagegen müsse man mit einem sehr starken, tief gegliederten Angriff
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durch Luxemburg, Belgien und vielleicht Holland rechnen. Wenn der Franzose richtig handle, und dies müsse man annehmen, werde er die Masse seiner motorisierten und mechanisierten Kräfte für den Durchmarsch durch Belgien vorannehmen. Da ein solcher Schwerpunktangriff schon an der Grenze zum Stehen gebracht werden müsse, bitte er um Zuführung von Verstärkungen. Dies erfolgte auch, aber merkwürdigerweise wurde erst am 6. September im Nordabschnitt der 5. Armee die neue Armee-Abteilung A eingeschoben, der fast ausschließlich Reservedivisionen unterstanden, obwohl Haider den Aufmarsch eben dieser Divisionen an eben dieser Stelle schon am 14. August in Aussicht genommen hatte. Ferner erhielt die Armee-Abteilung A den Auftrag, in dem Stellungsabschnitt beiderseits Aachen so bald als möglich die volle Abwehrbereitschaft herzustellen und nördlich davon erst einmal eine Stellung feldmäßig auszubauen, obwohl Haider noch am 14. August errechnet hatte, an der belgiseh-holländischen Grenze könnten bereits am fünften Mobilmachungstag, d. h. spätestens am 7. September, die vorausgeworfenen beweglichen Kräfte des französischen Großangriffs eintreffen, und obwohl Haider sogar die Vorverlegung der Verteidigungslinie an die Maas, d. h. auf holländisches Gebiet, erwogen hatte. Man gewinnt den Eindruck, das Oberkommando des Heeres (OKH) habe es mit dem Aufbau einer haltbaren Verteidigungsfront an dem besonders gefährdeten Abschnitt in Höhe der belgiseh-holländischen Grenze gar nicht sonderlich eilig gehabt. Insofern hatte Leeb durchaus recht, wenn er am 2. September meinte, gegen einen französischen Großangriff sei er gegenwärtig weder kräftemäßig noch - man beachte! - zeitlich ausreichend abwehrbereit. Selbst wenn die beweglichen Kräfte der ersten französischen Staffel, wie Haider annahm, getreu den französischen Führungsgrundsätzen nicht selbständig eine Offensive mit weitgestecktem Ziel durchführten, konnten sie doch die Errichtung einer deutschen Verteidigungsfront nachhaltig stören. Hatte der Generalstab das rechtzeitige Ergreifen von Gegenmaßnahmen verschlafen? Oder gab es hier andere Einflüsse? Der Chef des französischen Wehrmachtgeneralstabs und Oberbefehlshaber des französischen Heeres, General Gamelin, machte in einer Denkschrift vom 1. September seinen Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister Daladier darauf aufmerksam, welche großen operativen Vorteile sich für die Kriegführung der Westalliierten aus der Benützung des belgischen und Iuxemburgischen Raumes ergeben würden. Zwischen Rhein und Mosel stoße man auf eine befestigte Verteidigungslinie, dagegen finde man zwischen Mosel und Maas auf der doppelten Frontbreite günstigeres Gelände, kaum begonnene feindliche Befestigungen und lohnendere Operationsziele, namentlich wenn man auch niederländisches Gebiet ausnutzen könne. Nur so sei dem polnischen Verbündeten kräftige, sicher wirksame und verhältnismäßig schnelle Hilfe zu leisten. Die französischen Kräfte allein reichten aus, auch ohne britische Unterstützung. Bei einem deutschen Gegenangriff - der dann mit den aus dem Osten herangeführten Kräften hätte geführt werden müssen- könne man die belgiseben Streitkräfte stützen. Auf diese Weise decke man das nordfranzösische Industrierevier, gewinne günstigere Luftbasen und vermeide das Risiko einer Begegnungsschlacht 3
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Die Lagebeurteilung fiel also bei den Fachleuten ziemlich einheitlich aus. Auch zeigte man sich in Frankreich über die deutschen Streitkräfte ähnlich gut unterrichtet wie umgekehrt. Waren in Deutschland für die Nachrichtengewinnung teils die Feindlageabteilungen in den Generalstäben zuständig, namentlich im Generalstab des Heeres, sowie das Amt Ausland/ Abwehr im OKW (dieses insbesondere für die Agententätigkeit), so wurden die entsprechenden Aufgaben in vergleichbarer Weise vom französischen Deuxieme Bureau sowie dem Service de Renseignements (Geheimer Meldedienst) wahrgenommen. Das deutsche Friedensheer hatte der französische Nachrichtendienst nahezu fehlerlos aufgeklärt; die Zahl der Divisionen wurde ebenso erkannt wie die Stärken und Schwächen des Heeres. Daß gewisse Unsicherheiten blieben, muß als völlig normal gelten; das pflegt bei der Aufklärungstätigkeit immer so zu sein und war in Deutschland nicht anders. Ein geschulter Generalstabschef kann mit derlei Angaben umgehen, da er auf Grund des gesamten Lagebildes abzuschätzen weiß, was wahrscheinlich ist. Gamelin rechnete demzufolge mit der Mobilisierung von 110 Divisionen in Deutschland und kam damit der Wahrheit nahe; tatsächlich handelte es sich um 103 Divisionen und divisionsähnliche Verbände des Heeres sowie einige SS-Verbände. Auch Gametins Vermutung, es könnten weitere Divisionen aufgestellt werden, war im Grundsatz nicht falsch. Die Zahl der deutschen Panzer veranschlagte Gamelin auf 3 500, was die wirkliche Ziffer von 3 200 nicht weit verfehlte. Allgemein neigte die französische Seite, ebenso wie die deutsche, zur Überschätzung der gegnerischen Panzerzahlen; doch kann dies auf die französische Operationsplanung keine schwerwiegenden Auswirkungen gehabt haben, da man den deutschen Aufmarsch einigermaßen zutreffend erkannte. Das Deuxieme Bureau und Gamelin waren bereits Wochen vor dem Angriff auf Polen von den deutschen Vorbereitungen unterrichtet und konnten den Termin ungefähr abschätzen. Daß die deutsche Seite die Masse ihrer aktiven Divisionen im Osten einsetzen würde, darunter insbesondere die mit Panzern ausgestatteten, hielt man für natürlich. Bis Kriegsbeginn erwartete man ungefähr 40 aktive deutsche Divisionen im Osten, was so gut wie exakt war, da dort genau 41 aktive deutsche Divisionen eingesetzt wurden. Umgekehrt ergab sich aus den französischen Berechnungen, daß zu Kriegsbeginn etwa 40 bis 50 deutsche Divisionen im Westen stehen konnten, in der Masse Reserve- und Landwehrverbände mit geringem Kampfwert. Auch das traf zu und deckte sich mit den Überlegungen Halders. Gamelin erfaßte also das Richtige, wenn er einen französischen Angriff für möglich hielt und sich davon eine baldige wirksame Unterstützung Polens versprach. Allerdings hatte Gamelin in seiner erwähnten Denkschrift auch darauf verwiesen, für einen Angriff durch Luxemburg, Belgien und Holland sei das Einverständnis der betreffenden Regierungen erforderlich. Diese politische Voraussetzung war, wie andere auch, nicht ohne weiteres gegeben. 4
3 Leeb in Jacobsen, Vorgeschichte, 74 f. Die Aufstellung der Armee-Abteilung A nach Jacobsen, Gelb, 4. Jacobsen, Vorgeschichte, 75 ff. Die Denkschrift von Gamelin nach dessen Servir III, 15 f. V gl. Liss, Westfront, 107 ff.
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Halder hatte am 14. August seine Überlegungen wegen eines französischen Großangriffs angestellt, noch bevor er am selben Tag an einer Besprechung mit Hitler und Brauchitsch auf dem Berghof, Hitlers privatem Wohnsitz bei Berchtesgaden, teilnahm. Was Hitler dabei von sich gab, scheint für Halder so wichtig gewesen zu sein, daß der Generalstabschef außer seinen stenographischen Aufzeichnungen noch eine Zusammenfassung des Gehörten anfertigte, wohl um sich völlige Klarheit darüber zu verschaffen. Hitlers Ausführungen, wie immer weitschweifig und keineswegs überall schlüssig, sollten nach dem Verständnis Halders das außenpolitische Risiko eines deutschen Angriffs auf Polen abwägen und den Offizieren darlegen, daß es gering sei, da alles dafür spreche, daß England und Frankreich in einen Krieg um Polen nicht eintreten würden, ebensowenig wie Rußland. Diese Auslassungen dienten wohl nicht allein dem Zweck, die Soldaten irrezuführen, da Hitler in jenen Tagen auf eine Neutralität der Westmächte immerhin hoffte, selbst wenn er nicht felsenfest davon überzeugt war. Für Halder wiederum waren die Äußerungen des Diktators aus zwei Gründen wichtig. Einerseits bestand beim Generalstabschef nach wie vor die Bereitschaft zum Staatsstreich, aber dieser blieb unverändert an die Voraussetzung geknüpft, Hitler müsse das Reich in eine solch gefährliche außenpolitische Lage bringen, daß dem Volk und der Wehrmacht die Augen geöffnet würden; erst dann würden sie bereit sein, einem Umsturz zu folgen. Ein Krieg gegen Polen allein konnte eine solche Lage nicht herbeiführen. Obwohl Hitler seit Anfang 1939 in einer Anzahl von Reden das Offizierkorps auf den Krieg einzustimmen versuchte, obwohl seit Monaten deutlich zu sein schien, daß Hitler einen Krieg gegen Polen und äußerstenfalls auch die Westmächte ins Auge faßte, fehlte doch lange Zeit und eigentlich bis zum Schluß die letzte Sicherheit, ob die große europäische Auseinandersetzung wirklich unvermeidlich war. Zwar dürfte Halder, ebenso wie mancher andere, nicht geglaubt haben, die Westmächte würden bei einem Krieg um Polen stillhalten. Doch ließ sich diese Einsicht der Masse der Offiziere und übrigen Soldaten nicht ohne weiteres vermitteln; auch bemühte sich Hitler fortwährend, etwa aufkommende Bedenken zu zerstreuen, und nährte zudem durch seine überraschenden politischen Winkelzüge, z. B. den Pakt mit Stalin, die lllusion, er werde auch in Zukunft das Reich nicht in einen tödlichen Engpaß steuern. Für einen erneuten Staatsstreichversuch sah deshalb der Generalstabschef keine Chance; vielmehr setzte das OKH, entsprechend Hitlers Anordnungen, im Laufe des Sommers 1939 bereits vorbereitende Maßnahmen für einen möglichen Angriff auf Polen in Gang, wie Übungen und die verdeckte Bereitstellung von Truppen. Auf der anderen Seite hat Halder sicher nicht blindlings den Zusicherungen des Diktators vertraut, die Westmächte würden dem Krieg fernbleiben. Doch war da-
4 Zur französischen Lageeinschätzung Gamelin, Servir I, 36, Anm. 1; I, 272; III, 34 ff. Die Zahl der deutschen Divisionen und Panzer nach Müller-Hillebrand I, 68; II, 106; II, 17. Ferner Liss, Tätigkeit. Brausch, Sedan. Die Organisation des französischen Nachrichtendienstes bei Liss, Westfront, 117 f.
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mit die weitere Frage nicht beantwortet, ob die Westmächte bei einem solchen Krieg sofort und nachdrücklich mit großangelegten Operationen eingreifen würden und ob derartige Operationen dem Krieg gegen Polen eine gefährliche Wendung geben könnten. In dieser Hinsicht stellten die Äußerungen Hitlers einen Anlaß dar, die einschlägigen Probleme noch einmal sorgfältig zu durchdenken. Die Erfolgsaussichten eines französischen Großangriffs hingen offenbar davon ab, inwieweit die Neutralität gewisser Länder erhalten blieb bzw. geachtet wurde. Die Neutralität der Schweiz und Hollands nahm Hitler als sicher an; von Belgien erwartete er, daß es aus eigenem Antrieb neutral bleiben wolle. Die militärischen Möglichkeiten der Westmächte erwiesen sich damit als begrenzt. Ähnlich wie der Generalstab hielt Hitler einen Angriff an der deutsch-französischen Grenze für aussichtslos und unwahrscheinlich. Bei einem Ausholen nördlich durch Belgien und Holland dagegen müsse erst deren Widerstand gebrochen werden, so daß ein schneller Erfolg zur Entlastung der polnischen Front ausgeschlossen sei. In diesem Sinn hatte auch Haider seine Berechnungen unter der Voraussetzung angestellt, daß von Belgien und Holland keinerlei Hemmung ausgehe. Traten solche Hemmungen doch ein, es sei in politischer oder sogar militärischer Hinsicht, dann wurde der französische Aufmarsch für einen Großangriff verzögert und gab der Wehrmacht Zeit für das Heranführen von Verstärkungen aus dem Osten. Hitler stellte deshalb die Bedingung auf, daß, wie Haider sich notierte, "wir in meßbarer Zeit in Polen Erfolge erzielen." Oder in Hitlers Worten: "In 8 bis 14 Tagen muß der Welt klar sein, daß Polen in Gefahr ist, zusammenzubrechen; die Operationen selbst können natürlich länger dauern." Angesichts dieser Sachlage, so glaubte Hitler, sei ein entscheidendes Handeln von den Westmächten nicht zu erwarten; sie würden wahrscheinlich nicht bewaffnet in den Konflikt eingreifen. Der Generalstabschef versuchte umgehend, sich Gewißheit über diese Dinge zu verschaffen. Schon am nächsten Tag sprach er darüber, wie es seine Gewohnheit war, mit dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Weizsäcker, der seinerseits den Widerstandskreisen nahestand und Hitlers Politik zu behindern trachtete. Über das Gespräch heißt es in Halders Aufzeichnungen: "Bestätigt Lagebild von gestern. Vor allem Chamberlain - Halifax wollen Blut vermeiden. Amerika hält sich sichtlich zurück." Soweit dieser knappe Vermerk aussagekräftig ist, besagt er offenbar, daß im Kriegsfall ein nachdrückliches Handeln von den Westmächten nicht zu erwarten war, auch nicht von Frankreich, welches, wie Hitler richtig annahm, in seinen außenpolitischen Entscheidungen sich an Britannien anlehnte, d. h. an die Hauptvertreter der Appeasementpolitik, Premierminister Chamberlain und Außenminister Halifax. Das OKH brauchte deshalb wegen der Westfront keine übertriebenen Befürchtungen zu hegen; ein französischer Großangriff war in der Tat unwahrscheinlich, und sollte er wider Erwarten doch stattfinden, so würde ihm die Wehrmacht rechtzeitig entgegentreten können, wenn die Operationen in Polen planmäßig verliefen. Dementsprechend vermochte Brauchitsch nach Beginn des Polenfeldzugs schon am 10. September der Heeresgruppe C mitzuteilen, die Lage an der polnischen Front sei so günstig, daß innerhalb von zwei Tagen das OKH
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Divisionen für den Westen freigeben werde. Selbst wenn ein französischer Großangriff unter entsprechenden außenpolitischen Bedingungen nach zwei bis drei Wochen möglich gewesen wäre, so hätte er doch bereits auf Verstärkungen aus dem Osten treffen können. Am 22. August wiederholte Hitler bei einer Rede vor den Befehlshabern der Wehrmacht noch einmal seine Ansicht über die Haltung neutraler Staaten, also insbesondere Holland, Belgien und Luxemburg. In Halders Aufzeichnungen liest sich das so: "Diese Staaten wollen wirklich neutral bleiben. Die Neutralität dieser Staaten braucht England selbst. Daher erwarten wir, daß England und Frankreich Neutralität nicht verletzen. Militärisches Eingreifen daher aussichtslos." Wenngleich der Generalstab in den folgenden Tagen davon ausging, England werde mit Sicherheit in den Krieg eintreten, konnte er doch die Lageentwicklung an der Westfront mit Gelassenheit abwarten. Lediglich Hitler verlor wieder einmal die Nerven, als er am 25. August, nachdem er den Willen zur Bündnistreue bei den Westmächten erkannt hatte, den für den 26. August geplanten Angriff auf Polen vorläufig abblasen ließ. Nachdem der Angriff am 1. September dann doch begonnen hatte, zeigt sich indes bald, daß die Westmächte den polnischen Bündnispartner seinem Schicksal überließen.
Dennoch sind damit noch nicht alle Fragen beantwortet. Die Überlegungen Halders vom 14. August, bereits jetzt Reservedivisionen für den Westen getarnt aufzustellen und im Nordabschnitt die Verteidigungslinie an die Maas auf holländischem Gebiet zu verlegen, kamen nicht zum Tragen. In Hitlers Weisung Nr. 1 für die Kriegführung vom 31. August hieß es dann ausdrücklich: "Im Westen kommt es darauf an, die Verantwortung für die Eröffnung von Feindseligkeiten eindeutig England und Frankreich zu überlassen. Geringfügigen Grenzverletzungen ist zunächst rein örtlich entgegenzutreten. Die uns von Holland, Belgien, Luxemburg und der Schweiz zugesicherte Neutralität ist peinlich zu achten. Die deutsche Westgrenze ist zu Lande an keiner Stelle ohne meine ausdrückliche Genehmigung zu überschreiten." Der Aufbau einer haltbaren Verteidigungslinie im Nordabschnitt der Westfront geriet damit in Verzug, so daß die Erfolgsaussichten eines französischen Großangriffs wieder stiegen. Da der deutsche Generalstab eine solche Möglichkeit nicht gedanklich durchgespielt hat, ist es schwer, darüber begründete Aussagen zu machen. Aber es drängt sich der Eindruck auf, daß Gamelins Ansicht über einen französischen Großangriff nicht unbegründet war. Unter dem Vorbehalt, daß solche Überlegungen ein wenig ins Gebiet der Spekulation reichen, wird man jedenfalls feststellen dürfen, beim eindeutigen Willen der Westmächte zum Bruch der belgiseben Neutralität hätten die französischen Kräfte ausgereicht, den Durchmarsch durch Belgien zu erzwingen und wenige Wochen nach Kriegsbeginn die deutsche Westfront an ihrer verwundbarsten Stelle anzugreifen. Eine unmittelbare Gefährdung des Reiches, insbesondere des für die deutsche Rüstung unverzichtbaren Ruhrgebietes, brauchte dies nicht nach sich zu ziehen, sofern die deutschen Verstärkungen rechtzeitig herankamen. Auch ist es fraglich,
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ob Polen dadurch so viel Unterstützung erhielt, daß sein Zusammenbruch verzögert oder sogar ganz verhindert wurde. Aber längerfristig hätte schon ein fortgesetztes nachhaltiges Kampfgeschehen an.der deutschen Westgrenze, das durch britische Truppen und französische Reserven unterstützt werden konnte, die Wehrmacht leicht in eine brenzlige Lage zu setzen vermocht. Bekanntlich ging die Wehrmacht mit außergewöhnlich geringen Vorräten in den Krieg, vor allem an Munition. Anfang Oktober berechnete der deutsche Generalstab, daß mit dem vorhandenen Munitionsbestand lediglich ein Drittel der Divisionen operationsfahig war. Bei diesem einen Drittel reichte der Munitionsvorrat nur für 14 Kampftage, dann blieb eine Reserve für weitere 14 Kampftage, und die laufende Munitionserzeugung deckte den Bedarf für einen Kampftag bei einem Drittel der Divisionen. Daraus errechnet man leicht, daß im Laufe des Oktober ein französisch-englischer Großangriff, der zu dieser Zeit rund 70 Divisionen zum Einsatz bringen konnte, von ebenfalls etwa 70 deutschen Divisionen hätte abgewehrt werden können aber nur für begrenzte Zeit. Wie begrenzt diese Zeit war, läßt sich nicht kurzerhand angeben, da ein Kampftag eine militärische Rechengröße darstellte, die nicht übereinstimmte mit einem Kalendertag. Unter durchschnittlichen Verhältnissen entsprachen 10 bis 15 Kampftage ungefähr sechs Wochen, weil die Stärke der Kampfhandlungen nicht immer gleich war und damit der Munitionsverbrauch wechselte. Allerdings wäre bei einem französisch-englischen Großangriff mit gewaltigem Artillerieeinsatz wohl auch der deutsche Munitionsverbrauch überdurchschnittlich gestiegen, so daß die verfügbare Zeitspanne, für welche der Munitionsvorrat reichte, zusammengeschrumpft wäre, vielleicht auf nur vier Wochen. Bei entsprechendem Nachdruck des Gegners hätte dies für eine erfolgreiche Abwehr schwerlich ausgereicht; ungefähr gegen Ende Oktober, spätestens wenige Wochen danach, wäre das deutsche Heer allein aus Munitionsmangel nicht mehr kampffähig gewesen und hätte den Widerstand einstellen müssen. Insofern hatte Jodl doch recht, wenn er nach dem Krieg davon sprach, daß bei entschlossenem Handeln der Westmächte das Reich schon im Herbst 1939 zusammengebrochen wäre. 5 Lag hier eine Fehleinschätzung durch die Westmächte vor? Allgemein ist zunächst festzuhalten, daß Fehleinschätzungen in der Geschichte wohl nicht so häufig vorkommen, wie von manchen Historikern angenommen wird. Die Fachleute auf den Gebieten der Außenpolitik und der militärischen Stabsarbeit waren üblicherweise imstande, sich ein brauchbares Lagebild zu erarbeiten. Wenn Hitler dazu auf weite Strecken weder willens noch fähig war, so stellt das keine Ausnahme von der Regel dar, sondern es bestätigt die Regel: Hitler war eben kein außenpolitischer und militärischer Fachmann, sondern ein dilettierender weltanschaulicher Fanatiker, der die wirkliche Sachkunde teils aus Unkenntnis und teils mit Vorsatz 5 Zu den Vorgängen am 14., 15. und 22. 8. 1939, ferner zur Einschätzung der Lage durch den Generalstab und zur Berechnung des Munitionsbestandes Anfang Oktober Halder, KTB I, 3 ff., 8 ff., 15, 23 ff., 28, 30, 41, 99. Die Mitteilung von Brauchitsch an die Heeresgruppe C am 10. 9. 1939 nach Murray, Change, 350. Hitlers Weisung Nr. I nach Hubatsch, Weisungen, 23 ff. Ferner K.-J. Müller, Heer, 409 ff. Jacobsen, Gelb, 20.
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mißachtete. Dies blieb an sich dem Ausland nicht völlig verborgen, doch scheint man im Ausland, geblendet von der normalerweise anzutreffenden Leistungsfähigkeit der Deutschen auf organisatorischem Gebiet, keine zutreffende Vorstellung gewonnen zu haben von dem Herrschafts- und Verwaltungschaos, welches der Nationalsozialismus in dem einstmals so wohlgeordneten deutschen Staatswesen angerichtet hatte. Tatsächlich gab es im Dritten Reich keinerlei gründliche stabsmäßige Planung für einen europäischen Krieg oder gar einen Weltkrieg, weder auf wirtschaftlichem und rüstungsmäßigem noch auf strategischem und operativem Gebiet - nicht weil die militärischen Fachleute dazu außerstande gewesen wären, sondern weil die militärischen Fachleute, ebenso wie andere, seit 1938 immer wieder darauf hingewiesen hatten, Deutschland sei einem derartigen Krieg nicht gewachsen, so daß Hitler sie mit entsprechenden Planungen weder beauftragen konnte noch beauftragen wollte. Ein solches Ausmaß an Leichtsinn und politischem Abenteurerturn war den Westmächten offenbar nicht nachvollziehbar; sie erwarteten eine gründlichere Vorbereitung des Krieges. Selbst Göring, der von Haider über das Kräfteverhältnis an der Westfront unterrichtet worden war und die Munitionslage aus eigener Anschauung kannte, erteilte Hitler am 29. August den Rat: "Wir wollen doch das va banque Spiel lassen", worauf Hitler erwiderte: "Ich habe in meinem Leben immer va banque gespielt." Trotzdem muß man daraus nicht den Schluß ziehen, das OKH habe an dem Vabanque-Spiel teilgenommen und das Ausland habe sich einfach übertölpeln lassen. Das OKH hatte seit langem einen Munitionsvorrat für vier Monate gefordert, um die Lücke bis zum Anlaufen der kriegsmäßigen Erzeugung zu schließen. Da dies nie verwirklicht worden war, ließ sich schon vor Kriegsbeginn ausrechnen, daß ein Krieg nicht länger als ungefähr sechs Wochen dauern durfte, sofern man nur den vorhandenen Munitionsbestand und die laufende Fertigung verbrauchen konnte. In dieser Rechnung war allerdings die Möglichkeit nicht enthalten, bald nach Kriegsausbruch die Munitionserzeugung wesentlich zu steigern. Ob eine solche Möglichkeit vorhanden war, läßt sich beim gegenwärtigen Kenntnisstand schwer ausmachen. Tatsächlich jedenfalls ist die Munitionserzeugung nach Kriegsausbruch zunächst nicht nennenswert erhöht worden, was zum Teil mit dem organisatorischen Durcheinander des Dritten Reiches zusammenhängt, zum Teil aber wohl auch damit zu erklären ist, daß ein Angriff der Westmächte unterblieb und deshalb kein unmittelbarer Zwang vorlag. Welche Folgen ein Angriff der Westmächte nach sich gezogen hätte, bleibt offen. Natürlich wäre dann sofort versucht worden, den Munitionsengpaß zu überbrücken, und eben dies durfte das Ausland erwarten. Immerhin war es schon während der Sudetellkrise 1938 gelungen, die Munitionsfertigung kurzfristig zu steigern. Auf der anderen Seite hätte ein baldiger Großangriff Frankreichs die Munitionsbestände noch rascher zusammenschmelzen lassen, so daß selbst ein schnelles Anlaufen der Produktion die Katastrophe vielleicht nicht mehr aufgehalten hätte. Um dies zu erproben, hätten aber die Westmächte angreifen müssen, und da sie es nicht taten, nahmen sie die Gelegenheit nicht wahr, den Krieg bereits im Herbst 1939 zu ihren Gunsten zu entscheiden. 6
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Um den eigentlichen Ursachen für die Untätigkeit der Westmächte auf die Spur zu kommen, muß man indes zeitlich weiter zurückgreifen und sachlich tiefer graben. Vorab ist dabei festzuhalten, daß die Polen bis zum Krieg systematisch belogen und hintergangen wurden; eine ernsthafte Absicht, den Polen zu helfen, hat 1939 bei den Westmächten nie bestanden. Das wirkt auf den ersten Blick umso erstaunlicher, als es gerade der Sinn der mißratenen Versailler Ordnung gewesen war, durch die Bündnisverflechtungen zwischen Frankreich und den zwischeneuropäischen Staaten, namentlich Polen, das Deutsche Reich umklammert zu halten und bei jeder Gefährdung der zwischeneuropäischen Länder sofort einzugreifen. Allerdings hatten die zwischeneuropäischen Staaten, wie es in diesen Untersuchungen früher ausgedrückt wurde, in der Versailler Ordnung nie etwas anderes gebildet als Lückenbüßer für ein künstlich verzerrtes europäisches Gleichgewicht, bei welchem Frankreich die Hegemonie gegenüber dem westlichen und mittleren Kontinentaleuropa ausübte. Im Zuge der Appeasementpolitik war dieses künstlich verzerrte Gleichgewicht beseitigt worden mit dem Ziel, ein natürliches Gleichgewicht herzustellen, bei welchem Deutschland als Gegengewicht zu Rußland dienen sollte. Seit dem Beginn der deutschen Wiederaufrüstung, seit der Wiederbesetzung des Rheinlands war Deutschland der Weg freigegeben worden zur Errichtung einer Vormachtstellung in Mitteleuropa, welche bei sachgemäßer und friedlicher Politik das Gleichgewicht nicht gefahrdet, sondern ein natürliches Gleichgewicht erst erzeugt hätte. Auf die Möglichkeit zum Eingreifen in Zwischeneuropa hatte Frankreich schon beim Anschluß Österreichs verzichten müssen, seine Bündnisverpflichtungen gegenüber zwischeneuropäischen Ländern hatte Frankreich schon bei der Zerschlagung der Tschechei nicht wahrgenommen. Dies alles geschah vor dem Hintergrund der Tatsache, daß der sog. Cordon sanitaire der zwischeneuropäischen Staaten, der als Sperrgürtel zwischen Deutschland und Rußland geplant worden war, in Wirklichkeit ein höchst fragwürdiges Gebilde darstellte. Eingeklemmt zwischen den beiden übermächtigen Nachbarn Deutschland und Rußland konnten die zwischeneuropäischen Kleinstaaten entweder zum Handelsobjekt einer deutschrussischen Verständigung werden, indem Berlin und Moskau den Cordon sanitaire unter sich aufteilten, wie es beim Hitler-Stalin-Pakt geschah. Oder der Cordon sanitaire fiel vollständig bzw. weitgehend in den Einflußbereich einer der beiden Großmächte Deutschland und Rußland. Es war ein Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, Zwischeneuropa fast vollständig der Herrschaft Sowjetrußlands zu unterwerfen. Dagegen war es das Ziel der Appeasementpolitik, den Cordon sanitaire zum größten Teil dem deutschen Einfluß zu überlassen, um die Sowjetunion von Europa femzuhalten, um die deutsch-russische Verständigung zu verhindem und um das europäische Gleichgewicht durch den festen Pfeiler eines gestärkten Deutschen Reiches abzustützen. In diesem Sinn brachten seit Ende 1938 sowohl die britische als auch die französische Regierung zum Ausdruck, daß sie das östliche 6 Zu den Warnungen in Deutschland vor dem Krieg K.-J. Müller, Heer, 397, 407 f. Schwerin, Memoiren, 189, 192f. Über Vabanque-Spiel Hili, 162, 164. Zum Munitionsvorrat Thomas, Wehrwirtschaft, 149 f. Schustereit, Heeresrüstung.
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und südöstliche Europa als deutsches Interessengebiet anerkannten. Dem Dritten Reich wurde damit keine "freie Hand" gegenüber Zwischeneuropa zugestanden, aber die westlichen Regierungen gaben zu verstehen, daß sie sich mit einer deutschen Vormachtrolle abzufinden vermochten, im Falle Polens insoweit, als diese Vormachtrolle über eine friedliche und begrenzte Revisionspolitik nicht hinausging. An die Stelle der alten Versailler Ordnung war also in den Jahren vor dem Krieg ein neuer und völlig anderer Entwurf getreten, ein Entwurf, der vor allem von den britischen Appeasern getragen wurde und den sich die französische Politik nolens-volens zu eigen machte. Der Cordon sanitaire und damit auch Polen spielte in diesem Entwurf eine durchaus untergeordnete Rolle; worauf es vor allem ankam, war dies: Im System der großen Mächte sollten die Staaten des westlichen und mittleren Europa einen selbständigen und festen Standort gewinnen, sie sollten ihre Angelegenheiten, also insbesondere die europäische Revisionspolitik, unter sich regeln und sollten auf diese Weise dafür sorgen, daß nicht die beiden tatsächlich oder potentiell stärksten Weltmächte, die USA und die Sowjetunion, die Gelegenheit erhielten, in europäische Zwistigkeiten einzugreifen und zu Lasten europäischer Länder ihre Macht zu steigern oder Europa ihrem Einfluß zu unterwerfen. Zu diesem Zweck sollte Deutschland, über das Vorfeld des Cordon sanitaire hinweg, Europa gegen Rußland abschirmen, während England und Frankreich darauf bauten, im Besitz ihrer großen Kolonialreiche über so viel Hilfsquellen zu verfügen, daß sie die Stabilität Europas notfalls auch allein bewahren oder wiederherstellen konnten, ohne sich einem amerikanischen Führungsanspruch beugen zu müssen. 7 Vor diesem Hintergrund stellten die Westmächte ihre strategischen Planungen an, als sich im Laufe des Jahres 1939 immer deutlicher herausschälte, daß Hitler offenbar nicht willens war, sich mit einer friedlichen Revisionspolitik und einer deutschen Vormachtrolle in Mittel- und Südosteuropa zufriedenzugeben. Jene Überlegungen in London und Paris standen von vornherein unter dem Vorzeichen, gegenüber Deutschland nicht offensiv zu werden, jedenfalls nicht in der Anfangsphase eines Krieges. Bei britisch-französischen Stabsbesprechungen, die am 27. März 1939 in London begannen und während des Sommers fortgesetzt wurden, bestand Einverständnis darüber, daß man sich auf einen langen Krieg einrichten müsse, bei welchem die Alliierten ihre Überlegenheit zur See und in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausnützen sollten, um die eigene Schlagkraft zu erhöhen, diejenige der Gegner zu vermindern, überdies solle die Unterstützung anderer Länder, insbesondere der USA, gesucht werden. Angesichts der britischen Garantieerklärung für Polen am 31. März 1939 war die Festlegung auf eine solche Strategie ebenso auffällig wie kennzeichnend. Der deutsche Generalstab stellte ja etwa zur selben Zeit ähnliche Überlegungen an, wenn er meinte, die Westmächte 7 Vgl. Bd I dieser Untersuchungen. Ferner Hillgruber, Zerstörung, 142, 339 ff. und passim. Zu den deutsch-französischen Gesprächen vom 6.17. 12. 1938 mit der Andeutung des Außenministers Bannet, das östliche Europa als deutsches Einflußgebiet anzuerkennen, siehe ADAP, Ser. D, Bd 4, 409 ff. Allgemein ferner BarteL Zu Britannien auch Niedhart, Sitzkrieg.
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rechneten mit einem langen Krieg und hofften auf eine Steigerung ihrer Kräfte, so daß sie auf einen kriegsentscheidenden Angriff zunächst verzichten könnten. Nun war aber den militärischen Fachleuten der Westmächte ebenso wie den deutschen bekannt, daß Polen, falls es nicht entlastet wurde, einer konzentrierten deutschen Offensive nur kurze Zeit standzuhalten vermochte, nach Auffassung der britischen Stabschefs günstigstenfalls wenige Monate. Wenn die Westmächte dennoch auf einen Angriff oder Entlastungsangriff verzichteten und sich auf einen langen Krieg einrichteten, so gaben sie damit von vornherein Polen preis. Das war die Linie, die Chamberlain vorgegeben hatte, als er am 20. März im Kabinett geäußert hatte, wenn England eingriffe, dann nicht, um ein bestimmtes Opfer zu retten, sondern um den Störenfried auf die Knie zu zwingen. Daran hielt man sich bei den Stabsgesprächen und kam zu dem Schluß, das Schicksal Polens hänge vom endgültigen Ausgang des Krieges ab, nicht von der Fähigkeit der Westmächte, zu Beginn den deutschen Druck auf Polen zu verringern. In rein militärischer Hinsicht war das nicht ohne weiteres schlüssig. Bei den Stabsbesprechungen muß auch die belgisehe Frage behandelt worden sein, denn man kam überein, alliierte Truppen sollten Belgien erst betreten, wenn sie die beigisehe Regierung dazu auffordere. Den Durchmarsch zu erzwingen, um Polen zu entlasten, wurde anscheinend nicht erwogen, zumindest aber nicht geplant. Nur mit der Achtung des Völkerrechts und der Rücksicht auf die Neutralen läßt sich das nicht erklären, denn in anderen Fällen waren die Westmächte weniger zimperlich. Im Frühjahr 1940 schickten sie sich an, die norwegische Neutralität zu verletzen, und nach der Niederlage Frankreichs hat Britannien nicht gezögert, aus politisch-strategischen Gründen die Flotte des vormaligen Verbündeten zu überfallen. Man wollte eben Polen gar nicht helfen. Sodann erwies sich im Sommer 1939, daß die ursprüngliche Annahme, in einen Krieg würden die Achsenmächte Deutschland und Italien gemeinsam eintreten, nicht zutraf, da nunmehr die Neutralität Italiens, jedenfalls am Anfang, als wahrscheinlich anzusehen war. Überdies durfte man erwarten, daß der Krieg nicht mit einem Angriff auf die Westmächte, sondern mit einem Angriff auf Polen beginnen würde. Davon wurde auch das Kräfteverhältnis berührt, abgesehen davon, daß die Westalliierten gewisse Sicherungsstreitkräfte gegen Italien stehen lassen mußten. Den gut 100 deutschen Divisionen konnten fast 100 französische und rund 50 polnische gegenübertreten. Unterlegen waren die Verbündeten gewiß nicht, auch wenn Britannien zu ihrer Stärke wenig beizusteuern vermochte. Hatte London anfänglich nur über fünf aktive und eine Anzahl von Territorial- bzw. Reservedivisionen im Mutterland verfügt, so wurde im Laufe des Jahres 1939 durch einen Ausbau des Territorialheeres und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die Zahl der Divisionen auf 32 erhöht, was sich freilich erst nach einer gewissen Anlaufzeit auswirken konnte. Besser stellte sich Britannien bei den Luftstreitkräften, und auch hier war die aus Zweckpessimismus eifrig verbreitete These von der deutschen Überlegenheit eine Mär. Den rund 4 000 deutschen Flugzeugen standen mindestens 4 500 britische, französische sowie polnische gegenüber, und die Zahlen waren im großen und ganzen bekannt.
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Im Vergleich mit dem französischen und polnischen Flugzeugmaterial galt dasjenige der Luftwaffe im Durchschnitt als moderner, doch war der Vorsprung nicht so groß, daß er Deutschland davor gefeit hätte, bei entsprechender planeciseher Vorbereitung der Allüerten schwere Schläge einstecken zu müssen. Im übrigen besaß die Luftwaffe nur begrenzte Vorräte an Flugbetriebsstoff, so daß ihr bei einem intensiven, über mehrere Monate geführten Luftkrieg womöglich das Benzin ausgegangen wäre. Aber auch hier scheuten die Westalliierten vor entschiedenen Maßnahmen zurück. Bei den Stabsgesprächen wurde vereinbart, die Lufteinsätze auf rein militärische Ziele zu beschränken, erst in einem späteren Stadium des Krieges sollten Angriffe gegen wirtschaftliche und industrielle Ziele in Deutschland geflogen werden, um zum schließliehen Zusammenbruch seiner Wirtschaft beizutragen. Das hieß im Klartext, daß man anfangs so gut wie nichts tun wollte, denn ein strategischer Einsatz der Luftstreitkräfte gegen deutsche Rüstungsziele wurde abgelehnt, und ein operativer Einsatz gegen militärische Ziele hätte einen erkennbaren operativen Sinn haben müssen, um nicht nutzlos Menschen und Material aufs Spiel zu setzen für Unternehmungen, die weder kurzfristig noch langfristig etwas Durchschlagendes bewirken konnten. Sinnvoll wären natürlich Maßnahmen zur Entlastung Polens gewesen, doch lag es angesichts der Stärkeverhältnisse auf der Hand, daß die Westmächte nicht imstande waren, allein durch einen Krieg aus der Luft die Wehrmacht am Überrennen Polens zu hindern. Ein Luftkrieg allein hatte demnach keinen operativen Sinn und würde mit ziemlicher Sicherheit nicht stattfinden. Dagegen hätte ein operativer Luftkrieg der Westmächte hervorragend dazu dienen können, eigene Bodenoperationen zu unterstützen, insbesondere einen Großangriff, der entweder Polen entlastete oder selbst die Entscheidung suchte. Da aber die Westmächte eine solche Offensive gar nicht anstrebten, konnten sie insoweit auf Lufteinsätze in großem Maßstab getrost verzichten; das war einstweilen überflüssig. Diese Zurückhaltung läßt sich gerade nicht durch die Furcht vor deutscher Überlegenheit begründen. Im Falle einer deutschen Offensivkonzentration gegen Frankreich oder eines Angriffs gegen die Niederlande sollten nämlich die alliierten Luftstreitkräfte die Invasion durch Schläge gegen die deutschen Armeen und ihre Versorgungsdienste eindämmen. Das wäre dann ein operativer Luftkrieg gewesen, und diesen hielt man offenbar für möglich. Es müßte demzufolge erst noch begründet werden, warum die Westmächte einen operativen Luftkrieg für unmöglich hätten halten sollen, solange große Teile der deutschen Luftwaffe im Osten gebunden waren. Viel näher hätte es gelegen, nicht zu warten, bis Polen ausgeschaltet war, und dann erst zu kämpfen, sondern zu kämpfen, solange Polen noch deutsche Kräfte fesselte. Selbstverständlich waren die militärischen Fachleute der Westmächte in der Lage, das einzusehen; wenn sie sich trotzdem nicht danach richteten, muß das andere Gründe haben. Militärische Besprechungen fanden auch zwischen den Westmächten und Polen statt. Daß die Polen vor allem an Hilfszusagen interessiert waren, versteht sich von selbst. Mit den Briten wurde über die Lieferung von Rüstungsgütern, vor allem
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Flugzeuge, verhandelt, wovon die Polen kein Stück erhielten. Die britischen Kreditzusagen waren geringfügig und veranlaßten Hitler zu der Bemerkung, "wäre England entschlossen, so hätte es Polen Geld gegeben. Der Engländer steckt kein Geld mehr in das verlorene Geschäft." Mit Frankreich wurde am 12. Mai der alte Bündnisvertrag erneuert und am 19. Mai ein Abkommen zwischen dem polnischen Kriegsminister Kasprzycki und Stabschef Gamelin geschlossen, wonach Frankreich sich verpflichtete, zwei Wochen nach Beginn eines deutschen Angriffs auf Polen eine Großoffensive einzuleiten. Das war der Hintergrund für die früher erwähnte Denkschrift Gamelins vom 1. September, in welcher er einen Angriff durch Belgien vorschlug. Das Gamelin-Kasprzycki-Abkommen sollte zwar erst nach Unterzeichnung eines politischen Protokolls in Kraft treten, doch geschah dies am 4. September, so daß ein französischer Großangriff über die deutsche Grenze nach ungefähr zwei Wochen nicht undenkbar war. Den Polen war aber verschwiegen worden, daß die Westmächte sich längst geeinigt hatten, eine solche Offensive nicht zu unternehmen, so daß der Vorschlag Gamelins folgenlos blieb und vielleicht nur dazu diente, den guten Willen aktenkundig zu machen. Seit dem 7. September tasteten sich etwa 10 französische Divisionen im Saar-Abschnitt auf deutsches Gebiet vor und hielten am 12. September, entsprechend einem Befehl Gamelins, vor Erreichen des Westwalls wieder an, ohne es zu größeren Kampfhandlungen kommen zu lassen. Diese Scheinoffensive, die Haider in seinem Kriegstagebuch nicht einmal erwähnte, diente offenbar nur dazu, das Gesicht zu wahren. London berücksichtigte nicht einmal derlei Formalitäten. In dem Bündnisvertrag zwischen Britannien und Polen vom 25. September hieß es, daß man dem angegriffenen Vertragspartner sofort allen Beistand geben werde, der in der eigenen Macht stehe. Gewiß war das ein politisches Signal, das eigentlich den Krieg verhindem sollte. Aber nach dem Wortlaut war London zu sehr viel mehr verpflichtet, als es dann wirklich erbrachte. In Englands Macht stand es nicht, einen Großangriff über die deutsche Grenze zu führen, wie Frankreich es wohl gekonnt hätte. Doch hätte London zweifellos mehr zu leisten vermocht als ein paar symbolische Luftangriffe und den Abwurf von Flugblättern. Die polnischen Hilferufe in den ersten Septemberwochen verhallten nutzlos. 8 Es ist nicht damit getan, hinter dieser Untätigkeit bloß Fehleinschätzungen, Unfähigkeit und Defätismus zu vermuten. Sicher gab es in der französischen Bevölkerung eine verbreitete Abneigung gegen den Krieg, aber das war in Deutschland nicht anders. Trotzdem hat die Wehrmacht gekämpft, und die französischen oder s Zu den britisch-französischen Stabsbesprechungen Butler, in Hillgruber. Auch Butler, Strategy. Chamberlain im Kabinett am 20. 3. 1939 nach Aster, 83. Zur britischen Heeresvermehrung Howard, Commitment, 130. Liss, Westfront, 52 f. Die Flugzeugzahlen nach Dahms, Weltkrieg, 86. Vgl. MGFA, Weltkrieg II, 68. (Beitrag Maier). Zu den britisch-polnischen Militärgesprächen Wehner, 249 und passim. Hitler über britische Kredite an Polen Halder, KTB I, 11 (14. 8. 1939). Das Gamelin-Kasprzycki-Abkommen in Beck, Rapport, 345 f. Dazu Hillgruber, Zerstörung, 159 f. Der britisch-polnische Bündnisvertrag vom 25. 9. 1939 in Ursachen und Folgen 13, 504. Allgemein ferner Kimche, passim. Heimsoeth, 200ff. Bethell.
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britischen Streitkräfte hätten, wenn es von ihrer Führung verlangt worden wäre, ebenso gekämpft. Auch das häufig gebrauchte Argument, Frankreich sei in seinem militärischen Denken beim Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs stehengeblieben, führt nicht viel weiter. Richtig ist, daß Frankreich in zwei Kriegen, dem von 1870/ 71 und dem von 1914118, die Überlegenheit der deutschen Generalstabsschulung und der deutschen Offiziersausbildung erlebt hatte, insbesondere die Führungskunst im Bewegungskrieg und die sog. Auftragstaktik, also das selbständige Handeln nachgeordneter Führer. Den Ersten Weltkrieg hatte Frankreich nicht aus eigener Kraft siegreich beendet, sondern nur mittels britischer und amerikanischer Hilfe. Es ist deshalb leicht erklärlich, daß das französische Oberkommando und allgemein die militärische Lehre ein erneutes Kräftemessen bei der Operation im freien Feld bzw. bei einer Begegnungsschlacht scheuten; statt dessen gab man einer Kampfesweise den Vorzug, bei welcher alles bis ins Kleinste von oben geregelt, geplant und vorgeschrieben wurde. Angriff und Abwehr sollten stets straff und methodisch von oben geleitet werden, nachgeordnete Führer waren am kurzen Zügel zu halten, der Zusammenhang einer Schlachtfront mußte gewahrt bleiben und durfte nicht in einzelne Kampfhandlungen selbständig vorgehender Truppenteile auseinanderfallen. Denn gerade hierin, im eigenständigen Entschluß und im raschen Ausnützen günstiger Gelegenheiten auf nachgeordneten Führungsebenen, lag die eigentliche Stärke des deutschen Heeres. Das französische Oberkommando strebte daher nach Sicherheit, indem es den Zusammenhalt einer festen Linie in der Bewegung und im Kampf zu wahren suchte, indem es offene Flanken scheute und indem es danach trachtete, die eigene Truppe nicht dem Risiko von unübersichtlichen, schnell wechselnden Lagen in einem Bewegungskrieg auszusetzen, bei welchem größere Truppenkörper getrennt, selbständig und gegebenenfalls in weiter räumlicher Entfernung voneinander operierten, d. h. ihre Bewegungen ausführten. Kam es zur Schlacht, so sollte sie in Form der rangierten Schlacht stattfinden, d. h. der Schlacht aus der vorher berechneten, methodisch geordneten Aufstellung, nicht jedoch in Form der Begegnungsschlacht, d. h. der Schlacht aus der Bewegung, welche die Gefahren des Durchbruchs, der Überflügelung, der Umgehung, des Abschneidens von der Rückzugslinie und der Einkesselung in sich barg. In gewisser Weise symbolisierte die Maginot-Linie jenes militärische Denken, denn sie stellte eine feste, durchlaufende Linie dar, die kaum durchbrochen werden konnte. Aber den an sich möglichen Angriff im September 1939 unterließ Frankreich nicht deswegen, weil seine militärische Lehre und seine Fähigkeiten nicht über den Stellungskrieg hinausreichten oder weil es sich sozusagen hinter der Maginot-Linie einigelte. Weil die französischen Fachleute wußten, wie das deutsche Heer einen operativen, weiträumigen Bewegungskrieg zu führen pflegte, zeigten sie sich ohne jede Mühe imstande, die Einzelheiten des Bewegungskriegs im Polenfeldzug aufs genaueste zu analysieren. Und selbstverständlich war der französische Generalstab auch zur Planung größerer Angriffsoperationen in der Lage, wie er 1938, vor dem Ausbau des Westwalls, bewies, als Gamelin ausführliche Weisungen gab für eine Offensive nach Deutschland hinein. In ähnlicher Weise hätte der französische Ge3 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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neralstab einen Angriff über belgisches Gebiet hinweg zu planen vermocht, wenngleich eine solche Operation die von Halder erwarteten Merkmale strenger Methodik und straffen Zusamrnenhaltens der Kräfte aufgewiesen hätte. Daß es dazu nicht kam, bleibt erklärungsbedürftig, wobei man gut daran tun wird, den historisch Handelnden erst einmal zuzutrauen, daß sie wohlerwogene Gründe für ihr Tun oder Unterlassen besaßen. Hätten nun - um noch einmal ein paar hypothetische Überlegungen anzustellen - die französischen Streitkräfte im September 1939 den von Gamelin vorgeschlagenen Großangriff unternommen, so hätte dies verschiedene Folgen zeitigen können, die im einzelnen nicht alle durchgespielt werden müssen, da es nur auf die groben Umrisse ankommt. Im günstigsten Fall wäre die deutsche Westfront schnell durchbrochen, vielleicht das Ruhrgebiet erobert und Deutschland mindestens an den Rand der Niederlage gebracht worden. Oder die Wehrmacht hätte noch rechtzeitig Verstärkungen aus dem Osten herangeschafft, dann hätte es zu einem Bewegungskrieg in der Nähe der Grenze kommen können, wie er bereits von der Reichswehr in Planspielen geprobt worden war. Sieht man von der Munitions- und Treibstofflage einmal ab, die leicht den schnellen Zusammenbruch der Wehrmacht bewirken mochte, so wäre bei einem Bewegungskrieg nahe der Grenze ein Zurückdrängen der französischen Streitmacht durchaus denkbar gewesen, vielleicht sogar eine empfindliche Niederlage, oder es wäre zu einem längeren Abringen gekommen, bei dem sich beide Seiten schwere Verluste beibrachten. Man braucht solche Spekulationen nicht weiterzutreiben. Vielmehr erhebt sich an dieser Stelle die wesentlich wichtigere Frage, was denn die politischen Folgen derartiger Ereignisse gewesen wären und wie sie in die politischen Absichten der Westalliierten hineingepaßt hätten. Es ist eine durchaus kurzsichtige Betrachtungsweise, im Zweiten Weltkrieg nur den Kampf gegen Hitler-Deutschland und die Achsenmächte zu sehen, sondern es ging noch um ganz andere Dinge. Als im Sommer 1939 die Westmächte mit Rußland wegen eines Verteidigungsbündnisses verhandelten, erklärte Halifax im britischen Kabinett, ein Scheitern der Verhandlungen ängstige ihn nicht, denn was für ein Abkommen auch immer mit der Sowjetunion unterzeichnet werde, die sowjetische Regierung werde im Fall eines Krieges wahrscheinlich doch tun, was ihr am besten passe. In diesen Worten klang noch einmal an, was die Appeaser seit Jahren bewegte. Sowohl Chamberlain und Halifax als auch Ministerpräsident Daladier und Außenminister Bonnetin Frankreich hatten immer wieder betont, Stalin versuche die kapitalistischen Länder zu einem Krieg untereinander aufzuhetzen, um in dessen trüben Wassem dann zu fischen, d. h. insbesondere territoriale Gewinne zu Lasten Zwischeneuropas zu machen und den russischen Einflußbereich ins mittlere und westliche Buropa vorzuschieben. Seit dem Frühjahr 1939 hatten die Westmächte versucht, die Sowjetunion in eine Abschreckungsfront gegen Hitler einzubeziehen, freilich nicht in Form eines regelrechten Militärbündnisses, wie Stalin verlangte, denn ein solches hätte den Krieg nicht verhindert, sondern nach den Worten Chamberlains unvermeidlich gemacht. Wenn Briten und Franzosen trotzdem mit Moskau über ein solches Bünd-
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nis verhandelten, dann wahrscheinlich nicht, um es wirklich abzuschließen, sondern um Hitler unter Druck zu setzen und Zeit zu gewinnen, denn ab dem Herbst war ein schneller Krieg gegen Polen aus Witterungsgründen kaum noch möglich. Halifax sprach es in seiner eben genannten Äußerung ungeschminkt aus, daß die Westmächte auf irgendwelche Abkommen mit Rußland eigentlich überhaupt keinen Wert legten, weil die Sowjetregierung im Kriegsfall ohnedies nur ihre eigenen Ziele verfolgen, d. h. danach trachten würde, ost- und mitteleuropäische Gebiete zu besetzen. Nachdem London vom Hitler-Stalin-Pakt erfahren hatte, der den Krieg unvermeidlich machte, meinte Halifax, die moralische Wirkung dieses Abkommens sei zwar groß, aber strategisch bedeute es wenig. Das war so zu verstehen, daß nach Auffassung der Appeaser die Sowjetunion in einem Krieg sich immer gleich verhalten würde, ob sie nun auf der Seite der Westmächte stand oder in wohlwollender Neutralität gegenüber Deutschland verharrte: Die Sowjetunion würde immer den Krieg der kapitalistischen Länder untereinander ausnützen, um selbst Gewinne zu machen. 9 Daraus ergab sich die strategische Planung der Westmächte, die auch nach dem Hitler-Stalin-Pakt nicht geändert wurde. Die Westalliierten wollten dabei zunächst gar nichts tun, also Polen seinem Schicksal überlassen. Denn jedes Ergebnis, das ein alliierter Großangriff hätte haben können, wäre zugleich der Sowjetunion zugute gekommen. Entweder ein westlicher Großangriff schlug schnell durch und zog den baldigen Zusammenbruch Deutschlands nach sich, dann konnte Rußland ungehindert das, was von Polen noch übrig war, überrennen und wohl gar bis nach Deutschland hineinstoßen. Oder es kam zu einem längeren Abringen der westlichen und der deutschen Streitkräfte, dann konnte Rußland in Ruhe die gegenseitige Schwächung der Gegner abwarten, ebenfalls osteuropäische Gebiete vereinnahmen und ebenfalls vom Rücken her Deutschland bedrohen. Oder die deutschen Streitkräfte erwiesen sich im Bewegungskrieg als überlegen, drangen vielleicht sogar nach Frankreich vor, dann mußten die Westmächte eine Niederlage einstecken, sofern sie nicht auf russische Hilfe hoffen durften. Griff Rußland in einem solchen Fall tatsächlich ein, so vermochte es wiederum große Teile Mitteleuropas zu erobern, und die Westmächte mußten dafür auch noch dankbar sein, weil das russische Eingreifen sie vor der deutschen Überlegenheit gerettet hatte. Das oft gebrauchte Argument, die Rote Armee sei infolge der Säuberungen Stalins geschwächt gewesen, ändert an diesen Dingen gar nichts. Wenn die polnischen Streitkräfte erst einmal zwei Wochen lang von der Wehrmacht zusammengeschlagen wurden, stellten sie auch für eine geschwächte Rote Armee kein Problem mehr dar. Und wenn die Wehrmacht sich im Kampf gegen die Westmächte verausgabte, hatte sie nicht mehr genügend Kräfte, um die Rote Armee abzuwehren. Was im9 Zu den operativen Auffassungen in Frankreich Liss, Westfront, 43 ff., 47 ff., 67 ff. Gamelin, Servir III, 26ff., 18ff. Zur Analyse des Polenfeldzugs Brausch, Sedan, 29ff. Halifax im britischen Kabinett nach Murray, Change, 304 (19. 7. und 22. 8. 1939). Chamberlain über Unvermeidlichkeit des Krieges bei einem Bündnis mit Rußland nach Fleischhauer, Pakt, 161 (3. 5. 1939 vor dem Unterhaus).
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mer die Westmächte taten, sie hätten nur der Sowjetunion in die Hände arbeiten und ihr zu einer Vormachtstellung in Europa, mindestens aber zu einer bedeutenden Machtsteigerung verhelfen können. Da die Westmächte dies nicht wollten, taten sie gar nichts. Polen erlitt damit ein Schicksal, das es wohl in dieser Form nicht verdient hatte, das aber eine direkte Folge der mißratenen Friedensordnung von Versailles war. Vor dem Ersten Weltkrieg war das europäische Gleichgewicht stabil gewesen, bis die Einkreisungspolitik der Entente es aus den Angeln gehoben hatte. Eine neue europäische Ordnung, ein neues Gleichgewicht auf die zwischeneuropäischen Kleinstaaten zu stützen, war von vornherein ein Unding. Deshalb hatte der vormalige britische Premier und spätere Außenminister Balfour schon 1916 befürchtet, ein selbständiges Polen werde keine Festigung des europäischen Gleichgewichts bewirken. Gleichgewichtspolitik ist immer zugleich militärische Machtpolitik, und wenn Deutschland oder Rußland oder beide über diejenige militärische Macht verfügten, welche ihr sonstiges Potential ihnen zu entfalten erlaubte, so konnten die zwischeneuropäischen Staaten ihnen niemals gewachsen sein. Die andere Lösung, nämlich auf die alte Macht- und Gleichgewichtspolitik gänzlich zu verzichten, einen gerechten und befriedigenden Ausgleich zwischen den Völkern herzustellen und die Existenz aller Länder, auch der zwischeneuropäischen Kleinstaaten, auf die Zusammenarbeit in einer organisierten Völkergemeinschaft zu gründen - diese andere Lösung war am Ende des Ersten Weltkriegs verworfen worden. Die Appeasementpolitik versuchte wiederum ein Gleichgewicht herzustellen, aber diesmal ein Gleichgewicht, das nach den klassischen Regeln der Gleichgewichtspolitik auf dem Verhältnis der Großmächte zueinander aufgebaut war. Durch ihren Pakt vom August 1939 ließen Hitler und Stalin dieses Gleichgewicht erst einmal zusammenstürzen und entfesselten den Krieg, doch brachte dies nicht zugleich die Appeasementpolitik an ihr Ende. Polen freilich mußte geopfert werden; ohne Schutz von außen war es zur Selbstbehauptung unter den Großmächten viel zu schwach, und für die Herstellung eines wirklich tragfähigen Gleichgewichts war es belanglos. Aber da Appeasementpolitik nicht bloß eine Politik der Friedenserhaltung darstellte, sondern auf eine bestimmte europäische Ordnung abzielte, bedeutete der Kriegsausbruch nicht auch schon das Ende der Appeasementpolitik. Seit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war es das Ziel der britischen und französischen Regierungen gewesen, Deutschland und Rußland getrennt zu halten, was vor allem in britischen Augen auch so ausgelegt werden konnte, beide gegeneinander auszuspielen oder Rußland durch Deutschland in Schach halten zu lassen. Die letztere Absicht trat immer wieder hervor, beispielsweise meinte der britische Premierminister Baldwin im Jahr 1936, es werde ihm nicht das Herz brechen, falls Hitler sich nach Osten wenden sollte. Wenn in Europa schon gekämpft werden müsse, dann solle das Kämpfen doch von den Bolschewiken und Nazis besorgt werden. Die Appeaser Chamberlain und Halifax in England, Daladier und Bonnet in Frankreich wollten das Kämpfen eigentlich ganz vermeiden, weil es für die europäische Stabilität völlig ausreichte, wenn Deutschland auf friedliche Weise die
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Sowjetunion in Schach hielt. Aber wenn in Europa schon gekämpft werden mußte, dann sollte es jedenfalls kein Kampf zwischen Deutschland und den Westmächten sein, der am Ende nur die Sowjetunion als Triumphator sah. Das war der Grund, warum die Westmächte sich auf einen langen Krieg einrichteten und sich nicht vorzeitig verausgaben wollten. Denn bei einem langen Krieg vermochten sie geraume Zeit zu warten - weniger darauf, daß Deutschland schließlich doch zusammenbrach, denn um die Sowjetunion in Schach zu halten, durfte Deutschland gar nicht zusammenbrechen, als vielmehr darauf, daß sich eine Änderung ergab, welche die Westmächte von der Last befreite, einen Krieg führen zu müssen, aus dem im Grunde nur andere Gewinn ziehen konnten. In diesem Sinn schrieb Chamberlain am 10. September 1939 in einem seiner Privatbriefe, welche seine innersten Gedanken offenbaren: "Ich hoffe nicht auf einen militärischen Sieg - ich bezweifle sehr, daß er möglich wäre -, sondern auf einen Zusammenbruch der deutschen Heimatfront Dazu ist es nötig, die Deutschen davon zu überzeugen, daß sie nicht gewinnen können." Was damit gemeint war, wird im einzelnen noch zu erörtern sein; es ist aber jedenfalls deutlich zu erkennen, daß Deutschland -nicht das Dritte Reich - nach wie vor einen hohen Stellenwert im Gefüge des europäischen Gleichgewichts einnehmen sollte. 10 Deutschland war für das europäische Gleichgewicht wesentlich, nicht Polen. Deswegen verschenkten die Westmächte in strategischer Hinsicht nicht viel, als sie Polen im Stich ließen. In Warschau wiederum scheint man sich an das Prinzip Hoffnung geklammert zu haben. Daß Polen allein der Wehrmacht niemals gewachsen sein konnte, verstand sich von selbst; sofern Polen eine Überlebenschance besaß, vermochte nur ein baldiges Eingreifen der Westmächte das Land zu retten. Ob die polnische Regierung und das polnische Oberkommando unter Marschall RydzSmigly, dem Oberbefehlshaber und starken Mann im Staat, sowie seinem Stabschef Stachiewicz die eigentlich aussichtslose Lage richtig erkannten, ist bis heute undeutlich geblieben. Falls das Oberkommando bei einem Krieg wirklich mit der Niederlage gerechnet hat, wie neuerdings gelegentlich unterstellt wird, müßte die polnische Haltung wohl verstanden werden als die Bereitschaft zum heroischen Untergang, gewissermaßen um ein Zeichen zu setzen für den Selbstbehauptungswillen dieses Staatswesens. Es besteht aber der Verdacht, daß dabei mehrere Dinge unterschlagen werden, um die Opferrolle Polens deutlicher ans Licht zu rücken. Tatsächlich hat sich das polnische Oberkommando stets so verhalten, als ob es den westlichen Hilfsversprechungen Glauben schenke und den Abwehrkampf für erfolgversprechend ansehe; die Irreführung durch London und Paris wurde entweder nicht durchschaut oder verdrängt. Ähnliches gilt für das Verhältnis zur Sowjetunion. Seine Ostgebiete hatte der polnische Staat durch Eroberung erworben; daß Rußland sie eines Tages zurückIO Baldwin 1936 nach Churchili/Gilbert, Churchill V, 777. Chamberlain 1939 nach Feiling, 418. Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, XIV. Allgemein ferner Teil I dieser Untersuchungen.
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fordern würde, war nicht zweifelhaft. In diesem Sinn meinte Graf Lubienski, der Kabinettschef des Außenministers Beck, in Hinblick auf den Hitler-Stalin-Pakt, die Lage werde dadurch nicht wesentlich verändert, da ,,Rapallo", also eine deutsch-russische Interessengemeinschaft, im Grunde immer in Kraft gewesen sei. Die polnische Führung mußte demnach in Betracht ziehen, daß bei einem Krieg gegen Deutschland die Sowjetunion nicht stillsitzen, sondern sich an der Zerschlagung Polens beteiligen werde. Tatsächlich jedoch verhielten sich Regierung und Oberkommando in Warschau auch in diesem Fall so, als ob Polen von seiten Rußlands nichts zu befürchten habe, zumindest nicht demnächst, so daß im Vertrauen auf westliche Unterstützung die Auseinandersetzung mit Deutschland erfolgreich bestanden werden könne. Außenminister Beck und das Oberkommando sollen eine deutsch-russische Verständigung für ausgeschlossen gehalten haben, Pläne für einen Krieg nach zwei Fronten gab es nicht, und das Oberkommando glaubte nahezu alle Truppen gegen Deutschland einsetzen zu können, ohne Rücksicht darauf, daß eine dermaßen entblößte Ostgrenze die russische Begehrlichkeit erst recht anstacheln mußte. Gewiß durfte das polnische Oberkommando nicht erwarten, einem Krieg gegen Deutschland und Rußland zugleich gewachsen zu sein; aber die Konzentration der Kräfte gegen Deutschland läßt doch die Vermutung zu, daß man an dieser Front, im Verein mit den Westmächten, sich zu behaupten hoffte. Wenn dies gelang, und umgekehrt Deutschland im Westen gefesselt wurde, mochte auch die russische Gefahr im Rücken nicht ganz so bedrohlich sein. Wie auch immer, bei nüchterner Betrachtung mußte die politische und militärische Lage Polens bei einem Krieg gegen Deutschland als hoffnungslos gelten, selbst wenn die polnische Führung die Hoffnungslosigkeit nicht erkannt oder sich nicht eingestanden hat. Wiewohl die genauere Betrachtung des Polenfeldzugs eigentlich ein Glasperlenspiel darstellt, da Polen ohnedies nichts zu gewinnen hatte, ist eine kurze Beleuchtung der operativen Pläne und Abläufe doch geboten, um die Annahme zu erhärten, daß die polnische Führung nicht von vornherein die Niederlage erwartet hat. Angesichts der geographischen Lage - das polnische Staatsgebiet wurde im Westen etwa zur Hälfte vom Territorium Deutschlands umklammert sowie von demjenigen der Slowakei, die seit März 1939 dem deutschen Aufmarsch zur Verfügung stand - ergaben sich Kräfteansatz und Zielrichtung eines deutschen Angriffs wie von selbst: Es mußte mit einer Zangenoperation gerechnet werden, einer doppelseitigen Umfassung aus Norden und Süden, welche die beiden Zangenarme in der Mitte Polens, etwa auf der Höhe von Warschau, zusammenführte und so die polnischen Streitkräfte in Westpolen einkesselte. Das war so offenkundig, daß auch das polnische Oberkommando es ohne Mühe erkannte; bestätigt wurde es überdies durch die polnischen Aufklärungsergebnisse. Das OKH hat augenscheinlich nie bezweifelt, daß eine schnelle Vernichtung der polnischen Wehrmacht in Westpolen erreichbar war. Gemäß der Weisung für den "Fall Weiß" vom April 1939 hatte das OKH einen Überraschungsschlag anzustreben und die Operationen so vorzubereiten, daß mit den Verbänden des Friedensheeres angetreten werden konnte, ohne den planmäßigen Aufmarsch des Mobilmachungs- bzw. Kriegsheeres abzuwarten.
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Demzufolge plante das OKH, die sofort verfügbaren motorisierten und infanteristischen Kräfte des Friedensheeres voranzuwerfen und ihnen die anderen, erst bei Eröffnung der Feindseligkeiten mobilgemachten Divisionen folgen zu lassen, um so die polnischen Bodenstreitkräfte zu zerschlagen, noch bevor sie völlig mobilisiert und westlich der Weichsel-Narew-Linie versammelt waren. Nur falls der Gegner vorbereitende Maßnahmen traf, die eine solche blitzartige Überraschung nicht mehr zuließen, sollte der Angriff erst nach dem vollständigen Aufmarsch der deutschen Kräfte beginnen. Als Hitler am 25. August den Angriff für den folgenden Tag befahl, waren im Osten tatsächlich erst 30 Divisionen versammelt. Brauchitsch nahm dies zum Anlaß, dem Diktator eine Verschiebung des Angriffsterrnins zu empfehlen, was nicht bloß den Aufmarsch des ganzen Kriegsheeres ermöglichte, sondern vor allem Hitler noch einmal die Gelegenheit geben sollte, die polnische Angelegenheit friedlich zu regeln. 11 Aus dem Zeitgewinn hätten für Polen einige Vorteile erwachsen können, wenn auch vielleicht keine entscheidenden. Nach gewissen Vorstufen seit März 1939 begann am 23. August die polnische Mobilmachung, wozu ab dem 28. August die Evakuierung von Reservisten aus grenznahen Gebieten gehörte. Polen war also gewarnt und wäre imstande gewesen, seine Verbände im Landesinneren auf Kriegsfuß zu bringen. Dem stand freilich der polnische Operationsplan im Weg. Eine durchlaufende und gleichmäßige Verteidigung an den rund 2 000 km langen Grenzen Polens im Norden, Westen und Süden verbot sich von selbst, erstens weil die Kräfte nicht ausreichten und zweitens weil der deutsche Angriff sowieso schwerpunktmäßig an bestimmten Stellen stattfinden würde. Auf dieser Einsicht baute an sich der polnische Operationsplan auf, der seit 1935 bearbeitet und 1939 noch einmal geändert wurde, ohne daß er bis zum Krieg restlos ausgestaltet werden konnte. Trotzdem zog der Operationsplan aus jener Einsicht keine schlüssigen Folgerungen. Obwohl die Hauptverteidigungslinie weiter rückwärts im Landesinneren liegen sollte, ließ der Operationsplan die polnischen Bodenstreitkräfte in der Masse grenznah aufmarschieren, und zwar so, daß eine Schwerpunktbildung an den entscheidenden Stellen verhindert, die Truppe verzettelt und den deutschen Absichten in die Hände gearbeitet wurde. Die vorgeschobenen Armeen an der Grenze sollten den deutschen Vormarsch aufhalten und anschließend auf die Hauptverteidigungslinie zurückgehen, die nördlich Warschau an den Flüssen Narew und Weichsel verlief, bei Bromberg nach Süden umknickte und dann in Nähe der Grenze zu Oberschlesien sowie zur Slowakei lag. Falls sich die Hauptverteidigungslinie nicht halten ließ, wurde ein weiterer Rückzug ins Landesinnere ins Auge gefaßt. Auf diese Weise hoffte man einige Zeit Widerstand leisten, die Wehrmacht abnützen und das Eingreifen der Westmächte abwarten zu können. Fand die Entlastung im Westen II Lubienski nach dem Tagebuch von Jan Szembek, zit. bei Gram!, Weg, 281. Ferner Zg6rniak, Lage. Gram!, Weg, 188 f., 280 ff. Die Weisung für Fall Weiß bei Hubatsch, Weisungen, 19 ff. Die Zahl der deutschen Divisionen am 25. August nach Müller-Hillebrand II, 17. Brauchitsch am 25. 8. 1939 nach K.-J. Müller, Armee, 395. Allgemein auch MGFA, Weltkrieg II, 79ff. (Beitrag Rohde).
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statt, so hoffte das polnische Oberkommando auf die Möglichkeit zum Gegenangriff sowie zum Vorstoß nach Berlin und Ostpreußen. Dieser Gedanke des Gegenangriffs macht stutzig. Natürlich ist das ein reguläres Mittel der Kriegführung, aber schwerlich für ein Land, das die eigene Niederlage erwartet. Dabei war wohl nicht nur an einen Sieg über Deutschland gedacht, sondern auch an Territorialgewinne, namentlich in Ostpreußen und Schlesien, wo man dasselbe schon nach dem Ersten Weltkrieg erstrebt hatte. Als reinen Verteidigungskrieg hat man in Polen die Auseinandersetzung mit Deutschland anscheinend nicht verstanden; zumindest hat die polnische Exilregierung in London bald nach der Niederlage mit ihren Gebietsforderungen nicht hinter dem Berg gehalten. Von daher wird der polnische Operationsplan mit seinen mancherlei Ungereimtheiten eher verständlich. Der Betrachter gewinnt den Eindruck, daß sich das polnische Oberkommando bei seinen Planungen weniger von einer nüchternen Lageanalyse leiten ließ, die in der Tat wenig Rosiges versprach, als vielmehr von der Hoffnung, im Krieg mit Hilfe der Westmächte Gewinne machen zu können. Gänzlich irrational braucht das nicht gewesen zu sein. Wenn wider bessere Vernunft der Plan glückte, wurde die Kühnheit durch reiche Beute belohnt; glückte er aber, wie zu vermuten, doch nicht, so hatte Polen immerhin seinen Willen zum Widerstand unter Beweis gestellt und damit einen Ansatzpunkt gewonnen, um bei einem späteren Sieg über Deutschland dessen Schicksal mitentscheiden zu dürfen. Die entgangenen Gewinne mochten sich dann doch noch einstellen. Die rein militärischen Schwächen des polnischen Operationsplans erscheinen, so gesehen, in einem anderen Licht. Der Plan bot nur dann Erfolgsaussichten, wenn die Grenzarmeen und Reserven den deutschen Vormarsch tatsächlich aufzuhalten vermochten. Brachen die deutschen Verbände schnell durch, so war der Plan Makulatur. Es lag nun auf der Hand, daß die Wehrmacht eben diesen schnellen Durchbruch anstreben würde. Das polnische Oberkommando mußte sich darauf umso mehr einrichten, je fester es an die wirkungsvolle Unterstützung durch die Westmächte glaubte, weil in diesem Fall die Wehrmacht möglichst schnell ihre Kräfte für den Westen freizumachen hatte. Darüber hinaus war die Wehrmacht an "schnellen" bzw. motorisierten Truppen haushoch überlegen, und gerade diese Truppen waren für einen schnellen Durchbruch besonders geeignet. Ein polnischer Operationsplan, der darauf abzielte, einen schnellen deutschen Durchbruch zu verhindern, hätte völlig anders aussehen müssen als derjenige, nach detn sich das polnische Oberkommando tatsächlich richtete. Will man nicht krasse militärische Unfahigkeit unterstellen, so muß man nach anders gearteten Beweggründen Ausschau halten, selbst wenn es richtig ist, daß im polnischen Oberkommando nicht dieselbe Höhe des fachlichen Könnens wie im deutschen Generalstab erreicht wurde. Eine denkbare Lösung hätte darin bestehen können, den deutschen Zangenangriff in Westpolen gewissermaßen ins Leere stoßen zu lassen, indem die Hauptverteidigungslinie tief ins Landesinnere nach Mittelpolen verlegt wurde. Doch fand dieser Gedanke keine Billigung, obwohl die damit erzielte Frontlinie erheblich kürzer und kräftesparender gewesen wäre, überdies die Gelegenheit bestanden hätte, stär-
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kere Kräfte an der russischen Grenze zu belassen oder sie im Bedarfsfall schnell heranzuziehen. Wesentliche Nachteile hätten sich für Polen aus einem solchen Plan nicht ergeben, denn der gültige Operationsplan stellte ebenfalls die zeitweilige Preisgabe wichtiger Gebiete in Rechnung, darunter des sog. Korridors und des oberschlesischen Industriegebiets; außerdem hätten, nachdem ohnedies vor Kriegsausbruch die Reservisten aus den Grenzgebieten abtransportiert worden waren, die Divisionen im Landesinneren versammelt werden können, ohne von der vorrückenden Wehrmacht gestört zu werden. Allerdings wäre ein solcher Plan ein reiner Verteidigungsplan gewesen; er hätte einen Großteil des polnischen Gebiets kampflos preisgegeben, hätte der Wehrmacht erlaubt, starke Kräfte unverzüglich nach dem Westen zu verlegen und hätte, falls Rußland irgendwann eingriff, den polnischen Zusammenbruch nicht mehr verhindert. Einen solchen reinen Verteidigungsplan wünschte das polnische Oberkommando augenscheinlich nicht; es suchte den Kampf gegen die Wehrmacht in der Nähe der Grenze. Der deutsche Generalstabschef Haider hatte bei seinen Überlegungen wegen eines französischen Großangriffs durch Belgien erwogen, der erdrückenden französischen Überlegenheit an Panzern zu begegnen, indem die Verteidigungslinie im Nordabschnitt an ein Wasserhindernis für Panzer verlegt wurde. In ähnlicher Weise sah der polnische Operationsplan vor, die Hauptverteidigungslinie über weite Strecken an Wasserhindernisse zu legen, nämlich an die Flüsse Narew und Weichsel nördlich von Warschau, die Seen im Netze-Gebiet und die obere Warthe; gegen einen Durchbruch der deutschen Kräfte aus Schlesien sollte überdies eine starke Reserve südlich Warschau bereitstehen. Das Prinzip der Verteidigung gegen eine Panzerüberlegenheit hinter Gewässern war also auch in Polen erkannt worden. Umso merkwürdiger wirkt es, daß erhebliche Teile des polnischen Heeres vor der Hauptverteidigungslinie aufmarschierten, darunter allein zwei Armeen in Posen und Westpreußen, d. h. in Gebieten, die für die Verteidigung des polnischen Gesamtstaates belanglos waren und gemäß Operationsplan gar nicht gehalten werden sollten. Die Armee in Posen hing sozusagen in der Luft, weil die deutsche Seite dort nicht angreifen wollte, und was die Armee in Westpreußen betrifft, so lag es zwar auf der Hand, daß ein deutscher Angriff hier die Landverbindung nach Ostpreußen herstellen sollte, aber zur Abwehr dieses Angriffs war die eine Armee zu schwach. Man möchte annehmen, daß eine Konzentration der polnischen Kräfte vor den Hauptstoßrichtungen des deutschen Zangenangriffs nördlich sowie südwestlich von Warschau, möglichst hinter Wasserhindemissen, das passende Rezept für die Verteidigung dargestellt hätte. Warum das polnische Oberkommando sich nicht daran hielt, bleibt undeutlich. Während die vorgesehene Hauptverteidigungslinie hinter Wasserhindernissen auf die Absicht zu einer eher statischen Verteidigung hindeutet, lassen die grenznahe Aufstellung der Armeen und die geplanten operativen Gegenstöße die Absicht zur beweglichen Verteidigung vermuten. Wenn hier nicht einfach mangelndes planerisches Vermögen am Werk war, so wird sich der merkwürdige Zwiespalt vielleicht daraus erklären, daß das polnische Oberkommando einen reinen Verteidigungsplan, eine bloß statische Verteidigung hinter
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Wasserhindernissen eben nicht wünschte, weder weiter rückwärts in Mittelpolen hinter Narew, mittlerer Weichsel und San, noch weiter vorwärts hinter Narew, unterer Weichsel und oberer Warthe. Statt dessen ließ sich die polnische Führung auf das Risiko ein, der beweglichen deutschen Kriegführung selbst mit dem Versuch zu beweglicher Abwehr entgegenzutreten, wohl in der Hoffnung, dann eine bessere Chance zur Abnützung der deutschen Verbände und zum Gegenschlag zu haben. Gänzlich unüberlegt muß das wiederum nicht gewesen sein; denn kurzfristig bot die straffe Zusammenfassung der Kräfte in einer statischen Verteidigungslinie zwar bessere Abwehraussichten, aber bei einem Eingreifen der Sowjetunion war sie längerfristig nutzlos. Wenn es dagegen wider Erwarten den polnischen Streitkräften gelang, in beweglicher Abwehr vor der Hauptverteidigungslinie, in ihr und notfalls auch hinter ihr der Wehrmacht empfindliche Verluste, vielleicht sogar eine Niederlage beizubringen, dann würde die Sowjetunion wohl eher geneigt sein, sich den Angriff auf Polen noch einmal zu überlegen. 12 Tatsächlich jedoch waren die polnischen Streitkräfte der Wehrmacht im Bewegungskrieg hoffnungslos unterlegen. Die deutsche Seite verfügte am 1. September, nachdem am 26. August die nichtöffentliche Mobilmachung ausgelöst worden war, über rund 54 Divisionen und 1,5 Millionen Mann des Heeres sowie knapp 2 000 Flugzeuge. Das polnische Heer sollte im Mobilmachungsfall über 50 Divisionen und ähnliche Verbände umfassen, darunter 39 lnfanteriedivisionen, 11 Kavalleriebrigaden und ein bis zwei Panzerbrigaden, zusammen etwa 1,5 Millionen Mann; dazu kamen rund 400 neuere Flugzeuge. Doch war Polen mit der Mobilisierung seines Kriegsheeres in Verzug geraten; nachdem in der letzten Augustwoche etwa drei Viertel der Verbände alarmiert worden waren, wurde die allgemeine Mobilmachung, um die Kriegsgefahr nicht zu verschärfen, erst ab 31. August wirksam. Bei Kriegsbeginn waren deshalb zwar die Grenzarmeen mit der Masse ihrer Verbände versammelt, aber der Aufmarsch war nicht abgeschlossen und die operativen Reserven mußten erst bereitgestellt werden. Augenscheinlich lagen zudem Schwächen in der Planung wie Durchführung des Aufmarsches vor, die der deutschen Absicht entgegenkamen, der geordneten Mobilmachung und Versammlung des polnischen Heeres zuvorzukommen. So war die vorgeschobene und im Grunde nutzlose polnische Armee bei Posen am 1. September zwar fast vollzählig aufmarschiert, dagegen fehlten den beiden polnischen Armeen, die den deutschen Schwerpunktangriff aus Schlesien abwehren sollten, ein Viertel bzw. über ein Drittel ihrer infanteristischen Stärke, und die Hauptreserve südlich Warschau war einstweilen nur ein Torso. Schon die an sich vorhandenen Kräfte brachte also das polnische Oberkommando nicht rechtzeitig und nicht an den richtigen Stellen heran. Führungsfehler solcher Art verschärften noch die ohnedies bestehende Unterlegenheit der polnischen Truppen. Den 15 vollmotorisierten deutschen Divisionen mit rund 2 600 Panzern standen auf polnischer Seite lediglich eine einsatzbereite und eine unferti12 Zur polnischen Planung Roos, Lage. Th. Schieder, Europäische Geschichte 7/11, 1022 f. Zu den polnischen Gebietsforderungen s.u. Allgemein auch MGFA, Weltkrieg II, 104ff. (Beitrag Rohde).
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ge Panzerbrigade gegenüber, die aber bloß einen kleinen Teil der insgesamt etwa 600 Panzer besaßen, während die übrigen auf andere Verbände aufgeteilt waren. Beim Bewegungskrieg im freien Feld waren die polnischen Verbände den deutschen Divisionen nirgendwo gewachsen, zumal auch die Ausstattung der polnischen Infanteriedivisionen mit Waffen und Gerät hinter derjenigen der deutschen Infanteriedivisionen zurückblieb und die polnischen Kavalleriebrigaden zwar sehr beweglich, aber nur unter besonderen Umständen noch nutzbringend zu verwenden waren; einem Gegner mit hoher Feuerkraft mußten sie in offenem Gelände besser aus dem Weg gehen. Es kam hinzu, daß die deutsche Luftwaffe bereits am ersten Tag große Teile der polnischen Fliegerverbände am Boden zerschlug und die Luftherrschaft errang. In der Folge zerstörte die Luftwaffe die polnischen Nachrichtenverbindungen und machte damit eine geordnete Führung weithin unmöglich; sie behinderte oder unterband das Heranführen von Nachschub sowie Reserven und trug durch taktische Erdkampfunterstützung dazu bei, den deutschen Vormarsch in Fluß zu halten. Unter diesen Umständen konnte der polnische Zusammenbruch nur eine Frage der Zeit sein. In der deutschen Zangenoperation, wie Generalstabschef Haider sie geplant hatte, lag der Schwerpunkt bei der aus Schlesien vorbrechenden Heeresgruppe Süd (Generaloberst Rundstedt), wobei die 10. Armee unter General Reichenau, die überwiegend aus schnellen Verbänden bestand, an die Weichsel beiderseits Warschau vorstoßen sollte, während die 14. Armee ihre rechte und die 8. Armee ihre linke Flanke zu decken hatte. Die 10. Armee, die beiderseits Tschenstochau angriff, stieß mit ihrem stärksten motorisierten Korps auf die Naht zwischen den beiden gegenüberstehenden polnischen Armeen. Bis zum 3. September wurde die bei Tschenstochau verteidigende polnische Infanteriedivision vernichtet, die polnische Hauptverteidigungslinie durchbrachen. Die polnische Hauptreserve südlich Warschau, noch in der Versammlung begriffen, war nur zu schwachen örtlichen Gegenstößen in der Lage, die ohne Mühe abgewiesen wurden, so daß die 10. deutsche Armee bis zum 5./6. September zwischen den beiden polnischen Südarmeen eine rund 100 km breite Lücke aufgerissen und den halben Weg nach Warschau zurückgelegt hatte. Dem polnischen Oberkommando wurde zu dieser Zeit klar, daß der Feldzug operativ verloren war, so daß Rydz-Smigly am Abend des 5. September den Befehl zum Rückzug aller Armeen hinter die Weichsel gab. Der nördliche deutsche Zangenarm, die Heeresgruppe Nord (Generaloberst Bock) mit der 4. Armee in Pommern und der 3. Armee in Ostpreußen, hatte die doppelte Aufgabe, die Verbindung durch den Korridor herzustellen und in Richtung Warschau vorzustoßen, um dort den Einschließungsring zu vollenden. Zwischen den beiden Zangenarmen, an der deutschen Grenze gegenüber der polnischen Armee um Posen, standen nur schwache Grenzsicherungen. Das wirkt ungewöhnlich, war aber in Halders Augen nicht sonderlich kühn, da er erwartete, der Druck der beiden Zangenarme werde sich sehr schnell bemerkbar machen und die Armee Posen daran hindern, offensiv nach Westen, in Richtung auf Berlin, zu operieren. Ob das polnische Oberkommando derartige Pläne hegte, ist nicht klar er-
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kennbar. Die Armee Posen hatte zunächst nur den Auftrag, die Flügel der Nachbararmeen abzusichern und, falls nötig, auf die Hauptverteidigungslinie zurückzugehen. Merkwürdigerweise wurde sie aber in den ersten Septembertagen nicht gegen den linken Flügel der deutschen Heeresgruppe Süd angesetzt, obwohl dies in der Logik einer beweglichen Verteidigung gelegen wäre und von ihrem Oberbefehlshaber mehrfach beantragt wurde. Wenn hier nicht wiederum fachliches Unvermögen des polnischen Oberkommandos maßgeblich war, ließe sich vielleicht die Absicht vermuten, diese Armee doch für einen Angriff in Richtung Westen aufzusparen. Wie dem auch sei, bei der deutschen Heeresgruppe Nord stieß die 4. Armee mit einem motorisierten Korps bis zum 3./4. September an die untere Weichsel bei Kulm und Graudenz vor und stellte die Landverbindung nach Ostpreußen her. Die 3. Armee drängte bis zum 6. September die polnischen Kräfte nördlich Warschau auf die Hauptverteidigungslinie am Narew zurück. Unterdessen wurde das motorisierte Korps der 4. Armee zusammen mit anderen Verbänden an den linken Flügel der 3. Armee in Ostpreußen verlegt. Wie Haider sich später erinnerte, zeigte der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Bock, vom Beginn an eine Neigung zum, wie Haider sagte, "Horizontschleichen", d. h. zu einer Ausweitung des Einschließungsringes durch eine sehr großräumige Zangenbewegung, sozusagen am Horizont entlang. Während das OKH die Vereinigung der beiden Heeresgruppen nahe Warschau auf dem östlichen Weichselufer anstrebte, suchte Bock den Kessel weiter östlich bei Brest-Litowsk zu schließen, teils um eine Flankenbedrohung durch polnische Kräfte aus Ostpolen auszuschalten und teils um polnische Kräfte abzufangen, die sich aus Westpolen zurückzogen. Im Sinne seiner Operationsidee wünschte das OKH um den 5./6. September, die 4. Armee habe entlang der Weichsel auf Warschau vorzugehen, während die 3. Armee eine weit ausholende Bewegung ihres Ostflügels vermeiden und den Angriff in Richtung Warschau-Siedlce (ein Ort ungefähr in der Mitte zwischen Warschau und Brest-Litowsk) vortragen sollte. Das OKH ging dabei von der Erwartung aus, der Großteil der polnischen Kräfte könne westlich der Weichsel geschlagen werden. Doch erkannte das OKH richtig, daß der Gegner im Begriff war, hinter die Weichsel zurückzugehen. Um die Errichtung einer Weichselverteidigung von vornherein aus den Angeln zu heben und diejenigen polnischen Truppenteile abzufangen, die westlich der Weichsel nicht mehr gefaßt werden konnten, sollten die entkommenen Reste des polnischen Heeres ostwärts der Weichsel umfaßt werden. Dem diente einerseits der Stoß der 3. Armee in Richtung Warschau-Siedlce, andererseits eine entsprechende Operation der Heeresgruppe Süd. Dort hatte zu Beginn des Feldzugs die 14. Armee am rechten Flügel eine Zangenbewegung aus Oberschlesien und der Slowakei gegen Krakau angesetzt, der sich die hier verteidigende polnische Armee nur mit Mühe entziehen konnte. Als sich um den 5. September der Zusammenbruch der polnischen Südfront abzeichnete, erhielt die 14. Armee den Auftrag, über den San auf Lublin ostwärts der Weichsel vorzustoßen, um dort mit schnellen Kräften die entkommenen polnischen Truppenteile zu umfassen. Hierbei sollte sie von der 10. Armee unterstützt werden, so daß sich
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beide Heeresgruppen nahe östlich Warschau vereinigt hätten. Tatsächlich jedoch entwickelte sich daraus eine zweite, weiträumige Einschließung am Bug etwa bei Brest-Litowsk. Für ein Zerschlagen der polnischen Hauptstreitmacht westlich der Weichsel ergaben sich zwei Hindernisse. Während Panzerspitzen der im Schwerpunkt eingesetzten 10. Armee am 8. September vor Warschau erschienen und nicht weit davon einen Brückenkopf über die Weichsel bildeten, sammelten sich weiter südlich im Weichselbogen um Radom starke polnische Teile, die von der 10. Armee geschlagen worden waren. Zugleich ballten sich westlich von Warschau bis in den Raum um Kutno die Armee Posen, die bislang kaum im Kampf gestanden hatte, sowie die Reste der polnischen Armeen, die aus Westpreußen und dem Raum um Lodz zurückgedrängt worden waren. Die Feindgruppe westlich Warschau war nach Auffassung Halders und des OKH zweifellos die wichtigere; sie noch westlich der Weichsel einzukreisen und zu vernichten, bot die Aussicht, den Feldzug noch westlich der Weichsel zur Entscheidung zu bringen. Das eine der beiden Hindernisse für diese Absicht entstand bei der Heeresgruppe Süd, die den Auftrag erhielt, mit Teilen der 10. Armee von Süden her und westlich von Warschau den Kessel um die Kutno-Gruppe zu schließen. Nach Halders Erinnerung zeigte allerdings der Generalstabschef der Heeresgruppe Süd, Manstein, daran zunächst kein Interesse, sondern wollte, wie Haider sich ausdrückte, eine Privatschlacht der Heeresgruppe Süd um Radom in aller Behaglichkeit zu Ende führen. Erst als Haider dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Rundstedt, persönlich telefonisch ankündigte, daß innerhalb von 24 Stunden Manstein entfernt würde, wenn die Heeresgruppe sich nicht bequemte, den Anordnungen des OKH Genüge zu tun, fand Manstein, dessen fachliche Fähigkeiten von Haider durchaus geschätzt wurden, die Lösung. Die Radom-Gruppe wurde westlich der Weichsel eingekesselt und bis zum 11. September mit mindestens 60 000 Mann zur Kapitulation gezwungen, während andere Teile der 10. Armee nach Westen gegen die Kutno-Gruppe eindrehten, um dort die Schlacht mit verkehrter Front zu schlagen. Das zweite Hindernis konnte dagegen nicht überwunden werden. Es bestand darin, daß die Heeresgruppe Nord ihren Schwerpunktangriff in den Raum östlich Warschau richtete, wogegen der direkte Vorstoß in den Warschauer Raum der 4. Armee verblieb, die aber nur noch über zwei Infanteriekorps verfügte und deshalb für einen schnellen Erfolg zu schwach war. Das war der Grund, weshalb das eine Korps, das nördlich der Weichsel vorging, erst am 11. September nach Modlin nördlich Warschau gelangte, ohne es einzunehmen, so daß der Rückzugsweg für polnische Truppen aus Westpolen in den Warschauer Raum und weiter östlich geraume Zeit offenblieb. Jene Schwäche der 4. Armee war ferner der Grund, weshalb das Korps auf dem Südufer der Weichsel die beiden polnischen Armeen, die aus Posen und Westpreußen zurückgingen, weder binden noch mit hinreichendem Nachdruck verfolgen konnte. Diese Kräfte, die sich in der Gruppe Kutno zusammenballten, griffen ab 9. September die 8. Armee am linken Flügel der Heeresgruppe Süd in der Flanke an, um den deutschen Vorstoß nach Warschau aufzuhalten. Zwar konnte die Krise in der
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Schlacht an der Bzura bereinigt werden, doch wäre die Krise in dieser Form gar nicht aufgetreten, wenn die Heeresgruppe Nord ihre Kräfte anders verteilt sowie rechtzeitig und mit ausreichender Stärke den Raum um Modlin-Warschau gewonnen hätte. Trotz dieser Schwierigkeiten gelang das Einkesseln der verbliebenen polnischen Hauptstreitmacht bei Kutno bzw. an der Bzura durch Divisionen der 8., 10. und 4. Armee. Bis zum Abschluß der Kämpfe am 19. September verlor das polnische Heer mindestens 170 000 Mann von 19 Divisionen und drei Kavalleriebrigaden. Unterdessen hatte das OKH am 9. September, anscheinend auf Wunsch des Oberbefehlshabers Brauchitsch, die Zangenbewegung beider Heeresgruppen nun doch nach Osten ausgeweitet, indem Bock und Rundstedt die Weisung erhielten, mit schnellen Truppen bis an den Bug oder bei Bedarf sogar darüber hinaus vorzustoßen. Bis zum 17. September eroberte die Heeresgruppe Nord Brest-Litowsk und stellte etwa zur selben Zeit weiter südlich am Bug die Verbindung zur Heeresgruppe Süd her. Einem weiteren deutschen Vordringen nach Osten, das bereits eingeleitet war, wurde jedoch ab dem 17. September ein Riegel vorgeschoben, als die Rote Armee Sowjetrußlands in Polen einmarschierte. Die deutschen Truppen mußten nun zunächst auf die Demarkationslinie zurückgenommen werden, die im HitlerStalin-Pakt am 23. August vereinbart worden war, d. h. auf die Narew-WeichselSan-Linie. Warschau, das Hitler aus politischen Gründen rasch erobert sehen wollte, fiel am 28. September. Der Krieg war damit im wesentlichen abgeschlossen; da er nicht formell erklärt worden war, gab es auch keine formellen Verhandlungen zu seiner Beendigung. Die beiderseitigen Verluste bestätigten, ungeachtet persönlicher Tapferkeit der polnischen Soldaten, die Überlegenheit von Truppe, Ausrüstung und Führung auf deutscher Seite: Während Polen rund 70 000 Gefallene und 133 000 Verwundete zu beklagen hatte, dazu 700 000 Gefangene, waren es bei der Wehrmacht bloß 11 000 Tote, 3 000 Vermißte und 30 000 Verwundete, im Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg geringe Zahlen. Über 200 000 polnische Soldaten gerieten in russische Gefangenschaft, rund 100 000 weitere entkamen über die Grenzen zu Ungarn und Rumänien, von wo aus sie nach Frankreich und England gelangten und einer polnischen Exilregierung zur Verfügung standen, die am 30. September unter General Sikorski in Frankreich errichtet wurde. Nach der Niederlage Frankreichs nahm die polnische Exilregierung, fortan in London, mit ihrer Exilarmee, fortan unter britischem Oberbefehl, weiterhin am Krieg teil. 13
13 Zum Polen-Feldzug Elble, Bzura, mit einem Brief Halders vom 5. 5. 1955 über die operative Anlage, 233 ff. und passim. Ferner Halder, KTB I, 66 und passim. Roos, Feldzug. Vormann, passim. Manstein, Siege, 24ff. MGFA, Weltkrieg II, 111 ff., 133 (Beitrag Rohde). Dahms, 101 ff.
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Die sog. Appeasement-Politik, wie sie von der britischen und dann auch der französischen Regierung in den Jahren vor dem Krieg betrieben worden war, hatte dem Zweck gedient, in Europa ein neues, natürliches und stabiles Gleichgewicht unter den Großmächten herzustellen. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 wurde nicht nur die Voraussetzung geschaffen, um den Krieg zu entfesseln. Sondern es wurde darüber hinaus das europäische Gleichgewicht zerstört und weltweit das Verhältnis der Mächte umgestürzt. Nach der allmählichen Auflösung der Versailler Ordnung hatte es in den Jahren vor dem Krieg immerhin so scheinen können, als sei eine neue Staatenordnung im Weltmaßstab erreichbar - eine Ordnung, die zwar auf herkömmlicher Macht- und Gleichgewichtspolitik beruhte und in welcher selbst die begrenzte Anwendung militärischer Gewalt zulässig war, aber doch eine Ordnung, welche weder die Existenz noch die selbständige Rolle der herkömmlichen Großmächte bedrohte und schon vollends nicht den Rest der Welt unter den Willen eines einzigen Landes oder einiger weniger Länder beugte. In der Weltordnung, wie sie sich in den Jahren vor dem Krieg abzuzeichnen schien, wurde die Sowjetunion, der man ein Festhalten am Gedanken der kommunistischen Weltrevolution jederzeit zutrauen durfte, in Schach gehalten von Deutschland und Japan. Amerika, durch den Isolationismus gelähmt, war auf eine Vormachtstellung in seiner eigenen Hemisphäre zurückgeworfen und einstweilen außerstande, die Idee Wilsons von einer Weltführungsrolle der USA zu verwirklichen. Die Länder, die man als Habenichtse zu bezeichnen pflegte, also Japan, Deutschland und Italien, brauchten die Weltordnung so lange nicht zu gefährden, wie sie sich auf die Errichtung regional begrenzter Einflußzonen in Ostasien, Mitteleuropa und im Mittelmeerraum beschränkten. Eine tragfähige Weltordnung, gegründet auf das Gleichgewichtsdenken, stürzte nicht zusammen, wenn Japan chinesische Gebietsteile eroberte, und noch weniger, wenn Deutschland den Anschluß Österreichs vollzog oder zwischeneuropäische Kleinstaaten unter seinen Einfluß brachte. Dagegen stürzte eine solche Weltordnung sehr wohl zusammen, wenn das nationalsozialistische Deutschland sich anschickte, nach einer rassisch betimmten Weltherrschaft zu greifen, wenn die Sowjetunion Gelegenheit erhielt, die kommunistische Weltrevolution ins Auge zu fassen, und wenn die USA in die Lage versetzt wurden, in die Kämpfe anderer Mächte einzugreifen, um am Ende eine eigene Welthegemonie zu errichten. All dies wurde auf einen Schlag in die Wege geleitet, als Hitler und Stalin ihren Pakt abschlossen. Dieser Pakt, nicht der Kriegsausbruch, war deshalb der eigentliche Wendepunkt in den Beziehungen der Mächte untereinander. Japan, das 1937 ohne Vorsatz und eher zufällig in den (unerklärten) Krieg mit China hineingeglitten war, unternahm über die Jahre hinweg immer wieder den Versuch, zum Frieden mit der nationalchinesischen Regierung unt~r Tschiang Kaischek zu gelangen. Leitend war dabei die Vorstellung, die in einer Erklärung des
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japanischen Ministerpräsidenten Konoye vom 3. November 1938 über die Errichtung einerneuen Ordnung in Ostasien zum Ausdruck kam: Japan, sein Satellitenstaat Mandschukuo in Nordchina sowie China selbst sollten politisch, wirtschaftlich und kulturell zusammenarbeiten, um das gemeinsame Wohl gegen ausländische Überfremdung zu sichern und insbesondere den Kommunismus gemeinsam zu bekämpfen. Strategisch und politisch verbarg sich dahinter die Absicht, einen japanischen Hegemonialraum in Ostasien zu schaffen, der das kontinentale Vorfeld Japans, also hauptsächlich das nördliche China, gegen die Sowjetunion abschirmte und zugleich die wirtschaftliche Abhängigkeit Japans von den westlichen Industrieländern minderte, indem Japan sich Rohstoffquellen und Absatzmärkte sicherte. Der Friede mit China scheiterte jedoch an der Unvereinbarkeit der Standpunkte. Einen Abzug der japanischen Truppen und die Herstellung voller Souveränität Chinas, wie Tschiang Kai-schek es forderte, wollte Tokio gerade nicht zugestehen, so daß Tschiang Kai-schek den bewaffneten Widerstand fortsetzte in der Erwartung, von anderen Ländern, namentlich Amerika, unterstützt zu werden und auf die Dauer am längeren Hebelarm zu sitzen. In der Tat versteifte sich die amerikanische Haltung allmählich, von eher symbolischen Maßnahmen. wie der Gewährung eines kleinen Kredits an Tschiang Kai-schek 1938 über einen geharnischten Protest gegen Konoyes ,,Neue Ordnung" bis zur Ankündigung im Juli 1939, den seit 1911 bestehenden Handelsvertrag mit Japan demnächst auslaufen zu lassen, was für den japanischen Außenhandel, trotz der zunehmenden Verlagerung in den ostasiatischen Yen-Block, einen Schlag bedeutet hätte, den die Wirtschaft des Kaiserreichs nicht verkraften konnte. Allerdings folgten den Worten vorerst keine Taten, so daß Tokio sich durch die USA ebensowenig aufgehalten sah wie durch die europäischen Appeaser, die noch weniger fähig und willens waren, Japan nachdrücklich entgegenzutreten. Ihr Handeln beschränkte sich auf Nachgeben, bis hin zu einem britisch-japanischen Abkommen vom Juli 1939, das die besonderen Bedürfnisse und Befugnisse Japans in China anerkannte. Hierfür gab es mehrere Gründe. Der führende nationalchinesische Politiker Wang Tsching-wei, der zum Frieden mit Japan bereit war, begründete dies mit dem Argument, China sei in Gefahr, zu einer Provinz der Sowjetunion zu werden. Die chinesischen Kommunisten, zu dieser Zeit bereits von ansehnlicher Stärke, kämpften nicht für China, sondern für Moskau, von dem sie ihre Anweisungen erhielten. Gewiß war Wang Tsching-wei ein Abtrünniger, der 1940 an die Spitze einer japanischen Marionettenregierung in Nanking trat. Aber seine Lageanalyse war nicht ohne Weitblick, wenn man bedenkt, daß nach Japans Niederlage im Krieg die Kommunisten in China an die Macht gelangten und ihr Land dem Sowjetblock angliederten. Mit seiner Ausdehnungspolitik in China hielt Japan zugleich die Sowjetunion in Schach, die ebenso wie Jahrzehnte früher das zaristische Rußland bereit stand, den eigenen Einfluß nach China hinein auszudehnen, sobald die Umstände es gestatteten. Westlichen Diplomaten war das vollauf bewußt. Der amerikanische Botschafter in Tokio und mehrmalige Unterstaatssekretär Grew wurde nicht müde, auf das Hindernis hinzuweisen, welches Japan für die Ausbreitung des
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Kommunismus darstellte. Andere Berater Roosevelts hielten einen Schutz Chinas vor russischer Herrschaft für wesentlich dringlicher als vor japanischer. Für die Westmächte war es daher vorderhand wenig zweckmäßig, das japanische Bollwerk, welches dem russischen Ausdehnungsdrang im Weg stand, zu schleifen; man hätte dadurch nur die Aussicht gewonnen, das eine Übel gegen ein anderes, vielleicht noch größeres, einzutauschen. Es kam hinzu, daß die Appeaser, gefesselt in Europa, nicht über die Mittel verfügten, zugleich in Ostasien sich zu binden; während die USA eine riskante Außenpolitik scheuten, solange der Isolationismus noch die vorherrschende Stimmung der Öffentlichkeit war und das Verhältnis zwischen Japan einerseits, Deutschland und Rußland andererseits noch Raum für unliebsame Überraschungen bot. Die strategische Situation des Hitler-Stalin-Pakts in Europa, wo die Sowjetunion den Krieg Deutschlands gegen die Westmächte mittelbar förderte, etwa durch Rohstofflieferungen, mochte sich in Asien ebenso einstellen, so daß Stalin an der einen oder anderen Stelle oder gar an beiden das Ziel erreicht hätte, die kapitalistischen Mächte gegeneinander zu treiben, um aus ihrer Erschöpfung dann Gewinn zu schlagen. So empfahl es sich für die USA, erst einmal abzuwarten und eine Politik gegenüber Japan, die den Krieg nach sich ziehen konnte oder mußte, zu vermeiden, solange das Verhältnis der Mächte noch im Fluß war und triftige Gründe für ein Eingreifen nicht vorlagen. Angesichts dieser Umstände erhielt Tokio einen beträchtlichen außenpolitischen Bewegungsspielraum. Allerdings wollten die leitenden Staatsmänner gegenüber den Westmächten den Bogen einstweilen nicht überspannen, sondern sich auf die nächstliegende Gefahr, die russische, konzentrieren. Hierzu bestand Grund, denn an den Grenzen der Mandschurei kam es in den Jahren bis 1939 fortwährend zu größeren oder kleineren Gefechten mit den Streitkräften der Sowjetunion, die 1936 einen Beistandspakt mit der Mongolei, 1937 einen Nichtangriffsvertrag mit China abgeschlossen hatte und im Begriff war, sich in der chinesischen Grenzregion Sinkiang festzusetzen. Bis 1939 erreichte die sowjetische Fernostarmee eine Stärke von 32 Divisionen sowie jeweils über 2 000 Panzern und Flugzeugen, womit sie den japanischen Streitkräften, die zugleich in China gebunden blieben, mindestens gewachsen war. Im japanischen Außenministerium vertrat man 1939 die Meinung, selbst wenn Japan eines Tages darangehen sollte, England und Frankreich aus Asien zu vertreiben, d. h. ihre kolonialen Besitzungen sich nutzbar zu machen, so sei doch jetzt die Zeit noch nicht reif dafür. Vielmehr müsse Japan sich zuerst mit der sowjetischen Drohung im Norden befassen. Hierfür müsse es Unterstützung suchen, aber nicht im Sinne einer einseitigen Bindung, welche die Westmächte vor den Kopf stoße, sondern in der Weise, daß die europäischen Mächte benützt würden, um Japans Stellung in Asien zu verbessern. Als Bündnispartner bot sich natürlich Deutschland an, mit dem ohnedies seit 1936 der Anti-Komintern-Pakt bestand, worin die Vertragsparteien eine Abstimmung ihres Verhaltens gegenüber Rußland vereinbart hatten. Seit 1938 versuchten Hitler und sein Außenminister Ribbentrop, den Anti-Komintern-Pakt zu einem regelrechten Dreierbündnis zwischen Deutschland, Japan und Italien auszubauen, einem Bündnis, das sich nicht 4 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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bloß gegen Rußland, sondern ebenso gegen England und Frankreich richtete. Eben dies lehnte Tokio jedoch ab, wiewohl es in der japanischen Führung vereinzelt eine Neigung gab, darauf einzugehen. Die japanische Regierung stellte sich mehrheitlich auf den Standpunkt, durch ein derartiges Bündnis verfeinde man sich mit allen übrigen Mächten auf einmal, also mit der Sowjetunion, England, Frankreich und den USA. Es sei aber wesentlich geschickter, eine klare Frontstellung nur gegen Rußland zu beziehen und gegenüber den Westmächten beweglich zu bleiben. Das war klug gedacht, denn mit einer solchen Politik ordnete Japan sich tatsächlich in eine auf dem Gleichgewicht beruhende Weltordnung ein: Es konnte zusammen mit Deutschland eine Art Wächterrolle gegenüber Rußland spielen und umgekehrt dami:t rechnen, die Westmächte würden seine ostasiatische Hegemonialpolitik dulden, solange dadurch nicht die Westmächte selbst unmittelbar gefahrdet wurden. Den Sinn der Appeasementpolitik hatte Tokio damit genau erkannt. Nicht umsonst hatte der britische Lordsiegelbewahrer und spätere Außenminister Hallfax in seinem Gespräch mit Hitler Ende 1937 erklärt, Britannien betrachte das Deutsche Reich als Bollwerk gegen den Bolschewismus. Für Japan galt ähnliches, und eben dadurch erhielten beide Länder Spielraum für eine begrenzte Hegemonialpolitik. Der Hitler-Stalin-Pakt machte solchen Erwägungen ein Ende. Die Dreierallianz zwischen Deutschland, Japan und Italien, die nach dem Willen Hitlers und Ribbentrops die Westmächte in Ostasien und im Mittelmeer binden sollte, scheiterte an der Weigerung Tokios, sich in einen möglichen Krieg mit den Westmächten hineinziehen zu lassen. Daß Hitler sich statt dessen mit Stalin einigen könnte, hat man in Tokio offenbar nicht erwartet, erstens weil der Anti-Komintern-Pakt derartige Abmachungen ohne Befragen des Partners ausschloß und zweitens, weil es eigentlich ganz überflüssig wai, das Gleichgewicht Europas und der Welt durch eine deutschrussische Übereinkunft durcheinanderzubringen, um territoriale Revisionsziele zu erreichen. Unterdessen entwickelte sich an der mandschurisch-mongolischen Grenze bei Nomonhan seit dem Frühjahr 1939 eine Serie von Kämpfen zwischen japanischen und sowjetischen Truppen, bei denen die Japaner zunächst im Mai eine Schlappe und dann im August eine böse Niederlage erlitten, als ihnen motorisierte und gepanzerte Verbände der Roten Armee unter General Schukow eine Lehre im modernen Bewegungskrieg erteilten. Das später gern verbreitete Gerücht, die Rote Armee sei durch Stalins Säuberungen weitgehend untauglich geworden, erwies sich schon hier als unzutreffend; sie war zwar in ihrer Leistungsfahigkeit beeinträchtigt, gehörte aber auf Grund ihrer Materialausstattung immer noch zu den stärksten Streitkräften der Welt. Der deutsch-russische Nichtangriffsvertrag vom 23. August, in Verbindung mit der Niederlage von Nomonhan, löste in Tokio geradezu einen Schock aus und führte zum Rücktritt der Regierung. Für Japan waren die Säulen seiner bisherigen Außenpolitik weggebrochen: Von Deutschland gewissermaßen verraten und der russischen Gefahr nunmehr allein ausgesetzt, vermochte Tokio nicht mehr im Rahmen eines Weltgleichgewichts seinen ostasiatischen Hegemonialraum zu sichern.
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Während der Krieg in China einen großen Teil des japanischen Heeres fesselte und Kräfte des Mutterlandes verbrauchte, hatte die Sowjetunion in Europa Rückenfreiheitgewonnen und konnte gegen Japan ein militärisches Potential entfalten, dem das Kaiserreich, wie Nomonhan bewies, schwerlich gewachsen war. Es kam hinzu, daß Japan, um seine Wirtschaft in Gang zu halten und überhaupt verteidigungsfähig zu sein, in fast unerträglichem Ausmaß auf Amerika angewiesen war: 1938/39 lieferten die USA 60% der Werkzeugmaschinen und den Löwenanteil bestimmter strategischer Rohstoffe, so insbesondere 80% des Öls. Japan war nun, ohne nennenswerte Unterstützung von anderer Seite, zwischen Rußland und Amerika eingeklemmt. Schon mit den amerikanischen Lieferungen durfte Japan nicht hoffen, zugleich China halten und einem russischen Angriff gewachsen zu sein; wenn obendrein die amerikanischen Lieferungen entfielen, wie nach der Kündigung des Handelsvertrags zu befürchten, dann mußte das Kaiserreich darauf gefaßt sein, in absehbarer Zeit als ostasiatische Großmacht von der Bildfläche zu verschwinden. Aus dieser mißlichen Lage gab es offenbar nur zwei Auswege, die beide, nachdem am 15. September eilends ein Waffenstillstand mit der Roten Armee vereinbart worden war, in japanischen Führungskreisen die Gedanken betimmten. Der eine Ausweg bestand in einer Kehrtwendung, ähnlich wie Hitler sie bei seinem Pakt mit Stalin vollzogen hatte, d. h. in einer Beilegung der Gegensätze zur Sowjetunion, was am Ende darauf hinauslaufen konnte, sich mit Deutschland, Rußland und Italien zusammenzuschließen, um gegen die Westmächte die gesamte eurasische Landmasse neu zu ordnen. Allerdings barg dies die Gefahr in sich, daß Deutschland und Japan die Speerspitze im Kampf gegen die Westmächte bildeten, während undeutlich blieb, inwieweit Rußland, im Rücken der Kämpfenden, Vertrauen verdiente. Diese Lösung verharrte einstweilen im Stadium des Gedankenspiels; stattdessen entschied sich die Regierung in Tokio zunächst für den weniger riskanten Ausweg, sich den USA nicht völlig zu entfremden, also nach wie vor die stillschweigende Duldung der USA für die Politik auf dem asiatischen Kontinent zu suchen, eine Duldung, die auch das Fortführen der amerikanischen Lieferungen beinhaltete. Die USA gingen zum Teil darauf ein; obwohl der Handelsvertrag, wie angekündigt, Anfang 1940 auslief, setzten die Amerikaner den Warenverkehr ohne vertragliche Vereinbarung fort. Tokio verharrte noch einige Zeit bei seiner vorerst ungeklärten Stellung zwischen den USA einerseits, Deutschland und Rußland andererseits; doch zeichnete sich immer deutlicher die Bereitschaft ab, notfalls auch gegen Amerika Front zu machen. Dies folgte freilich keinem vorgefaßten Plan, sondern ergab sich aus den Verschiebungen der Machtverhältnisse, die von Europa ihren Ausgang nahmen. 14 Für die USA unter Präsident Roosevelt bestätigten der Hitler-Stalin-Pakt und der anschließende Kriegsausbruch nicht nur die schlimmsten Vermutungen über 14 Zur japanischen Politik allgemein, zu Wang Tsching-wei und zur Haltung des japanischen Außenministeriums 1939 Iriye, 77, 91 und passim. Grew nach Heinrichs, 186, 212, 223, 286, 330, 334, 374. Ferner Hearden, 102. Halifax 1937 in ADAP, Ser. D, Bd 1, 47. Ferner Carr, 63 ff. MGFA, Weltkrieg VI, 173 ff. (Beitrag Rahn). Krebs. Sommer.
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den Charakter und die Absichten des deutschen Diktators. Vielmehr wurde dadurch auch der von namhaften amerikanischen Diplomaten seit langem geäußerte Verdacht erhärtet, der sowjetische Diktator wolle die kapitalistischen Länder in den Krieg gegeneinander treiben. Der Botschafter in London, Kennedy, bei dem dies bereits früher angeklungen war, meinte im September 1939, in amerikanischen Augen sei Rußland ein weit üblerer Störenfried ("a much greater potential disturber of world peace") als Deutschland. Darüber hinaus mußte Washington befürchten, eine ähnliche Einigung wie zwischen Deutschland und der Sowjetunion könne sich auch zwischen Rußland und Japan vollziehen. Auf diese Gefahr wurde im amerikanischen Außenministerium nach Kriegsausbruch öfter hingewiesen, so vom Abteilungsleiter Berle und vom Unterstaatssekretär Surnner WeHes, die beide eine sowjetisch-japanische Verständigung auf Kosten Chinas erwarteten. Damit ergab sich in Europa wie in Ostasien dasselbe Bild: Die Sowjetunion vermochte, sobald oder solange ihre Gegensätze zu Deutschland bzw. Japan beigelegt waren, diese Länder zumindest wirtschaftlich und propagandistisch gegen die Westmächte zu unterstützen, und sie konnte im Bedarfsfall auch militärisch eingreifen, entweder an der Seite der Westmächte, um das Hindernis, welches Deutschland und Japan für die russische Ausdehnung darstellten, zu beseitigen, oder äußerstenfalls sogar gegen die Westmächte, wenn damit den russischen Interessen besser gedient war. Roosevelt und sein Außenminister Cordell Hull hielten es deshalb für angezeigt, vorerst außenpolitische Zurückhaltung zu üben, namentlich gegenüber Japan, um es nicht in die Arme Rußlands, und gegenüber der Sowjetunion, um sie nicht noch stärker an die Seite Deutschlands zu treiben. Längerfristig rechneten sie damit, daß die Spannungen zwischen dem Reich und der Sowjetunion wieder aufbrechen würden, ein Gedanke, der von manchen Diplomaten und Politikern dahingehend zugespitzt wurde, es sei am besten, die deutsche Militärmacht nach Osten abzulenken und auf einen Krieg Deutschlands gegen Rußland hinzuarbeiten. In diesen Zusammenhang gehört noch eine 1941 gefallene Äußerung des damaligen Senators Harry Truman, später Vizepräsident und Präsident, der wenige Tage, nachdem die Wehrmacht tatsächlich die Sowjetunion angegriffen hatte, in einem Zeitungsartikel meinte, wenn man in Amerika sehe, daß Deutschland den Krieg gewinne, dann solle man Rußland helfen, wenn aber Rußland gewinne, solle man Deutschland helfen, damit beide Seiten möglichst hohe Verluste erlitten. Denn obwohl er, Truman, unter keinen Umständen Hitler siegreich sehen wolle, verdienten doch beide Seiten gleich wenig Vertrauen. 15 Ganz so einfach stellte sich freilich für Roosevelt und seine Gehilfen aus dem Lager der Internationalisten die Weltlage nicht dar. Um den wirklichen Absichten des amerikanischen Präsidenten näherzukommen, wird es sich empfehlen, erst einmal zwei Geschiehtsiegenden hinter sich zu lassen, die vielfach bis heute im 1s Kennedynach Rock, 218 (25. 9. 1939 im Gespräch mit Halifax). Berle und WeHes nach Knipping, Rußlandpolitik, 40f., 66f. Zur Haltung der USA gegenüber Rußland Hull, I, 685. Knipping, Rußlandpolitik, 34f., 41. Truman in New York Times, 24. 6. 1941. Vgl. Link, Konflikt, 85.
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Schwange sind. Die eine dieser Deutungen verkürzt den Zweiten Weltkrieg auf ein vordergründiges Tater-Opfer-Schema, bei welchem die Achsenmächte, voran wieder einmal Deutschland, in ihrem Streben nach Weltmacht oder Weltherrschaft ein Land nach dem anderen überfielen bzw. in den Krieg zwangen, bis schließlich die solchermaßen Angegriffenen, nach hartem Kampf ums Überleben, gemeinsam die Störenfriede niederringen und so die Gefahr für ihre Existenz beseitigen konnten. Alle Handlungen der späteren Sieger erscheinen in diesem Bild nur als Reaktion und Gegenwehr; die Sowjetunion erlitt das unvermutete Schicksal faschistischer Aggression, obwohl sie stets nur auf ihre eigene Sicherheit bedacht war; und die USA, von den Achsenmächten zunächst herausgefordert, dann selbst angegriffen, wurden ebenso wie die Sowjetunion ohne eigenes Zutun, nur infolge des aufgezwungenen Krieges, schließlich zur Weltmacht, Amerika vor dem Hintergrund des ursprünglichen Isolationismus gewissermaßen zur Weltmacht wider Willen. Ausgeblendet oder unerklärt bleiben in diesem Bild die eigenen weltpolitischen Ziele der späteren Sieger und ihr aktiver Anteil an den Hintergründen des Geschehens; warum die USA und die Sowjetunion nach dem Krieg die Welt unter sich aufteilten, jahrzehntelang einander gegenüberstanden, bereit zur wechselseitigen Vernichtung, gilt nicht als Problem des Zweiten Weltkriegs oder seiner Vorgeschichte, sondern wird abgeschoben in ein anderes Forschungsfeld, nämlich dasjenige des Kalten Krieges und seiner Entstehung. Die zweite jener Deutungen besagt, Roosevelt habe zeit seines Lebens eine tiefsitzende Abneigung gegen "Deutschland" oder "die Deutschen" empfunden, woraus sich sein Wille erkläre, im Anschluß an den Krieg ,,Deutschland" bzw. "die Deutschen" hart zu bestrafen, bis hin zur Zerstückelung des Landes, der Umerziehung seiner Bewohner und vielleicht sogar der Zerschlagung seiner Industrie, wie es der berüchtigte Morgenthau-Plan vorsah. 16 Keine dieser Deutungen trifft zu; es handelt sich um Legenden, wie sie entstehen, wenn halbe Wahrheiten zu ganzen aufgebauscht werden. Was immer Roosevelt "den Deutschen" gegenüber empfunden haben mag, für seine Politik gegenüber Deutschland war es nicht maßgeblich. Von einem bedeutenden Staatsmann möchte man im übrigen erwarten, daß er sein Verhalten nicht auf Vorurteile solcher Art gründet, andernfalls wäre er kein bedeutender Staatsmann, sondern geriete in die Nähe jener Niederungen, in denen ein Hitler sich bewegte, dessen Politik gegenüber fremden Völkerschaften sich an seinen Vorurteilen über sie ausrichtete. Richtig ist vielmehr, daß Roosevelts Absichten in Hinblick auf Deutschland eine ähnliche Entwicklung durchliefen wie diejenigen Präsident Wilsons im Ersten Weltkrieg. Hatte Wilson ursprünglich Deutschland im wesentlichen erhalten, ja so16 Die genannten Deutungen etwa bei Parker, Struggle, I und passim. M. Gilbert, World War. Willmott, Crusade. C. Bloch, IIIe Reich. Ernst Fraenkel, USA - Weltmacht wider Willen, Berlin 1957. Langer/Gleason, Challenge. Zur angeblichen Abneigung Roosevelts gegen die Deutschen Loth, Teilung, 25. H.-P. Schwarz, Reich, 58, 92 ff. Junker, Kalkül, 70 ff. Demgegenüber jedoch die richtige Feststellung bei Junker, Kalkül, 67, die amerikanische Deutschland-Planung im Zweiten Weltkrieg sei eine abhängige Variable der amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion gewesen.
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gar im Rahmen seiner neuen Weltfriedensordnung dem Reich einen bevorzugten Platz einräumen wollen, so war er erst später genötigt worden, dem Druck und den Eifersüchteleien anderer Mächte nachzugeben und an Deutschland ein Exempel zu statuieren, das er so nie beabsichtigt hatte. Auch Roosevelt hegte ursprünglich völlig andere Vorstellungen über das Schicksal Deutschlands als später, wo er unter dem Zwang des Kriegsverlaufs veranlaßt wurde, den Deutschen eine Behandlung angedeihen zu lassen, die von der Rücksicht auf sonstige Kriegsparteien diktiert war. Und wie bei Wilson war dieser Umschwung aufs engste verknüpft mit dem Schicksal einer neuen Weltfriedensordnung, die auch Roosevelt erstrebte. Wie bei Wilson sollte in der von Roosevelt anfänglich geplanten Friedensordnung Deutschland einen achtbaren Platz besetzen und wurde anschließend geopfert, als der Plan in Trümmer zu gehen drohte und nur durch erhebliche Abstriche die Hoffnung bestand, von dem ursprünglichen Entwurf wenigstens einen Kern zu retten. All dies wird im einzelnen noch zu erörtern sein; vorab mag es genügen, aus Roosevelts eigenem Mund zu vernehmen, wie er sich in der Anfangsphase des Krieges den künftig zu erreichenden Frieden vorstellte. Dem britischen Botschafter erläuterte er am 3. April1940, die neue Ordnung solle ein System errichten, welches Sicherheit für nationale Einheit und Existenz gebe, und zwar allen Völkern, großen und kleinen, einschließlich Deutschland. Zweitens: Der Krieg von 1939 bis 1945 läßt sich nicht durch jenes einfache zweipolige Schema erklären, bei welchem auf der einen Seite die sog. Aggressorstaaten Deutschland, Japan und Italien stehen, auf der anderen Seite die Mächte der später so genannten Anti-Hitler-Koalition. Sondern dieser Krieg fand vom Beginn an in einer mehrpoligen Mächtekonstellation statt. Der europäische Krieg entstand und verlief anfangs gewissermaßen in einem Viereck der Mächte, gebildet aus den eigentlichen Kriegsparteien Deutschland einerseits und europäischen Westmächten andererseits, dazu als vorläufig Außenstehende Rußland und Amerika, die sich alle gegenseitig belauerten und auf das Herauskristallisieren neuer Allianzen oder Gegensätze warteten. Erst nach der Niederlage Frankreichs und dem engeren Zusammenschluß Englands mit den USA entstand ein Dreieck der Mächte, das fortan dem Zweiten Weltkrieg sein Gepräge geben sollte, nämlich das Dreieck Deutschland (mit Italien) - Sowjetunion - Westmächte (USA mit England). Noch komplizierter war anfangs die Lage in Ostasien, wo die eigentlichen Kriegsparteien, also Japan und China, im Spannungsfeld zwischen den Westmächten, Rußland und Deutschland standen, bis sich auch hier das kennzeichnende Mächtedreieck herausbildete, nämlich Achsenmächte (Japan und Deutschland)- Sowjetunion -Westmächte. Der Zweite Weltkrieg war in der Hauptsache eine Auseinandersetzung innerhalb dieses Dreiecks, eine Auseinandersetzung, die zwar von den Achsenmächten ihren Ausgang nahm, in welcher es aber zugleich und zusehends mehr um die Frage ging, in welcher Gestalt und welcher Rolle die beiden strategischen Leitrnächte, die USA sowie die Sowjetunion, aus diesem Krieg hervorgehen würden. Es haben in diesem Krieg nicht einfach nur die Achsenmächte die anderen angegriffen und die anderen sich dagegen gewehrt, sondern in dem genannten
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Mächtedreieck hat zunächst die Sowjetunion versucht, aus der Auseinandersetzung der Achsenmächte mit den Westmächten ihren Vorteil zu ziehen, während umgekehrt die Staatsmänner der Westmächte dies vom Beginn an durchschauten und sich lange bemühten, das Spiel zu durchkreuzen, um weder den Achsenmächten noch der Sowjetunion eine ungehemmte Ausbreitung zu gestatten. Was speziell die USA betrifft, so sind sie nicht einfach nur von den Achsenmächten herausgefordert worden und haben sich mühsam allmählich darauf besonnen, ,,Freiheit", ,,Demokratie" und andere schöne Dinge zu verteidigen, bis sie am Ende unversehens zur Weltmacht wurden. Sondern für Roosevelt und die Internationalisten war spätestens seit dem Kriegsausbruch erkennbar, daß sowohl Hitler als auch Stalin auf die Hegemonie mindestens in Europa oder sogar noch mehr lossteuerten. Wenn man schon von einer Herausforderung sprechen will - was die Isolationisten lange bestritten -, so war es eine Herausforderung in zweifacher Hinsicht: Einerseits wurden die USA als Staatswesen und Großmacht herausgefordert von der Gefahr, sich dereinst einer gewaltigen Machtzusammenballung auf dem eurasischen Kontinent gegenüberzusehen, die durch berechnende Einigung oder kriegerische Eroberung entstehen mochte. Sofern die Achsenmächte sich anschickten, die Sowjetunion niederzuwerfen, ging die Herausforderung der amerikanischen Sicherheit von ihnen aus. Doch war es im Grunde ebenso vorstellbar, daß Stalin das Ziel erreichte, im Anschluß an einen Krieg der kapitalistischen Länder untereinander die eurasische Landmasse zu beherrschen, und daß die amerikanische Sicherheit dann von Rußland herausgefordert wurde. Soweit die amerikanische Führung machtpolitisch dachte, hat sie beiden Gefährdungen entgegenzuwirken getrachtet. Andererseits, und das ist hier das Entscheidende, wurde der von Roosevelt getragene und verkörperte Internationalismus herausgefordert durch das, was im Rest der Welt insgesamt im Schwange war, nämlich die herkömmliche Machtpolitik, die ein friedliches Zusammenleben der Völker verhinderte und mit ihren Ränken, ihrer Habgier oder ihrem gewalttätigen Mißtrauen erst dafür sorgte, daß die einen Mächte gegen die anderen aufgehetzt, die einen Länder durch die anderen bedroht und überfallen, die wirklichen oder vermeintlichen Lebensbedürfnisse der Staaten, Völker oder Klassen nicht durch einvernehmliches Handeln aller, sondern durch die Waffen befriedigt wurden. Dieser Herausforderung ist Roosevelt in erster Linie entgegengetreten, und dazu mußte er nicht erst durch die wachsende Bedrohung seitens der Achsenmächte bekehrt werden, sondern er hat spätestens seit Kriegsausbruch, wenn nicht schon früher, das Ziel verfolgt, die alte Machtpolitik ein für allemal zu beseitigen, nicht bloß bei den Achsenmächten, sondern ebenso bei Rußland und bei allen anderen, die sie betrieben. Wenn in Amerika jemand bekehrt werden mußte, dann waren dies der Kongreß und die breite Öffentlichkeit, denen Roosevelt und die Internationalisten erst wieder nahezubringen hatten, was schon von Präsident Wilson erstrebt worden war: eine amerikanische Sendung, nämlich die Aufgabe, die Mittel Amerikas einzusetzen für das Errichten einer neuen, friedlichen Weltordnung jenseits der alten Machtpolitik.
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An diese Aufgabe suchte Roosevelt seine Landsleute heranzuführen mit dem Verweis auf die Bedrohung seitens der Achsenmächte. So ergab sich im Verhältnis zu Deutschland bzw. zu dessen Kriegsgegnern England und Frankreich die Gelegenheit, seit Kriegsbeginn den Isolationismus allmählich aufzuweichen. Bis dahin hatten die Neutralitätsgesetze dem Präsidenten die Hände gebunden. Noch im Frühjahr 1939 war die "cash and carry"-Klausel, die anderen Ländern den Bezug kriegswichtiger Güter aus Amerika erlaubte, sofern sie bar bezahlt und auf nichtamerikanischen Schiffen verfrachtet wurden, außer Kraft getreten, was vor allem die europäischen Westmächte betraf. Waffenlieferungen an kriegführende Länder waren ebenfalls untersagt, so daß es nach Kriegsausbruch praktisch keine Unterstützung der europäischen Westmächte durch die USA gab. Mit der Versicherung, Amerika weiterhin aus dem Krieg herauszuhalten, gelang es Roosevelt bis zum November 1939, in Form eines neuen Neutralitätsgesetzes die Lieferung sowohl von Waffen als auch von sonstigem Material auf der cash and carry Grundlage zu ermöglichen, woraus tatsächlich nur die europäischen Westmächte Nutzen ziehen konnten. Eine erste Anhindung Amerikas an den Krieg in Europa war damit vollzogen, wie ein Kritiker des Gesetzes im Repräsentantenhaus mit den prophetischen Worten bemerkte: ,,Zuerst liefern wir Kriegsmaterial, dann liefern wir Geld, und am Ende liefern wir Soldaten." 17 Aber für Roosevelt ging es vom Beginn an nicht bloß darum, jede Bedrohung von den USA abzuwenden. Die Ansicht, Amerika sei wider Willen zur Weltmacht geworden, gilt höchstens insofern, als das amerikanische Volk erst von seiner internationalistischen Führung davon überzeugt werden mußte, daß die USA dazu berufen seien, die Welt neu zu gestalten. Roosevelt hingegen, der sich solche Gedanken schon vor dem Krieg zu eigen gemacht hatte, erhielt durch den Krieg die Gelegenheit, sein Land für diese Aufgabe bereit zu machen und die Aufgabe in Angriff zu nehmen. Bereits im Dezember 1939 ließ er im Außenministerium ein beratendes Komitee für auswärtige Probleme unter dem Vorsitz von Unterstaatssekretär Sumner Welles errichten, das den Auftrag hatte, "einen Überblick über die Prinzipien einer wünschenswerten Weltordnung zu geben, wie sie, unter primärer Berücksichtigung der amerikanischen Interessen, nach dem Ende der gegenwärtigen Kampfhandlungen errichtet werden sollte". Bemerkenswert ist dabei weniger, was im Schoße dieses Gremiums und seiner späteren Nachfolgeorganisationen debattiert wurde, da Roosevelt - ähnlich wie früher Wilson - seine eigenen Vorstellungen über die Welt der Zukunft hatte und es nicht für nötig befand, sich an die Empfehlungen nachgeordneter Gehilfen zu binden. Es ist vielmehr aufschlußreich, daß die amerikanische Regierung schon jetzt den Plan verfolgte, den Frieden zu gestalten, und zwar weltweit sowie unter Vorrang amerikanischer Bedürfnisse.
17 Roosevelts Äußerung über Deutschland vom 3. 4. 1940 in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 153. Die Äußerung zum Neutralitätsgesetz von 1939 in Congressional Record, I. 11. 1939, 1167, hier zit. nach Carr, 113.
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Dazu gehörte auch das Festigen der nordamerikanischen Stellung in der eigenen Hemisphäre und deren Abschirmung nach außen. Nachdem 1938 bei einer gesamtamerikanischen Konferenz (unter Teilnahme der USA und der lateinamerikanischen Staaten) der Plan Washingtons, einen gesamtamerikanischen Bund bzw. ein Bündnis zu errichten, noch gescheitert war, bekannten sich die lateinamerikanischen Staaten, ohnedies seit jeher das klassische Einflußgebiet der USA, bei der nächsten Konferenz von Panama im Herbst 1939 zu einer gemeinsamen Politik unter Führung der USA. Dies betraf erstens eine gemeinsame Wahrung der Neutralität, was später meistens darauf hinauslief, an der Seite der USA in den Krieg einzutreten; zweitens die Schaffung eines wirtschaftlichen Koordinierungsausschusses mit Sitz in Washington, was darauf abzielte, für die handelspolitischen Verflechtungen zwischen den lateinamerikanischen Staaten und dem Deutschen Reich einen Ausgleich innerhalb des Blocks der westlichen Länder zu schaffen; und drittens die Errichtung einer panamerikanischen Sicherheitszone in einer Breite von rund 300 Seemeilen um den gesamten Doppelkontinent (ohne Kanada), was zwar völkerrechtlich nicht verbindlich war, aber umso mehr den Willen der USA bekundete, im Sinne der Monroe-Doktrin sich für die Verteidigung der gesamten amerikanischen Hemisphäre verantwortlich zu fühlen. Der Zustand, der mit den Vorbereitungen der USA für eine neue Weltordnung entstand, erinnert von fern an die Lage während des Ersten Weltkrieges, als Wilson bis an die Jahreswende 1916/17 versuchte, den Frieden nach amerikanischen Vorstellungen herbeizuführen, was übrigens damals auch in die Formel gekleidet wurde, die Monroe-Doktrin auf die ganze Erde auszudehnen. Trotzdem fallen wesentliche Unterschiede in die Augen. Nach dem Willen Wilsons hatten die USA eigentlich nicht selbst in den Krieg eintreten, sondern auf der Grundlage eines militärischen Unentschieden als neutraler Vermittler den Frieden gestalten sollen. Bei Roosevelt dagegen lassen sich ernsthafte Versuche zur Friedensstiftung nicht feststellen. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Absichten Roosevelts zutreffend wiedergegeben wurden von seinem Vertrauten Bullitt, der Anfang Februar 1939 einem polnischen Diplomaten gegenüber äußerte, wenn der Krieg ausbrechen sollte, dann werde Amerika wahrscheinlich anfangs nicht eingreifen, aber es werde ihn zu Ende führen. Jedenfalls griff Roosevelt offizielle Anregungen der Regierungen Rumäniens, Belgiens und Finnlands zu einer Friedensvermittlung im Oktober 1939 nicht auf und behauptete wahrheitswidrig, solche Ersuchen lägen nicht vor; obwohl im Herbst 1939 die weit überwiegende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung einen Friedensschritt ihrer Regierung befürwortete, blieb der Präsident untätig und verschanzte sich hinter dem Argument, die Bevölkerung würde keinen Frieden billigen, der das Überleben eines Gewaltregimes ermögliche; den Botschafter Kennedy, der einen Frieden in Europa empfahl, weil er eine Niederlage der Westmächte oder eine Ausbreitung des Kommunismus fürchtete, nannte Roosevelt einen unverbesserlichen Appeaser, der ihm Unbehagen verursache; und als im Frühjahr 1940 Unterstaatssekretär Welles nach Europa gesandt wurde, um in den wichtigsten Hauptstädten die Standpunkte zur Friedensfrage zu erkunden,
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grub Roosevelt den allenfalls denkbaren Vermittlungsversuchen von WeHes oder Mussolini das Wasser ab, indem er Mitte März 1940 öffentlich erklärte, Amerika suche keinen Appeasement-Frieden, sondern ausschließlich eine moralische Grundlage für den Frieden. 18 Natürlich kann man sich ohne Mühe auf die Erklärung zurückziehen, ein Friede mit Hitler sei sinnlos gewesen, weil dieser ihn sowieso nicht wollte und außerdem die Erfahrung hinlänglich gezeigt hatte, daß Abmachungen mit Hitler keinen Wert besaßen. Doch genügt das allein noch nicht, um die Haltung Roosevelts verständlich zu machen. Das zeigen gerade die Geschehnisse um die Mission von Sumner WeHes, die in der Hauptsache den Zweck verfolgte, für die Öffentlichkeit in den USA und alle sonstigen Beteiligten ein Zeichen zu setzen, daß die europäischen Länder aus eigenen Kräften den Frieden nicht gewinnen könnten, während die USA für eine friedliche Weltordnung bereitstünden, aber nur zu amerikanischen Bedingungen. Als die Europareise von WeHes, die ihn Ende Februar bis Mitte März 1940 nach Rom, Berlin, Paris und London führen sollte, arn 9. Februar von Roosevelt öffentlich angekündigt wurde, gab gleichzeitig Außenminister Hull die Absicht bekannt, zusammen mit anderen neutralen Ländern (außer Rußland) über die Grundlagen einer Nachkriegsordnung, auch auf dem Gebiet der Weltwirtschaft, zu beraten. Wenngleich das Unternehmen dann im Sand verlief, deutete sich hier doch an, daß die USA willens waren, auf eine neue Ordnung der Welt im allgemeinen und der Weltwirtschaft im besonderen hinzuwirken, und zwar ohne Rücksicht auf die Vorstellungen der Europäer. Anfang März erhielt WeHes von Roosevelt die Anweisung, bei den Briten nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, als ob die USA gemeinsam mit ihnen Friedensbedingungen entwerfen wollten. Amerika richtete sich demnach darauf ein, die Welt in Zukunft nach eigenem Gutdünken zu gestalten, nicht zuletzt in Hinblick auf die Wirtschaft. Welche Linie Amerika und der bekannte Freihändler Hull dabei verfolgen würden, war nicht zweifelhaft: Es war der für die USA seit langem leitende Gedanke der "offenen Tür", des Abbaus von Handelshemmnissen, des gleichen Zugangs für alle zu den Rohstoffen und Märkten der Welt, welcher geschlossene Wirtschaftsräume aufbrechen und eine ungehinderte Ausbreitung der überlegenen amerikanischen Wirtschaftskraft ermöglichen sollte. Davon würden andere Länder und insbesondere die Kriegsparteien in ähnlicher Weise betroffen werden. Gewiß strebte die amerikanische Handelspolitik nach einer Öffnung der Großwirtschaftsräume Deutschlands wie Japans und damit zugleich nach einer Überwindung ihrer auf Autarkie gerichteten Hegemonialpolitik.
1s Zur Planung seit 1939 Notter, Preparation, 18 ff. Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik 112, XX. Zur Pan-Amerika-Politik und den Beschlüssen von Panama (3. 10. 1939) Pommerin, Lateinamerika, 52ff., 87ff. und passim. Carr, 115ff. Bullitt 1939 nach Lukasiewicz, 168 (4./5. 2. 1939). Zur unterlassenen amerikanischen Friedensvermittlung Martin, Friedensinitiativen, 132 ff., 202 ff., 267 ff. Ders., Durchbruch, 77 ff. Bium, Morgenthau II, I 02 (zu Kennedy). Langer/Gleason, Challenge, 370f. (Rundfunkrede Roosevelts 16. 3. 1940).
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Aber die amerikanische Handelspolitik zielte ebenso auf eine Öffnung kolonialer Wirtschaftsräume der europäischen Westmächte, am Ende auf die Beseitigung des Kolonialismus überhaupt, und damit auch auf das Durchbrechen jenes Systems von Außen- und Vorzugszöllen, mit welchen Britannien seit der Zollkonferenz von Ottawa 1932 das Empire bzw. Commonwealth enger zusammengeschlossen hatte. Bereits beim britisch-amerikanischen Handelsvertrag vom November 1938, der allgemein als Zeichen für ein politisches Zusammenrücken der beiden Länder gewertet wurde, hatte England dem amerikanischen Handel Zugeständnisse machen müssen. Von der Meistbegünstigung, d. h. der Weitergabe handelspolitischer Vorteile, war Deutschland damals noch ausgeschlossen worden. Das mußte indes nicht so bleiben. Wenn die Amerikaner darangingen, den Grundsatz der offenen Tür weltweit durchzusetzen, wie schon Wilson es versucht hatte, dann würden alle Wirtschaftsräume, auch derjenige des Commonwealth, aufgelockert oder aufgelöst werden, und umgekehrt würden andere Länder, darunter Deutschland, stärkeren Zugang zu den Rohstoffen und Märkten des Commonwealth erhalten. In der Tat haben die Amerikaner unbeirrt das Ziel verfolgt, das System von Ottawa aufzubrechen, zeitweise verdeckt und zeitweise offen, bis es 1945 gelang. Ein britischer Unterhausabgeordneter beklagte es mit den bitteren Worten, dies sei Britanniens wirtschaftliches München. Die britische Regierung habe niemals vom Volk das Mandat erhalten, das britische Empire für eine Schachtel Zigaretten zu verkaufen.19 Beim Aufenthalt von Surnner Welles in Europa 1940 war davon freilich nicht die Rede. Doch sorgte Roosevelt im Anschluß daran selbst dafür, daß man wenigstens in London genau verstehen konnte, was er meinte. Der Aufhänger war die Frage, wie man in Zukunft Sicherheit allgemein sowie namentlich Sicherheit vor Deutschland erlangen könne und wie Deutschland zu behandeln sei. Als WeHes darüber in London verhandelte, brachte er den Gedanken der allgemeinen Abrüstung zur Sprache, die vielleicht durch eine Einigung unter den Kriegsparteien erreichbar sei. Die Erörterung blieb unfruchtbar, da Chamberlain und Hallfax hervorhoben, daß es mit Hitler keine haltbaren Abmachungen geben könne, was WeHes nicht bestritt. Außerdem war man sich einig, daß eine allgemeine Abrüstung, die auch Rußland und Japan umfassen müßte, gegenüber Rußland kaum durchsetzbar sein würde. Um den Amerikanern dennoch entgegenzukommen, deutete Chamberlain an, falls Deutschland mit der Abrüstung beginne, könnten ja die britische und die französische Regierung eine bindende Verpflichtungserklärung abgeben, daß sie Deutschland nicht angreifen wollten, wobei auch die USA Empfänger einer solchen Erklärung sein könnten. Nach der Rückkehr von WeHes in die Vereinigten 19 Hulls Ankündigung vorn 9. 2. 1940 sowie Roosevelts Anweisung vorn 2. 3. 1940 nach Langer/G1eason, Challenge, 352ff. Zum britisch-amerikanischen Handelsvertrag 1938 H.-J. Schröder, Wirtschaft, 91 ff. Zu den britisch-amerikanischen Verhandlungen 1945 R.N. Gardner, Sterling-Dollar Diplornacy, 208 ff. Die Kritik des konservativen Unterhausabgeordneten Robert J.G. Boothby vorn Dezember 1945 in Parliarnentary Debates. Fifth Series, vol. 417, House of Cornrnons, 12. 12. 1945, 468 f. Vgl. Loth, Teilung, 34ff.
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Staaten führte Roosevelt, in Gegenwart von Außenminister Hull und Sumner Welles, am 3. April ein Gespräch mit dem britischen Botschafter, bei dem er scheinbar diese Anregung aufgriff, in Wahrheit aber von ganz anderen Dingen redete. Man muß nicht glauben, daß Roosevelt und seine außenpolitischen Berater außerstande waren, diplomatische Texte zu lesen oder diplomatische Gespräche zu verstehen. Sondern Roosevelt ergriff hier die Gelegenheit, den Briten unmißverständlich mitzuteilen, was für eine Art von Frieden er erstrebte, und er versuchte darüber hinaus, die europäischen Westmächte auf genau diese Art von Frieden zu verpflichten. WeHes hatte bei seiner Europareise beobachtet, daß manche Kreise in Frankreich und England von einer Zerstückelung Deutschlands träumten. Für Roosevelt besaß es nun ungeheure Bedeutung (immense importance), den Deutschen diese Furcht zu nehmen. Der Präsident schlug vor, die Regierungschefs von Britannien und Frankreich sollten gegenüber den neutralen Staaten eine Erklärung abgeben, deren Wortlaut Roosevelt gleich mitlieferte. Demnach sollten die beiden westeuropäischen Regierungschefs, ohne sich einstweilen auf konkrete Friedensbedingungen einzulassen, absolut klarmachen (make it absolutely plain), daß die Alliierten ein System zu errichten wünschten, welches a) allen Völkern, einschließlich Deutschland, Sicherheit für nationale Einheit und Existenz gebe, b) durch geeignete Abrüstungsmaßnahmen ein für allemal den Schrecken banne, der in den Herzen der Menschen wohne wegen der Folgen der Gewalt, c) allen Völkern gleichen Zugang zu den Rohstoffen und Märkten der Welt ermögliche, damit keines in der Abhängigkeit verkümmere. Wie ist das zu deuten? Ein Friedensvorschlag war es nicht, was der Präsident bestätigte. Daß die europäischen Westmächte freiwillig darauf eingehen würden, durfte nicht erwartet werden. Der im britischen Außenministerium tätige, später als "Deutschenhasser" bekanntgewordene R. Vansittart bezeichnete es unverblümt als Geschwätz von fernen und unerfahrenen Amateuren. Andere sahen darin die übliche amerikanische Naivität, und keiner wollte sich darauf einlassen, obgleich man Wert darauf legte, die Amerikaner nicht zu verprellen. Der Sinn von Roosevelts Worten erschließt sich, wenn sie mit den Zielen von Präsident Wilson im Ersten Weltkrieg verglichen werden. Was Roosevelt anstrebte, entsprach vollständig dem, was Wilson ursprünglich bezweckt hatte: gleiches Lebensrecht für alle Völker; eine angemessene Behandlung des deutschen Volkes, die seiner Geschichte und seiner Bedeutung in der Welt gerecht wurde; eine allgemeine Abrüstung, um den Frieden sicherer zu machen und die Menschen von der Furcht vor Unterwerfung zu befreien; und eine freie wirtschaftliche Entfaltung für alle Länder. Oder wie Roosevelt in seinem Vorschlag für eine Erklärung formulierte: Sicherheit im weitesten Sinn des Wortes für alle Völker. Aber Roosevelt, der Wilsons Unterstaatssekretär im Marineministerium und 1920 Kandidat für die Vizepräsidentschaft gewesen war, wußte nur zu gut, woran die Errichtung einer neuen Weltfriedensordnung im Ersten Weltkrieg und danach gescheitert war. Die Weigerung der Entente, einen Frieden des Ausgleichs und der Versöhnung herbeizuführen, ihre Weigerung, eine amerikanische Führungsstellung
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hinzunehmen, ihre Weigerung, die USA und Deutschland als Leitmächte in einer offenen und freien Weltwirtschaft anzuerkennen, kurz: das Festhalten der europäischen Westmächte an der alten Machtpolitik - all dies hatte dazu geführt, Wilsons Weltfriedensplan zuschanden zu machen. Im Grunde hatten die europäischen Westmächte Wilson an der Nase herumgeführt und Amerika als Handlanger gebraucht, um den Sieg über die Mittelmächte zu erringen. Weil Roosevelt dies wußte, sagte er in einer außenpolitischen Grundsatzrede vom Dezember 1933, für viele der "sogenannten Staatsmänner", die 1919 einen "sogenannten Friedensvertrag" schrieben, habe Wilsons Forderung, Kriege in Zukunft auszuschließen, wenig bedeutet, umso mehr jedoch "politischer Gewinn, persönliches Prestige und nationale Größe". Roosevelt sah keine Veranlassung, sich erneut auf ein solches Spiel einzulassen; diesmal hatten alle sich nach den amerikanischen Bedingungen zu richten, und diese Bedingungen gab er der britischen Regierung bekannt. Es bedeutete keine Einschränkung, wenn Roosevelt in dem genannten Vorschlag für eine Erklärung den Satz unterbrachte, an den vorgesehenen Rechten für alle Völker solle Deutschland teilhaben, sofern es diese Rechte auch allen Nachbarn gewähre und sofern Garantien geschaffen würden, die ein solches System dauerhaft machten. Da es sich hier nicht um einen konkreten Vorschlag für Friedensgespräche handelte, sondern um die Grundlagen einer neuen Weltordnung, kam es nicht darauf an, was Deutschland seinen Nachbarn aus freien Stücken gewährte. Oder umgekehrt formuliert: Selbst wenn, wie zu befürchten, das Dritte Reich seinen Nachbarn gar nichts gewährte, änderte dies nichts an der Behandlung des deutschen Volkes. Im übrigen würde diesem amerikanischen Friedensentwurf sowieso keine der anderen Großmächte freiwillig zustimmen- weder England und Frankreich noch Rußland und Japan, noch ein nationalsozialistisches Deutschland und vielleicht nicht einmal ein anderes Deutschland, in welchem gemäßigte Kräfte an die Stelle Hitlers und der Nationalsozialisten traten. Der fragliche Satz besagte also lediglich, daß in der neuen Friedensordnung Deutschland dazu gebracht werden müsse, seinen Nachbarn die betreffenden Rechte zu gewähren. Der Zusatz, es sollten Garantien geschaffen werden für die Dauerhaftigkeit eines solchen Systems, läßt zunächst an die alte Idee Wilsons von einem Völkerbund denken, einer organisierten Staatengemeinschaft, die durch gemeinsames Handeln den Frieden zu wahren hatte. Es scheint jedoch, als habe Roosevelt bereits weitergehende Erwägungen angestellt, da er eine internationale Polizeistreitmacht erwähnte. Wie er sich das vorstellte, ist nicht ersichtlich. Angesichts der Erfahrungen mit dem alten Völkerbund spricht indes wenig dafür, daß er die zukünftige Erhaltung des Weltfriedens von den Zänkereien unter den Großmächten abhängig machen wollte. Möglicherweise hat er schon jetzt daran gedacht, die Weltpolizeigewalt in wenige Hände zu legen- vorzugsweise in diejenigen Amerikas. 20 zo Dokumente zur WeHes-Mission in FRUS 1940, I. Zu den Verhandlungen in London vor allem Dokumente zur Deutschlandpolitik I/1, 129ff. (11. 3. 1940), 136ff. (13. 3. 1940). Das Gespräch von Roosevelt mit dem britischen Botschafter, Philipp Kerr, Marquess of Lothian,
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Wenn all dem so ist, dann erhebt sich natürlich die Frage, wie Roosevelt solche Ziele zu erreichen hoffte. Durch eine Verständigung unter den Kriegsparteien offenbar nicht, und durch ein vornehmes Beiseitestehen der USA auch nicht. Wenn die USA untätig blieben, würde der Rest der Welt mit der alten Machtpolitik munter fortfahren; er würde nach Erhaltung oder Ausweitung von Einflußgebieten und Wirtschaftsräumen trachten, in den Herzen der Menschen die Furcht vor Gewalt erzeugen, anderen Völkern ihr Lebensrecht verkürzen. Wenn Roosevelt nur die Westmächte unterstützte, würden sie am Ende auf die amerikanischen Ideale pfeifen, wie sie es zu Zeiten Wilsons getan hatten. Und wie sollten wohl die amerikanischen Ideale gegenüber der Sowjetunion durchgesetzt werden, solange diese den Sinn ihrer Politik darin erblickte, aus der Anwendung militärischer Gewalt ihren Vorteil zu ziehen? Zweifellos darf man, wie es in diesen Untersuchungen früher ausgedrückt wurde, den Schluß ziehen, Roosevelt habe spätestens seit dem HitlerStalin-Pakt und der Auslösung des europäischen Krieges einen künftigen Kriegseintritt der USA für unvermeidlich erachtet, sofern man nicht die Formulierung vorzieht, dieser Krieg sei Roosevelt geradezu gelegen gekommen, um eine pax americana, eine Weltfriedensordnung nach amerikanischen Vorstellungen, durchzusetzen. Aber diese Aussage bedarf der Verdeutlichung. Roosevelt wollte nicht einfach nur einen Krieg gegen die Achsenmächte führen und schon vollends nicht, jedenfalls nicht nach seinen ursprünglichen Absichten, einen Krieg gegen den Bestand des deutschen Volkes. Sondern Roosevelt wollte, indem er Wilsons Kreuzzug für eine friedliche Welt erneut aufnahm, auch die alte Machtpolitik bei den derzeitigen wie künftigen Kriegsgegnern der Achsenmächte beseitigen, bei den europäischen Westmächten wie bei Rußland. Sollte dieses Ziel erreicht werden, so durfte es in dem Krieg nur einen wirklichen Sieger geben: Amerika. Und Amerika würde nur dann der einzige wirkliche Sieger sein, wenn alle anderen geschlagen oder so sehr geschwächt wurden, daß sie die Errichtung des Friedens nicht nennenswert beeinflussen konnten. So hatte der Hitler-Stalin-Pakt eine dreifache Wirkung: Für Stalin diente er dem Zweck, Hitler als Rammbock gegen den Westen zu benützen; für Hitler diente er dem Zweck, den Rücken freizuhaben für die Auseinandersetzung mit dem Westen, um sich anschließend gegen den Osten zu wenden; und für Roosevelt enthielt er die Chance, wenn die Abrechnung zwischen Hitler und Stalin schließlich kam, Amerika zum triumphierenden Dritten zu machen. Die Furcht vieler Politiker in Westeuropa und den USA, daß die Sowjetunion mindestens ebenso gefahrlieh sei wie das Dritte Reich, war begründet. Wie der Hitler-Stalin-Pakt die Entfesselung des europäischen Krieges ermöglicht hatte, so setzte die wirtschaftliche Unterstützung durch Rußland das Dritte Reich instand, den Krieg gegen die Westmächte längerfristig durchzuhalten. Wegen der Blockade, die sofort nach dem Kriegseintritt der Westmächte verhängt worden war, erlitt am 3. 4. 1940 in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 152f. (Bericht Lothians vom 3. 4. 1940). Dazu Kommentare im britischen Außenministerium, a. a. 0., !54 ff. Roosevelt im Dezember 1933 bei Rosenman, Papers Il, 546 (28. 12. 1933).
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der deutsche Außenhandel schwerwiegende Einbußen; so sank insbesondere die Einfuhr von Rohstoffen bis in die ersten Monate des Jahres 1940 auf ungefähr ein Fünftel der Vorkriegszahlen. Einen Ausweg bot vor allem der Handel mit der Sowjetunion, der vor dem Krieg nahezu eingeschlafen war, so daß er 1938 beim Wert der Ein- und Ausfuhren weniger als ein Prozent des deutschen Außenhandels ausmachte. Nachdem bereits dem deutsch-russischen Nichtangriffsvertrag ein Kreditabkommen vom 19. August 1939 vorangegangen war, bekundeten beide Seiten im Rahmen des deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrags vom 28. September den Willen, die Wirtschaftsbeziehungen zu entwickeln. Dies geschah durch ein Wirtschaftsabkommen vom 11. Februar 1940 und ein zweites vom 10. Januar 1941, durch welche das Deutsche Reich dringend benötigte strategische Rohstoffe wie Erdöl, Chrom-, Mangan- und Eisenerz erhielt, dazu Getreide sowie, im Wege des Transithandels, Güter aus Ostasien wie Naturkautschuk, während die russische Seite vor allem auf den Bezug von Rüstungstechnik bedacht war. Die Bedeutung dieses Güteraustausches liegt weniger in seinem Umfang- 1940 deckte die Sowjetunion acht bis neun Prozent des deutschen Imports und war damit das drittgrößte Einfuhrland - als vielmehr in der Tatsache, daß die russischen Lieferungen bedrohliche Engpässe bei strategischen Rohstoffen überbrücken halfen. Nach den Berechnungen aus der Zeit des Kriegsausbruchs konnte Deutschland mit den vorhandenen Vorräten und der laufenden Erzeugung einen Krieg bestenfalls sechs bis 12 Monate durchhalten; eine Rechnung vom Oktober 1939 ergab für Treibstoffe (Benzin etc.) sogar Fristen unter sechs Monaten. Aus dieser Klemme wurde die deutsche Rüstungswirtschaft durch die Lieferungen aus Rußland und über Rußland (Kautschuk) befreit, so daß die militärische Schlagkraft wenigstens für einen kurzen Feldzug erhalten blieb. Im Generalrat des Vierjahresplans, der Steuerungszentrale der deutschen Kriegswirtschaft, war deshalb Ende Februar 1940 die Rede von einer ,,kriegsentscheidenden Bedeutung der russischen Lieferungen". Der deutsche Triumph im Westfeldzug minderte dann die Dringlichkeit der russischen Hilfe, weil infolge der deutschen Siege Vorräte erbeutet und die Rohstoffe sonstiger Länder dem deutschen Zugriff verfügbar wurden. Doch blieb die Treibstofflage fortwährend angespannt und zeigte damit, wie stark das Reich von Lieferungen aus Rußland abhängig war. Trotz der Beute im Westfeldzug und obwohl die Sowjetunion unterdessen nicht ganz eine Million Tonnen Erdöl geliefert hatte, sanken die deutschen Vorräte an Treibstoff zwischen dem Kriegsausbruch und dem Angriff auf Rußland Mitte 1941 von 2,4 auf 1,5 Millionen Tonnen. Auf letzterem Stand hatten sich die Vorräte zu Beginn des Westfeldzugs schon einmal befunden - allenfalls genug für eine kurze militärische Kraftanstrengung. 21 Inwieweit die russischen Lieferungen darauf berechnet waren, Deutschland kampffähig zu erhalten, ohne es allzu selbständig werden zu lassen, ist derzeit 21 Allgemein hierzu Zeidler. W. Fischer, Geschichte V, 341 f. Die Äußerung im Generalrat nach MGFA, Weltkrieg IV, 104 (Beitrag Müller). Entsprechende Tabellen und Skizzen in MGFA V/1, 396,430, 524f., 584 (Beitrag Müller).
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nicht nachweisbar; jedenfalls wirkten sie sich so aus. Auf entsprechende Überlegungen könnte der Umstand hindeuten, daß die deutsche Seite im Zusammenhang mit dem Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 den Wunsch äußerte, das polnische Erdölgebiet von Drohobycz zu erhalten. Die sowjetische Regierung lehnte dies ab, erklärte sich jedoch bereit, außer den sonst vereinbarten Öllieferungen auch noch diejenige Ölmenge abzugeben, die der Jahresförderung von Drohobycz entsprach. Deutschland erhielt damit nicht selbst Zutritt zu Ölquellen, sondern blieb umso mehr auf russische Lieferungen angewiesen. Für die weitgesteckte politische und strategische Planung Stalins ergab sich daraus der Vorteil, den Krieg Deutschlands gegen die europäischen Westmächte zu nähren, solange es nützlich erschien, und dennoch die strategische Durchhaltefähigkeit Deutschlands kurzzuhalten. Worauf dies hinauslief, ließen im Sommer 1940 hohe sowjetische Würdenträger erkennen, nämlich der Ministerpräsident und Außenminister Molotow, der stellvertretende Außenkommissar Dekanosow und der Parteisekretär von Leningrad Schdanow, der als Stalins Nachfolger galt. Sie äußerten sich anläßlich der Einverleibung der baltischen Staaten in die Sowjetunion, die von den drei Sonderbevollmächtigten Dekanosow für Litauen, Schdanow für Estland und dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Wyschinskij für Lettland organisiert wurde. Molotow und Dekanosow hatten in diesem Zusammenhang Unterredungen mit dem kurzzeitigen litauischen Außenminister Kreve-Mickevicius, der auf Grund seiner Aufzeichnungen später auch dem amerikanischen Repräsentantenhaus berichten konnte. Molotow führte dabei aus, "wir", d. h. die Kommunisten allgemein und speziell die kommunistische Partei der Sowjetunion als Speerspitze des internationalen Proletariats, seien jetzt mehr denn je davon überzeugt, daß Lenin recht hatte, als er versicherte, der Zweite Weltkrieg werde sie in ganz Europa an die Macht bringen, so wie der Erste Weltkrieg ihnen zur Herrschaft in Rußland verholfen habe. Zunächst würden die baltischen Länder und Finnland in die glorreiche Familie der Sowjetvölker aufgenommen, doch werde das Sowjetsystem in Zukunft ganz Europa beherrschen. Dekanosow meinte sogar, nach dem Zweiten Weltkrieg, der Europa wie eine reife Frucht den Kommunisten in die Hand geben werde, sei eines Tages ein Dritter Weltkrieg unvermeidlich, der die Kommunisten in der ganzen Welt siegen lasse. Schdanow berief sich auf die Worte Lenins, wonach das Proletariat, nachdem es seine Herrschaft in Rußland errichtet und gefestigt habe, sich gegen die kapitalistische Welt wenden, die unterdrückten Klassen der anderen Länder zu sich herüberziehen, sie gegen die Kapitalisten aufwiegeln und wenn nötig Waffengewalt gegen die ausbeutenden Klassen dieser Länder gebrauchen müsse. Daraus folgte, wie Schdanow mit Begeisterung unterstrich, daß die Macht des Bürgertums mit Hilfe der Sowjetunion zu brechen war. Das entscheidende Mittel hierfür bildete letztlich die Rote Armee, die im geeigneten Augenblick dem Proletariat Europas zu Hilfe eilen mußte, um dem Sowjetsystem Geltung zu verschaffen. Wie das im einzelnen aussehen würde, ließ sich nur aus verschwommenen Andeutungen entnehmen, doch machten Molotow und Dekanosow keinen Hehl daraus, daß
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die deutsch-sowjetische Freundschaft nicht von Dauer sei. Molotow meinte, wenn das europäische Proletariat der sowjetischen Hilfe bedürfe, werde die Rote Armee eingreifen, mit frischen Kräften, gut vorbereitet und auf dem Boden des westlichen Europa. Die Entscheidungsschlacht sah er im Innern Deutschlands stattfinden. Augenscheinlich mußte dies geschehen, noch bevor die Westmächte, namentlich Amerika, die Hitler-Diktatur niederwerfen und Buropa neu ordnen konnten. Denn der Einwand von Kreve-Mickevicius, die USA würden nach einem siegreichen Krieg schwerlich die Errichtung des Sowjetsystems in Buropa dulden, focht weder Molotow noch Dekanosow an. Sie zeigten sich überzeugt, daß Amerika wegen Buropa keinen Krieg mit der Sowjetunion führen werde und daß es der sowjetischen Regierung gelingen werde, die Amerikaner zu Fehlentscheidungen zu veranlassen. Das konnte nach menschlichem Ermessen nur heißen, daß die USA, nachdem die Rote Armee ganz Buropa unterworfen hatte, die geschaffenen Tatsachen anerkennen würden. Deswegen konnte Molotow sagen, "wir", d. h. die sowjetische Führung, sei über den zu erwartenden Kriegseintritt Amerikas keineswegs besorgt. Alle diejenigen, die Amerika allzusehr vertrauten, würden enttäuscht werden?2 Man sieht, daß die Staatsmänner anderer Mächte wohlberaten waren, den sowjetischen Absichten zu mißtrauen. Ersichtlich war für die sowjetischen Kommunisten und ihre Führungsspitze seit dem bolschewistischen Umsturz die Ansicht verbindlich geblieben, die in Zukunft unvermeidlichen Kriege unter den kapitalistischen Ländern würden der Ausbreitung des Kommunismus, am Ende der Weltrevolution, den Weg ebnen - ergänzt durch den Gedanken, welchen Stalin bereits 1925 geäußert hatte: Derartige Kriege würden durch das Eingreifen der Sowjetunion entschieden werden. Dieses Eingreifen nahmen Molotow, Dekanosow und Schdanow unverblümt in Aussicht, verknüpft mit der Erwartung, sowohl Deutschland als auch andere europäische Länder unter russisch-bolschewistische Herrschaft zu beugen. In den westlichen Hauptstädten hatte man derartiges ohnehin schon lange vor dem Krieg angenommen; durch das sowjetische Verhalten fand man es nunmehr bestätigt. Der Sicherheitsdienst im französischen Innenministerium erhielt Ende August 1939 Nachrichten, denenzufolge die Komintern, ein Zusammenschluß kommunistischer Parteien mit dem Sitz in Moskau, nach Abschluß des Hitler-Stalin-Pakts den französischen Kommunisten Anweisungen für ihre Tätigkeit erteilt habe. Demnach wurde u.a. die Sprachregelung ausgegeben, die Sowjetunion habe sich nicht auf Deutschlands Seite gestellt, sondern versuche den Krieg zu fördern, um die kommunistische Revolution leichter auslösen zu können. Molotow hielt am 31. Oktober 1939 eine Rede vor dem obersten Sowjet, in welcher er eine Art von Rechenschaftsbericht über die jüngste Entwicklung der internationalen Beziehungen abgab, selbstverständlich aus sowjetischer Sicht und entsprechend propagandistisch eingefärbt. Während er das Dritte Reich deutlich 22 Die Verhandlungen zum deutsch-russischen Freundschaftsvertrag in ADAP, Ser. D, Bd 8. Einige Dokumente auch in Brügel, 132ff. Molotow, Dekanosow und Schdanow 1940 nach Myllyniemi, 118, 125 f., 132f. E.F. Sommer, Memorandum, 112ff. Vgl. Raack, Plans.
5 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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schonte, machte er die europäischen Westmächte für die Fortsetzung des Krieges verantwortlich, womit er sie indirekt zu Aggressoren stempelte. Den Grund für das Weiterkämpfen Englands und Frankreichs sah Molotow weder in dem Wunsch nach Erhaltung der Demokratie noch in dem Bestreben, Polen wiederherzustellen, dieses, wie er sagte, unschöne Produkt des Versailler Vertrags, das die Unterdrükkung nichtpolnischer Nationalitäten zur Folge hatte. Vielmehr sprach er von einem imperialistischen Krieg großer Kolonialmächte, der auf dem Rücken der Arbeiterklasse ausgetragen werde. Die Formel vom imperialistischen Krieg, welcher nur den internationalen Ausbeutern nütze, wurde in den Monaten nach Kriegsausbruch, offenbar unter dem Einfluß der Komintern, von den kommunistischen Bewegungen westlicher Länder aufgenommen. In Frankreich, wo die Kommunistische Partei am 26. September 1939 verboten wurde, schwenkten die Kommunisten nach einer kurzen Phase der Unsicherheit auf die Linie ein, den Krieg, für den die herrschenden Kapitalistenkreise Englands und Frankreichs verantwortlich seien, zu verdammen und ihn nach Möglichkeit zu behindern, vor allem propagandistisch, in geringem Ausmaß auch durch Sabotage oder Fahnenflucht. Auf die französischen Kriegsanstrengungen hatte dies keinen großen Einfluß, zumal die Regierung hart durchgriff, doch diente es dem Zweck, vor dem Schreckbild der imperialistischen Kriegstreiber den Kommunismus als Hort des Friedens und die Sowjetunion als Retterin der Völker aus ihrer Not erscheinen zu lassen. Nachdem die Sowjetunion im Herbst 1939 Finnland überfallen hatte, begrüßten die französischen Kommunisten das russische Vorgehen, denn die Rote Armee als Befreierin der Völker komme dem finnischen Volk zu Hilfe. Es liegt augenscheinlich in der Logik einer solchen Argumentation, daß die Rote Armee auch den Völkern Mittelund Westeuropas zu Hilfe eilen konnte. 23 Wie solche Hilfe aussehen würde, ließ sich am Beispiel der ostmitteleuropäischen Länder studieren, welche der Hitler-Stalin-Pakt dem sowjetischen Interessengebiet zugewiesen.hatte, zunächst vor allem am Beispiel Polens. Das Zusatzprotokoll zum deutsch-russischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 hatte die Frage noch offengelassen, ob ein unabhängiger polnischer Staat erhalten bleiben und wie seine Grenze beschaffen sein sollte. Die Wiederherstellung eines wohl verkleinerten, ansonsten aber selbständigen Polen hätte ein Signal darstellen können, daß sowohl die deutsche als auch die sowjetische Seite über die Befriedigung ihrer territorialen Revisionsziele hinaus keine weitergesteckten Absichten verfolgten, vielmehr eine Rückkehr zum Frieden anstrebten. Daran war weder Stalin noch Hitler gelegen. Stalin erklärte dem deutschen Botschafter am 25. September, bei der endgültigen Regelung der polnischen Frage müßte alles vermieden werden, was in Zukunft Reibungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion gebären könnte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheine ihm die Belassung eines selbständi23 Zur Kommunistischen Partei Frankreichs Heimsoeth, 141 ff. Molotows Rede vom 31. 10. 1939 nach Jacobsen, Weg, 41 ff. Äußerungen kommunistischer Parteien über den imperialistischen Krieg bei Brügel, 128, 133, 230, 279f., 306, 312f. Ferner Pietrow, Stalinismus, 270ff.
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gen Restpolens abwegig. Gemeint war damit nicht, daß die Errichtung eines unabhängigen polnischen Pufferstaates innerhalb angemessener Volkstumsgrenzen zum Streit zwischen Deutschland und Rußland führen müßte, denn bei einigem guten Willen ließen sich ethnographische Grenzen ohne übertriebene Mühe finden, außerdem stießen die unmittelbaren deutschen Interessen im westlichen Polen und die russischen im östlichen nirgendwo aufeinander. Sondern gemeint war mit Stalins Äußerung, daß sich bei Errichtung eines neuen polnischen Staates die Chance eröffnete, zu einer friedlichen Verständigungspolitik zurückzukehren und damit zu all dem, was die Appeasementpolitik vor dem Krieg angestrebt hatte: ein festes europäisches Gleichgewicht, bei welchem Deutschland die Sowjetunion in Schach hielt, eine Trennung des Reiches von Rußland, eine Lösung aus der strategischen Abhängigkeit von ihm und ein Wiederanknüpfen tragfähiger Beziehungen zum Westen. Stalin suchte diejenigen Reibungen zwischen Deutschland und Rußland zu vermeiden, die sich aus einer Anhindung Deutschlands an den Westen ergeben würden. Das heißt zugleich, daß Stalin jede Friedenschance zu vereiteln trachtete; die Fortführung des Krieges schien ihm für Rußland günstigere Aussichten zu eröffnen. Hitler wiederum verharrte, abgesehen von einigen tastenden Spekulationen, bei seinem schon vor Kriegsausbruch gefaßten Plan, mit sowjetischer Rückendeckung zunächst die europäischen Westmächte niederzuringen. Noch im September äußerte er die Absicht, in Kürze an der Westfront anzugreifen; und seine Friedensrede im Reichstag am 6. Oktober war nichts anderes als ein propagandistisches Täuschungsmanöver. Tatsächlich unterzeichneten Molotow und Hitlers Außenminister Ribbentrop am 28. September 1939 einen deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag, der Polen nunmehr verbindlich zwischen Deutschland und Rußland aufteilte. Gemäß einem Vorschlag Stalins erhielt Deutschland, abweichend von der Regelung des Paktes vom 23. August, die polnisch besiedelten Gebiete östlich der Weichsel bis zum Bug, so daß sich eine Grenze entlang der Flüsse Narew, Bug und San ergab; im Gegenzug wurde Litauen der sowjetischen Interessensphäre zugewiesen, so daß Rußland nun wieder über das gesamte Baltikum verfügen konnte. 24 Sowohl die Sowjetunion als auch das Dritte Reich gingen alsbald daran, in den Gebieten, die unter ihre Herrschaft fielen, eine politische und gesellschaftliche Umwälzung vorzunehmen, die nicht bloß der Sicherung ihrer Herrschaft diente, sondern auch der Verwirklichung ihres weltanschaulichen Gesellschaftsbildes. Die Mittel, die sie dabei anwandten, nämlich Gewalt, Unterdrückung und revolutionäre Willkür, unterschieden sich allenfalls dem Grad nach, wenngleich die Vorstellungen der Nationalsozialisten über eine rassische Säuberung zweifellos geeignet waren, langfristig noch verheerender zu wirken. In dem von der Wehrmacht besetzten 24 Stalin zum deutschen Botschafter Schulenburg am 25. 9. 1939, ADAP, Ser. D, Bd 8, Nr. 131. Brügel, 132f. Zu Hitlers Absichten im September/Oktober 1939 Jacobsen, Gelb, 5 ff. Der deutsch-russische Freundschaftsvertrag auch in Jacobsen, Weg, 31 f.
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Teil des ehemaligen Polen wurde bis zum 26. Oktober 1939 durch persönliches Eingreifen Hitlers und durch mehrere Führererlasse die ursprünglich vom OKH geplante Militärverwaltung abgelöst. An ihre Stelle traten Zivilverwaltungen unter linientreuen Nationalsozialisten, die für eine erste Verwirklichung von Hitlers Lebensraumideen zu sorgen hatten, d. h. für die Umvolkung und Bereitstellung von Siedlungsraum für Deutsche einerseits, für die Unterjochung, Ausbeutung und Dezimierung der einheimischen Bevölkerung andererseits. Das betreffende Gebiet wurde dergestalt neugegliedert, daß ungefähr die Hälfte dem Reich angeschlossen wurde, eingeteilt in die neuen Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland, dazu Gebietserweiterungen für Ostpreußen und Schlesien, während der Rest als Generalgouvernement eine - vorläufige - Heimstatt der Polen bilden sollte und als Nebenland des Reiches betrachtet wurde. In die an Rußland gefallenen Teile war die Rote Armee unter dem Losungswort eingerückt, die dort ansässigen Ukrainer und Weißrussen zu schützen. In der Tat vermochte die Sowjetregierung hier ein nationales Anliegen geltend zu machen, das rein zahlenmäßig noch wesentlich ausgeprägter war als dasjenige auf der deutschen Seite, denn in den ehedem preußischen, durch Versailles zu Polen gekommenen Provinzen lebte nach polnischen Schikanen und deutscher Abwanderung in der Zwischenkriegszeit nur noch rund eine Million Deutsche (mit Danzig rund eineinhalb Millionen), wogegen in Ostpolen möglicherweise an die zehn Millionen Ukrainer und Weißrussen wohnten, deren Zahl allerdings in den polnischen Statistiken niedriger veranschlagt wurde, um den Anteil der Polen höher erscheinen zu lassen (zwischen zwei und fünf Millionen je nach Zählung). Das sowjetische Besatzungsgebiet wurde dreigeteilt; ein Landstreifen um die alte litauische Hauptstadt Wilna, von Polen 1920/22 erobert, ging wieder an Litauen; im weißrussischen Norden und im ukrainischen Süden wurden gesteuerte Wahlen inszeniert, aus denen Nationalversammlungen hervorgingen, die Ende Oktober 1939 um Aufnahme der betreffenden Gebiete in die Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrußland baten, was Anfang November geschah. Während im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich die gesellschaftliche Umwälzung unter dem Vorzeichen der Volkturnspolitik und der Ausweitung des deutschen Siedlungsraumes stattfand, erfolgte sie im sowjetischen unter dem Vorzeichen des Klassenkampfes und des Sozialismus: alle Bankkonten wurden gesperrt, Großgrundbesitz, Banken und Industriebetriebe enteignet, die Kollektivierung der Landwirtschaft in Aussicht genommen. Während im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich die polnische Bevölkerung, die nicht für eine Germanisierung vorgesehen war, ähnlich wie Arbeitssklaven behandelt, die Intelligenzschicht sowie die Juden verfolgt und zum Teil umgebracht wurden, erlitten im sowjetischen Herrschaftsbereich die Polen als Angehörige der ,,herrschenden Klasse" Haft, Deportation sowie Ermordung und teilten dieses Schicksal mit anderen politisch Mißliebigen wie der ukrainischen Geistlichkeit und vielen Juden, die vorher aus dem deutschen Besatzungsgebiet geflohen waren. Wenngleich die Rechtsstellung der Menschen im sowjetischen Herrschaftsgebiet durchschnittlich günsti-
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ger war als im nationalsozialistischen - sie erhielten die sowjetische Staatsbürgerschaft, genossen Bildungs- und Kulturfreiheit -, wurde doch das Volksvermögen in ähnlicher Weise geplündert und stieg das Elend mindestens ebensosehr. In den knapp zwei Jahren bis zum deutschen Rußlandfeldzug 1941 hatte die Bevölkerung im sowjetischen Herrschaftsbereich unter politischem Terror stärker zu leiden und mehr Opfer zu beklagen als im nationalsozialistischen. Während dieser Zeit wurden aus den an Deutschland gefallenen neuen Reichsgauen über eine halbe Million Polen und Juden ins Generalgouvernement vertrieben, wovon viele den Tod fanden. Dadurch sollte Platz geschaffen werden für volksdeutsehe Aus- und Umsiedler, die gemäß deutsch-russischem Freundschaftsvertrag vom 28. 9. 1939 aus dem sowjetischen Herrschafts- und Interessengebiet kamen, u.a. aus dem Baltikum, dann auch aus Südosteuropa. Bis Anfang 1942 handelte es sich um rund eine halbe Million Aussiedler, von denen knapp 300 000 in den neuen deutschen Ostgebieten ansässig gemacht wurden. Dagegen wurden aus dem sowjetischen Herrschaftsbereich im ehemaligen Ostpolen zwischen 1939 und 1941 rund eineinhalb Millionen Menschen ins Landesinnere der UdSSR verschleppt, wovon fast die Hälfte umkam. Zehntausende starben überdies durch Hinrichtung, Folter oder unmenschliche Haftbedingungen. Die sowjetischen Säuberungsaktionen erfaßten auch die Soldaten der polnischen Streitkräfte, die in russische Gefangenschaft geraten waren; mehrere Zehntausend, hauptsächlich Offiziere und Unteroffiziere, wurden umgebracht, wozu es im deutschen Machtbereich keine Parallele gab. In den Augen der Bevölkerung waren offenbar die Lebensbedingungen im sowjetischen Machtbereich noch unerträglicher als im deutschen, jedenfalls suchten die Menschen scharenweise ins Generalgouvernement zu entkommen. 25 Von den Abmachungen mit Hitler, welche das Baltikum, Finnland und Bessarabien der sowjetischen Interessensphäre zuwiesen, machte Stalin bald Gebrauch. Unter sowjetischem Druck, gestützt auf eine starke Konzentration russischer Truppen an der Grenze, fanden sich die baltischen Länder Ende September/ Anfang Oktober 1939 bereit, Beistands- und Stützpunktverträge mit Moskau abzuschließen, was allgemein als eine Vorstufe der Besetzung angesehen wurde. Ab Mitte Juni 1940 erfolgte dann die völlige Einverleibung; nach der ultimativen Forderung, sowjetfreundliche Regierungen einzusetzen, erschienen sowjetische Kommissare, welche die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, u.a. die Abhaltung von Scheinwahlen, um den Anschluß der baltischen Länder als Sowjetrepubliken an die Sowjetunion herbeizuführen, was bis Anfang August 1940 abgeschlossen wurde. Zur selben Zeit fand auch die Besetzung Bessarabiens statt. Wie überall sonst wurde im Baltikum die Sozialisierung der Wirtschaft in die Wege geleitet und mit der Verschleppung "antisowjetischer" Elemente begonnen, wovon bis 1941 wahrscheinlich über 100 000 Menschen betroffen wurden, die zum großen Teil verschollen blieben. 25 Zur deutschen und sowjetischen Politik in Polen Szarota. Gross. Madajczyk. Broszat, Polenpolitik. Kleßmann, Selbstbehauptung. Dahms, 118ff. MGFA, Weltkrieg II, 136ff. (Beitrag Rohde); VII, 28 ff., 268 ff. (Beitrag Umbreit).
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Wie die Sowjetregierung handeln würde, wenn man gegenüber ihren Forderungen nicht willfährig war, zeigte sich arn Beispiel Finnlands. Nachdem die Sowjetregierung Anfang Oktober 1939 Stützpunkte und Gebietsabtretungen verlangt hatte, trafen die Finnen Verteidigungsvorbereitungen und blieben unnachgiebig, weil sie vorhersahen, daß ihr Land, wenn es erst zu einem Satelliten Moskaus geworden war, demnächst mit der Aufnahme in die glorreiche Familie der Sowjetvölker zu rechnen hatte. Daraufhin begann die Rote Armee am 30. November den Angriff, während die Sowjetregierung arn 1. Dezember eine "Volksregierung" aus emigrierten finnischen Kommunisten unter dem Korninternsekretär Kuusinen einsetzte. Dies läßt mehrere Schlüsse zu. Erstens konnte man nun in Finnland und anderswo wissen, daß Moskau eigentlich auf die Eroberung ganz Finnlands aus war; die passende Regierung für eine finnische Sowjetrepublik stand schon bereit. Zweitens zeigte sich, daß die Moskauer Führung gewillt war, ihre Ausdehnungspolitik mit Waffengewalt zu betreiben, ohne Rücksicht auf internationale Verpflichtungen. Der Völkerbund zog daraus die richtige Folgerung, arn 14. Dezember 1939 die Sowjetunion auszustoßen, was zwar formal einstimmig erfolgte, aber bei vielen Stimmenthaltungen, da über die an sich erforderlichen Gegenmaßnahmen wieder einmal keine Einmütigkeit herzustellen war. Drittens bot sich das aufschlußreiche Bild, daß die Sowjetunion das bewaffnete Eingreifen mit der Aufstellung einer Regierung aus Exilkommunisten verband. Gemäß eigenen Bekundungen rechneten ja die sowjetischen Führer mit einer Ausbreitung des Kommunismus über ganz Europa infolge des Krieges. Wie das finnische Beispiel zeigte, brauchte dies offenbar nicht so zu geschehen, daß in den kriegführenden Ländern die proletarischen Massen zur Revolution schritten oder die Rote Armee zu Hilfe riefen, um ihre Ketten zu sprengen. Sondern es genügte vollauf, wenn die Sowjetunion von sich aus angriff und die proletarischen Massen befreite, indem sie ihnen eine Regierung aus Exilkommunisten schenkte. Geeignetes Personal hierfür war in Moskau zuhauf vorhanden; beispielsweise hielten sich dort der deutsche Kommunist und Kominternsekretär Walter Ulbricht, der desertierte Parteivorsitzende der französischen Kommunisten Thorez sowie der italienische Kommunist und Korninternfunktionär Togliatti auf. Wenn Kuusinen bereitstand, um die Regierung von Sowjetfinnland zu führen, warum sollte dann nicht z. B. Ulbricht eine ähnliche Rolle übernehmen, nachdem die Rote Armee das deutsche Proletariat befreit hatte? Vorerst allerdings machte der tapfere Widerstand Finnlands einen Strich durch die sowjetische Rechnung. Die finnischen Truppen unter dem Oberbefehl von Marschall Mannerheim verfügten zwar über wenig modernes Gerät wie Panzer und Flugzeuge, doch war die Infanterie unter erheblichem finanziellen Aufwand zweckdienlich ausgerüstet worden, was in dem schwierigen und unwegsamen Gelände Finnlands mit seinen Wäldern und Seen von beträchtlichem Vorteil war. Obwohl zahlenmäßig stark überlegen, blieb die Rote Armee auf der Karelischen Landenge nördlich Leningrad vor einer behelfsmäßig ausgebauten Verteidigungslinie stecken, ebenso in den Einöden an der langen finnischen Ostgrenze. Die von oberflächlichen Beobachtern voreilig in Umlauf gesetzte Behauptung, die sowjeti-
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sehen Streitkräfte seien untauglich, wurde indes bald widerlegt. Nach einer Umgruppierung, Straffung der Befehlsverhältnisse und Verstärkung ihrer Truppen erzwang die Rote Armee im Februar 1940 auf der Karelischen Landenge den Durchbruch, wobei der gefrorene Boden die mechanisierten russischen Streitkräfte begünstigte und den Geländevorteil der finnischen Verteidiger wettmachte. Unterdessen hatte freilich Stalin die Überzeugung gewonnen, daß ein baldiger Friedensschluß mit Finnland, welcher der Sowjetunion Stützpunktrechte und Territorialgewinne einbrachte, der Fortsetzung des Krieges bis zur gänzlichen Besetzung Finnlands vorzuziehen sei. Bei einem entsprechenden Frieden verschenkte die Sowjetunion nichts und hielt sich für die Zukunft alle Möglichkeiten offen, von einer Satellitenrolle Finnlands bis zur späteren Besetzung des Landes, wogegen andernfalls das Eingreifen der Westmächte drohte und die Rote Armee überflüssigerweise auf einem Kriegsschauplatz gebunden wurde, wo nichts Unverzichtbares auf dem Spiel stand. Die finnische Regierung wiederum hielt einen Frieden mit Verlusten für ratsam, da fortgesetztes Durchhalten nicht möglich, überdies die Wirkung alliierter Hilfe zweifelhaft war und längerfristig immerhin die Hoffnung bestand, daß die Mächtekonstellation sich wieder änderte, so daß Finnland dem russischen Zugriff entging. So kam es zum finnisch-russischen Frieden vom 13. März 1940, durch welchen Finnland beträchtliche Gebietsstreifen an seiner Ost- und Südgrenze mit über 10% seiner vorherigen Bevölkerung verlor, die großenteils in den Reststaat floh, zudem mußte die Halbinsel Hangö am Eingang des Finnischen Meerbusens als Marinestützpunkt verpachtet werden, womit die Sowjetunion Durchgangsrechte erhielt. Im politischen und strategischen Rahmen des Zweiten Weltkriegs war der finnisch-russische Winterkrieg nur ein kleines Intermezzo; doch ließen sich daraus einige Lehren über das sowjetische Verhalten ziehen, außerdem hatte er gewisse Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des Krieges. 26 Der Lehren aus dem finnischen Winterkrieg bedurfte es nicht, um den Staatsmännern in London und Paris die Augen zu öffnen; sie wußten seit langem, was gespielt wurde. Besinnt man sich ein weiteres Mal darauf, daß die Appeasementpolitik weder eine Politik schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Diktatoren noch lediglich eine Politik der Friedenserhaltung war, sondern daß es sich um den Versuch handelte, in Europa ein stabiles Gleichgewicht herzustellen, so erkennt man unschwer, daß bloß durch den Kriegsausbruch diese Politik noch nicht an ihr Ende gelangen mußte; sie konnte auch unter anderen Bedingungen und mit anderen Mitteln fortgeführt werden. Wenn ein Krieg zwischen Deutschland und den europäischen Westmächten letztlich nur dazu führen würde, den Kommunismus in Europa triumphieren zu lassen, wie die Ministerpräsidenten Englands und Frankreichs schon vor dem Krieg festgestellt hatten, dann ergab es keinen Sinn, Deutschland niederzuwerfen und damit nicht bloß das stärkste Bollwerk gegen die Ausbreitung des Bolschewismus zu beseitigen, sondern auch das europäische 26 Allgemein hierzu Schieder, Europäische Geschichte 7/11, l076ff., l099ff., ll24ff. Condon. Myllyniemi. Dahms, l35ff.
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Gleichgewicht in einer Weise zu verändern, aus der allein Rußland Nutzen ziehen konnte. Es kam hinzu, daß die europäischen Westmächte wohl langfristig auf eine Unterstützung durch die USA bauten, daß sie aber nicht geneigt waren, den USA einen entscheidenden Anteil am Führen des Krieges und schon gar nicht an der Gestaltung des Friedens einzuräumen. In diesem Sinn bekannte Chamberlain in einem seiner Privatbriefe Anfang 1940, der Himmel wisse, daß er - Chamberlain nicht wünsche, die Amerikaner für Britannien kämpfen zu sehen, denn die Briten hätten es zu teuer zu bezahlen, wenn die Amerikaner über die Friedensbestimmungen entscheiden würden. Die Briten konnten wissen, noch bevor Roosevelt es ihnen sagte, welche Art von Frieden die Amerikaner errichten würden: eine Welt unter amerikanischer Führung, in welcher für Gleichgewichtspolitik kein Platz mehr war, in welcher der Kolonialismus ausgehöhlt, das britische Empire erschüttert oder aufgelöst und die Großmachtrolle Englands wie Frankreichs untergraben wurde. Ähnlich wie die Sowjetunion waren die USA eine der strategischen Leitmächte der Zeit; sie verfügten über die Menschenmassen, die Rohstoffe und das Wirtschaftspotential, um in jedem denkbaren Krieg den Ausschlag zu geben. Ähnlich wie die Sowjetunion war Amerika aber auch eine revolutionäre Macht, die sich nicht zufriedengab mit der Stellung einer Großmacht unter anderen Großmächten, sondern die fahig und willens war, die Berechtigung der herkömmlichen Rolle und Politik anderer Großmächte grundsätzlich zu bestreiten. Mit dem Ausbruch des Krieges gerieten England und Frankreich gewissermaßen zwischen Scylla und Charybdis: Hitler-Deutschland den Weg freizugeben, verbot sich von selbst, wenn man nicht riskieren wollte, daß Hitler die übrigen europäischen Großmächte eine nach der anderen erledigte, bis er am Ende den ganzen eurasischen Kontinent beherrschte. Auf der anderen Seite war indes auch das bedingungslose Hinarbeiten auf den Sieg ein höchst ungewisses und zweischneidiges Unterfangen. Ob die europäischen Westmächte überhaupt imstande waren, Deutschland in die Knie zu zwingen, solange dieses von Rußland unterstützt wurde, blieb zweifelhaft. Amerika in den Krieg hineinzuziehen, hätte nur militärisch eine Lösung gebracht, wäre jedoch politisch so kostspielig gewesen, daß es besser unterblieb, solange es sich vermeiden ließ. Ein Kampf gegen Deutschland auf Biegen oder Brechen war in mehrfacher Hinsicht untunlich. Führte er zu einem verlustreichen Abringen, gar zur Erschöpfung der Gegner, so war es der Sowjetunion ein leichtes, die ausgelaugten Reste Europas einzusammeln. Führte er aber wider Erwarten zum baldigen Zusammenbruch Deutschlands, so gewannen die Westmächte die Aussicht, mit der Sowjetunion über den Besitz Mitteleuropas zu streiten oder dieses, sofern sie den Waffengang mit der Roten Armee scheuten, mindestens zu großen Teilen der Sowjetunion zu überlassen. Das betraf dann außer dem eigentlichen Mitteleuropa auch den Balkan, seit jeher ein bevorzugtes Ziel des russischen Ausdehnungsstrebens. Die Lösung, welche man in London und Paris für dieses Dilemma fand, war der Sitzkrieg oder drollige Krieg oder was man sonst für Namen gebrauchte, um diese Form der vertagten Entscheidung zu bezeichnen. Was damit bezweckt wurde, be-
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schrieb Chamberlain in dem bereits erwähnten Privatbrief vom September 1939. Es hieß dort, die wesentliche Schwierigkeit liege in der Person Hitlers. Solange er nicht verschwinde und sein System zusammenbreche, könne es keinen Frieden geben. Worauf er - Chamberlain - hoffe, sei nicht ein militärischer Sieg, dessen Erreichbarkeit er stark bezweifle, sondern ein Zusammenbruch der deutschen Heimatfront Dafür sei es erforderlich, die Deutschen zu überzeugen, daß sie nicht gewinnen könnten. In einem ähnlichen Brief einen Monat später meinte Chamberlain, wenn nur die Westmächte fest blieben, ihre Rüstung vorantrieben, durch die Blockade den wirtschaftlichen Druck aufrechterhielten, selbst nicht angriffen, solange Hitler dies nicht tue, dann bestehe Aussicht, den Krieg bis zum Frühjahr zu beenden. So wirklichkeitsblind, wie das vielleicht zunächst anmutet, war es gar nicht. Chamberlain wußte sehr wohl, daß die deutsche Widerstandsbewegung mit dem Generalstabschef des Heeres Haider im Herbst 1938 den Staatsstreich vorbereitet hatte, und er hoffte darauf, daß der deutsche Widerstand nunmehr zur Tat schreiten werde, wenn sich herausstellte, daß Hitler das Reich in eine Sackgasse manövriert hatte. Bei nüchterner Betrachtung der Dinge war ja zweifellos die strategische Lage Deutschlands alles andere als rosig. Zum Führen eines langen Krieges aus eigener Kraft außerstande, da von Rohstoffeinfuhren aus dem Ausland abhängig, blieben dem Reich nur zwei Möglichkeiten, solange Frankreich, verschanzt hinter der Maginot-Linie, der Wehrmacht die Stirn zu bieten vermochte. Entweder setzte das Reich mit Hilfe russischer Lieferungen den Krieg fort, dann machte es sich zu einem Werkzeug der Sowjetunion, wurde erpreßbar und lief Gefahr, zu einem Satelliten Rußlands herabzusinken, der eines Tages vielleicht sogar völlig vereinnahmt wurde. Oder die deutsche Wirtschaft und damit die deutsche Kriegsfähigkeit kam aus Mangel an Rohstoffen allmählich zum Erliegen, dann mußte das Reich, wenn es nicht einfach die Waffen strecken wollte, die Westmächte um Frieden bitten. Da ein Frieden mit Hitler nicht in Frage kam, wie Chamberlain und andere britische Führer immer wieder betonten, blieb nur der Ausweg, das Hitler-Regime zu beseitigen. Eben dies strebten die britischen Appeaser an und warteten deshalb seit Kriegsausbruch auf einen Staatsstreich des deutschen Widerstands. Mit einem derart gereinigten Deutschland sollte dann der Frieden geschlossen werden, um das Reich, im Sinne der Appeasementpolitik, wieder zu einer Säule des europäischen Gleichgewichts werden zu lassen und die Sowjetunion in Schach zu halten. Verglichen mit dem Jahr 1938 war damit eine Neubewertung des deutschen Widerstands eingetreten, die fast einer Kehrtwendung gleichkam. 1938 hatten die Appeaser auch deswegen gezögert, Halders Staatsstreichplan außenpolitisch abzudecken, weil sie befürchtet hatten, das preußisch-deutsche Militär sei eher zu einer Verständigung mit Rußland bereit als Hitler, an dessen antibolschewistischer Einstellung kein Zweifel bestand. Nachdem sich jedoch erwiesen hatte, daß gerade Hitler zur Einigung mit der Sowjetunion imstande war und dies den Krieg nach sich gezogen hatte, brauchten die alten Befürchtungen gegenüber dem deutschen Militär nicht mehr gehegt zu werden. Wenn Haider den Staatsstreich jetzt durchführte, dann gab
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das Militär damit zu verstehen, daß es mit Hitlers Politik brechen, den Krieg beenden und die Verbindung zu Rußland abreißen lassen wollte. Solche Überlegungen waren nicht unbegründet, da Haider im Herbst 1939 einen zweiten Anlauf unternahm, um die innere Selbstreinigung des deutschen Staates durchzuführen. Voller Ungeduld schrieb Chamberlain Anfang Dezember 1939 in den aussagekräftigen Privatbriefen an seine Schwestern, er fange an sich zu fragen, ob man wohl mit den Deutschen vorankomme, wenn sie nicht zuerst einen harten Schlag in den Magen bekämen. Und Außenminister Halifax schrieb Mitte Februar 1940 an Chamberlain, er sehne sich nach einer deutschen Revolution. Eine Revolution mußte es in der Tat sein, denn wie Chamberlain Anfang November 1939 seinen Schwestern mitteilte, erwartete er von einem Umsturz, daß außer Hitler auch seine nationalsozialistische Umgebung zu verschwinden habe, ausgenommen vielleicht Göring, der gleichsam als Verzierung in einer Übergangsregierung bleiben könne, um als eine Art von Brücke zu einem gemäßigten Staatswesen zu dienen. Die Auffassung, mit Hitler jedenfalls keinen Frieden zu schließen, wurde von der französischen Regierung geteilt. Allerdings war die Appeasementpolitik schon vor dem Krieg in der Hauptsache ein Entwurf der britischen Regierung gewesen, dem sich Paris aus Mangel an tragfähigen Alternativen angeschlossen hatte. Der britische Einfluß auf die französische Außenpolitik ging so weit, daß sogar Personalentscheidungen im französischen Außenministerium mit Rücksicht auf London getroffen wurden. Das schloß freilich nicht aus, daß nach Kriegsausbruch in Paris andere Vorstellungen über die Gestalt eines künftigen Friedens entwickelt wurden als in London und ebenso über den Weg, wie man dorthin gelangte. Damit erheben sich zwei Fragen: erstens unter welchen Umständen hätte der Friede wiederhergestellt werden können und wie hätte er für Deutschland ausgesehen, sowie zweitens welche Maßnahmen sollten ergriffen werden, um die deutsche Friedensbereitschaft zu fördern oder, um Chamberlains Worte zu benützen, welchen harten Schlag konnte man den Deutschen in den Magen versetzen, damit sie erwachten ?27 In einer Rundfunkansprache vom 26. November 1939 führte Chamberlain die Unterscheidung von Kriegszielen und Friedenszielen ein, die sich im Sprachgebrauch nicht auf Dauer hielt, die aber an sich recht nützlich ist und den britischen Absichten im Herbst 1939 gut entsprach. Auf eine knappe Formel gebracht, bezeichneten die Friedensziele das, was erreicht werden sollte, nämlich eine dauerhafte europäische Friedensordnung, während die Kriegsziele sich darauf bezogen, wie man dorthin gelangte. Das fortwährend festgehaltene Kriegsziel der britischen Appeaser war die ,.zerstörung des Hitlerismus" oder, wie es auch öfters hieß, 27 Chamberlain über die USA nach Rock, 255 (27. l. 1940). Chamberlain über die deutsche Heimatfront nach Feiling, 418. Dasselbe ausführlicher bei D. Reynolds, Britain, 127. Ludlow, Unwinding, 21 (10. 9. 1939). Chamberlain über Kriegsbeendigung bis Frühjahr 1940 nach D. Reynolds, Britain, 127 (8. 10. 1939). Chamberlain über harten Schlag nach Ludlow, Unwinding, 26. Rock, 232 (3. 12. 1939). Halifax nach Ludlow, Unwinding, 40 (13. 2. 1940). Chamberlain über Göring nach Ludlow, Unwinding, 23f. (5. 11. 1939). Über Frankreich Heimsoeth, 62 ff., 207 ff.
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"a change of heart", womit konkret "a change of government" gemeint war, freilich nicht bloß die Auswechslung des Regierungspersonals, sondern eine innere Umwälzung, aus der hervorging, daß Deutschland bzw. das deutsche Volk willens war, zu einer Politik des friedlichen Ausgleichs und der Verständigung zurückzukehren. In diesem Sinn sagte Charnberlain in der erwähnten Rundfunkansprache, wenn das deutsche Volk davon überzeugt werden könne, daß der Geist innerer und äußerer Gewaltanwendung (also eigentlich ,,Hitlerismus") für es selbst ebenso schlecht sei wie für den Rest der Welt, dann werde es ihn aufgeben. Falls die Briten das deutsche Volk ohne Blutvergießen davon überzeugen könnten, daß es jenen Geist aufgeben müsse, sei das umso besser, aber aufgegeben müsse er werden. Im Grunde lief das darauf hinaus, den Krieg mit möglichst geringem eigenen Einsatz zu beenden und mit einer deutschen Umsturzregierung alsbald Friedensverhandlungen aufzunehmen. Wie der Frieden beschaffen sein sollte, oder, um Charnberlains Unterscheidung aufzugreifen, welches die britischen Friedensziele waren, wurde nie umfassend und verbindlich festgelegt. Man konnte sich indes in London ohne Mühe ausrechnen, daß auch eine deutsche Umsturzregierung schwerlich gewillt sein würde, die großen nationalpolitischen Erfolge der letzten Jahre aufzugeben, so insbesondere nicht den Anschluß Österreichs, den Gewinn des Sudetenlands und sicher auch nicht eine angemessene Grenzberichtigung gegenüber Polen. Solche Zugeständnisse brauchten den britischen Appeasern nicht schwerzufallen, zumal sie derartiges schon früher rechtsverbindlich anerkannt oder in Aussicht genommen hatten. Vor dem Unterhaus erklärte Charnberlain arn 12. Oktober 1939, in Antwort auf Hitlers Friedensrede vom 6. Oktober, nur die deutsche Regierung stehe einem dauerhaften und gedeihlichen Frieden im Wege. Es sei kein Teil der britischen Politik, ein Deutschland, das mit anderen Nationen in Freundschaft und Vertrauen lebe, von seinem rechtmäßigen Platz in Buropa auszuschließen. London verlange nichts vom deutschen Volk, was dessen Selbstachtung verletzen würde. Natürlich war das ziemlich wolkig, doch konnte es einem aufmerksamen Beobachter zu denken geben, daß es die britische Regierung sorgfaltig vermied, von der Wiederherstellung des polnischen oder tschechoslowakischen Staates zu sprechen, sich vielmehr damit begnügte, für die betreffenden Völker Freiheit zu verlangen. In vertraulichen Äußerungen wurden die Appeaser deutlicher. Privat schrieb Chamberlain Ende November 1939, wenn man erst die Nazis los sei, dann werde man nach seiner Überzeugung in Deutschland nicht auf Schwierigkeiten stoßen hinsichtlich Polens, der Tschechoslowakei, der Juden, der Abrüstungsfrage usf. Gegenüber Surnner Welles bekannte er im März 1940, er sei in keiner Weise unnachgiebig, was die Grenzen eines neuen polnischen oder tschechischen Staates angehe. Die Slowakei sei jetzt von der Tschechei ("Czechia") getrennt, und er sehe keinen Grund, das zu ändern. Er glaube, daß es einem dauerhaften Frieden zuträglich sei, Danzig und die deutschen Minderheiten des alten Polen an das Deutsche Reich anzuschließen. In Hinblick auf Österreich sei er bereit, das Prinzip der Selbstbestimmung durch eine freie und unparteiische Volksabstimmung anzuerkennen. Daß eine solche zu-
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gunsten des Anschlusses ausgehen würde, war nicht zweifelhaft. All dies stellte Appeasementpolitik reinsten Wassers dar, also eine Politik, die darauf abzielte, das europäische Gleichgewicht auf den festen Pfeiler eines starken Deutschen Reiches zu stützen, welches das westliche Europa gegen Rußland abschirmte und zu diesem Zweck eine Vormachtrolle gegenüber dem Gürtel zwischeneuropäischer Kleinstaaten, dem ehemaligen Cordon sanitaire, ausübte. 28 Diese britischen Vorstellungen blieben nicht unangefochten. Halifax erinnerte im Juli 1940, nach der Niederlage Frankreichs, das Kriegskabinett daran, daß man am Beginn des Krieges die Ansicht vertreten habe, wenn nur Deutschland sich vom Hitlerismus befreie, dann bestehe kein Grund, warum es nicht seinen Platz in einem neuen und besseren Europa besetzen solle. Später jedoch, auf Betreiben der Franzosen, habe man diese Linie fast aufgegeben. Er - Halifax - halte es für wichtig, daß man dorthin zurückkehre. Es soll an dieser Stelle nicht die Rede sein von den britischen Kriegs- und Friedenszielen nach dem Sommer 1940, zumal sie neben denjenigen anderer Mächte ohnedies keine große Bedeutung mehr erlangten. Wichtig ist vielmehr, daß Frankreich offenbar darangegangen war, die britischen Vorstellungen von einem neuen und besseren Europa zu torpedieren. Deswegen hatte Chamberlain in einem seiner Privatbriefe von Anfang November 1939 geschrieben, einen Umsturz in Deutschland vorausgesetzt sei es einfacher, mit den Deutschen zu einer vernünftigen Lösung zu kommen als mit den Franzosen. Der wirkliche Ärger werde sich viel eher mit den Franzosen einstellen. In der Regel seien sie ganz stumpfsinnig (very wooden) in diesen Dingen und lernten nicht leicht aus vergangeneo Fehlern - womit natürlich Versailles gemeint war. Was Chamberlain so aufbrachte, war eine Denkschrift der französischen Regierung an die britische vom 23. Oktober 1939, in welcher verkündet wurde, ein Regierungswechsel in Berlin genüge nicht als Kriegsziel, vielmehr seien materielle Garantien erforderlich, um den deutschen Imperialismus zu bändigen. Worin solche Garantien bestehen sollten, wurde den Briten vorläufig nicht mitgeteilt, doch befürchtete man in London sofort, die Franzosen könnten äußerstenfalls die Zerstückelung Deutschlands verlangen, mindestens aber die politische oder militärische Rheingrenze, wie sie es im Ersten Weltkrieg und danach getan hatten. Als sich die Ministerpräsidenten beider Länder im Dezember 1939 zu einer ihrer Besprechungen im sog. Interalliierten Kriegsrat trafen, lüftete Daladier den Schleier. Er bestand zwar nicht auf der Zerstückelung Deutschlands, wünschte indes die militärische Rheingrenze, was durch die Errichtung von Stützpunkten auf dem linken Rheinufer gewährleistet werden sollte. Beim Besuch von Surnner Welles im März 1940 sprach Daladier von der Wiedererrichtung eines verkleinerten polnischen und tschechischen Staates, dagegen sollten die deutschsprachigen Gebiete im Osten, also Dan28 Chamberlains Rundfunkansprache vom 26. 11. 1939 sowie die Unterhausrede vom 12. 10. 1939 in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 30ff., 74f. Chamberlains Privatbrief vom 5. 11. 1939 nach Ludlow, Unwinding, 21. Chamberlain zu Sumner WeHesam 13. 3. 1940 in FRUS 1940, I, 83 ff. Allgemein Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 9 f., 54 ff., 129 ff. und passim. Tyrell, Deutschlandplanung, 1 ff. Kettenacker, Deutschlandplanung.
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zig, Teile des ehemaligen Westpolen und das Sudetenland, dem Reich angeschlossen sowie in Österreich eine Volksabstimmung veranstaltet werden. Unter der Voraussetzung, daß Daladier mit solchen Zugeständnissen nicht bloß seinen guten Willen gegenüber Amerikanern und Briten demonstrieren wollte, zielten die französischen Pläne demnach auf eine Art von Ostverschiebung Deutschlands ab. Während das Reich im Osten Gebietsgewinne behalten oder neu erwerben sollte, zu Lasten der ehemaligen Verbündeten Frankreichs in Zwischeneuropa, sollte das linke Rheinufer wieder dem französischen Zugriff offenstehen, zumindest militärisch und im Bedarfsfall vielleicht auch politisch. Welcher Logik dies folgte, bleibt undurchsichtig, sofern man darin nicht eine bloße Fortsetzung des jahrhundertelangen Bestrebens sehen will, die französische Ostgrenze in Richtung auf den Rhein vorzuschieben. Nachdem es eines der vordringlichen deutschen Revisionsziele in der Zwischenkriegszeit gewesen war, die Besetzung des Rheinlands aufzuheben und dort die deutsche Souveränität wiederherzustellen, ist nicht recht erkennbar, wie eine deutsche Regierung nunmehr aus freien Stücken erneut in eine militärische Besetzung des Rheinlands hätte einwillen sollen. Wenn aber kaum eine Aussicht bestand, derartiges im Wege gütlicher Verhandlungen zu erreichen, dann blieb nur der Ausweg, es durch einen Krieg zu erzwingen, in welchem Deutschland so unter Druck geriet, daß es jede Friedensbedingung annehmen mußte. Augenscheinlich war es das, was die französische Regierung anstrebte; daher hieß es in der französischen Denkschrift vom 23. Oktober 1939, die Regierungen in Paris und London hätten die Sicherheitsgarantien zu besprechen, die zu gegebener Zeit dem Deutschen Reich auferlegt werden müßten. Mit dem Plan der britischen Appeaser war das unverträglich, denn diese hatten von einer deutschen Umsturzregierung nur Dinge verlangen wollen, die mühelos verhandelbar waren, so insbesondere die Wiederherstellung eines polnischen und tschechischen Rumpfstaates, während Paris etwas auferlegen (imposer) wollte, was ohne Zwang nicht verhandelbar war. Mit gutem Grund verlangte Paris das Geheirnhalten der entsprechenden Beratungen mit London, denn wenn in Deutschland erst bekannt wurde, was man von einem Frieden nach französischem Muster zu erwarten hatte, würde sich nicht leicht eine Umsturzregierung finden, die das Odium auf sich nahm, wesentliche deutsche Gebietsteile und Souveränitätsrechte preiszugeben. Durch das französische Vorhaben wurde im Grunde Chamberlains Plan unterlaufen, dem deutschen Volk bzw. dem deutschen Widerstand goldene Brücken zu bauen, damit sie sich selbst aus der Verstrickung in den "Hitlerismus" befreiten. Die Erhaltung eines starken Deutschen Reiches in einem tragfähigen europäischen Gleichgewicht schwebte auch der französischen Regierung vor, wie die gewünschte Ostverschiebung zeigt. Aber nach den tief eingebrannten Erfahrungen von Versailles mußte den Deutschen und vor allem den Offizieren, von denen ein Staatsstreich erwartet wurde, eine echte Alternative zu Hitler gezeigt werden, mußte ihnen das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Westmächte wieder eingeflößt und der Verdacht ausgeräumt werden, Deutschland könne erneut, wie 1918/19,
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getäuscht, erpreßt und gedemütigt werden. Chamberlains Plan war geeignet, den Deutschen ihre Selbstachtung zu lassen, wie es in der Rede des Premiers vom 12. Oktober 1939 hieß; dagegen zielte der französische Plan erneut darauf ab, die Deutschen zu hintergehen und ihnen unter Zwang etwas abzupressen, was sie mit ihrer Würde und ihren nationalen Lebensbedürfnissen nicht vereinbaren konnten. Im übrigen war keineswegs ausgemacht, daß Frankreich sich mit dem linken Rheinufer begnügen würde, wenn es erst imstande war, deutsche Zugeständnisse zu erzwingen; weitere Forderungen waren dann immerhin vorstellbar, etwa Reparationen wie nach dem Ersten Weltkrieg. Außerdem mußte der deutsche Widerstand in Betracht ziehen, daß Frankreich, solange es sich nicht eindeutig für die Achtung des deutschen Besitzstandes ausgesprochen hatte, einen Staatsstreich ausnützen könnte, um in einem Augenblick deutscher Schwäche militärisch einzugreifen. Führte dies zu einer deutschen Niederlage, so standen die Gegner Hitlers geradezu als Vaterlandsverräter da, die den Feind ins Land gelassen und alle Folgen der Niederlage zu verantworten hatten. Wer würde das wohl auf sich nehmen? Der Plan Chamberlains bot zwar nicht die Gewißheit, aber immerhin eine echte Chance, den Krieg ohne großen Aufwand zu beenden und nach einem Umsturz in Deutschland wieder ein gefestigtes europäisches Gleichgewicht zu errichten. Dagegen verhinderte das französische Vorhaben, daß die Westmächte gemeinsam, überzeugend und vertrauenerweckend dem deutschen Volk wie dem deutschen Widerstand den Weg aufzeigten, auf welchem der Friede ohne größeren Schaden zurückgewonnen werden konnte. Ob unter solchen Umständen der Staatsstreich in Deutschland noch eine Chance hatte, war mehr als fraglich. Wenn jedoch der Umsturz ausblieb, dann mußte mit größter Wahrscheinlichkeit der Krieg bis zur letzten Entscheidung durchgeschlagen werden, und dann mußte sich erst noch zeigen, was aus dem europäischen Gleichgewicht wurde. 29 Die britischen Appeaser gerieten durch die französische Haltung in eine äußerst mißliche Lage. Auf der einen Seite war abzusehen, daß die Aussicht auf einen Staatsstreich in Deutschland umso mehr schwinden würde, je stärker London und Paris mit unterschiedlichen Zungen sprachen, je geringer die Hoffnungen des deutschen Volkes wie des deutschen Widerstandes auf einen Verständigungsfrieden wurden und je besser die nationalsozialistische Propaganda Gelegenheit erhielt. den Deutschen einzuhämmern, sie hätten von den Westmächten ebensowenig Gutes zu erwarten wie im Ersten Weltkrieg. Auf der anderen Seite war die französische Politik geeignet, auf die Einstellung in England abzufärben. Zwar brauchte London, wenn es sich den französischen Wünschen verschloß, keinen Bruch des Bündnisses zu befürchten, namentlich keinen Sonderfrieden Frankreichs, da auch 29 Halifax 1940 in Dokumente zur Deutschlandpolitik J/1, 181 (26. 7. 1940). Chamberlain 1939 nach Ludlow, Unwinding, 32. Rock, 229 (5. 11. 1939). Die französische Denkschrift vom 23. 10. 1939 und Kommentare im britischen Außenministerium hierzu in Dokumente zur Deutschlandpolitik J/1, 37 ff., 44 ff. Zur Sitzung des Obersten Kriegsrats B&iarida, 185 ff., 222. Dokumente zur Deutschlandpolitik J/1, 94f. (19. 12. 1939). Daladier zu Sumner WeHes in FRUS 1940, I, 59ff. (7. 3. 1940). Allgemein auch Heimsoeth, 219ff.
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den Staatsmännern in Paris bewußt war, daß Frankreich in diesem Fall keine dauerhafte Sicherheit vor Hitler gewann. Doch besaß London umgekehrt keine Mittel, die französische Regierung davon abzuhalten, daß sie ihre Ziele weiterhin verfolgte und bei entsprechender Entwicklung der Kriegslage mit Waffengewalt erzwang. Damit erhielten aber zugleich all diejenigen Kräfte in Britannien Auftrieb, denen die feingesponnenen Überlegungen der Appeaser nicht nachvollziehbar, denen ihre behutsamen Verständigungsversuche ein Dorn im Auge waren, alle diejenigen, welche es schon immer besser gewußt hatten, daß man Deutschland hart anfassen müsse, und welche durch den Kriegsausbruch nunmehr die Überzeugung gewonnen hatten, nur ein vollständiger Sieg und ein harter Friede biete die Gewähr, zukünftig Ruhe und Sicherheit in Buropa nach dem Willen der Westmächte herzustellen. Zu diesen Kräften in England gehörte der wortgewaltige Schriftsteller und machtverliebte Politiker Winston S. Churchill, ein Mann, der seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine jahrzehntelange Laufbahn durch die verschiedensten Ministerämter hinter sich gebracht hatte, begünstigt durch seine Abstammung, durch mehrfachen Parteiwechsel und durch die Gabe der Rede, nie entmutigt durch Fehlleistungen und sachliche Mißerfolge, ein Mann, der als Schriftsteller wie als Politiker mehr der großen Geste und dem berauschenden Entwurf zugetan war als dem tiefgründigen Bohren an Sachfragen, ein Mann, durchdrungen von der vergangenen Größe des britischen Empire, beseelt vom Durst nach eigenem Ruhm, ein Mann, der in den dreißiger Jahren politisch kaltgestellt und erst bei Kriegsausbruch wieder mit dem Amt des Marineministers betraut worden war, um ihn besser am Zügel halten zu können, ein Mann schließlich, für den es den Höhepunkt seines Lebens bedeutete, als Führer des Empire die Herausforderung eines Krieges zu bestehen, den er selbst zum heroischen Existenzkampf emporstilisierte, obwohl es in Wahrheit der Todeskampf des britischen Empire zu werden versprach. Es war Churchill, der im März 1940 gegenüber Surnner Welles ausführte, er sitze heute in demselben Amt wie ein Vierteljahrhundert früher, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und er sehe sich genau derselben Lage gegenüber. Die Ziele des deutschen Volkes hätten sich nicht geändert und würden sich nicht ändern; diese Ziele seien die Weltherrschaft und militärische Eroberung. Keine andere Lösung sei möglich als die totale Niederlage Deutschlands und ein Friede, welcher der Welt für 100 Jahre Sicherheit vor Deutschland gebe. Österreich, Polen, die Tschechoslowakei müßten wiederhergestellt werden; dagegen stelle Rußland in seinen Augen keine wirkliche Gefahr und kein wirkliches Problem dar. Wenn diese Worte Churchills mehr sein sollten als ein tatsachenwidriger, rhetorisch aufgeplusterter Gefühlsausbruch, dann waren sie im günstigeren Fall kenntnislos und im schlimmeren Fall unverantwortlich. In der Vergangenheit mochte es für Britannien ausgereicht haben, kriegerischen Geist zu beweisen, um alle kontinentalen Widersacher niederzuringen und zugleich ein Weltreich zusammenzuraffen. Aber diese Zeiten waren vorbei; falls es nicht gelang, den derzeitigen Krieg in absehbarer Zeit gütlich beizulegen, würden über das zukünftige Schicksal Europas und der Welt nicht Eng-
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land und Frankreich entscheiden, sondern die Sowjetunion oder die USA oder beide. Woher nahm wohl Churchill, der notorische Bolschewistenfresser, seine Zuversicht, daß die Sowjetunion harmlos sei, wenn gleichzeitig der Premier und der Außenminister als Folge des Krieges die Ausbreitung des Kommunismus nach dem westlichen Europa befürchteten, wie Halifax im November 1939 noch einmal bekräftigte? Und wie gedachte Churchill ein selbständiges Polen wiederherzustellen, wenn Ende Oktober 1939 im Foreign Office festgestellt worden war, bei einem Zusammenbruch Deutschlands werde voraussichtlich Rußland sich in ganz Polen festsetzen? Oder sollte es nur Churchills politischem Aufstieg dienen, wenn er die abgedroschenen Propagandafloskeln des Ersten Weltkriegs wieder hervorkramte, wenn er in öffentlichen Reden, die von der Regierung nicht autorisiert waren, herausposaunte, die wiederkehrende deutsche oder preußische Gefahr für Europa müsse zerstört werden? Ließ es nicht tief blicken, wenn der sowjetische Botschafter in London, Maiskij, die baldige Ersetzung Chamberlains durch Churchill empfahl? Während Chamberlain den Krieg mit Anstand zu beenden wünschte, um das europäische Gleichgewicht zu erhalten, bot die Kriegslüsternheit Churchills weit bessere Aussichten, daß die Länder des mittleren und westlichen Europa sich zerfleischten, woraus Rußland seinen Vorteil ziehen konnte. Der britische Labour-Abgeordnete Dalton, mit Maiskij öfters in Berührung, kam im September 1939 zu der Auffassung, daß die Sowjetunion auf die Erschöpfung Deutschlands warte, um ihm den Gnadenstoß zu versetzen und ganz Mitteleuropa zu beherrschen. Warum war Churchill solchen Erwägungen unzugänglich? Interessierte ihn nichts als seine eigene Heldenrolle? Wie auch immer, jedenfalls gelang es Churchill, in der Gunst der öffentlichen Meinung zusehends Chamberlain zu verdrängen, bis er spätestens im Frühjahr 1940 mehrheitlich als der zukünftige Premier gehandelt wurde. Es wird nicht ganz zufällig gewesen sein, daß Roosevelt im September 1939 einen privaten Briefwechsel mit Churchill begann, der dann während des ganzen Krieges andauerte. Churchill bezog daraus eine Steigerung seines Ansehens, und für Roosevelt war es nützlich, beizeiten persönliche Beziehungen zu einem Mann anzuknüpfen, der anders als Chamberlain den Krieg ausfechten wollte, der mit dieser Einstellung vielleicht Premier werden und dann gezwungen sein würde, dem amerikanischen Einfluß Tür und Tor zu öffnen? 0 Zu den Kräften in Britannien, welche angesichts der französischen Kriegszielforderungen Auftrieb erhielten oder auf einen fahrenden Zug aufzuspringen trachteten, gehörte sodann Anthony Eden, vor dem Krieg zeitweise Außenminister, bis er wegen Differenzen mit den Appeasern ausschied, und nach Kriegsausbruch 30 Zu Churchill allgemein Churchill/Gilbert. Ferner Doherty; Aigner; Charmley. Zu Churchills Aufstieg nach Kriegsausbruch Addison, 75 ff. Churchill zu Sumner Welles in FRUS 1940, I, 83ff. (12. 3. 1940). Halifax über Kommunismus November 1939 nach Carlton, 156. Über Polen W. Strang, Hilfs-Unterstaatssekretär im Foreign Office, in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111,48 (31. 10. 1939). Maiskij und Dalton nach Kitchen, Policy, 3.
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Minister für die Dominions. In einer Erklärung vor dem Unterhaus am 6. Dezember 1939 ließ er die von den Appeasern stets festgehaltene Unterscheidung zwischen den Nationalsozialisten und dem deutschen Volk erstmals fallen. Hitler, so meinte er, sei keine Erscheinung für sich, sondern ein Symptom für den wiedererstandenen preußischen Geist militärischer Herrschaft. In einer Rede vom April 1940 griff Eden die Formel erneut auf und verdeutlichte sie mit den Worten, Hitler sei nicht etwas vom deutschen Volk Verschiedenes, sondern er habe seine Pläne aus der deutschen Geschichte geerbt. Wenngleich Eden die Folgerung daraus nicht selbst zog, lag sie doch auf der Hand: Der Kampf galt nicht dem "Hitlerismus", sondern Deutschland allgemein; der Krieg konnte nur durch einen vollständigen Sieg beendet werden, wie auch Churchill es verlangte. Am entschiedensten und nachdrücklichsten wurde diese Auffassung von Robert Vansittart vertreten, vor dem Krieg lange Unterstaatssekretär im Foreign Office, bis ihn die Appeaser 1938 auf den unbedeutenden Posten eines diplomatischen Beraters der Regierung abgeschoben hatten. Vansittart wurde zum bekanntesten Verfechter der Theorie, daß das eigentliche Übel im deutschen Volkscharakter liege und daß demzufolge der Krieg darauf gerichtet sein müsse, dieses Übel unschädlich zu machen. Seit dem November 1939 suchte er mit amtsinternen Denkschriften zunächst das Foreign Office zu überzeugen, wobei er seinen Tonfall allmählich verschärfte - im März 1940 verbreitete er sich im Hinblick auf Deutschland über das "Wesen der Bestie" - und immerhin teilweise auf gedämpfte Zustimmung stieß. Anders als Churchill, der im Mai 1940 Premierminister, und anders als Eden, der im Dezember 1940 Außenminister wurde, erhielt zwar Vansittart kein hohes Amt mehr, sondern schied 1941 aus dem Regierungsdienst aus. Dazu trug sicher die Radikalität seiner Ansichten bei, die er seit Ende 1940 durch Vorträge und Schriften öffentlich verbreitete. Selbst Churchill erteilte ihm Anfang 1941 eine böse Zurechtweisung, als er ihm schrieb, wenn seine Ideen überhaupt etwas bedeuteten, dann liefen sie auf die unsinnige Folgerung hinaus, viele Millionen Menschen auszurotten. Und Roosevelt ließ im November 1941 Vansittarts Schriften für Propagandazwecke benützen, jedoch mit der Einschränkung, es gehe nicht an, die Deutschen über tausend Jahre hinweg als Barbaren darzustellen, vielmehr sollten sie getadelt werden, weil sie einer hochgradig zerstörefischen Führung folgten. Dennoch trug Vansittart seit dem Herbst 1939 dazu bei, jenen Kräften Auftrieb zu verleihen, die das Heil für Britannien nicht in nüchterner Abwägung seiner Möglichkeiten und Grenzen suchten, sondern in der Entfesselung von Leidenschaften, in der Verteufelung des Gegners und im Kampf für einen Sieg, der günstigstenfalls ein Pyrrhus-Sieg sein konnte? 1 31 Zu Eden allgemein Carlton. Edens Reden vom 6. 12. 1939 und 17. 4. 1940 in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 87 f., 159 f. Zu Vansittart Tyrell, Deutschlandplanung, 29ff. Vansittarts Denkschriften vom 28. 11. 1939 und 14. 3. 1940, dazu Bemerkungen im Foreign Office, sowie Churchills Zurechtweisung vom 7. I. 1941 in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 76ff., 88ff., 143f., 151 f., 266. Roosevelt am 7. 11. 1941 über Propaganda in Dokumente zur Deutschlandpolitik 112, 58.
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Ungeachtet der inneren und äußeren Widerstände suchten die Appeaser an ihrer Politik weiterhin festzuhalten. Der französischen Regierung gegenüber zeigten sie sich gesprächsbereit, verwandten gelegentlich Formulierungen, daß Deutschland geschlagen werden müsse, und bekundeten den Willen, keine Festlegungen gegenüber Deutschland zu treffen, die nicht mit Paris abgesprochen waren. All dies war entweder selbstverständlich oder nichtssagend. Daß man der deutschen Seite keine Zugeständnisse hinter dem Rücken des verbündeten Frankreich machte, entsprach den diplomatischen Gepflogenheiten und war im übrigen schon deshalb geboten, weil seit dem Hertlst 1939 aus psychologischen Gründen eine gemeinsame Erklärung geplant war, durch welche Separatverhandlungen mit dem Gegner und insbesondere ein Separatfriede ausgeschlossen wurden. Daß gelegentlich von einem Sieg über Deutschland die Rede war, blieb nichtssagend, weil die Appeaser in der Masse ihrer Äußerungen auf dem früheren Standpunkt verharrten, weil die vereinzelt auftretenden schärferen Formulierungen gezielt für französische Ohren bestimmt waren und weil die Appeaser nie von ihrer Lesart abrückten, daß die Beendigung Hitlerscher Gewaltpolitik den eigentlichen Sieg darstelle. Ebenso nichtssagend war es, wenn die Appeaser zu Beratungen über die französischen Ziele bereit waren, denn bereit waren sie nur zu Beratungen, nicht aber zur Übernahme dieser Ziele. Um Frankreich dennoch entgegenzukommen und einen Ausweg zu finden, der für alle Beteiligten zufriedenstellend war, suchten Chamberlain und Halifax aus den französischen Forderungen einen vernünftigen Kern herauszufiltern und daran die Lösung festzumachen. Diesen Kern erblickten sie in dem französischen Sicherheitsstreben, das aus der Furcht vor der wirtschaftlichen und bevölkerungsmäßigen Überlegenheit Deutschlands erwuchs. Um diese Überlegenheit auszugleichen, gab es offenbar zwei Wege. Man konnte einerseits, wie Frankreich es in der Vergangenheit versucht hatte, diese Überlegenheit gewaltsam beseitigen oder vermindern, sei es durch eine Zerschlagung Deutschlands, durch Gebietsabtretungen, durch einseitige Entwaffnung, durch wirtschaftliche oder finanzielle Maßnahmen wie hohe Zahlungen und dergleichen mehr. Oder man konnte andererseits dem deutschen Potential ein ausreichendes Potential (mehrerer) anderer Länder entgegenstellen, etwa durch Bündnisse. Den ersten Weg hielten die Appeaser für unvernünftig, da er nur zu Demütigung und Haß, zu Vergewaltigung und Gegenwehr führte, woraus am Ende immer wieder Zwietracht oder Krieg entstand. Die vernünftige Lösung erblickten dagegen die Appeaser in der ungeschmälerten Erhaltung eines deutschen Staates, der die deutsche Bevölkerung mit ihrem Wirtschafts- und Wehrpotential umschloß. Die Überlegenheit dieses Potentials gegenüber dem französischen sollte ausgeglichen werden, indem an die Seite des französischen Staates ein weiteres Land mit vergleichbarer Kraft trat und so die Gewichte gleichmäßig verteilte. Unter den gegebenen Umständen konnte das nur Britannien selbst sein, das sich dazu bereitfinden mußte, eine dauerhafte Verbindung mit Frankreich einzugehen.
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Der Gedanke scheint Anfang 1940 in Kreisen der Appeaser aufgetaucht zu sein, jedenfalls schrieb Halifax am 13. Februar 1940 an Chamberlain, er empfinde immer stärker, daß die Antwort auf die französische Forderung nach dem Rhein eine fortgesetzte vollständige Einheit Frankreichs und Britanniens sei und vielleicht das Beibehalten einer Form von Wehrpflicht in England nach dem Krieg. Ende Februar 1940 entstand im Foreign Office eine Denkschrift, in der es hieß, im Interesse eines beständigen Friedens nach dem Krieg müßte eine solche Art des Zusammenwirkens von Britannien und Frankreich eingerichtet werden, daß beide Länder wie eine Einheit handelten. Solch eine Einheit würde ein wirksames - vielleicht das einzige wirksame - Gegengewicht zu der Einheit von 80 Millionen Deutschen in der Mitte Europas darstellen. Die genannte Zahlenangabe - 80 Millionen Deutsche - verdient Aufmerksamkeit. Da das Großdeutsche Reich mit Österreich und dem Suderenland zu dieser Zeit gut 78 Millionen Einwohner zählte, folgte das Foreign Office offenbar den Vorstellungen Chamberlains, daß das Großdeutsche Reich erhalten bleiben und durch die deutsche Minderheit im vormaligen Polen ergänzt werden solle. Nachdem der Premier am 1. März seine vollständige Zustimmung zu der Denkschrift ausgedrückt hatte, wurden vorbereitende Studien über eine britisch-französische Union erarbeitet, z. B. eine Denkschrift des Staatsphilosophen Lionel Curtis, der 1931 mit dem Westminster-Statut die Verfassung des britischen Commonwealth entworfen hatte und nun Über die Stabilisierung des Friedens auf der Grundlage eines dauerhaften französisch-britischen Bündnisses schrieb, sowie ein Gesetzentwurf über die dauernde Assoziation zwischen Britannien und Frankreich erstellt. Auf der Sitzung des Obersten Kriegsratsam 28. März 1940 gaben beide Regierungen die Erklärung ab, sie wollten nach dem Friedensschluß eine Handlungsgemeinschaft aufrechterhalten, solange ihre Sicherheit und die Bewahrung des Friedens es erforderlich machten. Das war noch ziemlich unbestimmt, zeigt aber doch, daß die Appeaser sich bemühten, die französische Seite allmählich an ihre Vorstellung heranzuführen, nämlich an den Plan, den Franzosen statt des Rheinlands eine britisch-französische Union anzubieten, um auf diese Weise das Großdeutsche Reich erhalten und die Hindernisse gegen einen Staatsstreich in Deutschland ausräumen zu können. Noch am 10. April 1940 wiederholte Halifax in einer öffentlichen Rede die alte Formel Chamberlains, wenn nur Deutschland sich wieder so betrage, daß der deutsche Name nicht entehrt werde, dann könne es wieder seinen Platz in der Farnilie europäischer Nationen einnehmen, ohne daß seine Selbstachtung verletzt werde. Deutschland solle ein guter Nachbar sein, das sei das Ziel der militärischen und diplomatischen Anstrengungen Britanniens. Am guten Willen der Appeaser kann demnach kaum ein Zweifel bestehen; fraglich blieb nur, ob es für ihre Bemühungen nicht schon zu spät war. Die britisch-französische Union war einstweilen bloß eine Idee; ob sie jemals verwirklicht werden konnte, ob die französische Politik tatsächlich die Einsicht aufbrachte, Deutschland nicht mehr zu schwächen und zu bevormunden, alldies blieb ungewiß. Unterdessen waren aber kostbare Monate verstrichen, in welchen das deutsche Volk wie der deutsche Wi6•
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derstand keine eindeutigen Zeichen empfangen hatten, wie sich England und vor allem Frankreich in Zukunft zu verhalten gedachten, kostbare Monate, in denen man den deutschen Widerstand um den Entschluß zum Umsturz hatte ringen lassen, während Frankreich von der Rheingrenze träumte, manche Kreise sogar von der Zerstückelung Deutschlands, während Churchill, aus dem Ersten Weltkrieg wohlbekannt, nach dem höchsten Regierungsamt gierte und den Eindruck erweckte, daß von ihm nicht viel Gutes für die Deutschen zu erwarten sei, kostbare Monate, in denen die Weichen gestellt werden konnten: entweder für eine baldige Beendigung des Krieges oder für seine Ausweitung. 32 Die Weichen für eine baldige Beendigung des Krieges suchten die Appeaser zu stellen durch Maßnahmen, welche das deutsche Volk überzeugen sollten, daß es den Krieg nicht gewinnen könne, oder welche ihm, in Chamberlains Worten, einen harten Schlag in den Magen versetzten. Dazu gehörte der Propagandakrieg durch den Abwurf von Flugblättern, auch wenn er sicher keinen harten Schlag in den Magen darstellte. Mehr versprach sich Chamberlain von der wirtschaftlichen Unterstützung durch Amerika, die Anfang November 1939 schließlich erreicht wurde. Der amerikanischen Regierung und Roosevelt selbst versicherte Chamberlain mehrfach, er hoffe auf ein Zerbrechen der deutschen Heimatfront, sobald man dort erkannt habe, daß der Krieg nicht zu gewinnen sei, und dies könne vor allem durch amerikanische Hilfslieferungen erreicht werden, die einen verheerenden Einfluß auf die deutsche Kampfmoral haben müßten. Als ein baldiger Erfolg sich dennoch nicht abzeichnete, suchte Chamberlain nachzuhelfen, indem er Anfang Januar 1940 in einer öffentlichen Rede erklärte, das deutsche Volk müsse erkennen, daß es ebenso eine Verantwortung für die Verlängerung des Krieges und seiner möglichen Leiden trage wie die Tyrannen, die über ihm stünden. Mit dieser Verschärfung des Tonfalls, die sicher für deutsche Ohren bestimmt war, sollte die deutsche Widerstandsbewegung wachgerüttelt werden, doch genügte es als Schlag in den Magen wohl noch nicht. Aussichtsreicher waren militärische Schläge, welche tatsächlich die deutsche Kriegsfähigkeit beeinträchtigten. Über solche wurde seit Kriegsbeginn auf englischer wie französischer Seite eifrig nachgedacht. Dabei bestand allerdings Einigkeit, eine direkte Großoffensive gegen Deutschland zu vermeiden, jedenfalls vorerst. Der französische Generalstabschef Gamelin rechnete offenbar damit, daß ein Angriff der Wehrmacht an der Westfront, den er im Jahr 1940 erwartete, zurückgeschlagen werden könne und daß dann in Deutschland ein Aufstand gegen Hitler losbrechen werdt>. Ansonsten bevorzugten Paris und London eine indirekte Strategie gegen Deutschland, die dessen wirtschaftliche Kriegsfahigkeit untergraben sollte, vor allem durch die Sperrung von Rohstoffzufuhren. 32 Einzelheiten zur Haltung der Appeaser in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, passim. Hierzu sowie vor allem zu den britischen Unionsplänen ferner Ludlow, Unwinding, 35 ff. Die Denkschrift des Foreign Office vom 28. 2. 1940 auch in Kettenacker, Anderes Deutschland, 161 ff. Die Denkschrift von Curtis, die Erklärung des Obersten Kriegsrats sowie die Rede von Halifax (10. 4. 1940) in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 148f., 157 f., 162 ff.
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Die wichtigsten Rohstofflieferanten des Balkanraumes, Rumänien (Öl) und die Türkei (Chromerz), suchten die Westmächte politisch und wirtschaftlich an sich zu binden, was nach der britisch-französischen Garantie für Rumänien vom April 1939 zu einem britisch-französisch-türkischen Beistandsvertrag im Oktober 1939 führte und ergänzt wurde durch das Bemühen der Westmächte, die betreffenden Rohstoffe anzukaufen. Ein im Herbst 1939 aufgetauchter Plan, den Schiffahrtsweg der Donau für Transporte nach Deutschland durch Sabotage zu sperren, blieb freilich unausgeführt. Überhaupt zeigen die im Laufe der Monate bei den Westalliierten entstehenden Pläne für militärische Maßnahmen eine auffällige Ratlosigkeit, was sich wohl daraus erklärt, daß man zwar den Krieg in einer Weise führen wollte, die Deutschland schließlich zum Aufgeben veranlaßte, aber die Risiken einer offenen Feldschlacht im Frontalangriff gegen Deutschland auszuschließen trachtete, um nicht eine Lage eintreten zu lassen, welche von der Sowjetunion ausgenützt werden konnte. Die Rücksicht auf Rußland oder genauer: die Angst vor Rußland stand ausgesprochen oder unausgesprochen hinter allen militärischen Erwägungen der Westmächte und veranlaßte sie, nicht unmittelbar auf ein bewaffnetes Niederwerfen Deutschlands hinzuarbeiten, sondern mittelbar auf ein Auszehren seiner Widerstandskraft. Vorschläge für militärische Unternehmungen entstanden sowohl in Paris als auch in London bei verschiedenen zivilen und militärischen Stellen, doch zeigte sich die französische Seite insgesamt kriegerischer und risikobereiter. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß die französische Regierung, anders als die britischen Appeaser, nicht bloß auf einen Umsturz in Deutschland warten, sondern darüber hinaus politische Zugeständnisse erzwingen wollte, namentlich die Rheingrenze, was jedoch nur erreichbar war, wenn man Deutschland so einschnürte, daß seine Lage tatsächlich aussichtslos wurde. Angesichts des Quasi-Bündnisses zwischen Hitler und Stalin war Deutschland nur dann wirksam einzuschnüren, wenn man in Kauf nahm, daß sich entsprechende Maßnahmen zugleich gegen die Sowjetunion richteten. Paris zeigte sich hierzu bereit, nicht hingegen die britischen Appeaser, die unnötige Verwicklungen mit Rußland scheuten, etwa dessen Kriegseintritt oder Gegenschläge, die an mehreren Stellen möglich waren, so auf dem Balkan und im Vorfeld Indiens. Betrachtet man die verschiedenen Entwürfe im Überblick, so lassen sich drei Pläne unterscheiden. Der erste, seit September 1939 in der französischen Führung erarbeitet, sah das Errichten einer Balkanfront vor, um die Balkanländer zu stützen und einem deutsch-russischen Zugriff, auch auf das rumänische Öl, zuvorzukommen. Außerdem bestand dann Aussicht, die Donau zu sperren, auf der große Teile der deutschen Rohstoffzufuhr einschließlich russischer Öllieferungen transportiert wurden. Der Plan wurde von der britischen Regierung zu Fall gebracht, da sie militärisch eine Verzettelung der Kräfte und politisch das Gegenteil einer Stabilisierung befürchtete, nämlich ein Eingreifen Italiens und Rußlands an der Seite Deutschlands. Ein zweiter Plan, seit dem Herbst 1939 von französischen und britischen Stellen entwickelt, suchte die Versorgung Deutschlands mit russischem Öl aus dem Kau-
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kasusgebiet zu unterbrechen, was teils durch eine U-Boot-Kriegführung im Schwarzen Meer erreicht werden sollte, vor allem aber durch Luftangriffe auf die sowjetischen Erdölanlagen, namentlich die Raffinerien in Balm, Batum und Grosnyi. Von letzterem versprach man sich einen schweren Schlag gegen die sowjetische Wirtschaft, der vielleicht sogar zum Sturz des bolschewistischen Systems führen würde. Noch im Frohjahr 1940 wurden hierfür Vorbereitungen getroffen durch Aufklärungsflüge und die Anlage von Flugplätzen im französischen Syrien. Der Plan scheiterte schließlich am Einspruch von Chamberlain und Halifax, welche weder die Neutralität der Türkei und Persiens (deren Gebiete man hätte überfliegen müssen) gefährden noch einen Krieg gegen die Sowjetunion in Kauf nehmen wollten. Die einzige bleibende Folge solcher Überlegungen war, daß die Sowjetregierung von den Bombardierungsplänen Kenntnis erhielt, was kaum zu einer Steigerung freundschaftlicher Gefühle gegenüber den Westmächten geführt haben wird. Der dritte Plan entstand nach dem russischen Überfall auf Finnland und sah vor, nach einer Landung in Nordeuropa den Finnen mit alliierten Truppen zu Hilfe zu kommen, um bei dieser Gelegenheit gleich die Lagerstätten von hochwertigem Eisenerz in Nordschweden zu besetzen, aus denen zu einem großen Teil die deutsche Stahlindustrie versorgt wurde. Dem waren die britischen Appeaser nicht grundsätzlich abgeneigt, da sich hier die Möglichkeit zu bieten schien, den Deutschen jenen harten Schlag in den Magen zu versetzen, der sie von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugen sollte. Dennoch blieben ihre Bedenken noch so stark, daß sie mit der Begründung, für einen Durchmarsch durch Norwegen und Schweden sei die Einwilligung dieser Länder erforderlich, die Operation so lange hinauszögerten, bis ihr Anlaß durch den finnisch-russischen Friedensschluß im März 1940 entfiel. In einem seiner Privatbriefe gestand Chamberlain anschließend ein, daß er darober erleichtert sei, weil die Gefahr eines deutsch-russischen Zusammenwirkens nun geringer war. Andererseits zogen diese Ereignisse den Sturz des französischen Ministerpräsidenten Daladier nach sich, der stets auf militärische Unternehmungen gedrängt hatte und sich nunmehr dem Vorwurf des Parlaments und der Öffentlichkeit ausgesetzt sah, den Krieg nicht kraftvoll genug zu führen. Sein Nachfolger Reynaud stand dadurch erst recht unter Druck, militärische Erfolge vorweisen zu müssen. Ende März 1940 verständigten sich Chamberlain und Reynaud im Obersten Kriegsrat darauf, einerseits vor dem Erzhafen Narvik in Nordnorwegen Minen zu legen und andererseits wichtige deutsche Wasserwege wie den Rhein zu verminen. Beide Maßnahmen zusammen, die Anfang April stattfinden sollten, entsprachen den Bedingungen der britischen Appeaser, zwar Rußland nicht herauszufordern, aber Deutschland einen harten Schlag in den Magen zu versetzen, denn Narvik war der wichtigste Hafen für die Verschiffung des schwedischen Erzes, zudem der geeignete Ausgangspunkt für eine Operation gegen die schwedischen Erzfelder, da mit diesen durch eine Bahn verbunden; und eine Verminung deutscher Wasserwege hätte erhebliche Teile der deutschen Industrie zeitweise lahmgelegt oder wenig-
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stens schwer beeinträchtigt. Die Vereinbarung wurde indes kurz darauf gegenstandslos, als sich der französische Kriegsrat unter Vorsitz von Verteidigungsminister Daladier für ein Vertagen der Verminung deutscher Wasserwege aussprach. Begründet wurde dies mit der Furcht vor deutschen Vergeltungsschlägen, doch muß es eine Rolle gespielt haben, daß Daladier sich von den Briten im Stich gelassen fühlte und lieber den großen französischen Entwurf verwirklicht hätte, sowohl die deutsche Erzzufuhr durch ein Unternehmen gegen Norwegen als auch die Ölzufuhr durch einen Schlag gegen die Sowjetunion abzudrosseln. Um Reynaud zu stützen, willigte die britische Regierung ein, wenigstens vor Narvik- also in norwegischen Hoheitsgewässern - Minen zu legen. Das war gewissermaßen ein Überbleibsel des alten Planes, sich in den Besitz der schwedischen Erzgruben zu setzen. Hatten die Franzosen dies notfalls erzwingen wollen, so suchte die Londoner Regierung nach wie vor das Gesicht zu wahren. Da die Minensperren in norwegischen Hoheitsgewässern natürlich die Erzschiffahrt störten, rechnete man mit deutschen Gegenmaßnahmen. Für diesen Fall wurde eine kleine Landstreitmacht bereitgehalten, die beim ersten Anzeichen sofort Stützpunkte an der norwegischen Küste besetzen sollte. Kam es dann zu größeren Auseinandersetzungen, so standen die britischen Truppen in günstigen Ausgangspositionen, um notfalls zu den Erzfeldern vorzurücken. Daß Deutschland imstand sein könnte, trotz der britischen Seeherrschaft Norwegen schnell zu besetzen, wurde zu dieser Zeit von niemandem erwartet. 33 Wahrend die britischen Appeaser um angemessene Friedensbedingungen für eine deutsche Umsturzregierung rangen und nach einer Möglichkeit suchten, den Deutschen einen harten Schlag in den Magen zu versetzen, verrannen Zeit und Gelegenheit für einen Staatsstreich in Berlin. Daß ein solches Unternehmen von Haider tatsächlich vorbereitet wurde, ist gesicherte Erkenntnis. Die Planungen hierfür ließen Haider und sein mit ihm befreundeter Stellvertreter im Generalstab des Heeres, der Oberquartiermeister I (für Führungsfragen) General Karl-Heinrich von Stülpnagel, spätestens Ende Oktober/ Anfang November 1939 anlaufen. Fraglich ist, warum der Umsturz dann doch nicht stattfand. Die Frage läßt sich beantworten, wenn man sich vor Augen hält, daß für einen Staatsstreichversuch nach Kriegsausbruch in noch verschärftem Maße dasjenige zutraf, was schon im Jahr 1938 gegolten hatte. Um einige Aussicht auf Erfolg zu haben, mußten demnach drei Voraussetzungen erfüllt sein: Es mußte erstens eine mittelbare Mitwirkung des Auslands gewährleistet sein, was nunmehr hieß, daß die Kriegsgegner den Verschwörern nicht in den Rücken fallen durften, indem sie die inneren Wirren in Deutschland ausnützten, um militärische Erfo~ge zu erzielen und anschließend ei33 Zum Propagandakrieg M. Balfour, Propaganda. Chamberlain über Unterstützung durch die USA nach Rock, 215, 222, 229. Chamberlains Rede vom 9. 1. 1940 nach Dokumente zur Deutschlandpolitik 1/l, l07f. Gamelin nach Ironside Diaries, l73f. (30. 12. 1939). Zu den Plänen für militärische Maßnahmen B~darida; Heimsoeth; Bartel; Duroselle, Abime; Cowling; Kitchen, Policy; MGFA, Weltkrieg II, 203 ff. (Beitrag Maier); Carr, 138 ff.; Kahle; Lorbeer. Chamberlains Privatbrief vom 16. 3. 1940 bei Dilks, Scandinavia, 47.
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nen strengen Frieden zu erzwingen. Zweitens mußten Heer und Volk in ihrer Masse den Umsturz mittragen, andernfalls wäre er bloß der Putsch eines kleinen Generalsklüngels gewesen, der entweder zum schnellen Scheitern verurteilt war, weil ihm die Truppe nicht folgte, oder der stracks in den Bürgerkrieg führte mit ungewissem Ausgang und mit der wahrscheinlichen Folge einer Wehrlosigkeit nach außen. Drittens mußte die hohe militärische Führung, vor allem der stets schwankende Oberbefehlshaber des Heeres Brauchitsch, für eine Mitwirkung gewonnen werden, sonst konnten die Verschwörer aus Mangel an selbständiger Kornmandogewall keine bindenden Befehle erteilen. Alle drei Voraussetzungen sicherzustellen, gelang den Verschwörern zu keiner Zeit, so daß Haider den begründeten Schluß zog, nicht ein sinnloses Unternehmen ins Werk zu setzen, dessen Fehlschlagen nach aller Voraussicht dem Heer nur schaden, der nationalsozialistischen Herrschaft nützen und das Reich vor einem unglücklichen Kriegsausgang nicht bewahren würde. Wegen dieser Haltung ist Haider öfters getadelt worden, teils schon von den radikalen Drängern unter den zeitgenössischen Verschwörern und teils von späteren Geschichtsschreibern, die genau zu wissen meinten, was man hätte tun müssen. Der gelegentlich gezogene Schluß, Haider sei im Grunde zum Staatsstreich gar nicht bereit gewesen oder er habe ihn nur als unerwünschte Eventuallösung betrachtet, um unsachgemäße Entscheidungen Hitlers zu verhindern, entbehrt jedoch der Grundlage. Soweit derartige Verdächtigungen nicht bloß das durchsichtige Ziel verfolgen, die Unterschiede zwischen dem Nationalsozialismus und seinen Gegnern möglichst zu verwischen, um desto leichter auch die Wehrmacht und das Volk aburteilen zu können, lassen solche Vermutungen den Willen zum sorgfaltigen Eingehen auf die Handlungsbedingungen der Zeitgenossen und zum gerechten Abwägen der Umstände vermissen, einen Willen, der von ernsthafter Wissenschaft erwartet werden muß. Im übrigen hat das Scheitern der Verschwörer vom 20. Juli 1944- die zum großen Teil aus Halders Umkreis stammten-, zur Genüge erwiesen, daß der gute Wille allein nicht ausreichte, um die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu stürzen; vielmehr wurde dadurch Halders Annahme bestätigt, daß ein Putsch ohne tragfähige Grundlage nur das Heer dezimieren würde, ohne das Regime zu gefährden oder das Schicksal des Vaterlandes zu ändern. 34 Zum Auslöser für Halders neuen Staatsstreichplan wurde Hitlers seit September 1939 bekundete Absicht, demnächst im Westen anzugreifen. Im OKH und bei den 34 Allgemein zum Staatsstreichplan von 1939 P. Hoffmann, Widerstand, 165 ff. K.-J. Müller, Heer, 471 ff. H.C. Deutsch, Verschwörung, passim. Kosthorst, Opposition. Die neuerdings geäußerten Zweifel an Halders Umsturzbereitschaft bauen auf der logisch wie sachlich gleich fragwürdigen These einer Teilidentität der Ziele zwischen Hitler und den sog. konservativen Führungsschichten auf; zu einem widerspruchsfreien Ergebnis sind sie bisher nicht gelangt. Vgl. K.-J. Müller, Struktur. Ferner die Halder-Biographie von C. Hartmann, die dasjenige bestätigt, was in Bd I dieser Untersuchungen festgestellt wurde: Haider ist in der Geschichtsschreibung unter die Räder geraten. Sorgfaltige Quellenarbeit bleibt erst noch zu leisten.
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hohen Befehlshabern rief dieses Vorhaben des Diktators in mehrfacher Hinsicht Bestürzung hervor. Erstens war zumindest die Heeresführung davon ausgegangen, daß nach Abschluß des Polen-Feldzugs der Krieg gewissermaßen auf Sparflamme weitergeführt werden solle, um der politischen Leitung die Möglichkeit zu geben, ihn auf diplomatischem Wege zu beenden. In diesem Sinn hatte das OKH am 17. September, ohne Hitler davon in Kenntnis zu setzen, eine Weisung für die "Umstellung des Heeres auf den Abwehrkrieg im Westen" erlassen. Demzufolge sollte die künftig im Westen einzusetzende Masse der Heeresverbände so umorganisiert werden, daß sie nur für den Stellungskrieg verwendbar war, nicht aber für weiträumige, bewegliche Operationen bei einem Angriff. Zu diesem Zweck war im einzelnen das Errichten einer bodenständigen Befehlsorganisation vorgesehen, ein allgemeines Kürzen der Kraftfahrzeugausstattung, das Haider mit "Entmotorisierung" umschrieb, zudem ein Absetzen der Heeresartillerie auf bedingte Beweglichkeit sowie eine Ausbildung der Truppe für die Abwehr. Das zeigt natürlich, daß das OKH einen Angriff im Westen nicht wünschte, es zeigt aber noch mehr. Da solche Veränderungen der gegnerischen Aufklärung kaum verborgen bleiben konnten, suchte damit die Heeresleitung zugleich ein Signal für das Ausland zu setzen, daß das Reich den Krieg nicht ausweiten und eigentlich auch nicht fortsetzen wolle, vielmehr zum Verhandeln bereit sei. Lediglich für den Fall unvorhergesehener Zwischenfälle, etwa eines gegnerischen Angriffs, sollte sichergestellt werden, daß rund zwei Drittel des Heeres jederzeit kurzfristig wieder für den Bewegungskrieg ausgestattet werden konnten. Als Hitler Ende September und dann verschärft im Oktober auf den Angriff drängte, wurde diese Weisung des OKH hinfällig. Zugleich mußten die Heeresleitung und die hohen Befehlshaber mit zunehmender Deutlichkeit erkennen, daß Hitler nicht etwa wegen begrenzter Ziele in Polen gleichsam zufällig in den Krieg hineingeglitten war, sondern daß er tatsächlich auf einen großen europäischen Krieg lossteuerte. Damit wurden alle die Bedenken wieder lebendig, welche der Generalstab und andere Klarblickende seit 1938 vorgebracht hatten: Aus einem großen europäischen Krieg konnte leicht ein Weltkrieg hervorgehen; dem britischen und französischen Potential war das Reich vielleicht nicht gewachsen und mit Sicherheit war es dem amerikanischen unterlegen, überdies blieb Rußland eine bedrohliche Größe im Rücken. Diese Lage wurde noch, zweitens, dadurch verschärft, daß Hitler bei seinem Angriff im Westen die Neutralität Hollands, Belgiens und Luxemburgs verletzen wollte. Im Auftrag Halders hatte Stülpnagel Ende September eine Denkschrift erstellt, wonach ein Angriff auf die französische Maginot-Linie mit den deutschen Mitteln in absehbarer Zeit nicht möglich sei. Einen Angriff, bei welchem die Maginot-Linie im Norden durch Belgien und Holland umgangen wurde, hatte das OKH nicht erwogen, was wiederum zeigt, daß die Heeresleitung den Krieg einschlafen lassen und die Friedensmöglichkeit nicht durch einen völkerrechtswidrigen Neutralitätsbruch vermindern wollte. Allerdings läßt sich an dieser Stelle noch eine weitere Überlegung anstellen. Der Übergang zur strategischen Defensive im Westen hatte langfristig nur dann einen Sinn, wenn dadurch tatsächlich ein Aus-
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gleichsfrieden in erreichbare Nähe rückte. Nun war aber im Generalstab schon vor Kriegsausbruch festgestellt worden, daß die Westmächte sich wahrscheinlich auf einen langen Krieg einrichten würden, bei welchem sie ihr Potential so verstärken konnten, daß sie allmählich die Oberhand gewannen. Angesichts dieser Sachlage waren die Westmächte zum baldigen Frieden nicht genötigt; sie konnten es auf einen langen Abnützungskrieg anlegen und konnten überdies, wenn sie sich hinreichend verstärkt hatten, ihrerseits einen Angriff durch Belgien und Holland ins Auge fassen, einen Angriff, welcher das Ruhrgebiet, das Herz der deutschen Industrie, unmittelbar bedrohte. Zwischen der Defensivstrategie im Westen, wie das OKH sie mit seiner Weisung vom 17. September vorsah, und den langfristigen Möglichkeiten der Westmächte bestand augenscheinlich eine Unstimmigkeit. Auffällig ist zudem, daß ein französischer Angriff durch Belgien, den Halder vor Kriegsausbruch sorgfältig untersucht und Gamelin, der französische Generalstabschef, Anfang September empfohlen hatte, in den Planungen für eine Defensivstrategie keine Erwähnung mehr fand. Vielleicht besteht die Lösung darin, daß Halder, nachdem ein derartiger französischer Angriff im kritischen Augenblick unterblieben war, mit Recht erwarten durfte, die Westmächte würden eine solche Operation erst später wieder in Betracht ziehen, wenn die Stärkeverhältnisse und gegebenenfalls die politische Lage sich zu ihren Gunsten verschoben hatten. Bis dahin blieb der deutschen Seite Zeit für entsprechende Vorbereitungen, zudem war gemäß OKH-Weisung vom 17. September dafür Sorge getragen, daß im Bedarfsfall ein Großteil des Heeres wieder kurzfristig für den Bewegungskrieg ausgestattet werden konnte. Trotzdem drängt sich der Eindruck auf, hier existiere ein ungeklärter Rest. Das deutsche Heer war seit jeher für den Bewegungskrieg erzogen; man versteht nicht recht, wieso es plötzlich für den Stellungskrieg erzogen werden sollte, wenn eine Gewähr für die Friedensbereitschaft der Westmächte nicht bestand, jedenfalls nicht gegenüber Hitler, und wenn das Heer im Bedarfsfall, also insbesondere bei einem französischen Angriff, ja doch wieder auf den Bewegungskrieg umgestellt werden sollte. Solange eine begründete Aussicht auf den Friedenswillen der Westmächte, auch gegenüber Hitler, nicht vorlag, war es ziemlich überflüssig, das Heer für die Abwehr im Stellungskrieg einzurichten, denn nur in der Form des Bewegungskrieges ließen sich alle Wechselflille eines ungewissen Kriegsverlaufs meistem, sowohl die strategische Defensive mit beweglicher Abwehr als auch die strategische Offensive, während die Beschränkung auf den Stellungskrieg in der strategischen Verteidigung die Wahlmöglichkeiten in militärischer Hinsicht nutzlos einengte. Warum also die Vorbereitung des Heeres auf einen Stellungskrieg im Westen? Quellen zur Beantwortung dieser Frage sind offenbar nicht vorhanden, so daß man sich auf Mutmaßungen beschränken muß. Wäre es nicht denkbar, daß Halder sich damit mehrere Möglichkeiten offenhielt? Falls die statische Verteidigung im Westen den Frieden ermöglichte, war zumindest der Bestand des Vaterlandes gesichert. Falls dies nicht eintrat, bot zwar der Stellungskrieg im Westen keine Aussicht, den Krieg zu gewinnen, dafür bot er aber die Aussicht, dem deutschen Volk
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und der Wehrmacht deutlich vor Augen zu führen, in welch unselige Lage Hitler sie gebracht hatte. Dann mochte das eintreten, was Haider immer als eine unverzichtbare Bedingung für einen Staatsstreich ansah, nämlich ein Rückschlag für Hitler und ein Vertrauensverlust beim Volk, der dieses geneigt machte, einen Umsturz gutzuheißen. Für eine solche Deutung sprechen auch einige andere Indizien. Obwohl eine Regelung der Nachfolgefrage damals unnötig zu sein schien, kamen Haider und Brauchitsch am 8. September überein, als Ersatz für sich selbst im Krieg den General Leeb und seinen Stabschef Sodenstern vorzusehen, als Ersatz für Brauchitsch im Frieden aber den General Witzleben. Das ist mehr als auffällig. Leeb, zu der Zeit Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C, galt als Fachmann für den Abwehrkrieg und war im Herbst 1939 der einzige unter den höchsten Befehlshabern, der sich für einen Staatsstreich zur Verfügung stellte. Und Witzleben war ausgerechnet deijenige, welcher im September 1938für Haider den Umsturz vorbereitet hatte. Man wird dies als Beleg werten dürfen, daß Haider den Gedanken an den Staatsstreich nie aufgegeben hatte. Sodann erhielt Haider Ende September/ Anfang Oktober von Brauchitsch das Zugeständnis, in Zukunft die Operationen selbständig zu leiten, während Brauchitsch nur formell die Verantwortung trug und ihn vor störenden Einflüssen Hitlers abschirmen sollte. Das ging zwar von gewissen Erfahrungen des Polenfeldzugs aus, war jedoch vor allem für die Zukunft gedacht. So hätte es insbesondere dazu dienen können, den Abwehrkampf im Westen nach Halders Vorstellungen zu führen, also beispielsweise im Wechselspiel von Stellungskrieg und Bewegungskrieg das Reich wirksam zu verteidigen, ohne Hitler unnötige Triumphe zu gönnen. Wenn dann das Volk des Krieges überdrüssig wurde, mochte auch Hitlers Stellung zu wanken beginnen. Schließlich wäre zu erwägen, ob nicht die geradezu hysterischen Ausfalle Hitlers im Herbst 1939 und sein aberwitziges Drängen auf einen Angriff, der dann doch immer wieder verschoben wurde - ob all dies nicht besser zu erklären ist, wenn man annimmt, der Diktator habe hinter dem Verhalten der Generalität mehr gewittert als nur fachliche Bedenken und die Unlust, sich auf ein Kräftemessen mit den westlichen Gegnern einzulassen. Trifft dies zu, dann hätte Hitler geahnt, daß das OKH mit seiner Defensivstrategie nicht bloß den Krieg einschlafen lassen, sondern auch günstige Voraussetzungen für Maßnahmen gegen die Diktatur schaffen wollte. Hitlers wiederholte Drohungen im November 1939, er werde den "Geist von Zossen" ausrotten, d. h. den Geist des OKH-Hauptquartiers, wäre demnach so zu verstehen, daß er den Widerstandsgeist im Heer brechen wollte, nicht allein den fachrnilitärischen, sondern den allgemein politischen. So hat es augenscheinlich auch Haider aufgefaßt, der nach dem ersten derartigen Ausbruch Hitlers am 5. November die Staatsstreichvorbereitungen entdeckt wähnte und das Handeln erst einmal vertagte. Es paßt in dieses Bild, wenn Hitler in seiner Rede vor der obersten militärischen Führung am 23. November, die zugleich eine Abrechnung mit der Generalität war, eine Revolution im lnnern für unmöglich erklärte und damit drohte, jeden zu vernichten, der sich gegen ihn stelle. 35
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Wie dem auch sei, die Führung des Heeres war jedenfalls bestürzt über einen Angriff gegen die Neutralen, denn dadurch wurden die Friedenschancen verschüttet, ein Eroberungskrieg großen Ausmaßes eingeleitet - Hitler sprach bereits davon, Frankreich auf die Grenzen von 1540 zurückzudrängen-, es wurden die anderen Neutralen, namentlich die USA, zusätzlich empört und es wurde die Bahn zu einer kriegerischen Abenteuerpolitik beschritten, für die Deutschlands Kräfte wahrscheinlich nicht ausreichten. Drittens endlich war die Führung des Heeres über Hitlers Absichten bestürzt, weil im Herbst 1939 ein erfolgversprechender Angriff wegen der Rüstungslage schlechterdings als ausgeschlossen gelten mußte. Die Munition war unzureichend, der Treibstoff knapp, Waffen und Gerät waren unvollständig, die schnellen Divisionen mußten aufgefrischt und umgegliedert werden, die leichten Panzer, die man in Polen noch hatte einsetzen können, waren gegen Frankreich weithin unbrauchbar und mußten gegen stärkere Typen ausgetauscht werden, die Infanteriedivisionen zeigten Ausbildungsmängel und die Reservedivisionen waren im Angriff einstweilen gar nicht zu verwenden. Das deutsche Heer hatte einen gesunden Grundstock und konnte nach einer gewissen Zeit, durch zusätzliche Ausbildung und Ausrüstung, zu hoher Schlagkraft gebracht werden - aber nicht im Herbst und Winter 1939/40. Außerdem bildeten Herbst und Winter ohnedies die ungünstigsten Jahreszeiten für einen weiträumigen Bewegungskrieg, weil die Witterungsverhältnisse Lufteinsätze erschwerten und, je nach Gelände, den Fahrzeugverkehr behinderten. Alle diese Dinge zusammen, die bei der Generalität Bestürzung hervorriefen, gaben Haider die wohl unerwartete, doch nicht unerwünschte Gelegenheit, nun erneut auf den Umsturz hinzuarbeiten. Es war eine Lage eingetreten, welche an diejenige von 1938 erinnerte: Mit seinem Angriffsvorhaben brachte Hitler das Reich in eine derart gefährliche außenpolitische Lage, daß die Hoffnung genährt werden durfte, große Teile der Wehrmacht und der Bevölkerung würden das drohende Verderben erkennen und deswegen bereit sein, einen Umsturz mitzutragen oder mindestens hinzunehmen. Nachdem Hitler gegenüber der Heeresleitung zunächst noch vorgetäuscht hatte, nur beim Scheitern von Friedensbemühungen im Westen losschlagen zu wollen, stellte sich bis Mitte Oktober heraus, daß der Diktator an ernsthaften Friedensbemühungen gar nicht interessiert war. Daraufhin kam es am 14. Oktober zu jener denkwürdigen und oft beschriebenen Aussprache zwischen Haider und Brauchitsch, über welche Haider sich als Meinung des Oberbefehlshabers die inhaltsschweren Sätze aufzeichnete: "OB 3 Möglichkeiten: Angriff, Abwarten, grundlegende Veränderungen. Für keine dieser durchschlagende Aussichtsmöglichkeiten, letzteres am wenigsten, da im Grunde negativ und Schwächemomente 35 Die OKH-Weisung vom 17. 9. 1939 über den Abwehrkrieg in Jacobsen, Vorgeschichte, 35 ff. Über Entmotorisierung Halder, KTB I, 70 (10. 9. 1939). Die Denkschrift Stülpnagels nach KTB OKW 1/2, 950f. Warlimont, 51. Haider und Brauchitsch über Nachfolge in Haider, KTB I, 66. Zur Leitung der Operationen durch Haider Schali-Riaucour, 127 ff. Hitler über den "Geist von Zossen" nach Halder, KTB I, 120, 132 (5.11., 23. 11. 1939). Dazu Kosthorst, 99, 110. Die Hitler-Rede vom 23. 11. 1939 in Jacobsen, Weg, 56 f.
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schaffend. Unabhängig davon Pflicht, militärische Aussichten nüchtern klarzulegen und jede Friedensmöglichkeit zu propagieren." Hier wurde in knappster Form festgehalten, daß ein Angriff derzeit nicht zu verantworten war, daß die bloße Verteidigung ("Abwarten") die deutsche Niederlage nicht sicher abzuwenden versprach und daß ein Friedensschluß die erstrebenswerteste Lösung sei. Aufschlußreich ist vor allem die Bemerkung über die grundlegenden Veränderungen, womit ein Staatsstreich gemeint war. Brauchitsch griff diesen Gedanken, der mit ziemlicher Sicherheit von Halder vorgebracht wurde, zwar auf, zeigte aber wenig Neigung dafür, da ein Umsturz zu inneren Wirren führen mochte, die das Reich nach außen wehrlos machten (Schwächemomente schufen), und da ferner ein Umsturz noch keine Gewähr dafür bot, daß Deutschland einen günstigen Frieden bekam, insofern also bloß negativ war. 36 Mit diesen Worten wurde nicht allein die Ansicht von Brauchitsch, sondern ebenso die Schwierigkeit eines Aufstandsversuchs allgemein umschrieben. Namentlich über die Haltung des Auslands vermochten Halder und Brauchitsch zu einem günstigen Ergebnis nicht zu gelangen. Daß eben diese Haltung des Auslands von wesentlicher Bedeutung war, hatte man in den Kreisen der Verschwörer beizeiten erkannt. Deswegen hatten zwei der entschiedensten Widerstandskämpfer, der Stabschef des Amts Ausland/ Abwehr im OKW und damit engste Mitarbeiter des Amtschefs Canaris, der damalige Oberst Hans Oster, sowie der zurückgetretene Generalstabschef des Heeres Beck, Ende September dem Abwehr-Angehörigen Dr. Josef Müller den Auftrag erteilt, über den Papst Verbindung mit der britischen Regierung aufzunehmen, um die Friedensaussichten für eine Umsturzregierung sowohl zu erkunden als auch günstig zu beeinflussen. Müller erfuhr bei ersten tastenden Fühlungnahmen im Laufe des Oktober aus der Umgebung des Papstes, nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand seien die Westmächte wohl nicht auf einen harten Frieden aus. Zudem wurde Müller versichert, der Papst werde alles daransetzen, eine Wiederholung der Vorgänge von 1918 zu verhindern, als Deutschland unter dem Vorwand günstiger Friedensverhandlungen praktisch zur Kapitulation gezwungen worden war. Im Kreis der Verschwörer um Oster und Beck vernahm man es mit Genugtuung. Zwei von ihnen, Gisevius und Dohnanyi, verwandten es in einer Denkschrift, die Anfang November zu Halder gelangte. Dies geschah, wie Gisevius ausführte, "um Halders etwaige Rückzugslinie abzuschneiden, es gäbe keine Friedensbereitschaft auf der Gegenseite mehr". Die Witwe Dohnanyis erinnerte sich kurz nach dem Krieg an die Mitteilungen Müllers aus Rom und ihre Wirkung: "Als die ersten Berichte darüber kamen, die im Grunde bereits so lauteten, daß sie die Generale zum Handeln verpflichtet hätten, zogen sie sich hinter die Behauptung zurück, wer garantiert uns, daß diese Bedingungen eingehalten und nicht wieder wie 1918 die 14 Punkte gebrochen werden. Daraufhin erklärte mein 36 Hitler über französische Grenzen, Halder, KTB I, 132 (23. II. 1939). Zur Rüstungslage im Herbst 1939 Jacobsen, Gelb, 19ff. Hitlers Darstellung seiner Angriffsabsichten Ende September/ Anfang Oktober in Halder, KTB I, 84, 86 ff., 101 ff. Die Besprechung Halder-Brauchitsch vom 14. 10. 1939 in Halder, KTB I, 105.
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Mann, er werde versuchen, daß Dr. Müller erreiche, daß der Papst persönlich diese Friedensbedingungen garantieren würde." Natürlich konnte der Papst die Friedensbedingungen nicht garantieren, weil darüber in London und Paris entschieden wurde. Immerhin tat Papst Pius XII. den bemerkenswerten Schritt, im Januar und Februar 1940 persönlich als Mittelsmann zwischen den deutschen Widerstandskreisen bzw. ihrem Sendboten Müller und der britischen Regierung zu wirken. Das Ergebnis war mager, was nicht verwundert, wenn man an die zu jener Zeit bestehenden Unstimmigkeiten zwischen London und Paris über die Kriegsziele denkt. Von den beiden Gesprächen, welche der Papst in dieser Sache mit dem britischen Gesandten beim Heiligen Stuhl, Osbome, führte, blieb das erste folgenlos, weil man in London hinter dem Rücken der Franzosen nichts unternehmen wollte und sich vorerst darauf beschränkte, das bereits aufkeimende Mißtrauen der Franzosen zu zerstreuen. Nach dem zweiten Gespräch ließ zwar Halifax, unter strengster Geheimhaltung, dem Papst die Bereitschaft zur Fortführung des Gedankenaustausches mitteilen, deutete ganz unbestimmt sogar mögliche Friedensbedingungen an, etwa eine Volksabstimmung in Österreich, doch hielt er sich ansonsten streng an die von Chamberlain vorgegebene Linie, ohne Frankreich überhaupt nichts zu unternehmen und in ernsthafte Überlegungen, zusammen mit Frankreich, erst dann einzutreten, wenn ein fest umrissenes Programm der deutschen Seite vorgelegt und von berufener Stelle verbürgt werde. Im Lichte diplomatischer Spielregeln war das zweifellos ein schlüssiges Verhalten, weil Zusagen an die deutsche Seite ohne französisches Einverständnis nicht bloß die Bündnispflichten verletzt hätten, sondern auch nutzlos oder irreführend gewesen wären, solange sich Paris nicht daran gebunden fühlte. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen London und Paris ließ Hallfax versteckt anklingen, indem er feststellte, die alliierten Regierungen wünschten keinen Gebietserwerb als solchen, vielmehr seien sie auf Sicherheit für die Zukunft bedacht. Damit blieb aber die Möglichkeit offen, daß Paris die besagte Sicherheit ganz anders auslegte als London und genau das tat, was man in Deutschland gerade zu verhindem suchte, z. B. in deutsche Umsturzwirren eingriff oder die Besetzung des Rheinlands und andere harte Friedensbedingungen verlangte. Der Gesandte Osbome meinte in seinem Bericht über die Unterredung mit dem Papst im Februar 1940, der deutsche Widerstand scheine den territorialen Besitzstand des Reiches wahren zu wollen und dies klinge wie das Bemühen, sich mit Hilfe Britanniens gegen einen französischen Anspruch auf die Rheingrenze abzusichern. Ob die Verschwörer in Deutschland tatsächlich von den französischen Absichten erfahren hatten, ist unbekannt; doch wären Befürchtungen dieser Art nur allzu berechtigt gewesen. Darüber hinaus konnte Osbome in einem weiteren Bericht vom Februar 1940 über ein Gespräch mit einem deutschen Mittelsmann seiner Regierung vortragen, die Verschwörer in Deutschlandwüßten sehr wohl, daß ihre Lage unhaltbar werden müsse, wenn sie nach der Beseitigung Hitlers dem eigenen Volk nichts anderes anzubieten hätten als erniedrigende Friedensbedingungen. Selbstverständlich waren das die Bedenken der Verschwörer, zumal die Be-
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denken von Haider und Brauchitsch, und angesichts der französischen Haltung waren diese Bedenken berechtigt. Weder die britischen Appeaser noch der Papst vermochten solche Bedenken auszuräumen. 37 Das Mißtrauen von Haider und Brauchitsch gegenüber den Absichten der Westmächte war bereits bei ihrer Besprechung vom 14. Oktober zum Ausdruck gekommen; es blieb in der Folgezeit ungeschmälert erhalten, wobei sich die Ansichten beider in den Quellen nicht immer leicht auseinanderhalten lassen. Dieses Mißtrauen stützte sich zunächst auf die Erfahrungen der Vergangenheit, so namentlich auf das Erlebnis von 1918, als man einer deutschen Revolutionsregierung die 14 Punkte von Präsident Wilson versprochen und anschließend das Versailler Diktat aufgezwungen hatte. Das war die Erlebniswelt vieler Offiziere im Dritten Reich; diese Dinge lassen sich nicht aus der Welt schaffen, indem sie, wie es in der Geschichtsschreibung häufiger geschieht, kurzerhand unterschlagen werden. Bei Haider kam hinzu, daß er 1938, in der Hoffnung auf mittelbare Unterstützung des Auslands, den Staatsstreich vorbereitet hatte und dann erleben mußte, wie die Appeaser sich lieber mit Hitler einigten. Dieser Stachel saß tief in ihm; ein britischer Autor, der sich selbst als Militärschriftsteller betrachtete, besuchte ihn 1969 und berichtet darüber, daß Haider in der Erinnerung an 1938 noch drei Jahrzehnte später erregt aufsprang und anklagend den Finger reckte mit den Worten, "es war Thr Premierminister, Thr Premierminister, der unsere Hoffnungen zerstörte, indem er Hitler nachgab!" Das Vertrauen, von London eine entschlossene und weitblickende Politik erwarten zu dürfen, welche auch das Wohl Deutschlands einschloß, mag damals nachhaltig gestört worden sein. Was sollte man denn von einer Regierung erhoffen, welche lieber den Weg des geringsten Widerstandes gegangen war und die wahrscheinlich günstigste Gelegenheit, Hitler an der Zerstörung Deutschlands wie Europas zu hindern, im Jahr 1938 hatte verstreichen lassen? Überlegungen dieser Art waren anscheinend auch für andere Offiziere bestimmend. General von Tippelskirch, Oberquartiermeister IV für Aufklärung und Feindlage im Generalstab des Heeres und als solcher von Amts wegen mit der politisch-strategischen Lage befaßt, vermerkte im Januar 1940 auf einer der zahlreichen Denkschriften, welche das OKH aus den Kreisen der radikalen Verschwörer erreichten: Es sei ihm mehr als fraglich, ob die Engländer und Franzosen mit den Deutschen glimpflicher umgehen würden, wenn letztere die gleichen Dummheiten wie 1918 machten. Als Druckmittel für die Anbahnung des Friedens scheine ihm die Verständigung mit einer Umsturzregierung eher weniger wirksam zu sein als die Angst vor der Zerstörung Europas. So war es ja auch, denn Paris scheute zwar die Selbstzerstörung Europas in einem rücksichtslos durchgeschlagenen Krieg, aber ein Umsturz in Deutschland allein reichte ihm gerade nicht für den Frieden. 37 Zu den römischen Gesprächen des Dr. J. Müller Ludlow, Papst, 303, 311 und passim. J. Müller, Konsequenz. Groscurth, 299, 506. Gisevius und die Witwe Dohnanyis im Herbst 1939 nach Gisevius, Sonderausgabe, 415; Ludlow, Papst, 302. Die Dokumente zu den Gesprächen von Osbome bei Ludlow, Papst.
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Und London konnte sich, aus welchen Gründen auch immer, nie dazu aufraffen, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Was würde Britannien tun, wenn während des Krieges ein Aufstand in Deutschland dessen Verteidigungsfähigkeit beeinträchtigte? Schon am 16. Oktober 1939 gab Haider darauf die Antwort, man könne derzeit nichts unternehmen, "da wir bei innerer Auseinandersetzung von den Engländern zerschlagen würden". Mit den paar Divisionen, die Britannien damals auf dem Festland stehen hatte, konnte es die Wehrmacht sicher nicht zerschlagen, so daß Halder mit solchen Worten einen anderen Sachverhalt umschreiben wollte. Halder und Brauchitsch hielten, ebenso wie andere Verschwörer, Britannien für den tonangebenden Teil in der Allianz der Westmächte; deswegen hatte man ja auch über den Papst die Verbindung zur Londoner Regierung gesucht. Das Eingreifen in einen deutschen Bürgerkrieg stand weniger von England als vielmehr von Frankreich zu befürchten; aber bei der Londoner Regierung lag es, ob sie solches verhindem konnte oder verhindem wollte. 1918 hatte Britannien nicht verhindert, daß Deutschland gedemütigt wurde; 1938 hatte es nicht verhindert, daß Hitler freie Bahn erhielt; würde es 1939 oder 1940 verhindern, daß Frankreich jede deutsche Schwäche ausnützte, um dem Reich erneut einen harten Frieden aufzunötigen? Die Neigung der britischen Appeaser, mit einem geläuterten Deutschland einen anständigen Frieden zu schließen, wird Halder und Brauchitsch nicht verborgen geblieben sein; sie sickerte über verschiedene Kanäle auch zu den Verschwörern durch und wurde durch öffentliche Äußerungen der Appeaser bestätigt. Aber es gab über Monate hinweg kein einziges Zeichen, daß Frankreich sich daran halten würde, und noch weniger gab es ein Zeichen, daß London fähig oder willens sein würde, Paris nachdrücklich zur Mäßigung zu veranlassen. Wie solches hätte geschehen können, bleibt im Gebiet der Spekulation. Äußerstenfalls ließe sich daran denken, daß die Appeaser öffentlich sowie verbindlich erklärt hätten, mit einer deutschen Umsturzregierung zu günstigen Bedingungen Frieden zu schließen, und wenn Frankreich dies nicht wolle, solle es den Krieg allein weiterführen. Aber vielleicht hätte Volkes Stimme dann sofort einen Churchill als Premierminister verlangt. Jedenfalls vermochtenHalderund Brauchitsch ein klares Entgegenkommen der Westmächte nicht auszumachen; der gute Wille der Appeaser allein nützte gar nichts, solange er nicht eine entschiedene oder verläßliche Politik nach sich zog. Ein Aufstand in Deutschland wäre unter solchen Umständen ein schwer zu verantwortendes Wagnis gewesen; wenn er zu einem bitteren Frieden führte, wäre eine neue Dolchstoßlegende übelster Art entstanden, welche wohl gar Hitler als Märtyrer verklärt und die Schuld an dem Unheil einem ehrgeizigen Generalsklüngel des Heeres in die Schuhe geschoben hätte. In diesem Sinn meinte Halder im Dezember 1939, mit einem Versuch zum Umsturz sei unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht weiterzukommen, weil die Dolchstoßpsychose zu tief in der Vorstellungswelt vor allem der Soldaten verankert sei. Man macht es sich zu einfach, wenn man im Zurückscheuen der Offiziere vor dem Staatsstreich nur Unentschlossenheit, Feigheit oder Hitler-Hörigkeit vermutet. Viele Offiziere dachten
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weiter: Die Verantwortung für eine erneute Demütigung des Vaterlandes wollten sie nicht übernehmen, und sie wollten nicht die Verantwortung dafür übernehmen, daß das Volk, zutiefst enttäuscht, sich anschließend erst recht einer diktatorischen Heilslehre in die Arme warf, sei es die nationalsozialistische oder vielleicht die kommunistische. Haider wußte schon, weshalb er die Beseitigung Hitlers immer abhängig machte von der außenpolitischen Lage: Der Hitler-Mythos beim Volk beruhte nicht zuletzt auf den außenpolitischen Erfolgen des Diktators; von diesem Mythos war das Volk nur zu befreien, wenn ihm eine echte Alternative zu Hitler gezeigt wurde, die außenpolitisch jedenfalls die nationale Würde und den nationalen Besitzstand wahrte - oder wenn das Volk erkannte, daß der Diktator es in den Abgrund führte. Solange beides nicht der Fall war, würde das Volk vom HitlerMythos sich nicht losreißen. 38 So haben Haider und Brauerutsch den Staatsstreich unterlassen und dies immer auch mit der außenpolitischen Lage begründet. Nachdem Haider um den 5. November die Staatsstreichvorbereitungen unterbrochen hatte, wurde er am 27. November vom Chef des Wehrwirtschaftsamts im OKW, General Thomas, der im Auftrag anderer Verschwörer handelte, wiederum zur Tat gedrängt. Er sprach darüber sofort mit Brauchitsch, der eine Aktion ablehnte, und teilte anschließend Thomas die Gründe für diese Haltung mit. Inwieweit Haider dabei eher die Meinung von Brauerutsch oder eher seine eigene wiedergab, ist schwer zu entscheiden; auch ist das, was er sagte, nur ungenau und in verschiedenen Fassungen überliefert. Nach der einen Version soll Haider ausgeführt haben, der Kampf Englands gehe nicht bloß gegen das Regime, sondern gegen das ganze deutsche Volk; nach der anderen Version meinte der Generalstabschef, jetzt müsse die Gelegenheit ergriffen werden, Deutschland aus der Rolle eines englischen Helotenvolkes zu befreien. Zur Ergänzung läßt sich eine Aufzeichnung von Oberstleutnant Groscurth, damals Verbindungsoffizier zwischen der Abwehr und dem OKH, über ein Gespräch mit Haider am 13. Januar 1940 heranziehen. Den mehr als einstündigen Vortrag des Generalstabschefs über die politische Beurteilung der Lage fand Groscurth sehr vornehm und von lauterer Gesinnung, doch verkürzte er den Inhalt auf zugespitzte Sätze wie diesen: ,,Er bejaht den notwendigen Kampf gegen England, der uns aufgezwungen und einmal doch unvermeidlich sei." In solchen gestanzten Formeln kommt weniger der Zusammenhang von Halders Gedankengängen und Beweggründen zum Ausdruck als vielmehr das, was seine Gesprächspartner heraushörten - gefiltert durch ihr Wahrnehmungsvermögen, welches aus Erregung, Unzufriedenheit und anderen seelischen Spannungen getrübt war. Nimmt man dennoch an, Haider habe sich ungefahr in der geschilderten Weise geäußert, so wollte er offenbar sagen, Britannien sei nicht fähig oder nicht willens, einen Aufstand der Js Haider über 1938 bei Leach, in Barnett, Generals, 105. Tippelskireh Anfang 1940 nach P. Hoffmann, Widerstand, 191. Haider über englische Haltung bei einem Staatsstreich nach Groscurth, 218 (16. 10. 1939). Haider über Dolchstoß Dezember 1939 nach einer Aussage des Ministerialrats Dr. Conrad bei P. Hoffmann, Widerstand, 717, Anm. 234, sowie C. Hartmann, Halder, 176f. Vgl. H.C. Deutsch, Verschwörung, 188. 7 Rauh, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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Wehrmacht bzw. der Deutschen gegen den Nationalsozialismus außenpolitisch abzusichern und mittelbar zu unterstützen. Insofern führe es den Krieg - gewollt oder ungewollt - nicht bloß gegen das Hitler-Regime, sondern gegen das ganze deutsche Volk, denn falls der Aufstand eine Niederlage nach sich ziehe, hätte nicht Hitler allein, sondern das ganze deutsche Volk die Folgen zu tragen. Damit sei der Kampf notwendig und unvermeidlich, wenn das Volk der Gefahr entgehen wolle, wiederum, wie nach dem Ersten Weltkrieg, auf den Stand eines Helotenvolkes herabzusinken. Trotzdem fühlte Hatder sich nach wie vor verpflichtet, jeden möglichen Ansatzpunkt für einen Staatsstreich gewissenhaft zu prüfen. Am 4. April 1940 überbrachte ihm wiederum General Thomas verschiedene Unterlagen, die aus den Verhandlungen beim Heiligen Stuhl in Rom hervorgegangen waren. Der Generalstabschef gab das Material auch Brauchitsch zu lesen, der es erneut ablehnte, auf einer solch unsicheren Grundlage, die überdies landesverräterisch war, dem Umsturz näherzutreten. Da bei dieser Begebenheit keinerlei neuen Gesichtspunkte auftauchten, könnte man sie stillschweigend übergehen - wenn sie nicht seit langem heftig umstritten wäre und immer wieder den Aufhänger abgab, um Haider etwas am Zeug zu flicken. So meinte bereits der radikale Verschwörer Gisevius, hier sei der letzte großangelegte Versuch gescheitert, die Kriegausweitung zu verhindern; diese beispiellose Verantwortung könnten Brauchitsch und Hatder niemals abstreiten. Spätere Geschichtsschreiber haben es zum Anlaß genommen, an Halders Widerstandswillen, seiner Aufrichtigkeit oder beidem zu zweifeln. Nichts von alledem trifft zu. Was Hatder an jenem 4. April wirklich unterbreitet wurde, läßt sich kaum noch feststellen, da die Papiere verlorengegangen sind, namentlich ein angeblicher Bericht des Dr. Müller, der als X-Bericht bezeichnet wurde. Haider glaubte sich später zu erinnern, in den Papieren sei neben anderen günstigen Bedingungen auch die deutsche Westgrenze von 1914, also der Wiedergewinn Elsaß-Lothringens, zugesichert worden, was zweifellos merkwürdig ist und aus den römischen Gesprächen nicht stammen kann. Drei Deutungen stehen zur Auswahl: Entweder hat Hatder etwas erfunden, um sein Nichthandeln zu rechtfertigen, indem er die römischen Gespräche als unglaubwürdig hinstellte; oder die radikalen Verschwörer haben etwas erfunden, um die römischen Gespräche günstiger erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich waren; oder es liegt ein Mißverständnis vor. Was zunächst die Behauptung betrifft, auf Grund der römischen Gespräche habe noch einmal die Gelegenheit zum Umsturz bestanden, so ist dies schlicht falsch, weil die britische Regierung zu irgendwelchen bindenden Zusagen außerstande, der Papst vielleicht wohlwollend, aber machtlos war, und die französische Regierung volle Handlungsfreiheit behielt. Als Grundlage für einen Staatsstreich waren die römischen Gespräche absolut unbrauchbar. Richtig ist dagegen, daß die radikalen Verschwörer ein Interesse daran hatten, dies zu verschleiern, weil sie das OKH zum Handeln drängen wollten und ihm deshalb irgendetwas Aussichtsreiches anbieten mußten, auch wenn es dabei mit der Wahrheit nicht so genau zuging. Das OKH tat demnach gut daran, die fraglichen Papiere mit spitzen Fingern anzu-
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fassen, selbst wenn sie in löblicher Absicht verfaßt waren. Unklar bleibt, wie die merkwürdige Ansicht über Elsaß-Lothringen entstand. Hatder hatte keinen einsehbaren Grund, dies einfach zu erfinden; sein Nichthandeln konnte er jederzeit rechtfertigen durch den Verweis auf andere Umstände, die allesamt nicht gegen ihn sprachen. Läßt man einmal die denkbare Lösung außer Betracht, die radikalen Verschwörer hätten Hatder anstacheln wollen, indem sie das Blaue vom Himmel herunter versprachen, so bleibt die Möglichkeit eines Mißverständnisses, einer fehlerhaften Erinnerung, eines Irrtums oder dergleichen. Vielleicht waren die Unterlagen, die Haider erhielt, so unscharf formuliert, daß sie verschiedene, auch gewagte Deutungen zuließen; vielleicht war diese Ungenauigkeit sogar beabsichtigt. Tatsächlich sind die Unterlagen im Kreis der radikalen Verschwörer zielgerichtet bearbeitet worden, um einen möglichst günstigen Eindruck hervorzurufen; Hatder erinnerte sich an die langatmige, gewundene Ausdrucksweise. Der Generalstabschef, gewöhnt an eine knappe Sprache, die das Wesentliche unmißverständlich umriß, mag aus verschwommenen Andeutungen zu weitreichende Schlüsse gezogen haben. Da aus den römischen Gesprächen keinerlei konkrete Ergebnisse hervorgegangen waren, konnten die radikalen Verschwörer ohnedies nur mit Vermutungen und frommen Hoffnungen aufwarten; vielleicht erklärt sich die mysteriöse ElsaßLothringen-Angelegenheit einfach so, daß Haider irgendwelche unbestimmten Andeutungen konkreter aufgefaßt hat, als sie eigentlich gemeint waren. In diesem Fall läge ein Mißverständnis vor, aber ein Mißverständnis, welches die radikalen Verschwörer mit ihrem Wunschdenken hervorgerufen hatten. An dieser Stelle ergibt sich die Gelegenheit, noch eine weitere Überlegung anzustellen. In Teilen der Geschichtsschreibung ist es heute zu einem verbreiteten Sport geworden, Halders Erinnerungsvermögen und damit zugleich seine Glaubwürdigkeit zu bekritteln. Hierzu ist grundsätzlich festzuhalten, daß nur ein Übermensch imstande sein kann, sich nach Jahren angespannter Tätigkeit noch scharf an kleinste Einzelheiten vergangener Ereignisse zu erinnern. Bei Haider trat das ein, was man von einem normalen Menschen mit ausgeprägtem Verstand und gutem Gedächtnis erwarten darf. Seine Erinnerungen sind im allgemeinen verläßlich - viele Ergebnisse der bisherigen Geschichtsschreibung hätten ohne sie gar nicht gewonnen werden können -, was nicht ausschließt, daß sie an manchen Stellen unscharf, durch persönliches Erleben gefärbt oder in kleinen Einzelheiten, die dem Schwund der Merkfähigkeit unterliegen, irrig sein mögen. Halders Erinnerungen stellen - in der Fachsprache des Historikers -eine Traditionsquelle dar und sind wie alle Quellen dieser Art zu behandeln, d. h. sie dienen in dem Maße zur Erkenntnisgewinnung, wie sie nicht schlüssig widerlegt sind. Dieses methodische Erfordernis ist so selbstverständlich, daß es eigentlich jedem geläufig sein sollte. Dazu gehört, die Aussagen des Generalstabschefs, auch die möglicherweise falschen, so sorgfaltig zu prüfen, daß sich herausstellt, was Haider eigentlich sagen wollte und wie ein Irrtum allenfalls entstanden sein kann. Auf die Gefahr hin, hier in Nebensächlichkeiten abzugleiten, sollen noch zwei Beispiele vorgeführt werden. Am 5. November 1939 fand eine erregte Auseinandersetzung zwischen Hitler und Brauerutsch 7•
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statt, über welche Haider in seinem Kriegstagebuch einige Bemerkungen niederschrieb. Dazu paßt eine Aussage Halders nach dem Krieg, er sei von Brauchitsch unmittelbar danach unterrichtet worden, doch steht es scheinbar im Widerspruch zu einer anderen Aussage, wonach Haider erst viel später Bruchstücke des Besprechungsinhalts von Brauerutsch erfahren haben will. Was soll nun gelten? Muß man annehmen, der Generalstabschef habe bloß Ungereimtheiten berichtet? Dann allerdings wäre die Geschichtswissenschaft wohlberaten, mit der Tatsachenforschung von vorn zu beginnen. Der scheinbare Widerspruch würde sich jedoch auflösen, wenn Haider sagen wollte, er habe von dem schwer angeschlagenen Brauerutsch zunächst nur das Notwendigste erfahren, während eine abgeklärte Schilderung des Vorfalls erst später und bruchstückhaft erfolgt sei. Beim zweiten Beispiel handelt es sich darum, daß Haider nach dem Krieg behauptet haben soll, Brauchitsch sei zwischen dem 5. und dem 23. November von Hitler nicht mehr empfangen worden, was nachweislich falsch wäre. Die Sache könnte sich klären, wenn Haider das Datum verwechselte; Brauerutsch wurde augenscheinlich nach dem 23. November längere Zeit nicht mehr von Hitler empfangen. Der unbefangene Betrachter möchte wohl meinen, gar so bedeutend seien diese Dinge nicht; schließlich soll es ja sogar vorkommen, daß Geschichtsschreiber sich gelegentlich irren, obwohl sie die Möglichkeit haben, lange und sorgfältig über die Quellen nachzudenken. Dem wäre dann freilich entgegenzuhalten, daß anband der eben genannten beiden Beispiele die These aufgestellt wurde, bei Haider zeige sich die Tendenz, in der Erinnerung vieles anders zu berichten, selbst wenn Belege für das Gegenteil leicht beizubringen sind. Schon eine solche Behauptung ist fragwürdig; vollends fragwürdig wird aber die Angelegenheit, wenn derlei Nichtigkeiten aufgeblasen werden zu einem allgemeinen Betrugsverdacht gegenüber Halder? 9 Von den drei früher genannten Voraussetzungen für einen erfolgversprechenden Umsturzversuch war die erste, nämlich eine mittelbare Mitwirkung des Auslands, nicht erfüllt. Ebensowenig wurden die zweite und dritte Voraussetzung erfüllt, nämlich eine ausreichende Bereitschaft bei Heer und Volk sowie eine Mitwirkung der hohen militärischen Führer, vor allem des Heeresoberbefehlshabers Brauchitsch. Die drei Voraussetzungen gehen zum Teil ineinander über; so hatte Brauerutsch schon bei der erwähnten Besprechung mit Haider vom 14. Oktober 1939 seine Abneigung gegen einen Umsturz mit der unsicheren Haltung des Auslands begründet, und hohe Befehlshaber des Heeres lehnten einen Aufstandsversuch ab, weil sie sich auf die Haltung ihrer Truppen nicht verlassen konnten. Selbst General 39 Haider über Staatsstreich November 1939 nach Thomas, Gedanken, 543 ff. Groscurth, 236. Dazu H.C. Deutsch, Verschwörung, 284ff. Kosthorst, 111 ff. Vgl. Hassen, 158f. Groscurths Gespräch mit Haider bei Groscurth, 241 (13. 1. 1940). Gisevius über Halders Haltung Anfang Apri11940 bei Gisevius, Ende II, 201. Allgemein zu Halders Reaktion auf die römischen Gespräche K.-J. Müller, Heer, 559 ff. Kosthorst, 130 ff. Schall-Riaucour, 284 ff. Zweifel an Halders Widerstandswillen und seinem Erinnerungsvermögen bei H.C. Deutsch, Verschwörung, 322 ff., 332 ff.; sowie, mit zunehmender Schärfe, bei P. Hoffmann, Widerstand, 211 ff., 713, Anm. 187 (mit den angeführten beiden Beispielen und der These über Halders angebliche Tendenz), 723, Anm. 328; und C. Hartmann, Halder, 19 f., 189 und passim.
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Witzleben, damals Oberbefehlshaber der l. Armee und seit 1938 einer der entschlossensten Hitler-Gegner, meinte im November 1939, da die jungen Offiziere von Hitler "besoffen" seien, lasse sich schwer abschätzen, wer auf den einfachen Soldaten größeren Einfluß habe, der putschistische General oder ein die Nazischlagworte nachplappernder Truppenoffizier. Nach dem Scheitern des ersten Staatsstreichplans im September 1938 hatte Haider eine derartige Entwicklung vorhergesehen; die schier unaufhörliche Kette von Hitlers Erfolgen befestigte in der Wehrmacht und beim Volk die Überzeugung, der Führer finde immer einen Ausweg und verdiene deshalb Vertrauen. Aus diesem Grund sagte Haider später, ihm sei nach 1938 klar geworden, daß es nicht mehr möglich war, etwas Entscheidendes zu wagen, ohne zugleich den Bestand des Vaterlandes durch einen Krieg im Inneren in Frage zu stellen. Unter diesen Umständen ist es umso bemerkenswerter, daß Haider dennoch den Umsturz erneut planen ließ. Der Generalstabschef bewies damit eine ungewöhnliche Risikobereitschaft, die sich nur aus einem wachen Verantwortungsgefühl erklären läßt. Zeitweise muß Haider sogar erwogen haben, Hitler selbst niederzuschießen. So ging er im Herbst 1939 wochenlang und auch später noch öfter mit einer Pistole in der Tasche zu Hitler. Dies zeigt immerhin seinen urtümlichen Haß auf den Diktator, wenngleich Halder, wie er später eingestand, eine solche Tat scheute. Dafür kann man Verständnis haben, denn ein Mord an Hitler allein hätte weder den Nationalsozialismus beseitigt noch den Krieg beendet, er hätte vielmehr Hitler zum Märtyrer gemacht, die Nationalsozialisten veranlaßt, an Halder, seiner Familie und dem OKH Rache zu nehmen, ohne die geringste Gewähr, daß der terroristische Charakter des Regimes und seine abenteuerliche Außenpolitik sich geändert hätten. Die Ermordung Hitlers wäre zweckdienlich gewesen als Auftakt eines Staatsstreichs, und daß Haider äußerstenfalls zu jener Tat bereit war, läßt sich zumindest nicht ausschließen. Umgekehrt bot allein der erfolgreiche Staatsstreich die Handhabe, mit der nationalsozialistischen Pest aufzuräumen, auch mit Hitler selbst, sofern er nicht gleich zu Beginn beseitigt worden war. Haider hob deshalb zu Recht auf den Staatsstreich ab, nicht in erster Linie auf ein Attentat. Der Staatsstreich nun konnte im Herbst 1939 überhaupt nur deswegen ins Auge gefaßt werden, weil die hohe militärische Führung ziemlich einig war in der Erkenntnis, ein Angriff im Westen sei derzeit nicht zu verantworten. Wie das Volk und die Truppe sich bei einem Umsturz verhalten würden, ließ sich nicht zweifelsfrei erkennen und ist bis heute undeutlich geblieben. Sicher ist, daß das Volk in seiner Mehrheit keine Kriegsbegeisterung zeigte, vielmehr die Aussicht auf einen ehrenvollen Frieden begrüßt hätte. Durch einen erfolgreichen Umsturz wurde der ehrenvolle Friede zwar auch nicht gewährleistet, doch wurden die Chancen hierfür nicht verschlechtert und jedenfalls die Kriegsausweitung erst einmal verhindert, so daß die Hoffnung genährt werden durfte, die Unruhe im Volk werde sich in Grenzen halten und könne überwunden werden, wenn der Umsturz rasch und reibungslos vonstatten ging. Rasch und reibungslos konnte der Umsturz aber nur vonstatten gehen, wenn auch die Generalität sich bei einem Umsturz zumindest mitreißen
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ließ und wenn sie dabei die Truppe in der Hand behielt. Um die Generalität mitzureißen, mußte unbedingt das OKH geschlossen auftreten, d. h. die erforderlichen Maßnahmen waren von Brauchitsch gutzuheißen. Ob dann auch die Truppe den Befehlen gehorchen würde, vermochte niemand mit Gewißheit zu sagen; ein unsicheres Schwanken vieler Truppenteile mußte auf jeden Fall einkalkuliert werden, und wenn die Befehlshaber vor Ort damit nicht schnell fertig wurden oder sich gar anstecken ließen, stand der Bürgerkrieg vor der Tür. Diese risikoreiche Unsicherheit war stets in Kauf zu nehmen; soweit im Herbst 1939 Kenntnisse über die Stimmung der Truppe vorlagen, blieben sie undeutlich, da man natürlich nicht bei der Truppe herumfragen konnte, wie sie sich wohl zu einem Staatsstreich stellen würde, und noch viel weniger konnte man die Truppe bearbeiten, um sie dem Staatsstreich geneigt zu machen. Haider vermochte daher nur eins zu tun: Er vermochte gewissermaßen von oben herab eine Lawine ins Rollen zu bringen, indem er Brauchitsch veranlaßte, sich an die Spitze des Aufruhrs zu stellen, so daß zunächst die Schaltzentralen des nationalsozialistischen Regimes in Berlin durch zuverlässige Kräfte besetzt wurden, während anschließend die Generalität, gebunden an die Anordnungen des Oberbefehlshabers und gedeckt durch seine Autorität, sich mehr oder weniger willig den geschaffenen Tatsachen beugte, insbesondere die Truppen an der Front und im Heimatgebiet zur Ruhe brachte. Gelang es auf diese Weise, den Umsturz schnell und reibungslos durchzuführen, so brauchte das Eingreifen des Auslands in einen deutschen Bürgerkrieg nicht befürchtet zu werden. Das weitere Risiko, daß das Ausland auch mit einer Umsturzregierung nicht ohne weiteres einen günstigen Frieden schließen würde, blieb dann zwar erhalten, konnte aber ertragen werden, weil das Ausland in diesem Fall erst einmal zusehen mußte, die Wehrmacht zu schlagen. 40 Für Haider spitzten sich also die Staatsstreichüberlegungen auf das Problem zu, Brauchitsch zu gewinnen und über ihn die Generalität mitzureißen. Der Stellvertreter und Freund des Generalstabschefs, Stülpnagel, drängte Haider im Herbst 1939, wahrscheinlich bereits im Oktober, sich nicht von Brauchitsch abhängig zu machen, sondern notfalls ohne ihn zu handeln. Haider wies das von sich, in der richtigen Einsicht, ein Umsturzversuch, bei dem es gerade auf die Geschlossenheit der Generalität und der Truppe ankam, dürfe nicht vom Beginn an belastet werden, indem Haider schon an der Spitze des Heeres die Geschlossenheit durchbrach. Haider besaß als Generalstabschef ohnedies keine unmittelbare Kommandogewalt, zudem stand er in seinem Dienstgrad (er war seit 1938 General der Artillerie) niedriger als die Oberbefehlshaber der drei Heeresgruppen im Westen, Rundstedt, Bock und Leeb, sowie niedriger als manche Armeeoberbefehlshaber, die Generaloberste waren. Rundstedt und Bock äußerten zwar, wie andere hohe Befehlshaber auch, schwerste Bedenken gegen den Angriff, doch gaben sie zugleich zu verstehen, daß 40 Witzleben über Truppe nach Gisevius, Sonderausgabe, 423. Haider über Aussichten eines Staatsstreichs bei Bor, 125. Haider über Niederschießen Hitlers nach Groscurth, 223, 303 (31. 10. 1939). Vgl. H.C. Deutsch, Verschwörung, 210.
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sie deswegen noch nicht den Staatsstreich befürworteten. Lediglich Leeb ließ Ende Oktober durchblicken, daß er zu allem bereit sei; gemäß einer Erinnerung Halders soll er sogar, als Stülpnagel zu dieser Zeit eine Frontreise unternahm, dem Stellvertreter Halders die Botschaft mitgegeben haben, er werde Haider folgen, obwohl dieser dienstjünger sei. Soviel Einsicht und Entschlossenheit war von anderen nicht zu erwarten; immerhin war von ihnen günstigenfalls zu erwarten, daß sie die Disziplin wahrten, d. h. die Befehle, welche ihnen der Oberbefehlshaber Brauchitsch im Falle eines Aufstands erteilte, gegenüber ihren nachgeordneten Kommandeuren und der Truppe durchsetzten. Der politischen Führung die Treue aufzukündigen und den Eid zu brechen, war schon schwer genug; Gewissensnot wie Entscheidungstindung konnten dann erleichtert werden, indem die Generale sich wenigstens im Rahmen der militärischen Befehlshierarchie hielten. Wenn dagegen Haider ohne oder gegen Brauerutsch handelte, würden viele in ihm nichts anderes sehen als einen wildgewordenen Putschisten, einen überspannten Führungsgehilfen, der Befehle erteilte, die ihm nicht zustanden, und einen Gehorsam verlangte, den er selber schon gebrochen hatte. Angesichts der unklaren Stimmungslage bei der Truppe war die Disziplin das einzige Aushilfsmittel, um im Heer ein geschlossenes Handeln zugunsten des Staatsstreichs herbeizuführen. Aber wie hätten denn die Befehlshaber von ihren nachgeordneten Kommandeuren und Truppen Disziplin verlangen sollen für eine Sache, die schon im OKH mit einem Bruch der Disziplin begonnen hatte? So beharrte Haider stets darauf, ohne Brauerutsch den Staatsstreich nicht ins Werk setzen zu können. Der Ablauf des Staatsstreichs war ähnlich geplant wie 1938. Damals hatte der Aufstand ausgelöst werden sollen, wenn Hitler den Befehl zum Einmarsch in das Gebiet der Tschechoslowakei gab. Jetzt sollte der Umsturz anlaufen, wenn Hitler den Befehl zum Angriff im Westen erteilte. Da Hitler am 22. Oktober 1939 und noch einmal am 27. Oktober als Angriffstermin den 12. November in Aussicht genommen hatte, mußte der verbindliche Angriffsbefehl am 5. November ergehen, um die erforderlichen Bewegungen in Gang zu setzen. Wie 1938 wurde Brauerutsch in die konkreten Umsturzplanungen, die Haider und Stülpnagel seit Ende Oktober vornehmen ließen, nicht eingeweiht. Allerdings dürfte der Oberbefehlshaber des Heeres schwerlich ganz ahnungslos gewesen sein, denn die Möglichkeit eines Staatsstreichs war schon am 14. Oktober zwischen ihm und Haider zur Sprache gekommen. Am 4. November führte Halder, wie er in seinem Kriegstagebuch knapp festhielt, ein "Gespräch mit ObdH über künftige Maßnahmen". Das können militärische Maßnahmen gewesen sein, es kann sich freilich auch um grundlegende Erörterungen gehandelt haben wie an jenem 14. Oktober. Eine solche Vermutung liegt umso näher, als Haider am 4. November noch andere Staatsstreichvorbereitungen traf. So ließ er andere Verschwörer alarmieren und wies Oberst Oster an, die alten Staatsstreichpläne von 1938 mit den unterdessen im OKH erarbeiteten neuen abzugleichen. Oster soll dabei auch erfahren haben, welches Panzerkorps für die ersten Aufgaben in Berlin vorgesehen war, d. h. für die Besetzung der entsprechenden nationalsozialistischen Einrichtungen. Wie 1938 rechnete Haider da-
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mit, Brauchitsch mitreißen zu können, wenn die Stunde des Handeins gekommen war, also in den Tagen ab dem 5. November. Da ein Aufstandsversuch erfolglos bleiben mußte, wenn Brauchitsch nicht mittat, war Halders Vorhaben insoweit ein Eventualplan, welcher hinfällig wurde, falls Brauchitsch sich versagte. Am 2. und 3. November unternahmen der Oberbefehlshaber und sein Generalstabschef noch eine Frontreise in den Westen, bei welcher sie feststellten, daß der Angriff von keiner hohen Kommandostelle als erfolgversprechend angesehen wurde. Für Brauchitsch hätte das der Ansatzpunkt sein können, einen Angriffsbefehl Hitlers mit dem Staatsstreich zu beantworten. 41 Es kam nicht so. Brauchitsch wagte am 5. November einen letzten Versuch, Hitler von seinen Angriffsabsichten abzubringen. Haider begleitete ihn in die Reichskanzlei, wahrscheinlich um ihm Rückenstärkung zu geben und sofort das Ergebnis zu erfahren; an dem Gespräch nahm er indes nicht teil. Die militärfachlichen Argumente, welche Brauchitsch gegen einen Angriff hätte vorbringen können, hatte sich Haider im Anschluß an die Frontreise vom 2./3. November aufgezeichnet. Daran hielt sich Brauchitsch jedoch nicht, sondern er erstellte selbst eine Denkschrift, welche er Hitler vortrug. Dabei beging er den Fehler, gewisse Schwächen der Truppe, die in den ersten Kriegswochen aufgetreten waren - vermutlich wegen der unvollständigen Ausbildung -, stark zu dramatisieren; offenbar sprach er davon, es hätten sich Beispiele von Disziplinlosigkeit wie in den Jahren 1917/18 gezeigt. Das war erstens von der Sache her fragwürdig, und zweitens löste es bei Hitler einen Tobsuchtsanfall aus, in dessen Verlauf Brauchitsch und das OKH übel beschimpft wurden. Als Hitler Beweise und genauere Einzelheiten zu den angeblichen Disziplinlosigkeiten verlangte, vermochte Brauchitsch nichts Konkretes vorzubringen, so daß Hitler die entwürdigende Auseinandersetzung jäh abbrach. Während Brauchitsch gedemütigt, zerknirscht und in einem Zustand des seelischen Zusammenbruchs mit Haider ins OKH-Hauptquartier zurückkehrte, gab Hitler den Angriffsbefehl für den 12. November, der bald darauf, am frühen Nachmittag des 5. November, im OKH bekannt wurde. Halder, von Brauchitsch über die Geschehnisse in der Reichskanzlei unterrichtet, gewann aus dem anscheinend etwas wirren Bericht des Oberbefehlshabers sowie aus seinem Zustand den ersten Eindruck, daß mit diesem Mann der Staatsstreich wohl nicht durchführbar sein werde. Im Laufe des Nachmittags wurde dies bestätigt, als Brauchitsch, im Gespräch mit seinem Generalstabschef und einem Dritten - wahrscheinlich Stülpnagel-, darauf beharrte, die Offensive sei ein Verhängnis, das mit allen Mitteln verhindert werden müsse. Als Haider die entscheidende Frage stellte, wie denn das geschehen solle, zuckte Brauchitsch vielsagend die Achsel und meinte, er werde 41 Stülpnagel über Brauchitsch nach Schall-Riaucour, 266. Zu Leeb dessen Tagebücher, 194f., 472 (31. 10. 1939). Ferner K.-J. Müller, Heer, 477f., 494, 508ff. Schall-Riaucour, 267. Zum voraussichtlichen Angriffstermin im Westen Halder, KTB I, lll, ll4. Jacobsen, Gelb, 48, 141. Halders Gespräch mit Brauchitsch vom 4. 11. 1939 nach Halder, KTB I, 119. Über Unterrichtung Osters am 4. 11. 1939 Gisevius, Sonderausgabe, 416. Zur Frontreise vom 2./3. 11. 1939 Halder, KTB I, ll7f.
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nichts tun, aber er werde sich auch nicht dagegen wehren, wenn es ein anderer tue. Für Haider war das eine ebenso klare wie wertlose Antwort, denn Brauerutsch hatte unmißverständlich festgestellt, daß er den Generalstabschef bei einem Umsturz allein lassen, also insbesondere die entsprechenden Befehle nicht mit seinem Namen decken und nicht dafür die Verantwortung übernehmen werde. Im Kreis der anderen Verschwörer muß dies umgehend bekannt geworden sein, denn schon am nächsten Tag machte der ehemalige Generalstabschef Beck den Vorschlag, um eine einheitliche Aktion von oben auszulösen, sei er jederzeit bereit, den Oberbefehl zu übernehmen, vorausgesetzt, die drei Heeresgruppenkommandeure stimmten ebenfalls zu. Natürlich wurde auch daraus nichts, denn abgesehen davon, daß Brauchitsch den Vorschlag gar nicht annahm, war dieser zudem unbrauchbar, weil er die Geschlossenheit des OKH genauso zerrissen, die Disziplin genauso verletzt und bei den meisten Befehlshabern Widerspruch hervorgerufen hätte. An jenem Nachmittag des 5. November wurde also deutlich, daß der Staatsstreich jetzt, d. h. eigentlich zum günstigsten Zeitpunkt, nicht durchführbar war, da Brauchitsch ausfiel. Darüber hinaus schöpfte Haider aus dem Bericht von Brauerutsch über die Vorgänge in der Reichskanzlei einen unguten Verdacht. lnfolge der wochenlangen Auseinandersetzungen über die Offensive war das Verhältnis zwischen Hitler und dem OKH aufs äußerste gespannt; schon am 4. Oktober hatte Haider von General Jodl, dem Chef des Wehrmachtführungsstabes, die Nachricht erhalten, es sei eine Krise der schlimmsten Art im Anzug, der Führer hege Mißtrauen und sei erbittert, daß die Soldaten ihm nicht folgten. Brauerutsch beging nun bei seinem Vortrag in der Reichskanzlei obendrein die Ungeschicklichkeit, dieses Mißtrauen noch zu nähren, denn seine übertriebenen Behauptungen über den Zustand der Truppe mußten bei Hitler den Eindruck hervorrufen, entweder sei ihm bislang etwas verschwiegen worden oder, falls die Behauptungen unzutreffend waren, er werde bewußt hinters Licht geführt. Der Vergleich mit 1917/18 war vollends unangebracht, da er Erinnerungen an die Revolution anklingen ließ und auf Hitler wie ein rotes Tuch wirken mußte. Wie Haider sich später erinnerte, teilte ihm Brauerutsch im Anschluß an jenen Streit in der Reichskanzlei mit, der Diktator habe gegen den "Geist von Zossen" gewütet. Dadurch entstand bei Haider der Verdacht, Hitler könnte zu einem Schlag gegen das OKH ausholen, gegebenenfalls die besonders mißliebigen Personen verhaften lassen. Was dann geschah, wird unterschiedlich dargestellt, insbesondere findet sich öfters die Meinung, Haider habe die Nerven verloren. Eine solche Unterstellung ist jedoch nicht erforderlich, wenn man sich beim Nachzeichnen der Ereignisse an jenem Nachmittag des 5. November eng an das hält, was in den wenigen vorhandenen Quellen einigermaßen gesichert ist, wobei namentlich die blumigen Ausmalungen des Zeitgenossen Gisevius auf ihren verläßlichen Kern zurückgestutzt werden müssen. Haider fuhr also mit Brauerutsch ins OKH-Hauptquartier zurück und empfing die Vorstellung, die Verschwörung könnte entdeckt oder verraten worden sein. Ob dabei schon über einen Staatsstreich geredet wurde, ist unbekannt; doch mag Haider es unterlassen haben, weil mit dem Oberbefehlshaber in seinem gegen-
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wärtigen Zustand ohnedies nicht viel anzufangen war. Nach der Rückkehr besprach sich Haider offenbar mit Stülpnagel, welcher, soweit erkennbar, ohne Einwände mit ihm zusammenwirkte. Stülpnagel erkundigte sich fernmündlich an der Westfront nach den angeblichen Disziplinlosigkeiten, von denen Brauerutsch gesprochen hatte. Für solche Dinge waren an sich andere Dienststellen zuständig, z. B. das Personalamt oder der Generalquartiermeister (für Heeresversorgung und Rechtsfragen), so daß undeutlich bleibt, was Stülpnagel damit bezweckte. Möglicherweise wurden Haider und sein Stellvertreter von den Auslassungen des Oberbefehlshabers selbst überrascht und wollten sich vergewissem (die Antwort war übrigens negativ), oder sie wollten die Westfront vorwamen, weil Hitler angekündigt hatte, er wolle selbst dorthin fliegen. Ungefähr in dieser Zeit, als Haider und Stülpnagel beratschlagten, muß Hitlers Angriffsbefehl bekannt geworden sein, noch bevor irgendwelche Maßnahmen in Hinblick auf den Statsstreich, sie seien positiver oder negativer Natur, ergriffen worden waren. Der Zeitpunkt, an welchem Haider den Staatsstreich abblies, ist bekannt; es war etwa um 15 Uhr. Zu dieser Zeit wußte er aber bereits, daß Brauchitsch nicht mitmachen würde, so daß sich die Frage erhebt, woher er es wußte. Da der Angriffsbefehl schon immer als Aufhänger gedacht war, um Brauchitsch mitzureißen, liegt die Annahme nahe, Haider habe nach Bekanntwerden des Angriffsbefehls bei Brauchitsch sondiert. Die vorhin berichtete Begebenheit, wonach Haider und Stülpnagel mit Brauerutsch über die Verhinderung des Angriffs sprachen und letzterer achselzuckend die Mitwirkung an einem Umsturz ablehnte, würde ausgezeichnet hierher passen. Brauchitsch hatte sich im Laufe des Nachmittags wieder ein wenig beruhigt, so daß man ihm wohl eine gezielte Frage stellen konnte. Darüber hinaus hatte Hitler beim Streit in der Reichskanzlei Belege für das angeblich disziplinwidrige Verhalten der Truppe verlangt. Wenn der Staatsstreich am 5. November in Gang gesetzt worden wäre, hätte man solche Belege nicht mehr zu sammeln brauchen; Hitlers Anordnungen wären dann belanglos gewesen. Tatsächlich jedoch wurde im OKH, gleichfalls etwa um 15 Uhr, die Sammlung des entsprechenden Materials angeordnet. Das kann ebenfalls nur heißen, daß der Staatsstreich abgeblasen werden mußte, entweder weil Brauchitsch es ausdrücklich verlangt hatte oder weil Haider auf andere Weise erkannt hatte, daß Brauchitsch untätig bleiben würde. Bis etwa 15 Uhr war demnach klar, daß der Umsturz fürs erste entfallen mußte. Es blieb die Gefahr, Hitler könnte Lunte gerochen haben und demnächst das Verschwöremest im OKH ausheben. Falls der Staatsstreich stattfand, war das belanglos; Hitler würde dann umso schneller merken, daß er recht gehabt hatte. Falls der Staatsstreich aber nicht stattfand, schwebte über den Verschwörern die Gefahr, binnen kurzem ins KZ oder an den Galgen zu wandern. Haider ordnete deshalb an, und zwar augenscheinlich ebenfalls gegen 15 Uhr, die Staatsstreichpläne zu vernichten. Da sie im Augenblick nicht gebraucht wurden, war das kein großer Schaden; und wenn das OKH ausgehoben wurde, fand sich wenigstens kein belastendes Material. Man sieht, daß von einer Nervenkrise bei Haider - und Stülpnagel nicht die Rede sein kann; beide handelten überlegt, umsichtig und vernünftig, wie
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man es von guten Offizieren erwarten möchte. Gegen 15 Uhr wurde Groscurth, der Hauptverbindungsmann zu anderen Verschwörern, anscheinend zunächst von Stülpnagel unterrichtet und anschließend zu Haider gerufen, der ihm folgendes eröffnete: Alle militärischen Mittel seien erschöpft - was so zu deuten ist, daß die militärischen Einwände gegen den Angriff fruchtlos und der Militärputsch unmöglich seien; die Offensive würde gemacht- was voraussetzt, daß der Angriffsbefehl bekannt war; niemand sei da, die Sache zu übernehmen - was besagt, daß Brauerutsch sich verweigert hatte; Volk und Heer seien nicht geschlossen- was entweder ein Argument von Brauchitsch war und dann bedeutet, daß er befragt worden war, oder was Halders Meinung darstellte und dann beinhaltete, daß der Generalstabschef allein nicht handeln könne, weil andernfalls der Bürgerkrieg drohe. Einen Satz Halders gab Groscurth wörtlich wieder: "Damit sind die Kräfte, die auf uns rechneten, nicht mehr gebunden. Sie verstehen, was ich meine." Gemeint war, daß die anderen Verschwörer sich nicht mehr für einen Staatsstreich des OKH bereithalten sollten; doch hat Haider möglicherweise zusätzlich andeuten wollen, daß die anderen Verschwörer nun frei seien, von sich aus etwas zu unternehmen, falls sie dazu in der Lage seien. Außerdem erhielt Groscurth jetzt, entweder von Stülpnagel oder von Halder, den Auftrag, die Planungsunterlagen für den Staatsstreich zu vernichten. 42 Haider verlor auch in der Folgezeit die Möglichkeit eines Umsturzes nicht aus den Augen, doch schälte sich immer deutlicher heraus, daß weder die Umstände dafür geeignet noch die Hemmungen bei Brauchitsch zu überwinden waren. Nachdem schon am 7. November die Offensive erstmals verschoben worden war, was von da an in kurzen Abständen immer wieder geschah, machte sich allmählich der Eindruck breit, der Angriff könne im Winter gar nicht mehr stattfinden, schon wegen des Wetters. Damit entfiel zwar nicht die Ursache für Staatsstreichüberlegungen, denn diese lag in der abenteuerlichen und gewalttätigen Politik Hitlers, aber es entfiel mehr und mehr der Anlaß für einen Umsturz, denn Haider hatte den Aufstand an der verbreiteten Furcht vor einer militärischen Katastrophe festmachen wollen. Mit der Vertagung des Angriffs und dem allmählichen Erstarken der Wehrmacht begann indes diese Furcht zu verschwinden, so daß auch die Bereitschaft zur Hinnahme des Umsturzes bei Heer und Volk sinken mußte. Als typisches Beispiel darf die Einstellung von General Reichenau gelten, der nach der Machtergreifung Chef des Ministeramts gewesen war und jetzt eine Armee befehligte. Bis in 42 Zur Auseinandersetzung in der Reichskanzlei KTB OKW 112, 951 f. Halder, KTB I, 120. Brauchitsch über Staatsstreich nach Gisevius, Sonderausgabe, 418. Becks Vorschlag nach Gisevius, Sonderausgabe, 422, 429. Vgl. Hassen, 162. H.C. Deutsch, Verschwörung, 255 f. Brauchitsch über "Geist von Zossen" und Halders Verdacht nach Kosthorst, 99. Jodls Mitteilung vom 4. 10. 1939 in Halder, KTB I, 98. Die These von Halders Nervenkrise bei H.C. Deutsch, Verschwörung, 253. P. Hoffmann, Widerstand, 178f. Die Abfolge der Ereignisse am Nachmittag des 5. 11. 1939 nach Groscurth, 224 f., 305. Dazu H.C. Deutsch, Verschwörung, 248, mit dem wichtigen Hinweis, daß Groscurth die Anweisung zum Vernichten der Umsturzpläne erst gegen 15 Uhr erhalten haben kann. Ferner Jacobsen, Gelb, 47, 276, Anm. 16.
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den November 1939 war er einer der schärfsten Gegner des Angriffs, wurde dann schwankend und kam bis in den Januar 1940 zu der Überzeugung, die Offensive sei aussichtsvoll und müsse gemacht werden. Andere sahen das ebenso, und selbst mancher Nachdenkliche wird zu dem Ergebnis gelangt sein, wenn der Kampf der Gegner sich nicht bloß gegen den Nationalsozialismus, sondern gegen das ganze deutsche Volk richte, wie es ja augenscheinlich zutraf, dann müsse den Gegnern mit Waffengewalt eine Lehre erteilt werden. Dennoch ist die Behauptung nicht richtig, Haider habe seit dem 5. November die Staatsstreichvorbereitungen systematisch abgebaut, und ebenso falsch ist die Ansicht, einer Wideraufnahme der Umsturzplanungen habe Haider schon dadurch den Boden entzogen, daß er nach dem 5. November keine geeigneten Divisionen in den östlichen Reichsgebieten mehr zurückgehalten habe. Vielmehr wird das, was Haider darüber nach dem Krieg aussagte, durch sein Kriegstagebuch bestätigt. Demnach standen jedenfalls bis in den Dezember immer einige Divisionen weiter östlich zur Verfügung, so etwa die 4. leichte Division, die zur 9. Panzerdivision umgerüstet wurde, und die 29. motorisierte Infanteriedivision, dazu als OKH-Reserve das XIV. Panzerkorps unter General Wietersheim. Ob gerade diese Verbände Anfang November für den Staatsstreich vorgesehen waren, ist unbekannt; immerhin waren Truppen vorhanden. Das änderte freilich nichts an dem grundlegenden Sachverhalt, daß ein Staatsstreich ohne Brauchitsch kaum und ohne die Befehlshaber schon gar nicht möglich war. Haider hat auch nach dem 5. November immer wieder versucht, auf Brauchitsch einzuwirken, und er hat andere Mitglieder seines Stabes angewiesen, dasselbe zu tun. Erfolg hatten sie alle miteinander nicht. Tippelskireh stellte am 16. November fest, es sei unmöglich, den ObdH zu einer Handlung zu bewegen, Brauchitsch könne keine Revolution machen. Seufzend meinte Tippelskirch: "Wir müssen durch dies tiefe Tal also wohl hindurch. Ich glaube aber an das deutsche Heer, daß es einmal wieder ersteht und sich durchsetzt, auch dann, wenn wir wieder auf 100 000 Mann reduziert sind." Bei den Befehlshabern war die Lage nicht besser. Leeb versuchte auf einer Konferenz mit Rundstedt und Bock am 9. November eine gemeinsame Ablehnung des Angriffs durch die drei Heeresgruppen-Oberbefehlshaber zu erreichen. Als dies fehlschlug, sah er für weiteren Widerstand gegen Hitler keine Grundlage mehr. Stülpnagellotete auf einer Frontreise am 12./13. November noch einmal die Stimmung der Generale und Kommandeure aus. Als Ergebnis konnte er mitteilen, die Generale einschließlich Witzleben sähen sich zum Handeln außerstande, da die Truppe nicht geschlossen hinter ihnen stünde. Unter diesen Umständen war in der Tat kein Aufstand möglich, so daß Haider das Unternehmen in eine ungewisse Zukunft vertagte. Brauchitsch bot, nachdem er am 23. November noch einmal von Hitler gedemütigt worden war, seinen Rücktritt an; als dies verweigert wurde, fügte er sich in das Unvermeidliche. 43 43 Reichenau nach Groscurth, 225, 230 (5.11., 12. 11. 1939). Hassen, 160, 171, 177 (5. 12. 1939, 30. 12. 1939, 28. 1. 1940). Die Behauptungen über Halders Abbau der Staats-
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Haider hat es später stets vermieden, Brauchitsch die Schuld arn Scheitern des Staatsstreichs anzulasten, obwohl bei größerer Risikobereitschaft des Oberbefehlshabers der Umsturz zweifellos denkbar gewesen wäre. Auf der anderen Seite waren freilich eben diese Risiken beträchtlich, und so wurden sie denn von Haider bis ins Jahr 1940 immer wieder aufgezählt, wenn er, bedrängt von anderen Verschwörern, die Gründe für die Untätigkeit des OKH angab. Im einzelnen verwies er auf die unsichere Haltung des Auslands und meinte im Januar 1940, die Friedensversicherungen Englands seien nur Bluff, nicht ernsthaft; er nannte die Stimmung des Volkes noch nicht reif und betonte die Unzuverlässigkeit des jüngeren Offizierkorps, das noch an den Führer glaube; er erwähnte das Fehlen eines großen Mannes, der die Revolution anführen könne, was teils auf Brauchitsch gemünzt war, teils aber auch auf die anderen Verschwörer, denen Haider vorwarf, sie dächten an Putsch, seien sich aber nicht einig und bekämpften sich sogar. Eine Art Schlußstrich zog Halder, als er im Frühjahr 1940, wahrscheinlich Ende März, dem Mitverschwörer Goerdeler einen Brief schrieb, welcher allerdings selbst nicht erhalten, sondern nur mittelbar bezeugt ist. Darin lehnte er eine Aktion zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab, denn nur in der höchsten Not dürfe man den Staatsstreich wagen. Der Krieg müsse jetzt durchgeschlagen werden, ein Kompromißfriede sei sinnlos. Unter der Voraussetzung, daß der Inhalt einigermaßen richtig wiedergegeben wurde, lassen sich daraus etliche Schlüsse ziehen. Daß der Umsturz nur in einer außenpolitischen Notsituation möglich sei, weil andernfalls Volk und Wehrmacht ihn nicht mittragen würden, war ein altes und zutreffendes Argument Halders seit 1938. Daß der Krieg jetzt durchgeschlagen werden müsse, bildete die logische Konsequenz aus dem Ausbleiben des Staatsstreichs. Auffällig ist die Wendung, ein Komprornißfriede sei sinnlos. Auf den Kompromißfrieden mit einer deutschen Umsturzregierung konnte sich dies augenscheinlich nicht beziehen, da ein solcher Friede nicht schlechterdings sinnlos oder unmöglich war. Falls der Staatsstreich in schneller und reibungsloser Weise zum Erfolg kam, durfte man zwar nicht ohne weiteres erwarten, die Westmächte würden alsbald einen günstigen Frieden schließen. Doch war Deutschland in einem derartigen Fall durchaus in der Lage, den Krieg fortzusetzen, vielleicht auch noch harte Schläge auszuteilen, so daß die Westmächte eines Tages doch einlenken und einen Komprornißfrieden schließen mußten. Allenfalls hätte Haider sagen können, falls der Staatsstreich scheitere und in den Bürgerkrieg einmünde, dann sei die Hoffnung auf einen Kompromißfrieden sinnlos. Soweit erkennbar, wollte Haider in dem besagten Brief aber nicht erkläStreichvorbereitungen bei P. Hoffmann, Widerstand, 180; H.C. Deutsch, Verschwörung, 269 f. Zu den im Osten des Reichs zurückgehaltenen Verbänden Kosthorst, 57, 117. K.-J. Müller, Heer, 517, Anm. 282. Halder, KTB I, 99, 103, 112, 123f., 129. Vgl. Jacobsen, Gelb, 52f., 64 f., 83 f. Zu den Einwirkungsversuchen auf Brauchitsch K.-J. Müller, Heer, 539, Anm. 402. Tippelskireh bei Groscurth, 232. Leeb nach Jacobsen, Gelb, 50. Kosthorst, 49f. Leeb, 199f. Zu Stülpnagel V. Müller, Vaterland, 374 f. Groscurth, 230 f. (14. 11. 1939). Zu den Vorfällen vom 23. II. 1939 und Brauchitsch's Rücktrittsgesuch Halder, KTB I, 131 f. IMG, Bd 20, 628. Jacobsen, Gelb, 59ff.
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ren, warum der Staatsstreich nicht möglich sei, sondern der Staatsstreich war bereits abgetan. Haider sprach ja ausdrücklich davon, der Staatsstreich sei nur in der höchsten Not vertretbar; eine solche Notlage war indes im Frühjahr 1940 längst nicht mehr vorhanden. Der Generalstabschef wußte sehr wohl, daß die Wehrmacht, wenn sie erst ihre zeitweilige Schwäche überwunden hatte, einen Waffengang mit Frankreich nicht zu scheuen brauchte. Bereits Ende November 1939 meinte er, ähnlich wie Ludendorff 1918 die Offensive geführt habe, ohne daß das geschichtliche Urteil gegen ihn ausfalle, fürchte er, Halder, nicht das spätere Geschichtsurteil. Vermutlich wollte Haider mit dieser etwas dunklen Anspielung ausdrücken, daß der Krieg, ähnlich wie 1918, nur im Wege des Angriffs glücklich zu beenden sei. Die Erfolgsaussichten beurteilte er in der Folgezeit duchaus günstig, so sah er Mitte Januar 1940 "eine Reihe von großen Erfolgsmöglichkeiten". Was sollte dann die Wendung besagen, ein Kompromißfriede sei sinnlos? Mit Hitler würde es einen Kompromißfrieden sowieso nicht geben, wie die Westmächte immer wieder beteuerten, und wenn der Angriff im Westen erfolgreich war, erübrigte sich ein Kompromißfriede, jedenfalls zunächst. Gelegentlich deutete Haider an, nach einem Erfolg im Westen sei die Armee so stark, daß sie sich im Innem durchsetzen könne. Es mag sein, daß der Generalstabschef zeitweise diese Hoffnung hegte, aber gut begründet war sie nicht, weil Haider ja selbst immer angenommen hatte, die Wehrmacht würde sich gegen Hitler nur auflehnen, wenn er Rückschläge erlitt, nicht jedoch gegen einen Hitler als Triumphator. Hatte Haider in Wahrheit vielleicht etwas anderes im Sinn, das er nur nicht deutlich aussprechen wollte? In einer Unterhaltung mit einem Bekannten Ende Dezember 1939 sprach er ebenfalls davon, man müsse erst den Krieg beenden, ehe man einen erfolgreichen Umsturz ins Auge fassen könne. Daraufhin traf det Gesprächspartner zwei wesentliche Feststellungen. Er entgegnete erstens, daß Hitler, wenn ihm die glückliche Beendigung des Krieges gelinge, überhaupt nicht mehr zu stürzen sein werde, und er betonte zweitens, daß Hitler schlechterdings unfähig sein werde, den Krieg glücklich zu beenden. Haider blieb zwar dabei, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen der Umsturz nicht durchführbar sei, aber ansonsten erkannte er den Gedankengang grundsätzlich an. Wie reimt sich das zusammen? Auf der einen Seite sah Haider große Erfolgsmöglichkeiten im Westen, auf der anderen Seite gab er zu, Hitler könne den Krieg nicht gewinnen; auf der einen Seite sprach er von einem Staatsstreich nach dem Krieg, auf der anderen Seite gab er zu, ein erfolgreicher Hitler sei nicht zu stürzen; auf der einen Seite hielt er einen Kompromißfrieden für sinnlos, auf der anderen Seite stand ein Kompromißfriede bis zum glücklichen Abschluß des Westfeldzuges gar nicht zur Debatte. Man wird der Wahrheit näherkommen, wenn man Haider die Fähigkeit zum logischen Denken zutraut. Daß ein Kompromißfriede sinnlos sei, galt in zweifacher Hinsicht: Er war erstens nicht wünschbar, weil es ein Kompromißfriede zugunsten Hitlers geworden wäre, der diesem mindestens erhebliche Teile seiner Beute belassen, seine Stellung im Innem gefestigt und einen Umsturz auf unabsehbare Zeit vereitelt hätte. Ein solcher Kompromißfrieden war jedoch zweitens auch gar nicht
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zu erwarten, vor Abschluß des Westfeldzugs sowieso nicht und danach ebensowenig, weil keinerlei Gewähr bestand, daß nach einem deutschen Sieg über Frankreich der Kampf an ein Ende kommen würde. Britannien, von Amerika bereits unterstützt, würde zum Frieden nicht genötigt sein, die USA sowie Sowjetrußland lagen auf der Lauer und konnten irgendwann in den Krieg eintreten, und ob Hitler selbst einen dauerhaften Kompromißfrieden überhaupt anstrebte, durfte füglieh bezweifelt werden. Die vorhin aufgezählten Widersprüche entpuppen sich damit als scheinbar. Hitler würde vermutlich einen Krieg gewinnen, nämlich den gegen Frankreich, aber den Krieg, der sich voraussichtlich anschloß, würde er nicht gewinnen. Ein Staatsstreich würde zunächst unmöglich sein, wenn Hitler seinen Krieg gegen Frankreich gewann, aber er mußte nicht für alle Zeit unmöglich sein, wenn Hitler sich in einen Krieg verstrickte, den er nicht gewinnen konnte. Man meint, solche Überlegungen seien dem Generalstabschef nicht zuzutrauen? Sie wurden von anderen auch angestellt. Tippelskireh hatte in der vorhin erwähnten Äußerung gesagt, er glaube an ein Wiedererstehen des deutschen Heeres, selbst wenn es erneut auf 100 000 Mann reduziert werde. Das war eine Anspielung auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg und beinhaltete die Befürchtung, Deutschland werde erneut eine solche Niederlage erleiden. Natürlich kann Tippelskireh gemeint haben, die Niederlage werde schon im Frankreichfeldzug eintreten. Doch Tippelskireh mag auch die Niederlage in \.inem künftigen Weltkrieg gemeint haben; immerhin kannte der Oberquartiermeister das seit 1938 vorgebrachte Bedenken, ein europäischer Krieg werde in den Weltkrieg führen. In den Gruppen des deutschen Widerstandes war Helmut Graf von Moltke, der führende Kopf des sogenannten Kreisauer Kreises, stets davon überzeugt, daß eine vollständige militärische Niederlage des Deutschen Reiches die unabdingbare Voraussetzung für den politischen Neubeginn Deutschlands und Europas sei. Der ehemalige Chef der Heeresleitung, General Harnmerstein-Equord, sagte nach dem Zeugnis seines Sohnes: ,,Die völlige Niederlage Deutschlands kann durch niemanden abgewandt werden. Deshalb soll man sich hüten, Hitler von innen voreilig zu stürzen. Erst muß dem ganzen Volk klar geworden sein, wohin dieser Mann es führt. Eine neue Dolchstoßlegende darf nicht kommen." Die extreme Einstellung Moltkes hat Haider wohl nicht geteilt, selbst wenn er darüber nachgedacht haben mag. Man darf nicht annehmen, Haider habe die deutsche Niederlage gewünscht oder gar sie herbeiführen wollen. Dagegen zeigen sich deutliche Berührungspunkte zwischen der Auffassung Hammersteins und derjenigen des Generalstabschefs. Ähnlich wie mancher andere erwartete Haider nicht, Deutschland könne einem Weltkrieg gewachsen sein. Was Haider zu tun vermochte, war dies: Er konnte versuchen, den Krieg so zu führen, daß Deutschland möglichst wenig Schaden nahm, und er konnte, wenn der unvermeidliche Schaden sich abzeichnete, wieder an den Staatsstreich denken.44 44 Haider über Hindernisse für den Umsturz bei Groscurth, 236, 241 (10. 12. 1939, 13. l. 1940). Hasse!!, 158 f. Der Brief an Goerdeler nach Hassen, 203 f. (6. 4. 1940). Haider über
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3. "Weserübung" "Unternehmen Weserübung" war der Deckname für die deutsche Besetzung Norwegens und Dänemarks. Der Ablauf der Ereignisse darf im wesentlichen als geklärt gelten, dagegen sind die Gründe für dieses Unternehmen zumindest strittig, wenn nicht gar fahrlässig vernebelt worden. Eine Linie der Interpretation, die sich immerhin auf Winston Churchill berufen kann, vertritt die Ansicht, das Unternehmen sei gewissermaßen aus einem Wettlauf der britischen und deutschen Admiralitäten um die Besetzung strategischer Positionen in Skandinavien entstanden, wobei die deutsche Seite der britischen nur knapp zuvorgekommen sei. Eine andere Linie der Interpretation, die sich bis zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zurückverfolgen läßt, vertritt demgegenüber die Behauptung, hier liege einmal mehr ein deutscher Überfall vor, der freilich in diesem Fall ausnahmsweise nicht von Hitler, sondern vom Oberbefehlshaber der Marine, Großadmiral Raeder, veranlaßt worden sei. Angesichts derartiger Beschuldigungen kann man nicht einfach zur wissenschaftlichen Tagesordnung übergehen, denn hier stehen zwei Dinge auf dem Spiel: erstens das zureichende Verständnis elementarer Tatsachen der Seestrategie und zweitens die Verträglichkeit des Geschichtsbildes mit den Quellen. Es ist deshalb geboten, in beiderlei Hinsicht dem Sachverhalt erneut nachzugehen. Die Betrachtungen über Seestrategie lassen sich dabei zweckmäßigerweise in größerer Allgemeinheit anstellen, weil sie in dieser Form für den ganzen Krieg verbindlich sind. 45 Die strategische Lage Deutschlands bei Kriegsausbruch wies der Marine eine grundsätzlich andere Rolle zu als dem Heer und der Luftwaffe. Als nach Hitlers Machtergreifung 1933 die deutsche Wiederaufrüstung in Gang gesetzt worden war, hatten die damals verantwortlichen militärischen Fachleute, d. h. der Reichswehrminister Blomberg, dazu Fritsch und Beck für das Heer sowie Raeder für die Marine, die strategische Vorstellung entwickelt, das Reich für eine kriegerische Auseinandersetzung mit seinen kontinentalen Nachbarn zu befähigen. Das war keine offensive Strategie gewesen und schon vollends keine kriegslüsterne - Beck hatte ja mehrfach den Grundsatz der strategischen Defensive betont-, sondern es hatte das Reich instand setzen sollen, gestützt auf verteidigungsfähige Streitkräfte eine erfolgversprechende Revisionspolitik zu betreiben. In diesem Rahmen hatte die Marine den ungefähren Kräftegleichstand mit der französischen Flotte angestrebt. Da Westoffensive und anschließende Möglichkeit eines Staatsstreichs bei Groscurth, 236, 241. Das Gespräch mit dem Bekannten, Ministerialrat Dr. Conrad, vom 26. 12. 1939, nach C. Hartmann, Halder, 176f. P. Hoffmann, Widerstand, 717, Anm. 234. Moltke über Niederlage nach Schöngen, Hassen, 102. Vgl. Hassen, 118. Hammerstein nach K. v. Hammerstein, 242. 45 Die These vom Wettlauf bei W. Churchill, Zweiter Weltkrieg U2, 175. Hubatsch, Weserübung. Ähnlich neuerdings Bayer I 0rvik, 150 ff. und passim. Die Behauptung, Raeder habe auf die Besetzung gedrängt, zuerst in IMG, Bd 3, 299 ff. Weiter ausgebaut dann von Gemzen, Raeder, passim. Loock, Quisling, 207 ff. Ders., Nordeuropa, 694 f. MOFA, Weltkrieg II, 196ff. (Beitrag Maier). Ottmer, Skandinavien. Vgl. die andere Akzentsetzung bei Salewski, Seekriegsleitung I, 184 f.
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wegen der langen Bauzeiten für große Schiffe - rund vier bis fünf Jahre für Schlachtschiffe, Flugzeugträger und Kreuzer- sowie wegen der begrenzten Mittel des Reiches eine ansehnliche Flotte nicht binnen kurzem aus dem Boden gestampft werden konnte, hätte die Marine jenes Ziel etwa Anfang der 1940er Jahre erreicht. In einem denkbaren Krieg, der nach den ursprünglichen strategischen Vorstellungen Frankreich, die Tschechoslowakei sowie eventuell Polen oder Rußland auf der Gegenseite gesehen hätte, wäre die Marine dann mit Heer und Luftwaffe sozusagen gleichberechtigt gewesen oder anders ausgedrückt: Sie hätte eine selbständige strategische Rolle zu spielen vermocht, da sie auf Grund der Stärkeverhältnisse in der Lage gewesen wäre, die klassische Aufgabe des Seekriegs wahrzunehmen, d. h. vor allem gegen die französische Flotte um die Herrschaft auf den jeweiligen Seeverbindungen zu kämpfen. Im Vorgriff auf etliche erst noch zu erläuternde Dinge darf man den Vergleich noch weiter treiben und sagen, daß in einem solchen Fall sowohl das Heer als auch die Luftwaffe, als auch die Marine die Freiheit besessen hätten, je nach Bedarf zwischen strategischer, operativer und taktischer Defensive oder Offensive zu wählen. So konnte das Heer an einer Front verteidigen, an einer anderen angreifen oder, soweit die Lage es zuließ, in der strategischen Offensive eine Entscheidung suchen. Ähnliches galt für die Luftwaffe; und die Marine war imstande, in einem Seegebiet die Seeherrschaft zu behaupten, in einem anderen sie zu erringen oder sogar mit Aussicht auf Erfolg eine Entscheidungsschlacht zu schlagen, um der französischen Seemacht das Rückgrat zu brechen. Mit Kriegsausbruch wurde all dies anders. Das Heer, wenngleich noch nicht kriegsfertig, war immerhin bedingt einsatzfähig, so daß es einen schwachen Gegner wie Polen schnell zu überrennen vermochte, während es gegen gut gerüstete Streitkräfte wie diejenigen Frankreichs noch einige Zeit der Vorbereitung benötigte, um seine volle Schlagkraft zu erreichen. Die Luftwaffe war zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit kontinentalen Nachbarn des Reiches befähigt, wenngleich sie für einen weiträumigen Luftkrieg gegen entferntere Länder, etwa Britannien oder Rußland, als nicht hinlänglich vorbereitet gelten mußte. Dennoch befanden sich Heer und Luftwaffe in einem Zustand, der sie in absehbarer Zeit zu wirkungsvollen Kriegsinstrumenten zu machen versprach, mit welchen das Reich militärischen Auseinandersetzungen auf dem Kontinent vorerst gewachsen war. Dagegen stand die Marine gleichsam auf verlorenem Posten. Zu ihren Gegnern gehörten die stärksten Seemächte der Welt, zunächst England und Frankreich, auf längere Sicht wahrscheinlich auch die USA, wie Raeder bald nach Kriegsausbruch feststellte. Nimmt man nur einmal die Zahlen der fertigen sowie im Bau befindlichen Schlachtschiffe und Flugzeugträger, so wird der erschreckende Kräfteunterschied zwischen der Marine und ihren gegenwärtigen wie künftigen Gegnern deutlich. Bis zum Anfang der 1940er Jahre würde die Marine über vier Schlachtschiffe und einen bis zwei Flugzeugträger verfügen. Demgegenüber kamen bis dahin die Flotten Englands, Frankreichs und der USA auf insgesamt rund 50 Schlachtschiffe und rund 20 Flugzeugträger. Gewiß wurden einige Kräfte der Westmächte durch 8 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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die FlottenJapansund Italiens gebunden, außerdem mag man in Betracht ziehen, daß die französische Flotte ab 1940 ausfiel, was freilich 1939 noch niemand sicher wissen konnte. Dem ließe sich wiederum entgegenhalten, daß die Amerikaner um 1940 mit ihrer Flottenrüstung erst richtig anfingen und zu einer Steigerung fahig waren, über die man andernorts nur staunen konnte, z. B. allein über 30 Flugzeugträger (Flottenträger) auflegten, die dann während des Krieges zum wichtigsten und stärksten Kriegsschifftyp wurden. Jedenfalls war die seestrategische Lage für die deutsche Marine bei Kriegsbeginn so gut wie aussichtslos; eine selbständige strategische Rolle vermochte die Marine in diesem Krieg nicht zu spielen. Begonnen hatte eine solche Entwicklung etwa 1937/38, als erkennbar wurde, daß Hitler nicht bloß territoriale Revisionspolitik betreiben wollte, die mit britischer Duldung möglich war, sondern anscheinend auf eine kriegerische Ausdehnungspolitik lossteuerte, die auf britischen Widerstand stoßen mußte und Deutschland in einen Weltkrieg zu verwickeln drohte. Im Zuge der anschließenden Debatten innerhalb der Marine kam 1938 der damalige Flottenchef (Befehlshaber der größeren Überwasserstreitkräfte), Admiral Carls, in ziemlich unterkühlter Weise zu dem Ergebnis, wenn Deutschland nach dem Willen des Führers eine in sich gesicherte Weltmachtstellung erwerben solle, dann bedürfe es, neben genügendem Kolonialbesitz, vor allem eines gesicherten Zugangs zum freien Ozean sowie gesicherter Seeverbindungen. Das bildete kein politisches Programm, für welches Carls gar nicht zuständig war, vielmehr stellte Carls einfach fest, welche Folgerungen aus der Sicht des Marinefachmanns zu ziehen waren, wenn ein bestimmtes politisches Programm vorgegeben wurde. Äußerte der Führer politische Wunschvorstellungen, so mußte ihm klargemacht werden, was das beinhaltete. Eine Weltmachtstellung, jedenfalls eine solche, die sich auf die Weltmeere erstreckte, konnte Deutschland nur gewinnen, wenn es gesicherten Zugang zu den Weltmeeren besaß und seine Seeverbindungen durch eine genügend starke Flotte zu sichern vermochte. Darin waren bereits die beiden Hauptpunkte der Seekriegslehre enthalten. Raeder selbst drückte es bei anderer Gelegenheit so aus, daß der operative Einsatz der Flotte durch Schiffe und Stützpunkte bedingt sei. Erst beide zusaminen bestimmten im VergleiCh mit den Seestreitkräften des Gegners die eigene Kampfkraft. Als Hauptaufgabe des Seekriegs bezeichnete Raeder den Schutz der eigenen und den Angriff auf die feindlichen Seeverbindungen. All dies waren keine neuen Einsichten, sondern dies ist der Inhalt der Seestrategie seit Jahrtausenden. Wie Strategie allgemein die Lehre von der Anwendung bewaffneter Macht im Krieg darstellt, so ist Seestrategie die Lehre von der Anwendung der Seemacht im Krieg. Der Umfang oder Grad von Seemacht eines Landes bemißt sich nach seiner Fähigkeit, eigene Seeverbindungen zu schützen oder gegnerische anzugreifen; ein Land, das weder zum einen noch zum anderen imstande ist, besitzt überhaupt keine Seemacht. Ein Land ohne Seemacht braucht sich um Seestrategie nicht zu kümmern. Von alters her pflegen freilich Staaten mit Zugang zur See regelmäßig ein Bedürfnis nach Seemacht zu entwickeln, auch wenn diese häufig geringfügig bleibt. Das ist leicht erklärbar, weil ein entsprechender Staat
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ohne Seemacht gegenüber solchen mit Seemacht außerhalb seiner Landfläche vollständig wehrlos wäre und im Krieg wie bei anderen Verwicklungen sämtliche üblen Folgen zu gewärtigen hätte, welche die Seestrategie kennt, von der Abschnürung bzw. Vernichtung seines Seehandels über die beliebige Bedrohung seiner Küsten einschließlich der Anlandung von Bodentruppen bis zur Ausübung politischmilitärischen Druckes auf dritte Staaten, um nachteilige Maßnahmen gegen das Land ohne Seemacht zu ergreifen. Dies war in der Geschichte nie anders, und im 20. Jahrhundert war es genauso. Der Vollständigkeit halber ließe sich allenfalls noch anfügen, daß im 20. Jahrhundert auch die Luftwaffe für den Seekrieg Bedeutung gewinnt, entweder als trägergestützte auf hoher See oder als landgestützte im Küstenvorfeld und in engeren Gewässern. Allgemein jedoch hat Seemacht den Zweck, militärische Macht, also Waffenwirkung, auf See und über die See hinweg zum Tragen zu bringen, was im Kriegsfall bedeutet, einerseits dem Gegner die Benützung der See bzw. der Seeverbindungen streitig zu machen und andererseits die See bzw. die Seeverbindungen möglichst ungestört selbst zu nutzen. Wenn das gelingt, wird in mehr oder weniger vollständiger Weise Seeherrschaft erreicht. Zwischen der See im allgemeinen und den Seeverbindungen im besonderen gibt es dabei keinen wesentlichen Unterschied; Seeverbindungen sind überall, wo Schiffe fahren können; die gesamte See ist im Grunde ein einziger Verbindungsweg, der letztlich die Welt umspannt. Für den Kampf um die See bzw. die Seeherrschaft benötigt man, wie Raeder und Carls richtig feststellten, zwei Dinge, nämlich eine Flotte (unter Einschluß von Luftstreitkräften) sowie Stützpunkte. Statt von Stützpunkten kann man auch von einer seestrategisch-geographischen Position sprechen; gemeint sind in jedem Fall Einrichtungen an Land, wo Personal wie Material einer Flotte versorgt werden können und von wo aus die Einsatzgebiete erreichbar sind. Seemacht wirkt von Stützpunkten bzw. von einer strategischen Position aus auf die See; das gilt für Schiffe, die von Häfen aus operieren, für Flugzeuge, die von Landflugplätzen aus Seekrieg betreiben, und sogar für Küstenartillerie, die gegnerischen Seestreitkräften die Benützung von Küstengewässern erschweren oder unmöglich machen soll. Um dauerhaften Wert zu besitzen, müssen Stützpunkte wirksam zu verteidigen und zu halten sein; hierzu muß man in dem betreffenden Seegebiet selbst über die Seeherrschaft verfügen, oder die Stützpunkte müssen im Bereich der eigenen Landmacht liegen, um sie gegen Wegnahme zu schützen und mit allem Erforderlichen zu versehen. Flotte und Stützpunkte stehen in einem Wechselverhältnis: Eine Flotte, auch die stärkste, gelangt zur vollen Wirksamkeit nur in bemessener Entfernung von ihren Stützpunkten; mit zunehmender Entfernung von ihren Stützpunkten sinkt ihre Leistungsfähigkeit. Besitzt eine schwächere Flotte nur Stützpunkte in ungünstiger geographischer Lage, so kann ihr der Zutritt zu entfernteren Seegebieten erschwert oder weitgehend verwehrt werden. Äußerstenfalls besteht sogar die Möglichkeit, eine schwächere Flotte in einem engeren Seegebiet, etwa einem Randmeer, einzuschließen, so daß sie auf den Weltmeeren kaum oder gar nicht in Erscheinung tritt. Umgekehrt kann eine genügend starke Flotte die Seeherrschaft
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erkämpfen, gegebenenfalls zunächst nur in einem bestimmten Seegebiet, um dann von da aus neue Stützpunkte in anderen Seegebieten oder in größerer Entfernung zu erobern und so den Bereich der eigenen Seeherrschaft oder mindestens Seeüberlegenheit immer weiter auszudehnen. Die Ausbreitung der europäischen Seemächte über die Welt seit dem 16. Jahrhundert, die koloniale Landnahme, war stets mit dem Gewinn von Stützpunkten einhergegangen; das britische Empire, ein reines Seereich, wurde militärisch durch Flotte und Stützpunkte zusammengehalten; und der gesamte pazifische Krieg der Jahre 1941-1945 war seestrategisch nichts anderes als ein Kampf um Stützpunkte. Was nun die seestrategische Lage Deutschlands vor dem Zweiten Weltkrieg betrifft, so durfte sie für die Zukunft als zufriedenstellend gelten, solange nur mit Frankreich als Hauptgegner zu rechnen war. Trat hingegen Britannien den voraussichtlichen Gegnern Deutschlands bei, so blühte der deutschen Flotte ein noch ärgeres Schicksal als dasjenige, welches sie im Ersten Weltkrieg erlitten hatte. Die kaiserliche Flotte, immerhin die zweitstärkste der Welt, war damals in der Nordsee eingeschlossen worden, doch hatte sie wenigstens insofern noch eine gewisse strategische Bedeutung behalten, als sie die Seeherrschaft in der Ostsee gesichert und in der Nordsee eine Art Gleichgewichtszustand, ein strategisches Patt, erzeugt hatte. Eine Entscheidungsschlacht in der Nordsee hatten sowohl die deutsche als auch die britische Flotte vermieden (die Skagerrakschlacht wurde bekanntlich nicht durchgeschlagen): die deutsche Flotte, weil sie zumindest zahlenmäßig unterlegen war und weil im Falle einer Niederlage die britische Seeherrschaft sich auf die Nordsee erstreckt, vielleicht sogar in die Ostsee hineingewirkt hätte; die britische Flotte, weil sie in der Nordsee wenig zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren hatte und weil es strategisch völlig ausreichte, die deutsche Flotte in der Nordsee kaltzustellen. Demgegenüber besaß Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg noch nicht einmal eine starke Flotte, so daß im Falle eines Krieges gegen England die Lage noch schlechter zu werden versprach als im Ersten Weltkrieg: Günstigstenfalls würde das Reich einem ähnlichen Würgegriff der britischen Blockade ausgesetzt sein wie im Ersten Weltkrieg, schlimmstenfalls jedoch konnte Britannien seine Seeherrschaft in der Nordsee, die ihm von keiner deutschen Flotte streitig zu machen war, dazu benützen, sich in Skandinavien festzusetzen, insbesondere Stützpunkte an der Küste Südnorwegens in die Hand zu bekommen. Die denkbaren Folgen brauchen an dieser Stelle nicht alle ausgemalt zu werden; es war zumindest nicht auszuschließen, daß dann eine Front in Skandinavien entstand, die deutsche Flotte nicht einmal mehr die Ostsee zu sichern vermochte, und durch den Ausfall unverzichtbarer Rohstofflieferungen, namentlich der schwedischen Erze, die deutsche Kriegsfähigkeit bald an ein Ende gelangte. Seemacht mit ihren beiden Bestandteilen, Flotte und Stützpunkte, war augenscheinlich eine Angelegenheit, die man nicht ungestraft außer acht lassen durfte, schon vollends nicht in einem Zeitalter industrieller und wirtschaftlicher Kriegführung. Die Bedeutung der schwedischen Erzzufuhr und ihrer Sicherung, hauptsächlich durch die Marine, wurde vom Oberkommando der Marine stets betont, so auch im Jahr 1938, als das
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Oberkommando dem Auswärtigen Amt mitteilte, die Frage der Erzversorgung im Krieg sei so unendlich lebenswichtig und bedeutungsvoll, daß alles unternommen werden müsse, um die möglichst gleichbleibende Belieferung im Krieg sicherzustellen. Allein um das schwedische Erz war es freilich nicht gegangen, als die Marine sich in den Jahren vor dem Krieg mit Hitlers Forderung auseinandergesetzt hatte, die Wehrmacht im allgemeinen und die Marine im besonderen habe auch die Möglichkeit eines Krieges gegen England in Betracht zu ziehen. Trotzdem ist es nützlich, auf diese Dinge zurückzukommen, um erst einmal festzustellen, was es mit der Seestrategie auf sich hat. Wie erinnerlich, nahm Admiral Carls in dieser Debatte den Faden auf, als er vom Erringen einer deutschen Weltmachtstellung nach dem Willen des Führers sprach. Für jeden Marinefachmann lag es auf der Hand, daß das Erringen einer Weltmachtstellung,_ die auf die Weltmeere ausgriff, gegen England und Frankreich entweder gar nicht möglich war, weil im Kriegsfall die deutsche Flotte in der Nordsee eingeschlossen, vielleicht sogar in die Ostsee abgedrängt werden konnte. Oder das Erringen einer solchen Weltmachtstellung war nur dann möglich, wenn sowohl eine genügend große Flotte gebaut als auch geeignete Stützpunkte erworben wurden. Für eine starke strategische Position am Atlantik wäre natürlich der Gewinn der französischen Atlantikküste ideal gewesen, doch sei der Vollständigkeit halber erwähnt, daß die deutsche Flotte die Abdrängung in die Randmeere des nördlichen Europa auch hätte überwinden können, indem sie den Sperriegel zwischen dem europäischen Nordmeer und dem Atlantik aufbrach, d. h. Stützpunkte auf den betreffenden Inseln gewann, namentlich auf Island. Carls zog nun in kühler Logik den Schluß, beide Forderungen, nämlich eine strategische Position am Atlantik sowie eine ausreichende Flotte für den Kampf um die Seeverbindungen, gefährdeten die Weltmachtstellung Englands wie Frankreichs und seien wahrscheinlich nur durch Krieg erreichbar. Wenn dies gewünscht werde, müsse der Krieg sorgfältig und zweckdienlich vorbereitet werden. Ein solcher Krieg werde indes ein Weltkrieg sein gegen fast alle anderen Großmächte oder, wie Carls sagte, gegen die Hälfte bis zwei Drittel der Gesamtwelt Von späteren Geschichtsschreibern, denen schon der Gebrauch des Wortes Weltmachtstellung einen Schauder über den Rücken jagt, sind diese Feststellungen von Carls als verantwortungslose Phantastereien bemängelt worden. Richtig ist jedoch dreierlei. Erstens handelte es sich um hypothetische Aussagen, bei denen lediglich erläutert wurde, was zweckmäßigerweise zu tun sei, falls ein bestimmtes Ziel angestrebt werde. Zweitens ließ Carls keinen Zweifel an den Folgen, nämlich einem Weltkrieg, was man auch als versteckte Warnung auffassen kann. Drittens mußte die große Flotte, von welcher die Rede war, erst noch gebaut werden; das würde geraume Zeit dauern, und bis dahin war der Krieg sowieso aussichtslos. Außerdem würden die anderen Mächte in der Zwischenzeit nicht stillsitzen, sondern ihrerseits rüsten, so daß am Ende die große Flotte doch wieder zu klein war und das ganze Unternehmen ausging wie das Hornberger Schießen. Im Grunde bildeten die Feststellungen von Carls ein seestrategisches Gedankenspiel, aus dem lediglich hervor-
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ging, daß Deutschland auf absehbare Zeit eine maritime Weltmachtstellung nicht zu erringen vennochte. Das verstanden die Fachleute der Marine, nur Hitler verstand es nicht. Der sogenannte Z-Plan für eine große Flotte, Anfang 1939 angeordnet, wurde kurz nach Kriegsausbruch schon wieder gegenstandslos, weil man die Rüstungskapazitäten für andere Dinge benötigte und eine sorgfaltig durchdachte, langfristige Rüstungsplanung nicht dasjenige war, was sich mit Hitlers sprunghaften Eingebungen vertrug. 46 So ging die Marine mit einer Flotte in den Krieg, die zum Kampf um die Seeherrschaft nirgendwo fahig war, es sei denn dicht unter der eigenen Küste, einer Flotte, die höchstens den Versuch unternehmen konnte, die eigenen Seeverbindungen zu schützen und die gegnerischen anzugreifen, die aber den Schutz der eigenen Seeverbindungen nur in günstigen Ausnahmefällen, etwa in der Ostsee, würde bewerkstelligen können, und die beim Angriff auf die feindlichen Seeverbindungen keinerlei durchschlagenden Erfolg erwarten durfte, jedenfalls nicht auf hoher See. Dem scheint freilich auf den ersten Blick der Umstand zu widersprechen, daß die deutsche Marine während des Zweiten Weltkriegs im Atlantik einige Unruhe erzeugte, wobei namentlich die u~Boote angeblich nahe daran gewesen sein sollen, die überseeischen Verbindungslinien Englands abzuschneiden. Ganz so einfach liegen indes die Dinge nicht. In der Seestrategie unterscheidet man zwei Arten des Seekriegs, nämlich einerseits die reguläre, stärkere Fonn, bei welcher mit Hilfe einer geeigneten Hochseeflotte, die von entsprechenden Stützpunkten aus zum Einsatz kommt, um die Seeherrschaft gekämpft wird, sowie andererseits den sogenannten Kreuzerkrieg, bei welchem eine unterlegene Seemacht auf den Kampf um die Seeherrschaft verzichtet, weil sie aus Mangel an einer genügend starken Flotte oder aus Mangel an geeigneten Stützpunkten oder aus Mangel an beidem dazu nicht in der Lage ist. Der Kreuzerkrieg richtet sich insofern gegen die Seeverbindungen eines Gegners, als er dessen Handels- und Nachschubwege über See angreift, die für die wirtschaftliche Kriegsfahigkeit wesentlich sind, dabei jedoch den Kampf mit der überlegenen Flotte des Gegners zu venneiden sucht. Der Kreuzerkrieg hat mit dem Kriegsschifftyp des Kreuzers keinen notwendigen Zusammenhang, vielmehr können für den Kreuzerkrieg alle (hochseefahigen) Kriegsschifftypen verwendet werden, einschließlich Schlachtschiffen, Flugzeugträgem und U-Booten. Das U-Boot wiederum kann sowohl beim Kampf um die Seeherrschaft bzw. gegen eine feindliche Flotte als auch beim Kreuzerkrieg eingesetzt werden; tatsächlich ist das U-Boot in beiden Weltkriegen vorwiegend durch den Kreuzerkrieg bekannt geworden.
46 Zur deutschen Wiederaufrüstung Teil I dieser Untersuchungen. Zur Seestrategie allgemeinE. Wegener, Seemacht. Ferner Potter/Nimitz/Rohwer, passim. Carls nach IMG, Bd 14, 181 ff. Gemzell, Raeder, 87ff. Dülffer, Weimar, 486f. (September 1938). Raeder über Seekrieg nach MGFA, Weltkrieg II, 191 (Beitrag Maier). Gemzell, Raeder, 49ff. (3. 2. 1937). Zur Bedeutung des schwedischen Erzes ein Schreiben der Seekriegsleitung an das Auswärtige Amt, 12. 10. 1938, nach Dülffer, Weimar, 521. Allgemein hierzu Fritz; Wittmann.
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Der Kreuzerkrieg ist aus zwei Gründen die schwächere Form des Seekriegs: Erstens ist in der Geschichte kein einziger Fall nachweisbar, wo die unterlegene Seemacht mit Hilfe des Kreuzerkriegs einen Krieg für sich entschieden hätte. Zweitens liegt das in der Natur der Sache, weil der Kreuzerkrieg den Bestand einer gegnerischen Flotte allenfalls am Rande betrifft und die gegnerische Flotte für die Hauptaufgaben des Seekriegs frei bleibt, also eigene Verbindungslinien sowie Stützpunkte schützen, neue Stützpunkte erwerben bzw. feindliche ausräuchern, dazu die feindlichen Verbindungslinien unterbrechen kann. Neue technische oder taktische Errungenschaften mögen der unterlegenen Partei, welche Kreuzerkrieg führt, zeitweise zustatten kommen. Doch muß in der Regel damit gerechnet werden, daß die stärkere Partei den Vorsprung bald wieder wettmacht, so daß sie ihre eigenen Verbindungslinien erneut wirksam zu schützen vermag. Im Ersten Weltkrieg hatten die deutschen U-Boote ihre Erfolge hauptsächlich gegen ungeschützte, einzeln fahrende Handelsschiffe erzielt; als die Gegenseite zum System gesicherter Geleitzüge mit Begleitfahrzeugen überging, war es damit vorbei. Vor dem Zweiten Weltkriegenwickelte der Befehlshaber der U-Boote in der deutschen Marine, der damalige Kapitän zur See Dönitz, die sogenannte Rudeltaktik, bei welcher Gruppen von U-Booten (,,Rudel"), welche taktisch einheitlich geführt wurden, gegnerische Geleitzüge angreifen sollten, und zwar in der Art der Torpedobootstaktik, d. h. im nächtlichen Überwasserangriff, weil die kleinen U-Boote im Dunkeln optisch kaum auszumachen waren. Die Rudeltaktik scheiterte schließlich an einer Reihe technisch-taktischer Neuerungen, so an der Seeraumüberwachung aus der Luft, an neuen Ortungsgeräten und an der Funkaufklärung, durch welche die Standorte der Rudel festgestellt wurden. Am Ende lieferte auch der Zweite Weltkrieg einen eindrucksvollen Beweis für die Unterlegenheit des Kreuzerkriegs. Diese strategischen Zusammenhänge waren übrigens der Marineführung schon lange vorher bewußt. Anfang 1937 führte Raeder aus, im Ersten Weltkrieg habe das U-Boot fast allein den Angriff auf die britischen Seeverbindungen übernommen. An der strategischen Lage Deutschlands habe sich dennoch nichts geändert, weil die kaiserliche Hochseeflotte nicht vermocht habe, die Wirkung des V-Booteinsatzes strategisch auszuweiten. Admiral Carls meinte 1938, in einem künftigen Krieg werde es infolge verbesserter Abwehrmaßnahmen auch bei erheblich größeren U-Bootszahlen nicht möglich sein, nur mit U-Booten die zum Erfolg nötigen Verluste herbeizuführen. Eine Denkschrift in Raeders Akten vom Frühjahr 1939 kam zu dem Ergebnis, der U-Boot-Handelskrieg gegen England habe auch bei großen U-Bootszahlen keine Aussicht auf Erfolg. Anfang Oktober 1939 erklärte Raeder, das wirkungsvollste Mittel im Kampf gegen England sei die U-Boot- und Luftkriegführung. Doch könne eine Gewähr für die absolut tödliche Wirkung dieser Art der Kriegführung naturgemäß nicht übernommen werden. Selbst bei Unterstützung des Handelskriegs mit U-Booten durch eine Luftoffensive versprach sich Raeder also keinen durchschlagenden Erfolg. Da in jedem Seekrieg die Seeherrschaft von ausschlaggebender Bedeutung ist, nimmt die Seestrategie eine eigentümliche Unterscheidung von Offensive und De-
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fensive vor. Dies bezieht sich nicht auf den taktischen und operativen Bereich; selbstverständlich können auch Streitkräfte einer unterlegenen Flotte, die keine Aussicht auf Erringen der Seeherrschaft besitzt, Gefechte angriffsweise führen oder Angriffsoperationen gegen feindliche Seeverbindungen, feindliche Flottenteile oder feindliche Stützpunkte vornehmen. Dagegen ist im strategischen Bereich der Unterschied zwischen (strategischer) Offensive und (strategischer) Defensive notwendigerweise an die Frage der Seeherrschaft geknüpft. Grundsätzlich defensiv (in strategischer Hinsicht) ist eine Seemacht, welche auf das Erringen der Seeherrschaft aus Schwäche verzichten muß, weil sie keine genügend starke Flotte, keine geeignete strategisch-geographische Position (Stützpunkte) oder keines von beiden besitzt. Eine solche Seemacht mag Kreuzerkrieg führen, sie mag Überwasserstreitkräfte oder U-Boote an die feindlichen Seeverbindungen heranbringen und diese angreifen, aber sie ist in strategischer Hinsicht niemals offensiv, weil sie nicht um die Seeherrschaft kämpfen kann. In die seestrategische Offensive vermag grundsätzlich nur eine Seemacht zu gehen, welche zum Kampf um die Seeherrschaft imstande ist. Sie benötigt dazu entweder eine Flotte, die mindestens so 'stark ist wie diejenige des Gegners; in diesem Fall kann sie eine Entscheidungsschlacht suchen, durch welche sie die Seeherrschaft gewinnt, oder sie verbessert durch den Gewinn von Stützpunkten ihre strategische Position so sehr, daß die gegnerische Flotte ins Hintertreffen gerät. Oder, zweite Möglichkeit, eine Seemacht besitzt zwar eine schwächere Flotte, kann aber trotzdem um die Seeherrschaft kämpfen, weil ihre strategische Position so stark ist, daß dadurch die Flottenüberlegenheit des Gegners aufgewogen wird. Jedenfalls findet eine seestrategische Offensive nur dort statt, wo um die Seeherrschaft gekämpft wird; der Kreuzerkrieg allein ist keine seestrategische Offensive, auch nicht deijenige mit U-Booten. Es bleibt noch zu erwähnen, daß es neben den genannten Fällen zudem eine seestrategische Defensive aus Stärke gibt, welche, um genau zu sein, wiederum in zwei Formen auftritt. Bei beiden Formen verteidigt eine starke Seemacht das, was sie hat. Aber bei dem einen Fall verteidigt sie es in einem Kampf um die Seeherrschaft gegen eine andere starke Flotte. In dem anderen Fall dagegen wird gar nicht um die Seeherrschaft gekämpft, sondern die überlegene Seemacht behauptet ihre Seeherrschaft gegen eine schwächere Seemacht, die nicht strategisch angreift, sondern bloß Kreuzerkrieg betreibt. Wendet man diese Definitionen auf konkrete geschichtliche Beispiele an, so erkennt man sofort, daß im Ersten Weltkrieg sowohl die britische als auch die deutsche Flotte in der Defensive verharrten, die erstere aus Stärke, die letztere aus Schwäche; ein Kampf um die Seeherrschaft fand nicht statt. Im Zweiten Weltkrieg bietet der pazifische Krieg ein geradezu klassisches Beispiel für einen Kampf um die Seeherrschaft. Die langfristig schwächere japanische Flotte besetzte zunächst in einem Teil des Pazifik eine starke strategische Position, mit deren Hilfe sie anschließend eine Defensive aus Stärke gegen die amerikanische Seemacht durchführte. Die amerikanische Flotte ging sodann in die Offensive, rollte die strategische Position der japanischen Seemacht auf, indem sie
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durch das berühmte Inselspringen Stützpunkte eroberte, und gewann so die kriegsentscheidende Seeherrschaft im Kampfgebiet So weit, so gut. Was trotzdem manchen verwundem könnte, ist der Umstand, daß gemäß diesen Definitionen die deutsche Marine in beiden Weltkriegen strategisch in die Defensive gezwungen war, und daß namentlich der sogenannte atlantische Zufuhrkrieg mit U-Booten keine strategische Offensive darstellte. Dabei scheint es auf der Hand zu liegen, daß der U-Boot-Krieg, falls er die britischen Versorgungslinien über See wirksam unterbrach, tatsächlich strategische Bedeutung erlangt hätte, indem England seine Kriegsfähigkeit eingebüßt und Deutschland insoweit einen Sieg errungen hätte. Keine Schwierigkeit bildet zunächst der Ausdruck Offensive. Man darf ungescheut den atlantischen Zufuhrkrieg als ein Bündel offensiver Operationen ansehen oder den U-Bootkrieg insgesamt als offensive Großoperation bezeichnen. Allerdings hält man sich dann im Rahmen der vorgeführten Definitionen, denn wie überall sonst in der Strategie ist auch in der Seestrategie eine grundsätzlich defensive Macht nicht gehindert, fallweise Angriffsoperationen vorzunehmen. Raeder selbst hat sich übrigens an diesen Sprachgebrauch gehalten. Hitler gegenüber betonte er am 14. November 1940, die Konzentration aller Kräfte der Kriegsmarine und Luftwaffe auf die Unterbrechung der Zufuhr sei das operative (nicht strategische!) Hauptziel der Kriegführung gegen das britische Mutterland. Fraglich bleibt, ob der Kreuzerkrieg mit U-Booten eine strategische Bedeutung zu erlangen vermochte. Nach gängigem Sprachgebrauch ist ein kriegerischer Angriff dann strategisch, wenn er geeignet ist, die Lage der Kriegsparteien so stark zu verändern, daß sich dies nachhaltig auf die Kriegsentscheidung auswirkt. Bei gebührender Anspannung des strategischen Sachverstandes war zu Beginn des Krieges erkennbar, daß dies nicht der Fall sein würde. Offenbar haben wenigstens Raeder und Carls dies erkannt; sie behielten damit recht. Der Kreuzerkrieg mit U-Booten vermochte an der seestrategischen Lage nichts Grundlegendes zu ändern; er besaß aus verschiedenen Gründen keine Aussicht, kriegsentscheidend zu wirken, und war insofern keine strategische Offensive. Der Kampf um die englischen Seeverbindungen mußte schwerpunktmäßig irgendwo im Westen der britischen Inseln stattfinden. Sollte sich dabei wider Erwarten ein britischer Zusammenbruch abzeichnen, so würde mit einiger Sicherheit Amerika in den Krieg eintreten, wie man spätestens seit 1938 wissen konnte. Die U-Boote, denen bis auf weiteres lediglich Torpedobootstaktik zu Gebote stand, würden dann küstennah oder küstenfern auf die vereinigten Flotten sowie die vereinigten Luftstreitkräfte Englands und Amerikas treffen, die zweifellos am Brennpunkt des Geschehens westlich Britannien zusammengezogen würden. Es konnte und mußte dann etwas eintreten, was in Wirklichkeit weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg jemals stattfand, nämlich eine Konzentration aller Seekriegs- und Rüstungsanstrengungen der Westmächte auf den Ausbau und die Sicherung des Geleitzugswesens. Dem würden die U-Boote schon taktisch nicht gewachsen sein. Gemäß den Zahlen vom Kriegsanfang standen 57 deutschen U-Booten mehrere hundert britische und amerikanische
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Zerstörer gegenüber, dazu hätten viele hundert Geleitfahrzeuge und Flugzeuge für die Seeraumüberwachung binnen kurzem bereitgestellt oder improvisiert werden können. Die großen Flottenträger Englands und Amerikas wurden während des Krieges fast nie für die U-Bootabwehr herangezogen, da man sie für die wirklich wichtigen Aufgaben des Seekriegs einsetzte. Im Notfall hätte aber wohl ein Dutzend Flottenträger den Schutz der Geleitzüge übernehmen und etwas bewirken können, was dann tatsächlich, mit anderen Mitteln, später erreicht wurde: Aus der Luft erlaßt, konnten die U-Boote von den Geleitzügen abgedrängt, dazu unter Wasser gedrückt werden, wo sie ziemlich unbeweglich waren, und anschließend in sicherer Entfernung vom Geleitzug durch die Bewachungsfahrzeuge versenkt werden. Strategische Offensive? Mit V-Booten, die sich technisch noch weitgehend auf dem Stand des Ersten Weltkriegs befanden, ganz gewiß nicht. Eine Kriegsentscheidung bzw. ein genügendes Kriegsergebnis läßt sich bekanntlich sowohl in der strategischen Offensive als auch in der strategischen Defensive suchen, im Seekrieg aber allenfalls in der Defensive aus Stärke, niemals der Defensive aus Schwäche. Sofern die Seemacht in der Lage ist, eine gewichtige und nachhaltige Wirkung auf das Kriegsergebnis auszuüben, spielt sie eine selbständige strategische Rolle. Die deutsche Marine vermochte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und in dessen Verlauf eine selbständige strategische Rolle nicht zu spielen; zum Kriegsausgang vermochte sie nur mit eigenen Mitteln nichts Wesentliches beizusteuern. Die deutsche Flotte konnte weder eine bedeutende Position verteidigen noch um die Seeherrschaft kämpfen, schon gar nicht auf den offenen Ozeanen, und sie war, gezwungen in die Defensive aus Schwäche, nicht einmal imstande, die Seeverbindungen in den Gewässern vor der eigenen Küste zuverlässig zu sichern. Zur Gesamtstrategie konnte daher das Oberkommando der Marine nur einen schmalen Beitrag leisten, der sich in militärischer Hinsicht auf das Unterstützen von Operationen der anderen Teilstreitkräfte Heer und Luftwaffe beschränkte und in politischer Hinsicht darauf bezog, aus der Beobachtung der strategischen Lage heraus Anregungen, Vorschläge und Warnungen zu erteilen. Seine Erwägungen über die Gesamtkriegführung hat Raeder dem Führer immer wieder vorgetragen, mit unterschiedlichem Erfolg, da der Diktator seinem eigenen Fahrplan folgte und begründete strategische Erwägungen nur insoweit aufgriff, wie sie dort hineinzupassen schienen. Widerstandsbestrebungen fehlten in der Marine nicht völlig, fanden aber insgesamt weit weniger Anklang als beim Heer, was sich wohl auf zwei Gründe zurückführen läßt. Erstens waren die Streitkräfte der Marine weitab von Berlin, also weitab vom Schuß, und naturgemäß für einen Staatsstreich wenig nützlich. Zweitens wurde die Angst vor einerneuen Dolchstoßlegende in der Marine noch lebhafter empfunden als beim Heer, da eine Marinemeuterei am Ende des Ersten Weltkriegs schon einmal der Zündfunke für die Revolution gewesen war, die dann, wie die Legende wollte, den Zusarnrnenbruch und das anschließende Siegerdiktathervorgerufen hatte. Die geringe Bedeutung der Marine, die Raeder zweifellos erkannt hat, versuchte er nicht allzu deutlich ans Licht tr~ten zu lassen, indem er der Marine vollen Einsatz und ein hohes Maß an Kühnheit abverlangte. Die
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Marine konnte damit wenigstens ihre Existenzberechtigung unter Beweis stellen, selbst wenn die Hauptleistungen in diesem Krieg von Heer und Luftwaffe erbracht werden mußten, wobei überdies fraglich blieb, ob dies angesichts der strategischen Lage zum Sieg reichen würde. Das Wenige, was die Marine tatsächlich zu leisten vermochte, hat sie beim Unternehmen Weserübung in vollem Umfang erbracht, indem zunächst Raeder die strategische Lage im Hinblick auf Skandinavien nachdrücklich vor Augen rückte, und anschließend die Flotte, nachdem das Unternehmen befohlen worden war, ihren bescheidenen, aber wichtigen Anteil an der Aufgabe erfüllte. Daß dem so gewesen sei, wird nun freilich bestritten. Raeder soll, so heißt es, lange vor dem Krieg einen maritimen Operationsplan entwickelt haben, der darauf hinauslief, um die Seeverbindungen im Atlantik zu kämpfen. Damit die deutsche Flotte nicht in der Nordsee eingesperrt wurde, habe Raeder die norwegische Küste besetzen wollen, denn dort habe er die erforderliche strategische Position gesehen, von welcher aus der Krieg in den Atlantik zu tragen war. Hierbei sei er den Gedanken des Admirals Wegener gefolgt, der in den 1920er Jahren die These vertreten hatte, die kaiserliche Flotte habe es im Ersten Weltkrieg versäumt, den britischen Blockaderiegel in der nördlichen Nordsee zu brechen, indem sie die Küste des südlichen Norwegen besetzte. Diese Konstruktion ist laienhaft und vermag nur Laien zu überzeugen. Was zunächst die Ansicht des Admirals W. Wegener betrifft, so hatte Wegener darüber nachgesonnen, wie man während des Ersten Weltkriegs die strategische Patt-Situation in der Nordsee hätte aufheben können. Die Lösung hatte Wegener darin erblickt, zunächst Dänemark zu besetzen, um die Flotte von der Deckung der Ostseezugänge zu entlasten und für andere Aufgaben freizustellen, anschließend sich in Norwegen festzusetzen, von wo aus der letzte Sperriegel vor dem offenen Atlantik zu bedrohen war, nämlich die Inselkette vom nördlichen Schottland über die Shetlands und Färöer bis Island und Grönland. Bei dieser strategischen Offensive mußte es mit größter Wahrscheinlichkeit zur Entscheidungsschlacht oder zu mehreren Entscheidungsschlachten kommen, weil England nicht in Ruhe mitansehen durfte, wie seine überlegene strategische Position um Schottland und die Riegelstellung vor seinen Seeverbindungen im Atlantik geknackt wurden. Die Überlegungen Wegeners waren seestrategisch an sich stimmig, sie beruhten indes auf der unbewiesenen Voraussetzung, daß die kaiserliche Flotte imstande gewesen wäre, die Entscheidungsschlachten siegreich zu beenden. Über diesen Punkt mag man lange spekulieren; die Stärkeverhältnisse ließen einen solchen Schluß eigentlich nicht zu, und das war denn auch der Grund, weswegen die kaiserliche Marineführung die Entscheidungsschlacht nicht gewagt hat. Seestrategisch brachte Wegener ansonsten nichts Neues; daß der Seekrieg den Besitz von Stützpunkten zu berücksichtigen hat, daß man durch eine Entscheidungsschlacht die Seeherrschaft gewinnen kann und daß man im Besitz der Seeherrschaft die feindlichen Verbindungslinien abzuschneiden vermag - all dies gehört zu den ältesten Wahrheiten der Seekriegslehre.
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Auf die seestrategische Lage Deutschlands bei Beginn des Zweiten Weltkriegs ließen sich Wegeners Ansichten schon deswegen nicht übertragen, weil die deutsche Flotte noch viel weniger imstande war, die Offensive zu ergreifen, eine Entscheidungsschlacht zu schlagen oder die Seeherrschaft zu gewinnen. Was der Marine blieb, war der Kreuzerkrieg, und natürlich waren auch für den Kreuzerkrieg Stützpunkte wichtig. Über den Erwerb von Stützpunkten in Norwegen sagte ein Kriegsspiel des Oberkommandos der Marine, das Anfang 1939 abgeschlossen wurde und Raeders Auffassungen entsprochen haben muß, daß damit kein wesentlicher Fortschritt zu erzielen sei. Um die zu erwartende britische Riegelstellung in der nördlichen Nordsee zu umgehen, kamen für nutzbringende Stützpunkte ohnedies nur die Küsten Mittel- und Nordnorwegens in Betracht. Doch würde ein Stützpunkt dort, selbst wenn sich die Möglichkeit ergäbe, ihn durch eine Wehrmachtoperation in Besitz zu nehmen, nicht die erhoffte Entschlußfreiheit für die ozeanische Kreuzerkriegführung erwarten lassen. Hier liegt also der erste aus einer Reihe von Quellenbelegen vor, daß das Oberkommando (OKM) von Stützpunkten in Norwegen sich nicht viel versprach. Das ist auch ganz selbstverständlich, weil durch Stützpunkte in Norwegen noch nicht die Riegelstellung in der Shetland-Island-Grönland-Enge überwunden wurde, weil deutsche Streitkräfte, die in den Atlantik ausmarschierten, flankierend angegriffen werden konnten und weil sich die Anmarschwege in den Atlantik nicht stark verkürzten. Außerdem waren Stützpunkte in Norwegen nicht einfach zu versorgen und mochten gesamtstrategisch leicht zu einem Klotz am Bein werden, wenn die Gegenseite sich ihrerseits zu einer Invasion entschloß. Es bleibt noch zu sagen, daß das OKM mit diesem Kriegsspiel etwas tat, wozu die Führungsstäbe aller Länder verpflichtet sind, nämlich denkbare Fälle durchzuspielen. Das Kriegsspiel bezog sich auf eine denkbare Lage im Jahr 1943, unterstellte einen Krieg Deutschland/Italien gegen England/Frankreich und stand unter der schriftlich festgehaltenen Voraussetzung, aus dem Spiellasse sich nicht auf die politische Absicht schließen, einen solchen Krieg zu führen. Begründet wurde das Spiel mit den Worten, das Geltendmachen weltumspannender Interessen führe zum Wettbewerb mit anderen Staaten, damit wüchsen die Reibungsmöglichkeiten und Verteidigungsnotwendigkeiten. Auf die Vorbereitung eines Angriffskriegs, welcher die Besetzung skandinavischer Länder beinhaltete, läßt sich daraus nicht schließen; alle entgegengesetzten Behauptungen sind reine Taschenspielertricks. 47
47 Äußerungen über den U-Bootkrieg: Raeder 1937 und Carls 1938 nach Gemzell, Raeder, 95 f. Die Denkschrift von 1939 nach Salewski, Seekriegsleitung I, 73 f. Raeder Oktober 1939 in KTB SKL, Bd 2, 13 (2. 10. 1939). Raeder über operatives Hauptziel des Seekriegs November 1940 in G. Wagner, Lagevorträge, 152. Über die Ansichten des Admirals Wolfgang Wegener, über den angeblichen maritimen Operationsplan Raeders sowie über das Kriegsspiel des OKM 1939 Gemzell, Raeder, 15 ff., 131 ff., 142, 146 ff. Die wirre Theorie von Raeders maritimem Operationsplan hat dann, wie das in der Geschichtsschreibung leider häufiger geschieht, auf das folgende Schrifttum abgefärbt. Loock, Quisling, 207 ff. Ottmer, Skandinavien. Vgl. dagegen Bidlingmaier.
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Nach Kriegsausbruch kam die Frage von Stützpunkten in Norwegen erstmals Anfang Oktober 1939 innerhalb des OKM zur Sprache, aber nicht im Zusammenhang mit einem angeblichen maritimen Operationsplan, sondern aus ganz anderen Gründen. Bei einer Besprechung der Seekriegsleitung (diese bestand aus dem Oberbefehlshaber Raeder sowie dem Marinekommandoamt) führte Raeder am 3. Oktober aus, es sei zu priifen, ob unter dem gemeinsamen Druck Rußlands und Deutschlands die Möglichkeit zur Gewinnung von Stützpunkten in Norwegen bestehe, mit dem Ziel einer grundsätzlichen Verbesserung unserer strategischen und operativen Lage. Bei einem Lagevortrag vor Hitler am 10. Oktober verwies Raeder auf den Nutzen für die Marine (Ubootskrieg) durch Gewinnung von Stützpunkten an norwegischer Küste (Drontheim) mit Hilfe russischen Druckes. Der Führer wolle, so hieß es in der knappen Aufzeichnung, diesen Fall überlegen. An diesen beiden Quellenstellen wird seit langem die Behauptung festgemacht, Raeder sei der Antreiber für die Besetzung Norwegens gewesen, weil er dort Stützpunkte habe gewinnen wollen. Da zu dieser Zeit irgendwelche Befürchtungen der Seekriegsleitung, Norwegen könne durch England bedroht werden, in den Quellen nicht aufträten, handle es sich um die Vorbereitung einer Aggression, die aus seestrategischen Gründen unternommen worden sei. Es geht an dieser Stelle nicht darum, nachträglich juristische, moralische oder sonstige Schuldvorwürfe neu aufzubereiten, sondern es geht um Methodenfragen der historischen Wahrheitsfindung. Raeder selbst hat in späteren Äußerungen, erstmals 1944, stets betont, die Notiz über den Führervortrag vom 10. Oktober sei zu knapp; in Wahrheit habe er, auch angeregt durch Admiral Carls (damals Chef der Marinestation Ostsee), auf die GeHihrdung der strategischen Lage Deutschlands hingewiesen, die eintreten müsse, wenn Britannien Stützpunkte in Norwegen besetze, und dem die Vorteile eigener Stützpunkte in Norwegen entgegengestellt. Raeder ist es dabei ähnlich ergangen wie neuerdings Halder; manche Geschichtsschreiber glauben, seine Äußerungen als nachträgliche Beschönigungen auffassen zu dürfen. Ob das Verfahren, unbequeme Zeitzeugen als Lügner hinzustellen, methodisch angebracht ist, mag auf sich beruhen; man kann der Sache auch auf anderem Weg näherkommen. Bei einer Besprechung der Seekriegsleitung am 13. Januar 1940 äußerte Raeder, er sei nach wie vor der festen Überzeugung, daß England zur völligen Unterbindung jeglicher Zufuhren Deutschlands aus dem norwegischschwedischen Raume und zur völligen Behinderung der deutschen Ozean- und Nordseekriegführung die Inbesitznahme Norwegens in absehbarer Zeit beabsichtige, wobei es mit weitgehendem stillen Einverständnis Norwegens rechnen könne. In weiterer Folge stehe die Ausübung eines sehr starken englischen Druckes auf Schweden zu erwarten mit dem Ziel, jeglichen Handelsverkehr nach Deutschland abzudrosseln und Schweden, wenn möglich, zum Krieg auf seiten der Westmächte zu zwingen. In einer solchen Entwicklung sehe Raeder die schwerste Gefährdung Deutschlands, da die Inbesitznahme Norwegens durch England kriegsentscheidend zuungunsten Deutschlands sein würde.
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I. Kriegführung und Politik im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts
Es zeigt die Sorgfalt in der Gedankenarbeit der Seekriegsleitung, daß der Chef der Operationsabteilung, Admiral Fricke, einige Einwände erhob. Er wies zutreffend darauf hin, daß derzeit, nämlich während des finnisch-russischen Krieges, eine Besetzung Norwegens durch Britannien dieses in einen unerwünschten Gegensatz zu Rußland bringen würde. Außerdem glaubte er, einem englischen Druck auf Schweden könne Deutschland leicht begegnen, weil auf dem Weg über die Ostsee und über Dänemark deutsche Streitkräfte unverzüglich in Schweden eingreifen könnten. Raeder stimmte ihm insofern zu, als die günstigste Lösung zweifellos die Aufrechterhaltung des augenblicklichen Zustands wäre, der bei Wahrung striktester Neutralität durch Norwegen die sichere Benutzung der norwegischen Hoheitsgewässer für den kriegswichtigen Seeverkehr Deutschlands gestatte, ohne daß von seiten Englands der Versuch gemacht werde, diese Seeverbindung ernsthaft zu gefährden. Raeder sah also in der Neutralität Norwegens die beste Lösung, aber er glaubte nicht, daß sie auf Dauer gesichert sei. Damit hatte er recht, denn die britische Regierung scheute zwar Verwicklungen mit der Sowjetunion, sah sich aber schon während des finnisch-russischen Krieges dem Drängen Frankreichs ausgesetzt, durch das Eingreifen in Norwegen und Schweden (mit der Besetzung der nordschwedischen Erzgruben) eine Front in Skandinavien zu errichten. Nach dem Ende des finnisch-russischen Krieges war dann auch Britannien bereit, Maßnahmen in Norwegen durchzuführen. Sodann teilte Raeder nicht die Auffassung Frickes, durch ein deutsches Eingreifen in Schweden könne Britannien wieder aus Norwegen und Schweden hinausgeworfen werden. Wenn es zu einer solchen Lage erst kam, dann hatten die Westmächte ja genau das erreicht, was Deutschland unbedingt vermeiden mußte, nämlich eine Front in Skandinavien. Man sieht, daß Raeder gar so angriffslüstern durchaus nicht war, sondern das tat, was man vom verantwortlichen Oberbefehlshaber einer hoffnungslos unterlegenen Flotte erwarten darf: Er machte sich Sorgen um die strategische Lage, weil die deutsche Flotte, in die strategische Defensive gezwungen und zum Kampf um die Seeherrschaft fast nirgendwo faltig, die strategisch wichtigen skandinavischen Länder vor einem Zugriff stärkerer Seemächte nicht zu schützen vermochte. Wichtig ist nun die Feststellung, Raeder sei nach wie vor von einer englischen Invasion in Norwegen überzeugt. Offenbar hatte er diesen Gedanken schon länger; aber seit wann? Er hatte ihn jedenfalls schon am 25. November 1939, denn an diesem Tag äußerte er in einer Besprechung der Seekriegsleitung, bei einem deutschen Angriff auf Holland im Zuge der geplanten Westoffensive bestehe die Gefahr, daß England eine überraschende Landung an der norwegischen Küste und Inbesitznahme eigenen Stützpunktes dort vornehmen könnte; deswegen ordnete er Überlegungen in dieser Richtung an. Mit dem Datum des 25. November ist man schon ziemlich nahe an den bewußten lO. Oktober herangerückt, an welchem Raeder zum ersten Mal Hitler auf die Gefährdung Norwegens aufmerksam gemacht haben will. Wenn Raeder an jenem 10. Oktober die Gefährdung Norwegens noch nicht erkannt haben sollte, so müßte ihm in der Zwischenzeit die Erleuchtung gekommen sein. Sehr wahrscheinlich ist
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das nicht, denn von einem geschulten Oberbefehlshaber der Marine, zu dessen Amtsobliegenheiten seit Jahrzehnten die Beschäftigung mit Seestrategie gehörte, möchte man eigentlich erwarten, daß er das Selbstverständliche auch ohne langes Nachsinnen erkennen konnte. Und daß Norwegen potentiell einer Gefährdung unterlag, war selbstverständlich, auch wenn es nicht sofort wirksam werden mußte. Ob Raeder dies am 10. Oktober dem Diktator tatsächlich vorgetragen hat, mag zunächst offenbleiben. Es war jedenfalls ein Umstand, den man längerfristig nicht ungestraft außer acht lassen durfte. 48 Trotzdem ist damit noch nicht alles geklärt. Anfang Oktober 1939 sprach Raeder über die Gewinnung von Stützpunkten an der norwegischen Küste - aber nicht durch Deutschland allein, sondern durch gemeinsamen Druck Rußlands und Deutschlands. Hier waren offenbar Überlegungen im Gange, deren sorgfaltige Beachtung am Platze ist. Außerdem war davon die Rede, durch jene Maßnahme solle die strategische und operative Lage Deutschlands grundsätzlich verbessert werden. Auffällig ist, daß die Lage Deutschlands grundsätzlich verbessert werden sollte, und zwar nicht bloß die operative, sondern auch die strategische. Stützpunkte in Norwegen würden die operative Lage zweifellos verbessern, weil die deutschen Seestreitkräfte für den Kreuzerkrieg leichter in den Atlantik gelangen und weil Luftstreitkräfte die britischen Stützpunkte in Nordschottland bedrohen konnten. Es ist indes sehr fraglich, ob damit eine grundsätzliche operative Verbesserung zu erzielen war. Immerhin hatte schon das Kriegsspiel von 1939 festgestellt, daß Stützpunkte in Norwegen für den ozeanischen Kreuzerkrieg nicht zur erhofften Handlungs- bzw. Entschlußfreiheit führen würden. Nun sollte aber sogar die strategische Lage grundsätzlich verbessert werden. Wie das? Seestrategisch können Stützpunkte sehr wohl bedeutsam sein, wenn sie den Kampf um die Seeherrschaft ermöglichen oder erleichtern. Die deutsche Flotte jedoch vermochte in keinem Fall um die Seeherrschaft zu kämpfen, gleichgültig, ob sie Stützpunkte in Norwegen benützte oder nicht. Stützpunkte in Norwegen besaßen höchstens gesamtstrategisch einen Vorteil, weil dann zugleich die Möglichkeit bestand, Skandinavien zu decken und das schwedische Erz zu sichern. Darüber hinaus war von einem gemeinsamen Handeln Deutschlands und Rußlands die Rede. Ein Zusammenwirken beider Länder im Krieg vermochte in der Tat von höchster strategischer Bedeutung zu sein, und bei einem gemeinsamen Seekrieg waren selbst seestrategische Wirkungen nicht auszuschließen. Offenbar dachte Raeder tatsächlich strategisch, und zwar so, wie Fachleute das zu tun pflegen. Ähnlich wie Admiral Carls erwartete Raeder vor dem Krieg, daß bei einer bewaffneten Auseinandersetzung mit England und Frankreich die letzteren von Ame48 Die Besprechung der Seekriegsleitung vom 3. 10. 1939 in KTB SKL, Bd 2, 27 f. Raeders Lagevortrag vom 10. 10. 1939 in G. Wagner, Lagevorträge, 26ff. Zur Deutung IMG, Bd 3, 299ff.; Bd 14, 98 ff., 209 ff. Gemzell, Raeder, 216ff., 293 ff. (mit Zusammenstellung von Raeders Äußerungen). Die Besprechung der Seekriegsleitung vom 13. 1. 1940 zuerst in Hubatsch, Weserübung, 391 ff. Jetzt KTB SKL, Bd 5, 89ff. Die Besprechung der Seekriegsleitung vom 25. 11. 1939 in KTB SKL, Bd 3, 205.
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rika und Rußland unterstützt würden. Vorerst schien dies jedoch nicht bedrohlich zu sein, weil Hitler im Zusammenbang mit dem sogenannten Z-Plan der Marineführung immer wieder versicherte, vor Fertigstellung dieser geplanten Flotte, d. h. vor der Mitte der 1940er Jahre, brauche die Marine mit einem Krieg nicht zu rechnen. Möglicherweise hat sich Raeder mit dem Bau der Z-Plan-Flotte, deren Zusammensetzung auf Hitlers Wünsche zurückging und entsprechend wenig durchdacht war, nur deshalb abgefunden, weil damit die Kriegsgefahr erst einmal vertagt zu sein schien. Jedenfalls beklagte sich Raeder nach Kriegsausbruch, nachdem diese Zusagen nun hinfällig seien, sehe sich die Marine außerstande, eine Kriegsentscheidung gegen England herbeizuführen, da sie sowohl bei Überwasseestreitkräften als auch bei U-Booten viel zu schwach sei. Auf die Fertigstellung der Z-Plan-Flotte verzichtete Raeder ohne Mühe; obwohl der Großadmiral einen langen Krieg erwartete, wäre diese Flotte für die Entscheidung doch zu spät gekommen und hätte überdies stärkemäßig nicht ausgereicht. Immerhin war die strategische Lage Deutschlands bei Kriegsausbruch nicht ganz so schlimm wie ursprünglich befürchtet, da Hitler durch seinen Pakt mit Stalin wenigstens die russische Neutralität fürs erste gesichert hatte. An diesem Punkt setzten die strategischen Überlegungen Raeders an. Wie der Krieg sich entwickeln würde, war vorerst nicht abzusehen, doch lag es auf der Hand, daß die Westmächte wahrscheinlich den Krieg in die Länge ziehen würden, um die deutsche Widerstandsfähigkeit allmählich auszuhöhlen, die eigene Schlagkraft zu steigern, und daß ein geeignetes Mittel, Deutschland wirtschaftlich schwer zu schädigen, in der Unterbindung der Erzzufuhr aus Schweden bestand. Wenn die Marine nicht hilflos der fortschreitenden Austrocknung Deutschlands zusehen wollte, mußte sie versuchen, ihren Beitrag zur Schwächung der Gegner zu leisten. Nach Lage der Dinge war dies am ehesten durch den U-Bootkrieg zu erreichen, denn V-Boote ließen sich verhältnismäßig schnell bauen, während die Überwasserstreitkräfte (zunächst nur zwei leichte Schlachtschiffe und etliche Kreuzer) den Gegnern kaum mehr als Nadelstiche versetzen konnten. Der Befehlshaber der VBoote, (seit 1939 Admiral) Dönitz, hatte schon vor dem Krieg für einen erfolgversprechenden Einsatz rund 300 größere U-Boote verlangt; dies griff Raeder nach Kriegsbeginn auf, als er entsprechende Planungen im OKM anstellen ließ und Hitler mehrfach eine Steigerung der U-Booterzeugung in den folgenden Jahren bis auf monatlich 20 oder 30 Stück vorschlug. Daß die Seekriegsleitung gleichwohl keine Gewähr für die absolut tödliche Wirkung dieser Art der Kriegführung übernehmen wollte, wurde bereits erwähnt. Um trotz solch wenig begeisternder Aussichten die strategische Lage zu verbessern, entwickelte Raeder den Gedanken, Italien und vor allem die Sowjetunion mittelbar oder unmittelbar am Seekrieg zu beteiligen. Zu diesem Zweck sollte der Versuch unternommen werden, V-Boote von anderen Ländern, vor allem von Rußland und Italien, zu kaufen, ferner sollten deutsche Kriegsschiffe mit Hilfe beider Länder versorgt werden, und schließlich hoffte Raeder, in der Norwegen-Frage mit Rußland ins Geschäft zu kommen oder es sogar in den Krieg zu ziehen. Der Gedanke war zumindest erwägenswert; im-
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merhin tauchten zu dieser Zeit auch in Amerika Befürchtungen auf, Deutschland und Rußland könnten sich in einem Angriffsbündnis zusammenschließen. Die Sowjetunion und Italien besaßen damals zahlenmäßig die stärksten V-Bootflotten der Welt mit 165 bzw. 105 Stück, so daß hier ein beachtliches Potential vorhanden war. Der Verkauf von V-Booten an Deutschland sowie die Versorgung deutscher Kriegsschiffe hätte über die rein militärische Unterstützung der deutschen Seekriegsanstrengungen hinaus auch weitreichende politische Bedeutung besessen, indem er die betreffenden Länder zu einer Art von stillen Teilhabern an der deutschen Kriegführung gemacht hätte und von anderen Ländern entsprechend aufgefaßt worden wäre. Als Nachschub- und Instandsetzungsbasen für deutsche Kriegsschiffe in der Sowjetunion wünschte sich Raeder Murmansk am Europäischen Nordmeer sowie Wladiwostok am Paziflk, wobei Wladiwostok ein wenig exotisch wirkt und wohl hauptsächlich den Zweck verfolgte, Rußland enger an das Reich zu binden. Die Benützung russischer Häfen für Nachschub und Instandsetzung hätte zwischen Deutschland und der Sowjetunion ein ähnliches Verhältnis hergestellt, wie es später zwischen Britannien und den USA entstand, also eigentlich die Vorstufe eines Bündnisses. Noch einen Schritt weiter ging Raeder, als er Anfang Oktober eine Studie über russische Unterstützung bei der Nordseekriegführung anfertigen ließ. Dort wurde auch die Möglichkeit erörtert, die Sowjetunion würde offen militärisch in den Krieg eingreifen. Im einzelnen erwog die Studie ein russisches Vorgehen mit See- und Luftstreitkräften gegen die britische Erzverschiffung aus Narvik sowie die Zuteilung russischer Operationsgebiete an der norwegischen Küste und bei Island. In einem solchen Fall hätte sich in der Tat Deutschlands strategische Lage grundlegend gewandelt, weil die Sowjetunion und das Reich den Krieg gemeinsam geführt und gemeinsam Skandinavien gegen die Westmächte abgeschirmt hätten. An dieser Idee hielt Raeder lange fest; noch im März 1940 schlug er Hitler vor, bei der Besetzung Norwegens den nördlichen Hafen Tromsö der Sowjetunion zu überlassen, weil es besser sei, die Russen säßen dort als die Engländer. 49 Raeders Überlegungen erhielten zusätzliche Dringlichkeit, als Hitler den Oberbefehlshabern der Wehrmachtsteile am 27. September 1939 seine Absicht eröffnete, gegebenenfalls demnächst im Westen anzugreifen. Ein solches Unternehmen hätte bei der Marine die schönsten Hoffnungen wecken können, denn wenn der Angriff so weit durchschlug, daß die französische Atlantikküste besetzt wurde, hätte Deutschland günstige Stützpunkte für den Seekrieg gegen Britannien gewonnen, die jedenfalls besser geeignet waren als Stützpunkte in Norwegen. Der Pferdefuß lag nur darin, daß angesichts der Rüstungslage ein Erfolg im Westen höchst 49 Zu Raeders Einschätzung der weltpolitischen Lage Sommer 1939 G. Schreiber, Revisionismus, 169 f. Zur Lage der Marine bei Kriegsausbruch eine Aufzeichnung Raeders vom 3. 9. 1939; G. Wagner, Lagevorträge, 19ff. Zur Erwartung eines langen Krieges, zur U-Bootrüstung sowie zu den Überlegungen hinsichtlich der Sowjetunion und Italiens G. Wagner, Lagevorträge, 24 ff. Salewski, Seekriegsleitung I, 128 ff. Loock, Quisling, 217. G. Schreiber, Revisionismus, 205 ff. Raeder über Tromsö am 9. 3. 1940 in G. Wagner, Lagevorträge, 85.
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ungewiß war und daß eine Offensive die potentielle Gefährdung Skandinaviens nicht beseitigte, denn bei einem Steckenbleiben des deutschen Angriffs mußte ein Gegenschlag der Westmächte in Norwegen befürchtet werden, und selbst wenn Frankreich wider Erwarten eine schwere Niederlage erlitt, blieb Skandinavien immer noch ungeschützt. Raeder hielt es deshalb für urnso notwendiger, im Zusammenwirken mit Rußland Stützpunkte in Norwegen zu gewinnen, um die strategische und operative Lage grundsätzlich zu verbessern, d. h. einem Zugriff der Westmächte zuvorzukommen, die europäische Nordflanke in Skandinavien zu sichern und operative Vorteile im Seekrieg zu gewinnen: entweder geringe operative Vorteile, falls Deutschland den Seekrieg allein führte, oder weit größere, falls Rußland sich daran beteiligte. Die militärfachlichen Voraussetzungen seiner Gedanken ließ Raeder sorgfältig untersuchen. Dabei kam die Seekriegsleitung im Oktober zu dem Ergebnis, Stützpunkte in Norwegen, namentlich Trondheirn, hätten einen gewissen Wert für die eigene Seekriegführung, doch sei eine gewaltsame Besetzung schwierig, und selbst wenn der Gewinn nur durch politischen Druck, auch in Gerneinschaft mit Rußland, erfolgen sollte, bleibe der Nachteillanger und schwerfälliger rückwärtiger Verbindungen. Sodann besprach sich der Stabschef der Seekriegsleitung, Admiral Schniewind, arn 4. Oktober mit Haider über die für beide Seiten, Heer und Marine, wichtigen Punkte der derzeitigen Lagebeurteilung. Haider führte dabei aus, unter den gegenwärtigen Verhältnissen könne das Heer weder in Frankreich noch in Norwegen der Marine zu Stützpunkten verhelfen, da ein Angriff im Westen wahrscheinlich gar nicht bis zur Atlantikküste durchdringen würde und eine Besetzung Norwegens auf dem Landweg mit schwierigstem Gelände, kümmerlichen Verbindungen und unzureichenden Nachschublinien zu rechnen hätte. Zweifellos war das alles richtig; trotzdem wies Raeder bei seinem Lagevortrag vor Hitler arn 10. Oktober auf die Gewinnung von Stützpunkten in Norwegen mit Hilfe russischen Druckes hin. Warum er das tat, läßt sich ohne Mühe erkennen. In der Seekriegsleitung wurde arn 15. Oktober eine Notiz verlaßt, wonach der Oberbefehlshaber der Marine im Verfolgen der Norwegen-Angelegenheit eine Möglichkeit sehe, von dem Holland/Belgienunternehrnen abzulenken. Haider erachte ein Unternehmen in Norwegen für äußerst schwierig, Jodl dagegen für leicht durchführbar.50 Daraus lassen sich mehrere Schlüsse ziehen. Durch das Gespräch Schniewinds mit Halder hatte sich die Seekriegsleitung darüber vergewissert, daß ein Angriff im Westen noch im Herbst 1939 militärisch in eine Sackgasse führen würde. Eine so Hitler über Angriffsabsichten im Westen arn 27. 9. 1939 nach Halder, KTB I, 86ff. KTB OKW 112, 951. Jacobsen, Gelb, 8 f. Denkschrift der Seekriegsleitung über Stützpunkt in Norwegen vorn 9. 10. 1939 nach Gernzell, Raeder, 220ff. Salewski, Seekriegsleitung I, 563 ff. Besprechung Schniewind - Haider in KTB SKL, Bd 2, 53 f. Vgl. Ha!der, KTB I, 98. Salewski, Seekriegsleitung I, 122f. Die Notiz aus der Seekriegsleitung vorn 15. 10. 1939 nach Gernzell, Raeder, 227 f.
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Weisung Hitlers vom 9. Oktober befahl jedoch einen möglichst baldigen derartigen Angriff durch Holland und Belgien, der sich wahrscheinlich festfressen und Deutschland in eine höchst üble strategische Lage bringen würde, weil eine kräftezehrende Landfront entstand und die Westmächte durch ein Eingreifen in Skandinavien die Erzzufuhr abdrosseln konnten, so daß Deutschland bald zum Aufgeben verurteilt war. Erzlieferungen aus der Sowjetunion würden die Lücke voraussichtlich nicht füllen; außerdem hätten sie das Reich in eine bedenkliche strategische Abhängigkeit von Rußland gebracht bzw. die vorhandene Abhängigkeit, etwa bei Öl, noch verschärft. Raeder wollte deshalb den Diktator von dem unfruchtbaren Westangriff abbringen und insoweit die gleichlaufenden Bemühungen des Heeres unterstützen. Statt dessen schlug er Hitler beim Lagevortrag am 10. Oktober eine Verschärfung des U-Bootkriegs vor, verwies darauf, daß die Eroberung der belgischen Küste für den U-Bootkrieg nichts bringe- was eine versteckte Kritik an der vorgesehenen Westoffensive beinhaltete - und regte den Gewinn von Stützpunkten in Norwegen mit Hilfe russischen Druckes an. Augenscheinlich wurde zu jener Zeit auch mit dem OKW verhandelt, denn Jodl konnte sich für den Gedanken an Stützpunkte in Norwegen erwärmen. Warum er das damals tat, ist unbekannt; aber in einer Studie aus dem Wehrmachtführungsamt von Anfang 1940, die sicher von Jodl gebilligt war, wurde die Feststellung getroffen, daß ein Festsetzen Englands in Norwegen für die deutsche Kriegführung untragbar, jedoch möglicherweise zu verhindem sei, indem man England zuvorkomme. Ferner bestehe die Möglichkeit, daß ein deutscher Angriff im Westen von England zum Anlaß genommen werde, Norwegen zu besetzen. Das letztere Argument hatte auch Raeder schon am 25. November 1939 vertreten; e!l muß aber noch älter gewesen sein, weil der deutsche Westangriff bereits Ende September/ Anfang Oktober 1939 im Gespräch war und Raeder damals versuchte, durch den Hinweis auf Norwegen Hitler von der Westoffensive abzulenken. Damit taucht wieder die Frage auf, was Raeder dem Diktator an jenem 10. Oktober mitteilte. Wenn Raeders eigene Angaben zutreffen, ist die Sache einfach: Er hätte dann Ende September/ Anfang Oktober von Admiral Carls und Abwehrchef Canaris Warnungen erhalten, die Briten könnten eine Besetzung von Stützpunkten in Norwegen beabsichtigen. Dies habe er Hitler vorgetragen, auf die Gefahren für die deutsche Seite verwiesen und dargelegt, daß man dem gegebenenfalls durch einen Präventivschlag zuvorkommen müsse. Den Sprechzettel, auf welchem Raeders Vortragspunkte notiert waren, habe Hitler behalten, was durchaus möglich ist, da der Diktator auch beim Vortrag von Brauchitsch am 5. November dessen Aufzeichnungen vereinnahmte. Die Ähnlichkeit des Vorgangs könnte bedeuten, daß Hitler in beiden Fällen die Einwände gegen seine Westabsichten aufmerksam zur Kenntnis nahm. Raeders eigene Angaben decken sich nun auffallig mit den Überlegungen, welche Carls in der fraglichen Zeit anstellte und im Kriegstagebuch seines Befehlsbereichs schriftlich niederlegen ließ. Daß Carls seinen Oberbefehlshaber davon unterrichtete, wird zutreffen, da Carls von Raeder geschätzt und in wichtigen Angelegenheiten häufig gehört wurde. Carls befürchtete ein britisches Fest9•
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setzen in Süd- und Südwestnorwegen, um Deutschland durch eine verschärfte Blockade zum Erliegen zu bringen. Es müßten deshalb Gegenmaßnahmen erwogen werden, die leichter durchzuführen seien, wenn Skandinavien aus der englischen Abhängigkeit gelöst und auf die deutsch-russische Seite gezogen würde. Das Zusammenwirken mit Rußland war genau das, was auch Raeder erwog, und genau davon berichtet die knappe Niederschrift über den Vortrag vom 10. Oktober, denn dort war eben die Rede von der Gewinnung norwegischer Stützpunkte mit russischem Druck. Demnach scheinen Raeders Angaben doch der Wahrheit zu entsprechen; zumindest geben die Quellenzeugnisse ein geschlossenes und stimmiges Bild: Der Oberbefehlshaber der Marine befürchtete über kurz oder lang ein Eingreifen Englands in Norwegen, um Deutschland wirtschaftlich und militärisch einzuschnüren, er sah diese Gefahr noch vergrößert, falls überhastet eine ungenügend vorbereitete deutsche Westoffensive in Gang gesetzt wurde, er wollte Skandinavien gegen einen Zugriff der Westmächte abschirmen, am besten in Gemeinschaft mit Rußland, er wies Hitler am 10. Oktober auf eine solche Lösung hin, und er war offenbar der Auffassung, die Absicherung Skandinaviens solle zweckmäßigerweise vor einer Offensive im Westen stattfinden, da deren Erfolgsaussichten anfangs gering waren und da sie im übrigen den Westmächten immer eine Handhabe bieten konnte, mit einer Invasion in Norwegen zu antworten. Mit einer seestrategischen Offensive hatten die Überlegungen Raeders gar nichts zu tun, sondern es handelte sich um die Abwendung einer schweren Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen, um eine Verbesserung der strategischen Defensive, wobei die gewünschte, aber unsichere Einbeziehung Rußlands die seestrategische Defensive allerdings wesentlich gestärkt und Deutschland gesamtstrategisch unverwundbarer gemacht hätte. 51 Aus diesem strategischen Plan wurde freilich nichts. Die Sowjetunion wollte Deutschland nur begrenzt unterstützen und gestand lediglich die Benützung einer Bucht bei Murmansk für den Aufenthalt deutscher Schiffe, nicht jedoch die Versorgung in russischen Häfen zu. Italien suchte sich aus einer Begünstigung des deutschen Seekriegs, insbesondere durch den Verkauf von U-Booten, ebenfalls herauszuwinden. Und Hitler selbst legte auf das Vertiefen der deutsch-russischen Gemeinsamkeiten keinen Wert; so untersagte er den Ankauf russischer U-Boote, scheute einen russischen Einfluß oder gar russische Territorialgewinne in Norwegen und ging auf Raeders Vorschlag nicht ein, durch gemeinsamen Druck in Norwegen Stützpunkte zu erwerben. Dabei ist wenigstens zu vermuten, daß Hitler bereits jetzt an eine künftige Auseinandersetzung mit Rußland dachte, nicht aber eine strategische Schwenkung zugunsten eines gemeinsamen Handeins gegen die westlichen Seemächte vollziehen wollte. Die Sachfrage, ob und wann Deutschland eiSI Hitlers Weisung vom 9. 10. 1939 in Hubatsch, Weisungen, 37 f. Die Studie N über Skandinavien aus dem Wehrmachtführungsamt nach KTB SKL, Bd 5, 89ff. (13. l. 1940). Dazu ADAP, Ser. D, Bd 8, 520 ff. Loock, Quisling, 230. Die Überlegungen von Carls nach Kriegsausbruch bei Gemzell, Raeder, 279 ff.
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ner Gefahrdung der Nordflanke in Skandinavien durch die Westmächte entgegentreten müsse, wurde damit freilich nicht geklärt. Raeder erinnerte am 8. Dezember im Sinne eines ceterum censeo den Diktator erneut an die "Wichtigkeit der Besetzung Norwegens", wobei die Wichtigkeit darin bestand, daß Norwegen jedenfalls nicht zuerst von den Westmächten besetzt wurde. Hitler ging jedoch erst darauf ein, als im Laufe des Dezember der Norweger Vidkun Quisling in Berlin erschien, ein früherer Kriegsminister undjetzt Vorsitzender der kleinen Partei Nasjonal Samling, die eine Art nordischen Faschismus vertrat und seit etwa 1938 die Verbindung zur NSDAP gesucht hatte. Es gelang Quisling, am 11. Dezember von Raeder empfangen zu werden, wobei der Norweger vorbrachte, nach allen vorhandenen Beobachtungen habe England nicht die Absicht, für die Dauer des Krieges die Neutralität Norwegens zu achten. Den entsprechenden Gefahren für Deutschland lasse sich vorbeugen, denn die Nasjonal Samling sei bereit, der Wehrmacht beim Gewinn von Stützpunkten zu helfen. Das kam Raeder nicht ungelegen, so daß er schon am nächsten Tag bei Hitler darüber vortrug; doch blieb er bemüht, die Angelegenheit von allen Seiten zu beleuchten. Er hielt Vorsicht für geboten, weil die betreffenden Norweger vielleicht nur die eigenen Parteiinteressen fördern, also mit deutscher Hilfe in Norwegen mehr Macht erringen wollten. Trotzdem müsse ausgeschlossen werden, daß Norwegen in die Hände Englands falle; dies könne kriegsentscheidend sein, weil dann auch Schweden völlig unter englischen Einfluß gerate und der Krieg wohl in die Ostsee getragen werde. Die Besetzung von Stützpunkten in Norwegen durch Deutschland werde allerdings harte englische Gegenwehr bewirken, wodurch der Erztransport von Narvik unterbrochen und eine starke Überwasserkriegführung an der norwegischen Küste hervorgerufen würde, der die deutsche Marine noch nicht gewachsen sei. Darin war eigentlich schon alles enthalten, was das OKM zu dieser Sache vorzubringen hatte. Es ist eine an den Haaren herbeigezogene Behauptung, die Seekriegsleitung habe die Besetzung Norwegens nicht als Präventivmaßnahme auffassen können, weil zu dieser Zeit keine konkreten Vorbereitungen für ein britisches Unternehmen in Norwegen erkennbar gewesen seien. Militärische Aufklärung ist nur ein Hilfsmittel der Strategie, aber sie ist weder ein Ersatz dafür noch die einzige Grundlage strategischer Entschlüsse. Eine strategische Lagebeurteilung muß imstande sein, das wahrscheinliche Verhalten des Gegners abzuschätzen, auch wenn die Aufklärung so unvollkommen ist, daß sie zwingende Beweise für die Absichten des Gegners nicht erbringen kann. Andernfalls entstünde die absurde Folgerung, wenn nur der Gegner geschickt genug sei in der Geheimhaltung eigener Angriffsabsichten, so entfielen Anlaß und Rechtfertigung für eigene vorbeugende Gegenmaßnahmen. Natürlich spielt sich eine sorgfältig erarbeitete Strategie so nicht ab, sondern gründliche strategische Planung sucht sich für denkbare oder zu erwartende Gefahren zu wappnen, bevor sie so groß sind, daß man ihrer nicht mehr Herr wird. Es tritt hinzu, daß man einem gegnerischen Angriff zweifellos nur dann wirksam vorbeugen oder zuvorkommen kann, wenn die entsprechenden Voraussetzun-
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gengegeben sind. Eine starke Landstreitmacht, welche durch ihre Aufklärung einen gegnerischen Aufmarsch entdeckt und selbst zu raschem Handeln befähigt ist, mag noch ausreichend Zeit finden für einen Erstschlag. Ebenso kann eine starke Flotte, welche Vorbereitungen für ein gegnerisches Unternehmen erkennt, im günstigen Fall noch rechtzeitig genügende Kräfte an die bedrohte Stelle werfen. Bei der deutschen Marine traf dies gerade nicht zu; ob sie gegnerische Angriffsvorbereitungen überhaupt rechtzeitig aufklären würde, war schon fraglich, und falls es ihr gelang, vermochte sie allein mit ihren schwachen Kräften dagegen nichts Entscheidendes zu unternehmen, sondern konnte nur noch wie das Kaninchen gebannt auf die Schlange starren. Raeder war mit solchen Dingen vertraut; deswegen schlug er Hitler am 12. Dezember vor, dieser solle den Fall Quisling prüfen und gegebenenfalls das OKW damit beauftragen, Pläne für die Vorbereitung und Durchführung der Besetzung Norwegens auszuarbeiten. Darin kam eben zum Ausdruck, daß die Marine von sich aus ziemlich hilflos war, daß ein deutsches Vorgehen in Norwegen nur als Wehrmachtoperation denkbar war, bei welcher Heer und Luftwaffe den Löwenanteil zu übernehmen hatten, und daß dies sorgfaltig planefisch vorbereitet werden mußte, um zur rechten Zeit das Nötige zu tun. Wenn erst britische Seestreitkräfte und Bodentruppen gegen Norwegen in Marsch gesetzt wurden, konnte sich die deutsche Seite jedes weitere Nachdenken über Vorbeugungsmaßnahmen schenken; sie würden ja doch zu spät kommen. Eine brauchbare strategische Planung hat die in der Aufklärungstätigkeit häufig enthaltenen Lücken und Ungewißheiten zu überbrücken; tatsächlich ist ja später der Fall eingetreten, daß die deutschen Aufklärungsergebnisse über britische Vorbereitungen gegen Norwegen zu spät eintrafen und zu undeutlich waren, um als Grundlage der Entscheidung zu dienen. Auf der anderen Seite kann im Ernst nicht bestritten werden, daß die deutsche Seite richtig lag mit ihrer Vermutung, die Westmächte würden über kurz oder lang in Norwegen eingreifen. Damit entstanden zwei denkbare strategische Fälle, wovon der zweite in den Erwägungen an der Jahreswende 1939/40 offenbar noch keine Rolle spielte, aber der Vollständigkeit halber doch einmal erwähnt werden soll. Was an der Jahreswende im Vordergrund stand, war die Befürchtung, die Westmächte würden eine Front in Skandinavien errichten, die Erzzufuhr abschneiden, den Krieg auf die Ostsee ausweiten und das Reich von Norden her bedrohen. Das entsprach dem französischen Plan aus dem Winter 1939/40, auf dem Weg über Narvik die schwedischen Erzfelder zu besetzen und damit den Krieg nach Skandinavien zu tragen. Dieser Plan war wohldurchdacht und enthielt noch mehr, als es zunächst den Anschein hat. Griff nämlich Deutschland gegen Schweden ein, so würde sich wahrscheinlich auch dieses auf die Seite der Westmächte stellen. Eine derartige Front in Skandinavien, gebildet aus norwegischen, schwedischen, britischen und französischen Kräften, würde aber eine solch starke deutsche Luft- und Bodenstreitmacht binden, daß zugleich eine deutsche Westoffensive keine zuverlässigen Erfolgschancen mehr besaß. Gefesselt an zwei kräftezehrenden Fronten und ohne Erz würde die Wehrmacht nicht lange durchhalten. Das war es, was Rae-
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der unter kriegsentscheidend verstand, und deswegen wollte er den Westmächten in Norwegen zuvorkommen. Denkbar wäre freilich auch eine andere Lösung gewesen. Haider sah ja bereits an der Jahreswende 1939/40 für einen Westfeldzug eine Reihe großer Erfolgsmöglichkeiten. Die deutsche Seite hätte sich theoretisch auf das Risiko einlassen können, Skandinavien zeitweise preiszugeben, Frankreich im Westen zu schlagen, das Iothringische Erzgebiet zu erobern, um das schwedische Erz zu ersetzen, und anschließend auch die Lage in Skandinavien zu bereinigen. Raeder hat diese Lösung anscheinend nicht erwogen, wohl aus mehreren Gründen. Erstens dürften ihm Halders Gedanken zunächst unbekannt geblieben sein; das OKH benötigte noch mehrere Monate bis zur Erstellung eines erfolgversprechenden Operationsplans. Zweitens hätte diese Lösung einen strategisch wie politisch gleich überflüssigen Umweg dargestellt. Ein Festsetzen Britanniens in Skandinavien durfte Deutschland auf die Dauer ja doch nicht zulassen, wenn es sich nach Norden einigermaßen abschirmen wollte, so daß es weit günstiger war, jenes noch vor der Westoffensive durch einen rechtzeitigen Präventivschlag mit verhältnismäßig geringen Kräften zu verhindern als später mit großem Aufwand die Briten aus Skandinavien wieder hinauszuwerfen. Bei einem rechtzeitigen Präventivschlag konnten die europäische Nordflanke und das schwedische Erz gesichert werden, ohne Schweden zu bekriegen, während ein späteres Vertreiben der Briten wahrscheinlich nur auf dem Weg über Schweden möglich war, da die Wehrmacht gar nicht anders nach Norwegen zu gelangen vermochte, wenn es erst britische Stützpunkte in Südnorwegen gab. Drittens ließ sich nicht absehen, was in der Aufregung alles geschehen würde, wenn die Westmächte in Norwegen einfielen, weil man in Deutschland vorbeugende Maßnahmen verschlafen hatte oder sich ganz auf den Westfeldzug konzentrierte. Vielleicht würde Hitler in seiner bekannten Sprunghaftigkeit dann sofort einen Gegenschlag in Skandinavien anordnen- einen Gegenschlag, der das Festsetzen der Westmächte in Skandinavien sicher nicht aufhalten, dafür aber wahrscheinlich jene Front erzeugen würde, welche der französische Plan erstrebte und welche Deutschland leicht in äußerste Bedrängnis bringen konnte. Unter diesen Umständen gab es für eine durchdachte strategische Lageeinschätzung, wie Raeder sie pflegte, nur eine zweckmäßige Lösung, nämlich die präventive Besetzung Norwegens. Diese Auffassung machte sich nunmehr auch Hitler zu eigen. Nachdem er selbst mit Quisling gesprochen hatte, erteilte er am 14. Dezember dem OKW den Befehl, mit kleinstem Stab die Untersuchung zu führen, wie man sich in den Besitz Norwegens setzen könne. Halder, sofort davon unterrichtet, notierte sich über die Frage Norwegen, daß es sich um ein Praevenire handle, daß ein kombiniertes Unternehmen Flotte-Heer erforderlich sei und daß Dänemark in das Unternehmen einbezogen werden müsse. Das letztere war nicht zu umgehen, da die Marine die Seeherrschaft in der Nordsee und vor der norwegischen Küste nicht zu gewinnen vermochte. Um für die nach Norwegen geworfenen Streitkräfte den Nachschub zu sichern und den Angriff zu nähren, mußten die Nachschublinien dicht unter der
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Küste durch Kattegatt und Skagerrak geführt werden, wo sie von Flugplätzen in Dänemark aus der Luft geschützt werden konnten. Obwohl Raeder weiter mahnte, kamen jedoch die Vorbereitungen zunächst nicht recht voran. Um die Jahreswende 1939/40 stellten sich Hitler und das OKW auf den Standpunkt, Deutschland habe ein Interesse daran, daß Norwegen neutral bleibe. Dies sei derzeit auch der Fall, außerdem habe Quisling nichts hinter sich. Erst wenn England Norwegens Neutralität gefahrde, werde sich die deutsche Haltung ändern. Hitler selbst vollzog die Änderung, als am 16. Februar 1940 das deutsche Troßschiff Altmark, das mit britischen Kriegsgefangenen an Bord auf dem Weg in die Heimat war, bei Egersund in den Territorialgewässern Südnorwegens von britischen Zerstörern aufgebracht wurde, um die Gefangenen zu befreien. Churchill, der die Maßnahme angeordnet hatte, suchte dadurch einen Propagandaerfolg, doch handelte es sich zweifellos um eine klare Verletzung des Völkerrechts, weil die Briten nicht befugt waren, gegen den deutlich bekundeten Willen norwegischer Behörden in den Hoheitsgewässern Norwegens Kriegshandlungen vorzunehmen. Hitler zog daraus den Schluß, daß auf die Wahrung der norwegischen Neutralität kein Verlaß mehr sei und daß jetzt gehandelt werden müsse. Auf Vorschlag Jodls wurde nun beim OKW ein arbeitsfähiger Stab mit entsprechender Besetzung eingerichtet, der zügig einen brauchbaren Plan entwerfen sollte für eine Operation in Norwegen und Dänemark, die seit Januar den Decknamen "Weserübung" trug. Dieser Stab, genannt Gruppe XXI, ging aus dem XXI. Armeekorps unter General der Infanterie Nikolaus von Falkenhorst hervor, wobei Falkenhorst wegen seiner Finnlanderfahrungen im Ersten Weltkrieg ausgewählt wurde. Am 21. Februar übertrug Hitler dem General Falkenhorst persönlich die Vorbereitung der Weserübung. Bereits Ende Februar konnte Falkenhorst erste Ergebnisse seiner Stabsarbeit vorlegen. Am 1. März erging Hitlers Weisung für Fall Weserübung, welche die alte Begründung Raeders für die Operation übernahm. Demnach sollte englischen Übergriffen nach Skandinavien und der Ostsee vorgebeugt, die Erzbasis in Schweden gesichert sowie für Kriegsmarine und Luftwaffe die Ausgangsstellung erweitert werden. Ein fester Termin war nicht vorgesehen, doch mußten, falls der Feind die Initiative gegen Norwegen ergriff, eigene Gegenmaßnahmen sofort ausgelöst werden können. Hatte Hitler zunächst noch überlegt, ob er die Weserübung vor dem Westangriff (,,Fall Gelb") oder danach durchführen solle, so entschloß er sich Anfang März, die Skandinavien-Angelegenheit jedenfalls vor der Westoffensive zu bereinigen. Darin wurde er von Jodl bestärkt, der bei einem deutschen Westangriff einen Gegenschlag der Alliierten in Skandinavien befürchtete. Nicht deutlich erkennbar ist die Einstellung des OKH und Halders zur Weserübung. Haider beklagte sich zwar gelegentlich, daß der Oberbefehlshaber des Heeres ungenügend unterrichtet werde, und wollte für die Operation nur das unverzichtbare Mindestmaß an Kräften freimachen, doch scheint Haider ansonsten keine grundsätzlichen Einwände erhoben zu haben. Nachdem er Anfang Oktober 1939 eine Eroberung Norwegens durch das Heer noch abgelehnt hatte, wahrscheinlich
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weil er damals eine Kriegsausweitung zu verhindem suchte, hatte er sich wohl mittlerweile davon überzeugt, daß die vorbeugende Absicherung der europäischen Nordflanke strategisch zumindest nicht falsch war. Da Haider nunmehr meinte, der Krieg müsse durchgeschlagen werden, erachtete er die Präventivmaßnahme in Skandinavien für vertretbar, zumal wenn sie die vorgesehene Schwerpunktbildung an der Westfront nicht behinderte. Halders militärfachliche Bedenken vom Oktober 1939 - schwieriges Gelände, kümmerliche Verbindungen - wurden dadurch nicht unzutreffend. Doch schienen solche Schwierigkeiten angesichts der unterdessen erreichten Planung für ein kombiniertes Unternehmen aller drei Wehrmachtsteile leichter überwindbar zu sein. Außerdem mußte von einer kraftvollen Westoffensive, die in geeignetem Zeitabstand nach der Weserübung begann, eine erhebliche strategische Diversionswirkung auf Skandinavien ausgehen, indem sie die Westmächte daran hinderte, ihre Streitkräfte für Skandinavien gefährlich zu verstärken. So gab es bei den Vorbereitungen für Weserübung zwar einige Reibungen zwischen den verschiedenen Führungseinrichtungen der Wehrmacht und der Teilstreitkräfte, wobei namentlich Göring sich selbst und seine Luftwaffe ins rechte Licht zu rücken suchte; aber schwerwiegende Abweichungen in der Lagebeurteilung und eine Grundsatzkritik am strategischen Sinn der Weserübung lassen sieb nicht feststellen. s2 Die Befehlsorganisation wurde Anfang März 1940 so geregelt, daß die Operation in Dänemark und Norwegen vom Befehlshaber der Gruppe XXI, General Falkenhorst, zu führen war, der wiederum Hitler unmittelbar unterstand. Das OKW bzw. das Wehrmachtführungsamt diente hier noch nicht selbst als operativer Stab, sondern als Beratungs- und Koordinierungsorgan für Hitler und die Gruppe XXI. Die Streitkräfte der Marine sowie der Luftwaffe blieben ihren jeweiligen Oberkommandos unterstellt und waren im engen Einvernehmen mit dem Befehlshaber der Gruppe XXI einzusetzen. Die fliegenden Verbände für Weserübung (rund 500 Kampf- und Jagdflugzeuge, rund 500 Transportmaschinen) wurden vom X. Fliegerkorps unter General Geisler kommandiert. Der Gruppe XXI unterstanden nach mehrfachen Änderungen für Norwegen rund sechs Divisionen, dazu für Dänemark ein Höheres Kommando (Reservekorps) mit zwei Divisionen und einer motorisierten Brigade. Fast durchwegs handelte es sich nicht um aktive Verbände mit hoher Kampfkraft, sondern um Reservedivisionen, die seit Kriegsausbruch aufgestellt worden waren. Die Befehlsorganisation wies etliche Merkwürdigkeiten auf. Die Gruppe XXI war im wesentlichen für den Landkrieg zuständig und dafür unstreitig geeignet, 52 Raeder über Norwegen am 8. 12. 1939, 12. 12. 1939, 30. 12. 1939, 23. 2. 1940, ferner Dokumente zum Quisling-Besuch bei G. Wagner, Lagevorträge, 56ff. Vgl. Loock, Qui&l.ing. Haider über Norwegen in seinem KTB I, 142 (14. 12. 1939), 149 f. (I. I. 1940), 204 (21. 2. 1940) und passim. Eine Zusammenstellung einschlägiger Äußerungen aus den Tagebüchern Jodls und Halders bei Hubatsch, Weserübung, 355 ff. Hit1ers Weisung zur Weserübung bei Hubatsch, Weisungen. 54 ff. Zu den organisatorischen Reibungen auch Warlimont I, 82 ff. Bejahung der Weserübung durch Göring nach IMG, Bd 9, 354 f.
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obwohl es bei der Größe der Aufgabe und der Zahl der verwendeten Truppen nähergelegen hätte, mindestens ein Armeeoberkommando einzusetzen. Hitler hatte jedoch bereits durch die persönliche Einweisung von Falkenhorst im Februar angedeutet, daß er die Weserübung als seine eigene Angelegenheit betrachtete. Dies wurde nunmehr bekräftigt, indem der Diktator sich den General unmittelbar unterstellte. Als Korpsbefehlshaber stand Falkenhorst, ungeachtet seiner persönlichen Befähigung, auf einer ungewöhnlich niedrigen Rangebene für ein solches Unternehmen, und darüber hinaus auf einer viel zu niedrigen, falls er wirklich der formelle und formell verantwortliche Oberbefehlshaber für die Operation sein sollte. Das war aber gar nicht beabsichtigt; vielmehr zeigt der Zusammenhang, daß Hitler sich hier selbst zum Feldherrn beförderte und nur noch einen untergeordneten General als williges Ausführungsorgan benützte, mit dem er den Feldherrnruhm nicht zu teilen brauchte. Für kombinierte Operationen unter Beteiligung mehrerer Teilstreitkräfte wird zweckmäßigerweise ein gemeinsamer Oberbefehlshaber eingesetzt. Falkenhorst war das sicher nicht, denn die Gruppe XXI mußte zwar mit Luftwaffe und Marine zusammenarbeiten, konnte ihnen indes keine Befehle erteilen, so daß im Zweifelsfall immer Hitler zu entscheiden hatte. Tatsächlich zeigten sich die jeweils zuständigen Befehlshaber und ihre Stäbe ausreichend soldatisch geschult, um auf dem Weg über Verbindungsoffiziere die Zusammenarbeit dann doch zu ermöglichen. Das stellte aber gewissermaßen eine Sonderleistung der Offiziere dar, weil die Organisation solche Aushilfslösungen erforderte. Ansonsten gab in Wahrheit Hitler selbst den Oberbefehlshaber ab, welcher bei der anspruchsvollsten Art von Operation, wie sie die Kriegskunst kennt, alle wesentlichen Entscheidungen in eigener Person zu treffen oder mindestens gutzuheißen hatte. Derartiges ist schon für einen hochbefähigten Offizier nicht einfach; für einen Gefreiten des Ersten Weltkriegs war es erst recht schwierig; außerdem möchte man ja meinen, der oberste Leiter von Politik, Staat und Kriegführung habe etwas anderes zu tun als auf einem einzelnen Kriegsschauplatz den Oberkommandierenden zu spielen. Hitler freilich hatte ein Bedürfnis nach so etwas; er hielt sich nicht nur für einen Herrenmenschen, sondern verspürte auch den Drang in sich, den hochnäsigen Offiziersklüngel die Kunst der Kriegführung zu lehren. Allerdings wurde dann bald offenkundig, daß ihm ja doch alle Voraussetzungen fehlten. Am 5. März 1940 fand eine Besprechung Hitlers mit den drei Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte statt, um nun endlich zu einer geme!nsamen und planerisch abgesicherten Willensbildung aller Wehrmachtsteile zu gelangen. In einer Vortragsnotiz hierfür faßte Raeder noch einmal die Lagebeurteilung aus der Sicht der Marine zusammen. Zugleich widerlegt dieses Quellenstück auf einen Schlag alle Behauptungen über den angeblichen maritimen Operationsplan Raeders. Es hieß dort, die Bedeutung und der Umfang von Operation Weserübung erforderten die volle Konzentration der gesamten Streitkräfte der Kriegsmarine auf diese Aufgabe. Keinerlei andere Seekriegsmaßnahmen von nennenswertem Umfang könnten mehr stattfinden; insbesondere müßten alle geplanten Unternehmungen der Marine im Zusammenhang mit dem Westangriff ausfallen oder stark beschränkt
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werden. Dieses völlige Stillhalten der Seekriegsführung sei nur zu vertreten, wenn die Durchführung der Weserübung unumstößlich sei und bald stattfinde - denn andernfalls wäre die gesamte Flotte so lange in völliger Untätigkeit eingefroren worden, wie sie auf das Durchführen der Weserübung warten mußte. Wenn das Unternehmen Weserübung gelinge, sei zunächst die Erzzufuhr aus Narvik unterbrochen und der Zeitpunkt ihrer Wiederaufnahme nicht vorauszusehen. Dies ergab sich von selbst aus dem Umstand, daß Britannien bei einer deutschen Besetzung Norwegens natürlich nicht stillsitzen, sondern seine Seeherrschaft dazu benützen würde, die Seeverbindungen vor der norwegischen Küste abzuschneiden und gegebenenfalls selbst Landungen in Norwegen vorzunehmen. Ob und wie die Verbindungswege vor der norwegischen Küste wieder geöffnet werden konnten, mußte die Zukunft lehren. Immerhin bestand bei einer Besetzung Norwegens und damit der Sicherung des schwedischen Erzes die Möglichkeit, das Erz aus schwedischen Ostseehäfen während des Sommers zu verschiffen, wenn die nördliche Ostsee eisfrei war. Sodann hielt Raeder fest, daß bei einer Besetzung Norwegens die seestrategische Lage für Deutschland etwas besser und weiträurniger, keinesfalls aber entscheidend zu unseren Gunsten gewandelt werde. Das hatte die Seekriegsleitung schon immer gewußt, und das war auch ganz selbstverständlich, weil Norwegen zwar eine strategische Position bildete, die günstiger war als die deutsche Nordseeküste, weil aber ihr Wert aus zwei Gründen wieder entscheidend eingeschränkt wurde. Erstens verwies Raeder auf Island und die Färöer, also die Inselkette, welche den offenen Atlantik gegen das nördliche Europa abriegelte - Inseln, welche von der britischen Seemacht jederzeit besetzt, von der deutschen aber weder erfolgreich angegriffen noch selbst benützt werden konnten. Zweitens hielt Raeder fest, daß die praktische Ausnutzung der seestrategischen Lage leider wegen Mangel an Seestreitkräften nur sehr bedingt möglich sei. Mit seiner schwachen Flotte würde Deutschland im Atlantik nichts Grundlegendes ausrichten, auch nicht von norwegischen Stützpunkten aus. Eine starke Flotte hätte das ändern können, z. B. durch eine Besetzung Islands, aber eine solche Flotte besaß Deutschland weder jetzt noch in Zukunft. U-Boote in großer Zahl würden die Schlagkraft der deutschen Flotte nicht einschneidend erhöhen, schon deswegen nicht, weil Britannien nicht daran zu hindem war, von Luft- und Flottenstützpunkten in Island aus den VBooten das Leben schwer zu machen. Schließlich verzeichnete Raeder noch, daß das sichere Halten aller Positionen in Norwegen bei massivem Anpacken durch England ein Problem darstelle, das erst nach langfristigem Ausbau der Küstenverteidigung an Land, zur See und in der Luft als gelöst zu betrachten sei. Die Zahl möglicher Angriffspunkte sei so groß, daß sie befriedigend nicht überall gesichert werden könnten; Kampfkraft in der Luft und in der Luftabwehr sei vor allem nötig. Die U-Boote würden für lange Zeit festgelegt sein, deswegen müsse der Handelskrieg entsprechend zurücktreten. Raeder stellte also nicht bloß fest, daß Norwegen schwer zu verteidigen sei und möglicherweise eine strategische Last bilde. Sondern er erwartete noch nicht einmal für den U-Bootkrieg einen bedeutenden Gewinn, jedenfalls nicht in naher Zu-
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kunft. Denn er rechnete damit, daß für die Verteidigung Norwegens auch die UBoote benötigt würden und demzufolge für den Handelskrieg ausfielen. Was folgt aus alledem? Es folgt daraus, daß ftir Raeder die Besetzung Norwegens, um dort Stützpunkte für den Kreuzerkrieg zu gewinnen, eine fast belanglose Nebenerscheinung darstellte, weil Norwegen als strategische Position für den Seekrieg in Wahrheit eher schwach war, weil die nicht minder schwache deutsche Flotte damit nicht viel anzufangen vermochte und weil außerdem die Verteidigung dieser Position Kräfte binden würde, die für wichtigere Aufgaben fehlten. Wenn Raeder die Besetzung Norwegens trotzdem befürwortete, so geschah dies aus defensiven Erwägungen: um die strategische Position Skandinavien nicht einem Gegner zu überlassen, der aus ihrem Besitz gewichtige Vorteile im Kampf gegen Deutschland ziehen konnte. Dabei verschwieg Raeder nicht die bedenklichen Nachteile, welche dem Reich aus der Besetzung Norwegens erwachsen würden, so den zeitweiligen Ausfall der Erzlieferungen, die schwere Last der zukünftigen Verteidigung Norwegens, das Schaffen einer gefährdeten Angriffsfläche für die britische Seemacht. Doch hielt es Raeder für unvermeidlich, solche Nachteile in Kauf zu nehmen, weil andernfalls die Westmächte in die Lage versetzt würden, durch das Eingreifen in Sk.andinavien noch größere Gefahren für die deutsche Kriegführung heraufzubeschwören. 53 Mit ihren Vorbereitungen für Weserübung wären Hitler im besonderen und die deutsche Seite im allgemeinen beinahe in Verzug geraten. Hitler war von Raeder schon am 30. Dezember 1939 darauf aufmerksam gemacht worden, die Westmächte könnten den finnisch-russischen Krieg zum Vorwand nehmen, mit getarnten Freiwilligen für Finnland auf kaltem Weg Norwegen zu besetzen. Raeders geschultes strategisches Denken erfaßte damit die britisch-französischen Pläne ziemlich genau, obwohl er zu jener Zeit darüber noch keine gesicherten Erkenntnisse besaß. Am 2. März 1940 teilten London und Paris der norwegischen und schwedischen Regierung mit, sie bäten um Durchmarscherlaubnis für Truppen nach Finnland und hätten Vorbereitungen getroffen, um Norwegen und Schweden bei deutschen Gegenmaßnahmen zu Hilfe zu eilen. Gemeint war damit, daß die Westmächte sowohl die nordschwedischen Erzgruben als auch Stützpunkte entlang der norwegischen Küste besetzen wollten, nämlich Narvik. Trondheim, Bergen und Stavanger. Als die skandinavischen Regierungen dies verweigerten- wobei Norwegen allerdings durchblicken ließ, daß man sich notfalls fügen müsse -, gab London dem französischen Druck nach und beschloß am 12. März die zwangsweise Durchführung des Plans. In Berlin verdichteten sich seit Ende Februar die Nachrichten über mögliche Absichten der Westmächte in Skandinavien; die Aufklärung erfaßte eine starke Konzentration der britischen Flotte in Schottland, welche von der Marineführung zunehmend als Bereitstellung für ein Unternehmen gegen Norwegen gedeutet wurde. An den Tagen um den 10. März beschäftigte sich die SeeSJ Zu den Vorbereitungen für Weserübung Hubatsch, Weserübung, 39 ff. Raeders Vortragsnotiz vom 5. 3. 1940 zuerst bei Hubatsch, Weserübung, 361 f. Jetzt KTB SKL, Bd 7, 29ff.
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kriegsleitung mit vorsorglichen Überlegungen, wie man einer britischen Landung in Norwegen entgegentreten könne. Da die Vorbereitungen für die Weserübung noch nicht abgeschlossen waren, hätte die planmäßige deutsche Besetzung Norwegens, die den Gegnern zuvorkam, erst nach dem 20. März stattfinden können. Die Westmächte hatten für ihre eigene Landung den 20. März vorgesehen, so daß die Westmächte einen geringfügigen zeitlichen Vorsprung besaßen, der aber wohl ausgereicht hätte, der deutschen Seite in Skandinavien das Nachsehen zu geben. Es stellte sich nun heraus, daß Raeders Drängen berechtigt gewesen war. Die Westmächte hatten sich zielstrebiger auf das Eingreifen in Skandinavien vorbereitet, und als die deutsche Aufklärung die Vorbereitungen erkannte, war es technisch gesehen schon zu spät. Wie immer in solchen Situationen begann Hitler fahrig zu werden. Haider wurde von Brauchitsch über die Besprechung mit den Oberbefehlshabern vom 5. März unterrichtet und notierte sich darüber, der Vortrag des Führers sei ziel- und planlos gewesen. England wie Frankreich hätten das Durchmarschrecht durch Norwegen und Schweden gefordert; der Führer wolle nun handeln. Die Weserübung solle am 15. März beginnen. Halders Unmut wurde jedoch wieder gedämpft, als ihm der Chef der Operationsabteilung des Generalstabs, Oberst Greiffenberg, über ein Gespräch mit Jodl meldete, die Zeit sei anscheinend nicht dringlich. Was sich dahinter im einzelnen verbirgt, läßt sich nicht deutlich ausmachen. Es hat aber den Anschein, als habe Jodl mäßigend auf Hitler eingewirkt, wie er das auch während des Norwegen-Unternehmens tat, und habe einer ruhigeren Lagebeurteilung zum Durchbruch verholfen. In Wahrheit bestand zu überstürzter Betriebsamkeit kein Anlaß, da die britische Regierung nach wie vor stärkste Bedenken gegen das Eingreifen in den finnisch-russischen Krieg hegte, um die Sowjetunion nicht vor den Kopf zu stoßen und ein deutsch-russisches Zusammenrücken zu vermeiden. Man hatte sich in London dem französischen Drängen auf eine Front in Skandinavien nicht länger widersetzen wollen, doch bestand Anfang März keine große Wahrscheinlichkeit mehr, daß die Hilfsaktion für Finnland - mit ihren Begleiterscheinungen in Norwegen - noch vor dem Ende des russisch-finnischen Krieges anlaufen würde. Sowohl die Sowjetunion als auch Finnland waren zum Frieden bereit, die skandinavischen Länder zogen den Frieden einem Eingreifen der Westmächte vor, und wenn dieser Friede bald geschlossen wurde, entfiel der unmittelbare Anlaß für die Aktion der Westmächte. In diesem Sinn hielt Jodl am 10. und 12. März fest, die Nachrichten über die finnisch-russischen Friedensverhandlungen seien politisch sehr erfreulich, durch den Friedensschluß entfalle die politische Grundlage zur Festsetzung in Norwegen, worüber die französische Presse tobe, weil sie es für notwendig halte, Deutschland vom schwedischen Erz abzuschneiden. Mit dem finnisch-russischen Frieden vom 13. März war die Gefahr dann vorerst beseitigt. 54 54 Raeder am 30. 12. 1939 in G. Wagner, Lagevorträge, 65. Zur Strategie der Alliierten Derry, Norway, 11 ff. Churchill, Zweiter Weltkrieg 1/2, 202f., 219. Loock, Quisling, 234ff. Zur deutschen Seite auch Salewski, Seekriegsleitung I, 180 ff. Halders Aufzeichnungen vom 6. 3. 1940 in seinem KTB I, 221 f. Jodls Aufzeichnungen nach Hubatsch, Weserübung, 363.
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Gänzlich gebannt war sie freilich nicht. Unter französischem Druck willigte die britische Regierung Ende März I Anfang April 1940 ein, auf dem Zufahrtsweg nach Narvik in norwegischen Hoheitsgewässern Minensperren zu legen. Eine entsprechende Operation fand am 8. April an unterschiedlichen Stellen statt, nämlich südlich Narvik sowie in Mittelnorwegen etwa bei Kristiansund. Wie bei dem früheren Plan sollten zudem Stützpunkte in Norwegen besetzt werden, d. h. Narvik, Trondheim, Bergen und Stavanger. Für Narvik wurde eine britische Brigade bereitgestellt, die nach der Landung durch eine französische Brigade verstärkt werden und sich bereithalten sollte, zu den schwedischen Erzgruben vorzurücken. Für die übrigen Orte in Norwegen waren mehrere Bataillone vorgesehen, keine starken Kräfte, aber ausreichende, wenn man bedenkt, daß auch die deutsche Seite ihre Landungen mit Truppen in ähnlicher Größenordnung vornehmen wollte. Spätere Verstärkungen waren auf beiden Seiten in Aussicht genommen. In London suchte man sich durch die salvatorische Klausel zu decken, die Landungen sollten erst stattfinden, wenn die Deutschen Norwegen betraten oder klare Beweise (clear evidence) vorlagen, daß sie es beabsichtigten. Diese wunderschöne Formel erhält jedoch erst einen Inhalt vor dem Hintergrund militärischer und politischer Sachzwänge. Die Minensperren richteten sich erstens gegen die deutsche Erzschiffahrt, sie waren zweitens unstreitig völkerrechtswidrig, und sie waren drittens als isolierte Maßnahme ziemlich sinnlos, weil die Norweger, wenn sie Wert auf ihre Neutralität legten, die Minen alsbald wieder räumen konnten. Damit in dieser Hinsicht gar kein Zweifel entstand, wurde den Norwegern, welchen die Vorgänge nicht verborgen blieben, am Morgen des 8. April die Minenlegung auf diplomatischem Weg offen mitgeteilt; wenige Stunden später war sie auch in Deutschland bekannt. Die Minenlegung stellte demnach weniger eine militärische Maßnahme dar als vielmehr eine politische Herausforderung, teils für Norwegen und noch mehr für Deutschland. Bereits am 5. April hatten die Westmächte der norwegischen Regierung eröffnet, sie behielten sich Maßnahmen gegen kriegswichtige Lieferungen an Deutschland aus Skandinavien vor und betrachteten es als feindseligen Akt, wenn die nordischen Länder sich in das deutsche Interessengebiet einbeziehen ließen. Der norwegische Gesandte in London sah darin eine Blankovollmacht für die Alliierten, um zukünftig nach ihrem Gutdünken mit Norwegen zu verfahren. In Norwegen hat man das verstanden und hat die Minen nicht geräumt. Hätte man sie geräumt, so wäre dies von den Westmächten als Begünstigung der deutschen Kriegführung, als Einbeziehung in das deutsche Interessengebiet und als feindseliger Akt ausgelegt worden. Daraus hätte sich dann wohl auch der Vorwand ableiten lassen, Stützpunkte in Norwegen zu besetzen, um die Minensperren zu bewachen und weiteren "feindseligen Akten" Norwegens vorzubeugen. Umgekehrt mußte die deutsche Erzschiffahrt durch die norwegischen Hoheitsgewässer, wenn die Minen nicht geräumt wurden, zum Erliegen kommen. Dagegen würde Deutschland mit Sicherheit irgendetwas unternehmen, vom Ausstoßen lauter Drohungen über das Bereitstellen von Streitkräften bis zum Angriff auf Norwegen. Bei einiger Rabulistik konnten schon Drohungen als "clear evidence" für
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deutsche Angriffsabsichten gewertet werden, und dann war die Bedingung für das Besetzen norwegischer Stützpunkt durch Britannien erfüllt. In diesem Sinne sah der britische Operationsplan vor, kurz nach der Minenlegung die Bodentruppen in Marsch zu setzen - am 7. April wurden sie bereits eingeschifft -, so daß sie wenige Tage später die Bestimmungsorte erreichen konnten. Den eigentlichen Zweck des Unternehmens bildete also die Besetzung von Stützpunkten, insbesondere des Erzhafens Narvik. Auf der deutschen Seite war nach dem finnisch-russischen Frieden Hitler zunächst in Verlegenheit, wie er die Weserübung begründen solle. Da der unmittelbare Anlaß für das Eingreifen der Westmächte in Norwegen nunmehr entfallen war, schien sich auch die Weserübung nicht mehr ohne weiteres als Vorbeugungsmaßnahme rechtfertigen zu lassen. Was immer man sonst von Hitlers Kriegspolitik halten mag, im Hinblick auf Skandinavien muß man zugestehen, daß bloße Eroberungsabsichten für ihn anfangs keine Rolle spielten. Das schließt nicht aus, daß er im Rahmen seiner Rassenlehre die germanischen Länder Nordeuropas langfristig mindestens als Satelliten, vielleicht auch als Bestandteile des großgermanischen Reiches der Zukunft betrachtete. Aber der Eroberung Dänemarks wie Norwegens in diesem Stadium des Krieges näherte er sich tatsächlich nur zögernd und bekannte sich erst dann dazu, als ihm die strategische Notwendigkeit einsichtig geworden war. Auf diese strategische Notwendigkeit machte ihn Raeder am 26. März 1940 noch einmal aufmerksam. Wie immer bemühte sich der Oberbefehlshaber der Marine um eine sachliche Lageanalyse und stellte deshalb fest, zur Zeit sei seines Erachtens eine englische Landung in Norwegen nicht akut. Dagegen sei die Frage, was die Engländer in nächster Zeit unternehmen würden, so zu beantworten: Sie würden weiter versuchen, den deutschen Handel in den neutralen Gewässern zu belästigen und Zwischenfälle hervorzurufen, um dadurch vielleicht die Handhabe für ein Vorgehen gegen Norwegen zu erhalten. Ein erwünschtes Ziel sei und bleibe die Unterbindungs des deutschen Narvik-Handels. Deutschland werde früher oder später vor die Frage gestellt werden, die Weserübung durchzuführen. Diesen Ausführungen Raeders ist nichts hinzuzufügen; die Absichten der Westmächte hatte er richtig erkannt, und ohne sein Drängen wären die Alliierten zuerst in Norwegen gelandet, mit all den oftmals beschriebenen nachteiligen Folgen für die deutsche Kriegführung. Gewiß kann man darüber spekulieren, ob dies unter einem viel weiteren geschichtlichen Blickwinkel nicht sogar wünschenswert gewesen wäre. Möglicherweise wäre das Reich bei einer skandinavischen Invasion der Westmächte in große Bedrängnis geraten, unter Umständen wäre in Deutschland der Staatsstreich wieder denkbar geworden, vielleicht hätte der Krieg mit einem Ergebnis beendet werden können, das jedenfalls günstiger war als dasjenige, welches bis 1945 wirklich herauskam. Doch waren derlei Erwägungen für Raeder nicht maßgeblich. An den Staatsstreich dachte er ohnedies nicht, und mittlerweile hatte selbst Haider diese Absicht fürs erste aufgegeben, weil ihm weder die innere Lage Deutschlands noch die Verständigungsbereitschaft der Kriegsgegner eine genügende Handhabe zu bie-
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ten schien. Was für den Oberbefehlshaber der Marine im Vordergrund stand, waren die militärfachlichen Überlegungen eines geschulten Strategen mit dem weiten Blick der Seekriegführung, eines Strategen, der sich Sorgen machte, wie Deutschland den Krieg wenigstens mit einiger Aussicht auf ein erträgliches Ergebnis führen konnte, ohne durch vermeidbare strategische Fehler bald in der Sackgasse zu landen. In diesem Sinne riet Raeder dem Diktator am 26. März, die Durchführung der Weserübung sei so bald wie möglich zweckmäßig, am besten bei Neumond am 7. April, wenn unter dem Schutz der Dunkelheit die Überraschung erleichtert werde. Längeres Hinausschieben verbiete sich aus zwei Gründen: Erstens werde dann die Marine zu lange lahmgelegt, weil sie im Bereitschaftszustand für Weserübung zu keinen anderen Maßnahmen der Seekriegführung mehr fähig sei; außerdem lasse sich auch der Bereitschaftszustand nicht beliebig aufrechterhalten, weil beispielsweise die U-Boote nur begrenzte Zeit auf Warteposition vor Norwegen in See stehen konnten. Zweitens dürfe für die Weserübung nicht das günstige Wetter abgewartet werden, das für den Westfeldzug erforderlich sei, denn die Marine benötige für das Unternehmen trübes, nebliges Wetter. Es spricht übrigens manches dafür, daß in Raeders letzterer Bemerkung noch ein versteckter Hinweis für Hitler enthalten war. Der Diktator sprach gelegentlich davon, den Westfeldzug wenige Tage nach der Weserübung beginnen zu lassen. Dagegen suchte Raeder beide Operationen zeitlich weiter auseinanderzuziehen, indem die Weserübung unter anderen Wetterbedingungen als der Fall Gelb stattfinden sollte. Wie in sonstigen Fällen wurden auch hier die Empfehlungen des Fachmanns von Hitler nicht einfach übernommen; immerhin war der Diktator nun bereit, die Weserübung etwa am 8. bis 10. April in Gang zu setzen. Das wäre beinahe wieder zu knapp geworden, da um den 10. April bereits die ersten englischen Landungen hätten stattfinden können. Auch die Aufklärung ergab zum zweiten Mal nicht rechtzeitig das erforderliche Lagebild, da sie die britischen Vorbereitungen nicht vor der ersten Aprilwoche erkannte. Schaden erwuchs daraus nicht, da Hitler am 2. April das deutsche Unternehmen endgültig für den 9. April befohlen hatte. 55 Das Unternehmen Weserübung verstieß an sich, wie auch die Seekriegsleitung festhielt, gegen alle Regeln der Seekriegslehre. Einen schnellen Überfall an einer fremden Küste mag selbst eine unterlegene Seemacht durchführen, aber eine regelrechte Landung, welche eine fremde Küste dauerhaft in Besitz nehmen will, ist als kombiniertes Unternehmen unter Teilnahme von zwei oder drei Teilstreitkräften (amphibisch oder triphibisch) nur dann erfolgversprechend, wenn der Angreifer mindestens die See- und Luftüberlegenheit besitzt, dazu die notwendigen Bodentruppen. Je nach geographischen Gegebenheiten sind See- und Luftüberlegenheit 55 Zum britischen Minenunternehmen und den sonstigen Plänen Hubatsch, Weserübung, 132 ff., 157 ff. Derry, Norway, 14 ff., 21 ff. Loock, Quisling, 242 f. Zur Entscheidungstindung auf deutscher Seite das Jod!-Tagebuch bei Hubatsch, Weserübung, 364ff. Raeder am 26. 3. 1940 bei G. Wagner, Lagevorträge, 86. Hitlers Weisung vom 2. 4. 1940 bei Hubatsch, Weisungen, 57. Ferner Salewski, Seekriegsleitung I, 185 f. Loock, Quisling, 258 f.
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entweder durch die Flotte allein herzustellen, d. h. die Luftüberlegenheit durch trägergestützte Flugzeuge, oder die Luftüberlegenheit muß von Flugplätzen in der Nähe der Anladungen aus erzeugt werden. Fehlen See- und Luftüberlegenheit, so können die Verbindungswege über See, auf welchen die Landungsstreitkräfte versorgt und der Angriff genährt werden, nicht zuverlässig gesichert werden. Schneidet die Gegenpartei die Verbindungswege ab, dann ist die Landung in der Regel zum Scheitern verurteilt und die Landungsstreitkräfte sind verloren. In Hinblick auf Norwegen lagen nun die Dinge so, daß die britische Flotte vor der norwegischen Küste die Seeherrschaft besaß. Eine regelrechte Landungsoperation, bei welcher über See Landungsstreitkräfte, Verstärkungen und Nachschub herangeführt werden, war deshalb für die deutsche Seite vor dem größten Teil der norwegischen Küste nicht möglich. Auf dieser Tatsache baute der deutsche Operationsplan auf. Er sah vor, in einer schnellen Überraschungsaktion, welche unter dem Schutz langer dunkler Nächte und schlechten Wetters die britische Aufklärung wie die britische Seeherrschaft unterlief, eine Anzahl von Stützpunkten an der norwegischen Küste mit kleinen Kontingenten von Bodentruppen in Besitz zu nehmen. Landungen werden normalerweise von entsprechend großen Landungsflotten, unter Umständen mit geeigneten Spezialschiffen, vorgenommen, welche Truppen, Waffen und Gerät heranschaffen sowie von starken Hochseestreitkräften gedeckt werden. Für die deutsche Marine entfiel beides, so daß sie die Landungen mit Kriegsschiffen und den auf ihnen eingeschifften Bodentruppen zu bewerkstelligen hatte, während zugleich getrennt davon sowie getarnt auf Frachtschiffen die schwere Ausrüstung der Bodentruppen, für manche Zielorte auch zusätzlich Bodentruppen mit ihrer Ausrüstung, herangebracht wurden, um sogleich nach vollzogener Landung die Besetzungskontingente zu verstärken und sie fürs erste zur Verteidigung der genommenen Stützpunkte zu befähigen. Für diesen ersten, bescheidenen Takt der Operation wurden folgende Streitkräfte eingesetzt: zur Besetzung Narviks 10 Zerstörer mit einem verstärkten Gebirgsjägerregiment, gedeckt von den beiden Schlachtkreuzern Schamhorst und Gneisenau; für Trondheim ein schwerer Kreuzer und vier Zerstörer mit einem verstärkten Gebirgsjägerregiment; für Bergen zwei leichte Kreuzer und kleinere Einheiten mit wenigen Bataillonen; für Kristiansand ein leichter Kreuzer und kleinere Einheiten mit einem verstärkten Bataillon; schließlich für die Hauptstadt Oslo zwei schwere Kreuzer und kleinere Einheiten mit Truppen in Stärke von etwa einem Regiment. Die erste Aufgabe der Luftwaffe bestand darin, mit Fallschirmjägern und anderen Truppen Luftlandungen in Stavanger und Oslo vorzunehmen, um das Heranbringen der Kräfte von der Seeseite zu ermöglichen oder zu erleichtern. Gleichzeitig mit der Besetzung von Stützpunkten in Norwegen mußte die Besetzung Dänemarks erfolgen, was teils auf dem Landweg über Jütland, teils durch Seelandungen an verschiedenen Stellen und teils durch Luftlandungen geschehen sollte. Nach Beendigung des ersten Takts der Weserübung hatte die Marine ihre erste Hauptaufgabe erfüllt; sie mußte anschließend versuchen, ihre Überwasseestreitkräfte schnell 10 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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wieder in die Heimathäfen zurückzubringen, weil sie andernfalls in Norwegen aufgerieben worden wären. Hohe Verluste bei den Landungen und beim Rückmarsch wurden erwartet und in Kauf genommen, was übrigens auch gegen die These von Raeders angeblichem maritimen Operationsplan spricht, weil es sich schwerlich lohnte, für Stützpunkte von zweifelhaftem Wert die Flotte aufs Spiel zu setzen. Im Anschluß an den ersten Takt begann der zweite, welcher Heer und Luftwaffe das Schwergewicht zuwies. Wegen der britischen Seeherrschaft konnte Norwegen vom größeren Teil seiner Küste aus nicht erobert werden. Eine regelrechte Landungsoperation mit langfristiger Sicherung von Nachschub und Verstärkungen war nur insofern möglich, als die deutsche Seite an einem Teil der norwegischen Küste die Luftüberlegenheit und anschließend die Luftherrschaft gewann, um so die englische Seeherrschaft auszuschalten. Der betreffende Teil Norwegens war seine Südküste, insbesondere das Gebiet um den Oslo-Fjord sowie die Landeshauptstadt selbst. Durch die Besetzung Dänemarks und norwegischer Stützpunkte mit ihren Flugplätzen konnte die Luftwaffe vor Südnorwegen im Kattegat und Skagerrak die Luftherrschaft erringen, so daß die britische Seemacht zwar noch dort hineinzuwirken vermochte, aber Gefahr lief, aus der Luft untragbare Verluste zu erleiden. Auf diese Weise entstand im Kattegat und Skagerrak so etwas wie eine deutsche Seeherrschaft, jedenfalls solange die britische Flotte nicht nachdrücklich um die Seeherrschaft kämpfte. Auf dem Seeweg von Deutschland nach Oslo, gesichert durch Luftwaffe und Marine, waren die vorgesehenen Bodentruppen nach Norwegen zu bringen, d. h. die Masse von sechs Divisionen mit vielen tausend Pferden und Kraftfahrzeugen, mit Artillerie und sonstiger Ausrüstung, dazu der erforderliche Nachschub. Aus dem Raum um Oslo mußte alsdann, unter Benützung des vorhandenen Verkehrsnetzes, ganz Norwegen besetzt werden. Eine weitgehend friedliche Besetzung ohne große Kämpfe war erwünscht; falls dies nicht gelang, würde ein regelrechter Heeresfeldzug im Landesinneren entstehen, unterstützt von der Luftwaffe, welcher angesichts der geographischen Gestalt und Beschaffenheit Norwegens in einige Zeitnot geraten mochte, bis die vorgeschobenen Außenposten an der Küste, vor allem Narvik und Trondheim, erreicht wurden. Unterdessen mußte mit britischen Angriffen gerechnet werden, bei denen sich erst erweisen würde, ob sie abzuschlagen waren. Der deutsche Operationsplan beschränkte sich also nicht auf die überfallartige Besetzung einiger norwegischer Stützpunkte, sondern er war ein sehr verwickeltes Gebilde, dessen Hauptgedanke darin bestand, eine gesicherte Seeverbindung nach Oslo herzustellen und von da aus das Land in Besitz zu nehmen. Diesen Unterschied muß man sich vor Augen halten: erstens, weil man sonst den Norwegen-Feldzug nicht versteht, und zweitens, weil Hitler selbst, wie das von da an auf der Tagesordnung war, den Operationsplan nicht richtig durchdacht oder nicht richtig begriffen hatte, sondern sich an die Hoffnung klammerte, die Weserübung könne weitgehend als friedliche Besetzung durchgeführt werden. Recht behielt er damit nur in Hinblick auf Dänemark. Nachdem am Morgen des 9. April 1940 deutsche Truppen die Grenze nach Jütland überschritten hatten und in
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Kopenhagen wie an anderen Stellen gelandet waren, beschlossen König und Regierung die Einstellung des Widerstands; Dänemark wurde ab dem ersten Tag der Weserübung friedlich besetzt. Anders in Norwegen. Der erste Takt, die Besetzung von Stützpunkten, gelang zwar, wenngleich nicht ohne Schwierigkeiten. Genommen wurden am 9. April Narvik, Trondheim, Bergen, Stavanger und Kristiansand, doch ging fast die gesamte schwere Ausrüstung für die Truppen in Narvik und Trondheim verloren, außerdem vernichteten im Anschluß an die Landungen britische Streitkräfte die 10 Zerstörer von Narvik und zwei leichte Kreuzer. In Oslo glückte die Luftlandung erst nach einigen Mühen; immerhin konnte die Hauptstadt bis zum Abend des 9. April besetzt werden. Die über See anmarschierenden Streitkräfte blieben vor den Verteidigungsanlagen im engen Zufahrtsweg des Oslo-Fjordes stecken, wobei ein schwerer Kreuzer versenkt wurde. Erst nachdem der Widerstand mit Hilfe der Luftwaffe gebrochen war, betraten die Landungstruppen am 10. April die Hauptstadt. Mittlerweile hatte die norwegische Regierung am Morgen des 9. April die Mobilmachung angeordnet und Oslo nach Norden verlassen. Die weiteren Verhandlungen wurden zusätzlich erschwert, als Quisling, unterstützt von Hitler, eine neue Regierung zu bilden versuchte, was der König und die politischen Institutionen des Landes ablehnten. Ob König und Regierung in Norwegen eher nachgegeben hätten, wenn die Einnahme von Oslo sorgfaltiger vorbereitet und zügiger durchgeführt worden wäre oder wenn Quisling nicht ins Spiel gekommen wäre, läßt sich nicht mit Sicherheit angeben. Wie die Dinge lagen, setzte jedenfalls die Regierung den militärischen Widerstand, d. h. praktisch den unerklärten Krieg fort, was für die deutsche Seite zur Folge hatte, daß sich die mobilgemachten norwegischen Truppen im Landesinneren sammelten, vorwiegend an den Verkehrswegen, und damit die schnelle Besetzung des Landes behinderten. Durch die Einnahme der größeren Städte hatte die Wehrmacht aber wenigstens die dortigen Sammelplätze und das Material in die Hand bekommen. Hitler ernannte am 24. April den Gauleiter Terboven zum Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete. Das ist wohl so zu verstehen, daß der Diktator, nachdem der Gedanke einer weitgehend kampflosen Einbeziehung Norwegens in den deutschen Machtbereich gescheitert war, auf die Eroberungslösung umschaltete und das Land durch einen nationalsozialistischen Sonderbevollmächtigten für einen späteren Anschluß an das großgermanische Reich reif machen wollte. Der norwegische König und die Regierung gingen am 9. Juni ins Exil nach London. Ohne Unterstützung von außen vermochten die schwachen norwegischen Kräfte den deutschen Vormarsch allenfalls zu verzögern. Daß die Hilfe von außen nicht ausbleiben würde, durfte indes angenommen werden. Die militärische und politische Führung in London beriet seit dem 9. April über mögliche Gegenmaßnahmen. Landungstruppen für verschiedene Stützpunkte in Norwegen standen ohnedies schon bereit, doch schälte sich bald heraus, auf die Besetzung von Stavanger und Bergen zu verzichten. Frankreich legte nach wie vor besonderen Wert auf Narvik und die schwedischen Erzgruben, so daß das britische Kriegskabinett am 10*
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10. April ein Unternehmen gegen Narvik guthieß. Aus Norwegen kam am 12. April die Nachricht, es werde eine Operation in Trondheim gewünscht, was vom norwegischen Standpunkt aus sicher vernünftig war, da an dieser Stelle der gesamte Nordteil des Landes verteidigt werden konnte und für die Truppen aus Südnorwegen nur diese Rückzugsmöglichkeit offenblieb. Aus politischen wie militärischen Gründen machten sich sowohl die britische als auch die französische Regierung den Wunsch zu eigen; allerdings entschloß man sich, nicht in Trondheim selbst zu landen, weil in den dortigen engen Gewässern gute Verteidigungsmöglichkeiten vorlagen und namentlich die britische Flotte einer starken Gefährdung aus der Luft ausgesetzt war. Statt dessen sollte eine Zangenoperation gegen Trondheim angesetzt werden, indem Landungen bei Namsos und Andalsnes nördlich und südlich Trondheim stattfanden, um anschließend mit Hilfe norwegischer Kräfte die Stadt einzuschließen. Mittlerweile waren ab dem 12. April bereits Truppen für Narvik in Marsch gesetzt worden, außerdem zogen die Briten dort starke Seestreitkräfte zusammen, denen bis zum 13. April die 10 deutschen Narvik-Zerstörer zum Opfer fielen, da sie wegen Schwierigkeiten bei der Treibstoffversorgung nicht mehr aus Narvik herausgekommen waren. Der Entschluß der Westmächte zu zwei Unternehmungen bei Narvik und Trondheim muß in der Rückschau wohl als strategischer wie operativer Fehler betrachtet werden. Im Grunde war von den beiden Unternehmungen eine überflüssig, denn entweder konzentrierte man sich auf Trondheim, dann konnte dort eine Front errichtet, die deutsche Erzzufuhr aus Narvik fürs erste abgedrosselt und zugleich die deutsche Streitmacht in Narvik ausgehungert werden, so daß sie anschließend, wenn die Lage bei Trondheim sich gefestigt hatte, mit geringer Mühe ebenfalls auszuheben war. Oder man betrachtete das schwedische Erz als vorrangig, dann gab man zwar Mittelnorwegen preis, was jedoch der deutschen Seite keine nennenswerten Vorteile brachte, man errichtete eine Front in Nordskandinavien, die für die deutsche Seite weit beschwerlicher war, und zwang der Wehrmacht neben dem dauerhaften Verlust des Erzes einen langwierigen Abnützungskrieg auf. Setzte man dagegen zwei Unternehmungen zugleich an, so verzettelte man die Kräfte, verstieß damit gegen einen der ältesten und wichtigsten Grundsätze der Kriegskunst, nämlich das Zusammenfassen der Kräfte an der richtigen Stelle, und gab der deutschen Seite Gelegenheit, sich überall zu behaupten. Überdies waren die vorgesehenen Landeplätze Namsos und Andalsnes als Brückenköpfe ziemlich ungeeignet, da sie nicht über leistungsfähige Häfen zum schnellen und sicheren Ausladen des Materials verfügten. Zunächst freilich, als sich ab dem 13./14. April der englische Aufmarsch bei Narvik und die Bedrohung dieses Ortes abzeichneten, begann der grandiose Feldherr Hitler die Nerven und den Überblick zu verlieren. Der Chef der Abteilung Landesverteidigung im Wehrrnachtführungsamt, Oberst Warlimont, berichtet darüber, Hitler habe in der Reichskanzlei, unbeachtet auf einem Stuhl in der Ecke hokkend und in dumpfem Brüten vor sich hinstarrend, die neuesten Nachrichten aus Norwegen erwartet, um sie gleich selbst am Fernsprecher aufzunehmen. Wollte
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man boshaft sein, so könnte man sagen, daß hier beim Oberbefehlshaber der Wehrmacht und Oberkommandierenden auf dem norwegischen Kriegsschauplatz der Meldegänger des Ersten Weltkriegs wieder durchbrach, der in souveräner Mißachtung ernsthafter Stabsarbeit und strategischen Denkens sich an untergeordneten Einzelheiten festhielt Jodl, der sich in diesen Tagen als Fels in der Brandung erwies und beträchtlichen Sachverstand an den Tag legte, verzeichnete am 14. April fürchterliche Aufregung sowie das Bestreben, alle Einzelheiten aus Berlin zu befehlen - ein Verfahren, mit welchem Hitler von da an immer wieder alles durcheinanderbrachte und in späteren Jahren die Niederlage in die Wege leitete. Mehrere Tage lang meinte Hitler, man habe Pech gehabt (was wohl mit seiner Hoffnung zusammenhängt, die Weserübung kampflos durchzuführen, und überhaupt eine Neigung verrät, Feldzüge als Glücksspiele aufzufassen), Narvik könne nicht gehalten werden und die dortigen Truppen sollten sich nach Süden durchschlagen. Als Haider von den Ansichten über Narvik erfuhr, hielt er fest: "Das dürfen wir, nicht machen" und wollte Rücksprache mit Jodl nehmen. Obwohl das OKH mit der Weserübung kaum befaßt war, erkannte es die strategische Bedeutung von Narvik; die wirren Eingebungen Hitlers, die den Sinn des ganzen Feldzugs in Frage stellten, trachtete es zu vereiteln. Jodl, der seinerseits beim OKH Rückendeckung suchte, kämpfte wie ein Löwe um eine vernünftige Lagebeurteilung und stellte dem Führer vor Augen, anscheinend in ziemlich scharfer Form, daß seine Ideen unbrauchbar seien. Bis zum 18. April gelang es ihm, den Diktator zu überzeugen, daß General Dietl, der in Narvik das Kommando über Teile seiner 3. Gebirgsdivision sowie die Besatzungen der versenkten Zerstörer führte, dort stehenbleiben und je nach den Erfordernissen der Lage verteidigen durfte. In der Tat war die Aufregung reichlich überflüssig, da eine schnelle britische Landung in Narvik gar nicht zustande kam. Über die norwegischen Ereignisse hat Churchill später allerlei phantasievolle Geschichten verbreitet, die den Eindruck erweckten, für das britische Scheitern in Norwegen seien verschiedene Umstände und Personen verantwortlich zu machen, nur am wenigsten er selbst. Ganz so einfach werden aber die Dinge wohl nicht liegen; als Marineminister und Vorsitzender des militärischen Koordinierungsausschusses, der ein gemeinsames Handeln der Teilstreitkräfte herbeizuführen hatte, besetzte Churchill eine Stellung, zu deren Obliegenheiten das Hinwirken auf durchdachte strategische Planung gehörte. Mit der bloßen Stilisierung Churchills zum Heldenbild ist die Frage nach der Verantwortung noch nicht geklärt. Wie dem auch sei, durch die Ereignisse seit dem 9. April geriet jedenfalls die britische Planung für Norwegen außer Tritt; Reste der alten Absichten überschnitten sich mit neuen Maßnahmen, die mit mehr Tatendrang als Überlegung ins Werk gesetzt und noch während der Ausführung schon wieder geändert wurden. Erst am 21. April wurde je ein gemeinsamer Oberkommandierender für die Streitkräfte bei Narvik und bei Trondheim eingesetzt; bis dahin hatte man sich damit beholfen, für zersplitterte Maßnahmen Einzelaufträge an einzelne Befehlshaber zu erteilen, was etwa im Gebiet von Narvik dazu führte, daß dort Mitte April drei verschiedene Be-
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fehlshaber am Werk waren, einer für Bodentruppen, zwei für Seestreitkräfte, die undeutliche und widersprüchliche Anweisungen besaßen und sich auf gemeinsames Handeln nicht einigen konnten. Der Befehlshaber der Bodentruppen war am · 12. April mit schwachen Kräften im Umfang von zwei Kompanien in See gegangen; Verstärkungen sollten folgen, doch wurde ein Teil davon bald darauf gegen Trondheim abgedreht, wo um den 15. April die Landungen bei Namsos und Andalsnes begannen. So hielt sich der besagte Befehlshaber der Bodentruppen für Narvik an seine Anweisungen und landete in einiger Entfernung von Narvik bei Rarstad auf den Lofoten. Die Einlassung Churchills, jener Befehlshaber habe einen schnellen Erfolg gegen Narvik verhindert, ist durch nichts zu belegen; die Behauptung lenkt nur davon ab, daß die verantwortlichen Stellen nicht rechtzeitig eine klare Vorstellung über die Durchführung des Narvik-Unternehmens entwickelten. Churchills Erfolgsrezept war eine Beschießung Narviks mit schwerer Schiffsartillerie, ein Verfahren, das an sich bei Landungen an verteidigter Küste durchwegs angebracht ist, aber erstens den Umständen entsprechend angewandt werden muß und zweitens allein noch keine Gewähr für das Gelingen bietet. Vergleiche sind in diesem Fall immer mißlich, da es auf die Bedingungen des Einzelfalls ankommt. Dennoch sei erwähnt, daß im pazifischen Krieg bei der Landung der Amerikaner auf dem Atoll Tarawa eine Division gegen rund 3 000 japanische Verteidiger angesetzt wurde, während für die Beschießung drei Schlachtschiffe und fünf Kreuzer zur Verfügung standen. Bei Narvik verfügten die Briten ab Mitte April über eine Brigade mit etlichen tausend Mann gegen 2 000 deutsche Gebirgsjäger und rund ebensoviele Marinesoldaten, dazu für die Beschießung über ein Schlachtschiff und eine Anzahl Kreuzer. Nachdem die Kommandoverhältnisse neu geregelt worden waren, fand am 24. April eine Beschießung mit einem Schlachtschiff und drei Kreuzern statt, die kein zufriedenstellendes Ergebnis erbrachte. Eine schnelle Eroberung Narviks war mit diesen Kräften wahrscheinlich nicht möglich; Churchill und andere Verantwortliche hätten besser daran getan, die erforderlichen Kräfte beizeiten zur Verfügung zu stellen. Bei Trondheim verliefen die Ereignisse ähnlich. Während sich die Wehrmacht beeilte, mit ungefähr zwei Divisionen durch Südnorwegen in Richtung Trondheim vorzustoßen, und zugleich die dortigen Truppen auf dem Luftweg verstärkte, landeten Briten und Franzosen bei Namsos und Andalsnes jeweils ungefähr zwei Brigaden. Hitler erzeugte erneut die gewohnte Verwirrung und verlangte, auf dem Seeweg Verstärkungen nach Trondheim oder wenigstens Bergen zu bringen, was ihm Raeder mühsam ausreden mußte, da die Transporte mit einiger Sicherheit vernichtet worden wären. Richtig war es statt dessen, den Vorteil der inneren Linie auszunutzen, welchen die deutsche Seite in Norwegen bereits besaß. Zu einem dauerhaften Festsetzen in Norwegen konnte das alliierte Trondheim-Unternehmen nur führen, wenn es den Westmächten gelang, rechtzeitig die erforderlichen Verstärkungen heranzubringen sowie über der Invasionsfront die Luftüberlegenheit oder Luftherrschaft zu gewinnen. Obwohl bei Trondheim drei alliierte Flugzeug-
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träger eingesetzt wurden (darunter ein französischer), genügte dies für den Gewinn der Luftüberlegenheit nicht; die deutsche Luftwaffe konnte sich weiterhin auf die leistungsfähigen Flugplätze in Norwegen und Dänemark stützen, dazu weitere Kräfte aus dem Reich heranziehen, während die Alliierten den Flugplatz von Trondheim, den sie dringend benötigt hätten, nicht erreichten. Ebensowenig glückte das Heranschaffen der erforderlichen Bodenstreitkräfte: zunächst nicht, weil die gelandeten Verbände über wenig schweres Material verfügten und das vorhandene Material nicht rasch genug von den ungeeigneten Landeplätzen wegbrachten, dann nicht, weil die Luftwaffe durch Angriffe auf Landungsplätze wie Landungstruppen weitere Verluste und Verzögerungen hervorrief, und schließlich nicht, weil im Wettlauf mit den vorrückenden deutschen Verbänden die vorgesehenen Verstärkungen der Alliierten im Umfang von mehreren Divisionen nicht mehr rechtzeitig ans Ziel gelangen konnten. Etwa nach diesem Muster spielten sich die Ereignisse nördlich Trondheim ab, wo die alliierten Truppen aus Namsos auf Trondheim vorrückten, bis sie mangels Masse und geschwächt durch die Luftwaffe von den mittlerweile nicht mehr unterlegenen deutschen Verbänden aus Trondheim aufgehalten und zurückgeschlagen wurden. Vorgesehene Verstärkungen der Alliierten wurden Ende April bereits nach Narvik abgedreht; am 28. April kam der Befehl zum Rückzug aus Namsos. Nicht viel anders war es südlich Trondheim, wo die britischen Truppen aus Andalsnes den deutschen Vormarsch zusammen mit den Norwegern aufhalten sollten, aber mangels Material und Luftunterstützung so schnell zurückgedrängt wurden, daß der geplante südliche Zangenarm zur Umfassung Trondheims nicht mehr zum Tragen kam. Ende April wurde die Verbindung zwischen den deutschen Streitkräften aus Oslo und Trondheim hergestellt. Den allgemeinen Rückzug der alliierten Trondheim-Streitkräfte hatte London am 27. April befohlen; Anfang Mai wurde Mittelnorwegen geräumt. Es blieb Narvik. Ab Anfang Mai kämpften sich deutsche Gebirgsjäger von Trondheim aus auf dem langen und höchst beschwerlichen Weg nach Norden voran, um Narvik zu entsetzen. Zu den alliierten Streitkräften bei Narvik gehörten jetzt ungefähr drei verstärkte Brigaden, darunter Franzosen und Polen. Mitte Mai drängten sie die deutsche Front nördlich Narvik zurück; am 27. Mai begann der Angriff gegen die auf einer Landzunge liegende Stadt selbst. Bis Anfang Juni mußte sich General Dietl entlang der Erzbahn ins Gebirge östlich Narvik zurückziehen. Strategische Bedeutung besaß dies jedoch nicht mehr, da nach dem Beginn des deutschen Westfeldzugs am 10. Mai und dem bald folgenden Zusammenbruch der französischen Front die Westmächte am 24. Mai beschlossen hatten, den Kampf um Narvik abzubrechen. Der Schlußangriff auf die Stadt diente nur noch dem Zweck, den Erzhafen zu zerstören, um wenigstens einen vorübergehenden Erfolg zu erzielen. Ansonsten hatte die Errichtung einer Front in Skandinavien keinen Sinn mehr, wenn Frankreich um sein Leben kämpfte, Britannien selbst bedroht war und die Wehrmacht wahrscheinlich nicht gehindert werden konnte, Norwegen
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doch noch zu erobern. Anfang Juni wurden die alliierten Truppen abtransportiert, am 10. Juni kapitulierten die norwegischen Streitkräfte. Daß der Norwegen-Feldzug zwar strategisch bedeutsam, aber ansonsten ein Unternehmen von geringerer Größenordnung war und zudem von der deutschen Seite geschickt durchgeführt wurde, zeigen die eingetretenen Verluste. Die Wehrmacht beklagte rund 3 700 Tote und Vermißte, die Alliierten (Engländer, Franzosen, Polen) rund 5 000 sowie die Norweger rund 1 300 Tote. Die Luftwaffe bezahlte ihren Einsatz mit doppelt so hohen Verlusten an Flugzeugen (rund 240) wie die Briten; dagegen hielten sich die Verluste an Kriegsschiffen bei der deutschen und britischen Flotte ungefähr die Waage, nachdem die deutschen Schlachtkreuzer bei einem Vorstoß Anfang Juni überraschenderweise noch einen britischen Flugzeugträger versenkt hatten. Abgesehen von ihren militärischen Folgen hatte die deutsche Besetzung Norwegens auch eine wichtige politische Konsequenz. Ausgehend von den Mißerfolgen in Norwegen verdichtete sich in Britannien die Kritik an der Kriegspolitik der Regierung Chamberlain so sehr, daß diese schließlich im Parlament das Vertrauen verlor. Die zwielichtigen Leistungen als Marineminister schlugen auf Churchill nicht zurück; von ihm erwartete man am ehesten eine zukünftig entschlossenere Kriegspolitik. Am 10. Mai wurde Churchill Premierminister eines All-ParteienKabinetts. 56 4. Der Westfeldzug
Bei der Vorbereitung des deutschen Westfeldzuges von 1940 lassen sich zweckmäßigerweise zwei Abschnitte unterscheiden: ein erster im Herbst 1939 und ein zweiter nach der Jahreswende. Soweit nachträglich erkennbar, sah Hitlers Fahrplan vor, nach dem schnellen Sieg über Polen sich gegen den Westen zu wenden, Frankreich zu schlagen, Britannien vom Kontinent zu verdrängen und nach Möglichkeit mit ihm Frieden zu schließen, um sodann den Rücken frei zu haben für die Auseinandersetzung mit der Sowjetunion. Die Absichten des OKH und hoher Befehlshaber der Wehrmacht, im Westen zunächst gar nichts zu unternehmen, um den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden oder vielleicht, wie Haider es erwogen haben mag, Hitlers Stellung in einem längeren Verteidigungskrieg auszuhöhlen diese Absichten mußten von Hitler im Herbst 1939 erst monatelang bekämpft werden. Der Diktator drängte auf den Angriff im Westen sowie auf die Erstellung eines geeigneten Operationsplanes für den Angriff, während das OKH auf einen sol~6 Zum Norwegen-Feldzug G. Wagner, Lagevorträge, 85 ff. Hubatsch, Weserübung, passim und 364 ff. mit dem Tagebuch Jodls und anderen Quellen. Derry, Norway, passim. Loock, Quisling, 271 ff. M. Harvey, Misadventure. Zu Hit1ers Nervenkrise auch Warlimont I, 95 f. Haider nach dessen KTB I, 258 ff. (14./15. 4. 1940) und passim. Ferner Churchill, Zweiter Weltkrieg I/2, 235 ff. Addison, 86 ff.
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eben Plan gar keinen Wert legte, da es entweder, wie Brauchitsch, den Angriff zu verhindem suchte, oder da es, wie Haider und Stülpnagel, den Staatsstreich als vorrangig betrachtete. Diese Haltung des OKH änderte sich erst gegen Jahresende und dann vor allem seit Anfang 1940, nachdem Hitler den Widerstand von Brauchitsch gegen die Kriegsausweitung gebrochen, Haider den Staatsstreich als undurchführbar erkannt und eine Anzahl von Offizieren die Ansicht gewonnen hatte, ohne einen Sieg im Westen, der nach entsprechender Vorbereitung möglich sei, könne der Krieg nicht erfolgreich abgeschlossen werden. Bei der Entstehung des Westfeldzugs sind demnach die erwähnten beiden Abschnitte zu unterscheiden: ein erster, in welchem Hitler mit all seinem Dilettantismus auf den Operationsplan Einfluß zu nehmen suchte, während das OKH sich bedeckt hielt und eigentlich andere Ziele verfolgte, sowie ein zweiter, in welchem das OKH die Sache selbst in die Hand nahm und diejenige Art von Operationsplan entwickelte, für welche Hitler tatsächlich zu verstandesarm war. Nachdem der Diktator am 27. September 1939 den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte (sowie Halder) seine Angriffsabsichten im Westen verkündet und zugleich allerlei zusammenhanglose Erörterungen zum besten gegeben hatte, wie die Offensive vorgenommen werden müsse, hielt Haider am nächsten Tag eine Chefbesprechung im Generalstab des Heeres ab. Dabei übersetzte er die zerfahrenen Auslassungen Hitlers in die knappe, klare Kommandosprache der militärischen Führung und erteilte dem Generalstab den Auftrag, die Frage zu prüfen, wie ein Angriff im Westen zu führen sei mit dem dreifachen Ziel, die holländische und belgisehe Küste als Luftbasis gegen England zu sichern, die alliierten Streitkräfte zu schlagen und mit möglichst weitreichendem Raumgewinn in Nordfrankreich die eigene Luft- und Küstenbasis zu erweitern. Damit hatte Haider zwar eine gefälligere äußere Form für Hitlers Absichten gefunden; man erkennt aber unschwer, daß die angegebenen Ziele nicht demjenigen entsprachen, was der Generalstab sonst unter operativem Denken und eindeutigen Anweisungen verstand. Im Grunde lief das Geforderte ja darauf hinaus, sozusagen in den Gegner hineinzustochem und zu sehen, wie weit man kam, insbesondere möglichst weitreichenden Raumgewinn in Nordfrankreich zu erzielen. Haider übernahm damit Hitlers Forderungen vom Vortag, denn der Diktator hatte dort ausgeführt, Geländegewinn sei das mindeste, besser jedoch sei es, den Feind, vor allem Frankreich, vernichtend zu schlagen. Falls letzteres nicht gelang, wollte Hitler sich auf einen langen Krieg einrichten, das gewonnene Gelände durch Tausende von Betonbauten schützen und wenigstens die Luftwaffen- und Marinebasis für den Kampf gegen England verbessern. Begründet wurde dies mit der Sorge um das Ruhrgebiet, denn Belgien werde seine Neutralität nicht wahren können, und wenn der Gegner erst an der deutschen Grenze stehe, werde er das Ruhrgebiet zerschlagen. Unmißverständlich ging aus Hitlers Worten nur hervor, daß er angreifen wollte; alles andere verharrte im Nebel unscharfen Denkens, ungenauen Schlußfolgeros und willkürlichen Zusarnmenklaubens von Behauptungen. Offen blieb, ob sich das Ruhrgebiet wirklich nur durch eine Offensive schützen ließ; offen blieb, ob die
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Wehrmacht zu einer derartigen Offensive demnächst imstande war; offen blieb, ob der erstrebte Geländegewinn für den Kampf gegen England viel nützte und welcher Geländegewinn überhaupt erforderlich war; offen blieb, wie der Geländegewinn behauptet und wie ein langer Krieg durchgestanden werden sollte, wenn der Gegner nicht vernichtend geschlagen wurde; und offen blieb schließlich der Zweck des ganzen Unternehmens: sollte nun durch vernichtendes Schlagen des Gegners der Krieg gewonnen werden oder sollte durch Schutz des Ruhrgebiets und Geländegewinn die Fortsetzung des Krieges ermöglicht werden? Angesichts soviel militärischen Unverstandes diente Halders Auftrag an den Generalstab nur scheinbar der Vorbereitung eines Angriffs, auch wenn Haider schon bis zum nächsten Morgen (29. September) von der Operationsabteilung einen groben Operationsentwurf verlangte. In Wahrheit bestand, wie der Generalstabschef aufzeichnete, "höchster Zeitdruck, um rohe Unterlagen für grundlegende Auseinandersetzung mit Führer zu schaffen über das Mögliche", wobei es "keine Engherzigkeilen und Schüchternheiten" geben sollte. Das Mögliche war, wie Brauchitsch und Haider nach dem Krieg übereinstimmend aussagten, eine Operation im Nachzug, bei welcher ein Angriff der Westmächte durch neutrales Gebiet in Richtung auf das Ruhrgebiet abgewartet wurde, um ihn dann in beweglicher Verteidigung, d. h. durch einen operativen Gegenstoß, zu zerschlagen. Eben dies wird durch Halders Aufzeichnungen bestätigt, denn am 29. September einigte er sich mit Brauchitsch über die Gedankenbildung des OKH, die dem Führer vorgetragen werden sollte. Sie sah zum Schutz des Ruhrgebiets eine Bereitstellung vor, die es ermöglichte, im Falle eines französischen Antretens die zweckmäßigen Gegenmaßnahmen einzuleiten, was nach herkömmlicher deutscher Generalstabsschulung nur heißen konnte, den vorstoßenden Gegner nach Möglichkeit in der Flanke zu fassen. In diesem Sinn machte sich das OKH Gedanken über die Ausstattung der "Gegenangriffswelle" mit schwerer Artillerie, Panzerabwehr sowie Flugzeugen zum Angriff auf die gegnerischen Marschkolonnen. Überzeugen ließ Hitler sich nicht. Anscheinend trugen ihm Haider und Brauchitsch am 7. Oktober ihren Plan einer Operation im Nachzug vor, woraufhin der Diktator betonte, die deutsche Seite dürfe nicht abwarten, bis Frankreich von Belgien zu Hilfe gerufen werde, also in Belgien einmarschiere; Frankreich werde das zur Zeit der Herbstnebel tun. Deutschland müsse dem zuvorkommen mit einer entscheidungssuchenden Operation, auch wenn das Ziel der Entscheidung nicht erreicht werde, sondern nur eine Linie, die das Ruhrgebiet schütze. Darin war in knappster Form Hitlers Ziel enthalten: eine entscheidungssuchende Operation, welche die Entscheidung nur auf gut Glück suchte, ohne daß eine zwingende Notwendigkeit für eine solche Operation vorlag, ohne Rücksicht auf ihre unzureichenden Voraussetzungen und ihre voraussichtlich ebenso unzureichenden Ergebnisse. Gewiß mag in einem Krieg der Fall eintreten, daß man in mehr oder weniger hoffnungsloser Lage bloß noch auf das Glück einer Verzweiflungsaktion baut, weil andernfalls ohnedies nichts mehr zu retten ist. Aber eine solche Lage war im Herbst 1939 nicht gegeben; selbst wenn die Westmächte unter Bruch der Neutralität auf
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das Ruhrgebiet vorstießen, was bei nüchterner Abwägung eigentlich nicht zu befürchten stand, so blieb doch immer noch die Möglichkeit, dem Angriff erfolgreich die Spitze abzubrechen und das Ruhrgebiet auf diese Weise zu schützen. Insofern lag ein wesentlicher Unterschied gegenüber dem Unternehmen Weserübung vor, denn die Bedrohung Skandinaviens konnte nur durch einen wohlvorbereiteten Präventivschlag abgewendet werden, während die Bedrohung des Ruhrgebiets, sofern sie überhaupt bestand, weder einen Präventivschlag erforderte noch durch einen Angriff, wie Hitler ihn vorhatte, dauerhaft zu gewährleisten war. Es ist an dieser Stelle noch einmal an die unvollständige Ausrüstung und Ausbildung des Heeres zu erinnern, namentlich an die geringen Munitionsvorräte, die nach den früher erwähnten Rechnungen bestenfalls für eine sechswöchige Kriegführung reichten. Mit solchen Vorräten ließ sich nichts anderes durchführen als ein überlegter, schnell und hart zuschlagender operativer Gegenstoß, der einen feindlichen Angriff vorwärts der Reichsgrenzen zum Stehen brachte. Dagegen würde eine Offensive der unzureichenden deutschen Kräfte den Gegner nicht entscheidend schlagen können, sie würde vielmehr im Vorfeld des Ruhrgebiets versanden und nach Verbrauch des Munitionsvorrats einfach zusammenbrechen, so daß der Gegner anschließend die Wehrmacht zu überwältigen und nach Belieben tief ins Reich vorzudringen vermochte. Unter diesen Umständen verbot sich ein baldiger deutscher Angriff von selbst; erst wenn nach einer Kriegspause die Schlagkraft der Wehrmacht durch das Vervollständigen von Ausrüstung, Ausbildung und Vorräten gesteigert war, durfte man einem solchen Unternehmen nähertreten. Dies war die Lagebeurteilung der militärischen Fachleute, nur diejenige Hitlers war es nicht. Während des Krieges und danach ist das Gerücht entstanden, Hitler habe, wiewohl fachmilitärisch wenig geschult, doch eine gewisse natürliche Genialität besessen, die es ihm erlaubte, grundlegende und neuartige Gedanken zur Operationsführung zu entwickeln, auf denen sich erfolgreiche Feldzüge aufbauen ließen. Demgegenüber ist ein für allemal festzuhalten, daß Hitler auf militärischem Gebiet genau dasselbe war wie auf weltanschaulichem: ein fanatisierter, verantwortungsloser Schwätzer, den die politischen Umstände nach oben gespült hatten, den Halders Staatsstreichversuche nicht aufzuhalten vermochten, ein kenntnisloser Schwadroneur, der zum Erwerb tiefgründiger Sachkunde weder fähig noch willens war, vielmehr in der Weltanschauung bei seiner absurden Rassen- und Lebensraumtheorie verharrte, während er auf militärischem Gebiet nichts anderes zuwege brachte als oberflächliche, vorurteilsbeladene Lageanalysen, halbgare oder schlicht unsinnige Einfälle und sprunghafte Entschlüsse, die Halder einmal mit seinem Wegelagererinstinkt zu erklären versuchte. Günstigstenfalls ließ Hitler sich haltlose Eingebungen wieder ausreden, doch geschah dies selten, und insgesamt beschränkte sich seine Führungstätigkeit in der Regel darauf, die wohldurchdachten Pläne der Fachleute zu verwirren, wo nicht zuschanden zu machen. Hitler und seine engeren Gefolgsleute setzten dasjenige fort, was sie vor dem Krieg begonnen hatten: Sie stützten sich zwar noch auf den Sachverstand und die
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Mitarbeit der Fachleute, nunmehr vor allem der Fachleute aus der Wehrmacht, die weniger der Diktatur als vielmehr dem Vaterland zu dienen meinten, aber Hitler und seine Gefolgsleute suchten jenen Sachverstand zunehmend zu überlagern und außer Kraft zu setzen durch ihre eigenen Entwürfe, sie suchten die Fachleute mehr und mehr zu bloßen Handlangem zu machen, die nur noch Befehle auszuführen hatten. Denn für Hitler war dieser Krieg kein gewöhnlicher Krieg, der lediglich Großmachtpolitik mit anderen Mitteln fortsetzte, kein Krieg, in welchem vernunftgeleitetes Denken die Grenzen politischen wie militärischen Handeins zog. Sondern dieser Krieg war für Hitler und seine engeren Gefolgsleute ein revolutionärer Krieg, letztlich ein Krieg um die rassische Weltrevolution, ein Krieg, der auf der Grundlage fachmännischen Denkens gar nicht geführt werden durfte und von dem die Fachleute stets abgeraten hatten, ein Krieg schließlich, in welchem die neue Herrenrasse, mit Hitler an der Spitze, ihren eigenen Aufstieg zu verwirklichen und ihren Willen durchzusetzen hatte gegen beschränkte, entschlußlose oder gar feige Generale, gegen all die willensschwachen Zauderer, die den Führer mit ihren kleinlichen Bedenken bloß behinderten beim Kampf um die Umgestaltung der Welt. Dieser Krieg war Hitlers Krieg, nicht der Krieg der Generale und nicht der Krieg des Volkes; ein Krieg, in welchem sie alle, Generale, Wehrmacht und Volk, dem Führer zu folgen hatten bei der gewaltigen Aufgabe, der Welt das Heil zu bringen aus dem Geist der Rasse. Mit dem herkömmlichen Denken der Generale war dieser Krieg sowieso nicht zu führen, das hatten die Generale immer wieder betont; also hielt Hitler sich durchaus im Rahmen seiner eigenen abwegigen Logik, wenn er das herkömmliche Denken der Generale weitgehend auszuschalten suchte. An dessen Stelle setzte er seine eigenen Vorstellungen, er machte sich selbst zum Feldherrn und gab den Generalen vor, was sie auf strategischer wie operativer und taktischer Ebene zu tun hatten. Einem Herrenmenschen stand so etwas zu; außerdem erfüllte es den Sinn der rassisch bestimmten Weltgeschichte. Daß hier in Wahrheit ein wildgewordener Ignorant das Schicksal von Völkern in die Hand nahm, schälte sich für viele zu spät heraus. 57 Bis zum 9. Oktober verfaßte Hitler eine Denkschrift, in welcher er seine Ansichten noch einmal zusammenstellte. Darin verwies er einerseits auf den Faktor Zeit, der gegen Deutschland arbeite, sowie auf die Gefährdung des Ruhrgebiets. Daraus schloß er andererseits, die Wehrmacht müsse möglichst umgehend angreifen, und lieferte gleich eine Anzahl operativer und taktischer Verhaltensmaßregeln mit, wie der Angriff zu gestalten sei. Ansonsten enthielt die Denkschrift nichts Neues; ob die gegnerische Streitmacht vernichtet oder nur Geländegewinn erzielt werden solle, blieb weiterhin ungeklärt, und die fachmilitärischen Regieanweisungen bewegten sich auf einer Ebene, für welche der Ausdruck läppisch nicht zu stark ist. 57 Hitler am 27. 9. 1939, Haider am 28. 9. 1939, Haider und Brauerutsch über Gegenangriff am 29.9. und 4. 10. 1939 nach Haider, KTB I, 86ff., 91 ff., 93 f., 97. Brauchitsch und Haider über Operation im Nachzug in IMG, Bd 20, 627, sowie Haider, Hitler, 28. Hitler am 7. 10. 1939 in Halder, KTB I, 99. Haider über Hitlers Wegelagererinstinkt in Haider, Hitler,
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Das muß einmal unmißverständlich ausgesprochen werden; es hat keinen Wert, um den heißen Brei herumzugehen und die Tatsache außer acht zu lassen, daß das Militärhandwerk Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt, welche der Offizier, zumal der höhere, erst durch lange, oft mühsame Ausbildung und Erfahrung erwirbt, was nach der Regel auch nur den klügeren Köpfen in vollem Umfang gelingt. Solche Kenntnisse und Fähigkeiten hatte Hitler nie erworben, weder durch Ausbildung noch anderswie; das auswendige Herunterbeten von Geschützkalibern, mit welchem Hitler manchen verblüffte, stellt keine bemerkenswerte Leistung dar schließlich gilt ja auch niemand als Dichter, nur weil er ein Gedicht auswendig kann. In der besagten Denkschrift verkündete Hitler solch umwerfende Erkenntnisse wie die, bei dem vorgesehenen Feldzug könne es notwendig werden, an manchen Stellen stärkere Kräfte und an anderen Stellen schwächere einzusetzen. Das pflegt im Krieg öfters so zu sein; mit der Feststellung, wo und warum stärkere oder schwächere Kräfte anzusetzen sind, fängt die Kriegskunst erst an, und dazu hatte Hitler nichts beizusteuern. Hitler wußte aber noch mehr, z. B. wollte er durch schnellste Flugzeuge mit wenigen leichten Bomben Eisenbahnlinien angreifen, nicht jedoch Züge und Bahnhöfe. Das war typisch für Hitlers Denkstil, für seine Sucht, sich ungeprüft irgendetwas auszudenken, für sein Kleben an nebensächlichen Einzelheiten und für seine Unfähigkeit, den sachlichen Zusammenhang eines größeren Ganzen zu begreifen. Die taktischen Einsatzverfahren bestimmter Waffen und Geräte gegen bestimmte Ziele werden in der militärischen Routinearbeit untersucht, verbessert und verbindlich festgelegt; auf die laienhaften Ergüsse von Außenstehenden, die den Krieg als Indianerspiel auffassen, ist man dabei zum Glück nicht angewiesen. Was für Ziele angegriffen werden, ist sodann Frage eines größeren, operativen oder sogar strategischen Zusammenhanges, in welchem der Luftkrieg stattfindet; zu den Zielen können, je nach den Umständen, Eisenbahnlinien gehören, doch mag der Einsatz gegen Verkehrsknotenpunkte und Bahnhöfe viel wirkungsvoller sein; außerdem hängt es vom Operationsplan oder der Lageentwicklung ab, wann, wo und wie Verkehrsverbindungen oder andere Ziele angegriffen werden, jede Festlegung außerhalb eines größeren operativen Zusammenhangs ist überflüssig und unsachgemäß. Hitler freilich kam aus der Gefreitenperspektive des Ersten Weltkriegs nie heraus; das Kunstwerk einer neuzeitlichen Generalstabskarte war für ihn, wie Haider berichtet, ein unlösbares Geheimnis, so daß er sich an taktischen Nebensächlichkeiten festhielt und für die großen Linien der Operationsführung irgendwelche bunten Muster zu stricken versuchte, ohne das leiseste Verständnis dafür, daß ein Operationsplan ein höchst verzweigtes und verschachteltes Netzwerk verschiedener Größen darstellt, ein Beziehungsgeflecht, in welchem Zeit, Raum, die beiderseitigen Kräfte sowie die Art ihrer Verwendung untrennbar miteinander verknüpft sind und wechselseitig aufeinander einwirken. Die gängige Formel "Operation ist Bewegung" läßt dies trotz ihrer etwas schematischen Verkürzung erahnen: Bewegung ist ein relationaler Begriff, bei welchem verschiedene Dinge zueinander in
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ein Verhältnis treten. Demgemäß ist Operation ein Vorgang, bei welchem ein Netzwerk von Beziehungen erstellt wird: Kräfte sind im Raum verteilt, ändern ihren Ort mit gewissen Geschwindigkeiten (wobei gerade die Schnelligkeit vielfach von ausschlaggebender Bedeutung ist), erzeugen dadurch ein bestimmtes Verhältnis der beiderseitigen Kräfte im Raum und dienen dergestalt dem Zweck, selbst Vorteile zu erringen bzw. den Gegner in eine ungünstige Lage zu versetzen, z. B. ihn auf solche Weise zur Schlacht zu zwingen, daß er die Schlacht mit einiger Sicherheit verlieren muß. An dem oft genannten Beispiel der Kesselschlacht läßt sich dies verdeutlichen und anschaulich machen. Eine Kesselschlacht stellt, im Rahmen eines umgreifenden operativen Zusammenhangs, ein Verfahren dar, mittels des Kräfteansatzes und mittels der Bewegung ein solches Verhältnis der beiderseitigen Kräfte im Raum herbeizuführen, daß eine gegnerische Streitmacht jede Bewegungsmöglichkeit verliert und mehr oder weniger vollständig vernichtet werden kann. Bekanntlich spielten Kesselschlachten im Zweiten Weltkrieg eine herausragende Rolle, zudem traten dabei regelmäßig motorisierte bzw. gepanzerte Kräfte in Erscheinung. Man sollte sich indes davor hüten, den Begriff Operation auf allzu vordergründige Weise mit den Panzern oder der Kesselschlacht in Verbindung zu bringen. Operationen gibt es in der Geschichte des Krieges seit eh und je, und der Gedanke, eine gegnerische Streitmacht durch Einkesselung zu vernichten, ist mindestens Jahrtausende alt. Was mit der Motorisierung und den Panzern in die Kriegskunst Eingang fand, war lediglich eine erhebliche Steigerung der Beweglichkeit wie der Kampfkraft, die der Operation ein neues Gesicht gab. Das bloße Vortreiben von Panzerkeilen ist allein noch keine Operation, sondern eine taktische Maßnahme. Eine Operation, ein umgreifender Operationsplan bzw. eine tragende Operationsidee entstehen erst dann, wenn die Beweglichkeit und Kampfkraft von Panzern oder motorisierten Verbänden eingeordnet werden in einen Entwurf, der jenes vorhin beschriebene Beziehungsgeflecht erzeugt, insbesondere das eigene Verhalten stets in eine geeignete Relation setzt zu demjenigen des Gegners. Andernfalls wird man dem Gegner nie den eigenen Willen aufzwingen, vielmehr mag sich dann bald herausstellen, daß der Gegner klüger, geschickter und schneller ist sowie ein Verhältnis der Kräfte im Raum erzeugt, das es ihm erlaubt, die Oberhand zu gewinnen oder am Ende die eigenen Streitkräfte in die Falle zu lokken. Auch das hat Hitler nie begriffen. In der erwähnten Denkschrift meinte er, die Panzerwaffe müsse die operative Vorwärtsbewegung des Heeres in Fluß halten, dazu müßten die an verschiedenen Stellen angesetzten Panzerverbände sich gegenseitig entlasten. Das klingt fachmännisch und ist in Wahrheit inhaltlich nichtssagend. Was mit der operativen Vorwärtsbewegung letztlich erreicht werden sollte, blieb ebenso ungeklärt wie die Frage, was der Feind dagegen zu unternehmen vermochte. Hitlers Vorstellungen liefen tatsächlich auf ein bloßes Hineinstochern in den Gegner hinaus, auf ein planloses taktisches Drauflosschlagen, in welchem der Wille zum Sieg jede fachmännische Überlegung ersetzen sollte.
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Seine Denkschrift trug der Diktator am 10. Oktober dem Oberbefehlshaber des Heeres und Haider vor; dazu erließ er unter dem Datum des 9. Oktober eine Weisung über den Angriff, die zwar im Wehrmachtführungsamt angefertigt wurde, aber ausschließlich Hitlers Auffassungen wiedergab. Wie bisher schon stellte der Diktator seine Angriffsabsicht unter den Vorbehalt, die Unerreichbarkeit eines Friedens müsse erwiesen sein. Da sich der Vorbehalt schnell als Vorwand entpuppte, wurde der Angriff zum verbindlichen Vorhaben, das laut Weisung so stark und so frühzeitig wie möglich durchgeführt werden mußte. Der Zeitpunkt des Angriffs sollte von der Verwendungsbereitschaft der motorisierten Verbände abhängen, die mit aller Anspannung zu beschleunigen war, sowie von der dann gegebenen und in Aussicht stehenden Wetterlage. In dieser Formulierung könnte man ein kleines Schlupfloch erblicken, da die Wetterlage im Herbst und Winter nach aller Voraussicht für den Angriff immer ungünstig sein würde. Gemäß den vorliegenden Zeugnissen war es jedoch Hitler mit seinen Angriffsabsichten Ernst; er wollte nicht bloß, wie man immerhin vermuten könnte, das OKH aus seiner defensiven Haltung reißen und wenigstens zur Vorbereitung einer Offensive zwingen, sondern er wollte wirklich noch im Herbst angreifen, wenn schon nicht ganz unabhängig von der Wetterlage, so jedenfalls dann, wenn sich kurzfristig eine Wetterbesserung abzeichnete. Da dies nicht eintrat, wurde der zeitweise auf den 12. November gesetzte Angriffstermin immer wieder verschoben, wobei sich ab Ende November zunehmend der Eindruck ausbreitete, mit einer baldigen Offensive brauche nicht mehr gerechnet zu werden. Mitte Januar 1940 vertagte Hitler dann den Angriff auf das kommende Frühjahr. Eine vernünftige Planung hätte wohl von vornherein auf einen derartigen Termin abgehoben, um in der Zwischenzeit dem Heer die Angriffskraft zu geben, welche es im Herbst 1939 noch nicht besaß. Aber vernünftige Planung war nicht die Grundlage der Hitlerschen Weisung vom 9. Oktober, auch nicht in Hinblick auf den Zweck der vorgesehenen Angriffsoperation. Von dieser hieß es, sie sei durch den luxemburgisch-belgischen und holländischen Raum zu führen und diene dem Zweck, möglichst starke Teile des französischen Operationsheeres und die an seiner Seite fechtenden Verbündeten zu schlagen, sowie gleichzeitig möglichst viel holländischen, belgiseben und nordfranzösischen Raum als Basis für eine aussichtsreiche Luft- und Seekriegführung gegen England und als weites Vorfeld des lebenswichtigen Ruhrgebietes zu gewinnen. Hitler mochte sich nach wie vor nicht entscheiden, was er nun eigentlich anstrebte: eine Entscheidungsschlacht oder bloßen Geländegewinn, und selbst der Gedanke der Entscheidungsschlacht war noch einmal verwässert, weil jetzt nur mehr möglichst starke Teile des französischen Operationsheeres geschlagen werden sollten. Das unterschied sich deutlich von der Weisung für den Polenfeldzug, denn dort hatten Wehrmacht und Heer den Auftrag erhalten, die polnischen Streitkräfte bzw. das polnische Heer zu vernichten. Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Operationsidee Hitlers Weisung für den Westangriff enthalten habe (im Grunde enthielt sie wohl gar keine). Während Haider nach dem Krieg meinte, es habe sich um einen phantasie-
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losen Abklatsch des Schlieffen-Plans gehandelt, vertreten andere die Ansicht, jeder Vergleich mit dem Schlieffen-Plan sei unzulässig. Richtig ist in gewisser Weise beides. Der Kerngedanke des Schlieffen-Plans im Ersten Weltkrieg war es gewesen, durch einen Vorstoß über Belgien und Nordfrankreich das französische Heer zu umfassen und in einer Art von großer Kesselschlacht zu vernichten. Derartiges war in Hitlers Weisung sicher nicht enthalten, da weder eine Vernichtung des französischen Heeres verbindlich vorgesehen wurde noch irgendwelche planefischen Vorkehrungen existierten, um sie zu erreichen; außerdem hätten die deutschen Kräfte dafür sowieso nicht ausgereicht. Auf der anderen Seite hatte Haider insofern recht, als die Durchführung des Schlieffen-Plans bekanntlich nicht gelungen war. Die deutschen Armeen waren in Nordfrankreich steckengeblieben und anschließend in den Stellungskrieg gezwungen worden. Der deutschen Offensive gemäß Hitlers Weisung würde es ähnlich ergehen: Falls sie überhaupt bis Nordfrankreich durchdrang, würde sie spätestens dort steckenbleiben und anschließend entweder im Zermürbungskrieg enden oder nach Verbrauch ihrer Kräfte zurückgeschlagen werden. 58 Dem OKH oblag es nun, auf der Grundlage von Hitlers Weisung eine Aufmarschanweisung für das Heer zu erstellen. Nach den gängigen Gepflogenheiten hätte diese Aufmarschanweisung zugleich einen Operationsplan für das Heer enthalten können, falls Hitler darauf Bedacht genommen hätte, die Voraussetzungen für eine einigermaßen aussichtsreiche Operation abzuklären. Da dies nicht der Fall war, vermochte das OKH einen erfolgversprechenden Operationsplan auch nicht vorzulegen. Außerdem darf man ohne weiteres annehmen, daß Haider und sein Oberquartiermeister für Operationsfragen, Stülpnagel, keinen Wert darauf legten, das Unmögliche zu versuchen, da die Streitkräfte zweifellos einem Umsturzversuch umso eher folgen würden, je offenkundiger der Aberwitz von Hitlers Angriffsbefehl war. So hielt sich die Aufmarschanweisung vom 19. Oktober eng an Hitlers Vorgaben, insbesondere an die verwaschene Zielsetzung, zugleich möglichst viel Gelände zu gewinnen und möglichst starke Teile der gegnerischen Heere zu schlagen. Hierfür sah das OKH eine ziemlich anspruchslose Operation vor, die von zwei Heeresgruppen, B nördlich und A südlich, geführt werden sowie ungefähr 70 Divisionen zum Einsatz bringen sollte. Der Schwerpunkt lag bei Heeresgruppe B, welche die belgiseben Grenzbefestigungen nördlich und südlich Lüttich durchbrechen und anschließend, vor allem mit schnellen Truppen, bis zur belgischen Küste vorstoßen sollte. Die linke Flanke dieses Vorstoßes war von der schwächeren Heeresgruppe A gegen Angriffe aus Süden und Südwesten zu dekss Hit1ers Denkschrift vom 9. 10. 1939 in Jacobsen, Vorgeschichte, 4ff. Hit1ers Verständnis einer Generalstabskarte nach Halder, Hitler, 24. Über die taktische Bedeutung von Panzerkeilen Steiger, Panzertaktik, 32 und passim. Hitlers Weisung vom 9. 10. 1939 sowie die Weisung für den Polenfeldzug vom 3. 4. 1939 bei Hubatsch, Weisungen, 37 f., 19 ff. Vgl. Halder, KTB I, 101 ff. (10. 10. 1939). Warlimont I, 65. Zur Verschiebung des Angriffs Jacobsen, Gelb, 49 ff., 89 ff. , 214 ff. Dazu Halder, KTB I, !58 ff., 167 ff. Über Operationsidee Haider, Hitler, 28; Jacobsen, Gelb, 31 ff.; MGFA, Weltkrieg II, 245 f. (Beitrag Umbreit).
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ken. Es handelte sich also um einen schlichten, ziemlich geradlinigen Vorstoß von der Reichsgrenze in westlicher Richtung quer durch Belgien, bei welchem lediglich die unterlegenen belgiseben (nebenbei auch die niederländischen) Streitkräfte rasch zu überrennen waren, wogegen über die entscheidende Frage, wie die französischen Streitkräfte geschlagen werden sollten, keine deutlichen Aussagen gemacht wurden. Das lag sicher nicht an der Unzulänglichkeit der deutschen Generalstabsarbeit, sondern es war vom OKH so beabsichtigt; der unüberlegten Weisung Hitlers setzte das OKH einen Operationsplan entgegen, welcher als Minimallösung Geländegewinn in Belgien (und Holland) vorsah, jedoch keine FesHegungen traf über den Kampf gegen die überlegenen Streitkräfte der Westmächte. Was sich das OKH von einer solchen Operation versprach, kann man am besten aus den Stellungnahmen der Oberbefehlshaber der einzelnen Heeresgruppen entnehmen, denn diese Offiziere, mit den Grundsätzen des deutschen operativen Denkens bestens vertraut, waren selbstverständlich imstande, eine zutreffende Lagebeurteilung abzugeben sowie die Aussichten einer Operation abzuschätzen. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, Generaloberst von Bock, kam in Übereinstimmung mit seinen Armeeoberbefehlshabern bis zum 12. Oktober, noch vor der Aufmarschanweisung des OKH, zu dem Ergebnis, der Westangriff habe keine Aussicht auf kriegsentscheidenden Erfolg, so daß man lieber das geringe Risiko auf sich nehmen solle, eine Offensive der Westmächte abzuwarten. Ähnlich äußerte sich Generaloberst von Leeb, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe C, die abseits der Angriffsfront nur zu verteidigen hatte. In zwei Denkschriften vom 11. und 31. Oktober strich er heraus, zu einer Vernichtung des französisch-britischen Heeres werde es bestimmt nicht kommen, vielmehr werde ein deutscher Angriff zum Stellungskrieg führen, entweder an der französischen Grenze oder schon auf belgischem Boden. Dem sei Deutschland auf die Dauer nicht gewachsen, während die Wehrmacht begründete Aussicht besitze, einen unwahrscheinlichen Angriff der Westmächte zurückzuschlagen. Geteilt wurde diese Auffassung vom Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, Generaloberst von Rundstedt, der in einer Denkschrift vom 31. Oktober, welche die Bedenken seiner Armeeoberbefehlshaber berücksichtigte, die derzeitigen Schwächen des deutschen Heees hervorhob, ein Festfressen der deutschen Offensive spätestens in Nordfrankreich vorhersah und statt dessen empfahl, einen Angriff des Gegners abzuwarten. Das entsprach der Vorstellung des OKH von einer Operation im Nachzug, über welche Rundstedt sagte, der Augenblick der siegreichen Entscheidung werde gekommen sein, sobald wir den Gegner zum Angriff zwingen. 59 Eine sachgerechte Lösung dieser Art war gegen den selbsternannten Feldherrn Hitler nicht durchzusetzen. Was sich tatsächlich ergab, mehr durch Zufall und die Gunst der Umstände (bzw. die Ungunst des Wetters) als durch Vernunft und Ein59 Die Aufmarschanweisung vom 19. 10. 1939 in Jacobsen, Vorgeschichte, 41 ff. Dazu Jod], Tagebuch, WaG 12, 277 (15. 10. 1939). Die Ansichten Bocks, Leebs und Rundstedts in Jacobsen, Gelb, 26; sowie Jacobsen, Vorgeschichte, 79 ff., 119 ff.
11 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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sieht, war eine fortwährende Verschiebung des Angriffs bis zum Frühjahr 1940. Die gewonnene Zeit wurde von OKH und OKW ausgenützt, um dem Heer wie der Wehrmacht allgemein jenen Stärkezuwachs zu verschaffen, der einen aussichtsreichen Westfeldzug erst möglich machte. In verschiedenen "Wellen" stellte das Heer neue Divisionen auf, wodurch die Zahl der Divisionen von 103 bei Kriegsausbruch auf 157 Anfang Mai 1940 stieg. Noch wichtiger war die Verbesserung des Ausbildungsstandes der Verbände. Bis gegen Ende 1939 durften lediglich die rund 50 aktiven Divisionen des Friedensheeres als einsatzfähig für alle Aufgaben gelten, dazu kamen acht Divisionen, die für schwere Aufgaben bedingt einsatzfähig waren; alle anderen eigneten sich bloß für leichte Aufgaben, insbesondere in der Verteidigung. Bis Anfang Mai 1940 wuchs die Zahl der voll einsatzbereiten Divisionen auf 77, die Zahl der für schwere Aufgaben bedingt verwendbaren auf 29, so daß sich insgesamt fast eine Verdoppelung der besseren Divisionen ergab. Die Zahl der schnellen Divisionen blieb etwa gleich, doch stellte sich eine Verstärkung der Kampfkraft ein durch die bereits vor dem Krieg geplante Umrüstung der vier leichten Divisionen zu Panzerdivisionen sowie vor allem durch die Vermehrung der mittelschweren Kampfwagen. Zwar mußten nach wie vor leichte Panzer (Typen I und II) verwendet werden, die eigentlich nur einen Notbehelf darstellten, doch stieg die Anzahl der mittleren Panzer (Typen III und IV sowie tschechische Panzer mit vergleichbarem Kampfwert) von ungefähr 600 bei Kriegsbeginn auf rund 1100 Anfang Mai 1940, nach anderen Angaben auf gut 1400. Wiewohl im Organisationsdschungel des Dritten Reiches die Mobilmachung der Wirtschaft sowie die Steigerung der Rüstungsproduktion nur schleppend anliefen, konnte die Ausstattung der Streitkräfte nennenswert verbessert werden. Zwischen dem 1. Oktober 1939 und dem 1. Mai 1940 nahm die Zahl der vorhandenen Flugzeuge von rund 4 800 auf rund 5 900 zu, wobei Jagdflugzeuge und Bomber (ohne Begleitjäger und Stukas) etwa um die Hälfte vermehrt wurden; ebenso wuchs der Bestand an Waffen, z. B. an Maschinengewehren um rund die Hälfte, an Granatwerfern fast auf das Doppelte; und die Munitionsvorräte wurden erheblich aufgestockt, so die Panzer- und Panzerabwehrmunition sowie die Artilleriemunition auf ungefähr das Doppelte. Ein fortwährender Engpaß blieb die Lage bei Kraftfahrzeugen, vor allem Lastwagen, denn der Mangel an Gummi ließ bloß eine begrenzte Fertigung von Lastwagen zu, außerdem sorgte das von Hitler geförderte Gegeneinander der Dienststellen und Wehrmachtsteile nicht für ein sinnvolles Ausschöpfen knapper Hilfsmittel, sondern für Verteilungskämpfe, bei denen das Heer gegenüber Görings Luftwaffe öfters ins Hintertreffen geriet. Die rechnerisch mögliche Fertigung von rund 4 000 Lastwagen für das Militär pro Monat wurde lediglich zwischen April und Juli 1940 erreicht, womit das Heer nicht alle Löcher stopfen konnte, so daß Haider und der Generalstab zu verschiedenen Aushilfslösungen greifen mußten. Dazu gehörte die zusätzliche Entnahme von rund 16 000 Lastwagen aus der Wirtschaft auf Grund der Mobilmachungsbestimmungen, was wohl dem Heer Entlastung brachte, jedoch in der Wirtschaft die Transportprobleme verschärfte. Dazu gehörte ferner ein Kürzen der Kraftfahrzeugaus-
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stattung bei den schwächeren Divisionen (Entmotorisierung), was im Interesse der Beweglichkeit durch einen stärkeren Rückgriff auf Pferdebespannung und Pferdefahrzeuge ausgeglichen wurde, aber damit wiederum knappe Fortbewegungsmittel beanspruchte. Drittens gehörte dazu eine verbesserte Instandhaltung durch vermehrten Einsatz von Werkstattpersonal beim Heer, was den verfügbaren Bestand an Kraftfahrzeugen besser auszunützen erlaubte, freilich dem vorhandenen Mangel auch nicht abhalf. Immerhin konnte Haider auf Grund der getroffenen Maßnahmen am 12. April 1940 verzeichnen, bei den Armeen im Westen sei die Kraftfahrzeuglage befriedigend. Das Heer war nun, anders als im Herbst 1939, zu weitreichenden Operationen imstande, wenn auch nicht für unbegrenzte Zeit. Ähnliches galt für die Treibstofflage, über welche Haider im April festhielt, daß sie für mehrere Monate uneingeschränkt Operationen zuließ. 60 Truppen und Waffen waren da; was man zum Sieg jetzt noch benötigte, war ein brauchbarer Operationsplan. Der Operationsplan, welcher dann zum Sieg im Westfeldzug führte, wurde vom OKH entwickelt, insbesondere von Haider in Gemeinschaft mit dem Generalstab des Heeres, und von niemandem sonst. Das hat Haider nach dem Krieg angedeutet, und genau so verhält es sich. Schon der Umstand gibt zu denken, daß Haider an der Jahreswende 1939/40 für eine Westoffensive große Erfolgsmöglichkeiten sah. Er würde sich schwerlich so geäußert haben, wenn er nicht begründete Vorstellungen über die erfolgversprechende operative Anlage des Feldzugs besessen hätte. Diese Vorstellungen entstanden im OKH Ende September/ Anfang Oktober 1939, als Brauchitsch und Haider sich bemühten, dem Diktator den Gedanken einer Operation im Nachzug nahezubringen. Haider berichtet darüber, das OKH habe sich darauf eingestellt, im Falle eines gegnerischen Vorstoßes durch Belgien "bei Beginn der Bewegungen den Schwerpunkt des Angriffs" (d. h. des Gegenangriffs) "in kürzester Frist im Sinne seiner eigenen Überlegungen in die Ardennen zu verlegen." Dieser Gedanke sei vom OKH im Rahmen des operativen Gegenzugs gegen einen feindlichen Vormarsch in Belgien erörtert, damals aber von Hitler mit dem Gesamtplan, der dem Feind die Initiative überlassen hatte, abgelehnt worden. Ein solcher Gegenstoß durch die Ardennen, ein bewaldetes Hügelgelände im südöstlichen Belgien, hätte dem operativen Denken entsprochen, wie es der deutsche Generalstab pflegte: Er hätte den vordringenden Gegner in der Flanke gefaßt, an einer Stelle, die hierfür geeignet war und die, wenn der Gegenangriff durchschlug, die Gewähr bot, mindestens erhebliche Teile der gegnerischen Streitkräfte zu vernichten, indem sie von ihren Rückzugslinien und rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten wurden. Außer Haider konnte sich auch Stülpnagel an diese Dinge später noch erinnern, denn im Jahr 1943 erzählte er dem General So-
60 Zum Kampfwert der Divisionen und zur Rüstungslage MGFA, Weltkrieg II, 268 (Beitrag Umbreit); V/1, 554 f., 648 f., 826 (Beiträge Müller und Kroener). Vgl. zu den Panzerzahlen die abweichenden Angaben bei Müller-Hillebrand II, 106 f. Zur Kraftfahrzeuglage Haider, KTB I, 179 ff. (3./4. 2. 1940), 232 (20. 3. 1940), 256 f. (12. 4. 1940), 265 (21. 4. 1940). Jacobsen, Gelb, l92ff.
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denstern, eine Operation im Nachzug mit dem Schwerpunkt in den Ardennen sei vom OKH im Herbst 1939 erwogen worden. Voraussetzung hierfür wäre allerdings ein gegnerischer Vormarsch zur Reichsgrenze gewesen, welcher es der Wehrmacht erlaubt hätte, mit ihren begrenzten Mitteln eine begrenzte Operation durchzuführen, um - wie Haider sagte - die feindlichen Angriffskräfte abseits des französischen Kraftzentrums und abseits der rettenden Küste entscheidend zu schlagen. Insofern bestand ein Unterschied gegenüber einer deutschen Offensive, denn eine solche würde den Gegner nicht an der Reichsgrenze stellen können, sie würde vielmehr, wenn sie den Gegner entscheidend treffen wollte, weiträumiger sein müssen, stärkere Kräfte erfordern und die Verteidigungsmöglichkeiten des Gegners berücksichtigen müssen. Es galt hier wie überall sonst im Krieg die alte Faustregel, daß der Angreifer überlegen sein sollte; ist er dies nicht, so muß er sehr geschickt operieren, um trotzdem die Oberhand zu gewinnen. Immerhin war dem OKH seit dem Herbst 1939 der Gedanke geläufig, durch die Ardennen vorzustoßen, also den südlichsten Zipfel Belgiens, um die Gegner, insbesondere Frankreich, zu schlagen. Daß der Generalstab diesen Gedanken auch für eine deutsche Offensive verwenden wollte, wird vom damaligen Abteilungschef im Generalstab für die Feindlage West, Oberstleutnant Liss, bestätigt. Gemäß seinem Zeugnis wies Haider an der Monatswende November/Dezember 1939 anhand der Lagekarte auf die Gegend um die Maas an der französisch-belgiseben Grenze bei Sedan - Charleville - Givet hin, wo verhältnismäßig schwache französische Kräfte standen, und sagte: "Hier ist die schwache Stelle. Hier müssen wir durch!" Eben dort fand später der entscheidende Durchbruch statt. Sodann ließ Haider am 27. Dezember unter der Leitung Stülpnagels ein Planspiel abhalten, bei welchem drei Möglichkeiten der Westoffensive geprüft wurden. Die Einzelheiten berichtet wiederum Liss, der als Führer Rot, d. h. als Gegenpartei eingeteilt war. Liss sagt nun ausdrücklich, daß dabei der sogenannte "Sichelschnitt" gespielt wurde, also die Operation, die im Mai 1940 stattfand, wobei sich ergab, daß ein deutscher Angriff durch die Ardennen alle Aussicht haben würde, zum Durchbruch in freies Feld zu kommen und die ganze feindliche Gruppierung aus den Angeln zu heben. Der Durchbruch sollte an der Stelle stattfinden, die Haider einen Monat früher bezeichnet hatte, nämlich an der Maas. Liss wurde durch das Planspiel mit vollem Vertrauen auf den Maasdurchbruch erfüllt, und bei anderen wird es ebenso gewesen sein. Untersucht wurden dabei nicht etwa drei verschiedene Operationspläne, denn für Haider und Stülpnagel stand offenbar schon fest, welches der verbindliche Operationsplan sein würde. Sondern geprüft wurden drei Möglichkeiten, wie der Gegner sich bei einem deutschen Angriff verhalten konnte. In Betracht kam erstens ein Stehenbleiben der französischen Streitkräfte an der belgiseben Grenze, eventuell ein kurzes Vorgehen an die Scheide, was jedoch der deutsche Generalstab für unwahrscheinlich hielt. Ferner kam ein französisches Vorgehen bis an die Dyle in Betracht, also bis an eine Linie in Belgien von Antwerpen über Löwen und Namur bis an die Maas, wie es 1940 tatsächlich statt-
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fand. Und drittens untersuchte das Planspiel eine Unterstützung der Belgier im "belgischen Balkon", d. h. in dem Landvorsprung Antwerpen - Albertkanal - Lüttich - Maas. Weitere Einzelheiten über das Planspiel sind nicht bekannt, man kann aber den Schluß ziehen, es sei für die deutsche Seite mit verhältnismäßig starken Kräften gespielt worden. Das Ergebnis des Spiels war ja, daß der deutsche Maasdurchbruch in jedem Fall gelang. Durch einen Blick auf die Karte überzeugt man sich leicht, daß ein französisches Vorrücken in den belgiseben Balkon den deutschen Angriff durch die Ardennen einer nachdrücklichen Flankengefährdung aussetzte. Es mußte demnach nicht nur der deutsche Angriffskeil ungewöhnlich stark sein, da er ja in sehr weiträumiger Bewegung die ganze feindliche Gruppierung aus den Angeln heben sollte, sondern es mußten auch starke deutsche Kräfte vorhanden sein, um die französische Streitmacht im belgiseben Balkon zu fesseln. Man darf wohl annehmen, daß die erforderlichen Kräfte im Herbst und Winter 1939/40 noch nicht greifbar waren. Haider und Stülpnagel hätten demnach für einen späteren Zeitpunkt geplant, wenn das deutsche Heer sich so weit verstärkt hatte, daß es mit Hilfe des "Sichelschnitts" die französische Armee auf jeden Fall vernichtend schlagen konnte, gleichgültig, ob diese in der Mitte Belgiens stehenblieb oder in den belgiseben Balkon vorrückte. 61 In der Aufmarschanweisung des OKH vom 19. Oktober 1939 war davon natürlich noch keine Rede. Daß der darin enthaltene Operationsplan kaum Aussicht bot, möglichst starke Teile des französischen Heeres zu schlagen und möglichst viel nordfranzösischen Raum zu gewinnen, hat offenbar selbst Hitler erkannt. An den folgenden Tagen suchte er nach einer Lösung, wie dies doch zu bewerkstelligen sei. Bei einer Besprechung am 25. Oktober äußerte er den Gedanken, den Hauptangriff südlich Lüttich zu führen, woraus sich ein Vorstoß in Richtung auf die französische Kanalküste ergeben sollte, durch welchen die gegnerischen Streitkräfte, die in Belgien standen oder dorthin vorrücken konnten, weiträumig urnfaßt wurden. Der Gedanke war im Grundsatz nicht verkehrt; er lag in etwa ja auch der späteren Operation Sichelschnitt zugrunde. Nur war es ein Gedanke, auf den jeder halbwegs Phantasiebegabte beim Herumfahren mit dem Finger auf der Karte kommen konnte, und so ist wohl auch Hitler darauf gekommen. Feldzüge werden aber nicht durch das Herumfahren mit dem Finger auf der Karte gewonnen, sondern durch den Vergleich der beiderseitigen Kräfte und Möglichkeiten, durch das Berücksichtigen von Zeit und Raum sowie anderes mehr. Derlei Dinge gründlich zu durchdenken, war Hitler freilich nicht imstande. So wollte er die Angriffsfront durch zusätzliche Divisionen verstärken, ohne Rücksicht darauf, daß sie für den Angriff gar nicht tauglich waren und allenfalls dazu verwendet werden konnten, ruhige Abschnitte nicht ganz zu entblößen. Auch der Gedanke, südlich Lüttich bis zur französischen Kanalküste durchzustoßen, stellte lediglich eine Augenblicksein61 Haider über Angriff durch die Ardennen in Halder, Hitler, 28 f. Stülpnagels Erinnerung hieran nach Jacobsen, Gelb, 273 f., Anm. 14. Haider über schwache Stelle sowie Kriegsspiel vom 27. 12. 1939 nach Liss, Westfront, 104, 106f. Vgl. Halder, KTB I, 146.
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gebung dar, von deren Durchführbarkeit Hitler keinerlei genauere Vorstellung besaß, so daß er bald wieder davor zurückscheute. Haider zeichnete sich darüber auf, Hitlers Lieblingsgedanke sei das Hauptgewicht südlich Lüttich nach Westen, er wolle aber doch nicht alles auf eine Karte setzen. Die Kühnheit eines wirklichen Feldherrn besteht darin, Risiken und Erfolgsaussichten einer gewagten Operation sorgfältig abzuwägen und dann das Ungewöhnliche gerade deswegen zu tun, weil er genau weiß, wie es durchgeführt werden muß und wie die auftretenden Schwierigkeiten zu überwinden sind. Dagegen war die Kühnheit Hitlers diejenige eines Glücksspielers; ob und warum eine Operation aussichtsreich war, konnte er gar nicht beurteilen, so daß er wie ein Glücksspieler zögerte, auf welche Karte er setzen solle, gegebenenfalls auch auf die falsche setzte und immer dann, wenn er meinte, eine falsche erwischt zu haben, die Nerven verlor. Ein Soldat würde wohl sagen, daß ein Feldherr, der im kritischen Augenblick haltlose Unfähigkeit an den Tag legt, ein klägliches Bild bietet; aber genau dieses Bild bot Hitler des öfteren. Wie auch immer, an der Idee, südlich Lüttich bis zur französischen Kanalküste durchzustoßen, wollte Hitler dann doch nicht festhalten, so daß er den Angriffsschwerpunkt wieder beiderseits Lüttich legte. Was ihm vorschwebte, läßt sich am ehesten aus der neuen Aufmarschanweisung des OKH vom 29. Oktober entnehmen, denn das OKH fühlte sich weniger denn je veranlaßt, zu einem unsinnigen Unternehmen auch noch eigene Überlegungen beizusteuern, sondern übernahm einfach Hitlers Vorgaben. Neu war daran, daß jetzt die verbündeten Streitkräfte im Bereich nördlich der Somme, eines Flusses in Nordfrankreich zwischen Paris und der belgiseben Grenze, vernichtet werden sollten und daß bis zur Kanalküste vorzustoßen war. Auf eine Besetzung Hollands wurde nunmehr verzichtet, vermutlich um Kräfte freizumachen für die Heeresgruppe B, die mit insgesamt vier Armeen beiderseits Lüttich angreifen sowie, unter Vorwerfen schneller Kräfte, in Richtung Gent- Brüssel - Charleroi vordringen sollte. Was danach zu geschehen hatte, blieb blieb offen; da jedoch die verbündeten Streitkräfte nördlich der Somme zu vernichten waren, muß man sich anscheinend vorstellen, daß anschließend entweder eine Linksschwenkung stattfand, um eine Frontalschlacht zu schlagen, oder daß die Heeresgruppe B mit ihren vier Armeen den Gegner nördlich der Somme einkesselte. Das letztere ist wahrscheinlicher, da die Heeresgruppe A zwar nach wie vor die linke Flanke der Heeresgruppe B decken, aber zu diesem Zweck in Richtung Laon angreifen sollte. Dem lag Hitlers Vorstellung zugrunde, zwei motorisierte Gruppen in Richtung Gent und Charleroi vorzutreiben, wodurch in Umrissen eine Zangenbewegung erkennbar wurde, und den linken Flügel dieser Zangenbewegung durch einen weiten Vorstoß der Heeresgruppe A unterstützen zu lassen. Hitler versprach sich davon eine Katastrophe (des Gegners) ähnlich wie im Weichselbogen, wo ja gleichfalls eine beidseitige Umfassung stattgefunden hatte. Das OKH versprach sich davon gar nichts, deswegen erwähnte es die Zangenbewegung in seiner Aufmarschanweisung nicht. Ebensowenig versprachen sich die Befehlshaber an der Westfront etwas davon, deswegen kamen sie Anfang November über-
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einstimmend zu der Auffassung, ein für die Landkriegführung entscheidender Erfolg könne nicht erwartet werden; ein Angriff mit weitgestecktem Ziel sei zur Zeit nicht möglich. Unterdessen hatte Hitler darüber nachgesonnen, wie er die Heeresgruppe A für ihren Angriff in Richtung Laon verstärken könne. Hierzu wollte er schnelle Divisionen auf Sedan an der Maas nahe der belgiseh-französischen Grenze ansetzen, was sich schließlich in einer Weisung des OKH vom 11. November niederschlug, durch welche eine Gruppe schneller Truppen (fünf einschlägige Verbände) auf Sedan angesetzt wurde, um dort über die Maas anzugreifen. Das mag mit Hitlers Lieblingsidee zusammenhängen, den Hauptstoß südlich Lüttich zu führen, nur war es wenig folgerichtig, da nun die schnellen Verbände auf drei verschiedene Schwerpunkte verteilt waren: nördlich und südlich Lüttich sowie bei Sedan. Ein brauchbarer Plan entstand so weniger denn je, was durch eine Weisung Hitlers vom 20. November noch einmal bekräftigt wurde. Demnach sollte Holland nun doch besetzt werden, allerdings mit Ausnahme der sogenannten Festung Holland, also des Gebietes um Amsterdam, Utrecht und Rotterdam. Diese Maßnahme, die General Bock als Wasserpantomime bezeichnete, entbehrte jeder Logik, denn einerseits wurde sie mit der Gefährdung des Ruhrgebiets begründet, namentlich durch ein Festsetzen britischer (Luft-)Streitkräfte in Holland, andererseits sollte gerade das Gebiet, wo ein solches Festsetzen am ehesten in Frage kam, nämlich die Festung Holland, nicht eingenommen werden. Sodann ordnete Hitler Vorkehrungen an, um den Schwerpunkt der Operationen rasch von der Heeresgruppe B zur Heeresgruppe A zu verlegen, falls dort raschere und größere Erfolge einträten. Hier schimmert wieder Hitlers Lieblingsgedanke mit dem Schwergewicht südlich Lüttich durch, er hatte nur den Haken, daß die deutschen Kräfte für eine weiträumige Umfassungsoperation noch nicht ausreichten und daß sie bei einer Verzettelung auf drei verschiedene Angriffsschwerpunkte erst recht nicht ausreichen würden.62 Daß mit den Aufmarschanweisungen des OKH wenig anzufangen war, erkannte neben vielen anderen auch der Stabschef der Heeresgruppe A, General Erich von Manstein. Er legte verschiedentlich Entwürfe für einen abweichenden Operationsplan vor, wurde im Januar 1940 zum Kommandierenden General eines Korps ernannt und erhielt im Februar Gelegenheit, Hitler seine Ansichten vorzutragen. Daraus sind allerlei Schlüsse gezogen worden, die großenteils nicht zutreffen; richtig ist vielmehr das folgende: Manstein, zweifellos ein selbständiger Kopf mit operativer Begabung, war bis 1938 Oberquartiermeister I im Generalstab gewesen und hatte sich Hoffnungen gemacht, selbst Generalstabschef zu werden. Nachdem Haider dieses Amt erhalten hatte, weil hinreichende Beweise seiner Fähigkeiten vorla62 Zu Hitlers neuen Ideen Ha1der, KTB I, ll3ff. (25.-29. 10. 1939,3. 11. 1939 über Aussichten einer Westoffensive). Jod1, Tagebuch, WaG 12, 280ff. Die Aufmarschanweisung des OKH vom 29. 10. 1939 sowie die Weisung vom 11. 11. 1939 in Jacobsen, Vorgeschichte, 46 ff., 53 ff. Hitlers Weisung vom 20. 11. 1939 bei Hubatsch, Weisungen, 42 ff. Allgemein ferner Jacobsen, Gelb, 36 ff.
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gen, entwickelte Manstein die Überzeugung, er sei eigentlich der Bessere, wenn nicht überhaupt der Beste - eine Überzeugung, die er fortan durch Wort und Tat unter Beweis zu stellen suchte, womit er bei manchen Glauben fand. Zu Halders Aufgaben wiederum gehörte es, bei der Besetzung von Kommando- und Stabsstellen im Heer mitzuwirken. Dabei richtete er sein Augenmerk zugleich darauf, geeignete Generalstäbler - formal nur Führungsgehilfen - auf hohe Kommandoposten zu setzen, wo sie je nach ihrer Befähigung sicher auch hingehörten. Das traf wie für andere so gleichermaßen für Manstein zu, weswegen in Halders Kriegstagebuch, das im übrigen voll ist mit einschlägigen Personalnotizen, bereits am 13. Oktober ein Vermerk auftaucht, für Manstein eine andere Verwendung zu finden, also geraume Zeit vor Mansteins Anregungen wegen des Operationsplans. Ab Mitte Dezember waren dann neue Generalkommandos zu bilden, wofür Haider außer Manstein auch seinen Oberquartiermeister und Freund Stülpnagel in Aussicht nahm - schwerlich um ihn loszuwerden, sondern um befähigte Leute in ihrer Laufbahn weiter zu fördern und zugleich jüngeren Kräften die Gelegenheit zu geben, sich auf den freigewordenen Stellen zu bewähren. Es ist demnach nicht so, daß Manstein den Finger auf die Unzqlänglichkeit des Operationsplans legte und deswegen als unbequemer Mahner abgehalftert wurde; und es ist auch nicht so, daß Haider anschließend Mansteins Plan übernahm, also gewissermaßen sich mit fremden Federn schmückte. Sondern Haider wußte selber, was er zu tun hatte; das zeigte sich auch später, als er dem von ihm geschätzten General Sodenstern, der als Mansteins Nachfolger Bedenken gegen Halders Sichelschnitt-Plan erhob, geduldig und freundschaftlich erklärte, warum sein Plan der beste sei. Was nun die Operationsvorschläge Mansteins betrifft, so gab Manstein in einer seiner Denkschriften am 12. Januar 1940 zu, ein vollständiger Sieg im Westen hänge auch vom Kampfwert der beiderseitigen Heere und Luftwaffen ab. Es verfügten aber zu dieser Zeit, als Franzosen und Briten sich bereits verstärkt hatten, sämtliche Westgegner zusammen über rund 150 bis 160 Divisionen und ähnliche Verbände, wovon fast alle wenigstens für die Verteidigung tauglich waren. Dagegen besaß das deutsche Heer im Januar rund 115 Divisionen, wovon lediglich rund 70 für schwere Angriffsaufgaben voll oder bedingt eingesetzt werden konnten. Sodann gab Manstein in derselben Denkschrift zu, daß bei dem Stärkeverhältnis der Kampf sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und die Anspannung aller Mittel und Kräfte des Reiches erfordern werde. Diese Feststellung versprach dann interessant zu werden, wenn der Wehrmacht im Laufe längerer Operationen unterwegs die Munition ausging. Gewiß fielen solche Dinge letztlich in den Aufgabenbereich des Generalstabs, aber der Generalstab hatte daraus den Schluß gezogen, eine Operation mit weitgestecktem Ziel sei derzeit nicht möglich. Sie wurde erst dann möglich, als die Stärkeverhältnisse sich geändert hatten, so daß Haider seinen Plan zum Tragen bringen konnte - einen Plan, welcher den Gegner in verhältnismäßig kurzer Zeit niederzuwerfen versprach. Unter diesen Umständen stellten Mansteins Vorschläge allenfalls einen Beitrag zur theoretischen Erörterung gewisser operativer Gesichtspunkte dar. Seit seiner
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ersten einschlägigen Denkschrift vom 31. Oktober 1939 ging Manstein davon aus, daß mit der Aufmarschanweisung des OKH der Gegner nördlich der Somme, insbesondere die französisch-britischen Streitkräfte, höchstens frontal geworfen, jedoch keineswegs vernichtet werden könne. Die Vernichtung sei vielmehr erst dann zu erreichen, wenn die (südliche) Heeresgruppe A nicht bloß die linke Flanke der Heeresgruppe B decke, sondern durch einen Vorstoß in das Gebiet der Somme den Gegner dort abschneide. Zudem müsse die Heeresgruppe A stark genug sein, französische Gegenangriffe an ihrer eigenen linken Flanke abzuwehren. Es handelte sich also um eine Urnfassungsoperation, bei welcher der Gegner nördlich der Somme von den beiden deutschen Heeresgruppen eingekesselt wurde. Manstein erkannte, daß mit dem Ansatz der Heeresgruppe A in Richtung Laon sowie mit der Zuweisung schneller Truppen an diese Heeresgruppe der Gedanke einer Umfassungsoperation bereits unausgesprochen im Raum stand. Doch wollte er diesen Gedanken in geeigneterer Weise anwenden und wirksam durchführen. Einen eindeutigen Schwerpunkt bildete Manstein bei seiner Umfassungsoperation nicht. Zwar meinte er in seiner ersten Denkschrift noch, der Schwerpunkt müsse auf den Südflügel gelegt werden, um durch einen Vorstoß über die Maas südlich Namur in Richtung auf Arras und Boulogne an der Kanalküste die Entscheidung nördlich der Somme herbeizuführen. In einem Vorschlag für die Führung der Westoffensive vom 18. Dezember, der eine Art Gegenstück zur Aufmarschanweisung des OKH darstellte und insofern Manstein in die Rolle des Generalstabschefs versetzte, sah er indes eine andere Kräfteverteilung vor. Demnach sollten beide Heeresgruppen jeweils über rund 40 Divisionen verfügen, wovon allerdings bei der Heeresgruppe B mehr motorisierte bzw. gepanzerte Verbände vorgesehen waren. Diese wollte Manstein in Belgien zu einer Panzerarmee zusammenfassen und über Kortrijk in Flandem Richtung untere Somme vorführen. Der andere Zangenarm, die Heeresgruppe A, sollte mit einer Armee eine Abwehrfront östlich der Maas bilden, mit einer weiteren Armee an der Aisne bei Rethel angriffsweise den Zusammenhang der französischen Front zerreißen und so Gegenangriffe verhindern, während eine dritte Armee in Richtung St. Quentin - Laon vorzugehen hatte, um gegen die vor der Heeresgruppe B auf die Somme zurückweichenden Feindkräfte zur Wirkung zu gelangen. Auffallig ist dabei zweierlei. Erstens sollte zwar die Armee, welche bei Rethel anzugreifen hatte, über motorisierte Verbände verfügen, nicht jedoch die westlichste Armee, die in Richtung St. Quentin vorging. Wohl hatte Manstein Heeresreserven eingeteilt, darunter drei motorisierte Divisionen (ohne Panzer), doch sollten letztere dort eingesetzt werden, wo sich ein schneller Erfolg abzeichnete, und das würde eher an anderer Stelle der Fall sein als bei der westlichsten Armee mit ihrem weiten Anmarschweg. Zweitens sagte Manstein in seinem Operationsentwurf, die westlichste Armee solle, wenn möglich, zur Einwirkung gegen Flanke und Rücken der vor Heeresgruppe B kämpfenden Feindkräfte kommen. An sich hätte natürlich die westlichste Armee die entscheidende Aufgabe gehabt, an der Somme die Einkreisung zu vollenden und den Gegner abzuschneiden. Hier ergab sich je-
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doch das merkwürdige Bild, daß die scheinbar zentrale Maßnahme der ganzen Operation, das abschließende Einkesseln der gegnerischen Streitmacht, von einer Infanteriearmee vorgenommen werden sollte, die über gepanzerte Kräfte gar nicht und überungepanzerte motorisierte höchstens in geringem Umfang verfügte, überdies sich im Fußmarsch mühsam und wahrscheinlich zeitraubend an die Somme herankämpfen mußte, während die schnellen Truppen ansonsten bei anderen Aufgaben gebunden waren, nämlich beim Angriff an der Aisne sowie beim Vorstoß der Heeresgruppe B auf die Somme. Man gewinnt den Eindruck, daß Manstein das Einkesseln des Gegners durch die besagte lnfanteriearmee, also die westlichste der Heeresgruppe A, entweder nicht als zentrales Ziel der Operation ansah oder an der Erreichbarkeit dieses Zieles zweifelte; jedenfalls hat er sich über die Aufgabe der fraglichen Armee in seinen späteren Denkschriften nur höchst undeutlich geäußert. Das mag sich aus dem Bestreben erklären, einen Operationsplan nicht allzu starr und schematisch anzulegen, sondern der Führung während der Operation, je nach Entwicklung der Lage, Spielraum zu lassen. Trotzdem macht es stutzig, daß Manstein bald davon sprach, starke Feindkräfte nordwärts der Somme abzuschneiden, bald davon, sie in der Flanke zu fassen und gegen das Meer zu drängen (wo sie mit Hilfe der britischen Flotte abtransportiert werden konnten), bald davon, der Heeresgruppe B den Somme-Übergang zu öffnen, was anscheinend heißt, den Gegner nur in der Flanke zu bedrohen, so daß er von sich aus über die Somme zurückwich. Das Einkesseln des Gegners nördlich der Somme bildete für Manstein offenbar nur eine wünschenswerte Eventuallösung ("wenn möglich"), was sich im Grunde auch schon aus der Kräfteverteilung ergibt, denn der Panzerschwerpunkt sollte bei Heeresgruppe B für ihren Vorstoß an die Somme von Norden liegen, nicht jedoch bei Heeresgruppe A für einen Vorstoß an die Küste. Ein Satz aus Mansteins Denkschrift vom 12. Januar 1940 gibt vielleicht am deutlichsten die Absichten seines Operationsplans wieder: "Erst wenn der Südflügel" (Heeresgruppe A) "westlich der Maas den Zusammenhang zwischen der französischen Front zerrissen, zum Gegenangriff zwischen Maas und Oise aufmarschierende Feindkräfte geschlagen hat, wird für den Nordflügel der Weg über die untere Somme und damit zur Gesamtentscheidung frei." Das ist wohl so zu verstehen, daß die Aufgabe der Heeresgruppe A weniger darin bestand, den Gegner an der Somme abzuschneiden, als vielmehr darin, der Heeresgruppe B mit ihrer Panzerarmee den Weg über die Somme zu öffnen, um anschließend in der Tiefe des französischen Raumes die Entscheidungsschlacht zu schlagen. Jedenfalls wird deutlich, daß der Manstein-Plan mit dem Sichelschnitt-Plan, wie er später durchgeführt wurde, nur wenig gemein hat: Der Manstein-Plan enthielt keine klare Schwerpunktbildung auf dem Südflügel, er enthielt keinen Panzervorstoß zur Küste, und er enthielt noch nicht einmal zwingend die Einkesselung des Gegners nördlich der Somme. 63 63 Haider über Manstein in seinem KTB I, 105, 139, 145 und passim. Halders Denkschrift für Sodenstern vom 12. 3. 1940 bei Jacobsen, Vorgeschichte, 68 ff. Die Vorschläge und Denkschriften Mansteins bei Jacobsen, Vorgeschichte, 123 ff. Dazu Jacobsen, Gelb, 68 ff.
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Wenn es zutrifft, daß Haider und der Generalstab bereits im Herbst 1939 eine begründete Vorstellung über den späteren Sichelschnitt-Plan besaßen, und wenn es ferner zutrifft, daß der Manstein-Plan davon in wesentlichen Punkten abwich, dann würde man erwarten, daß Haider schon aus militärfachlichen Gründen keine Veranlassung sah, auf Mansteins Vorschläge einzugehen. Hinweise darauf lassen sich finden, wiewohl über die operativen Gedanken des OKH in jener Zeit allgemein wenig bekannt ist. Das ist leicht erklärlich, denn das OKH hütete sich, den verfehlten Angriffsabsichten Hitlers auch noch Nahrung zu geben, indem es einen durchdachten Operationsplan vorlegte. Das OKH ließ den Diktator sozusagen im eigenen Saft schmoren, um den Angriff möglichst lange hinauszuzögern, zumindest so lange, bis das Heer einer weiträumigen Operation gewachsen war. Zur Vorbereitung auf das früher genannte Kriegsspiel des Generalstabs, bei welchem der Sichelschnitt geprüft wurde, zeichnete sich Haider am 25. Dezember 1939 auf: "Rolle der Panzer bei der Angriffsschlacht Mittlere Keilrichtung Westen. Fliegereinsatz (Zeitpunkt und Ort)." Hier war also die Rede von einer Angriffsschlacht, die mit Hilfe eines Panzerkeils geschlagen werden sollte, wobei der Panzerkeil in allgemein westlicher Richtung vorzutreiben war. Wie erwähnt, wurde bei dem Kriegsspiel ein erfolgreicher Vorstoß über die Maas angenommen, der nach Halders Worten mit einem Panzerkeil, also einer Panzermassierung, durchgeführt werden sollte. Anhand der Karte sieht man, daß von den Ardennen über die Maas an der französisch-belgiseben Grenze eine gerade Linie in genau westlicher Richtung auf die untere Somme zeigt, wie es später in der Aufmarschanweisung für den Sichelschnitt-Plan verbindlich angeordnet wurde. Dagegen läßt sich die Aufzeichnung Halders nicht in Verbindung bringen mit der Aufmarschanweisung des OKH vom 29. Oktober, weder für die Heeresgruppe B noch für die Heeresgruppe A, denn bei Heeresgruppe B war nicht ein Panzerkeil vorgesehen, sondern zwei motorisierte Gruppen, die in unterschiedlichen Richtungen anzugreifen hatten, und bei Heeresgruppe A sollte der Angriff, auf Hitlers Wunsch verstärkt durch eine motorisierte Gruppe, in südwestlicher Richtung über die Maas auf Laon vorgetrieben werden. Ebensowenig läßt sich Halders Aufzeichnung mit dem Manstein-Plan in Verbindung bringen, denn dort sollte die geplante Panzerarmee bei Heeresgruppe B in südlicher oder südwestlicher Richtung zur Somme hin angreifen, während bei Heeresgruppe A nur der Angriff auf Rethel Panzerunterstützung besaß und ebenfalls nicht in westlicher, sondern südwestlicher Richtung verlief. Das ist ein zusätzlicher Beleg, daß bei dem Kriegsspiel tatsächlich der spätere Sichelschnitt gespielt wurde; außerdem ist es ein Beleg dafür, daß Haider mit Mansteins Anregungen wenig anfangen konnte, weil sie in seine eigenen Pläne nicht hineinpaßten. Undeutlich bleibt ein Vermerk Halders vom 19. Dezember, wonach ihm ein Abteilungschef des Generalstabs einen "blödsinnigen Antrag A" brachte. Was das für ein Antrag war, ist unbekannt; aber wenn es sich um einen der Anträge der Heeresgruppe A und damit indirekt Mansteins handelte, so ist es aufschlußreich, daß Haider ihn mit Unwillen betrachtete. Am 22. Dezember besprach sich Haider mit dem
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Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, Rundstedt, der regelmäßig Mansteins Überlegungen guthieß, auch wenn er vielleicht nicht in jedem Punkt damit übereinstimmte. Zu dem Gedanken eines Angriffs auf Rethel zeichnete sich Haider auf, damit entstehe eine völlig andere Operation. Diese andere Operation- diejenige Mansteins mit ihrem Angriff auf Rethel - unterschied sich demnach grundlegend von einer, die Haider im Sinn hatte. Welche hatte er im Sinn? Offiziell konnte er damals gar keine im Sinn haben, weil Hitler durch seine Weisung vom 20. November angeordnet hatte, die Frage des Schwerpunkts offenzulassen, was er irgendwann vor Ende Dezember dahingehend zuspitzte, daß er sich die Bestimmung des Schwerpunktes selbst vorbehalte. Wenn Haider nicht wußte, wo der Schwerpunkt liegen würde, konnte er auch keine bestimmte Operation planen. Trotzdem muß er eine bestimmte Operation im Sinn gehabt haben, sonst hätte er nicht wissen können, daß Mansteins Operation sich davon unterschied. Die Schwierigkeit löst sich leicht, wenn man annimmt, Haider habe den Sichelschnitt im Sinn gehabt. Von diesem jedoch unterschied sich Mansteins Plan grundlegend, weil Halder, anders als Manstein, einen Panzervorstoß zur Küste vorsah und diesen Panzervorstoß nicht durch einen Nebenangriff auf Rethel verwässern wollte. In dieselbe Richtung verweist eine Notiz Halders vom 27. Dezember, in welcher er einen Operationsentwurf Mansteins erwähnte und einen Hinweis auf die Schlacht von Kutno anfügte. Im Polenfeldzug war es bei der Einkesselung polnischer Kräfte um Kutno zu Reibereien gekommen, weil Manstein, wie Haider sich ausdrückte, die Neigung zeigte, an anderer Stelle eine Privatschlacht zu schlagen. Übertragen auf den Westfeldzug heißt dies, Haider sah die Gefahr, Manstein könne bei Rethel eine Privatschlacht führen und darüber das entscheidende Ziel, die Einkesselung des Gegners, aus den Augen verlieren. Mansteins Anregungen waren demnach für Haider ziemlich überflüssig, wenn nicht lästig. Sie waren darüber hinaus in hohem Maß unerwünscht oder gefährlich. Unerwünscht waren sie, solange Haider noch eine Chance für den Staatsstreich sah; und gefährlich waren sie, soweit sie geeignet schienen, Hitlers Angriffsabsichten zu fördern. Halders Staatsstreichplan beruhte ja auf der Voraussetzung, daß Hitler einen Angriff befahl, welchen das höhere Offizierkorps in seiner Masse als unmöglich und undurchführbar erkannte; nur in diesem Fall würde es geneigt sein, einem Umsturz zu folgen. Nun stellte freilich Mansteins Plan, wiewohl er manche Schwäche aufwies, doch eine ansehnliche Lösung für den Westfeldzug dar, die jedenfalls als Denkgrundlage nützlich war und bei Einfügen geeigneter Änderungen, etwa einer Verstärkung des südlichen Zangenarms, durchaus die erhoffte Wirkung zu erreichen vermochte. Wenn ein brauchbarer Operationsplan erst vorlag, würden viele Offiziere schwankend werden in ihrer Haltung gegenüber dem Staatsstreich. Sie konnten sich dann darauf berufen, daß das OKH nicht einen Umsturz benötige, um eine unsinnige Offensive zu verhindern, sondern daß es für das OKH lediglich darauf ankomme, dem Diktator einen vorzeitigen Angriff auszureden, für welchen die Kräfte des Heeres vorerst nicht ausreichten. Worum viele Offiziere nicht wußten oder nicht wissen konnten, war der Umstand, daß Hitler sich
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vernunftgemäßen Erwägungen nur selten zugänglich zeigte, vielmehr seinen eigenen unsachgemäßen Willen durchzusetzen wünschte. Auch Mansteins Plan, soweit er tauglich war, hätte schwerlich schon im Herbst und Winter 1939/40 verwirklicht werden können, da Anzahl, Ausstattung und Ausbildung der deutschen Verbände erst vervollständigt werden mußten. Aber anfangs hatten die Generale den Oberbefehlshaber Brauchitsch einhellig unterstützt in seinem Bemühen, die Westoffensive zu verhindern, wogegen mit Mansteins Plan ein Riß in dieser Ablehnungsfront entstand. Wenn Hitler von dem Plan erfuhr, würde er nicht die Sachargumente abwägen, die dafür oder dagegen sprachen, sondern er würde sich bestätigt fühlen in seinem Verdacht, das OKH sei bloß unwillig, er würde sich bestätigt fühlen in seinem Angriffsvorhaben und würde umso eher bereit sein, den Angriff zu einem Zeitpunkt zu befehlen, wo er keine echten Erfolgsaussichten besaß, gleichgültig, ob ihm ein guter Plan zugrunde lag oder nicht. Angesichts dieser Sachlage hat es das OKH über Monate hinweg vermieden, Hitler mit Mansteins Plänen bekannt zu machen. Eigenartigerweise hat auch Rundstedt gegenüber dem Diktator geschwiegen, was vielleicht bedeutet, daß dieser alte, erfahrene Soldat dem OKH nicht in den Rücken fallen wollte. Auf einen der Vorschläge Mansteins antwortete Haider am 5. Dezember 1939, übrigens in ausgesucht freundlicher Weise mit der Anrede ,,Lieber Manstein" und der Schlußformel "mit herzlichen Grüßen Thr Halder". In dem Schriftstück lehnte Haider die Gedanken bei der Heeresgruppe A nicht etwa ab, sondern er legte dar, daß das OKH derzeit nicht in der Lage sei, auf der Grundlage des Aufmarsches eine Operation zu planen, weil Kräfte, die "außerhalb unserer Einwirkung" lägen, also Hitler, sich die Festlegung des Schwerpunkts vorbehalten hatten. In der Tat sah sich das OKH damals vor der unerfreulichen Situation, zunächst auf den Angriffsbefehl Hitlers und anschließend darauf warten zu müssen, wohin Hitler nach Beginn des Angriffs den Schwerpunkt legen würde. Insoweit waren dem OKH die Hände gebunden; immerhin durfte es die Hoffnung hegen, zu dem Angriff werde es gar nicht kommen, entweder weil das Wetter ihn nicht zuließ oder weil selbst Hitler davor zurückscheute, nach Angriffsbeginn den Schwerpunkt von einer Heeresgruppe zur anderen zu verschieben, was ja wohl heißt, den ganzen Aufmarsch durcheinander zu bringen. Als Manstein bzw. die Heeresgruppe A weiterhin drängte, gab Brauchitsch selbst am 16. Januar 1940 dem Oberkommando der Heeresgruppe die Antwort, welche einer Abfuhr gleichkam. Insbesondere wies Brauchitsch den Wunsch der Heeresgruppe zurück, ihre Vorschläge dem Führer zu unterbreiten. Manstein verfaßte daraufhin eine Notiz, in welcher er zutreffend feststellte, aus der Aufmarschanweisung des OKH lasse sich allenfalls die Absicht entnehmen, den Kampf einzuleiten, um ihn je nach den sich ergebenden Erfolgen fortzuführen - was vorhin mit den Worten umschrieben wurde, sozusagen in den Gegner hineinzustochern und zu sehen, wie weit man kam. Daß dies auf Hitler zurückging, nicht etwa das OKH, wußte Manstein freilich nicht. Über die Gründe für das Verhalten des OKH konnte Manstein nur Vermutungen anstellen. Zutreffend war seine Vermu-
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tung, das OKH habe nicht die freie Hand, den Ansatz der Kräfte so zu machen, wie er zweckmäßig erscheine. Ebenfalls richtig war sein Eindruck, das OKH wünsche eine entscheidungssuchende Offensive gar nicht, nur übersah er dabei, daß das OKH die Offensive nicht wünschte, solange sie verfrüht war. Deswegen lehnte Brauchitsch die Weitergabe der Vorschläge an Hitler ab, denn der Diktator hatte auch im Januar das bekannte Spiel von Angriffsbefehl und Widerruf fortgesetzt, ehe er am 20. Januar die Verschiebung des Angriffs auf das Frühjahr durchblicken ließ. Ansonsten diente es nicht bloß der Beschwichtigung, wenn Brauchitsch in seiner Antwort sagte, die Ausarbeitung der Heeresgruppe stimme in den wesentlichen Gedankengängen mit seiner eigenen Auffassung überein. Natürlich wußte Brauchitsch, daß mit der Aufmarschanweisung des OKH ein entscheidender Erfolg nicht zu erzielen war; und vom Kriegführen verstand der Oberbefehlshaber des Heeres immerhin so viel, um zu erkennen, daß eine Umfassungsoperation mit starkem Südflügel ein geeignetes Rezept für die Vernichtung starker Feindteile darstellte. Nur wollte er dies dem Diktator jetzt noch nicht unterbreiten; wenn der geeignete Zeitpunkt gekommen war, würde das OKH schon den passenden Plan zu erarbeiten wissen. 64 Vorerst begnügte sich das OKH damit, den unzulänglichen Aufmarsch früherer Tage fortzuschreiben. Eine neue Aufmarschanweisung vom 30. Januar 1940 brachte nur wenige Änderungen, darunter die, daß nunmehr ganz Holland besetzt werden sollte, weil Hitler endlich eingesehen hatte, daß das Aussparen der Festung Holland keine sinnvolle Lösung darstellte. Während der Generalstab seine Planspiele fortsetzte, um Unterlagen für die Kampfführung an der Maas zu gewinnen, veranstalteten im Februar auch verschiedene hohe Kommandobehörden der Westfront eigene Kriegsspiele, naturgemäß auf der Grundlage der Aufmarschanweisung und der dort gegebenen Kräfteverteilung. Diese wies der Heeresgruppe A lediglich ein Panzerkorps zu, das XIX. unter General Guderian mit zwei Panzerdivisionen sowie einer motorisierten Infanteriedivision und zwei Regimentern. Als OKH-Reserve stand hinter der Heeresgruppe noch das XIV. Panzerkorps unter General Wietersheim bereit mit einer Panzerdivision und drei motorisierten Verbänden. An den Kriegsspielen der HeeresgruppeAsowie der ihr unterstellten 12. Armee (General List) nahm Haider selbst teil und fertigte sich darüber Aufzeichnungen an, die man ohne Mühe versteht, wenn man weiß, daß Haider hier seinen Panzerkeil ansetzen wollte. Den beteiligten Kommandobehörden gegenüber hüllte er sich freilich noch in Schweigen und beschränkte sich darauf, die Folgerungen aus ihren Kriegsspielen zu ziehen. 64 Haider am 25. 12. 1939, 19. 12. 1939, 22. 12. 1939 und 27. 12. 1939 in seinem KTB I, 144ff. Gemäß Weisung des OKW vom 28. 12. 1939 hatte der Führer "in den letzten Tagen" unter anderem entschieden, daß er sich die Bestimmung des Schwerpunktes der Gesamtoperation im Westen selbst vorbehalte. Die Weisung in Jacobsen, Vorgeschichte, 25 f. Zu Rundstedts Schweigen gegenüber Hitler Jacobsen, Gelb, 66. Die Antworten von Haider und Brauchitsch für HeeresgruppeAsowie die Aufzeichnung Mansteins vom 19. 1. 1940 in Jacobsen, Vorgeschichte, 57, 59, 145 f.
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Rundstedt und Manstein hatten schon vor den Kriegsspielen darauf hingewiesen, daß ein einzelnes Panzerkorps nicht ausreiche, um im raschen Zugriff vor den nachfolgenden Infanteriearmeen die Maaslinie zu öffnen. Man müsse mindestens zwei Panzerkorps einsetzen, die im schnellen Vorstoß überraschend an zwei Stellen die Maas überschreiten könnten. Andernfalls sei es besser, die schnellen Verbände zurückzuhalten oder sie im Rahmen des Infanterieangriffs einzusetzen. Das letztere bedeute allerdings, daß man den Maasübergang im rangierten Angriff erkämpfen müsse, d. h. nicht im Angriff aus der Bewegung einzelner Truppenkörper (hier Panzerkorps), sondern im Angriff aus der wohlgeordneten Aufstellung einer starken Schlachtfront, also mit größerem Aufwand und Zeitbedarf. Von diesen Einsichten gingen die Kriegsspiele aus. Bei der Heeresgruppe A wurde angenommen, daß das vorgeworfene XIX. Panzerkorps am dritten Tag nach Angriffsbeginn die Maas südlich der französisch-belgiseben Grenze erreichte und das XIV. Panzerkorps zu ihm aufschloß. Guderian wollte mit den schnellen Verbänden am fünften Angriffstag die Maas überschreiten, was im Rahmen des Kriegsspiels abgelehnt wurde, weil damit die Maaslinie nur an einer Stelle geöffnet und die erforderliche Breite nicht erzielt wurde. Statt dessen sollte, nach dem Herankommen von Infanterie und schwerer Heeresartillerie, am neunten Angriffstag planmäßig über die Maas angegriffen werden. Haider zog aus dem Kriegsspiel verschiedene Schlüsse. Ein rangierter (planmäßiger) Gesamtangriff über die Maas war zweifellos erst am neunten oder zehnten Angriffstag möglich. Das schloß indes nicht aus, mit entsprechend starken vorgeworfenen Panzerverbänden weit früher die Maas zu überschreiten. Haider hielt es allerdings, in Übereinstimmung mit Rundstedt, Manstein und anderen, für sinnlos, am fünften Angriffstag nur mit einem Panzerkorps oder nur an einer Stelle die Maas zu überqueren; vielmehr müsse sich das OKH darüber klar werden, ob es einen einheitlichen Angriff über die Maas führen wolle oder ob es, wie er sich ausdrückte, die Heeresgruppe allein toben lassen wolle. Haider betrachtete also die Angelegenheit aus dem Blickwinkel der obersten Führung: Wenn die Maaslinie rasch und auf breiter Front geöffnet werden sollte, hatte es keinen Sinn, die Heeresgruppe mit unzureichenden Panzerkräften allein toben zu lassen, sondern dann mußte dafür gesorgt werden, daß vorgeworfene Panzerkräfte in ausreichender Stärke an verschiedenen Stellen die Maaslinie aufreißen konnten. Was die operative Gliederung des Angriffs über die Maas angeht, so lassen Halders Aufzeichnungen bereits die Grundzüge dessen erkennen, was später beim Sichelschnitt stattfand, vor allem in Hinblick auf den geplanten PanzerkeiL Haider wollte nämlich drei Treffen bilden: ein Panzertreffen vom, das die Hauptlast des Durchbruchs trug, dahinter ein Treffen aus motorisierten Verbänden (ohne Panzer), das den Durchbruch ausweitete und sicherte, sowie hinter beiden ein Infanterietreff~n, das Gegenangriffe an der langen Flanke des Durchbruchs abzuwehren hatte. Aus dem Kriegsspiel ergab sich für Halder, daß das zweite und dritte Treffen schneller aufschließen mußten.
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Weitere Erkenntnisse schöpfte der Generalstabschef aus dem Kriegsspiel der 12. Armee. Auch dort zeigte sich, daß ein rangierter Gesamtangriff über die Maas erst am neunten oder zehnten Tag stattfinden konnte. Die Armee spielte einen solchen planmäßigen Angriff unter Mitverwendung schneller Verbände in der Front, der aber Haider nicht befriedigte. Wichtiger war das Ergebnis, daß eine empfindliche Stelle des Gegners bei Sedan lag, nicht jedoch bei Charleville, und daß bei der bisherigen Befehls- und Kräftegliederung die Gefahr des Aufreißens von Lücken in der Front bestand. Im übrigen zeigten die Panzergenerale Guderian und Wietersheim größte Unzufriedenheit über die Kriegsspiele; sie waren der Ansicht, daß die schnellen Verbände falsch eingesetzt würden, wenn man sie an das Marschtempo der Infanterie binde, und verlangten im Rahmen der ganzen Operation eine selbständige Rolle für die Panzerkorps. Eine Aussprache zwischen Haider und den beiden Panzergeneralen schilderte der etwas stürmische Guderian später als deprimierend, was sich wahrscheinlich' daraus erklärt, daß Haider erstens nicht die Partei der beiden gegen ihre Dienstvorgesetzten List und Rundstedt ergreifen wollte und daß zweitens der Verzicht auf das Vorwerfen schneller Verbände durchaus stimmig war, solange sie nicht in genügender Stärke zur Verfügung standen. 65 Im Januar hatte Hitler angedeutet, vor dem März sei ein Angriff nicht mehr wahrscheinlich, doch müsse man nach wie vor bereit sein, bei günstigem Wetter die Gelegenheit auszunützen. Haider legte dies so aus, daß allenfalls noch im Februar ein Angriffsbefehl kommen könne, nicht jedoch im März und April, weil Schlamm und Hochwasser dann einen Bewegungskrieg behinderten. Als der Allgriffsbefehl auch im Februar ausblieb, ging Haider daran, beim Operationsplan Nägel mit Köpfen zu machen. Er arbeitete eine Änderung der Kräfteverteilung aus sowie einen schriftlichen Vortrag zur Änderung des Aufmarsches, der offenbar um den 16. Februar abgeschlossen wurde. Zwei Tage später, am 18. Februar, trugen Brauchitsch und Haider ihre Absichten dem Diktator vor. Demnach sollte die Grenze zwischen den Heeresgruppen B und A auf die Linie Lüttich - NamurCharleroi verlegt und damit die linke Flügelarmee der Heeresgruppe B dem Kommando der Heeresgruppe A unterstellt werden. Dies diente einem dreifachen Ziel: Es entstand damit ein klarer Kräfteschwerpunkt südlich Lüttich für eine Umfas" sungsoperation, es entstanden einheitliche Befehlsverhältnisse zu diesem Zweck und es wurde dem Aufreißen von Lücken in der Angriffsfront vorgebeugt. Sodann sollten vor dem linken Flügel der Heeresgruppe A stärkste Panzerkräfte zum Einsatz kommen, d. h. ein Panzerkeil gebildet werden, wozu außer den dort bereits verfügbaren Kräften weitere zwei Panzerdivisionen heranzuziehen waren.
65 Die Aufmarschanweisung des OKH vom 30. 1. 1940 sowie die Vorschläge von Manstein und Rundstedt über den Einsatz von Panzerkorps (24. 1. und 1. 2. 1940) bei Jacobsen, Vorgeschichte, 59 ff., 150 ff. Zu den Planspielen des Generalstabs im Januar und Februar Haider, KTB I, 152, 184 (8. 1. und 6. 2. 1940). Von einem Planspiel Mitte Januar berichtet Liss, Westfront, 120; vgl. Heusinger, 77ff. Zu den Kriegsspielen der Heeresgruppe A und der 12. Armee Halder, KTB I, 185f., 194 (7. 2. und 14. 2. 1940). Guderian, 80f.
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Die Aufzeichnungen Halders über die Besprechung sind nicht leicht zu deuten, da nicht zweifelsfrei feststellbar ist, was von Hitler stammte und was sich als Ergebnis des Gesprächs herausschälte. Jedenfalls billigte Hitler die Neugliederung der Befehlsverhältnisse und das Bilden eines Panzerkeils. Hierfür gab es zwei Gründe: Erstens war es seit langem sein Lieblingsgedanke, das Hauptgewicht des Angriffs in den Raum südlich Lüttich zu legen, und zweitens hatte er am Tag zuvor durch Vermittlung seines Chefadjutanten Schmundt einen Vortrag Mansteins über dessen Vorstellungen angehört. Mansteins Vorschläge unterschieden sich zwar deutlich von denjenigen des OKH, beispielsweise wollte er die Heeresgruppe A anders gliedern als das OKH und seinen bekannten Angriff auf Rethel durchführen. Auch verlangte er wieder einen Maasübergang sowohl bei Sedan als auch bei Charleville, was möglicherweise nur eine ungefähre Ortsangabe darstellen sollte, jedoch insofern fragwürdig war, als spätestens das Kriegsspiel der 12. Armee gezeigt hatte, daß bei Charleville-Mezieres der Gegner die Maaslinie halten würde. Aber solche Unterschiede blieben jetzt belanglos; nachdem Hitler schon durch Manstein in seinem Lieblingsgedanken bestärkt worden war, durfte er nunmehr erleben, daß anscheinend auch das OKH ihn sich zu eigen gemacht hatte, so daß er gegen die Hauptvorschläge von Haider und Brauchitsch keine Einwände erhob. Das OKH erhielt damit endlich freie Bahn für diejenige Art von Aufmarschund Operationsplanung, die Haider bereits in die Wege geleitet hatte. Der Generalstabschef muß ziemlich genaue Vorstellungen über die Kräfteverteilung besessen haben, denn schon am nächsten Tag (19. Februar) tritt in seinen Aufzeichnungen diejenige Einteilung der Panzerdivisionen auf, die dann bis zum Westfeldzug Bestand hatte. Eine neue Aufmarschanweisung vom 24. Februar legte in mustergültiger Klarheit die Umrisse des Operationsplans fest. Als Zweck des Angriffs "Gelb" (so der Deckname) wurde darin angegeben, durch rasche Besetzung Hollands das niederländische Hoheitsgebiet dem Zugriff Englands zu entziehen sowie durch Angriff über belgisches und luxemburgisches Gebiet möglichst starke Teile des französisch-englischen Heeres zu schlagen und damit die Vernichtung der militärischen Machtmittel des Feindes anzubahnen. Als Fernzielließ sich daraus ein vollständiger Sieg durch Vernichtung der gegnerischen Streitkräfte entnehmen, doch deutete die Aufmarschanweisung an, daß dies nicht in einem Zug erreicht werden solle (tatsächlich hat Haider dann während des Feldzugs erwogen, die Entscheidung doch in einem Zug herbeizuführen). Der Schwerpunkt des Angriffs über belgisch-luxemburgisches Gebiet lag südlich der Linie Lüttich-Charleroi. Die nördlich dieser Linie angesetzten Kräfte hatten durch Angriff in westlicher Richtung möglichst starke Teile des englisch-französischen Heeres auf sich zu ziehen, also gewissermaßen den Gegner in die falsche Richtung zu locken. Die südlich der besagten Linie angesetzten Kräfte hatten den Übergang über die Maas zwischen Dinant und Sedan zu erzwingen und den Weg durch die nordfranzösische Grenzverteidigung in Richtung auf die untere Sornme zu öffnen. Auch wenn es nicht deutlich ausgesprochen wurde, ließ sich daraus die Absicht entnehmen, den Gegner nördlich der Sornme einzukesseln. 12 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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Nördlich der Linie Lüttich-Charleroi führte die Heeresgruppe B zwei Armeen, wovon die 6. Armee, der an schnellen Verbänden zwei Panzerdivisionen und eine motorisierte Infanteriedivision unterstanden, im nördlichen Belgien in allgemein westlicher Richtung anzugreifen hatte, während es der 18. Armee oblag, im Zusammenwirken mit Luftlandetruppen sowie unter Einsatz schneller Kräfte (eine Panzerdivision, eine Kavalleriedivision, drei motorisierte SS-Verbände) Holland rasch zu besetzen. Südlich der Linie Lüttich-Charleroi führte die Heeresgruppe A insgesamt vier Armeen, wovon eine erst im Verlauf des Vorstoßes in die Front eingeschoben werden sollte; dazu kamen starke schnelle Kräfte in tiefer Gliederung, die vorzuwerfen waren, um in überraschendem Ansturm das jenseitige (westliche) Maasufer zu gewinnen und dadurch günstige Vorbedingungen für das Weiterführen des Angriffs in westlicher Richtung zu schaffen. Die Befehlsgliederung dieser starken schnellen Kräfte stand für Haider bereits fest, auch wenn sie in der Aufmarschanweisung nicht genannt wurde. Es war eine Panzergruppe zu bilden, die der Heeresgruppe unmittelbar unterstand und drei Panzerkorps (damals noch motorisierte Armeekorps genannt) umfaßte. Zu ihrem Befehlshaber wurde nach einigen Tagen der General der Kavallerie Ewald von Kleist ernannt, der im Polenfeldzug ein Panzerkorps geführt hatte und wahrscheinlich gegenüber Guderian den Vorzug erhielt, weil er dienstälter war. Gemäß Aufmarschanweisung hatte bei der Heeresgruppe A deren rechte Flügelarmee, die 4., nach Durchbrechen der befestigten beigiseben Grenzzone schnelle Kräfte auf Dinant und Givet an der Maas vorzutreiben, wofür ihr ein Panzerkorps unter General Hoth und zwei Panzerdivisionen zur Verfügung standen, und nach Erzwingen des Maasübergangs in westlicher Richtung weiter anzugreifen. Vor der 12. Armee in der Mitte war es Aufgabe der Panzergruppe, bei Montherme (nördlich Charleville) und bei Sedan die Maas zu überschreiten, so daß anschließend möglichst rasch starke Kräfte den Angriff nach Westen fortsetzen konnten. Die linke Flügelarmee, die 16., hatte die Südflanke des Gesamtangriffs zu decken, was jedoch nur für den Vorstoß bis zur Maas galt, da die Armee den Angriff ins französische Hinterland nicht mitmachen sollte; hierfür stand die 2. Armee mit entsprechenden OKH-Reserven bereit. Betrachtet man die Aufmarschanweisung im Überblick, so war ihre wichtigste Operationsidee der schnelle Durchbruch zur unteren Somme, wodurch die gegnerischen Streitkräfte nördlich davon abgeschnitten und eingekesselt werden konnten. Halders kühne Neuerung bestand darin, für diesen schnellen Durchbruch einen Panzerkeil zu bilden, welcher, den Infanteriearmeen vorausgeworfen und vor ihrer Front kämpfend, zunächst den schnellen Übergang an der Maas zu erzwingen und anschließend den schnellen Vorstoß bis an die Somme zu tragen hatte. Hierbei sollte die Maaslinie an drei Stellen von schnellen Verbänden aufgerissen werden: nördlich durch die Panzer der 4. Armee und südlich an zwei Stellen durch die Panzergruppe, so daß eine Lücke von rund 80 km (Luftlinie) entstand, durch welche die Heeresgruppe ihren Angriff vortragen konnte. Die Panzergruppe sollte nach Halders Absichten in zwei Treffen vorgehen, wobei im ersten Treffen ein Panzerkorps unter General Reinhardt mit zwei Panzerdivisionen den Maasübergang bei
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Montherme, ein Panzerkorps unter General Guderian mit drei Panzerdivisionen und einem motorisierten Regiment den Maasübergang bei Sedan zu erkämpfen hatte, während ein Panzerkorps unter General Wietersheim mit drei motorisierten Infanteriedivisionen im zweiten Treffen folgte, um beim Vorstoß ins französische Hinterland den Panzerkeil zu verstärken und in der flanke zu sichern. Eine weitere, in der Aufmarschanweisung nicht erwähnte, gleichwohl vorhandene Möglichkeit zur Verstärkung des Panzerkeils bestand darin, im Laufe des Vorstoßes schnelle Verbände von der Heeresgruppe B abzuziehen und bei Heeresgruppe A einzuschieben; tatsächlich wurde im Verlauf des Sichelschnitts neben der Panzergruppe Kleist noch eine Panzergruppe Hoth zum Vorstoß auf die Küste gebildet. Nach einem Bild, das Haider später gebrauchte, sollte Heeresgruppe A den Hammer, Heeresgruppe B den Amboß bilden; zwischen beiden wurde der Gegner durch einen weit ausholenden Schlag mit dem Hammer auf den Amboß vernichtet. Vergleicht man dies noch einmal mit dem Manstein-Plan, so sieht man sofort, daß bei Manstein eher die Heeresgruppe B mit ihrer Panzerarmee den Hammer darstellte, während die Heeresgruppe A allenfalls den Amboß abgeben konnte- vorausgesetzt, sie erreichte mit ihrer Infanteriearmee überhaupt die Kanalküste. Haider hatte also wirklich den Sichelschnitt-Plan selbständig entwickelt, und es war ein ganz anderer Plan als derjenige Mansteins. Nach Beginn des Westfeldzugs konnte deshalb Haider mit Recht an seine Frau schreiben, seine Operation laufe wie ein gut geschnittener Film. Zweifellos wurde Halders Operation nicht von den schnellen Truppen allein getragen; der vorgeworfene Panzerkeil bildete nur die schnelle Spitze eines Angriffs von vier Infanteriearmeen mit Dutzenden von Infanteriedivisionen, die den schnellen Truppen auf den Fersen bleiben mußten, so gut es eben ging. Für die Operation, ausgedrückt im Bild von Hammer und Amboß, stellten die Infanteriearmeen die Masse der erforderlichen Kräfte, ohne die eine derartige Operation gar nicht denkbar war. Aber der Panzerkeil verkörperte in herausragender Weise den Gesichtspunkt der Bewegung, oder genauer: der Schnelligkeit, durch welche der Gegner überrascht, ausmanövriert und ihm das Gesetz des Handeins aufgezwungen werden konnte. Die schnellen Truppen waren damit nicht die einzigen, aber wohl die wichtigsten Träger der Operationsidee. Die Geschwindigkeit ihrer Bewegung erlangte operative, sogar feldzugsentscheidende Bedeutung: zunächst durch den Maasübergang, der die gegnerische Front so schnell und überraschend aufriß, daß der Feind die Lücke nicht mehr stopfen konnte, sodann durch den Stoß an die Somme, der so schnell erfolgte, daß die Verteidigungsbemühungen des Gegners unterlaufen wurden, und schließlich durch ein Abschneiden des urnfaßten Gegners von der Küste, das schnell genug erfolgte, um den Gegner nicht über See entweichen zu lassen. Was mit Haider in die Kriegskunst wieder Eingang fand, war das bedingungslose Setzen auf die Schnelligkeit - auf die Schnelligkeit motorisierter Verbände, auf die Schnelligkeit weiträumiger Operationen und auf die Schnelligkeit ganzer Feldzüge, um die Wehrmacht nicht in einem 12•
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kräftezehrenden Abnützungskrieg ausbluten zu lassen. Dieses operative Denken, dieses Verständnis für den Zeitfaktor, war Hitler nie zugänglich und wird bis heute oft nicht richtig verstanden. 66 Wie Halder später ausführte, hat Hitler den Operationsplan im eigentlichen Sinne nie gekannt. Denn mit diesem Wort bezeichne man die Summe der Überlegungen, die in der Gruppierung der Kräfte und in den an die Heeresgruppen und Armeen erteilten Aufträgen ihren Ausdruck finde. hn Operationsplan fanden alle Überlegungen ihren Niederschlag über den Feind und seine vermutlichen Absichten, über die eigenen Möglichkeiten, diese zu durchkreuzen, über das Wann und Wo zu erwartender Krisen und über die Mittel, ihnen zuvorzukommen oder sie zu überwinden. Was Haider hier beschrieb, war jenes früher erwähnte Netzwerk von Beziehungen, das die wirkliche Kriegskunst zwischen dem eigenen Verhalten und demjenigen des Gegners herstellt. Hierfür ist es erforderlich, einigermaßen brauchbare Nachrichten über den Gegner zu besitzen, um sein Verhalten zutreffend abschätzen und sich darauf einrichten zu können. Das Kriegsspiel des Generalstabs vom Dezember 1939 hatte noch drei verschiedene Möglichkeiten geprüft, wie der Gegner sich verhalten könne; nach der Jahreswende schälte sich immer deutlicher heraus, wie er sich wahrscheinlich verhalten würde. Zwischen dem, was auf der Seite des Gegners vor sich ging, und dem, was die deutsche Seite davon wußte, besteht natürlich ein Zusammenhang, so daß es sich empfehlen wird, beides zu betrachten. Seit Beginn der britisch-französischen Stabsbesprechungen im März 1939 stand es für die militärische Führung der Westmächte fest, daß ein Angriff der Wehrmacht die Maginotlinie im Norden umgehen werde. Die Hauptstoßrichtung werde, ähnlich wie beim Schlieffen-Plan, über das mittlere Belgien nach Nordfrankreich zielen. Dies wurde umso eher erwartet, als das Gelände hier für die Bewegung großer Panzer- und Fahrzeugmassen besser geeignet war als in den Ardennen. Die Ardennen waren zwar nicht schlechterdings undurchdringlich, aber motorisierte Verbände konnten sich dort kaum entfalten, so daß man auf alliierter Seite annahm, wenn ein deutscher Großangriff hier überhaupt stattfinde, werde er auf erhebliche Behinderungen stoßen und jedenfalls nicht sehr schnell durchschlagen. Ähnliches galt für die Maas, die ein beträchtliches Naturhindernis darstellte, da ihre Ufer über weite Strecken tief eingeschnitten oder von Osten schwer zugänglich waren. Zweifellos konnten die Ardennen und die Maas überwunden werden,
66 Hitler und Haider über Angriffstermin bei Halder, KTB I, 167 (20./21. 1. 1940). Aufzeichnung über eine Besprechung beim Generalstab, 23. 1. 1940, in Jacobsen, Vorgeschichte, 147ff. Über Ausarbeitung Halders und Besprechung bei Hitler arn 18. 2. 1940 Halder, KTB I, 196, 198 ff. Jod!, Tagebuch, IMG 28, 405. Über den Vortrag Mansteins bei Hitler eine Niederschrift Mansteins in J acobsen, Vorgeschichte, 155 f. Dazu Manstein, Siege, 118 ff. Haider über Verteilung der Panzerdivisionen in seinem KTB I, 201. Die Aufmarschanweisung vorn 24. 2. 1940 in Jacobsen, Vorgeschichte, 64ff. Haider über Hammer und Arnboß in seinem KTB I, 319 (25. 5. 1940). Haider arn 13. 5. 1940 an seine Frau nach Schall-Riaucour, 152.
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aber auf alliierter und namentlich französischer Seite rechnete man damit, dies werde so viel Zeit in Anspruch nehmen, daß unterdessen ausreichende Verstärkungen herangebracht werden könnten, um einen Durchbruch zu vereiteln. Diese Ansichten waren nach den geltenden Regeln der Kriegskunst durchaus richtig und wurden auf deutscher Seite weitgehend geteilt. Der neue Stabschef der Heeresgruppe A, General Sodenstem, faßte in einer Denkschrift für Haider vom 5. März die gängigen Überlegungen zusammen, wenn er schrieb, mit einem schnellen Durcheilen des luxemburgisch-südbelgischen Raumes dürfe nicht gerechnet werden. Abgesehen von anderen Schwierigkeiten stellten die langen motorisierten Kolonnen auf den engen Straßen der Ardennen ein äußerst empfindliches Ziel für feindliche Luftangriffe dar. Die Panzerdivisionen würden den Maasabschnitt mit geschwächter Kampfkraft und so spät erreichen, daß der Gegner alle erforderlichen Abwehrmaßnahmen habe treffen können. Die französische Maas-Verteidigung stelle den Angreifer vor schwerste Aufgaben, für deren Lösung die gepanzerten und motorisierten Kräfte nach Gliederung und Bewaffnung die notwendigen Voraussetzungen nicht mitbrächten. Selbst wenn an der einen oder anderen Stelle der Maasübergang glücke, könnten die vorgeworfenen schnellen Kräfte dem sofort einsetzenden stärksten taktischen Druck des Gegners nicht standhalten; eine operative Auswirkung werde ihnen mit Sicherheit versagt bleiben. Sodenstern zog daraus den Schluß, den Maasübergang von Infanteriedivisionen erkämpfen zu lassen und die schnellen Truppen für den Vorstoß ins französische Hinterland aufzusparen. Das entsprach durchaus dem, was auf französischer Seite gedacht wurde, nur war es noch nicht ganz vollständig. Wie jedermann in der hohen Führung wußte, war ein rangierter Gesamtangriff über die Maas mit Infanterie und schwerer Artillerie erst nach neun oder zehn Tagen möglich. Dies bildete in etwa die Zeitspanne, die dem Gegner Gelegenheit gab, entsprechende Verstärkungen an die Maas heranzubringen. Wenn freilich erst genügend französische Artillerie sowie gepanzerte und ungepanzerte Reserven in großer Zahl am Fluß standen, versprach der Maasübergang zu einer reichlich aufwendigen Veranstaltung zu werden. Es mochte sich dann leicht das bekannte Bild des Ersten Weltkriegs wiederholen, daß lange Zeit unter ungeheurem Materialaufwand an einer Stelle gekämpft wurde, ohne einen Durchbruch zu erzielen. Eben dies wollte Haider vermeiden. Deswegen schrieb er in seiner Antwort an Sodenstem, unter den gegebenen Verhältnissen könne die gestellte Aufgabe nicht gelöst werden mit den aus dem letzten Krieg geläufigen Mitteln. Ein normaler Vormarsch an die Maas und ein frontales Abringen an diesem Abschnitt biete keine begründete Erfolgsaussicht Vielmehr müsse die deutsche Seite ein Risiko eingehen und das zum Tragen bringen, worin sie überlegen sei: die Luftwaffe, die Stärke der schnellen Verbände und die Erfahrung in ihrer Handhabung, die Führungskraft und Selbständigkeit der Kommandeure, also eigentlich die Auftragstaktik, schließlich die Gestaltungskraft und Sicherheit des Führungsapparats, also eigentlich die generalstabsmäßige Schulung im operativen Denken.
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Genau darauf war Halders Sichelschnitt-Plan zugeschnitten, und genau damit wurde der Westfeldzug gewonnen (soweit nicht Hitlers Unverstand die Durchführung des Plans behinderte). Haider verkannte nicht, daß für die voranstürmenden Teile auf dem linken Maasufer Stunden schwerer Krisis eintreten würden, wie es dann tatsächlich geschah. Aber er war zuversichtlich, daß die Krise gemeistert werde. Das Risiko, mit den vorgeworfenen Panzerdivisionen nicht über die Maas zu kommen, wollte er eingehen; in diesem Fall blieb immer noch die Möglichkeit, einen rangierten Angriff über die Maas zu versuchen. Als sehr hoch kann Haider jenes Risiko allerdings nicht eingeschätzt haben. Vielmehr war er seiner Sache so sicher, daß er eine besonders riskante Art des Vormarsches zur Maas in Aussicht nahm. Wegen der beengten Straßenverhältnisse in den Ardennen sollten die beiden Panzerkorps der Gruppe Kleist, die als erstes Treffen an zwei Stellen den Maasübergang erzwingen mußten, nicht nebeneinander marschieren, sondern sie sollten hintereinander vorgeführt werden, so daß die Panzergruppe im Grunde nicht in zwei, sondern in drei Wellen oder Treffen antrat (mit dem motorisierten Korps Wietersheim als dritte Welle). Diese Regelung erzeugte einen rund 200 km langen Heerwurm mit entsprechender Luftgefährdung, dazu bei der späteren praktischen Durchführung einen zeitweiligen Verkehrsstau und für das Panzerkorps in der zweiten Welle ein paar Schwierigkeiten, als es im Mai 1940 die Maas zu überqueren hatte. Trotzdem war der Plan erfolgreich; beide Korps kamen schnell über die Maas. Auf dieses höchst ungewöhnliche Verhalten war die alliierte Führung nicht eingerichtet. Der britische Empire-Generalstabschef Ironside dachte zwar im Herbst 1939 an einen deutschen Vorstoß durch die Ardennen, schloß sich aber später der Meinung des französischen Wehrmachtstabschefs und Heeresoberbefehlshabers Gamelin an, der den deutschen Hauptvorstoß im mittleren Belgien erwartete und dort die Entscheidungsschlacht liefern wollte. Dem Gegner in Belgien entgegenzutreten, war ein alter Gedanke Gamelins, der indes auf die Schwierigkeit stieß, daß Belgien seine Neutralität nach Möglichkeit zu wahren suchte und die alliierten Regierungen übereinkamen, sie nicht von sich aus zu verletzen. Lediglich im Falle eines deutschen Angriffs erwarteten Belgien und Holland die Unterstützung der Alliierten, was für das französische Heer bedeutete, unter einigem Zeitdruck in Belgien einmarschieren zu müssen. Schon bei den gemeinsamen Stabsbesprechungen vor dem Krieg wurde ein Vorrücken mindestens bis zur Scheide und günstigstenfalls bis zum Albert-Kanal in Aussicht genommen, allerdings unter dem Vorbehalt, eine Begegnungsschlacht zu vermeiden, also die Wendigkeit der deutschen Führung durch eine festgefügte Front auszugleichen. Im November 1939 entschieden sich Gamelin und der alliierte Kriegsrat für eine mittlere Lösung, d. h. für ein Vorgehen bis zur Dyle-Linie (Antwerpen - Löwen - Namur), die in sechs Tagen erreichbar war, sowie für ein Vorauswerfen schwächerer motorisierter Kräfte in den belgiseben Balkon, um die Belgier zu unterstützen und den deutschen Vormarsch zu verzögern. Daß die belgisehe Armee mit ihren rund 20 Divisionen den deutschen Angriff aufhalten könnte, wurde nicht erwartet; sie sollte hinhaltend
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kämpfen und auf die Dyle-Linie zurückgehen. Im März 1940 wurde der Plan noch ein wenig erweitert, indem eine französische Armee in die südwestlichen Niederlande bei Breda vorgeschoben werden sollte. Auf diese Weise hätte eine durchgehende Verteidigungslinie von der Festung Holland mit rund 10 niederländischen Divisionen über das mittlere Belgien und den Maas-Abschnitt zwischen Namur und Sedan bis zur Maginot-Linie entstehen können. Die Kräfteverteilung und Befehlsgliederung richtete sich an diesem Plan aus. Frankreich besaß am Vorabend des deutschen Angriffs rund 120 Divisionen und Festungsverbände im Mutterland, darunter sieben motorisierte Divisionen, fünf Kavalleriedivisionen, drei mechanisierte Divisionen, die am ehesten mit deutschen Panzerdivisionen vergleichbar waren, und vier Panzerdivisionen, die hauptsächlich zur Infanterieunterstützung dienen sollten. Dazu kamen 11 britische Divisionen, die mindestens teilmotorisiert waren. Vom Grad der Motorisierung her mußten die Alliierten als überlegen gelten, denn das deutsche Heer besaß nur 10 Panzerdivisionen, vier motorisierte Infanteriedivisionen sowie, einsatzmäßig unterstellt, rund drei motorisierte Divisionen der Waffen-SS. Die Masse der französischen Truppen und die britische Expeditionsarmee unter General Gort war unter dem Oberkommando der französischen Nordostfront (General Georges) zusarnmengefaßt und gliederte sich in die Heeresgruppe 1 an der belgiseben Grenze, die Heeresgruppe 2 in der Maginot-Linie an der deutschen Grenze sowie die schwache Heeresgruppe 3 südlich davon (gegen einen deutschen Angriff über die Schweiz). Bei der Heeresgruppe 1 sollte die 7. französische Armee in Richtung Breda vorrücken, die britische Armee ebenso wie die 1. französische Armee in die Dyle-Linie, die 9. französische Armee an die Maas zwischen Namur und Charleville, während die 2. französische Armee den Abschnitt zwischen Sedan und der Maginot-Linie zu verteidigen hatte. Insgesamt verfügte die Heeresgruppe 1 bei Beginn des Westfeldzugs über rund 45 Divisionen (und etliche sonstige Verbände), darunter an motorisierten oder teilmotorisierten sechs französische und neun britische, ferner vier Kavalleriedivisionen, drei mechanisierte und eine Panzerdivision. Die Heeresgruppen 2 und 3 besaßen rund 50 Divisionen und Festungsverbände, zweifellos zuviel, wenn die deutsche Seite die Maginot-Linie nicht angriff, aber bei längerer Kriegsdauer immerhin als Ansammlung von Reserven dienlich. Ansonsten standen im Hinterland noch ungefähr 20 Divisionen in Reserve, darunter eine motorisierte und drei Panzerdivisionen (wovon eine noch nicht ganz fertig war). In der Rückschau ist es leicht, diese Kräfteverteilung zu kritisieren, dagegen durfte sie vom französischen Standpunkt aus als vertretbar gelten. In die Dyle-Breda-Linie konnten bei planmäßigem Verlauf der Operation an die 50 Divisionen einschließlich der Belgier einrücken, darunter Verbände hoher Qualität und mit hohem Motorisierungsgrad wie drei mechanisierte und fünf motorisierte französische Divisionen. Was in der Rückschau als schwache Stelle gilt, nämlich der Abschnitt der 9. und 2. französischen Armee an der Maas und bei Sedan, sollte von sieben Divisionen bei der 9. und fünf Divisionen bei der 2. Armee gehalten werden, dazu kamen bei jeder Armee je zwei Kavalleriedivisionen für den hinhaltenden Kampf
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im Vorfeld. Da die Maas nach Ansicht Gamelins das beste Panzerhindernis in Europa darstellte, schienen diese Kräfte auszureichen, zumal sie aus den vorhandenen Reserven verstärkt werden konnten; in der Tat sind wenige Tage nach Beginn des deutschen Angriffs an die sieben Divisionen aus der französischen Reserve zur 2. und 9. Armee in Marsch gesetzt worden, darunter zwei gepanzerte und eine motorisierte, jedoch für die Verhinderung des Maasdurchbruchs zu spät gekommen. Wovon Führung und Truppe auf französischer Seite überrascht wurden, war die Geschwindigkeit des deutschen Vormarsches. 67 Seit Anfang 1940 erfaßte die deutsche Aufklärung die gegnerischen Kräfte sowohl nach ihrem Umfang als auch nach ihrer Gliederung, zwar nicht in allen Einzelheiten, aber doch in den Umrissen. Am 28. März zeichnete sich Haider auf, daß für den Angriff, der ursprünglich mit rund 70 Divisionen geplant worden war, bis zum Mai noch über 40 Divisionen zusätzlich bereitgestellt werden könnten. Auf der Gegenseite nahm er rund 100 Divisionen an, was der Wahrheit gut entspricht, da der Operation "Gelb" die alliierte Heeresgruppe 1 mit rund 50 Verbänden, dazu ungefähr 20 Divisionen in der Reserve und rund 30 belgisehe/holländische Divisionen gegenüberstanden. Mit einem Einrücken der Alliierten in Belgien wurde gerechnet, mit einem Vordringen motorisierter Kräfte in den belgiseben Balkon ebenfalls, dagegen konnte die Frage, ob die Masse der gegnerischen Kräfte die Dyle-Linie überschreiten würde, allenfalls anhand von Zeitberechnungen beantwortet werden, da sie dazu erst nach knapp einer Woche imstande war. Bei entsprechender Geschwindigkeit des deutschen Angriffs reichte dies jedoch aus, die belgischen und holländischen Streitkräfte rasch zu überrennen. Die relative Schwäche der 9. und 2. französischen Armee war im großen und ganzen bekannt; die zuständige Feindlageabteilung im Generalstab errechnete, daß die durchschnittliche Abschnittsbreite einer Division zwischen Dinant und Sedan etwa 15 bis 25 km betrug. So konnte es kommen, daß bei Sedan drei deutsche Panzerdivisionen auf eine einzige französische Infanteriedivision trafen, noch dazu eine von mäßiger Qualität. Die französische Seite verließ sich auf die Überlegenheit ihrer Artillerie, wie anderswo so auch bei Sedan, und glaubte nicht, daß die Deutschen die für den Maasübergang erforderliche Artillerie schnell heranbringen könnten. Der zuständige Feindlagebearbeiter im deutschen Generalstab, Liss, machte Haider auf die artilleristische Überlegenheit der Gegenseite aufmerksam, denn zwar fanden beim deutschen Heer fast nur neue Waffen Verwendung, beim Feind auch ältere, doch 67 Haider über Operationsplan in Halder, Hitler, 30. Zur Planung der Westmächte Ellis, France, 4f., 22 und passim. Brausch, Sedan, 81, 89f., mit weiteren Angaben. Die Denkschrift Sodensterns vorn 5. 3. 1940 und Halders Antwort vorn 12. 3. 1940 in Jacobsen, Vorgeschichte, 157 ff., 68 ff. Zur Treffengliederung des Panzerkeils auch Halder, KTB I, 203, 206, 214. Ironsidenach dessen Diaries, 118,120, 125 und passim. Zum französischen Einrükken in Belgien und Holland Jacobsen, Gelb, 311, Anrn. 7; sowie ders., Vorgeschichte, 212ff. Zum französischen Aufmarsch Liss, Westfront, 107 ff., 130 ff. Jacobsen, Gelb, 247 ff. Garnelin überMaasals Panzerhindernis nach Ironside, Diaries, 150 (9. 11. 1939). Zum Nachschieben französischer Reserven Liss, Westfront, 157. Allgernein ferner Le Goyet, Garnelin.
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verfügten insgesamt die vier Westgegner mit rund 14 000 Geschützen über fast doppelt soviele wie das deutsche Westheer mit rund 7 400. Halder verwies demgegenüber auf die Überlegenheit der deutschen Luftwaffe, die den Mangel an Artillerie wettmachen konnte; und so ist denn auch der Maasübergang zeitsparend mit Hilfe der Luftwaffe statt mit Hilfe starker Heeresartillerie erzwungen worden. Was den Sichelschnitt hätte gefahrden können, wäre ein starker operativer Gegenstoß in seine Flanke gewesen, insbesondere von Süden. Manstein hatte ja seinen Plan in wesentlichen Stücken darauf gegründet, einen solchen Gegenangriff von Süden zu zerschlagen. Dagegen ergab die Feindaufklärung im Frühjahr, daß die Verteilung der französischen Reserven keinen eindeutigen Schwerpunkt aufwies, so daß zwar taktische Gegenangriffe mit schwächeren Kräften jederzeit möglich waren, das Zusammenziehen einer größeren Streitmacht für einen operativen Gegenstoß jedoch einige Zeit erforderte. Ein deutscher Angriff nach Süden (Rethel) schien daher nicht notwendig zu sein; wenn der Sichelschnitt mit dem vorgeworfenen Panzerkeil schnell durchschlug, würde der Feind alle Hände voll zu tun haben, im Hinterland eine neue Front zu errichten, und würde sich um den methodischen Aufbau eines Gegenangriffs kaum noch kümmern. Das zeigt übrigens auch, daß Mansteins Plan anders angelegt, sozusagen langsamer war als Halders Sichelschnitt-Plan. Der französischen Feindaufklärung wird gelegentlich Versagen vorgeworfen, weil sie weder den deutschen Aufmarsch zureichend erfaßt noch den Angriffsschwerpunkt erkannt habe. Das ist in dieser Form übertrieben. Während des Kriegesgenaue Kenntnisse über den Gegner zu erlangen, war mit den damaligen Mitteln sehr schwierig; auch der deutschen Seite ist es nicht gelungen. Die Gliederung der französischen Panzerdivisionen blieb der deutschen Aufklärung unbekannt, längst nicht alle Verbände wurden sicher erfaßt und die Zahl der vorhandenen Panzer konnte man nur schätzen (tatsächlich waren es knapp 3 400 in der Front, wobei von den 60 französischen Panzerabteilungen 33 zu den Heerestruppen gehörten, also einzelnen Divisionen oder Korps zugeteilt wurden). Die französische Aufklärung schätzte die Gesamtzahl der deutschen Divisionen und Panzer zu hoch ein, weil sie in den östlichen Reichsgebieten weit mehr Verbände vermutete als dort wirklich standen und weil sie eine starke Panzerreserve annahm, die es nicht gab. Ansonsten waren die französischen Feindnachrichten durchaus nicht unbrauchbar, jedenfalls nicht im Rahmen dessen, was von der Aufklärung billigerweise erwartet werden darf. Im Frühjahr 1940 erfaßte man hinter der luxemburgisch-belgisch-niederländischen Grenze 63 deutsche Divisionen, dazu hinter dem Rhein 10-12 Divisionen in Reserve sowie zwischen Mosel und Rhein 25 Divisionen, die sicher zum Teil der Maginotlinie gegenüberstanden, zum Teil aber auch für einen Angriff durch Luxemburg bereitstehen konnten (was tatsächlich der Fall war). Damit ergab sich ein Angriffsaufmarsch von mindestens 70 Divisionen, wozu noch die Heeresreserve kam, die aber nach den französischen Vorstellungen über die Gesamtstärke des deutschen Heeres zweifellos verstärkt werden konnte. Das stellte ein gutes Ergebnis dar, denn in Wahrheit verfügten die Heeresgruppen B und A am Angriffstag über 75 Divisionen, wozu noch 43 Verbände an Heeresreserven traten.
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Zur Täuschung der Franzosen hat möglicherweise beigetragen, daß die Aufmarschstreifen der deutschen Armeen schräggestellt waren, also nicht in west-östlicher Richtung verliefen, sondern von Südwesten nach Nordosten. Dadurch erschien eine Anzahl von Verbänden weiter nördlich, d. h. Divisionen, welche den Maasdurchbruch erzwingen sollten, standen ungefähr auf der Höhe von Lüttich. Wo der deutsche Angriffsschwerpunkt liegen würde, ließ sich weder aus der Verteilung der deutschen Kräfte im Raum noch aus dem entsprechenden französischen Lagebild entnehmen. Man hätte dazu mindestens eine genaue deutsche Befehlsgliederung mit den zugehörigen geographischen Abgrenzungen gebraucht, aber derartiges hat umgekehrt die deutsche Aufklärung auch nicht beigebracht. Die deutschen Panzerdivisionen wurden von der französischen Aufklärung grob erfaßt, doch selbst wenn die Angaben genauer gewesen wären, hätte sich damit nicht viel anfangen lassen. Zieht man eine gerade Linie vom Gebiet um Lüttich/Namur nach Osten, so standen von den acht Panzeransammlungen, welche die französische Aufklärung annahm, fünf nördlich dieser Linie und drei südlich davon. Macht man dasselbe mit dem wirklichen deutschen Aufmarsch, so standen von 10 Panzerdivisionen sechs nördlich der besagten Linie und vier südlich. In beiden Fällen würde der Betrachter wohl den Schluß ziehen, der deutsche Angriffsschwerpunkt liege eher bei Lüttich oder nördlich davon als südlich Namur. Im übrigen mußte die französische Führung in jedem Fall mit einem deutschen Vorgehen an die Maas rechnen, denn selbst wenn der deutsche Angriffsschwerpunkt bei Lüttich lag, würde er jedenfalls in seiner linken Flanke durch starke Kräfte gedeckt werden, wie es ja auch die früheren deutschen Aufmarschanweisungen vorgesehen hatten. Wodurch die französische Führung wirklich überrascht wurde, war nicht so sehr der Umstand, daß sieben deutsche Panzerdivisionen und drei motorisierte Divisionen auf die Maas südlich Namur angesetzt wurden, als vielmehr die Tatsache, daß die vordersten Divisionen schon am vierten Angriffstag den Fluß überquerten. Hätten die Panzer 10 Tage gebraucht, so wäre die Überraschung nicht eingetreten. In der Geschwindigkeit lag das Geheimnis des deutschen Erfolges, nicht in ein paar läßlichen Sünden der französischen Aufklärung. Insofern blieb auch die Überschätzung der deutschen Gesamtzahl an Divisionen und Panzern belanglos. Wichtig war nicht, ob das deutsche Heer die vermuteten 190 Divisionen besaß (es waren 157), sondern wichtig war die richtige Erkenntnis, daß sich darunter rund 110 Angriffsdivisionen befanden. Wichtig war nicht, ob das deutsche Heer 5 000 Panzer besaß, sondern wichtig war die richtige Erkenntnis, daß es über 10 Panzerdivisionen mit 35 Panzerabteilungen verfügte. Nach den vorliegenden Angaben scheinen im Mai 1940 fast 4 000 Panzer den deutschen Bestand gebildet zu haben, doch befanden sich darunter viele ausgemusterte leichte Panzer, so daß im Westen tatsächlich nur rund 2 500 Kampfwagen eingesetzt wurden. Über die Panzer brauchten sich die Franzosen den Kopf nicht zu zerbrechen, weil sie getrost davon ausgehen durften, daß ihre eigenen Panzertypen den deutschen mindestens gewachsen waren. Schwierig wurde es erst, wenn die Deutschen ihre Überlegenheit in der Auftragstaktik sowie in der Handhabung der Panzerwaffe bei der Bewegung im freien Feld
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ausspielen konnten. Doch würde dies nicht eintreten, solange der Zusammenhang einer festen, durchlaufenden Front hielt. 68 Daß es dann doch eintrat, ist schon fast der ganze Hergang des Westfeldzugs. Der deutsche Angriff begann arn Morgen des 10. Mai 1940, nachdem er in Hinblick auf die Wetterlage arn Vortag von Hitler befohlen worden war. Bei der Heeresgruppe B am Nordflügel hatte die 18. Armee einerseits an die Ostfront der Festung Holland (sog. Grebbe-Linie) nördlich des unteren Rhein heranzugehen und andererseits südlich davon mit schnellen Kräften in Richtung Scheidemündung vorzustoßen, um sowohl die Verbindung zu den alliierten Streitkräften abzuschneiden als auch die Voraussetzungen zu schaffen, um im Zusammenwirken mit Luftlandetruppen überraschend in die Südfront der Festung Holland einzubrechen. Das letztere stellte möglicherweise ein Zugeständnis an Hitler dar, welcher sich für den Westfeldzug allerlei taktische Mätzchen ausgedacht hatte. So sollten Luftlandungen beim niederländischen Regierungssitz Den Haag stattfinden, um die Königin gefangenzunehmen; zur Unterstützung sollten die Brücken über das Rhein-MaasDelta südlich Rotterdam durch Luftlandungen besetzt werden, um schnell zu den Truppen bei Den Haag durchbrechen zu können; ferner waren, teils durch Kommandounternehmen, teils durch Luftlandungen, die Maasbrücken bei Maastricht sowie Brücken über den Albert-Kanal zu nehmen; und schließlich sollte die belgische Festung Eben-Emael, die nördlich Lüttich den Maasübergang sperrte, durch eine Luftlandung (mit Lastenseglern) überraschend besetzt werden. Dazu ist zu sagen, daß grundsätzlich zweifellos Luftlandetruppen verwendet werden können, um Objekte im feindlichen Hinterland, etwa Brücken, zu nehmen. Nur sollte das Risiko überschaubar sein und der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zum wahrscheinlichen Ertrag stehen. Im Norwegen-Feldzug waren die Luftlandungen bei Oslo und Stavanger empfehlenswert, wo nicht nötig gewesen, um die Anlandungen von der Seeseite zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dagegen enthielten die von Hitler gewünschten Sonderunternehmungen ein weitgehend überflüssiges Risiko, auf dem sich ein Feldzugsplan nicht aufbauen ließ. Hätte die Heeresgruppe B keine andere Möglichkeit zum Überqueren von Maas und AlbertKanal besessen als Hitlers Brückenunternehmungen, so wäre sie zum Angriff wohl besser gar nicht erst angetreten. Es hätte dann der Fall eintreten können, daß alle Brückenunternehmungen mißglückten und die Heeresgruppe fortan das Kriegsgeschehen vom Ufer aus betrachtete. Natürlich ließ sich das OKH darauf nicht ein, sondern es griff auf dasjenige zurück, was für Flußüberquerungen üblicherweise zur Verfügung steht, nämlich Pioniere mit Brückengerät Als Hitlers Brückenunternehmungen bei Maastricht fehlschlugen und alle Maasbrücken in die Luft flogen, 68 Allgemein zur deutschen und französischen Aufklärung Liss, Westfront, 120 ff., sowie die Aufstellung über die Panzerstärken und die Lagekarten im Anhang. Liss, Tätigkeit. Brausch, Sedan. Haider am 28. 3. 1940 in dessen KTB I, 237 f. Zu den deutschen Panzerdivisionen und Panzern auch Gamelin, Servir I, 157 ff., 259, 272; III, 280 f. Müller-Hillebrand II, 106f. MGFA, Weltkrieg V/1, 554 (Beitrag Müller).
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focht das die Heeresgruppe nicht sonderlich an; sie kam trotzdem schnell über die Maas. Am Albert-Kanal glückte Hitlers Indianerspiel nur bei zwei Brücken; aber jedes der dort angesetzten drei Korps überschritt den Kanal mit mehreren Brücken aus Eigenmitteln. Die geglückte Besetzung von Eben-Emael stellte für die beteiligten Truppen ein Kabinettsstückehen dar und war ansonsten für den Feldzugsverlauf weitgehend belanglos. Die 6. Armee sollte mit der Masse ihrer Verbände sowieso nicht hier über die Maas gehen, sondern nördlich um Maastricht herumschwenken. Die niederländische Königin entging der Gefangennahme, da die Luftlandung bei Den Haag unter schweren Verlusten fehlschlug. Lediglich die Brücken südlich Rotterdam konnten genommen werden, doch hätten ohne diesen Erfolg die Niederlande auch nicht viellänger durchgehalten. Da man nun aber die Brücken schon einmal hatte, entschloß man sich am 12. Mai, die 9. Panzerdivision, die zuvor bereits französische Vorhuten bei Breda zurückgeschlagen hatte, mit weiteren Kräften über die Brücken auf Rotterdam bzw. die Festung Holland anzusetzen. Andere Kräfte, darunter ein SS-Verband, drängten die Franzosen nach Antwerpen zurück und säuberten anschließend die Südwestecke der Niederlande. Bei Rotterdam blieben die deutschen Truppen an der niederländischen Verteidigung zunächst hängen, so daß am 14. Mai ein Luftangriff auf die Stadt angesetzt wurde, der trotz einer sich anbahnenden Übergabe des Ortes nicht mehr aufgehalten werden konnte. Im Grunde überflüssig und mit einigen Opfern verbunden, beschleunigte der Angriff indes die Bereitschaft der Holländer zur Kapitulation, die am 15. Mai unterzeichnet wurde. Königin und Regierung der Niederlande gingen nach London ins Exil. Unterdessen war auch der andere Flügel der Heeresgruppe B, die 6. Armee, gut vorangekommen. Während die Belgier vor den über den Albert-Kanal angreifenden Infanteriekorps zurückgingen, stieß das unterstellte Panzerkorps auf vorgeworfene mechanisierte Divisionen eines französischen Kavalleriekorps, die sich achtbar schlugen, aber mit Unterstützung durch die Luftwaffe bis zum 15. Mai auf die Dyle-Linie 'zurückgeworfen wurden. Die Heeresgruppe B hatte damit wesentliche Teile ihres Auftrags bereits erfüllt, nämlich Holland besetzt, starke Feindkräfte auf sich gezogen und diese bis an die Dyle-Linie zurückgedrängt. Mehr hatte Haider von ihr nicht erwartet; in einer Lagebeurteilung vom 13. Mai hielt er fest, ein Angriffserfolg sei bei der 6. Armee kaum noch zu erwarten, bloß noch ein Raumgewinn durch das Panzerkorps, da der Aufmarsch der Alliierten in der Dyle-Linie allmählich zum Abschluß komme. Dagegen habe man südlich Namur einen unterlegenen Feind vor sich im Kräfteverhältnis 2:1. Das Ergebnis des Maas-Angriffs werde entscheiden, ob, wo und wann man von dieser Überlegenheit Gebrauch machen könne. Schon am Abend desselben Tages erhielt Haider die Nachricht, daß bei der Heeresgruppe A drei Panzerkorps an drei Stellen die Maas überschritten hatten. Der Sichelschnitt begann Gestalt anzunehmen. 69 69 Allgemein zum Westfeldzug die Schrifttumsangaben bei Dahms, 162 ff. MGFA, Weltkrieg II, 244ff. (Beitrag Umbreit). Ausgewählte Quellen bei Jacobsen, Westfeldzug. Haider
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In der Rückschau läßt sich leicht das Rezept finden, wie der schnelle deutsche Maasdurchbruch hätte verhindert werden können: Wären die langen deutschen Fahrzeugkolonnen auf den engen Straßen der Ardennen konzentriert und rücksichtslos aus der Luft angegriffen worden, dann wären sie so lange steckengeblieben, daß die Zeit ausgereicht hätte für das Heranführen starker französischer Reserven. Warum fanden solche Luftangriffe nicht statt? Am 10. Mai verfügten alle Weststaaten über rund 1 200 Jagdflugzeuge und etwa 500 Bomber auf dem Kontinent. Die Zahlen hätten höher sein können, wenn Britannien nicht beträchtliche Kräfte auf der Insel zurückgehalten und wenn Frankreich die im Gang befindliche Umrüstung seiner Luftstreitkräfte besser organisiert hätte. Bei der deutschen Luftwaffe sollte die Luftflotte 2 unter General Kesselring die Heeresgruppe B unterstützen, die Luftflotte 3 unter General Sperrle die Heeresgruppe A. Heide Luftflotten zusammen besaßen ungefähr 1 200 Jäger (einschließlich Zerstörer bzw. Begleitjäger) und 1 500 Bomber (einschließlich Sturzkampfflugzeuge). Insgesamt war die deutsche Seite deutlich überlegen, bei den Bombern schon im bloßen Zahlenverhältnis, ansonsten wegen der durchschnittlich besseren Qualität des Materials. Ferner standen den Weststaaten bei ihren Bodenstreitkräften rund 2 500 Flugabwehrgeschütze zur Verfügung, den deutschen Angriffstruppen rund 1 800, wovon der größere Teil in zwei Flakkorps zusammengeiaßt war, die jeweils eine der beiden Heeresgruppen zu unterstützen hatten. Mit Hilfe der Flakkorps konnte örtlich eine starke Flugabwehr aufgebaut werden. Der Operationsplan der deutschen Luftwaffe stellte ab Feldzugsbeginn die Unterstützung des Heeres in den Vordergrund, teils durch die nahe oder weiträumige Bekämpfung gegnerischer Bodentruppen, teils durch das Gewähren von Jagdschutz; Angriffe auf Flugplätze in Frankreich sollten von der Luftflotte 3 hauptsächlich am ersten Angriffstag durchgeführt werden. Ein schnelles Ausschalten der alliierten Luftmacht konnte damit, außer im Falle Hollands, nicht erreicht werden; lediglich im Verlauf längerer Kämpfe war mit einem Abnützen der gegnerischen Luftstreitkräfte und dem Erringen der Luftüberlegenheit oder Luftherrschaft zu rechnen. Die Alliierten wären also zu starken und wirkungsvollen Luftangriffen in den Ardennen fähig gewesen, seien es Schläge mit zusammengefaSten Bomberverbänden oder seien es Jägerangriffe, die zumindest bei ungepanzerten Kolonnen einige Stockungen verursachen konnten. Derartige Angriffe blieben an den entscheidenden Tagen aus; Unternehmungen mit Jägern gab es gar nicht, und die vereinzelten Bombereinsätze blieben zu schwach. Der Grund liegt einfach darin, daß das alliierte Oberkommando anfangs keine Veranlassung sah, die eigentlich notwendige Konzentration der Kräfte auf Lufteinsätze in den Ardennen vorzunehmen. Die Aufmerksamkeit richtete sich hauptsächlich auf den Nordflügel der Operationen, also den Vormarsch nach Belgien; dorthin legte man an den ersten Tagen die größeren Anstrengungen des Luftkriegs. Gemäß herrschender Lehre war das nicht über Brückengerät sowie seine Lagebeurteilung vom 13. Mai 1940 in seinem KTB I, 288 ff., 293 f. Zur Waffen-SS im Westfeldzug auch G.H. Stein, Waffen-SS.
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falsch, da niemand an einen Panzerdurchbruch an der Maas innerhalb weniger Tage glaubte. Erst am 13. Mai, als die Maas bereits an drei Stellen überschritten wurde, begann man die Gefahr zu erkennen. Am 14. und 15. Mai lieferten sich die Luftwaffe und die Alliierten eine Luftschlacht an den Maasübergängen, vor allem bei Sedan, deren einziges Ergebnis darin bestand, daß die alliierten Fliegerverbände, die bereits an den Tagen zuvor bei ihren verstreuten Einsätzen starke Verluste erlitten hatten, weiter geschwächt wurden, teils durch Jäger, teils durch Flak. Die Gelegenheit, den deutschen Panzerkeil noch aufzuhalten, war bei Sedan und an den anderen Maasübergängen wahrscheinlich bereits vertan; man hätte sie vorher wahrnehmen müssen. Doch zeigte der Luftkrieg mit seinen verzettelten oder verspäteten Einsätzen in den Ardennen dasselbe Bild wie der ganze Operationsplan der Alliierten: Auf die Geschwindigkeit des deutschen Vorstoßes war man nicht gefaßt. 70 Die Schnelligkeit als wesentlicher Bestandteil von Halders Sichelschnitt-Plan, im Rahmen der Auftragstaktik verwirklicht von entschlossenen Kommandeuren, vor allem bei der Panzerwaffe, aber auch getragen von der Truppe, nicht zuletzt der im Fußmarsch voraneilenden Infanterie - diese Schnelligkeit stürzte den Gegner immer wieder in Verwirrung, die sich bei Verbänden, welche von Panzer- oder Luftangriffen betroffen bzw. überrollt wurden, öfters bis zu Auflösungserscheinungen steigerte. Der Gegner vermochte, auch wo er tapferen Widerstand leistete, die Durchführung von Halders Plan nirgendwo ernsthaft zu gefährden. Dagegen stieß der Grundsatz der Schnelligkeit, welcher Halders Plan gerade sein unverwechselbares Gepräge gab, innerhalb der deutschen Führung auf manche Hindernisse. Als sich am zweiten Angriffstag, dem 11. Mai, einige Stockungen abzuzeichnen schienen, verständigten sich Haider und Brauchitsch auf eine Art Arbeitsteilung, wonach der Oberbefehlshaber bei der Heeresgruppe A Druck machen wollte, der Generalstabschef bei der 18. Armee. Über den Vorwärtsdrang von General Bock, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, brauchte sich allerdings Haider in Zukunft keine Sorgen zu machen. Am 20. Mai stellte er sich sogar die Frage, ob Bock in seinem ehrgeizigen Drängen nach vom nicht gewissermaßen das Wild vor Kleist vorbeitreibe. Gemäß dem Bild von Hammer und Amboß sollte ja die Heeresgruppe A mit der Panzergruppe Kleist den Feind gegen die Heeresgruppe B schmettern. Wenn jedoch letztere zu schnell, erstere zu langsam vorwärtskam, entstand entweder, wie Haider sagte, eine ganz gemeine (=gewöhnliche) Umfassung, oder der Feind mochte noch über die Somme entwischen. An Rundstedts Heeresgruppe A lag es also, ungestüm vorwärtszudrängen. Nach dem Eingreifen von Brauchitsch am 11. Mai erteilte Rundstedt der Panzergruppe Kleist den Auftrag, ohne Rücksicht auf Flankenbedrohung möglichst schnell den Maasübergang zu erzwingen. Während General Guderian ursprünglich geplant hatte, mit seinem Panzerkorps am fünften Angriffstag (14. Mai) bei Sedan 70 Zum Luftkrieg A. Harvey, Armee. R. Jackson, Air War. Astier. Weisungen der Luftflotten 2 und 3 vom Dezember 1939 bei Jacobsen, Vorgeschichte, 172 ff., 190 ff.
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die Maas zu überschreiten, nahm die Heeresgruppe nunmehr in Aussicht, das Tempo erheblich zu verschärfen und mit allen drei Panzerkorps möglichst noch am 12. Mai, also am dritten Angriffstag, den Fluß zu überqueren. Ganz so schnell waren die Panzerdivisionen dann doch nicht; immerhin konnte Haider am Abend des 13. Mai in genauer Beschreibung der Sachlage festhalten, das Panzerkorps Hoth habe bei Dinant auf dem Westufer der Maas Fuß gefaßt (es hatte seit dem Morgen mit zwei Divisionen Brückenköpfe errichtet), das Panzerkorps Reinhardt habe bei Montherme die Maas überschritten (es hatte seit dem Nachmittag schwache Kräfte einer Division auf das jenseitige Ufer gebracht), und das Panzerkorps Guderian habe beiderseits Sedan das westliche Maasufer gewonnen (es war mit drei Divisionen dorthin vorgedrungen, mußte jedoch in der Nacht den Brückenkopf noch ausweiten). Angesichts dieser erfreulichen Lage ging Haider am 14. Mai daran, den weiteren Vorstoß zu planen. Er wollte den Durchbruchskeil der Heeresgruppe A so vorwärtstreiben, daß die 4. Armee am rechten Flügel die französische Grenzverteidigung entlang der belgiseh-französischen Grenze aufrollte, während südlich davon die 2. Armee neu einzuschieben war und auf Amiens an der unteren Somme vorzugehen hat.te. Die 12. Armee, die einstweilen noch den Maasübergängen zustrebte, sollte jenseits des Flusses eine Verteidigungslinie auf der Landzunge zwischen den Flüssen Oise und Aisne in der Linie La Fere - Rethel besetzen, um gegnerische Angriffe an der Südflanke abwehren zu können. Die Panzergruppe Kleist wollte Haider zusammenfassen und auf der Naht der 2. und 4. Armee in Richtung auf St. Omer an die Küste vortreiben, wo sie bei den Häfen Dünkirchen, Calais und Boulogne die Einkreisung vollenden konnte. Stolz vermerkte Halder, er habe am Nachmittag des 14. den entscheidenden Befehl über die Weiterführung der Operation selbst diktiert. Der durchdachte und einleuchtende Plan kam jedoch zunächst nicht zur Durchführung. Bei der Heeresgruppe A waren Rundstedt, Kleist und Guderian am 13./14. Mai übereingekommen, vor der Panzergruppe rasch einen zusammenhängenden, nach Westen ausgeweiteten Brückenkopf zu bilden. Am 14. Mai unterstellte sodann Rundstedt die Panzergruppe der 12. Armee und erteilte dieser am 15. Mai den Auftrag, ohne Rücksicht auf Flankengefährdung hinter der Panzergruppe, die "am losen Zügel" zu führen sei, nach Westen vorzudringen. Das stellte sicher eine denkbare Lösung dar, nur entsprach es eigentlich nicht dem, was Haider vorhatte. Der Generalstabschef wollte die Panzergruppe ohne Bindung an eine Infanteriearmee vorstoßen und die linke Flanke durch die nach Süden abschwenkende 12. Armee decken lassen. Der Gedanke des Flankenschutzes fesselte ab dem 15. Mai auch die Aufmerksamkeit der Heeresgruppe A, wobei Rundstedt selbst hervorhob, dem Gegner dürfe keine Gelegenheit gegeben werden, zu einem Erfolg zu kommen, deswegen müsse notfalls das Tempo der motorisierten Kräfte gebremst werden. In diese Zwickmühle war Rundstedt geraten, als er am 15. Mai das Abdrehen der 12. Armee nach Süden abgelehnt hatte. Er begründete es mit dem Durcheinander, das entstünde, wenn die 12. Armee jetzt plötzlich eine andere Richtung erhielte, womit
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er wahrscheinlich meinte, daß er seine eben gegebenen Befehle über die Unterstellung der Panzergruppe Kleist und den Angriff der 12. Armee nach Westen nicht zurücknehmen wollte. Brauchitsch unterstützte ihn hierbei, so daß die Panzergruppe und die 12. Armee nun in dem Zwiespalt steckten, einerseits gegen einen kaum noch widerstandsfähigen Feind rasch nach Westen vordringen zu können, aber andererseits aus Sorge um die linke Flanke die Geschwindigkeit zu drosseln. Daraus entstanden einige Reibereien zwischen Guderian und Kleist, weil letzterer, im Grunde gegen seinen Willen, den Panzerkorps Zügel anlegen mußte. Halders Absicht, die 12. Armee zur Flankensicherung nach Süden einzudrehen und die schnellen Truppen sowie die 2. Armee nach Westen vorzutreiben, wurde am 18. Mai schließlich doch noch verwirklicht- weil nunmehr Hitler eingegriffen hatte. Daß Halders Plan vom 14. Mai zunächst verwässert worden war, scheint der Generalstabschef hingenommen zu haben, da trotzdem, wie er am 16. Mai verzeichnete, der Durchbruchskeil sich in geradezu klassischer Form entwickelte. Am 17. Mai zog er aus der günstigen Lageentwicklung den Schluß, man könne nunmehr sogar daran denken, den Vorstoß nach Westen aufzuspalten, um nicht mehr in einem ersten Takt des Feldzugs die Streitkräfte nördlich der Somme zu vernichten und anschließend in einem zweiten Takt den Feldzug abzuschließen, sondern sofort, in einem Zug, den Gegner niederzuwerfen. Zu diesem Zweck sollte der Feind nördlich der Somme von der Heeresgruppe B erledigt werden, welcher dazu als südlicher Zangenarm die 4. Armee mit schnellen Truppen zu unterstellen war. Dagegen sollte die Heeresgruppe A die Operation nach Südwesten fortsetzen, um später mit dem rechten Flügel über Paris nach Südosten einzuschwenken. Auf diese Weise wären zwei Kessel entstanden: ein kleinerer an der Küste und ein großer zwischen Paris und der Maginotlinie, ähnlich wie ihn der Schlieffen-Plan vorgesehen hatte. Dieser Plan scheiterte wiederum, und zwar nunmehr am Widerstand Hitlers. Der Generalstabschef hatte seit Tagen sorgfaltig die Feindlage beobachtet, insbesondere das Heranführen französischer Reserven vor die Front des Durchbruchskeils und an dessen linke Flanke. Seinen neuen Plan vom 17. Mai stützte Haider unter anderem auf die Beobachtung, daß der Gegner für einen operativen Angriff an der linken Flanke noch zu schwach war, was zur selben Zeit übrigens auch die Heeresgruppe A erkannte. Wer es nicht erkannte, war Hitler. Er zeigte eine unverständliche Angst um die Südflanke, tobte und brüllte und hätte am liebsten den Vormarsch ganz angehalten, um nur ja kein Risiko einzugehen. Es wollte ihm nicht einleuchten, daß die ganze Operation auf dem Verhältnis von Zeitberechnungen aufgebaut war. Gefährliche Angriffsgruppierungen des Gegners an der Südflanke waren nicht vorhanden, konnten nach Zeit und Bahnleistung auch noch gar nicht vorhanden sein, und bis sie versammelt waren, würde ebenso die deutsche Seite genügende Verstärkungen aus ihrer umfangreichen Heeresreserve nachgeschoben haben. Auf der anderen Seite gab das Verzögern des deutschen Vormarsches dem Gegner Gelegenheit, vor dem Durchbruchskeil eine Abwehrfront zu errichten, so daß vielleicht die EinkesseJung ganz scheiterte. Die Lösung wurde
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schließlich gefunden, indem das OKH auf Halders Plan vom 14. Mai zurückgriff. Hitler stellte man zufrieden, indem die 12. Armee die Abwehrfront beiderseits Laon übernahm, und gewissermaßen im Gegenzug gab Hitler am 18. Mai die Bewegung nach Westen frei, wobei die schnellen Truppen der 4. Armee unterstellt wurden und die neu eingeschobene 2. Armee nachrücken sollte. In Frankreich trat an die Stelle Gamelins am 20. Mai General Weygand, der nur noch versuchen konnte, die Truppen aus dem sich abzeichnenden Kessel nach Süden ausbrechen zu lassen, während die Briten bereits einen Rückzug über den Kanal ins Auge faßten. Das erstere glückte nicht, das letztere immerhin zum großen Teil. Am 19. Mai trat die Panzergruppe Kleist, rechts daneben dann auch noch die Panzergruppe Hoth, aus der unterdessen erreichten Sambre-Oise-Linie in der allgemeinen Richtung Arras an. Halders Operationsgedanke war, durch eine große Rechtsschwenkung westlich um Arras herum die gegnerischen Streitkräfte sowohl von ihrer Rückzugslinie nach Süden als auch von der Küste abzuschneiden. Nachdem das Panzerkorps Guderian am 20. Mai Amiens und Abbeville an der Sommemündung erreicht hatte, befahl das OKH am 21. Mai den Angriff der Panzergruppe Kleist an der Küste nach Norden in Richtung auf die Häfen Boulogne und Calais sowie in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai die Fortsetzung des Angriffs nach Nordosten in Richtung auf die Häfen Dünkirchen und Ostende. Am 24. Mai hatte das Panzerkorps Guderian mit der 2. und 10. Panzerdivision Boulogne und Calais erreicht (die Orte fielen am 25./26. Mai), während die verstärkte 1. Panzerdivision kurz vor Dünkirchen stand. Am selben Tag, am 24. Mai, gab Hitler seinen berüchtigten Halt-Befehl, wonach die schnellen Truppen eine inzwischen erreichte Linie südlich Dünkirchen nicht überschreiten durften, vielmehr die eingekesselten Feindteile durch den Angriff infanteristischer Kräfte zu vernichten waren. Daß Hitler seinen Halt-Befehl am 26. Mai wieder aufhob, nützte nicht mehr viel, denn erstens hatte der Gegner mittlerweile Zeit gefunden, sich zur Verteidigung einzurichten, zweitens wünschte Hitler einen Angriff, bei welchem die Panzerdivisionen an verschiedenen Stellen verzettelt wurden, und drittens erlaubte Hitler ein Herangehen an Dünkirchen nur bis auf Artillerieschußweite, was unter den gegebenen Verhältnissen keine große Wirkung versprach. So kam es, daß starke Feindteile sich in einem Kessel um Dünkirchen bis zum 4. Juni halten konnten und daß bis dahin aus diesem Kessel mehr als 350 000 Mann über See evakuiert wurden, zum größeren Teil Briten sowie rund 140 000 Franzosen, also der Zahl nach ungefähr zwei Armeen. Halder, wegen Hitlers HaltBefehl in loderndem Zorn, zeichnete sich am 30. Mai auf, Brauerutsch sei verärgert, weil die von Hitler erzwungenen Fehler, nämlich der Umweg bei Laon und das Anhalten vor Dünkirchen, Zeit gekostet hatten. Dadurch sei der S'ack um den Gegner zu langsam geschlossen worden, er sei vor allem nicht an der Küste geschlossen worden, und man müsse nun zusehen, wie! bei dem schlechten Wetter, das die Luftwaffe ausschalte, der Feind in großer Zahl vor unserer Nase nach England wegfahre. Zweifellos hatte Hitler durch seine sprunghaften und sachfremden Eingebungen die Vollendung eines großen Erfolges verschenkt; allerdings war in 13 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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die genannten beiden Fehler jeweils auch Rundstedt verwickelt. Wie Hitler bei seiner Angst um die Südflanke in Rundstedts Hauptquartier gekommen war, so kam er auch am 24. Mai zur Heeresgruppe A. Daß er in beiden Fällen von Rundstedt nennenswert beeinflußt wurde, ist indes eher unwahrscheinlich; er suchte wohl nur eine Bestätigung für seine vorgefaßte Ansicht, auch wenn die Sachargumente von Rundstedt eine solche Bestätigung nicht ohne weiteres lieferten. Am 24. Mai war nun die Lage so, daß die Heeresgruppe A Vorbereitungen traf, um den OKH-Befehl für den Vorstoß nach Nordosten durchzuführen. Die Heeresgruppe sollte mit schnellen Kräften, d. h. den Panzergruppen Kleist und Hoth, nach Erreichen einer Linie südlich Dünkirchen (Bethune- St. Omer- Calais) gegen die Linie Armentieres - Ypern - Ostende einschwenken und mit Infanteriedivisionen die Höhenstufe Lens - St. Omer rasch in die Hand nehmen, um von hier aus den schnellen Kräften nach Nordosten zu folgen. Dies konnte nicht sogleich geschehen, denn einerseits waren die vorgesehenen Infanteriedivisionen noch nicht zur Hand und andererseits mußten auch die schnellen Divisionen erst bereitgestellt werden, von denen eine Anzahl noch bei Boulogne und Calais, in der Abwehr an der Somme und bei Arras gebunden war. Man muß deutlich sehen, daß es nicht nur um Dünkirchen ging, das mit der einen oder anderen Panzerdivision wohl hätte genommen werden können, sondern um den gesammelten Stoß mit starken Kräften in den Rücken des Gegners. Als Hitler am 24. Mai bei der Heeresgruppe A weilte, setzte ihm anscheinend Rundstedt den Floh ins Ohr, die schnellen Truppen könnten an der bislang erreichten Linie Lens - Bethune - St. Omer - Küste angehalten werden, um den von der Heeresgruppe B gedrängten Feind aufzufangen. Daß Rundstedt den Angriff der schnellen Truppen ganz einstellen wollte, ist kaum anzunehmen, denn als Absicht der Heeresgruppe für den nächsten Tag wurde schriftlich festgehalten, die Gruppen Kleist und Hoth für den weiteren Angriff nach Nordosten zu gruppieren- also den Auftrag des OKH auszuführen. Der Vorstoß nach Nordosten hätte dann am 25. oder 26. beginnen können, und zwar mit etwa neun Panzerdivisionen und mehreren motorisierten Verbänden. Was das Auffangen des Gegners betrifft, so kann Rundstedt gemeint haben, falls vorher ein Angriff des Gegners an der Linie Bethune - Küste erfolge (am 23. Mai hatte man zeitweise einen solchen befürchtet), dann könne er von den bereits versammelten schnellen Divisionen aufgefangen werden. Wie auch immer, Hitler hörte jedenfalls das heraus, was er hören wollte: Die schnellen Divisionen sollten nun nicht mehr für den Angriff bereitgestellt werden, sondern in der öfters genannten Linie zur Verteidigung übergehen, damit die Panzerkräfte für die kommenden Operationen geschont würden und die Luftwaffe Gelegenheit erhielte, sich bei der Zerschlagung des Gegners auszuzeichnen. Durch das, was Hitler anordnete, wurde der Plan des OKH zunichte gemacht, und das war wohl auch die Absicht. Das OKH gab den Kampf nicht auf, sondern erließ am 25. Mai eine Weisung, wonach trotz Hitlers Halt-Befehl der Angriff auf Dünkirchen freigegeben wurde. Rundstedt ging jedoch nicht darauf ein, zumal er an diesem Tag noch einmal fernmündlich die Anweisung des Führers erhielt, die ge-
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nannte Linie nicht zu überschreiten, die Panzer zu schonen und auch beim Angriff gegen Boulogne und Calais auf geringe Panzerverluste zu achten. Waren solche Verfahrensweisen im Rahmen der militärischen Befehlshierarchie ein Skandal, so standen sie in fachlicher Hinsicht in der Nähe dessen, was das berühmte Dichterwort vom Wahnsinn mit Methode umschreibt. Der Halt-Befehl erzeugte nur Nachteile: Er schonte die Panzer nicht, sondern nutzte sie in den anschließenden Kämpfen erst recht ab, er brachte der Luftwaffe einen Mißerfolg und gab dem Gegner die Möglichkeit, noch einiges von dem zu retten, was unter anderen Umständen schon verloren gewesen wäre. Man müßte der Dünkirchen-Angelegenheit keine übertriebene Beachtung schenken, da ja ansonsten der Sichelschnitt ein großer Erfolg war - wenn hier nicht zum ersten Mal dasjenige grell ans Licht getreten wäre, was für Hitlers Kriegführung fortan kennzeichnend wurde: Sie war, um ein modisches Wort zu benützen, kontraproduktiv, indem sie mit all ihrer fachlichen Unfahigkeit dem Gegner in die Hände arbeitete. 71 Im zweiten Feldzugsabschnitt war dieser Sachverhalt an sich ebenso anzutreffen, er fiel nur nicht ins Gewicht, weil Frankreich ohnedies nichts mehr zu gewinnen hatte. Bei der Kesselschlacht um Dünkirchen wurden rund 30 französische Divisionen vernichtet, darunter sechs von sieben motorisierten, alle drei mechanisierten und eine Panzerdivision. Von den britischen Divisionen wurden einige zerschlagen; die entkommenen Truppen würden für längere Zeit kampfunfähig sein, da sie nahezu ihr gesamtes Material verloren hatten. Der belgisehe König vollzog am 28. Mai die Kapitulation seiner Armee und blieb im Land, um dessen zukünftiges Schicksal günstig zu beeinflussen, während die Regierung nach Frankreich und später nach England floh. Für die Niederlande hatte das OKH eine Militärverwaltung vorgesehen, um die abstoßenden Zustände in Polen nicht wiederkehren zu lassen, doch setzte Hitler sich darüber hinweg, indem er am 18. Mai den bisherigen stellvertretenden Generalgouverneur in Polen, Seyß-Inquart, zum Reichskommissar ernannte, was für dieses Land auf ähnliche Zukunftspläne wie im Falle Norwegens hindeutete. Für Belgien konnte das OKH ein solches Schicksal vorerst abwenden. Da Belgien als rückwärtiges Gebiet für den Endkampf um Frankreich unverzichtbar war, wurde ein Militärbefehlshaber für Belgien und Nordfrankreich eingesetzt, wobei der nordfranzösische Bereich nur einen Gebietszipfel im Anschluß an die belgisehe Südwestgrenze beinhaltete. Die Vorbereitungen für den Endkampf gegen Frankreich begannen um den 17. Mai, als Haider seine Gedanken über das Fortführen der Sichelschnitt-Operation entwickelte, die dann nicht verwirklicht wurden. Es blieb demnach bei der Teilung des Westfeldzugs in zwei Abschnitte, so daß im Anschluß an den Sichelschnitt ein zweiter deutscher Angriff erfolgen mußte, nunmehr schwerpunktmäßig an der Front, welche das alliierte Oberkommando mühsam an der Südflanke des Sichel-
71 Die Einzelheiten in Halder, KTB I, 285 ff. Jacobsen, Westfeldzug, 6 ff., 114 ff. Guderian. Zu Dünkirchen auch Warlimont I, 112 ff. Vgl. Jacobsen, Dünkirchen.
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schnitts von der Aisne bis zur Somme aufbaute. Am 20. Mai legte Haider mit Brauchitsch die Grundzüge der neuen Operation fest, wonach aus dem Bereich beiderseits Laon drei Armeen östlich an Paris vorbei in südöstlicher Richtung vorstoßen sollten. Thre wichtigste Aufgabe bestand in der Einschließung der französischen Streitkräfte in der Nordostecke Frankreichs, darunter der Truppen, die nach dem Herausziehen starker Reserven noch in der Maginotlinie verblieben waren und die ihrerseits durch einen Angriff über den Oberrhein gefesselt werden sollten. Westlich an Paris vorbei wollte Haider die Masse der Panzerverbände operieren lassen, wobei es späterer Entscheidung überlassen blieb, ob diese Kräftegruppe nach dem Überschreiten der unteren Seine eine äußere Staffel für die Umfassungsbewegung östlich Paris bildete oder ob sie der Küste entlang in Richtung auf die Biskaya vorstieß. Dieser Plan Halders beruhte auf der strategischen Überlegung, daß Frankreich erstens die Maginot-Linie nicht aufgeben könne, da sie identisch sei mit dem Sicherheitsbegriff des französischen Volkes und bei ihrem Verlassen ein seelischer Zusammenbruch Frankreichs zu gewärtigen sei. Zweitens werde die französische Verteidigung darauf Bedacht nehmen, die Seehäfen und die Verbindungen zu ihnen in der Hand zu behalten, vor allem am Atlantik, weil Frankreich, nach dem Sichelschnitt seiner nördlichen Industriegebiete beraubt, nur noch durch Zufuhren über See seine Kriegsfähigkeit aufrechterhalten könne, sei es aus England, Amerika oder den Kolonien. Frankreich werde sich also in einer langen Linie von der Somme über die Aisne bis zur Maginot-Linie verteidigen, mit stärkeren Kräftegruppierungen nördlich und nordöstlich von Paris. Umgekehrt konnte die Widerstandsfähigkeit Frankreich gebrochen werden, wenn seine Streitkräfte, vor allem östlich Paris, zerschlagen und wenn die Verbindungen zu den Seehäfen durchtrennt wurden. Man sieht, daß den deutschen Generalstabschef ein umfassender strategischer Gedanke leitete; nicht strategische Nebenziele wie die Hauptstadt Paris standen im Vordergrund, sondern das aus der Beurteilung des Gegners wie der Lage allgemein abgeleitete Hauptziel, den Gegner kampfunfähig zu machen. Solch feingesponnene Gedanken waren Hitler nicht zugänglich; er lebte in einer anderen Welt. Ebenfalls am 20. Mai, noch vor der Besprechung Halders mit Brauchitsch, gab Hitler dem Oberbefehlshaber des Heeres seine Richtlinien für den zweiten Feldzugsabschnitt bekannt. Demzufolge sollte, nach der Vernichtung des Feindes nördlich der Somme, zunächst ein Vorstoß auf die untere Seine stattfinden, anschließend ein Hauptangriff beiderseits ·Reims in südwestlicher Richtung und schließlich ein Durchstoßen der Maginotlinie aus dem Saargebiet in südlicher Richtung. Gemeint waren damit offenbar kleinere Umfassungsoperationen, eine bei Paris und eine andere in Hinblick auf die Maginotlinie am Oberrhein. Beide Operationen waren ohne Weitblick, primitiv und entsprachen insoweit dem geistigen Zuschnitt des "größten Feldherrn aller Zeiten". Haider und Brauchitsch gingen bei ihrer anschließenden Besprechung auf solche Unzulänglichkeiten gar nicht erst ein. Damit hatten sie allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Als Brauchitsch und Haider am nächsten Tag ihre Absicht vortrugen, mit sämtlichen schnellen Verbänden westlich Paris vorzugehen und die Umfassung östlich Paris durch
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einen Vorstoß über den Oberrhein zu ergänzen, erklärte Hitler sich zunächst einverstanden. Später teilte er jedoch Keitel und Jodl mit, er habe es sich anders überlegt und wolle die Masse der Panzer ostwärts Paris ansetzen. Eine vernünftige Begründung dafür gab es im Grunde nicht, aber bei Hitler nach vernünftigen Begründungen zu suchen, ist ohnedies ein müßiges Unterfangen, weil dieser Mensch von Natur aus unvernünftig war. Später gab er einmal an, er wolle sichergehen und zuerst das Iothringische Erzbecken in Besitz nehmen, um Frankreich seine Rüstungsbasis zu entziehen. Das war die Art von Argumentation, mit der er später den Rußlandfeldzug zum Scheitern brachte. Am 24. Mai erließ Hitler eine Weisung, wonach die an den Sichelschnitt anschließende Operation in drei Abschnitte zerfallen sollte, nämlich erstens einen Vorstoß mit schwächeren Kräften zur unteren Seine, zweitens einen Hauptangriff beiderseits Reims mit der Masse des Heeres und starken motorisierten Kräften in südöstlicher Richtung, um die Masse des französischen Heeres ostwärts Paris zu schlagen, und drittens erneut den Vorstoß aus dem Saargebiet nach Süden. Einen logischen Zusammenhang hatten die drei Vorstöße nicht; die Weisung entstand aus demselben Geist dilettantischer Rechthaberei und kenntnisloser Willkür wie Hitlers Halt-Befehl von Dünkirchen, der am selben Tag erging. Den Willensbildungsprozeß, der hinter derlei Anordnungen stand, beschrieb Warlimont so: "Aus weitschweifigem Gerede entstanden Ansichten, aus Ansichten Entschlüsse, aus Entschlüssen schriftliche "Weisungen" oder sogar direkte Eingriffe in die Maßnahmen selbst nachgeordneter Kommandostellen des Heeres". Und Haider meinte bei anderer Gelegenheit, ein großes operatives Bild lasse sich aus dem Gerede des Führers nicht gewinnen, also müsse er wohl selber sehen, wie er weiterkomme. Bei Hitlers Weisung vom 24. Mai verzichtete das OKH auf langwierige Auseinandersetzungen. Übermäßig viel konnte man im letzten Takt des Feldzuges nicht mehr falsch machen, da Frankreich nach dem Sichelschnitt so geschwächt sein würde, daß die deutsche Überlegenheit selbst bei einer nur notdürftig brauchbaren Operationsplanung zum Sieg ausreichte. Tatsächlich verfügte die Wehrmacht für den Schlußangriff dann über ll7 Divisionen bei den drei Heeresgruppen (einschließlich C), wozu noch beträchtliche OKH-Reserven kamen, während Frankreich an seiner Nordostfront lediglich rund 70 Divisionen und eine Anzahl von Festungsverbänden einsetzen konnte. Bei der Luftwaffe und den schnellen Truppen war die deutsche Überlegenheit drückend. So arbeitete Haider eine Aufmarschanweisung aus, die sich im großen und ganzen an Hitlers Vorgaben hielt. Etliche Merkwürdigkeiten der Aufmarschanweisung erklären sich aus der Überlagerung der beiderseitigen Ansichten. Die Heeresgruppe B mit drei Armeen sollte aus dem Sommegebiet in zwei verschiedene Richtungen vorgehen: mit der 4. Armee (dabei das Panzerkorps Hoth) auf die untere Seine, mit der 6. Armee (dabei die Panzergruppe Kleist) sowie der 9. Armee östlich an Paris vorbei. Etwas später als die Heeresgruppe B sollte die Heeresgruppe A mit drei Armeen aus dem Gebiet ostwärts Laon antreten, mit der 2. und der 12. Armee (dabei eine neue Panzergruppe Guderian) beiderseits Reims in südöstlicher Richtung vorgehen und mit der
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16. Armee diesen Angriff am linken Flügel unterstützen. Die Heeresgruppe C mit zwei Armeen sollte sich bereithalten, um in einem dritten Operationsabschnitt sowohl einen Angriff aus dem Saargebiet nach Süden als auch einen Angriff über den Oberrhein zu führen. Als Operationsidee war in der Aufmarschanweisung lediglich die Absicht ausgesprochen, die Masse des französischen Heeres im Gebiet Paris - Belfort - Metz zu schlagen und die Maginot-Linie zum Einsturz zu bringen, was durch den Vorstoß der Heeresgruppen B und A nach Südosten zu bewerkstelligen war. In Wahrheit hatte Haider aber eine andere Operationsidee im Sinn. Nach dem Abzug starker französischer Kräfte aus der Maginot-Linie hielt er diese für ein leeres oder fast leeres Festungsgehäuse, so daß es sich nicht lohnte, die Schlagkraft des deutschen Heeres gegen ein solch zweitrangiges Ziel anzusetzen. Vor Hitlers Weisung hatte der Generalstabschef geplant, die schnellen Truppen über die untere Seine vorzuführen und anschließend zu entscheiden, ob die Panzerkorps vollzählig oder zum großen Teil in einer weit ausgreifenden Linksschwenkung um Paris herum das gesamte französische Heer in Nordfrankreich einkesselten. Nachdem Hitler den Hauptangriff mit schnellen Verbänden beiderseits Reims befohlen hatte, drehte Haider seinen alten Plan einfach um: Er wollte jetzt eine große Rechtsschwenkung östlich um Paris herum vollführen. Zu diesem Zweck mußten im Laufe der Operation die schnellen Verbände bei der Heeresgruppe A zusammengefaßt werden, die Trennungslinie zwischen den beiden Heeresgruppen war ungefähr durch Fontainebleau südöstlich Paris zu legen, und die schnellen Verbände waren vor dem linken Flügel der Heeresgruppe A auf Auxerre, ebenfalls südöstlich von Paris, zu führen. Den Rest der französischen Streitkräfte konnte man dann getrost der Heeresgruppe C überlassen, die von der deutschen Grenze in allgemeiner Richtung Dijon nachfolgen mußte. Dieser Plan wurde nicht mehr vollständig durchgeführt, teils weil Hitler solchen Gedanken nur schwer zu folgen vermochte und teils weil Frankreich vorher zusammenbrach. Am 31. Mai begann der deutsche Aufmarsch für den zweiten Teil des Feldzugs, d. h. die Verlegung von Verbänden von der Front bei Dünkirchen an die Front bei Somme und Aisne; der Endkampf um Dünkirchen wurde der 18. Armee überlassen. Am 5. Juni trat die Heeresgruppe B zum Angriff an, am 9. Juni folgte die Heeresgruppe A. Paris fiel kampflos am 14. Juni, nachdem die Regierung die Stadt verlassen hatte. Die französische Truppe wehrte sich anfangs geschickt und hartnäckig, war aber auf die Dauer der deutschen Übermacht nicht gewachsen. Haider versuchte seit dem 6. Juni, dem Diktator seinen Gedanken einer Rechtsschwenkung östlich um Paris herum nahezubringen, stieß indes zunächst nicht auf Verständnis. Immerhin war er zuversichtlich, daß diese Lösung mit der Sicherheit des Amen in der Kirche kommen müsse und daß in einigen Tagen Hitler den Gedanken übernehmen werde. Nachdem sich am 10. Juni abgezeichnet hatte, daß der Generalstabschef mit seiner Vermutung richtig lag, erging am 14. Juni eine Führerweisung, in welcher das Einschwenken aus dem Gebiet östlich Paris auf die Loire oberhalb Orleans enthalten war. Als dies am Tag vorher bekannt wurde, zeichnete
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sich Haider auf, wenn es nicht traurig wäre, daß man in der Arbeit so gehemmt wäre, könnte man lachen. Tatsächlich kam Hitlers Weisung wieder einmal zu spät, um Halders Plan in der ursprünglichen Form noch durchzuführen. Die französische Führung hatte am 12. Juni den Befehl zum allgemeinen Rückzug nach Süden gegeben. Aus dieser Lage konnte Haider das Beste machen, wenn er den französischen Truppen, die aus Nordostfrankreich und der Festungsfront zurückgingen, den Weg verlegte. In Befehlen, die er noch am 13. Juni ausarbeitete, ließ Haider deshalb am 14. anordnen, daß die 6. Armee sowie die 2. und 9. Armee unter dem Kommando der Heeresgruppe A auf die Loire eindrehten, während die Panzergruppen Kleist und Guderian sich dem abziehenden Gegner im Raum Dijon-Schweizer Grenze vorlegten. Zugleich stieß die 4. Armee an die westfranzösische Küste vor, und bei der Heeresgruppe C griff am 14. Juni die 1. Armee im Saargebiet, am 15. Juni die 7. Armee über den Oberrhein die Maginotlinie an, die nur noch von Nachhuten verteidigt wurde. Über den Rest des Feldzugs ist nicht viel mehr zu sagen, als daß Hitler seine wirren Eingriffe in die Operationsführung bis zuletzt fortsetzte. Haider traf am 17. Juni noch einmal operative Maßnahmen in größerem Umfang, als er die abschließende Einkesselung der gegnerischen Kräfte in der Nordostecke Frankreichs veranlaßte und hierzu die Panzergruppe Guderian nach Norden einschwenken ließ. Weiter südlich sollten die Panzergruppe Kleist sowie die 2. und 9. Armee an die obere Loire herangehen, um eine Verteidigung der Franzosen hinter diesem Fluß aus den Angeln zu heben; die Panzergruppe Kleist sollte zu diesem Zweck den Raum um Lyon gewinnen. Am 19. Juni traf eine Weisung Hitlers ein, Teile der Panzergruppe an die Atlantikküste zu verschieben. Erbost hielt Haider fest, er habe die Verstärkung des rechten Flügels schon vor Tagen verlangt, was damals abgelehnt worden war. Jetzt erwarte man eine aufwendige Querverschiebung hinter der ganzen Front, die für den angestrebten Zweck, die Besetzung des südlichen Küstenabschnitts, ohnedies nicht mehr rechtzeitig komme. "Es ist schwer, gegenüber solchen Dilettanten-Eingriffen in die militärische Führung die Ruhe zu bewahren". Handwerkliche Fehler dieser Art blieben nur deshalb ungestraft, weil die Widerstandsfähigkeit des Gegners erschöpft war. Das französische Heer befand sich in einem Zustand wachsender Auflösung; daß der Rückzug noch irgendwo zum Stehen kommen würde, durfte nicht erhofft werden; und selbst wenn es eingetreten wäre, hätte weiteres Kämpfen keine Erfolgsaussicht besessen. Am 17. Juni bat die französische Regierung die spanische um Vermittlung eines Waffenstillstands, am 21. begannen die Verhandlungen, am 25. Juni trat der Waffenstillstand in Kraft, nachdem schon vorher der organisierte Widerstand allmählich aufgehört hatte. Wie im Polen-Feldzug spiegelte sich in den beiderseitigen Verlusten die deutsche Überlegenheit wider. Während die Wehrmacht 27 000 Tote, 18 000 Vermißte und 111 000 Verwundete beklagte, waren es auf französischer Seite 92 000 Tote und 200 000 Verwundete, dazu rund 3 Millionen Kriegsgefangene. Verglichen mit anderen Feldzügen oder Kriegen dieser Größenordnung blieben die Verluste be-
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merkenswert gering. Das lag auch an der überlegenen Feldherrnkunst, wie sie sich in Halders Operationsplänen niederschlug: Der Gegner wurde nicht durch blutiges Abringen niedergeworfen, sondern durch geschickten Kräfteansatz, Überraschung und Schnelligkeit der Bewegung operativ ausmanövriert. 72
72 Die Einzelheiten in Halder, KTB I, 306f., 319f., 327, 331 f., 334f., 336f., 338, 346, 353 f., 359, 363. Jacobsen, Westfeldzug, 52 ff., 152 ff., 167 ff. Liss, Westfront, 212 ff. Zu Hitlers Willensbildung Warlimont I, 105. Zu den Verlusten MGFA, Weltkrieg II, 307, 319 (Beitrag Umbreit). Dahms, 190.
II. Politisch-strategische Entscheidungen nach dem deutschen Westfeldzug 1. Blitzkriegstrategie?
Der Krieg gegen Polen war für die Wehrmacht so etwas wie ein Spaziergang gewesen; die Besetzung Norwegens war durch Überraschung gelungen; und den Frankreichfeldzug hatte ein kühner Operationsplan entschieden. Für Kriege dieser Art hatten die deutschen Kräfte ausgereicht: Polen war ohnedies weit unterlegen gewesen, in Norwegen hatten sich die Westmächte überrumpeln lassen, und im Westfeldzug hatte die Wehrmacht, bei einem ansonsten ungefähr ausgeglichenen Kräfteverhältnis, ihre besonderen Stärken zum Tragen bringen können, d. h. die operative Führungskunst des Generalstabs, die Auftragstaktik, die Ausbildung der Truppe und ihre Vertrautheit mit der zweckdienlichen Anwendung neuer Kriegsmittel, so insbesondere der Kampfwagen und Flugzeuge. Fraglich war, ob die deutschen Kräfte ausreichen würden für eine kriegerische Auseinandersetzung mit Ländern, die über ein ungleich größeres Potential geboten als die kleinen und mittleren Mächte Europas. Schon das britische Empire mit seiner weltweiten Ausdehnung, mit seinen Menschenmassen, mit seiner damals noch erheblich größeren Industrieerzeugung als Frankreich, schließlich mit seiner geographischen Lage, die ein schnelles Bezwingen schier unmöglich machte - schon Britannien stellte einen Gegner dar, welcher, gestützt auf sein Potential, den Krieg lange durchzuhalten vermochte und welcher jedenfalls in seiner Versorgung mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln weit weniger verwundbar war als das Reich. Vollends die strategischen Leitinächte der Zeit, die USA und Sowjetrußland, verfügten auf Grund ihrer Wirtschaftskraft, ihrer Rohstoffe, ihrer Bevölkerung, ihrer geographischen Lage und Ausdehnung über ein Kriegspotential, dem das Reich nichts Gleichwertiges entgegenzustellen hatte. Daß diese beiden Länder über kurz oder lang an der Seite Britanniens in den Krieg gezogen würden, durfte füglieh erwartet werden, entweder weil Hitler in Verfolgung seiner Lebensraumideen die Sowjetunion angriff und anschließend Amerika in den Krieg eintrat, um die Bildung einer eurasischen Machtzusammenballung zu verhindern, oder weil Stalin eines Tages die Gelegenheit wahrnahm, in einem langen Abnützungskrieg zwischen Deutschland und dem von Amerika unterstützten Britannien als letzter aufzutreten, um, wie er schon 1925 angekündigt hatte, das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen. Auf der anderen Seite würde zwar Deutschland in einer weltweiten Auseinandersetzung voraussichtlich nicht allein stehen, da der italienische Diktator Mussolini seine Träume von einem Mittelmeerimperium nur an der Seite Hitlers zu verwirklichen vermochte und da Japan, solange es am Errichten eines ostasiatischen Hege-
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II. Politisch-strategische Entscheidungen nach dem Westfeldzug
monialraumes festhielt, zum Überwinden des Widerstands der Westmächte eine Unterstützung von dritter Seite brauchte, wofür Deutschland am ehesten in Frage kam. Aber eine wesentliche Entlastung erwuchs daraus für das Dritte Reich nicht, weil das Potential solcher Bundesgenossen erst recht keinen Vergleich aushielt mit der Stärke Amerikas, Rußlands und Englands. Um einen Krieg längerfristig durchhalten zu können, waren Deutschland, Japan und Italien auf die Zufuhr von Rohstoffen aus dem Ausland angewiesen, während ihren wahrscheinlichen Gegnern die Rohstoffe fast der ganzen Erde zur Verfügung standen, teils im eigenen Land und teils in Gebieten, die sie auf Grund ihrer Beherrschung der Meere mühelos erreichten. Am Beginn des Zweiten Weltkriegs besaßen die sog. Achsenmächte eine Bevölkerung von zusammen knapp 200 Millionen (Deutschland ca. 80 Mio., Japan ca. 70, Italien rund 45), wogegen die USA auf 130 Mio. kamen, die Sowjetunion auf 170 Mio., Britannien auf knapp 50 Mio. im Mutterland und mehrere hundert Millionen im Empire, also zusammen weit mehr als das Doppelte der Achsenmächte. Zur selben Zeit brachte Großdeutschland (mit den angegliederten Gebieten) ungefähr 15 % der Weltindustrieerzeugung hervor, Japan über 3 %und Italien unter 3 %, also zusammen um die 20 %. Dagegen erreichten die USA rund ein Drittel der Weltindustrieerzeugung, besaßen aber erhebliche Reserven, da sie, anders als Deutschland, die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise noch nicht überwunden hatten. Diese brachliegenden Reserven wurden ausgeschöpft, als die USA infolge des Krieges eine Rüstungskonjunktur erlebten, so daß Amerika bis 1947 tatsächlich auf rund 48 %, also fast die Hälfte der Weltindustrieproduktion kam. Außerdem verfügte die Sowjetunion über ungefähr 10 %, Britannien über einen etwa ebenso großen Anteil an der Erzeugung von lndustriegütem, wozu noch einige Prozent in Kanada, Indien und anderen Teilen des britischen Reiches bzw. Commonwealth traten. Gemeinsam vermochten Amerika und das Empire fast zwei Drittel der Weltindustrieerzeugung zu erreichen; zusammen mit dem sowjetrussischen Anteil waren es fast drei Viertel. Nach dem Frankreichfeldzug konnte sich Deutschland die Wirtschaftskraft großer Teile des westlichen Europa zunutze machen, so daß man von da an den Anteil der Achsenmächte an der Weltindustrieproduktion auf ungefähr ein Viertel veranschlagen darf. Verglichen mit den 60 oder 70 Prozent der Gegner genügte das sicher nicht. Selbst wenn es Hitler gelungen wäre, in einem schnellen Feldzug einen Sieg über die Sowjetunion zu erringen, hätte sich das Kräfteverhältnis nicht grundlegend gewandelt. Dem OKH war das übrigens bewußt, denn Anfang 1941 zeichnete sich Haider über ein Gespräch mit Brauchitsch auf, der Sinn des Rußlandfeldzugs sei nicht klar. "Den Engländer treffen wir nicht. Unsere Wirtschaftsbasis wird nicht wesentlich besser." Da an eine vollständige Besetzung der Sowjetunion in einem Zug ohnedies nicht zu denken war, hätte sich auch bei einem erfolgreichen Feldzug vermutlich ein russischer Reststaat hinter der Wolga oder hinter dem Ural gehalten, der deutsche Kräfte band und einen Teil des russischen Industriepotentials behielt. Günstigenfalls hätte sich die deutsche Seite einen gewissen Teilbestand der russischen Wirtschaftskraft zunutze machen können, obwohl auch dies
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angesichts der Vorstellungen Hitlers über die Ausbeutung und Entindustrialisierung Rußlands ziemlich fraglich war. Jedenfalls, wäre die industrielle Leistungsfähigkeit der Achsenmächte dadurch nicht sehr stark gewachsen; lediglich einige Rohstoffengpässe hätten sich besser überbrücken lassen. Insgesamt wären die Achsenmächte über 25 bis 30 Prozent der Weltindustrieerzeugung nicht hinausgelangt, während Amerikaner und Briten zusammen, gegebenenfalls in Verbindung mit einem russischen Reststaat, einen Anteil von mindestens 60 % behalten hätten, also gut das Doppelte. Auch die Bevölkerungszahl der Achsenmächte mit ihren rund 200 Millionen Menschen konnten die Westmächte jederzeit überbieten, da sie in den USA und dem britischen Mutterland allein schon über fast ebensoviele Einwohner verfügten (ca. 180 Mio.), wozu noch viele hundert Millionen in den Dominions und Kolonien, in China und in anderen Ländern kamen, die im Krieg mit den Achsenmächten entweder schon standen oder dazu veranlaßt werden konnten. Hält man sich diese Zahlen vor Augen, so erkennt man unschwer, daß die von den Achsenmächten ausgehende Bedrohung zwar ernst, aber zumindest für Amerika und Britannien sicher nicht tödlich war. Vielmehr durften diese beiden Länder mit Recht davon ausgehen, der Krieg werde vielleicht lang und mühsam sein, doch würden die Wirtschaftskraft Amerikas, die Herrschaft über die Meere und die Rohstoffe ausreichen, um Streitkräfte in einem solchen Umfang auszurüsten, daß sie schließlich den Achsenmächten den Garaus machen würden. 1 Vor diesem Hintergrund sind die Rüstungsanstrengungen der kriegführenden Länder im allgemeinen und der Achsenmächte im besonderen zu betrachten. Nach 1939 befanden sich alle großen Mächte teils im Zustand der Mobilmachung, teils im Zustand der mindestens verdeckten Vorbereitung auf den Krieg, wobei allein die USA, auf Grund der Hemmnisse von seiten des Isolationismus, das Ausschöpfen ihrer Kraftquellen für die Rüstung erst zögerlich in Angriff nahmen. Das Sozialprodukt, also die gesamte volkswirtschaftliche Leistung, stieg in den meisten Ländern während des Krieges stark an, am eindrucksvollsten in den USA, wo das Bruttosozialprodukt zu gleichbleibenden Preisen zwischen 1939 und 1944 um 52 % wuchs. Weniger auffällig war der Anstieg in Deutschland, wo die gesamtwirtschaftliche Leistung in den ersten Kriegsjahren kaum zunahm und nach einer anderen Berechnung sogar die Industrieerzeugung stagnierte, so daß das Bruttosozialprodukt zu gleichbleibenden Preisen zwischen 1939 und 1943 nur um 16 % wuchs (für spätere Jahre sind die Angaben ungenau); sodann in Japan, wo das Bruttoprodukt zu festen Preisen zwischen 1940 und 1944 um 24 % kletterte; schließlich in Britannien, dessen Nettoinlandsprodukt in den ersten Kriegsjahren rasch, aber insgesamt unregelmäßig stieg, so daß zwischen 1938 und 1945 ein Zuwachs um 15% erreicht wurde. Lediglich in der Sowjetunion sowie in Italien sank die volkswirtschaftliche Gesamtleistung während des Krieges. In Rußland fiel das Nettosozialprodukt von dem Indexwert 100 in 1937 aufbloß noch 66 in 1942, kletI Zu den Bevölkerungs- und Wirtschaftszahlen Flora, 23. W. Fischer, Weltwirtschaft, 87. Bairoch, 296, 304. Haider über Rußlandfeldzug in seinem KTB II, 261 (28. 1. 1941).
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II. Politisch-strategische Entscheidungen nach dem Westfeldzug
terte allerdings bis 1944 wieder auf 93. Italien erlebte einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 4 % zwischen 1939 und 1942 sowie weitere 44 % bis 1945. Für Rußland erklärt sich dies natürlich aus der Besetzung großer Teile des Landes seit 1941. Italien bildete zwar seit 1943 ebenfalls Kriegsgebiet, doch war seine Wirtschaftsleistung schon vorher gefallen, hauptsächlich wegen des Mangels an Rohstoffen. So blieb der Beitrag Italiens zu den Rüstungsanstrengungen der Achsenmächte noch unbedeutender, als auf Grund des geringen Wirtschafts- und Industriepotentials ohnedies zu erwarten war. Beispielsweise erzeugte Italien zwischen 1941 und 1943 rund 8000 Flugzeuge, während Britannien in derselben Zeit auf 70 000 kam. Strategisch und wirtschaftlich stellte Italien für die Achsenmächte eher eine Belastung dar, da es knappe Rohstoffe verbrauchte, ohne mit seinem Waffeneinsatz nennenswerte Wirkungen zu erzielen. Die erstaunlichste Leistung vollbrachte während des Krieges die Sowjetunion, indem sie trotz der Einbuße an Wirtschaftskapazität allgemein, trotz des zeitweiligen Rückgangs der Industrieerzeugung von einem Indexwert 100 in 1940 über 77 in 1942 auf 104 in 1944, durch eine gewaltige Kraftanstrengung den Ausstoß an Rüstungsgütern vom Indexwert 100 in 1940 auf 186 in 1942 und 251 in 1944 zu steigern vermochte. Durch harte Entbehrungen des Volkes erkauft, stellte der Ausbau der Rüstungsindustrie im Ural und in den Gebieten dahinter, teilweise auch die Verlagerung von Industriewerken aus den westlichen Landesteilen dorthin, eine Voraussetzung dar für den späteren Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht. Leichter hatten es die USA, wo sich die Industrieerzeugung zwischen 1939 und 1945 verdoppelte, während der Anteil der Kriegsgüter am gesamten Wirtschaftsausstoß von 2% in 1939 über 10% in 1941 auf 40% in 1943 stieg. 1944 erzeugte Amerika 40 % aller Rüstungsgüter der Welt. Trotzdem hatte die Bevölkerung darunter kaum zu leiden, im Gegenteil verschwand die Arbeitslosigkeit, stiegen Löhne sowie Unternehmergewinne und nahm der Verbrauch der privaten Haushalte leicht zu. In diesem Rennen konnten die Achsenmächte von Haus aus nicht mithalten. Im einzelnen zeigt die Rüstungsproduktion der Großmächte, berechnet nach dem Wert in Milliarden Dollar zu festen Preisen, folgende Entwicklung: 1940 Deutschland 6, Japan 1, zusammen 7; dagegen Sowjetunion 5, Britannien 3,5 und USA 1,5, zusammen 10. 1941 Deutschland 6, Japan 2, zusammen 8; dagegen Sowjetunion 8,5, Britannien 6,5 und USA 4,5, zusammen 19,5. 1943 Deutschland 13,8, Japan 4,5, zusammen 18,3; dagegen USA 37,5, Sowjetunion 13,9 und Britannien 11,1, zusammen 62,5. Daraus ergibt sich, daß bereits 1940 alle späteren Gegner der Achsenmächte nach ihrer Rüstung überlegen waren, obwohl Amerika mit seiner Aufrüstung gerade erst begann. 1941 betrug das Verhältnis dann bereits 2,4: 1 zu Lasten der Achsenmächte und 1943 nicht weniger als 3,4: 1. Mit einigen Besonderheiten spiegeln diese Zahlen im großen und ganzen das Kräfteverhältnis wider, das sich aus dem allgemeinen Vergleich des Wirtschaftspotentials ergibt. Selbst wenn man aus den Zahlen für 1943 die Sowjetunion ausscheidet (also einen siegreichen deutschen Feldzug gegen Rußland unterstellt), hätten die beiden Westmächte noch eine Rüstungsproduktion von 48,6 behalten und wären den Achsen-
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mächten um mehr als das Doppelte überlegen gewesen. Hitlers Rußlandfeldzug konnte den Krieg nicht entscheiden; Amerika war die ausschlaggebende Macht. Bis zu einem gewissen Grad läßt sich das auch an den Zahlen kennzeichnender Rüstungsgüter ablesen, obwohl derartige Vergleiche immer etwas mißlich sind, da der Bedarf an Geräten und Waffen bestimmter Art von verschiedenen Umständen abhängt, etwa der strategischen Lage, der Gliederung von Streitkräften, taktischen Verfahrensweisen und anderem mehr. Die Leistungsfähigkeit einer Kriegswirtschaft bemißt sich danach, für die je unterschiedlichen Anforderungen bestimmter Kriegsschauplätze das notwendige Material in angemessener Qualität bereitzustellen, nicht einfach danach, einzelne Erzeugnisse in möglichst großer Zahl zu fertigen. Rüstungsproduktion ist deshalb immer auch eine strategische Führungsaufgabe, nicht allein eine Frage des möglichst hohen Ausstoßes. Es sei daher nur beiläufig erwähnt, daß Amerika zwischen 1940 und 1945 über 100 000 Kriegsschiffe herstellte, wobei sich die ungewöhnliche Zahl aus der Einrechnung von Landungsfahrzeugen aller Art erklärt. Sodann erzeugten die USA rund 300 000 Flugzeuge, während Deutschland in den Kriegsjahren nur auf 115 000 kam und Britannien sowie Rußland sich in einer ähnlichen Größenordnung bewegten; Japan stellte 1941 bis 1945 insgesamt 70 000 her. An Panzern produzierte Amerika 87 000, Deutschland dagegen 45 000 Panzer und Sturmgeschütze. Kampfwagen allein machen zwar noch nicht die Schlagkraft eines Heeres aus; trotzdem ist es bezeichnend, daß die USA, obwohl sie 1942 den Aufbau ihres Heeres bremsten und die Hauptlast des Landkriegs der Sowjetunion überließen, immer noch fast doppelt so viele Panzer herstellten wie Deutschland. Man darf ungescheut annehmen, daß sie im Bedarfsfall mehrere hunderttausend erzeugt hätten. Was am Vergleich der Rüstungsproduktion auffallt, ist das merkwürdig langsame Anwachsen der deutschen Erzeugung, vor allem in den ersten Kriegsjahren. Nachdem Britannien in den Krieg eingetreten war, erhöhte sich seine Rüstungsfertigung von 1939 auf 1940 um 250 %, d. h. von einer Milliarde Dollar auf 3,5. Nachdem die USA in den Krieg eingetreten waren, schnellte ihre Rüstungserzeugung 1941 bis 1942 rund auf das Vierfache empor. Selbst Japan und Rußland, wo derartige Sprünge nicht auftraten, wiesen seit 1939 von Jahr zu Jahr hohe Steigerungsraten der Rüstungsproduktion auf. Anders Deutschland. Im Anschluß an den Kriegseintritt, von 1939 auf 1940, wuchs die Rüstungsfertigung bloß um 76 %, nach einer anderen Berechnung bloß um 54%. Von 1940 auf 1941 trat dann überhaupt keine Steigerung ein; im Gegensatz zu den anderen großen Mächten verharrte der deutsche Rüstungsausstoß zwei entscheidende Jahre lang auf derselben Höhe. Erst ab 1942, unter dem Rüstungsminister Speer, fand ein deutlicher Zuwachs statt, also zu einer Zeit, wo der Krieg im Grunde bereits verloren war. So kam es, daß in den Jahren 1941/42 Rußland und Britannien jeweils mehr Rüstungsmaterial erzeugten als Deutschland. Britannien z. B. stellte bis 1942 in jedem Jahr mehr Flugzeuge und gepanzerte Fahrzeuge her als Deutschland, ähnlich verhielt es sich mit der Sowjetunion, und erst ab 1943 holte Deutschland den Vorsprung ein. Ein früheres Hinaufschrauben der Rüstungserzeugung wäre durchaus möglich ge-
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wesen; die Industrie besaß ungenutzte Rationalisierungsreserven, Rohstoffe waren spätestens ab 1940 verfügbar, und der Bedarf an Arbeitskräften ließ sich decken, sei es durch Umschichtungen aus anderen Wirtschaftsbereichen, sei es durch eine verstärkte Heranziehung der Frauen (was tatsächlich kaum geschah). Gewiß konnte die deutsche Industrie nicht, wie die amerikanische, auf brachliegende Kapazitäten und Arbeitslose zurückgreifen; auch konnte sie nicht zugleich den Ausstoß von Rüstungsmaterial und von Verbrauchsgütern steigern. Aber es bestand die Möglichkeit, ähnlich wie in Britannien, die Rüstungsfertigung zu Lasten der Produktion für zivile Zwecke und für den Verbrauch anzukurbeln. Tatsächlich wurde dieser Weg auch beschritten, freilich zu spät und nicht entschieden genug. Noch 1942, nachdem Speer versucht hatte, die Erzeugung von Verbrauchsgütern zu drosseln, wurde dies von Hitler bald wieder hintertrieben, indem er eine erneute Steigerung der Konsumgüterproduktion anordnete. Bis 1943 dürfte der Lebensstandard des durchschnittlichen Verbrauchers in Deutschland höher gewesen sein als in England. Insgesamt machten die Konsumgüter einen Anteil von 29 % an der gesamten industriellen Nettoproduktion im Jahr 1939 aus, sanken erst 1942 auf 25% und bis 1944 auf 22 %. Starke Einbußen erlebte ferner die Bauwirtschaft Im Gegenzug stieg die Rüstungsfertigung von 9 % in 1939 auf 16% in 1940 und 1941, 22 % in 1942, 31 % in 1943 und schließlich 40 % in 1944. Ebenfalls einen Anteil von 40 % erreichte die amerikanische Rüstungserzeugung im Jahr 1943, obwohl dieses Land erst Ende 1941 in den Krieg eingetreten war, also nicht viel länger als ein Jahr vorher. Speer stellte deshalb zu Recht fest, daß es in Deutschland bei Konzentration aller Energien und bei rücksichtsloser Beseitigung aller Hemmnisse bereits im Jahr 1940 und 1941 hätte gelingen müssen, die Rüstungsproduktion des Jahres 1944 zu erreichen. Die Wehrmacht hätte dann den Rußlandfeldzug mit einem Mehrfachen an Flugzeugen, Panzern, Artillerie usf. bestreiten können. 2 Dieser Sachverhalt ist an sich seit langem bekannt, er ist nur schwer zu deuten. Sofern man davon ausgeht, Deutschland habe in dem Krieg überhaupt eine Siegeschance besessen, zumindest gegenüber Rußland, liegt es nahe, im Zurückbleiben der deutschen Rüstungsfertigung einen strategischen Fehler zu erblicken. In diesem Sinne besagt eine der ältesten Ansichten, die vorsätzlich langsame Ausdehnung der deutschen Rüstungsproduktion, welche während der meisten Zeit des Jahres 1941 eigentlich gleichblieb, sei der größte Fehler gewesen, den Deutschland im Bereich der Kriegswirtschaft machte, und eben jener, der es jede Chance auf 2 Die Wirtschafts- und Rüstungsangaben nach W. Fischer, Geschichte V (Mi! ward), 79 ff. Zum Sozialprodukt auch Harrison, Mobilization, 185. Ferner Goldsmith, Munitions, 72, 75. Wagenführ, 23,..28 f., 34, 67, 87. Ploetz, Kriegsmittel, 25 und passim. (Die vergleichenden Angaben über den Wert der Rüstungserzeugung stammen von Goldsmith und wurden von Wagenführ aus technischen Gründen mit einigen ganz geringen Abweichungen übernommen. Im deutschen Schrifttum wurden die Abweichungen seitdem beibehalten; sie finden sich auch hier.) Sodann Milward, Arbeitspolitik. Overy, Mobilisierung. Junker, Struktur. Petzina, Autarkiepolitik, 187. MOFA, Weltkrieg III, 71 (italienische Flugzeugproduktion; Beitrag Schreiber). Carroll, Design. Hitler über Konsumgüter 1942 und Speer über Rüstungsproduktion bei Speer, Erinnerungen, 236, 546, Anm. I.
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den Sieg kostete. In der einen oder anderen Form findet sich bis heute die Meinung, die Wehrmacht sei mit unzureichender Ausrüstung in den Ostfeldzug gegangen und habe ihn deswegen verloren. Ob das nun zutrifft oder nicht, es beantwortet jedenfalls noch nicht die Frage, warum seit Kriegsbeginn jenes merkwürdige Zurückbleiben der deutschen Rüstungsfertigung zu beobachten ist. Um dies zu erklären, wurde die Theorie entwickelt, eine solche Art der - wirtschaftlichen und strategischen - Kriegführung sei beabsichtigt gewesen und habe den deutschen Möglichkeiten gut entsprochen. Seit der Vorkriegszeit habe man in Deutschland eine sog. "Blitzkriegstrategie" ausgebildet, bei welcher die Anspannung aller Kräfte für einen langen Krieg gerade vermieden werden sollte. Statt dessen habe man in einer Reihe schneller "Blitz"-Feldzüge jeweils einzelne Gegner nacheinander niederwerfen wollen und habe daher begrenzte Rüstungsanstrengungen für ausreichend erachtet. Erst als die Blitzkriegstrategie im Herbst 1941 vor Moskau gescheitert sei, habe man sich auf eine totale Mobilmachung der Wirtschaft einlassen müssen und sei in einen Rüstungswettlauf eingetreten, den man notwendigerweise verloren habe. Diese Theorie, die geraume Zeit als verbindlich galt, wurde ergänzt durch eine Lehre, der es weniger auf die wirtschaftlichen Hintergründe als vielmehr die weltanschaulichen und politischen Zusammenhänge von Hitlers Strategie ankam. Auch hier war die Rede von einer Reihe überfallartiger, streng lokalisierter Blitzfeldzüge, auf welche der Aufbau der Wehrmacht und die deutsche Rüstung abgestellt worden seien. Diese Strategie habe schließlich in Hitlers Plan gegipfelt, so etwas wie einen "Weltblitzkrieg" zu führen, dessen Kern der Rußlandfeldzug gewesen sei, der aber noch darüber hinausgegriffen habe, indem er die ganze östliche Hernisphäre (Europa - Asien - Afrika) unter die Botmäßigkeit der Achsenmächte bringen sollte. Das Fehlschlagen der Blitzkriegstrategie gegenüber der Sowjetunion wurde hier damit erklärt, daß man auf deutscher Seite den Gegner sträflich unterschätzt habe. Auf diese Weise schließt sich der Kreis: Es habe, so heißt es, in Deutschland eine Blitzkriegstrategie gegeben, bei welcher man die rechtzeitige Mobilisierung der Wirtschaft für den Krieg unterlassen bzw. versäumt habe, was im Falle Rußlands mit dessen Unterschätzung einherging und deswegen dazu führte, daß die ganze Blitzkriegstrategie scheiterte. 3 Geklärt ist damit fast gar nichts. Der gedankliche Ausgangspunkt war ja eigentlich eine doppelte Frage: erstens, ob Deutschland bei einem rascheren Anstieg seiner Rüstungserzeugung eine echte Aussicht auf den Sieg besaß, und zweitens, war3 Über langsame Zunahme der Rüstung als strategischer Fehler Goldsmith, Munitions, 73. Vgl. Wagenführ, 34. Über deutsche Niederlage im Osten wegen unzureichender Ausrüstung MGFA, Weltkrieg VII, 513 (Beitrag Müller). Schustereit, Vabanque, 39, 41. Die wirtschaftliche Blitzkriegstheorie bei Milward, Kriegswirtschaft Ders., in W. Fischer, Geschichte V, 46ff., SOff. Vgl. Herbst, Krieg. Die politische Blitzkriegstheorie bei Hillgruber, Strategie, 570 und passim. Weltblitzkrieg bei Hillgruber, Weltkrieg, 48 f. Die Unterschätzungstheorie auch in Hillgrubers Aufsatz "Das Rußland-Bild der fi.ihrenden deutschen Militärs vor Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion" in Hillgruber, Zerstörung, 256 ff.
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II. Politisch-strategische Entscheidungen nach dem Westfeldzug
um der besagte raschere Anstieg nicht eintrat. Keine dieser Fragen ist zureichend beantwortet. Was zunächst die deutschen Siegesaussichten angeht, so kann man über das, was nicht eingetreten ist, natürlich lange spekulieren, es spricht aber doch alles dafür, daß Deutschland vom Beginn an keine Chance besaß, einen Weltkrieg gegen Amerika, England und Rußland zu gewinnen. Das war die Ansicht des Generalstabs des Heeres im Jahr 1938, und so ist es ja auch gekommen. General Thomas, der Chef des Wehrwirtschaftsamts, hat vor und nach dem Polenfeldzug versucht, den Diktator vor einem Weltkrieg zu warnen, weil Deutschland aus wehrwirtschaftlichen Gründen einen solchen Krieg nicht durchhalten könne, blieb jedoch erfolglos. Hitler glaubte, nach einem Sieg über die Sowjetunion den Westmächten trotzen zu können. In Washington und London wurde diese Auffassung nicht geteilt, und dies mit gutem Grund, weil die Westmächte, wie der Überblick über das Wirtschafts- und Kriegspotential ergeben hat, den Achsenmächten in jedem Fall weit überlegen waren, selbst wenn Rußland besiegt wurde. Was Haider von der Sache hielt, soll einstweilen übergangen werden, man darf aber getrost voraussetzen, daß er die wirtschaftlichen Zusammenhänge einigermaßen überblickte. Ob Deutschland seine Rüstungserzeugung früher oder später steigerte, war insofern belanglos, als es einen Krieg gegen Amerika in jedem Fall verlieren würde. Damit verkürzt sich das Problem auf die Frage, ob ein höherer Rüstungsausstoß in den frühen Kriegsjahren wenigstens einen Sieg über Rußland zugelassen oder gewährleistet hätte. Man muß an dieser Stelle eine feine Ünterscheidung treffen: Selbst wenn Deutschland einem Weltkrieg gegen Amerika nicht gewachsen war, machte es doch einen gewaltigen Unterschied, ob Deutschland den Krieg hauptsächlich gegen die Sowjetunion verlor, also aus dem Osten überrollt wurde, oder ob Deutschland von Amerika geschlagen und gegebenenfalls besetzt wurde. Schon im Ersten Weltkrieg wäre Deutschland nach dem Willen der Amerikaner glimpflich davongekommen, und im Zweiten Weltkrieg war es an sich genauso. Den Krieg gegen Amerika zu verlieren, war nicht so schlimm; den Krieg gegen Rußland zu verlieren, versprach eine viel unerfreulichere Zukunft. Das Ergebnis des deutschen Rußlandfeldzugs besaß demnach für den Ausgang des ganzen (Welt-) Kriegs hohe Bedeutung, zwar nicht in dem Sinn, daß Hitler seine Ziele dann doch erreicht hätte, aber in dem Sinn, daß das weitere Schicksal Deutschlands und großer Teile der Welt dann ganz anders ausgesehen hätte. Von daher scheint die Rüstungsfrage doch einiges Gewicht zu besitzen. Trotzdem besteht kein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem deutschen Rüstungsstand und dem Scheitern des Rußlandfeldzugs. Haider stellte nach dem Krieg fest: ,,Zu Beginn des Jahres 1941 hätten die bei ausreichender Sicherung aller übrigen Fronten für den Osten verfügbar zu machenden deutschen Streitkräfte etwa ausgereicht, das gegenüberstehende russische Aufgebot, das praktisch die Masse der europäischen Streitkräfte Rußlands darstellte, entscheidend zu schlagen und damit für geraume Zeit eine militärische Aktivität Rußlands auszuschließen." Daran ist zweierlei bemerkenswert. Haider sagte nicht, daß der Rußlandfeldzug aus Mangel an Material gescheitert
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sei, und er sagte nicht, daß das OKH den Gegner unterschätzt habe. Sondern er sagte klipp und klar, die deutschen Kräfte hätten ausgereicht für einen Feldzug mit begrenztem Ziel, nämlich das vorhandene russische Aufgebot zu schlagen und damit für geraume Zeit eine ernsthafte Bedrohung durch die Sowjetunion (in Form militärischer Aktivität) auszuschließen. Es wird in der Regel nicht beachtet, daß das OKH einen anderen Feldzug führen wollte als Hitler. Dieser Feldzug des OKH scheiterte weder aus Mangel an Material noch wegen der Unterschätzung des Gegners, sondern er scheiterte am strategischen und operativen Unverstand Hitlers. Das hat Haider nach dem Krieg im Überblick dargelegt, das läßt sich bis in die Einzelheiten nachweisen und wird später noch ausführlich zu erörtern sein. Damit erledigt sich auch der denkbare Einwand, Haider habe nachträglich die Dinge beschönigen wollen. Haider brauchte nichts zu beschönigen; die Tatsachen sprechen ja für sich, wenn man sie nur zur Kenntnis nimmt. Im übrigen hätte Halder, falls er etwas hätte beschönigen wollen, am ehesten auf den Materialmangel verweisen können, denn dafür war er bestimmt nicht verantwortlich, und eben das hat er nicht getan. Auch in Hinblick auf die angebliche Unterschätzung brauchte Haider nichts zu beschönigen. Die Aufgabe Halders als Generalstabschef bestand darin, auf der Grundlage der Kenntnisse über den Gegner, also der Aufklärungsergebnisse, oder allgemeiner: auf Grund einer zutreffenden Lagebeurteilung einen brauchbaren Operationsplan zu erstellen. Die ganze Unterschätzungstheorie hätte im Hinblick auf Haider nur dann einen Sinn, wenn nachgewiesen werden könnte, daß Haider auf Grund einer falschen Lagebeurteilung ("Unterschätzung") einen untauglichen Feldzugsplan erstellt habe. Ein solcher Nachweis ist bis heute nicht erbracht worden, und er kann auch nicht erbracht werden, weil Halders Operationsplan verwässert und in wesentlichen Punkten gar nicht durchgeführt wurde, jedenfalls nicht in der von Haider beabsichtigten Form. Woran der Rußlandfeldzug des Jahres 1941 scheiterte, war die Zerstörung von Halders Operationsplan, und zwar nicht durch den Gegner, sondern durch Hitler. Hat man das erst einmal eingesehen, dann versteht man ohne Mühe, wieso das Ausland zu einer ganz ähnlichen Lagebeurteilung gekommen war wie das OKH, denn auch in Washington und London hatte man einen Sieg der Wehrmacht innerhalb weniger Monate erwartet. Die Unterschätzungstheorie weiß sich bloß so zu helfen, daß eben alle die Standfestigkeit der Sowjetunion unterschätzt hätten. Richtig ist jedoch das Gegenteil: Die Fachleute in den betreffenden Hauptstädten haben die militärische Lage schon einigermaßen zutreffend eingeschätzt, sie haben nur nicht mit der Borniertheit Hitlers gerechnet. Der Vollständigkeit halber sei noch eine weitere Überlegung angeführt, warum die Ansicht zu eng ist, der Rüstungsstand bzw. die Materialausstattung der Wehrmacht habe die entscheidende Ursache für das Fehlschlagen des Rußlandfeldzugs gebildet. Die Versorgung mit Treibstoff stellte immer einen der wichtigsten Engpässe der deutschen Kriegswirtschaft dar. Das Aufkommen an Treibstoff wurde während der Kriegsjahre teils aus Ölquellen im Gebiet des Großdeutschen Reiches bestritten, teils aus der Kohlehydrierung, deren Umfang allmählich zunahm, und 14 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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II. Politisch-strategische Entscheidungen nach dem Westfeldzug
teils aus der Einfuhr, namentlich aus Rumänien. Wie Haider im Frühjahr 1941 feststellte, reichte der Treibstoff für eine Großoffensive von mehreren Monaten. Der Verbrauch mußte zum größeren Teil aus der laufenden Erzeugung und der Einfuhr gedeckt werden, die zusammen im Jahr 1941 knapp sieben Millionen Tonnen ausmachten; dazu kamen Vorräte, die sich allerdings Anfang des Jahres 1941 nur auf gut zwei Mio. Tonnen beliefen und in der Jahresmitte auf rund 1,5 Mio. Tatsächlich verbrauchten Wehrmacht und Wirtschaft im Jahr 1941 das gesamte laufende Aufkommen sowie einen Teil der Vorräte, denn aus den Lagerbeständen wurden 1,2 Mio. Tonnen entnommen. Den Löwenanteil beanspruchte die Wehrmacht und hier das Heer sowie die Luftwaffe, die rund 3,6 Mio. t (ohne Schmieröl) verbrauchten. Wäre nun der deutsche Rüstungsstand besser gewesen, so hätten Heer und Luftwaffe wesentlich mehr Panzer, Kraftwagen und Flugzeuge einsetzen können mit der Folge, daß erheblich mehr Treibstoff verbraucht worden wäre. Sehr viel mehr Treibstoff konnte aber gar nicht verbraucht werden, weil er nicht da war. Halders überschlägige Rechnung, wonach der Treibstoff für eine Großoffensive von mehreren Monaten reichte, bezog sich auf den gegebenen Rüstungsstand; trotz der Ungenauigkeit, die solchen Schätzungen naturgemäß anhaftet, mußte damit gerechnet werden, daß bei vollem Einsatz aller motorisierten Kräfte und entsprechend hohem Treibstoffverbrauch nach einigen Monaten die Bewegungen zumindest erschwert sein würden, sofern sie nicht aus Mangel an Treibstoff weitgehend zum Erliegen kamen. Das heißt umgekehrt, daß bei einem wesentlich besseren Rüstungsstand der Feldzug noch kürzer hätte sein müssen. Man sollte sich an dieser Stelle nicht bei vordergründigen Einzelheiten aufhalten. Zweifellos hätten die deutschen Panzerdivisionen ein paar tausend Kampfpanzer zusätzlich gut brauchen können, und deren Mehrverbrauch an Treibstoff hätte sich auch verkraften lassen. Aber das ist nicht das eigentliche Problem; insgesamt waren die deutschen Verbände wenn schon nicht glänzend, so doch zweckdienlich ausgestattet, auch mit allen übrigen Waffen; und ein Mangel an Kampfpanzern hat die Panzerdivisionen nie behindert, solange sie operativ sinnvoll eingesetzt wurden. Der Kern des Problems lag vielmehr darin, daß die Schlagkraft eines Heeres für den Bewegungskrieg vorzugsweise dadurch zu steigern war, daß der Grad der allgemeinen Motorisierung erhöht wurde. Das beinhaltet nicht einfach eine Vermehrung der Kampfpanzer, denn solange die Infanterie zu Fuß hinter den Panzern einherhastet, ist der Gewinn ein bescheidener. Sondern die Steigerung der Schlagkraft bzw. des Motorisierungsgrades besagte, daß mehr Kraftfahrzeuge für die Fortbewegung der Truppe und das Heranschaffen des Nachschubs vorhanden waren, mehr Zugmaschinen für die Fortbewegung der Artillerie oder mehr Selbstfahrlafetten, mehr Schützenpanzer für den Kampf der verbundenen Waffen, mehr Spezialfahrzeuge für die Pioniere usf. Ein besserer Rüstungsstand, bezogen auf Streitkräfte für den Bewegungskrieg, läuft auf mehr Geräte und Waffen hinaus, die Treibstoff benötigen, bei der Luftwaffe mehr Flugzeuge, bei den Bodentruppen mehr Fahrzeuge aller Art, Kettenfahrzeuge, geländegängige und andere Radfahrzeuge, gepanzerte und ungepanzerte Fahrzeuge usf. Der Idealfall für den Bewe-
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gungskrieg wäre das vollmotorisierte Heer, wie es die Amerikaner später besaßen, wie es aber das deutsche Ostheer von 1941 mit seinen 600 000 Fahrzeugen und 625 000 Pferden gerade nicht gewesen ist. Damit ist man doch wieder bei der vorigen Rechnung angelangt: Für ein Heer mit wesentlich höherem Motorisierungsgrad und eine Luftwaffe mit wesentlich mehr Flugzeugen hätte entweder der Treibstoff nicht ausgereicht, oder er hätte nur für einen noch kürzeren Feldzug ausgereicht als ohnehin geplant war. Niemand kann wissen, ob dann ein ganz rascher Blitzsieg über Rußland möglich gewesen wäre; denkbar ist ebenso, daß ein motorisiertes deutsches Heer wegen Treibstoffmangels irgendwo in Rußland liegengeblieben wäre. Eine Erhöhung des Rüstungsstandes allein, verstanden als bessere Materialausstattung der Streitkräfte, brachte demnach keinen entscheidenden Vorteil für den Bewegungskrieg, solange nicht zugleich mehr Treibstoff zur Verfügung stand. Unter diesen Umständen hätte eine wesentlich bessere Materialausstattung vorausgesetzt, wesentlich mehr Treibstoff bereitzustellen, entweder durch die Einlagerung großer Vorräte schon vor dem Krieg oder durch einen zeitigen Ausbau der Anlagen für die Kohlehydrierung. Beides, die bessere Materialausstattung und das Bereitstellen größerer Treibstoffmengen, ließ sich nicht trennen; um beide Maßnahmen in einem sinnvollen Zusammenhang durchzuführen, hätte freilich ein schlüssiger strategischer Entwurf vorliegen müssen, ein generalstabsmäßig vorbereiteter Gesamtkriegsplan, der Politik, Wirtschaft und Rüstung in ein durchdachtes Verhältnis zueinander gesetzt hätte. Es ist durchaus vorstellbar, daß auf der Grundlage eines solchen Planes sowohl die Treibstofferzeugung als auch die Materialausstattung der Wehrmacht bis 1941 sich bedeutend steigern ließ. Die Wehrmacht mochte dann eine Überlegenheit gewinnen, die ihr selbst bei operativen Führungsfehlern den Sieg sicherte. So könnte man argumentieren; aber in diesem Fall läge die Ursache für das Scheitern des Rußlandfeldzugs nicht vordergründig im Materialmangel, sondern sie läge im Fehlen eines durchdachten Kriegsplanes. 4 Einen stabsmäßig erarbeiteten strategischen Kriegsplan hat es in Deutschland, im Gegensatz zu anderen Ländern, bekanntlich nicht gegeben, weder bei der Wehrmacht noch bei Hitler. Das schließt nicht aus, daß Hitler seine eigenen Vorstellungen über den Verlauf des Krieges besaß, so etwas wie einen Fahrplan, indem er nacheinander Polen, Frankreich und Rußland niederwerfen wollte. Nur wurde dies nie verbindlich im Zusammenhang niedergelegt und schon gar nicht zur Grundlage irgendeiner institutionellen Planung gemacht, weder in wirtschaftlicher noch in operativer Hinsicht. Für die Blitzkriegstheorie ist das eher mißlich, denn unter Strategie versteht man üblicherweise einen sorgfaltig durchdachten, von geeigneten Institutionen ausgearbeiteten Plan, bei welchem die verschiedenen 4 Zu Thomas dessen Wehrwirtschaft, 10 f. (Einleitung von Birkenfeld). Haider über Ostfeldzug in Halder, Hitler, 37. Zur Treibstoffversorgung die Tabellen bei Wagenführ, 55, 57, 171 f. Birkenfeld, Treibstoff. MGFA, Weltkrieg VII, 584 (Beitrag Müller). Halder, KTB II, 311 f. (13./14. 3. 1941).
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II. Politisch-strategische Entscheidungen nach dem Westfeldzug
Bedingungsfaktoren - Lage, Möglichkeiten und Ziele sowohl beim Gegner als auch auf der eigenen Seite - in ein stimmiges Verhältnis zueinander gebracht und die eigenen Maßnahmen daran ausgerichtet werden. Da dergleichen in Deutschland nicht vorhanden war, müßte die Blitzkrieg-"Strategie" eine ziemlich verwirrende oder extravagante Art der Kriegsvorbereitung gewesen sein, nach den gängigen Regeln eigentlich überhaupt keine Strategie. Immerhin ließe sich der Blitzkriegstheorie zugute halten, die in Deutschland verfolgte "Strategie" habe vielleicht auf eine regelrechte Planung bewußt verzichtet; sie habe sich einfach damit begnügt, mit einem jeweils ausreichenden Rüstungsstand einzelne Gegner nacheinander zu erledigen, und habe den Hochlauf der Rüstung unterlassen, um die Belastung der Bevölkerung gering zu halten. Daran ist viel Wahres, jedenfalls soweit es Hitler angeht. Trotzdem erklärt es die Merkwürdigkeiten der Wirtschaftsund Rüstungspolitik im Dritten Reich nicht oder zumindest nicht vollständig. Die Blitzkriegstheorie knüpfte an die Erkenntnis an, daß Deutschland nicht, wie ursprünglich angenommen, spätestens seit 1939 sich im Zustand der totalen Mobilmachung befand, sondern daß es erst in den späteren Kriegsjahren dorthin gelangte. Zur Umschreibung des Sachverhalts benützte man eine Unterscheidung, die wohl auf General Thomas zurückgeht, nämlich diejenige zwischen Breitenrüstung und Tiefenrüstung. Breitenrüstung besagt das Aufstellen und Ausrüsten einer möglichst großen Zahl militärischer Formationen. Tiefenrüstung bezieht sich auf die Durchhaltefähigkeit und beinhaltet den Ausbau der Förderung von Rohstoffen sowie der Erzeugung von Grundstoffen bis hin zu den Halbzeugen und Vorfabrikaten, ferner das Ausweiten der Engpaßproduktionen, die Anlage von sog. Schattenfabriken, die ihre Erzeugung erst im Kriegsfall aufnehmen, den Ausbau der Verkehrswege und Verkehrsmittel unter strategischen Gesichtspunkten, die Bevorratung und Einlagerung von Rohstoffen sowie Kriegsmaterial u. a. m. Thomas hatte immer wieder darauf hingewiesen, daß in Deutschland die Tiefenrüstung zugunsten der Breitenrüstung vernachlässigt worden sei. Dies griff die Blitzkriegstheorie auf und spitzte es dahingehend zu, daß man sich in Deutschland von vornherein nicht auf die Durchhaltefähigkeit in einem langen Krieg eingerichtet, sondern sich mit der Breitenrüstung begnügt habe. Die vorhandenen starken Streitkräfte hätten für kurze, schnelle Feldzüge ausgereicht; außerdem habe man auf diese Weise die Rüstung immer rasch umsteuern und bald mehr Material für das Heer, bald mehr für Luftwaffe oder Marine herstellen können. Die Blitzkriegstheorie nahm an, dies sei mit Absicht so geschehen, es sei bewußt so gewollt worden und habe insofern eine mehr oder weniger planmäßige "Strategie" dargestellt. In diesem Sinne wurde sogar behauptet, Deutschlands strategisches und wirtschaftliches Denken sei vor dem Krieg um das Konzept des Blitzkriegs gekreist. Die Sache krankt nur daran, daß dies nicht zutrifft. Hitler selbst sagte zwar im Jahr 1934 einmal, es könnten kurze entscheidende Schläge nach Westen und dann nach Osten notwendig werden. Aber 1939 legte er dar, es sei verbrecherisch, wenn die Staatsführung sich auf die Überraschung verlassen sollte; vielmehr sei neben dem überraschenden Überfall der lange Krieg vorzubereiten, also für eine entspre-
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chende Durchhaltefähigkeit Sorge zu tragen. Das Einstellen auf beide Möglichkeiten findet sich bei Hitler öfters; beispielsweise wollte er im Herbst 1939 Frankreich angreifen und sich notfalls darauf einrichten, hinter einer betonierten Befestigungslinie einen langen Krieg zu führen. Trotz der Klagen von General Thomas hat es einen beträchtlichen Anteil an Tiefenrüstung sehr wohl gegeben; im Grunde gehört ja der ganze Vierjahresplan dazu, der die strategische Standfestigkeit Deutschlands erhöhen sollte, indem er inländisches Erz verhüttete, künstlichen Treibstoff und künstlichen Gummi herstellte, Sprengstoff und andere Erzeugnisse produzierte. Thomas, der zuständige militärische Fachmann, hat am allerwenigsten einer Blitzkriegstrategie das Wort geredet; seine beständige Sorge war ja gerade, daß das vorhandene Maß an Tiefenrüstung nicht ausreiche. Im Frühjahr 1939 meinte er, in Deutschlands geopolitischer Lage müsse immer der kurze Krieg und die blitzartige Entscheidung gesucht werden. Da das Gelingen jedoch fraglich sei, dürfe ein Kriegsplan nicht allein hierauf gegründet werden. Einen längeren Krieg gewinne, wer den längeren Atem habe. Thomas gab damit eigentlich nur Selbstverständlichkeiten wieder. Zweifellos ist ein kurzer Krieg immer das Erstrebenswerteste, nicht bloß in der Lage Deutschlands, doch darf der kurze Krieg mit einer gewissen Sicherheit lediglich gegenüber einem klar unterlegenen Gegner erwartet werden. In allen anderen Fällen muß die strategische Planung, sofern sie einigermaßen verantwortungsbewußt ist, auf die eigene Standfestigkeit Bedacht nehmen, d. h. Vorkehrungen treffen, um im Bedarfsfall, etwa bei Rückschlägen, längere Zeit durchhalten zu können. Dazu hat Thomas sich bekannt, und auch Hitler hat es, wenigstens im Grundsatz, nicht geleugnet. 5 Eine Blitzkriegstrategie hat es demnach nie gegeben, weder bei Hitler noch bei der Wehrmacht. Die ganze Blitzkriegstheorie ist eine nachträgliche Rationalisierung, welche eine Summe von Einzelerscheinungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen versucht und dabei insbesondere unterstellt, es habe in Deutschland eine begründete Vorstellung gegeben, wie man lediglich mit einem jeweils ausreichenden Rüstungsstand (Breitenrüstung) einer Abfolge einzelner Gegner Herr werden könne. Das stimmt schon deswegen nicht, weil der Rüstungsstand allein in einer Anzahl von Fällen keinerlei Gewähr für den Sieg bot. Für das Unternehmen Weserübung war die Marinerüstung absolut unzureichend; das Unternehmen gelang nur, weil die Gegenseite von einem derart unorthodoxen, nach herkömmlichen Begriffen fast unzulässigen Vorgehen heillos überrascht wurde. Im Westfeldzug besaß die Wehrmacht dasjenige nicht, was der Angreifer nach den gängigen Regeln immer besitzen sollte, nämlich die Überlegenheit. Ohne einen genialen Operationsplan wie denjenigen Halders hätte die Wehrmacht wahrscheinlich das s Zum Fehlen eines generalstabsmäßig erarbeiteten strategischen Kriegsplanes Hillgruber, Weltkrieg, 20. Schustereit, Vabanque, lOf., 120. Zur Breitenrüstung und Tiefenrüstung Thomas, Wehrwirtschaft, 9. Das angebliche Kreisen des Denkens um den Blitzkrieg bei Milward, Kriegswirtschaft, 14. Hitler 1934 in K.-J. Müller, Armee, 195 (28. 2. 1934). Hitler 1939 in ADAP, Ser. D, Bd 6, 477ff. (23. 5. 1939). Thomas 1939 nach MGFA, Weltkrieg VII, 358 (Beitrag Müller). Dazu Thomas, Wehrwirtschaft, 145.
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II. Politisch-strategische Entscheidungen nach dem Westfeldzug
Nachsehen gehabt. Im Ostfeldzug verfügte die Rote Armee über eine deutliche Materialüberlegenheit; lediglich ein geeigneter Operationsplan konnte verhindern, daß die Wehrmacht den kürzeren zog (als der Operationsplan verdorben wurde, zog sie den kürzeren). Bei allen diesen Fällen trat zur bloßen Bewaffnung der Wehrmacht noch etwas hinzu, das die tatsächlich vorhandenen Mängel der Bewaffnung aufwog; es trat dasjenige hinzu, was man Kriegskunst nennt, also überlegenes planerisches Vermögen, Kühnheit, Überraschung und allgemein Feldherrntalent Völlig klar wird dies an der gescheiterten Luftschlacht um England, denn hier reichte die Ausrüstung eben nicht für einen Blitzsieg, und in diesem Fall konnte der Mangel auch nicht durch Feldherrntalent ausgeglichen werden. Allein auf den gegebenen Rüstungsstand ließ sich in den seltensten Fällen eine gewisse Siegeserwartung gründen; selbst gegen einen so schwachen Gegner wie Polen mußte noch ein geeigneter Operationsplan dafür sorgen, den Feldzug möglichst kurz zu halten. Hitler besaß das unverdiente Glück, über herausragende militärische Könner wie Haider zu verfügen, die imstande waren, auch mit begrenzten Mitteln erfolgreiche Feldzüge zu führen. Aber daß jenes Zusätzliche, das Feldherrntalent, die Mängel der Bewaffnung ausgleichen würde, konnte man vorher gar nicht wissen. Hitler hat jeden einzelnen Feldzug beschlossen, noch bevor der entsprechende Feldzugsplan ausgearbeitet war; er hat also in jedem einzelnen Fall buchstäblich ins Blaue hinein entschieden. Was der Wehrmacht an Rüstung fehlte, wurde dann häufig durch das Feldherrntalent wettgemacht. Aber zum Zeitpunkt seiner Entscheidung konnte Hitler nie übersehen, ob und inwieweit die Fähigkeiten seiner Offiziere ausreichen würden, auch mit begrenzten Rüstungsmitteln die Gegner zu schlagen, sie sogar schnell zu schlagen. Allenfalls konnte Hitler ungefähr übersehen, wie jeweils der Rüstungsstand sein würde - und der war häufig gerade so, daß eine sichere Siegeserwartung sich daran nicht knüpfen ließ. Worauf hätte sich also die Blitzkriegstrategie gründen sollen? Nach Ansicht der betreffenden Theorie hingen die Berechnungen über die Möglichkeiten eines Blitzkriegs davon ab, daß die Wehrmacht über einen einsatzbereiten Vorrat an Bewaffnung verfügte, der ihr eine kurzfristige Überlegenheit über jeden möglichen Gegner sicherte. Das ist außer bei Polen und auf dem Balkan nie der Fall gewesen, also hätte es in der Mehrzahl aller Fälle auch keine Blitzkriegstrategie geben können. Man sieht, daß die betreffende Theorie, wenn man sie zu Ende denkt, sich in recht unerfreuliche Widersprüche verwickelt. Das darf als weiterer Grund angesehen werden, sie schleunigst aufzugeben. Daß Haider seine Operationspläne auf schnelle, "blitzartige" Feldzüge anlegte, läßt sich mit einer angeblichen Blitzkriegstrategie ebenfalls nicht in Verbindung bringen. Haider hat den Krieg sowieso nicht gewollt; er hat 1938 versucht, den Krieg überhaupt zu verhindern, und er hat im Herbst 1939 versucht, wenigstens seine Ausweitung zu verhindern. Nach dem Sieg über Frankreich sagte er, zur Erklärung des Erfolges brauche man nicht nach irgendwelchen neuen Methoden der Deutschen zu suchen, denn es gebe sie nicht; der Krieg sei immer ein System von Aushilfen. Das gab genau die Sachlage wie-
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der, daß Haider im Westfeldzug - ähnlich später im Ostfeldzug - aus der gegebenen Lage, die an sich für Deutschland keineswegs günstig war, das Beste zu machen suchte. Die geplante Schnelligkeit beider Feldzüge entsprang Halders Feldherrntalent, d. h. einerseits seiner operativen Begabung und andererseits seiner Einsicht in strategische Sachzwänge, denn unter den gegebenen Wirtschafts- und Rüstungsverhältnissen durfte sich Deutschland einen langen Abnützungskrieg weder gegenüber Frankreich noch gegenüber Rußland leisten. In beiden Fällen mußte die Kriegskunst die Versäumnisse der Wirtschafts- und Rüstungspolitik ausgleichen; tat sie es nicht, so war man strategisch mit seinem Latein am Ende. Damit erhebt sich erneut die Frage, warum die deutsche Rüstungserzeugung so schleppend anlief, nunmehr ergänzt durch die Frage, warum neben dem Ausstoß von Rüstungsmaterial auch die Bereitstellung anderer kriegswichtiger Güter, insbesondere Treibstoff, nicht nachdrücklich genug betrieben wurde. Im Sinne der Unterscheidung von Thomas gehört das eine in den Bereich der Breitenrüstung, das andere in denjenigen der Tiefenrüstung. Eine sorgfältige strategische Planung hätte beides steigern müssen und wohl auch steigern können, um den Wechselfällen des Kriegsglücks gewachsen zu sein und um - wie Hitler ja selbst verlangte auch längere Auseinandersetzungen durchzustehen. Ohnedies lassen sich Breitenund Tiefenrüstung nicht säuberlich trennen. Breitenrüstung besagt das Bereitstellen von Streitkräften für einen möglichen Krieg; Tiefenrüstung dagegen besagt zweierlei, nämlich zum einen das Bereitstellen von Gütern für den Verbrauch der Streitkräfte im Krieg, d. h. teils Vorräte, teils laufende Erzeugung von allem, was dem Verbrauch, Verschleiß oder Verlust unterworfen ist (Treibstoff, Munition, Waffen usf.), und Tiefenrüstung besagt zum anderen die Vorbereitung der ganzen Wirtschaft auf den Krieg, namentlich die Erhaltung oder Ausweitung der Produktionskapazität, um den Bedarf der Streitkräfte längerfristig befriedigen oder auch die Breitenrüstung selbst ausdehnen zu können. Das Maß der möglichen Breitenrüstung hängt ab - im Frieden und mindestens ebenso im Krieg - vom Maß der industriellen Leistungsfähigkeit, also in der Hauptsache von der fabrikatorischen Kapazität sowie der Versorgung mit Rohstoffen. Andererseits ist die Breitenrüstung, d. h. die Menge militärischer Formationen mit ihrer Ausrüstung, nur in dem Maße verwendbar, wie die Tiefenrüstung die Voraussetzungen für ihren sinnvollen Einsatz gewährleistet. Wenn beispielsweise die Tiefenrüstung nur wenig Treibstoff und Munition bereitstellt, kann man sich eine aufwendige Breitenrüstung entweder ganz schenken oder man darf sich darauf einrichten, daß starke Streitkräfte binnen kurzem kampfunfähig werden, weil sie nicht mehr schießen und ihre motorgetriebenen Geräte nicht mehr bewegen können. Das hatte Thomas im Auge, wenn er die vernachlässigte Tiefenrüstung beklagte, denn bei Kriegsbeginn waren die Munitionsvorräte unzureichend und die Treibstofflage unbefriedigend. Hätten die europäischen Westmächte während des Polenfeldzugs angegriffen, so wäre eine Katastrophe der Wehrmacht zumindest vorstellbar gewesen. Dieser Sachverhalt beruhte indes nicht auf einer wohlüberlegten Blitzkriegstrategie, sondern auf Hitlers Glücksspielermentalität Überhaupt hätte eine sorgfaltig
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geplante Blitzkriegstrategie, wenn es sie denn gegeben hätte, ganz anders aussehen müssen als das wirre Durcheinander, das im Dritten Reich tatsächlich anzutreffen war. Was Hitler vorhatte, läßt sich cum grano salis als eine Reihe von Eroberungsund Beutefeldzügen begreifen, bei welcher in jedem einzelnen Schritt die deutsche Rohstoff- und Ernährungsgrundlage verbessert werden sollte bis hin zur Eroberung Rußlands, weil dadurch Europa in Hitlers Vorstellung zum blockadefestesten Ort der Welt wurde. Daraus läßt sich ein einfaches Schema konstruieren: Hitlers Drittes Reich besaß kaum Rohstoffe und zuwenig Nahrungsmittel, wollte sich aber beides verschaffen, indem es in aufsteigender Linie Länder unterwarf, wo beides zu finden war. Hierfür benötigte es Streitkräfte, die so stark waren, daß sie binnen kurzem die betreffenden Gegner mit zuverlässiger Sicherheit niederwerfen konnten. Der Umfang dieser Streitkräfte ließ sich im Verlauf der Eroberungsfeldzüge ausweiten; die jeweils gewonnenen bzw. erbeuteten Rohstoffe und sonstigen Hilfsmittel boten die Möglichkeit, sich immer besser auf den nächsten Waffengang mit zunehmend stärkeren oder schwierigeren Gegnern vorzubereiten. In Wahrheit jedoch wurde nach diesem einfachen Schema kaum verfahren. Die fortlaufende Rüstungserzeugung, deren Wert bekanntlich nur 1939/40 etwas anstieg, 1940/41 indes gleichblieb, gestattete zwar eine allmähliche Ausdehnung der Wehrmacht, also verstärkte Breitenrüstung, aber ein volles Ausschöpfen der deutschen Kriegsfahigkeit wurde in den ersten Jahren gerade nicht erreicht. Die Zahl der Divisionen des Heeres stieg, rund gerechnet, von 100 bei Kriegsbeginn über 150 vor dem Frankreichfeldzug auf 200 vor dem Rußlandfeldzug, doch handelte es sich bei der Masse der Verbände (über vier Fünftel der Gesamtzahl) weiterhin um herkömmliche Infanteriedivisionen mit geringer Motorisierung und entsprechend eingeschränkter Beweglichkeit. Für Blitzfeldzüge, d. h. für schnelle, weiträumige Operationen, die tief im Hinterland des Gegners eine rasche Entscheidung erzwingen konnten, stellten solche Verbände höchstens einen Notbehelf dar. Die Luftwaffe vermehrte, wieder rund gerechnet, die Zahl ihrer Flugzeuge von gut 4000 bei Kriegsbeginn auf gut 6000 vor dem Rußlandfeldzug, doch wies auch sie nach Gliederung und Ausrüstung erhebliche Schwächen auf, die ihre Eignung für rasche, entscheidungssuchende Operationen beeinträchtigten. Zu einem strategischen Bombenkrieg über große Entfernungen, der einen Gegner wirksam zu lähmen vermochte, war sie aus Mangel an entsprechenden Flugzeugen ohnedies kaum oder gar nicht in der Lage. Sodann gehört zu den Aufgaben moderner Luftkriegführung auch das Befördern von Material und Truppen, sei es in Form des bloßen Transports, sei es in Form von Kampfeinsätzen, d. h. Luftlandungen. Das kann taktische Bedeutung haben, indem bestimmte Punkte hinter der gegnerischen Front aus der Luft genommen werden, oder operative, indem weiträumige Bewegungen durch Nachschub aus der Luft in Fluß gehalten werden, oder sogar strategische, indem ein strategisch wichtiges Gebiet ganz oder zu großen Teilen auf dem Luftweg besetzt wird. Die Luftwaffe verfügte zwar über Transportflugzeuge sowie in den ersten Kriegsjahren über eine Fallschirmjägerdivision, außerdem gab es eine Luftlandedivision des Heeres. Aber eine sorgfaltig durchdachte Blitzkriegstrategie
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hätte sowohl das Lufttransportwesen als auch das Luftlandewesen erheblich stärker ausbauen müssen, da es zweifellos keine schnellere Beförderungsart als diejenige auf dem Luftweg und keinen rascheren Handstreich als die Luftlandung gibt. Wären zu einer entsprechend umfangreichen Lufttransportflotte und entsprechend starken Luftlandeverbänden noch die erforderlichen Kampf- und Jagdgeschwader getreten, so hätte sich wohl eher eine wirkliche Blitzkriegstrategie durchführen lassen: Die Besetzung Norwegens wäre erleichert, die Luftlandung in der Festung Holland vielleicht erst ermöglicht worden; eine Invasion in England hätte man dann mit mehr Berechtigung in Erwägung ziehen dürfen; die Besetzung strategischer Inseln im Mittelmeer wäre einfacher gewesen; und den schnellen Operationen des Heeres, etwa im Rußlandfeldzug, hätte sich durch das Heranschaffen von Nachschub aus der Luft vorwärtshelfen lassen. Freilich wird hier auch sofort deutlich, daß eine stärkere Luftwaffe mit mehr Lufttransportraum, schon vollends ein stärker motorisiertes Heer, wesentlich mehr Treibstoff benötigt hätte. Setzt man nun das Gedankenspiel fort, wie eine wirkliche Blitzkriegstrategie hätte aussehen können, so erkennt man unschwer, daß die Verhüttung inländischer Eisenerze, wie sie mit ungeheurem Aufwand im Vierjahresplan betrieben wurde und in den Hermann-Göring-Werken ihr Mahnmal fand, reichlich überflüssig war. Eine Blitzkriegstrategie, die darauf ausging, sich die n().. tigen Rohstoffe durch Eroberungsfeldzüge anzueignen, brauchte eine starke Luftwaffe, ein möglichst weitgehend motorisiertes Heer und viel Treibstoff - aber sie brauchte sicher kein minderwertiges Erz im Inland, wenn sich hochwertiges oder besseres Erz aus Schweden, Frankreich und schließlich der Sowjetunion beschaffen ließ. Die gewaltigen Mittel, die für die Verhüttung inländischer Erze verpulvert wurden (Geld, Arbeitskräfte, Rohstoffe),ließen sich weit zweckmäßiger anwenden für eine vermehrte Treibstofferzeugung, womit zugleich die Grundlage entstanden wäre, der Wehrmacht eine stärkere Schlagkraft zu verleihen. Bleibt man in diesem konstruierten Schema, so hätte eine wirkliche Blitzkriegstrategie darin bestehen können, zunächst mit starken Boden- und Luftstreitkräften, dazu ausreichend Treibstoff, die deutsche Rohstoffbasis zu verbessern, insbesondere durch eine Besetzung Norwegens und Frankreichs, um das schwedische und Iothringische Erz zu sichern und Zugang zu sonstigen Rohstoffen zu gewinnen. Gestützt darauf hätte sich die Wehrmacht weiter ausbauen lassen, vor allem durch eine Verstärkung ihrer (motorisierten) Schlagkraft, um anschließend für weitere Aufgaben gerüstet zu sein. All dies trat bekanntlich nicht ein. In Verfolgung der sinnlosen Autarkiegedanken Hitlers war mit dem Vierjahresplan von 1936 die Verhüttung inländischer Eisenerze begonnen worden; man hatte die Erzeugung von künstlichem Treibstoff ausgeweitet, aber die Selbstversorgung nicht erreicht; die Besetzung Norwegens, um das schwedische Erz zu sichern, wurde vor dem Krieg nicht geplant, sondern ergab sich erst später aus den Umständen; und Hitler hatte anfangs keinerlei begründete Vorstellung, wie lange ein Krieg gegen Frankreich dauern könnte. Was folgt daraus? Es folgt daraus, daß es in Deutschland nicht bloß keine Blitzkriegstrategie gab, sondern überhaupt keine vernünftige Strategie. Die Wehr-
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machtsteile hatten ursprünglich, nach dem Anlaufen der deutschen Wiederaufrüstung in den 1930er Jahren, auf der strategischen Grundlage eines möglichen Zweifrontenkrieges gegen kontinentale Nachbarn des Reiches gerüstet- nicht zum Zweck des Angriffskriegs, sondern um Deutschland auf politischem Weg wieder die Stellung einer europäischen Großmacht zu geben. Diese strategische Vorstellung war hinfällig geworden, nachdem Hitler seit 1937 tatsächlich kriegerische Ziele hatte erkennen lassen, nachdem er den Machtkampf mit dem Heer für sich entschieden und Halders Staatsstreichversuch unbeschadet überstanden hatte. Eine verbindliche strategische Leitlinie existierte von da an nicht mehr, jedenfalls nicht in dem Sinn, daß die Wehrmacht sich auf irgendeinen planmäßigen Rahmen für den Ablauf eines Krieges hätte einrichten können, und schon gar nicht in dem Sinn, daß die Wehrmacht auf die Ausgestaltung eines solchen planmäßigen Rahmens hätte Einfluß nehmen dürfen. Was blieb, waren Hitlers längerfristige Absichten, von denen er nur gelegentlich und andeutungsweise etwas aufscheinen ließ, sodann seine sprunghaften Eingebungen und seine von Fall zu Fall getroffenen strategischen Entscheidungen, insbesondere über einzelne Feldzüge, die von der Wehrmacht anschließend durchzuführen waren. Allenfalls konnten hohe militärische Amtsinhaber sich ihre eigenen unverbindlichen Gedanken über die strategische Lage machen und sie dem Diktator vortragen, was in der Regel nichts nützte, weil Hitler sowieso alles besser wußte. Wie der Krieg, falls er kam, ablaufen sollte, war der Wehrmacht weitgehend unbekannt: Nach dem Polenfeldzug hofften Offiziere wie Truppen auf den Frieden und mußten zum Feldzug gegen Frankreich mehr oder weniger gezwungen werden; die Besetzung Norwegens, der Krieg auf dem Balkan und der Luftkrieg gegen England ließen sich vorher nicht absehen; und die Wahrscheinlichkeit des Rußlandfeldzugs schälte sich erst seit 1940 heraus. Admiral Raeder und andere entwikkelten seit 1940 eine Alternativstrategie, indem sie den Schwerpunkt des Krieges in den Mittelmeerraum verlegen wollten. Wäre dieser Gedanke verwirklicht worden und umgekehrt der Rußlandfeldzug unterblieben, so hätte die ganze Rüstungsfrage ein anderes Gesicht erhalten. Denn wenn die Achsenmächte zu den Ölquellen des vorderen Orients vorgestoßen wären, dann hätten sie den Treibstoff erhalten, den sie brauchten, und die Wehrmacht hätte die Zeit nutzen können, ohne die Ausfälle des Rußlandfeldzugs ihren Rüstungsstand zu verbessern. Das Heer konnte dann bis 1942 ohne Mühe mindestens 30 Panzerdivisionen und eine größere Zahl motorisierter Verbände ausrüsten, die Luftwaffe hätte mehr Flugzeuge besessen, und sofern von Rußland eine unmittelbare Bedrohung ausging, war sie gegebenenfalls in einem Verteidigungskrieg zu bereinigen. Auf welche Auseinandersetzungen sollte die Wehrmacht sich vorbereiten, welche Art von Krieg sollte sie planen? Allein Hitler wußte mit einiger Sicherheit, was er vorhatte, aber der Wehrmacht gewährte er keine Mitsprache bei seinen strategischen Absichten, weil er seit 1937/38 immer wieder erfahren hatte, daß die Offiziere vor den Gefahren eines Krieges im allgemeinen und eines Weltkrieges im besonderen warnten. Hitler hatte keine Veranlassung, er durfte es nicht einmal
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wagen, die Offiziere jene Art von Krieg planen zu lassen, die er vorhatte, denn die Offiziere würden entweder die Aussichtslosigkeit eines Weltkriegs herausstreichen, oder sie würden etwas ganz anderes empfehlen als das, was Hitler wünschte, oder sie würden sogar, aufgeschreckt von Hitlers haltlosen Vorgaben, sich zur gemeinsamen Ablehnung, am Ende zum gemeinsamen Handeln gegen den Diktator zusammenfinden. Vielmehr empfahl es sich für Hitler, die Wehrmacht über seine letzten Ziele weitgehend im Unklaren zu lassen, ihr den jeweils nächsten Schritt erst dann zu eröffnen, wenn er die Zeit zum Handeln für gekommen erachtete. So hatte Hitler es vor dem Krieg gehandhabt, und so verhielt er sich auch im Krieg. Das war der Grund, warum ein regelrechter Wehrmachtgeneralstab, der ein politisch-wirtschaftlich-militärisches Lagebild hätte erstellen und auf dessen Grundlage die Handlungsmöglichkeiten Deutschlands hätte beurteilen können, nie errichtet worden war; und das war der Grund, warum das OKW, sofern es für eine solche Aufgabe sich überhaupt eignete, dazu doch nie ermächtigt wurde. Selbst General Jodl, Hitlers nächster Berater in militärischen Führungsfragen, besaß über Hitlers Pläne, namentlich seine Absicht, demnächst Rußland anzugreifen, bis in den Herbst 1940 keine Gewißheit. General Thomas, mit den Fragen der Wehr- und Rüstungswirtschaft wohl am besten vertraut, wurde zum direkten Vortrag bei Hitler über die einschlägigen Dinge seit Kriegsbeginn praktisch nie zugelassen. Als Thomas im Februar 1941 Keitel und Jodl über die angespannte Treibstoff- und Gummilage unterrichtete, mußte er sich von Keitel anhören, der Führer lasse sich in seinen Plänen von diesen wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht beeinflussen. Das ist kennzeichnend für den Herrschaftsbetrieb im Dritten Reich, für Hitlers Führungsstil und für das Gewicht sachgerechter Lageanalysen. Die Kenntnisse der Fachleute dienten Hitler nicht zur Grundlage seiner Willensbildung; soweit der Diktator die Tatsachen überhaupt zur Kenntnis nahm, formte er sich daraus nach eigener Willkür, unbeeinflußt von abweichenden Sachargumenten, seine Meinung - eine Meinung, die nicht von Wissen und Logik, sondern von seinen weltanschaulichen Vorurteilen und seinem beschränkten Horizont geprägt war. Von den Fachleuten erwartete er nicht, daß sie seinen Horizont erweiterten, sondern daß sie seinen Befehlen gehorchten, ohne viel zu denken. 6 So traf Thomas durchaus das Richtige, wenn er nach dem Krieg ausführte, in dem sogenannten Führerstaate Hitlers habe auf wirtschaftlichem Gebiet eine völlige Führerlosigkeit und ein unsagbares Durch- und Nebeneinanderarbeiten stattgefunden, weil Hitler die Notwendigkeit einer festen weitsichtigen Planung nicht ein6 Die Behauptung über angebliche Berechnungen hinsichtlich der bewaffnungsmäßigen Überlegenheit der Wehrmacht bei Milward, Kriegswirtschaft, 21. Haider über Krieg als System von Aushilfen nach Kroener, Sparstoff, 410; Frieser, Blitzkrieg, 193. Zur Vernachlässigung der Lufttransportwaffe Boog, Luft._waffenführung, 23 ff. Zum Vieljahresplan und zur Treibstofflage Petzina, Autarkiepolitik; Birkenfeld, Treibstoff. Zur Mittelmeerstrategie Hiligrober, Strategie, 178 ff. Zu Jodls Kenntnissen über Hitlers Rußland-Absichten Jodls Aufzeichnung vom 3. 12. 1940 in KTB OKW 112, 981. Über mangelnde Unterrichtung Hitlers durch Thomas sowie den Vortrag von Thomas am 8. 2. 1941 Thomas, Wehrwirtschaft, 200, 17f.
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sah, Göring von der Wirtschaft nichts verstand und die zuständigen Fachleute keine Vollmachten hatten. Damit ist in der Hauptsache bereits die Frage beantwortet, warum eine frühzeitige Steigerung der deutschen Rüstungserzeugung nicht eintrat. Der nationalsozialistische Organisationsdschungel, das gewollte Herrschaftschaos des Dritten Reiches war der Hauptgrund, also jenes aus Hitlers Weltanschauung herrührende Bestreben, die Regelhaftigkeit des bürokratischen Staats- und Verwaltungsbetriebes aufzulösen zugunsten eines Neben- und Gegeneinander einzelner Personen, die in unterschiedlichem Maße von Hitler mit Vollmachten ausgestattet wurden, um: sie gegeneinander ausspielen und beherrschen zu können, um Hitlers Letztentscheidung und seine diktatorische Stellung zu sichern, um die Rassenlehre schon im Staatsbetrieb durchzusetzen und um die Verwirklichung der nationalsozialistischen Ziele nicht abhängig zu machen vom Sachverstand der Fachleute, von ihren Einwänden oder von dem, was in Hitlers Augen nur Wankelmut und Unentschlossenheit darstellte. Daß Hitler und die Fachleute, vor allem in der Wehrmacht, den Krieg gemeinsam vorbereitet, ihn gemeinsam im Geist der nationalsozialistischen Ziele geführt hätten, ist ein Ammenmärchen, das durch oftmalige Wiederholung nicht wahrer wird. Hätten die Fachleute die Strategie planen dürfen, so hätte der Krieg mit größter Wahrscheinlichkeit nie stattgefunden; allenfalls hätte er in einer ganz anderen Form stattgefunden, als Hitler sie ihm dann gab. Tatsächlich jedoch behielt Hitler sich nicht bloß alle obersten Entscheidungen vor, sondern auch all das, was unter normalen Umständen in den Bereich der strategischen Planung fallen würde. Unterhalb dieser Ebene gab es nur ein wirres Durcheinander von Dienststellen, Amtsinhabern und Bevollmächtigten, mit zersplitterten, unklaren oder sich überschneidenden Zuständigkeiten, wodurch Hitler, als Oberbefehlshaber der Wehrmacht ohnedies sein eigener Kriegsminister, zusätzlich Gelegenheit erhielt, sich in vielerlei Sachtragen der Wirtschafts-, Rüstungs- und Wehrpolitik einzuschalten sowie mit seinen sprunghaften Augenblickseingebungen den Wirrwarr noch zu vergrößern. Ob die Steuerung der Kriegswirtschaft bzw. der Rüstung von Zivilisten oder Soldaten vorgenommen wird, ist im Grunde ziemlich belanglos, wie ja überhaupt verschiedene Organisationsformen für das Lösen dieser Aufgabe denkbar sind: straffe Zentralisierung oder größere Beweglichkeit von Teilbereichen, Selbstverantwortung der Industrie oder ihre strikte Lenkung, gleichberechtigte Zusammenarbeit von Zivil- und Militärbehörden oder Unterordnung der einen gegenüber den anderen. Erforderlich ist aber jedenfalls dreierlei: daß von geeigneten Einrichtungen eine sorgfältige und verbindliche strategische Planung vorgenommen wird, die den Rahmen für das wirtschaftliche Handeln absteckt; daß die Wirtschaft von einschlägigen Fachleuten gesteuert wird, die etwas von der Sache verstehen und das Mögliche verwirklichen, seien es Beamte, Offiziere oder Industrielle; daß Organisationsformen erstellt werden, die den nötigen Informationsfluß zwischen den Beteiligten gewährleisten, die Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen erleichtern und den Verantwortlichen für ihr jeweiliges Arbeitsgebiet klare Befugnisse geben, um das Erforderliche durchzusetzen. In Amerika fand man die Lösung, daß das
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Gremium der vereinigten Stabschefs (von Heer, Heeresluftwaffe und Marine), das dem Präsidenten unmittelbar unterstand und die Strategie plante, aus den strategischen Erfordernissen den Rüstungsbedarf ermittelte. Dieser mußte abgestimmt werden mit dem Anfang 1942 errichteten Amt für Kriegsproduktion, in welchem Fachleute aus der Wirtschaft wichtige Posten übernahmen und das einen allgemeinen Planungsrahmen für die gesamte, auch zivile Wirtschaft erstellte sowie die Rohstoffe zuteilte. Ansonsten behielten Heer und Marine, deren Verwaltung von einem Kriegs- bzw. Marineminister geleitet wurde, ihr eigenes Beschaffungswesen und vergaben die Rüstungsaufträge an die Industrie. In England war eine Anzahl von Ministerien für die Belange der Kriegswirtschaft zuständig, so das Finanzministerium für die Wirtschaft allgemein, das Kriegs- (bzw. Heeres-), Luftfahrt- und Marineministerium für die Verwaltung der Teilstreitkräfte, das Beschaffungsministerium und das Ministerium der Flugzeugproduktion für die Versorgung von Heer und Luftwaffe; außerdem gab es ein Ministerium für wirtschaftliche Kriegführung und ein Ministerium für die Koordination der Verteidigung, später Verteidigungsministerium, das Churchill selbst übernahm. Um in dieser Vielfalt die Zusammenarbeit sicherzustellen, behalf man sich mit einem System von Ausschüssen auf der Regierungsebene, das für verschiedene Sachgebiete die einzelnen Ministerien zusammenspannte. Das Festlegen der Strategie oblag dem Kriegskabinett, einem kleinen Kreis von Ministern mit dem Premier an der Spitze, das sich hierzu auf die Zuarbeit der Stabschefs stützte. Mitglieder des Kriegskabinetts leiteten die erwähnten Koordinationsausschüsse und sorgten so für das Umsetzen der Strategie in die Wirtschaftspolitik. Für die drei Teilstreitkräfte bzw. die zugehörigen Rüstungsministerien war als Koordinationsausschuß ein Produktionsrat (Production Council, später Production Executive) zuständig, der die Prioritäten festlegte und die Produktionsmittel zuwies; in diesem Rahmen konnten die Teilstreitkräfte ihre Rüstungsgüter beschaffen. An die Stelle des Produktionsrats trat 1942 ein Produktionsministerium, das weiterhin koordinierte, nunmehr auch die gemeinsame Rüstung mit den Amerikanern, und sich um einen verbesserten Wirkungsgrad nachgeordneter Behörden kümmerte, auch durch das Berücksichtigen von Vorschlägen der Industriellen. In Japan mit seiner komplizierten, am früheren deutschen Konstitutionalismus ausgerichteten Verfassung stand das Festlegen der Strategie formal dem Kaiser als Oberbefehlshaber zu, der sich hierzu der Stabschefs der Teilstreitkräfte Heer und Marine bediente, die ihm unmittelbar unterstanden. Um die Regierung an der Willensbildung zu beteiligen, fanden Besprechungen statt, gelegentlich unter Teilnahme des Kaisers selbst, so namentlich in der sog. Verbindungskonferenz, die 1937 für Beratungen zwischen den wichtigsten Ministern und den Spitzen der militärischen Hierarchie eingerichtet worden war. 1937 wurde auch eine Kabinettsplanungsbehörde für die Koordination der wirtschaftlichen Anstrengungen des Landes errichtet, die allerdings nur Empfehlungen geben konnte. Die Unabhängigkeit der Teilstreitkräfte, die ihr Material selbst beschafften, blieb dadurch gewahrt, seit 1941 etwas gemindert durch den Umstand, daß der Ministerpräsident General
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Tojo zugleich Kriegsminister (und Innenminister) war. Für die Kriegswirtschaft setzte man auf die Selbstverantwortung der Industrie; durch ein Gesetz von 1941 wurden die großen Firmen in Zwangskartelle eingegliedert, die von Industriellen geleitet wurden und denen das Verteilen der Rohstoffe, Arbeitskräfte und Maschinen oblag. Erst Ende 1943 wurde als zentrale Kriegswirtschaftsbehörde ein Munitionsministerium errichtet, das allerdings in Wahrheit ein Ministerium für die Flugzeugproduktion darstellte. Entgegen einer gelegentlich geäußerten Kritik scheint die japanische Kriegswirtschaft recht wirkungsvoll gearbeitet zu haben. Jedenfalls brachte die japanische Industrie, obwohl sie nur rund ein Viertel der deutschen Kapazität und weniger als ein Zehntel der amerikanischen erreichte, im Jahr 1943 ein Drittel der deutschen und 12 % der amerikanischen Rüstungserzeugung hervor. Die eigentliche Schwierigkeit Japans lag darin, daß seine Wirtschaft einem Krieg solcher Größenordnung von Haus aus kaum gewachsen war. Im Dritten Reich stellte sich alles ganz anders dar. Die strategische Planung, soweit sie überhaupt stattfand, lag in den Händen eines weltanschaulichen Fanatikers, der von den Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft und Kriegführung nichts verstand, sie leugnete oder nicht zur Kenntnis nahm. Im Herbst 1940 verfaßte der Luftfahrtindustrielle Siebel eine Denkschrift, in welcher er auf das gewaltige Luftrüstungspotential der USA hinwies und anregte, man solle eine Art Rüstungsdiktator einsetzen und die Voraussetzungen schaffen, um die Erzeugung wesentlich zu steigern. Die Vorschläge Siebels wurden unterstützt vom Generalluftzeugmeister (Chef der Luftwaffenrüstung) Udet sowie vom damaligen Munitionsminister Todt, fanden jedoch kein Gefallen bei Hitler. Der Diktator meinte, die USA besäßen gar nicht genug Leichtmetall, um Flugzeuge in dem befürchteten Umfang zu bauen. Ereignisse solcher Art häuften sich und stellten nicht einfach nur Fehlentscheidungen dar, wie sie überall vorkommen mögen, sondern sie bekundeten den fehlenden Willen und die fehlende Fähigkeit, die Politik an den Tatsachen auszurichten. Dieser Dilettantismus an der Spitze setzte sich nach unten hin fort und wurde ergänzt durch eine heillos zerfahrene Organisation. Hermann Göring, an sich tatkräftig, aber durch seine Ämterfülle überlastet und auf wirtschaftlichem Gebiet sowieso kenntnislos, schaffte es schon in seinem Luftfahrtministeriull!- nicht, die Kräfte so einzusetzen, daß die höchstmögliche Leistung erzielt wurde. Im Jahr 1941 stellte die Flugzeugindustrie monatlich etwas über 1000 Maschinen her, obwohl die vorhandene Kapazität 3000 Flugzeuge betrug. Wirtschaftsminister Funk, 1938 an die Stelle von Schacht getreten, war ursprünglich Wirtschaftsjournalist gewesen und insofern nicht ganz unbeleckt, galt jedoch als schwach und sollte lediglich einen Handlanger für Göring bilden. Auf der Unterstufe der Verwaltung wurden mit Kriegsbeginn in den einzelnen Wehrkreisen Reichsverteidigungskommissare eingesetzt - durchwegs Gauleiter der NSDAP mit großer Selbstherrlichkeit und oft geringen Verwaltungskenntnissen, die während des Krieges beständig eine Quelle von Reibungsverlusten darstellten. Sie sollten in ihrem Bereich alle zivilen Verwaltungszweige steuern, sahen indes ihre Aufgabe eher darin, die Belastungen des Krieges von der Bevölkerung möglichst fernzuhalten. Mit dem Einfluß der Gaulei-
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ter oder der Partei allgemein hing es zusammen, daß eine totale Mobilmachung nach Kriegsbeginn nicht zustandekam. Sie kam freilich auch deswegen nicht zustande, weil auf der Zentralstufe keine Klarheit bestand, wer die Wirtschaft steuern solle und wie dies zu geschehen habe. In Frage kamen zunächst drei Instanzen: die Wehrmacht, seit 1938 unter Hitler als Oberbefehlshaber und Kriegsminister, denn die Wehrmacht beaufsichtigte seit 1935 das Mobilmachungsverfahren von über 4000 Rüstungsbetrieben, und die Teilstreitkräfte versorgten sich, gemäß den Vorgaben Hitlers, selbst mit dem benötigten Material; sodann der Wirtschaftsminister, seit 1935 Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft, dem die Mobilmachung von mehr als 30 000 sonstigen Betrieben oblag; schließlich der Luftfahrtminister, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, preußische Ministerpräsident und Beauftragte für den Vierjahresplan Göring, welcher in seiner letzteren Eigenschaft für die Erzeugung wichtiger Grundstoffe zuständig war. Das Steuern der Kriegswirtschaft durch die Wehrmacht, mit Hitler an der Spitze, wäre sicher die einfachste Lösung gewesen; sie hätte allerdings vorausgesetzt, das OKW zu einem regelrechten Wehrmachtgeneralstab auszubauen, seine Befugnisse zu erweitern und deutlich zu umschreiben, so daß ein derart aufgewertetes OKW in der Lage war, sowohl die Strategie als auch die wirtschaftliche Mobilmachung zu planen, die Rüstungserfordernisse festzulegen sowie ein stimmiges Verhältnis zwischen Strategie und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit herzustellen. Diesen Weg konnte und wollte Hitler nicht beschreiten, weil ein derartiges OKW, das dann auch personell anders hätte besetzt werden müssen, die wichtigste bürokratische Schaltstelle im Staat, der stärkste Machtfaktor und am Ende eine Gefahr für den Diktator selbst geworden wäre. Statt dessen weitete man die Befugnisse Görings aus, freilich wiederum nicht dergestalt, daß Göring tatsächlich so etwas wie ein Rüstungsdiktator geworden wäre. 1938 wurden dem Wirtschaftsministerium die meisten Aufgaben des Vierjahresplans übertragen, so daß es nun auch der Wehrmacht ihre Rohstoffkontingente zuwies, während umgekehrt Göring ein Weisungsrecht behielt und die Oberleitung in der gesamten Wirtschaftspolitik beanspruchte, ausgeübt durch die Organisation des Vierjahresplans, die durch vielerlei Sonderbevollmächtigte immer weiter zerfaserte. Unter diesen Umständen vermochte von den genannten drei Institutionen keine die Aufgabe der Wirtschaftssteuerung zu lösen, jedenfalls nicht allein und nicht befriedigend. Allenfalls hätten sie in geregelter Weise zusammenarbeiten können, aber geregelte Zusammenarbeit widersprach dem Wesen nationalsozialistischer Herrschaft. Durch Führererlaß vom 30. August 1939 wurde ein" Ministerrat für die Reichsverteidigung errichtet, der unter Görings Vorsitz tagen sollte und theoretisch die Abstimmung der kriegswirtschaftlichen Belange hätte leisten können. Daß er gar nichts leistete und bald wieder in der Versenkung verschwand, hat mehrere Ursachen: Erstens wäre ein solches Gremium wohl der geeignete Ort gewesen, um die Strategie festzustellen und sie in entsprechende wirtschaftliche Maßnahmen umzusetzen. In diesem Fall wäre es sinnvoll gewesen, wenn Hitler als Regierungschef und Kriegsminister selbst den Vorsitz geführt oder wenigstens den Chef des OKW
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Keitel, der im Ministerrat vertreten war, mit klaren Anweisungen über die langfristige Strategie versehen hätte. Da keins von beiden stattfand, hatte der Ministerrat auch keinen Anhaltspunkt, was er nun eigentlich planen und entscheiden sollte und war insofern ziemlich überflüssig. Zweitens zeigte Göring an dem Gremium keinerlei Interesse; er rief es nur ein paar Mal unregelmäßig zusarnrnen und ließ lediglich Belanglosigkeiten behandeln. Warum das so war, ist schwer zu sagen; immerhin hätte ja die Möglichkeit bestanden, daß Göring, gestützt auf seine Befugnisse als eine Art Überminister und als Vorsitzender des besagten Ministerrats, selbst das Heft in die Hand nahm und eine wirtschaftliche Strategie entwickelte, beispielsweise die totale Mobilmachung in die Wege leitete. In Wahrheit freilich bekräftigte Göring bei dieser Gelegenheit dasselbe Bild, das er seit Jahren bot: Er gierte nach Ämtern und Posten und zeigte sich anschließend außerstande, sie sachgerecht auszufüllen. Drittens schließlich war der Ministerrat auch von seiner Organisation her wenig geeignet, die Steuerung der Wirtschaft zu bewerkstelligen. Die Geschäfte des Ministerrats, also gewissermaßen die Stabsarbeit, nahm der Chef der Reichskanzlei Lammers wahr, der für diese Aufgabe nicht die nötigen Voraussetzungen mitbrachte, da die Planung militärischer, wirtschaftlicher und außenpolitischer Tätigkeiten nicht zu seinen Aufgaben zählte. Damit der Ministerrat zweckdienlich wirken konnte, benötigte er Arbeitsunterlagen, insbesondere über den Zustand und die Leistungsmöglichkeit der eigenen Wirtschaft, über die Verhältnisse im Ausland, über die Erfordernisse der Wehrmacht, über die gegebenen Handlungsspielräume usf. Derartige Unterlagen konnten nur in geeigneten Institutionen hergestellt werden, am ehesten wohl im OKW, wo die verschiedenen Ämter mit der Wehrwirtschaft, auch derjenigen des Auslands, befaßt waren, mit der Nachrichtengewinnung aus dem Ausland und mit der Landesverteidigung. Allenfalls wäre noch der Wirtschaftsminister als Generalbevollmächtigter für die Kriegswirtschaft in Frage gekommen, dessen Führungsstab zur Planung der inländischen Wirtschaft wohl imstande war und der zudem, ähnlich wie die Wehrmacht, über einen eigenen Verwaltungsunterhau verfügte. Das führt wieder auf das Ergebnis, daß der Ministerrat anders hätte gestaltet werden müssen, am besten wohl als Gremium unter Vorsitz des Reichskanzlers und unter Federführung durch die Wehrmacht. So, wie der Ministerrat sich tatsächlich darbot, diente er nur zur Zersplitterung der Macht und zur Erschwerung zweckdienlicher Arbeit. In dieser Weise hat er denn auch gewirkt, insbesondere durch die Einsetzung der Reichsverteidigungskommissare, denn dadurch wurde letztlich der Bock zum Gärtner gemacht und ein Beitrag geleistet, die totale Mobilmachung der Wirtschaft zu verhindern. Diese totale Mobilmachung war vom Wehrwirtschaftsamt und anderen Dienststellen durch einen Katalog von Maßnahmen vorbereitet worden, wie Betriebsstilllegungen, Erzeugungsverbote (für zivile Zwecke), Umschichtung von Arbeitskräften zur besseren Ausnutzung der Maschinen und anderes mehr. Die Maßnahmen wurden nach Kriegsausbruch nur zum Teil angeordnet, zum Teil bald wieder zurückgenommen, und vielfach erst im Jahr 1943 unter Minister Speer in Kraft ge-
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setzt. Was so im Herbst 1939 ins Leben trat und fortan für Jahre bestand, war keine Kriegswirtschaft, sondern eine Übergangswirtschaft, welche das volle Ausschöpfen der Wirtschaftskraft für den Krieg nicht zuließ. Die Verantwortung dafür fällt auf die Nationalsozialisten, allen voran Hitler, Göring und Funk, die mancherlei markige Worte sprachen und das Erforderliche nicht taten. Es paßt ganz gut in das Bild, daß die deutsche Rüstungserzeugung nach den ersten kriegswirtschaftlichen Maßnahmen von 1939 auf 1940 ein wenig anstieg und danach weitgehend gleichblieb, weil auf organisatorischem Gebiet nichts Brauchbares mehr geschah. Thomas kämpfte weiter um eine wirkliche Mobilmachung und um eine angemessene Führungseinrichtung für die Kriegswirtschaft Gegen Ende 1939 entwickelte er den Gedanken, Göring zum Rüstungsminister zu machen und ihm - das war das Bedeutungsvolle - einen Rüstungsführungsstab zuzuordnen, der die wesentlichen Aufgaben der Kriegswirtschaft planen sollte, so die Rohstoffverteilung, die Umstellung der Wirtschaft, den Arbeitseinsatz usf. Obwohl Göring bereit war, sich für den Posten zur Verfügung zu stellen, scheiterte das Vorhaben an der Abneigung Hitlers, klare Verhältnisse zu schaffen, und wohl auch an seiner Abneigung, Göring wirklich zum Rüstungsdiktator zu machen, zumal wenn, wie vorgesehen, im Rüstungsführungsstab Thomas und andere Offiziere den Ton angegeben hätten. Als Ersatz löste Hitler die Dienststelle des Generalbevollmächtigten für die Kriegswirtschaft auf - Funk blieb allerdings Wirtschaftsminister sowie Reichsbankpräsident - und erteilte Göring einen allgemeinen Auftrag zur Lenkung der Kriegswirtschaft, was belanglos blieb, da Göring keine neuen Befugnisse erhielt und mit den vorhandenen, an sich recht umfangreichen, weder vorher noch nachher etwas Rechtes anzufangen wußte. Nachdem Rüstungsminister Speer 1942 sein Amt übernommen hatte, richtete er im Rahmen des Vierjahresplans die sog. ,,zentrale Planung" ein, welche die Rohstoffe verteilte, bald zur wichtigsten Einrichtung der Kriegswirtschaft wurde und durch das einfache Mittel, der Wehrmacht mehr Rohstoffe zuzuweisen, eine starke Steigerung der Rüstungserzeugung zuließ. Obwohl Thomas beizeiten auf die Notwendigkeit einer derartigen, auch langfristigen Planung hingewiesen hatte, fühlten weder Hitler noch Göring sich bemüßigt, eine entsprechende Einrichtung zu schaffen. Bis zur Ära Speer blieb es dabei, daß das Wirtschaftsministerium die Rohstoffe zuteilte, was in Wahrheit auf einen unablässigen Verteilungskampf hinauslief, dem jeder übergeordnete Gesichtspunkt fehlte, einen Verteilungskampf, bei welchem die Wehrmacht für die Rüstungsfertigung regelmäßig weniger Rohstoffe erhielt, als sie eigentlich hätte erhalten können. Nachdem Hitler gegen Ende 1939 eingesehen hatte, daß zu wenig Munition vorhanden war- was er vorher geleugnet hatte -, setzte er im März 1940 den Generalbevollmächtigten für die Bauwirtschaft Todt als Munitionsminister ein, was die Wirrnis noch vergrößerte, da Todt einen eigenen Apparat aufbaute und die Doppelgieisigkeil für arbeitsfördernd ansah, weil dann der Bessere und Stärkere sich durchsetze, außerdem der Führer durch dieses System auch seine großen Erfolge erzielt habe. Das war zwar gut nationalsozialistisch gedacht, brachte aber keinerlei 15 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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Verbesserung; in der Tat ist ja auch die gesamte Rüstungsfertigung, die Todt allmählich an sich zu ziehen trachtete, zwischen 1940 und 1941, also in der Amtszeit Todts, nicht gewachsen. Göring schuf dem Durcheinander ebenfalls keine Abhilfe, sondern verstand sich eher als Sachwalter der Sonderinteressen seiner Luftwaffe. Richtlinien für die Kriegswirtschaft erteilte er entweder gar nicht oder wenn, dann meistens keine brauchbaren - so etwa im Herbst und Winter 1939/40, als er zwar höchste Anstrengungen für die Rüstung verlangte, aber das notwendige Mittel hierfür, die Umsteuerung der Wirtschaft durch totale Mobilmachung, gerade nicht anwandte. Man mag ihm zugute halten, daß er Rücksicht auf die Partei nahm und fruchtlose Auseinandersetzungen mit Hitler scheute, aber wenn er seiner Aufgabe, der Steuerung der Kriegswirtschaft, nicht nachkam, war er mit all seinen Befugnissen fehl arn Platz. Das Durcheinander der nationalsozialistischen Kriegswirtschaftspolitik, ihre mangelhafte Organisation und ihre darauf beruhende Leistungsschwäche ließe sich noch lange darstellen und ergäbe schließlich doch immer dasselbe Ergebnis: Hitler und die Nationalsozialisten waren unfähig, ihr Handeln an Vernunft und Sachkunde auszurichten, unfähig, einen rationalen Staatsbetrieb in Gang zu setzen oder zu halten, unfahi.g, einen Krieg angemessen vorzubereiten und zu führen. So soll abschließend nur noch kurz auf die Frage der Treibstoffversorgung eingegangen werden. Zwischen ihr und den Rüstungsanstrengungen mag es gewisse Wechselwirkungen gegeben haben; jedenfalls richteten Thomas und der Generalbevollmächtigte für das Kraftfahrwesen, General von Schell (einer der zahlreichen Bevollmächtigten aus Görings Vierjahresplan), ihre Vorstellungen über die Motorisierung der Wehrmacht und die Herstellung von Kraftfahrzeugen nicht an den fabrikatarischen Möglichkeiten aus, sondern an der gegebenen Versorgung mit Treibstoff und (Kunst-) Gummi. Verallgemeinert würde dies bedeuten, daß die Wehrmacht bzw. das Heer auf einen stärkeren Motorisierungsgrad verzichtete oder verzichten mußte, weil der Vierjahresplan und allgemein die nationalsozialistische Rüstungspolitik die erforderlichen Mengen an Treibstoff sowie Gummi nicht zur Verfügung stellten. Die Ursache lag wiederum im mangelnden Planungsvermögen, fehlenden wirtschaftlichen Sachverstand und organisatorischen Durcheinander der nationalsozialistischen Herrschaft. Abgesehen von der Erdölförderung innerhalb Deutschlands, die längst nicht so stark stieg, wie sie theoretisch hätte steigen können (die Bundesrepublik förderte 1959 rund 5 Mio. Tonnen, das Großdeutsche Reich 1944 rund 2 Mio.), betraf dies vor allem den synthetischen Treibstoff. Der Ausbau der Hydrierwerke blieb stets weit hinter den Absichten zurück, vor dem Krieg wegen des Mangels an Stahl und Arbeitskräften, die für die Hermann-Göring-Werke, für den Westwall, für überflüssige Repräsentationsbauten der Partei und für den ebenso überflüssigen Z-Plan bei der Marine benötigt wurden. Nach Kriegsausbruch wurde die Lage nicht viel besser, weil Hitler, Göring und Funk trotz der Mahnungen von Thomas sich nicht aufraffen mochten, gezielt zu planen und den nötigen Nachdruck auf die Sache zu verwenden. Noch 1939 stellte Hitler mehrfach wechselnde Dringlichkeits-Rangordnungen für verschiedene Rüstungsgüter auf, wobei
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die Hydrierwerke nie ganz vom standen und außerdem darunter litten, daß die Spitzenreiter Fertigungsmittel beanspruchten, die für die Hydrierwerke vorgesehen waren. 1940 wiederholten sich die Vorgänge in verschärfter Form, die Rohstoffzuteilungen für den Bau der Hydrierwerke wurden gekürzt, das Wirtschaftsministerium ließ zeitweise Material von den Baustellen für zivile Zwecke abziehen, weil ein klarer strategischer Entwurf nicht vorlag, zeitweise Friedenshoffnungen genährt wurden und die dauernd wechselnde Prioritätensetzung in der Rüstungspolitik kein stetiges Arbeiten zuließ. Erst 1941 rückten die Hydrierwerke an die Spitze der Dringlichkeitsskala und erhielten die notwendigen Rohstoffe. Mit dem Treibstoff aus den Hydrierwerken konnte dann ab 1942 der ohnedies verlorene Krieg bis zum Ende durchgestanden werden. 7 2. Das Verhältnis der Mächte vom Sommer 1940 bis zum Sommer 1941
Im Juni 1940 endete der Westfeldzug; im Juni 1941 begann der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Daß der europäische Krieg wie die Auseinandersetzung in Ostasien schließlich doch in den Weltkrieg mündeten, daß Hitler-Deutschland und seine Verbündeten eine Bahn beschritten, an deren Ende ihre totale Niederlage stand, ja ihre zeitweilige Vernichtung als selbständige Mächte - all dies entschied sich zwischen dem Sommer 1940 und dem Sommer 1941. Für Deutschland begann mit dem Ostfeldzug der Zweifronten- bzw. Mehrfrontenkrieg, weil England nach der Niederlage Frankreichs, entgegen der Hoffnung Hitlers, nicht eingelenkt hatte. Zugleich erzeugte der deutsche Angriff auf Rußland jenes unnatürliche Bündnis der sogenannten Anti-Hitler-Koalition, welches die beiden strategischen Leitmächte der Zeit, die USA und die Sowjetunion, gegen die Achsenmächte zusammenführte. Amerika, bislang nur die potentiell ausschlaggebende Macht im Hintergrund, trat nun ins Rampenlicht des Geschehens. Mit der Atlantik-Charta vom August 1941 enthüllten die USA das Bild einer umstürzend neuen Welt, die von Amerika durch den Krieg geschaffen werden sollte, zudem ein Bild, das deutlich erkennen ließ, wie unnatürlich das Bündnis zwischen den beiden strategischen Leitmächten wirklich war. Wegen ihrer besonderen Bedeutung soll die AtlantikCharta in diesem Kapitel übergangen und später gesondert dargestellt werden. 7 Thornas über Kriegswirtschaftspolitik nach MGFA, Weltkrieg VII, 688 (16. 8. 1945; Beitrag Müller). Zur Kriegswirtschaft in Amerika, England und Japan Junker, Struktur; Overy, Mobilisierung; Cohen,-Econorny. Über Siebel MGFA, Weltkrieg VII, 527f. (Beitrag Müller). Zur Luftrüstung Boog, Luftwaffenführung, 53. Allgernein zur Organisation der Kriegswirtschaft Thornas, Wehrwirtschaft, 153ff., 158ff., 167ff., 178ff., 199ff., 243ff., 498 ff. Herbst, Krieg, 111 ff. MGFA, Weltkrieg VII, 364 ff., 412 ff., 539, 613 (Beitrag Müller). Boelcke, Wirtschaft. Über Speers Zentrale Planung Speer, Erinnerungen, 235. Über Todt Thornas, Wehrwirtschaft, 201, 257, 509 ff. Thornas und Schell über Zusammenhang zwisehen Motorisierung und Treibstoff nach MGFA, Weltkrieg V/1, 434 (Beitrag Müller). Allgemein zur Treibstofflage und den Hydrierwerken Birkenfeld, Treibstoff, 217, 126ff., 160ff. Thornas, Wehrwirtschaft, 248 ff.
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Davon abgesehen, fielen während der Zeitspanne vom Sommer 1940 bis zum Sommer 1941 einige der wichtigsten Entscheidungen der ganzen Kriegszeit. Wie eingangs erwähnt, läßt sich im europäischen Krieg der Jahre 1939 bis 1941 immer wieder eine Offenheit der Situation feststellen, gewissermaßen ein Scheideweg der Ereignisse, an welchem zumindest für die Zeitgenossen verschiedene Möglichkeiten der weiteren Entwicklung denkbar zu sein schienen. Insofern unterschied sich der europäische Krieg grundlegend vom Weltkrieg der Jahre 1941 bis 1945, in welchem die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten zusehends eingeengt wurden auf die beherrschende Frage, wann und wie die Niederlage der Achsenmächte eintreten würde. Dagegen wäre im europäischen Krieg ein anderer Gang der Ereignisse öfters vorstellbar gewesen, vor allem zwischen dem Sommer 1940 und dem Sommer 1941. Von einer Offenheit der Situation mag man schon vorher sprechen, wenn man etwa den Fragen nachgeht, warum die Westmächte während des Polenfeldzugs nicht angriffen, warum Halders zweiter Anlauf zum Staatsstreich scheiterte, warum die "Weserübung" den Westmächten knapp zuvorkam, warum Frankreich so schnell und überraschend zusammenbrach, warum durch all dies Hitlers Eroberungskrieg nicht schon im Keim erstickt wurde. Aber zwischen dem Sommer 1940 und dem Sommer 1941 schien jene Offenheit der Situation erst recht aufzutreten, und nunmehr in noch größerem Maßstab. War denn ein Friedensschluß mit Großbritannien ganz undenkbar, mußte der verhängnisvolle Entschluß zum Ostfeldzug gefaßt werden, konnte nicht eine völlig andere Strategie gewählt werden, mußten sich allmählich die beiden Kriegsblöcke der Achsenmächte und der AntiHitler-Koalition herausbilden, wären nicht eine andere Konstellation der Mächte, ein anderer Verlauf und ein anderes Ende des Krieges vorstellbar gewesen? Solche Fragen sind nicht bloß reine Spekulation; es gab in den beteiligten Ländern Erörterungen darüber, und obwohl die Alternativen nicht zum Zug kamen, kann ihre Betrachtung doch den Blick dafür schärfen, warum die Dinge so verliefen, wie es tatsächlich eintrat. Überdies kann sie den Blick dafür schärfen, daß in der geschichtlichen Entwicklung manches nicht so eindeutig oder so einseitig war, wie man es heutzutage öfters hinzustellen beliebt. Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß der deutsche Sieg über Frankreich weitreichende Auswirkungen auch auf andere Länder hatte. Italien war trotz des Stahlpakts vom Mai 1939 dem Krieg zunächst ferngeblieben. Erst Ende Mai 1940, als der Sichelschnitt in Nordfrankreich gelungen war, entschloß sich der Diktator Benito Mussolini zum Kriegseintritt Italiens, der dann am 10. Juni stattfand. Allein diese Tatsachen besagen bereits sehr viel über das Verhältnis der beiden Achsenmächte. Unter der Führung Mussolinis bzw. der Faschisten strebte Italien nach einer Weltmachtstellung, obwohl die Kräfte des Landes dafür eigentlich nirgendwo ausreichten. Das Mittelmeerimperium, welches Mussolini zu errichten wünschte, urnfaßte Gebietsgewinne, Kolonien und Einflußsphären rund um das Mittelmeer, dazu die Beherrschung der Mittelmeereingänge im Osten und Westen, d. h. im einzelnen Kolonien in Nordwest- und Nordostafrika wie Marokko, Tunesien und den Sudan, strategisch wichtige Inseln wie Korsika, Malta und Zypern sowie anderes
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mehr. Mussolini durfte nicht hoffen, dies alles ohne Krieg zu erreichen, zumal viele jener Gebiete sich im Besitz Frankreichs oder Englands befanden, die freiwillig darauf kaum verzichten würden. Einem entsprechenden Krieg war indes Italien allein sicher nicht gewachsen: Unter allen Großmächten besaß es die weitaus schwächste Wirtschaft, über Rohstoffe verfügte es so gut wie gar nicht, und seine Streitkräfte, zahlenmäßig durchaus beachtlich, konnten starken Gegnern schwerlich die Stirn bieten. Beim Heer waren von rund 70 Divisionen bloß 19 voll einsatzbereit, doch besaßen auch sie nur eine unzureichende Materialausstattung und erreichten eine Feuerkraft, die den Bruchteil derjenigen bei Divisionen anderer Länder ausmachte, z. B. ein Neuntel der deutschen. Die Luftwaffe mit etwa I 800 einsatzbereiten Flugzeugen bei Kriegsbeginn litt unter einem Zurückbleiben in der technischen Entwicklung. Die Marine, bis Kriegsbeginn noch im Ausbau, verfügte danach über sechs Schlachtschiffe, davon allerdings nur zwei schwere, sowie entsprechende andere Streitkräfte, doch blieb ihre Unterstützung aus der Luft unzureichend (Flugzeugträger gab es keine), und wenn nicht besondere Umstände eintraten, würde Britannien immer in der Lage sein, ein so großes Mittelmeergeschwader zu unterhalten, daß es der italienischen Flotte mindestens gewachsen war. Unter solchen Bedingungen hielt Mussolini es für geraten, sich eng an Hitler anzulehnen, denn nur in Gemeinschaft mit diesem sah er eine Möglichkeit, seine Ziele gegen Frankreich und England zu verwirklichen. Hitler wiederum beharrte stets auf seiner in den 1920er Jahrengefaßten Meinung, England und Italien seien die Wunschpartner für Deutschland, und wenn England schon nicht zu einem Bündnis mit Deutschland bewogen werden könne, dann solle es wenigstens dahin gebracht werden, friedlich und gutwillig die Herrschaft Deutschlands über den Kontinent anzuerkennen. Auf den ganzen Aberwitz von Hitlers politischem Gedankengebäude braucht hier nicht noch einmal eingegangen zu werden, aber die Bemerkung ist doch am Platz, daß man nicht recht sieht, wie Hitler glauben konnte, ein Bündnis mit Mussolini einerseits sowie ein Bündnis oder mindestens eine friedliche Verständigung mit London andererseits unter einen Hut zu bringen. Entweder Deutschland bekämpfte, gemeinsam mit Italien, die europäischen Westmächte und unterstützte Mussolini bei der Errichtung des Mittelmeerimperiums, dann würde Britannien schwerlich zum Frieden geneigt sein, weil es den Bestand seines Empire verteidigen mußte, vor allem dessen Mittelmeerachse sowie die Verbindungslinie nach Indien einschließlich der Position im vorderen Orient (die Mussolini als Einflußgebiet wünschte). Oder Berlin und London suchten wirklich den Ausgleich, dann würde Mussolini von seinem Mittelmeerimperium kaum etwas erhalten, weil England seinen Preis verlangen würde, d. h. keine starke Gewichtsverschiebung im Mittelmeer zu seinen Lasten. Beide Möglichkeiten waren im Grunde unvereinbar, es sei denn, Hitler rechnete von vornherein damit, Mussolini nur als Handlanger im Mittelmeer zu benützen und ihn bei Bedarf fallenzulassen. Daß sich die Dinge so verhielten, ·scheint der italienische Diktator besser durchschaut zu haben als der deutsche, jedenfalls drängte Mussolini darauf,
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Deutschland eng an Italien zu binden. So entstand der Stahlpakt vom 22. Mai 1939, in welchem auf ausdrücklichen Wunsch Mussolinis eine unbedingte Bündnispflicht beider Vertragsparteien enthalten war, auch im Falle eines Angriffskrieges. Darüber hinaus verpflichteten sich beide Seiten schon jetzt, im Falle eines gemeinsam geführten Krieges nur in vollem Einvernehmen einen Waffenstillstand oder Frieden zu schließen. Ein Verständigungsfriede Deutschlands mit England wäre damit vom Willen Italiens abhängig gewesen und konnte gegebenenfalls von diesem vereitelt werden. Um die Bindungswirkung noch zu steigern, wurde der Vertrag zudem - ebenfalls auf Wunsch Mussolinis - öffentlich gemacht. Für die deutsche Seite schien der Vertrag, den der italienische Außenminister Ciano mit dem Wort Dynamit umschrieb, dennoch annehmbar zu sein, weil Hitler und Ribbentrop daran die Hoffnung knüpften, bei einem Krieg um Polen die europäischen Westmächte neutral halten zu können, während auf der italienischen Seite Mussolini zwar durchaus kriegswillig war, aber lieber noch ein paar Jahre warten wollte, um sein Land besser vorzubereiten. Als der Krieg im Herbst 1939 dann doch ausbrach, hielt Mussolini den Zeitpunkt, über den er von Hitler nicht rechtzeitig unterrichtet worden war, für verfrüht und lehnte eine Teilnahme Italiens ab, teils in der richtigen Erkenntnis, daß weder die Streitkräfte noch die Wirtschaft des Landes schweren Auseinandersetzungen gewachsen waren, teils aus dem Bestreben, die vorerst ungewissen Wendungen des Geschehens abzuwarten. Statt dessen begab sich Italien auf eine diplomatische Gratwanderung, indem es am 1. September 1939 nicht etwa die formelle Neutralität erklärte- was der Stahlpakt ausschloß-, sondern nur die Nichtkriegführung, "non belligeranza". Damit behielt sich Mussolini, je nach Entwicklung der Lage, einen späteren Kriegseintritt vor, um bei der Verteilung der Beute nicht leer auszugehen. Hitler wiederum legte stets Wert auf den Kriegseintritt Italiens, obwohl er wußte, daß die Entscheidung im wesentlichen von der Wehrmacht erfochten werden mußte. In diesem Sinn schlug er bei einem Treffen mit Mussolini am 18. März 1940 dem italienischen D~ktator vor, dieser solle die deutsche Westoffensive, sobald der Erfolg in Nordfrankreich feststehe, mit einer größeren Anzahl von Divisionen durch einen Stoß aus Süddeutschland über den Oberrhein unterstützen. Dieser Gedanke, von dem Haider wenig hielt, wurde auch von den Italienern nicht aufgenommen. Dafür gab es gute Gründe, denn erstens wäre ein umfangreicher italienischer Aufmarsch in Süddeutschland viel zu aufwendig und zeitraubend gewesen, zweitens besaßen die italienischen Verbände einen Ausrüstungsstand, der sie für schwere Kämpfe weitgehend ungeeignet machte, und drittens war der Einsatz am Oberrhein strategisch unergiebig: Wenn der deutsche Angriff in Nordfrankreich schnell durchschlug, brauchte man die Italiener sowieso nicht mehr, und wenn er steckenblieb, hatte es keinen Sinn, mit Hilfe der Italiener die stark befestigte Maginot-Linie anzugreifen, sondern dann ging man besser zur Verteidigung über. Jener Gedanke stellte eine der vielen unüberlegten Eingebungen Hitlers dar, da er mit einem untauglichen Mittel ein fragwürdiges Ziel zu erreichen suchte. Allerdings bedurfte es solcher Einwirkungsversuche kaum noch, denn bei Mussoli-
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ni hatte sich unterdessen die Überzeugung gefestigt, Deutschland werde siegreich bleiben und Italien müsse in den Krieg eintreten. Freilich verband sich dies mit der Vorstellung von einem italienischen "Parallelkrieg", d. h. Mussolini wollte gewissermaßen den Mittelmeerraum für Italien reservieren, einerseits als Kriegsschauplatz und andererseits als das Gebiet italienischer Machtausdehnung. Nachdem die Westmächte, auch die USA, im April und Mai noch versucht hatten, Mussolini von der Beteiligung am Waffengang abzuhalten, erklärte Italien am 10. Juni den Krieg an Frankreich und England. Für Hitler ging damit ein langgehegter Wunsch in Erfüllung, doch handelte es sich um einen Wunsch, der auf unbegründeten Spekulationen beruhte und die Handlungsmöglichkeiten Deutschlands unnötig einengte. 8 Italien stellte von Natur aus einen denkbar ungeeigneten Bündnispartner für Deutschland dar. Erstens bestand ein deutliches Mißverhältnis zwischen den Ansprüchen des faschistischen Regimes und der tatsächlichen Schwäche des Landes. Auf längere Sicht war Italien überhaupt nur dann kriegsfahig, wenn es mit Rohstoffen aus Deutschland oder dem deutschen Machtbereich versorgt wurde, was fallweise, so namentlich beim Öl, die Knappheit in Deutschland noch verschärfte. Von den italienischen Streitkräften durften besondere Leistungen, welche die deutsche Kriegführung nennenswert entlasteten, nicht erwartet werden. Dafür stand aber zu befürchten, daß von einem Kriegsschauplatz im Mittelmeer, den Mussolini im Zeichen des italienischen "Parallelkrieges" eröffnete, unerwünschte Nebenwirkungen auf Deutschland und die strategische Lage insgesamt ausgingen, etwa dann, wenn Italien sich den Anforderungen des Krieges nicht gewachsen zeigte. Die deutsche Seite besaß einstweilen keine Handhabe, •einer solch unliebsamen Wendung der Dinge vorzubeugen, da die Italiener, voran Mussolini, sich von den Deutschen nicht bevormunden lassen wollten und Hitler, aus Rücksicht auf Mussolini, die Selbständigkeit Italiens bei seinem Parallelkrieg nicht anzutasten wünschte. Anders als bei den europäischen Westmächten oder später bei den anglo-amerikanischen Seemächten gab es zwischen Deutschland und Italien keinerlei institutionelle oder planefische Abstimmung der Kriegsanstrengungen, weder einen obersten Kriegsrat noch ein gemeinsames Oberkommando, noch einen gemeinsamen Kriegsplan, vielmehr beschränkte man sich auf gelegentliche Treffen der beiden Diktatoren und seit dem Juni 1940 auf den Austausch von Verbindungsoffizieren. Im Grunde wollten beide Diktatoren den jeweils anderen für ihre eigenen Ziele benützen und ließen es dabei häufig an der Aufrichtigkeit sowie am Willen zu wirklicher Zusammenarbeit fehlen. Nur bestand der Unterschied darin, daß das Reich den Krieg sehr wohl ohne Italien zu führen vermochte, Italien dagegen nicht ohne das Reich. s Zu den Zielen Mussolinis de Felice, Mussolini il duce II. Knox, Mussolini. Zu den italienischen Streitkräften MGFA, Weltkrieg III, 54 ff. (Beitrag Schreiber). Der Stahlpakt in ADAP, Ser. D, Bd 6, 466ff. Dazu Ciano, Diario (13. 5. 1939). Toscano. Ferner Siebert; Deakin; Petersen, Entscheidung. Zum Treffen Hitler- Mussolini am 18. 3. 1940 Hillgruber, Staatsmänner I, 87 ff. ADAP, Ser. D, Bd 9, 1 ff. Zum italienischen Angriff über den Oberrhein Haider, KTB I, 235 (26. 3. 1940). Ferner MGFA, Weltkrieg II, 308ff. (Beitrag Umbreit); III, 33 ff., 86 ff. (Beitrag Schreiber).
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Die Unberechenbarkeit des italienischen Verhaltens wurde dabei noch gesteigert durch den Umstand, daß Mussolini einen ähnlich chaotischen Führungsstil pflegte wie Hitler. Ähnlich wie dieser baute er seine diktatorische Machtstellung zu Lasten der Fachleute aus, vor allem im militärischen Bereich, verhinderte das Entstehen einer schlagkräftigen Spitzenorganisation der Streitkräfte und machte sich zum Herrn aller Entscheidungen, ohne den sachlichen Anforderungen wirklich gerecht zu werden. Die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte unterstanden Mussolini unmittelbar, im Juni 1940 übernahm er den Gesamtoberbefehl selbst und pflegte fortan seinen nächsten und eigentlich zuständigen Berater, den obersten Stabschef der Streitkräfte (bis Ende 1940 Marschall Badoglio) häufig zu übergehen. Ein italienischer Kriegsplan wär bei Kriegsausbruch nicht vorhanden; dafür mischte aber Mussolini sich in alles ein und suchte überall eine Strategie durchzusetzen, die mehr an den Träumen von einer italienischen Weltmachtstellung ausgerichtet war als an der nüchternen Abwägung der Gegebenheiten oder der beschränkten Möglichkeiten seines Landes. Unter diesen Umständen bildete das Bündnis mit Italien keinen Stärkezuwachs für Deutschland, sondern eher eine Quelle der Schwäche, der Verzettelung, der Unsicherheit und der überflüssigen oder sogar gefährlichen Bindung. Zweitens beruhte das (Bündnis-)Verhältnis zwischen beiden Ländern gar nicht auf wirklicher Übereinstimmung der Interessen, sondern auf weltanschaulichen Vorurteilen, namentlich denjenigen Hitlers. Das zeigte sich nicht zuletzt an der Behandlung des Südtirol-Problems. Hitler hielt unbeirrt an seiner in den 1920er Jahren gewonnenen Auffassung fest, Südtirol mit seinen mehreren hunderttausend Volksdeutschen zugunsten eines Bündnisses mit Italien preiszugeben. Damit wurde er weder den Wünschen der Südtiroler gerecht, die sich gegen die von Rom betriebene Assimilierungs- und Verdrängungspolitik wandten sowie später den Anschluß an das Deutsche Reich erstrebten, noch den Vorstellungen weiter Kreise im Reich, welche diesen standhaften Außenposten des Deutschtums nicht im Stich lassen wollten. Daran änderte sich auch nichts, als Hitler im Frühjahr 1939 an Himmler den Auftrag gab, die Umsiedlung der Südtiroler vorzubereiten, als im Sommer desselben Jahres die deutsche und die italienische Regierung sich grundsätzlich über eine solche Maßnahme verständigten und infolgedessen bis Jahresende die Südtiroler für eines der beiden Länder optieren mußten. Die Option, welche mit überwältigender Mehrheit zugunsten Deutschlands ausfiel, wurde von den Südtimlern nicht als Entscheid für die Umsiedlung ausgelegt, sondern mit der Hoffnung verknüpft, nun doch den Anschluß an das Reich zu vollziehen, zumal nach dem Sieg über Frankreich. Die Italiener wurden in dieser Angelegenheit lange von Mißtrauen geplagt, was insofern unberechtigt war, als Hitler und Himmler tatsächlich die Absicht hatten, die Südtiroler irgendwo in den Weiten des neu zu errichtenden großgermanischen Reiches unterzubringen. Doch verweist dieser Umstand zugleich auf die besonderen Bedingungen des deutsch-italienischen Bündnisses, die mit gewöhnlicher Machtpolitik nichts und mit besonnener Realpolitik erst recht nichts zu tun hatten.
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Einerseits verfolgten die eigentlichen Leitfiguren des nationalsozialistischen Rassenwahns wie Hitler und Himmler nicht einfach nur eine nationale oder nationalistische Politik, auch nicht in übersteigerter Form, sondern sie erstrebten etwas qualitativ anderes, nämlich die Errichtung eines imaginären arischen Rasseimperiums, für welche die Menschen deutscher Nation nur Gebrauchsmaterial darstellten. Die Heimatliebe der Südtiroler zählte nichts; die nationalsozialistischen Rassenfanatiker strebten nicht nach der Vereinigung aller Deutschen in einem Staat, der seinen gebührenden Platz unter den großen Mächten einnahm, sondern sie wollten die Reichsdeutschen wie die Volksdeutschen benützen, um andere Länder zu erobern, zu ,,kolonisieren", zu unterdrücken und auszubeuten. Andererseits legte die Behandlung der Südtirol-Frage durch Hitler auch die heillose Willkür und haarsträubende Unvernunft seines politischen Weltbilds an den Tag. Hitler betrachtete Italien als erwünschten Bundesgenossen, weil er im Faschismus die Bereitschaft zum Kampf gegen den bösen Feind der Menschheit, das internationale Judentum, erkannt zu haben glaubte. Hinter diese krankhafte Wahnidee - Kampf gegen die jüdische Weltverschwörung und ihre verschiedenen Erscheinungsformen, namentlich den Bolschewismus - mußten bei Hitler alle rationalen Sacherwägungen zurücktreten: Er fragte nicht mehr in nüchterner, realpolitischer Abwägung der Tatsachen nach dem Wert und den wahrscheinlichen Folgen eines Bündnisses mit Italien oder gab sich Illusionen hin; er ließ sich nicht beeindrucken von Warnungen, daß ein gemeinsamer Krieg mit Italien das Reich militärisch belasten würde; er war bereit, mit Südtirol einen Teil des deutschen Volks- und Kulturraums zu opfern für ein bloßes Hirngespinst, den gemeinsamen Kampf mit Italien gegen die angeblich drohende jüdische Weltdiktatur. Auf Südtirol meinte er leicht verzichten zu können, wenn erst der Lebensraum in Europa erobert und die Südtiroler als Siedler dort angesetzt waren. In Wahrheit blieb er außerstande, das Verhältnis der Mächte anders zu deuten als im Dunstkreis seiner Rassentheorie, er blieb außerstande, das Potential wie die Handlungsbedingungen anderer Länder sachgerecht einzuschätzen, und vor allem blieb er außerstande, politische Möglichkeiten jenseits des engen Horizonts seiner getrübten Wahrnehmung zu erfassen. Oder anders gewendet: Nach dem Frankreichfeldzug gab es an sich für die deutsche Politik die Handlungsalternative, nachdrücklich auf einen annehmbaren allgemeinen Frieden hinzuarbeiten und im Falle, daß Britannien den Krieg dennoch nicht einstellte, die Auseinandersetzung in möglichst geringem Umfang weiterzuführen, sie gewissermaßen einschlafen zu lassen. Leitgedanke wäre dabei gewesen, im Siege Selbstbescheidung zu üben, den Willen zu einer auch für andere Mächte erträglichen Friedensregelung glaubhaft zu bekunden sowie zu verhindern, daß mit der Ausweitung des Krieges in Zukunft die Zahl der Gegner wuchs. Den Kontinent nur gegen Britannien zu verteidigen, durfte die Wehrmacht sich zutrauen, und die Blockade ließ sich geraume Zeit ertragen, so daß die Hoffnung nicht unbegründet war, Britannien würde in einen annehmbaren Frieden schließlich doch einwilligen. Ob Präsident Roosevelt den Isolationismus in Amerika hätte überwinden können, ob er es überhaupt noch gewollt hätte, wenn Deutschland eine
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solch offenkundige Mäßigung an den Tag legte, ist durchaus fraglich. Für eine derartige Lösung war allerdings das Bündnis mit Italien und dessen Kriegseintritt völlig überflüssig. Ebenso überflüssig war der Verzicht auf Südtirol; im Gegenteil hätte gerade Südtirol einen Hebel bilden können, um auf italienisches Wohlverhalten hinzuwirken. Das heißt nicht, daß Deutschland unverhohlen die Rückgabe Südtirols forderte, denn dann hätte äußerstenfalls die Gefahr bestanden, Italien an die Seite der Gegner zu treiben. Aber Italien wäre mit seinen schwachen Kräften schwerlich imstande gewesen, im Mittelmeerraum Unfrieden zu stiften, wenn es deutsche Vergeltungsmaßnahmen allgemein und namentlich solche im Südalpenraum fürchten mußte. Eine derartige Alternative, d. h. eine begrenzte Kriegspolitik ohne Italien und anschließend eine entschiedene Friedenspolitik, existierte freilich für Hitler nicht. Hätte sie existiert, so wäre das Bündnis mit Italien dafür mindestens unnütz und schlimmstenfalls abträglich gewesen, weil der italienische Parallelkrieg im Mittelmeer die britische Nachgiebigkeit gewiß nicht fördern würde, weil England Gelegenheit erhielt, auf diesem Kriegsschauplatz leichte Erfolge zu erzielen und weil nicht absehbar war, inwieweit auch deutsche Kräfte in den Mittelmeerkrieg hineingezogen würden. Darüber hinaus war das Bündnis mit Italien sogar in dem Fall unnütz, daß man in Deutschland einen Krieg gegen die Sowjetunion ins Auge faßte. Durch einen Parallelkrieg im Mittelmeer würde man den Bolschewismus schwerlich treffen, und Italien bildete dafür auch keine brauchbare Verstärkung, dagegen konnte leicht eine Verstärkung für Italien im Mittelmeer notwendig werden. Die Südtiroler aus ihrer Heimat zu reißen, nur um Italien gefällig zu sein, war ein hoher Preis für ein fragwürdiges Bündnis und einen fragwürdigen Krieg. Denn daß Deutschland und Italien sich durch ihren gemeinsamen Krieg auf ein zweifelhaftes Unternehmen einließ~n, gab kein anderer als Roosevelt zu verstehen, als er Mussolini am 14. Mai 1940 mitteilte, Italien müsse sich beim Kriegseintritt auf einen Weltkrieg gefaßt machen. 9 Drittens behinderte das Bündnis mit Italien die Bewegungsfreiheit Deutschlands in seinem Verhalten gegenüber Frankreich. Das ist nicht so zu verstehen, als hätte Hitler seine Ziele gegenüber Frankreich (und anderen Ländern) ohne Italien leichter erreichen können. Sondern es gilt in dem größeren Zusammenhang, daß nach dem Westfeldzug für Deutschland denkbare Alternativen bestanden, die jedoch nicht genützt werden konnten, weil Hitlers Politik von vomherein so angelegt war, daß sie sich die Wahlmöglichkeiten selbst verstopfte. In diese Anlage gehört auch das Bündnis mit Italien. Die italienischen Streitkräfte befleißigten sich nach dem Kriegseintritt großer Zurückhaltung. Darin drückte sich der Wille Mussolinis und 9 Zur italienischen Wirtschaftslage und zu Mussolinis Oberbefehl MGFA, Weltkrieg III, 20ff., SOff. (Beitrag Schreiber). Zur mangelnden Eignung Italiens als Bundesgenosse auch Warlimont I, 78ff.; Halder, KTB I, 15 (14. 8. 1939); II, 45 (30. 7. 1940). Zur Südtirol-Frage Latour; Steurer. Hitler über das italienische Bündnis in Mein Kampf, 700ff., 720ff. Roosevelt an Mussolini, 14. 5. 1940, in FRUS, 1940, Bd II, 704 f.
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der militärischen Führung aus, keinerlei vermeidbares Risiko einzugehen, um nicht noch Niederlagen einzustecken, welche Italiens Stellung bei den bald erwarteten Friedensverhandlungen schwächen würden. So unternahmen die Italiener keinen Versuch, die strategisch wichtige Insel Malta zu erobern, einen britischen Stützpunkt zwischen Sizilien und der italienischen Kolonie Libyen, der naturgemäß die entsprechenden italienischen Seeverbindungen bedrohte. Diese Risikoscheu war nicht unverständlich, denn eine schnelle Besetzung Maltas wäre wohl möglich gewesen, doch kommt es darauf allein bekanntlich nicht an, sondern die Insel hätte anschließend versorgt und gegen feindliche Angriffe gehalten werden müssen. Bei einer Seeschlacht um Malta gegen britische und womöglich auch noch französische Kräfte liefen die Italiener Gefahr, einen Großteil ihrer Flotte zu verlieren. Ähnliches galt sodann für Korsika. An der Alpenfront gegen Frankreich unternahm das italienische Heer zunächst nichts und trat erst um den 20. Juni, als bereits der deutsch-französische Waffenstillstand absehbar wurde, zum Angriff an, der jedoch nur ganz bescheidenen Geländegewinn einbrachte. Mussolini hatte sich damit einen Teil seiner Beute sichern wollen, denn in Ausnützung des deutschen Sieges gedachte er gewaltige Forderungen an Frankreich zu stellen. Er wollte das gesamte französische Gebiet östlich der Rhone besetzen, dazu Korsika, Tunesien und strategische Stützpunkte wie Algier, Oran sowie Casablanca in Marokko, schließlich wollte er die Auslieferung der französischen Flotte und Luftwaffe verlangen. Bei Hitler stieß er damit allerdings nicht auf Gegenliebe. Der deutsche Diktator hatte seit dem Fall von Parisam 14. Juni ein französisches Ersuchen um Waffenruhe erwartet und bereits am 15. Juni das OKW beauftragt, den Text für ein Waffenstillstandsabkommen zu entwerfen. Am 18. Juni traf er sich mit Mussolini, um das weitere Vorgehen abzustimmen. Leitend war für Hitler die Absicht, mit Britannien zu einem gütlichen Ausgleich zu gelangen. Dies hatte Halder, der vom Verbindungsmann des Auswärtigen Amts beim OKH Etzdorf unterrichtet wurde, bereits im Mai 1940 in der Formel zusammengefaßt: "Wir suchen Fühlung mit England auf der Basis der Teilung der Welt." Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Weizsäcker meinte zur selben Zeit: "Es wird wohl darauf hinauskommen, daß wir den Engländern anbieten werden, mit einem blauen Auge sich vom europäischen Festland definitiv zu entfernen und dies uns zu überlassen." Der Waffenstillstand mit Frankreich sollte es erlauben, diesem Ziel näherzukommen, vor allem sollte verhindert werden, daß Frankreich mit seiner ansehnlichen Flotte von den Kolonien aus den Krieg an der Seite Britanniens fortsetzte. Vielmehr wollte Hitler Frankreich und England gewissermaßen gegeneinander ausspielen, indem Frankreich zu erträglichen Bedingungen aus dem Krieg ausschied und dadurch mittelbar die Achsenmächte stärkte, hauptsächlich Italien, das durch französische Streitkräfte im Mittelmeer und in den Kolonien nicht mehr gebunden wurde. Das enttäuschte England, zu Lande geschlagen und alleingelassen, würde dann- nach Hitlers Rechnung - die Aussichtslosigkeit des weiteren Kampfes einsehen und umso eher zum Frieden bereit sein, als dieser sich auf Kosten Frankreichs schließen ließ.
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Mussolini konnte nicht umhin, sich solchen Erwägungen zu beugen. Italien wurde auf getrennte Waffenstillstandsverhandlungen mit Frankreich verwiesen, und da Mussolini gegen Frankreich praktisch nichts in der Hand hatte, überdies nicht wagte, den Krieg selbständig weiterzuführen, mußte er seine Ansprüche vorerst mäßigen. So begnügte Italien sich mit einer schmalen Besatzungszone an der Alpengrenze, dazu mit einer vorgelagerten entmilitarisierten Zone sowie der Entmilitarisierung von Französisch-Somalia und eines Streifens an der libyschen Grenze, außerdem sollten die Italiener diejenigen Streitkräfte, welche Frankreich laut Waffenstillstandsvertrag noch zugestanden wurden, im Gebiet östlich der Rhone sowie in allen französischen Besitzungen rund um das Mittelmeer überwachen. Wesentlich einschneidender war der Waffenstillstand mit Deutschland, der zwar am 22. Juni unterzeichnet wurde, aber erst nach dem Abschluß mit Italien in Kraft trat, d. h. am 25. Juni. Demnach besetzten deutsche Truppen rund drei Fünftel des französischen Staatsgebiets, nämlich den gesamten Norden sowie einen Streifen an der Atlantikküste bis zur spanischen Grenze. Damit sollte, falls erforderlich, die Weiterführung des Krieges gegen England erleichtert und für strategische Zwecke eine Landverbindung nach Spanien hergestellt werden. Das restliche französische Staatsgebiet sollte einer formell selbständigen Regierung verbleiben, damit die Regierung nicht außer Landes ging und von da den Krieg fortsetzte, vielmehr Deutschland einen Verhandlungspartner erhielt, welchem der Waffenstillstand und gegebenenfalls später der Friedensvertrag auferlegt werden konnte. Das OKH hatte auch die Besetzung des Rhonetals ins Auge gefaßt, was sicher vorteilhaft gewesen wäre, da es Deutschland einen Zugang zum Mittelmeer verschafft und insoweit die strategische Lage verbessert hätte; es kam jedoch nicht zum Zug, wahrscheinlich weil Hitler auf die italienischen Wünsche Rücksicht nahm. Sodann mußte Frankreich die Besatzungskosten tragen, die deutschen Kriegsgefangenen sowie - gemäß einem Wunsch Himmlers - die Emigranten ausliefern und die Streitkräfte demobilisieren bis auf ein Freiwilligen-Heer von 100 000 Mann und eine kleine Luftwaffe im Mutterland, dazu Kolonialtruppen und Teile der Flotte, die für den Schutz der Kolonien erforderlich waren. Von den französischen Kriegsgefangenen wurde rund ein Drittel entlassen, etwa zwei Millionen sollten bis zum Friedensschluß in deutschem Gewahrsam bleiben. Verletzte Frankreich seine Pflichten aus dem Waffenstillstand, so behielt sich Deutschland dessen Kündigung vor. Insgesamt war der Vertrag sicher drückend, doch wurde der französischen Regierung - seit dem 17. Juni unter dem Helden des Ersten Weltkriegs Marschall Petain - die Zustimmung erleichtert, weil die befürchtete Auslieferung der Flotte nicht verlangt wurde. Zudem erweckte die deutsche Seite den Eindruck, Frankreich maßvoll behandeln zu wollen, denn auf Wunsch Hitlers wurden die Verhandlungen zwar an der Stätte des Waffenstillstands von 1918 geführt, um die damalige Schmach zu tilgen, aber die Franzosen wurden ehrenvoll behandelt, auch wurden noch Zugeständnisse gemacht, so unterblieb die Auslieferung von Kriegsflugzeugen, und Deutschland versprach, die wirtschaftlichen Lebensbedürfnisse der Bevölkerung im unbesetzten Gebiet zu achten. 10
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Mit dem Entschluß zum Waffenstillstand, der innerhalb der französischen Regierung umstritten war, verstieß Frankreich gegen seine Bündnispflichten, denn in einer gemeinsamen Erklärung mit der britischen Regierung vom 28. März 1940 war zugesichert worden, einen gesonderten Waffenstillstand oder Frieden weder zu verhandeln noch abzuschließen. Durch die Niederlage fühlten sich die Franzosen in einen Zwiespalt gestürzt zwischen Bündnistreue und Rettung der eigenen Haut, zwischen den beiden Wegen, die Belange Frankreichs entweder an der Seite Britanniens oder im Schatten Deutschlands zu wahren. General de Gaulle, damals Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, zog die radikale Folgerung, sich auf die Seite Englands zu schlagen in der Hoffnung, die anglo-amerikanischen Seemächte würden dereinst den Sieg davontragen und das Vaterland könne so wieder befreit werden. Am 17. Juni 1940 entwich er nach London und gründete dort das ,,Nationalkomitee Freier Franzosen", das sich den Briten für ihren weiteren Kampf zur Verfügung stellte, auch gegen die heimische Regierung (wofür er übrigens, als Deserteur, zum Tod verurteilt wurde). Die entgegengesetzte Lösung wählte Pierre Laval, ein früherer Regierungschef und Außenminister, Stellvertreter Petains von Juni bis Dezember 1940, der davon überzeugt war, daß Hitler sich behaupten werde. Darüber hinaus glaubte er, Deutschland könne nur besiegt werden, wenn Amerika und Rußland in den Krieg einträten. In diesem Fall jedoch gehe von der Sowjetunion die größte Gefahr für Europa aus, denn wenn Deutschland zerschmettert werde und die Russen am Rhein stünden, dann falle ihnen auch Paris anheim. Laval suchte deshalb die Verständigung mit den Deutschen, eine verläßliche Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen, welche Frankreich aus der Erniedrigung wieder herausführte und ihm den zweiten Platz in einem neuen Europa unter deutscher Führung verschaffte. Laval war die treibende Kraft, als die französische Nationalversammlung im Juli 1940 die geltende Verfassung außer Kraft setzte und Petain außerordentliche Vollmachten erteilte, um als "Chef des Französischen Staates", d. h. als Staatsoberhaupt und Regierungschef ohne Mitwirkung eines Parlaments, also nahezu diktatorisch, für Ordnung im Land zu sorgen und den Frieden wiederzugewinnen. Frankreich hatte damit seine Regierungsform derjenigen der Achsenmächte angenähert und zugleich die Voraussetzung geschaffen, seine Politik geschmeidig den Tageserfordernissen anzupassen. Daß diese Tageserfordernisse auch darin bestehen konnten, sich an Deutschland anzulehnen und so die Mächtekonstellation einschneidend zu ändern, hatte bereits der Waffenstillstand gelehrt. Wenn Frankreich absprachewidrig seinen Kriegsgenossen England im Stich ließ und den Widerstand w Allgemein zum Waffenstillstand H. Böhme, Waffenstillstand. Jäckel, Frankreich, 32 ff. Das Treffen Hitler - Mussolini vom 18. 6. 1940 in Hillgruber, Staatsmänner I, 139 ff. ADAP, Ser. D, Bd 9, 503 ff. Haider über Hitlers Absichten in seinem KTB I, 308 (21. 5. 1940). Entsprechend Weizsäcker nach Hill, 204 (23. 5. 1940). Der deutsch- französische Waffenstillstand auch in ADAP, Ser. D, Bd 9, 554 ff. Haider über Rhonetai in seinem KTB I, 360 (17. 6. 1940).
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einstellte, obwohl es ihn an sich (aus den Kolonien) noch fortzusetzen vermochte, dann durfte erwartet werden, daß Frankreich auch zum Sonderfrieden bereit war oder gar, um seinen Vorteil zu sichern, in freundschaftliche Beziehungen mit Deutschland trat. Eben dies bildete das Ziel Lavals. Er wollte einen möglichst günstigen Frieden von den Deutschen erhalten und zum Entgelt gute Dienste gegen die Engländer leisten. Daß er grundsätzlich auch den Krieg gegen Britannien nicht scheute, dürfte außer Zweifel stehen. Außerdem war es ziemlich eindeutig, wenn General Doyen, der französische Vertreter in der Waffenstillstandskommission (welche die Durchführung des Waffenstillstands regelte), im September 1940 ausführte, er solle im Auftrag seiner Regierung die deutsche Seite davon unterrichten, daß die Regierung sich entschlossen habe, ihre Kolonien zu verteidigen. Wenn sie dabei von den Deutschen unterstützt werde und überdies wirtschaftlich mit ihnen zusammenarbeite, so könne dies weitreichende Folgen haben, beispielsweise Feindseligkeiten mit Britannien nach sich ziehen, was jedoch voraussetze, daß die allgemeinen politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland sich verbesserten, damit gegebenenfalls das französische Volk einsehe, wofür es sein Blut vergieße. Auf deutscher Seite verstand man dies, wie Haider aufzeichnete, als "unverblümte Anspielungen auf Wunsch eines Bündnisses Frankreich - Deutschland". Um eine bewußte Irreführung handelte es sich dabei sicher nicht, denn Doyen sprach ausdrücklich im Auftrag seiner Regierung, also auch Petains, zudem war die Angelegenheit nach allen Regeln der diplomatischen Kunst eingefädelt, da die Regierung durch ein nachgeordnetes Organ ihre Absichten andeuten ließ, ohne sich damit selbst bloßzustellen. Wenn Laval und Petain sich einstweilen bedeckt hielten und nur von der Zusammenarbeit sprachen sowie von der Bereitschaft, die französischen Kolonien gegen Britannien und die de Gaulle-Bewegung zu verteidigen (wie es bei Unterredungen mit Hitler im Oktober 1940 geschah), dann folgt daraus nicht, daß sie den Bündnisgedanken ablehnten. Es wäre vielmehr ein unwürdiges Verhalten gewesen, wenn der Besiegte von sich aus ein Bündnis gegen den Verbündeten von gestern angeboten hätte. Leichter ließ es sich bewerkstelligen, wenn der Sieger darauf drängte und Frankreich unter dem Zwang der Umstände nachgab. Nur mußte sich das Geschäft für F.rankreich auch lohnen. Wäre Hitler ein normaler Politiker gewesen, so hätten sich hier verheißungsvolle Aussichten eröffnet. Das Deutsche Reich hatte im Sommer 1940 fast alles erreicht, was eine kühl kalkulierende Nationalpolitik sich wünschen konnte: Die Deutschen, die innerhalb eines geschlossenen Siedlungsgebiets in Mitteleuropa lebten, waren großenteils in einem Staat vereinigt, die Grenzfragen bereinigt, der vorerst gefährlichste Gegner Frankreich war geschlagen, und das Mächtesystem befand sich nicht in einem Zustand, welcher die Fortführung des Krieges unausweichlich machte. Daß Deutschland all dies durch den Krieg erreicht hatte, entsprach den Gepflogenheiten der älteren Machtstaatspolitik; auch Bismarck hatte den kleindeutschen Nationalstaat durch den Krieg geschaffen. Zweifellos war Deutschland im Sommer 1940 die stärkste Macht auf dem europäischen Kontinent, aber das war es 1871 auch schon gewesen. Die entscheidende Frage bestand vielmehr darin,
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ob das Deutsche Reich von 1940 sich als fähig und willens erwies, einen Platz unter anderen Mächten zu besetzen, ob es sich als fähig und willens erwies, sich in das Mächtesystem einzuordnen und die selbständige Existenz anderer Mächte zu achten, oder ob es darauf ausging, anderen Mächten ihr Lebensrecht zu bestreiten und so das Mächtesystem überhaupt zu sprengen. Im Grunde ist natürlich auch die Eroberung eines Kontinents oder gar der ganzen Welt eine denkbare politische Verhaltensweise, nur sollte ein Land, das sich an ein solches Unterfangen wagt, rechtzeitig Klarheit gewinnen, ob es dazu imstande ist oder ob es sich nicht eher in eine Wolfsgrube stürzt. Das hat Haider deutlich ausgedrückt, als er am 30. Juni 1940 über ein Gespräch mit Weizsäcker aufzeichnete: "Wir können die Erfolge dieses Feldzuges nur mit den Kräften erhalten, mit denen sie errungen wurden, also mit militärischer Gewalt... Die Schwierigkeiten liegen weniger in der augenblicklichen Lage, als in der künftigen Entwicklung. Denn die Erhaltung unseres Erfolges durch militärische Machtmittel muß zur Überanstrengung führen." Wenn dem so war, dann mußte eine vernünftige Politik mit Augenmaß offenbar darauf gerichtet sein, die Überanstrengung zu vermeiden, also eine Lösung zu finden, die nicht allein mit militärischer Gewalt das Gewonnene festhielt, oder eine Lösung, die manches Gewonnene wieder aufgab, um es nicht mit untragbarem Kraftaufwand festzuhalten. Erreichen ließ sich ein solches Ziel auf zwei Wegen, die beide eines gemeinsam hatten: Deutschland mußte einen tragfähigen Frieden wollen. Denkbar war einerseits, sowohl Frankreich als auch England ein allgemeines Friedensangebot zu unterbreiten, das sich nicht mit wolkigen Redensarten begnügte, sondern klipp und klar die Bedingungen festlegte. Selbstverständlich hatte Deutschland, um die Bedingungen annehmbar zu machen, manchen Verzicht zu leisten; immerhin brauchte es längst nicht alles preiszugeben. Daß die Deutschen Elsaß-Lothringen zurückfordern würden, durften die Franzosen nicht anders erwarten, und sie hätten sich mit dem Verlust auch abgefunden, wenn sie ansonsten anständig behandelt worden wären, insbesondere ihr Kolonialreich behalten hätten. Ein derartiges Angebot der deutschen Seite abzulehnen, wäre London sehr schwer gefallen; Britannien hätte sich dann vor der ganzen Welt ins Unrecht gesetzt, weil es einen sinnlosen Krieg nicht einstellte und weil es überdies dafür verantwortlich war, wenn die Bevölkerung Frankreichs weiterhin die Besetzung durch die Wehrmacht mit ihren Begleiterscheinungen zu tragen hatte. Unter solchen Umständen mochte Frankreich sich erst recht zu einer Annäherung an Deutschland, wenn nicht gar zu einem Bündnis bereitfinden. Andererseits konnte Deutschland aber auch von vornherein einen Sonderfrieden mit Frankreich anstreben. Wie das im einzelnen zu denken wäre, mag hier auf sich beruhen, um die hypothetischen Erörterungen nicht ausufern zu lassen. Erwähnung verdient indes eine Lösung, welche den Diplomaten geläufig war und vom deutschen Botschafter Abetz gelegentlich erwogen wurde, nämlich ein Vorfriede oder Präliminarfriede. Dabei konnte die Besetzung Frankreichs noch fortdauern, es wurde jedoch bindend vereinbart, zu welchen Bedingungen später der endgültige Frieden zu schließen war. Ein solcher Vorfriede empfahl
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sich, solange Britannien im Krieg verharrte, überdies blieben die Friedensbedingungen gegenüber Frankreich unabhängig von denen gegenüber London. In diesem Rahmen ließ sich sodann über ein deutsch-französisches Bündnis nachdenken. Natürlich würde Frankreich kein Verlangen tragen nach einem Bündnis, bei welchem es nur den Handlanger für Deutschland abgab, um Britannien als Großmacht gänzlich auszuschalten. Diente indes das Bündnis lediglich dazu, den beiderseitigen Besitzstand zu gewährleisten, so war es auch mit der Fortdauer eines europäischen Gleichgewichts verträglich. Der Zusammenschluß des französischen Potentials mit dem deutschen brauchte allein die selbständige Existenz anderer Mächte noch nicht zu bedrohen und barg insoweit nicht die Aussicht in sich, ganz Europa unter eine deutsch-französische Herrschaft zu beugen. Nimmt man nur einmal die Anteile an der Weltindustrieerzeugung, dann erreichten Deutschland und Frankreich gemeinsam um die 20 %, das britische Empire und die Sowjetunion gemeinsam um die 25 %, so daß, andere Umstände außer acht gelassen, ein klares Übergewicht der deutsch-französischen Verbindung nicht vorlag. Entscheidend war demnach die Frage, wozu das Bündnis dienen sollte; aus dem Zweck ergab sich die Ausgestaltung im einzelnen. Frankreich bzw. die Regierung Petain durfte ein Bündnis ohne Bedenken in Betracht ziehen, wenn einerseits Frankreich selbst als Großmacht weitgehend ungeschmälert erhalten blieb, sowohl im Mutterland als auch in den Kolonien, also einen günstigen Frieden erhielt, und wenn andererseits das Bündnis den Zweck verfolgte, einen tragfähigen allgemeinen Frieden wiederherzustellen. Beides überschnitt sich, beispielsweise konnte das Bündnis vorzugsweise dazu dienen, die französischen Kolonien gegen England zu verteidigen. Dabei waren auch Kriegshandlungen durchaus vorstellbar, und wenn Frankreich schon nicht selbst den Krieg erklärte, mochte es sich jedenfalls so verhalten, daß ihm der Krieg erklärt wurde, wie Laval im Oktober 1940 in Aussicht nahm. Ferner konnte der Präliminarfriede unter dem Vorbehalt stehen, daß der endgültige Friede erst in Kraft trat, wenn auch ein deutsch-englischer Friede zustandekam. Frankreich würde dann daran interessiert sein, die britische Friedensbereitschaft zu fördern, sei es durch militärische, sei es durch diplomatische Mittel.
Wie der Krieg im einzelnen sich führen ließ, braucht hier nicht erörtert zu werden; denkbar war, wie vorhin bereits ausgeführt, daß Deutschland die Auseinandersetzung gewissermaßen auf Sparflamme fortsetzte, denn mit dem Seekrieg im Atlantik, namentlich dem U-Boot-Krieg, war Britannien sowieso nicht zu bezwingen; Europa an seinen Küsten zu verteidigen, gegebenenfalls auch im mittelmeerischen Vorfeld, durfte die Wehrmacht sich zutrauen, zumal wenn Frankreich den Schutz seiner Kolonien besorgte und vielleicht an der Bewachung des Mutterlandes teilnahm; und London hätte genau überlegen müssen, wofür es noch Krieg führte, wenn Deutschland sich augenscheinlich zur Beherrschung ganz Europas gar nicht anschickte. Den Willen Deutschlands zur Selbstbescheidung vermochte ein deutsch-französisches Bündnis sogar noch zu untermauern, denn ein solches Bündnis, ausgestaltet als Verteidigungsabkommen, hätte zugleich dem Deutschen Reich vermehrte Sicherheit gegen einen Angriff der Sowjetunion gegeben und da-
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mit als Signal wirken können, daß Deutschland nicht etwa die Sowjetunion zu überfallen gedenke, sondern daß es das westliche Europa gegen den Bolschewismus abschirme, was schon die Appeaser als notwendigen Bestandteil des europäischen Gleichgewichts angesehen hatten. Unter solchen Umständen war ein Frieden mit Britannien möglich und ein Kriegseintritt der USA unwahrscheinlich, weil der deutsch-französische Bund auf die Beherrschung ganz Europas nicht abzielte und auf diejenige der Welt erst recht nicht. Ähnliche Überlegungen waren bereits im Ersten Weltkrieg angestellt worden; auch damals hatten sich die USA bloß vom Gewinn einer deutschen Führung über Frankreich nicht bedroht gefühlt. 11 Der Gedanke, mit Frankreich zu einem Ausgleich oder einer Verständigung zu gelangen, fiel bei den Fachleuten der Wehrmacht auf fruchtbaren Boden. General Karl-Heinrich von Stülpnagel, früher Halders Stellvertreter und jetzt Leiter der Waffenstillstandskommission (später wurde er Militärbefehlshaber in Frankreich und nahm am Aufstand des 20. Juli teil), regte im September und Oktober 1940 beim OKW an, die von der politischen Spitze angeordnete Ausplünderung Frankreichs zu unterlassen, einen Friedensschluß vorzubereiten und Frankreich in die Kriegsanstrengungen einzuschalten. Bei Jodl und dem Abteilungsleiter Warlimont fand er offene Ohren, doch stellte Jodl gegenüber Warlimont ganz richtig fest, man müsse sich darüber klar sein, daß hiermit auch ein völliger Wandel in den grundlegenden Anschauungen über die Weiterführung und Zielsetzung des Krieges überhaupt verbunden sein würde. Haider faßte nach einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Frankreich Abetz, der die Annäherung ebenfalls zu fördern suchte, die Sachlage dahingehend zusammen: "Die Zivilisten in der Umgebung des Führers sind die Scharfmacher gegenüber Frankreich; die führenden Leute des Heeres vertreten die gegenteilige Auffassung und sind damit auf gleicher Linie wie Abetz." Haider wollte mit diesen Worten den Gegensatz zwischen den Soldaten und den nationalsozialistischen Politikern ausdrücken; er hätte noch hinzufügen können, daß einer der übelsten Scharfmacher Hitler selber war. Mit besonderem Nachdruck sprach sich die Marine, die ja von Natur aus an weiträumiges strategisches Denken gewöhnt war, für eine Zusammenarbeit mit Frankreich aus. Im September 1940 kam die Seekriegsleitung zu dem Ergebnis, um den englischen Kampfwillen zu brechen, sehe die Seekriegsleitung jetzt den Zeitpunkt gekommen, mit den Franzosen zusammenzugehen, zur Sicherung des afrikanischen Kolonialreiches und seiner für Europa lebenswichtigen Versorgungsquellen. Eine gemeinsame Kriegführung mit Frankreich gegen England werde für 11 Die britisch-französische Erklärung vom 28. 3. 1940 in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 148 f. Zu Petain, Lava! und de Gaulle Warner, Lava!, 191 und passim; ferner Aron, Vichy; Jäckel, Frankreich; Amouroux. Die Andeutungen Doyens nach Warner, Lava!, 224f. Dazu Halder, KTB ll, 109 (23. 9. 1940). Die Gespräche zwischen Hitler, Petain und Lava! bei Geschke. Hillgruber, Staatsmänner I, 257 ff., 272 ff. Haider über Gespräch mit Weizsäcker in KTB I, 374 f. Zu Elsaß-Lothringen sowie zum Gedanken des Präliminarfriedens Jäckel, Frankreich, 102 f., 174, 212 ff. Zu den Überlegungen im Ersten Weltkrieg Teil I dieser Untersuchungen.
16 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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möglich gehalten, sofern endgültige Friedensbedingungen festgelegt und die Schwierigkeiten der italienischen Gebietsforderungen beseitigt würden. Damit werde das Erringen des großen Operationszieles im Mittelmeer, nämlich die Ausschaltung Englands aus diesem Gebiet, ernstlich erleichtert werden. Mit solchen Worten brachte die Seekriegsleitung einprägsam zum Ausdruck, was in dieser Zeit auch andere Offiziere wünschten und was ja wirklich eine denkbare Lösung darstellte: Wenn dem besiegten Frankreich der Frieden gewährt oder in Aussicht gestellt wurde, und zwar ein erträglicher Frieden, der die übertriebenen Forderungen Italiens abwehrte, dann durfte erwartet werden, daß Frankreich sich in der einen oder anderen Weise auf die Seite Deutschlands stellte. Vor diesem Hintergrund sind auch einige vorangegangene Gedankenspiele zu betrachten, die in der Marine sowie bei anderen Stellen während des Sommers 1940 veranstaltet worden waren. Hitler hatte seit Beginn des Jahres auf vorbereitende Arbeiten für den Erwerb von Kolonien gedrängt. In diesem Zusammenhang ließ auch die Seekriegsleitung Überlegungen anstellen, welche Kolonien nach dem Sieg über Frankreich in Frage kamen und wie eine deutsche Seemacht, d. h. Flotte und Stützpunkte, beschaffen sein müsse, um die Kolonien wirksam zu schützen. Die Ausarbeitungen, die dabei zustande kamen, waren von vornherein konstruiert und unverbindlich, weil weder die Marine noch andere Stellen die politischen Absichten Hitlers für die Kriegsbeendigung kannten, sich an solchen Fragen auch nicht ausrichteten, sondern einfach zusammenstellten, was man eventuell tun könnte und was, je nach Gemütslage oder Einbildungskraft der Bearbeiter, nützlich zu sein schien. Die Entwürfe hingen damit, wie in der Seekriegsleitung festgestellt wurde, in der Luft; sie stellten keine Kriegszielprogramme dar, weder für die Marine noch für sonst jemanden, sondern sie bildeten so etwas wie Seifenblasen. Zumindest für die Marine liegt das klar auf der Hand, denn als sich im Herbst 1940 die Möglichkeit eines Ausgleichs mit Frankreich abzeichnete, übernahm die Seekriegsleitung nichts von alledem. Der Bau einer großen Flotte war einstweilen sowieso ausgeschlossen, weil, wie Raeder mit Zustimmung Hitlers im September feststellte, die Kapazitäten ausgeschöpft waren (und in Zukunft durch vermehrten U-Boot-Bau erst recht ausgeschöpft sein würden). Sodann war in den genannten Ausarbeitungen vom Sommer auch die Rede gewesen von erheblichen Gebietsabtretungen im Norden Frankreichs sowie von Kolonialverlusten. Da die Seekriegsleitung die politische Frage der Kriegsbeendigung gar nicht behandelt hatte, war das für sie nie bindend gewesen. Als die Seekriegsleitung im Herbst einen Frieden mit Frankreich und eine gemeinsame Kriegführung ins Auge faßte, nahm sie ohne Mühe davon Abstand, denn dem potentiellen Verbündeten konnte sie solche Einbußen selbstverständlich nicht zumuten. 12 12 Stülpnagel nach Jäckel, Frankreich, 94 f. (14. 9. 1940), I 03 f. (4. I 0. 1940). Zu Jod! und Warlimont KTB OKW l/1, 88ff. (25. 9. 1940). Warlimont I, 136ff. Haider über Gespräch mit Abetz in seinem KTB II, 142 (17. 10. 1940). Seekriegsleitung über Frankreich nach MGFA, Weltkrieg III, 198, 192, Anm. 162 (10. 9. 1940; Beitrag Schreiber). Ausarbeitungen in der Marine sowie im Auswärtigen Amt über Kolonien, Seemacht und deutschen Großwirt-
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Darin bestand der Unterschied zu Hitler und Mussolini, denn diese beiden wollten Frankreich schwerste Verluste zumuten. Hitler beharrte ohne Wanken darauf, daß Frankreich niedergehalten werden müsse, weil es andernfalls sofort wieder die Achsenmächte bedrohen würde. Dabei dürfe kein Zweifel bestehen, daß Frankreich gezwungen sein werde, die territorialen Forderungen Deutschlands und Italiens zu erfüllen. Damit grub Hitler allen ernsthaften Verständigungsversuchen das Wasser ab. Nehmen wir den Faden unserer Argumentation wieder auf, daß das Bündnis mit Italien für Deutschland überflüssig oder schädlich war, weil es auch dessen Bewegungsfreiheit gegenüber Frankreich behinderte, so ist zu sagen, daß dies insofern gilt, als Hitler auf Mussolini Rücksicht nahm. Da Mussolini sein Land am französischen Besitz bereichern wollte, sah Hitler sich außerstande, den Franzosen ihren Besitz, insbesondere ihren Kolonialbesitz, zu garantieren und so die Grundlage für eine Verständigung zu schaffen. Freilich ist das nur ein Teil der Wahrheit. Wäre Hitler ein maßvoller und einsichtiger Staatsmann gewesen, so hätte ihn das Bündnis mit Italien allerdings gehindert, im Verein mit Frankreich dem Krieg eine Wende zu geben oder ihn zu beenden, aber ein maßvoller und einsichtiger Staatsmann hätte das Bündnis mit Mussolini vermutlich gar nicht geschlossen. Die tatsächlich vorhandenen Alternativen für die deutsche Politik scheiterten also nicht in erster Linie an dem Hindernis Italien, sondern sie scheiterten an Hitlers Starrsinn und seiner weltanschaulichen Voreingenommenheit, denn diese Eigenschaften verboten ihm ohnedies ein Abweichen von seinem Plan - einem Plan, der sowohl das Bündnis mit Italien als auch die Zerschlagung Frankreichs vorsah. Daß Frankreich der geborene Feind Deutschlands sei (nicht zuletzt wegen seiner angeblichen jüdi~chen Verseuchung) und daß es sich nie wieder erheben dürfe, stand für Hitler fest. Auf die Belange des Landes und seiner Bevölkerung wollte er deshalb weder jetzt noch in Zukunft Rücksicht nehmen. Angesichts der Kriegslage war es an sich ganz natürlich, wenn Deutschland seinen Sieg ausnützte. Für die vorerst unumgängliche Besetzung des Landes die (völkerrechtlich zulässigen) Besatzungskosten zu verlangen, durfte als verständliche Heranziehung des Besiegten zu den weiteren Kriegsanstrengungen des Siegers gelten und brauchte, mit Maßen gehandhabt, das Land auch nicht zu schädigen. Beutegut zu vereinnahmen, insbesondere Vorräte von Rohstoffen, an denen die deutsche Wirtschaft Mangel litt, mußte für die weitere Kriegsfähigkeit als unvermeidbar angesehen werden. Aber dabei wollte Hitler es nicht bewenden lassen, wie unter anderem das unnötig harte Handhaben der Besatzungsherrschaft zeigte. Auf die zunehmenden Spannungen deutet bereits der Umstand hin, daß die Regierung Petain, die nach dem Waffenstillstand, ihren Sitz in dem Kurort Vichy genommen hatte, später nicht mehr ins schaftsraum in Salewski, Seekriegsleitung 111, 105 ff., 121 ff. (Juni/Juli 1940). ADAP, Ser. D, Bd 9, 390 ff., 407 ff. (Mai/Juni 1940). Kommentare der Seekriegsleitung in Schreiber, Revisionismus, 295 f. Allgemein hierzu Hildebrand, Weltreich, 624 ff. Salewski, Seekriegsleitung I, 234 ff. MGFA, Weltkrieg Ill, 250 ff. (Beitrag Schreiber). Raeder über Flottenbau September 1940 in G. Wagner, Lagevorträge, 144 (26. 9. 1940). 23*
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Herz Frankreichs, nach Paris oder Versailles, zurückkehrte, obwohl Petain dies zeitweilig gewünscht hatte und der Waffenstillstand es eigentlich zuließ. Der unbesetzte Teil, für den fortan der Name Vichy-Frankreich in Gebrauch kam, wurde durch die Demarkationslinie scharf vom besetzten Teil abgetrennt, was das Land wirtschaftlich entzweischnitt. Als Stülpnagel sich im September 1940 über das Abwürgen des französischen Wirtschaftslebens beschwerte, über die schädlichen Wirkungen der Demarkationsli~ie, über das Fehlen von Arbeitskräften, weil die Kriegsgefangenen zurückgehalten und Flüchtlinge nicht wieder in ihre Heimat gelassen wurden, schließlich über die unverhältnismäßig hohen Besatzungszahlungen - da gab Hitlers Sprachrohr Keitel die Meinung des Diktators dahingehend kund, wenn die Ingangsetzung des Wirtschaftslebens in Frankreich durch die Demarkationslinie unterbunden werde, so müsse das der deutschen Seite völlig gleichgültig sein. Sollte Frankreich ein Unruhezentrum werden, so werde einfach geschossen oder der unbesetzte Teil ebenfalls besetzt. Alle Zugeständnisse an die Franzosen hätten diese teuer zu bezahlen. Obgleich Hitlers Hartleibigkeit in diesem Fall durch die wirtschaftlichen Sachzwänge später abgemildert, d. h. die Demarkationslinie für entsprechende Gegenleistungen durchlässiger gemacht wurde, weil andernfalls die französische Wirtschaft nicht für deutsche Bedürfnisse arbeiten konnte, legten jene Auslassungen doch an den Tag, daß der Diktator Frankreich nirgendwo zu schonen beabsichtigte. Darin mag sich ein taktisches Kalkül verborgen haben, etwa in der Art, Frankreich so stark zu pressen, daß die Regierung Petain gewisse Zugeständnisse machte, nämlich der Wehrmacht Stützpunkte in den Kolonien einräumte. Darauf deutet auch der Umstand hin, daß Hitler, der schon im Juli 1940 solche Stützpunkte gefordert hatte, im Herbst desselben Jahres, als mit Petain und Laval über eine Zusammenarbeit zum Schutz der Kolonien verhandelt wurde, den Standpunkt bezog, Frankreich habe Vorleistungen zu erbringen, dann könne vielleicht die Lage des Mutterlandes, d. h. die Besatzungsherrschaft, etwas erleichtert werden. Wenn dem so war, dann ist es ein zusätzlicher Beleg, daß Hitler nicht daran dachte, Frankreich als mehr oder weniger gleichberechtigten Partner zu behandeln, sondern daran, zunächst einmal kostenlose Vergünstigungen herauszupressen und später mit aller Wucht das Land die Niederlage spüren zu lassen. Welchen späteren Frieden Hitler im Auge hatte, läßt sich in den Umrissen erahnen. Wie er schon lange vor dem Feldzug angekündigt hatte, wollte er bei einem Sieg die Grenzen des alten Deutschen Reiches wiederherstellen, welche einstmals die gesamten Niederlande, das Herzogtum Lothringen und die Freigrafschaft Burgund eingeschlossen hatten. Demzufolge wurde im besetzten Gebiet eine Sperrlinie errichtet, die sog. Nordostlinie oder Führerlinie, die von der Somme-Mündung bis zum Genfer See verlief. In das dahinter liegende Gebiet durften die ursprünglich dort ansässigen Franzosen, welche in der Panik beim Herannahen der Wehrmacht geflohen waren, nicht mehr zurückkehren ( was sich allerdings später doch nicht durchhalten ließ), auch machte sich dort eine Dienststelle der SS mit dem Einziehen von Bauernhöfen zu schaffen, was ebenso wie im Osten auf Siedlungs-
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absichten hindeutet. Von solchen Maßnahmen kann man gar manches halten, z. B. könnte man darauf verweisen, daß Polen im Anschluß an den Ersten Weltkrieg nach seinen alten Grenzen getrachtet oder daß Frankreich jahrhundertelang nach der Rheingrenze geschielt hatte. Aber wie Deutschland das Versailler Diktat nicht gutwillig geschluckt hatte, so durfte auch nicht erwartet werden, daß Frankreich den Verlust wertvollster Gebiete im Nordosten verschmerzen würde, und ein brauchbarer Frieden ließ sich auf solchem Weg gewiß nicht gewinnen. Zudem begnügte Hitler sich nicht damit, die weitgehend deutschsprachigen Gebiete ElsaßLothringen, Eupen-Malmedy und Luxemburg dem Reich anzugliedern, sondern das Elsaß, Lothringen (dasjenige des Bismarck-Reiches, also der geringe Restbestand) und Luxemburg wurden den Gauleitern der angrenzenden Reichsgaue unterstellt, die alsbald mit den Tätigkeiten begannen, welche Hitler von ihnen erwartete, nämlich mit der rassischen und völkischen Säuberung. Einer von ihnen, der aus der Angliederung Österreichs sattsam bekannte Bürckel, ließ im November 1940 rund 100 000 französisch gesinnte Lothringer ausweisen, was außer allen geltenden Rechtsregeln auch jeder diplomatischen Geschicklichkeit hohnsprach. All dies verfehlte den gebührenden Eindruck nicht, weder bei der Masse der Franzosen noch bei der Regierung Petain. Es mag sein, daß die Regierung sich anfangs durch die relativ gemäßigten Waffenstillstandsbedingungen hatte täuschen lassen; und es mag auch sein, daßJsie die geheime Absicht Hitlers beim Waffenstillstand nicht durchschaut hatte, erst einmal zum Frieden mit England zu kommen, um anschließend mit Frankreich nach Belieben umzuspringen. Dem sei, wie es will, für die Regierung Petain empfahl es sich unter keinen Umständen, die Hände in den Schoß zu legen und einfach den weiteren Gang der Dinge abzuwarten. De Gaulle mußte bedingungslos auf den Sieg der anglo-amerikanischen Seemächte setzen, aber in den Jahren 1940/41 war noch nicht ausgemacht, daß dieser Sieg eintreten würde. Die Ereignisse konnten auch einen ganz anderen Verlauf nehmen, und die Regierung war gut beraten, verschiedene Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. In groben Zügen lassen sich etwa drei Fälle unterscheiden. Erstens war nicht auszuschließen, daß Hitler den Krieg gegen Britannien in absehbarer Zeit doch für sich entschied. Dann war es sicher nicht verkehrt, wenn die Regierung Petain ihm vorher eine freundschaftliche Zusammenarbeit vorschlug, gegebenenfalls ein Bündnis sowie das Einordnen Frankreichs in ein Europa unter deutscher Führung. Hegte Hitler Rachegelüste gegen Frankreich, so ließ er sich dadurch vielleicht umstimmen und betrachtete das Land nicht mehr als Objekt der Beraubung. Oder, zweiter Fall, der Krieg ging vorerst mit ungewissem Ausgang weiter, Hitlers Haltung war unbestimmt, dann machte die Regierung Petain keinen Fehler, wenn sie die Zusammenarbeit anbot. Nahm Hitler in der Weise an, daß Frankreich einen günstigen Frieden erhielt, so waren der Bestand Frankreichs, sein Kolonialreich und seine Stellung als große Macht gesichert. Das deutsche Übergewicht würde nicht sonderlich drückend sein, da Hitler ja nicht die Beherrschung Frankreichs, sondern dessen Partnerrolle anstrebte. Ein Bündnis durfte dann in Erwägung gezogen werden, sogar ein Kriegseintritt gegen Britannien, denn eine völ-
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lige Vernichtung Englands wäre aus militärischen und politischen Gründen sowieso nicht möglich gewesen, brauchte bei einem derartigen Bündnis auch gar nicht angestrebt zu werden, vielmehr konnte Frankreich, als gewichtiger Bundesgenosse des Reiches, auf einen tragfähigen Frieden hinwirken. Oder, dritte Möglichkeit, der Krieg ging weiter und Hitler blieb uneinsichtig, d. h. er unternahm es, Europa mit Gewalt zu beherrschen. Dann konnte die Regierung Petain trotzdem die Annäherung versuchen, weil dadurch immerhin kein Schaden entstand. Im ungünstigeren Fall erreichte die Regierung gar nichts, dann hatte sie wenigstens nichts versäumt. Im günstigeren Fall erreichte sie vielleicht gewisse Erleichterungen, dann hatte sie insoweit Frankreich gedient. Auf jeden Fall vermochte die Regierung daran zu arbeiten, daß die Einheit des Mutterlandes und der überseeischen Reichsteile erhalten blieb und Frankreich nicht mehr Schaden davontrug, als nach Lage der Dinge unvermeidlich war. Man muß deshalb nicht mit der Regierung Petain rechten, weil sie die Zusammenarbeit mit den Deutschen suchte und ein Bündnis zumindest nicht ausschloß, denn ein solches Verhalten war unbedingt vernünftig. Man muß auch nicht danach fragen, wie ernst die Regierung den Bündnisgedanken nahm, denn wie ernst sie ihn nehmen konnte, hing ausschließlich von Hitler ab. Gewann Frankreich durch einen günstigen Frieden eine bedeutende Rolle in der Politik zurück, so durfte es den Bündnisgedanken sehr ernst nehmen; andernfalls blieb er ein vergänglicher Lufthauch. Was die Franzosen, speziell Petain, anstrebten, war an sich ganz klar und wurde noch einmal bestätigt, als Admiral Darlan, nach Laval der neue Stellvertreter Petains, zugleich Außen-, Innenminister und Oberbefehlshaber der Marine, seit dem Frühjahr 1941 erneut die Verständigung mit den Deutschen suchte, wobei er sogar noch weiter ging als vor ihm Laval. Auf Grund einer Diskussion in der französischen Regierung, bei welcher es um eine enge Zusammenarbeit mit den Achsenmächten, um das Einräumen von Stützpunkten sowie um die Möglichkeit eines französischen Kriegseintritts ging, faßte Darlan im Juni 1941 die deutschen Gegenleistungen zusammen, auf welche die Regierungsmitglieder sich geeinigt hatten, um Frankreich praktisch als Verbündeten an die Seite Deutschlands zu stellen. Dazu gehörte - noch vor Abschluß des endgültigen Friedens, also bei Fortdauer der Besetzung - die einheitliche Zuständigkeit der französischen Staatsgewalt für das gesamte Mutterland (wohlgemerkt mit Ausnahme Elsaß-Lothringens), das weitgehende Beseitigen der Demarkationslinie, das Abschaffen der Besatzungskosten, das Freilassen der Kriegsgefangenen und eine Garantie für die Kolonien. Darlaos Versuch zu einem für beide Seiten befriedigenden Ausgleich blieb freilich ebenso erfolglos wie derjenige Lavals. Eine echte Verständigung zog Hitler nie in Erwägung. Als der erhoffte Frieden mit England im Sommer 1940 sich nicht einstellen wollte, wandte Hitler seine Aufmerksamkeit dem Mittelmeer zu, um die weiche Flanke in Nordafrika zu sichern. Es schien ihm nunmehr nützlich zu sein, Frankreich einzuspannen für den Schutz seiner Kolonien, namentlich derjenigen, die fast ganz Nordwestafrika umfaßten, und zwar teils mit eigenen Kräften, teils mit deutschen, damit diese Ge-
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biete nicht den Briten in die Hände fielen oder sich ihnen zur Verfügung stellten. Die Gespräche, die Hitler deswegen mit Laval und Petain im Oktober führte, erbrachten immerhin die grundsätzliche Bereitschaft Petains zur Zusammenarbeit, die dieser auch öffentlich bekanntgab. Bloße Winkelzüge Petains waren das nicht. Zwar unterhielt der französische Staatschef zur selben Zeit geheime Kontakte mit London, um britische Befürchtungen, etwa über ein Festsetzen der Deutschen in Nordwestafrika, zu zerstreuen. Aber das war im Grunde selbstverständlich, denn einerseits durfte Petain nicht alle Brücken zu England abbrechen, solange die deutsche Seite kein handfestes Entgegenkommen zeigte, und andererseits mußte Frankreich über die Verteidigung seiner Kolonien selbst bestimmen, denn gerade die Fähigkeit zur Verteidigung der Kolonien war das Handelsobjekt, das Frankreich anbieten konnte, um von den Deutschen milde behandelt zu werden bzw. einen günstigen Frieden zu erlangen. Überließ Frankreich auch noch die Verteidigung der Kolonien den Deutschen oder den Achsenmächten, so stellte es nur noch deren Spielball dar. Auf eben diesen Handel - günstige Friedensaussichten für Frankreich, Verteidigung der Kolonien durch Frankreich - wollte jedoch Hitler nicht eingehen, weder im Herbst 1940 noch zu einer anderen Zeit. Er versuchte lediglich, ohne alle Gegenleistungen sozusagen in Afrika den Fuß in die Tür zu bekommen; Frankreich sollte Vorleistungen erbringen, doch was es dafür erhielt, blieb nicht nur offen, sondern man fand genügend Indizien, daß es am Ende fast nichts oder gar nichts erhalten würde. Petain war sehr wohl zur Zusammenarbeit bereit, aber nicht zu Hitlers Bedingungen. Als den scheinbar verheißungsvollen Worten vom Oktober 1940 keine Taten folgten, Laval trotz seiner Gesten guten Willens nur hingehalten wurde, obendrein die erwähnte Ausweisung der Lothringer einen Vorgeschmack gab, wie Hitler die deutsch-französische Freundschaft auszulegen beliebte, da wurde Laval im Dezember 1940 von Petain entlassen. Hitler verstand es als Schlag gegen seine Art von Verständigungspolitik, und das sollte es wohl auch sein. Zur Besinnung kam er dadurch nicht; er fühlte sich in seinem Mißtrauen gegen die Franzosen bestärkt und glaubte fortan umso weniger auf sie Rücksicht nehmen zu müssen, als der erwartete schnelle Abschluß des Rußland-Feldzugs der Wehrmacht Gelegenheit geben würde, alle Schwierigkeiten im Mittelmeerraum selbst zu bereinigen.13 Schließlich der vierte Punkt, um die Gedankenkette zu Ende zu führen, daß das Bündnis mit Italien für Deutschland nutzlos oder schädlich war. Davon wurde in gewisser Weise auch das Verhältnis zwischen Deutschland und England betroffen. t3 Hitler über Niederhalten Frankreichs nach der Darlegung Jodls gegenüber der Seekriegsleitung in G. Wagner, Lagevorträge, 151 (4. 11. 1940). Vgl. Hitler, Mein Kampf, 704f. Keitel über Behandlung Frankreichs in KTB OKW 112, 975 (20. 9. 1940). Hitler über alte Grenzen in Halder, KTB I, 132 (23. 11. 1939). Hitler über Aufgaben Frankreichs in Nordafrika in der Weisung vom 12. 11. 1940; Hubatsch, Weisungen, 77. Darlan über deutsch-französische Einigung Anfang Juni 1941 nach Aron, Vichy II, 101 f. Allgemein Jäckel, Frankreich, passim. Michel, Petain. Böhme, Waffenstillstand. Hartmann, Frankreich. Warner, Lava!.
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Britannien hatte im Juni 1940, als der französische Zusammenbruch unaufhaltsam näherrückte, verzweifelte Anstrengungen unternommen, den Verbündeten im Krieg zu halten. Frankreich sollte aus den Kolonien den Widerstand fortsetzen und vor allem die Flotte nicht in die Hand des Gegners fallen lassen. Am 16. Juni bot Churchill der französischen Regierung eine staatsrechtliche Union beider Länder an, was jedoch nur das Mißtrauen der Franzosen weckte, die Briten könnten sich der französischen Kolonien und der Flotte bemächtigen. Der Verdacht war nicht ganz falsch, da bei einer Weiterführung des Krieges aus den Kolonien das ganze französische Mutterland besetzt, das Kolonialreich aber davon abgeriegelt und im Zeichen der britisch-französischen Union unter britische Aufsicht gestellt worden wäre, ebenso die Flotte. Auf der anderen Seite bildete der Abfall Frankreichs einen schweren Schlag für England, vor allem dann, wenn die Deutschen erreichten, daß die Flotte zu ihnen überging. Die französische Regierung versprach zwar, die Flotte nicht auszuliefern, und konnte das Versprechen halten, weil im Waffenstillstand diese Auslieferung nicht verlangt wurde. Aber in London sah man die Gefahr, Frankreich könnte, nachdem es schon bündniswidrig aus dem Krieg ausgeschieden war, auf die eine oder andere Weise die Flotte doch noch den Zwecken Deutschlands bzw. der Achsenmächte nutzbar machen. Die seestrategische L~ge hätte sich damit nicht unerheblich verschoben. 1940 verfügte die französische Marine über sieben Schlachtschiffe, darunter drei schwächere alte, zwei moderne leichte sowie zwei moderne schwere, die allerdings noch nicht ganz fertig waren und im Juni vor den anrückenden deutschen Truppen in westafrikanische Häfen verlegt wurden, ferner einen alten Flugzeugträger und entsprechende leichte Streitkräfte. Rechnet man dies mit der italienischen Flotte zusammen (sechs Schlachtschiffe) und vergleicht es mit der Stärke der britischen (14 Schlachtschiffe und etliche Flugzeuträger), dann sieht man, daß Britannien im Mittelmeer unterlegen war, da ein Teil seiner Flotte für Aufgaben in anderen Seegebieten benötigt wurde. Die Unterlegenheit trat vor allem dann ein, wenn Frankreich, wie Laval beabsichtigte, wegen der Kolonien in kriegerische Auseinandersetzungen mit England geriet, denn an den Küsten des Mittelmeers besaßen Frankreich und Italien zusammen eine haushoch überlegene strategische Position (Stützpunkte), so daß sie, wenn sie sich militärisch halbwegs richtig verhielten, Britannien ohne Mühe aus dem Mittelmeer vertreiben konnten. Spinnt man diese Überlegungen noch ein wenig weiter, so ergibt sich, daß bei Einrechnung der im Bau befindlichen Schiffe in den folgenden Jahren England über knapp 20 Schlachtschiffe sowie an die zehn Flugzeugträger verfügen konnte, während Deutschland, Frankreich und Italien zusammen auf rund 20 Schlachtschiffe kamen, aber fast keine oder nur ganz wenige Flugzeugträger besitzen würden. Die Gruppe der Kontinentalmächte (Deutschland, Frankreich, Italien) würde dann das Mittelmeer beherrschen und vermochte England auch auf den großen Weltmeeren, vor allem im Atlantik, in Bedrängnis zu bringen. Tödlich allerdings würde die Bedrohung für Britannien nicht sein, jedenfalls nicht, solange es auf Amerika zählen durfte. Denn einerseits brauchte man im Atlantik, wo Landflugplätze nicht viel nützten, auch
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Flugzeugträger, und in dieser Schiffsklasse lagen die K;ontinentalmächte aussichtslos zurück. Andererseits würden die USA, falls England wirklich vor dem Zusammenbruch stand, wahrscheinlich in den Krieg eintreten, und gegen die vereinigten Flotten beider Länder vermochte niemand etwas auszurichten, zumal die USA imstande waren, jeden Rüstungswettlauf für sich zu entscheiden. Immerhin stellten sich die strategischen Aussichten für London im Sommer 1940 als höchst zwielichtig dar; Britannien stand strategisch gewissermaßen auf der Kippe. Eine Schlüsselrolle kam dabei der französischen Flotte zu. Trat sie nicht in Erscheinung, so besaß England eine gute Chance, sich im Mittelmeer zu behaupten, gegen Italien allemal und mit etwas Glück auch gegen Deutschland. Stand dagegen die französische Flotte auf der deutschen Seite, sei es durch Übergabe, durch ein Bündnis oder sonstwie, dann konnte sie schlimmstenfalls einen Invasionsversuch in England erleichtern. Auf jeden Fall mußte London gewärtig sein, das Mittelmeer zu verlieren. Besiegt war Britannien dadurch noch nicht, aber es durfte sich umgekehrt auch keine Siegeshoffnungen mehr machen, zumindest dann nicht, wenn die Achsenmächte politisch einigermaßen geschickt vorgingen, d. h. weder Amerika noch Rußland herausforderten. Solange die USA selbst nicht wirklich bedroht waren, würde sich dort der Isolationismus nur schwer überwinden lassen. Der Krieg mochte dann zu einem langwierigen Abnützungskrieg werden, in welchem Britannien schließlich ermattet aufgab. Churchill und Roosevelt, beide mit den Fragen der Seemacht wohlvertraut, zogen daraus den Schluß, es sei das Beste und Sicherste, die französische Flotte auszuschalten. Wenige Tage nach dem Waffenstillstand, am 27. Juni 1940, faßte das britische Kriegskabinett auf Vorschlag Churchills den Beschluß, alle französischen Schiffe, derer man habhaft werden könne, entweder zu beschlagnahmen oder außer Gefecht zu setzen. Roosevelt, von der Maßnahme unterrichtet, hieß sie gut und beteiligte sich daran. Die Operation unter dem Decknamen "Catapult" betraf das stärkste französische Geschwader in dem algensehen Stützpunkt Mers-el-Kebir bei Oran, ferner ein Geschwader in dem britischen Stützpunkt Alexandria sowie etliche schwächere Einheiten in britischen Häfen an der Kanalküste. Die Schiffe im ägyptischen Alexandria (in Ägypten waren auf Grund eines Bündnisvertrags britische Streitkräfte zur Überwachung des Suezkanals stationiert) sowie an der Kanalküste hatten schon in der Zeit der Waffenstillstandsverhandlungen versucht, die britischen Stützpunkte, in denen sie sich infolge der Kriegsereignisse befanden, wieder zu verlassen, waren aber von den Engländern daran gehindert worden. Am 3. Juli 1940 wurden nun diese Schiffe teils gewaltsam übernommen, teils durch Androhung von Gewalt neutralisiert. Vor Mers-el-Kebir erschien am selben Tag ein britischer Flottenverband und stellte das französische Geschwader, das auf die Demobilisierung wartete, vor die Wahl, entweder auf die englische Seite überzugehen oder in Westindien unter amerikanische Aufsicht zu treten, oder allenfalls sich selbst zu versenken. Als der französische Befehlshaber dies ablehnte und statt dessen Verteidigungsvorbereitungen treffen ließ, wurden seine Schiffe zusammengeschossen. Am 8. Juli folgte noch ein Schlag gegen die Schiffe im westafrikanischen Hafen Dakar,
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während die Einheiten in Französisch-Westindien mit amerikanischer Hilfe neutralisiert wurden. Die Regierung Petain nahm die Ereignisse des 3. Juli zum Anlaß, Vergeltungsangriffe auf den britischen Stützpunkt Gibraltar fliegen zu lassen sowie die diplomatischen Beziehungen zu London abzubrechen. 14 Längerfristig stellte die Operation Catapult keinen durchschlagenden Erfolg dar, weil nur Teile der französischen Flotte verlorengingen. Dauerhaft abschreiben mußte Frankreich zwei alte Schlachtschiffe (eines beim Alexandria-Geschwader, eines in Mers-el-Kebir versenkt), dazu den Flugzeugträger in Westindien und eine Anzahl leichtere Einheiten. Erhalten blieben außer Kreuzern und Zerstörern immerhin fünf Schlachtschiffe, nämlich zwei leichte und ein altes, die teils aus Mersel-Kebir entkommen, teils dort nach Beschädigung wieder fahrtüchtig gemacht worden waren und anschließend nach Toulon verlegt wurden, sowie die beiden schweren, die einstweilen bewegungsunfähig in Westafrika lagen. Unter entsprechenden politischen Umständen hätte sich damit noch einiges anfangen lassen, vor allem wenn es gelang, die beiden schweren Schlachtschiffe in Heimathäfen einsatzfähig zu rp.achen. Trotzdem konnte Churchill mit der Operation zufrieden sein, denn obwohl der rein militärische Erfolg begrenzt blieb, erreichte Churchill zwei andere strategische Ziele, eines innenpolitischer und eines außenpolitischer Natur. Einerseits war in London, als sich nach dem Sichelschnitt die Niederlage Frankreichs abzeichnete, die Frage aufgetaucht, ob ein Verhandlungsfriede möglich sei und wie man sich dazu stellen solle. Bereits zeitgenössischen Beobachtern blieb nicht verborgen, daß es in den britischen Führungskreisen und innerhalb der Regierung selbst zwei Gruppen oder Parteiungen gab, welche jene Frage unterschiedlich beantworteten. Mit den politischen Parteien oder gesellschaftlichen Klassen dürfte dies allerdings wenig zu tun haben, denn die Fronten liefen quer durch die Parteien und Schichten. Wohl gab es in der Labour-Party die Auffassung, aus dem Krieg müßten soziale Reformen hervorgehen; doch betonten ihre beiden Vorsitzenden, Attlee und Greenwood, im Frühjahr 1940, ein langer und verheerender Krieg würde den sozialen Fortschritt wie die wirtschaftliche Entwicklung gleichermaßen gefährden. Was die erwähnten beiden Gruppen oder Parteiungen trennte, also der Meinungsunterschied über das außenpolitische Verhalten, speiste sich aus vielfältigen Beweggründen, auch solchen persönlicher Natur. Zu der einen Gruppe gehörten die bekannten Appeaser wie Außenminister Halifax, der beim Regierungswechsel im Mai 1940 zunächst als Nachfolger Chamberlains im Amt des Premierministers gegolten hatte, der nunmehrige Lordpräsident des Geheimen Staatsrats Chamberlain sowie die früheren Außenminister Sirnon und Hoare. Etwas vereinfachend könnte man diese Gruppe als Friedenspartei bezeichnen, weil sie an der Auffassung festhielt, ein langer Krieg würde Großbritannien von den USA abhän14 Zur strategischen Lage und zur Operation Catapult Woodward, Foreign Policy I. Butler, Strategy. Playfair. W. Churchill, Zweiter Weltkrieg 11/1. Böhme, Waffenstillstand. Thomas, Vichy. Zur Zustimmung Roosevelts auch Reynolds, Creation, 119. Langer/Gleason, Challenge, 572f.
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gig machen und seine Weltmachtrolle beenden, so daß ein Verhandlungsfrieden, sogar einer mit Hitler, nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden dürfe, sofern er zu maßvollen Bedingungen erreichbar sei. llir stand die andere Gruppe gegenüber, angeführt von dem neuen Premierminister Churchill und dem derzeitigen Kriegsminister Eden, die man wiederum vereinfachend als Kriegspartei bezeichnen mag. Der Unterschied entpuppte sich hinterher als längst nicht so schwerwiegend, wie die Ausdrücke Kriegs- und Friedenspartei anzudeuten scheinen; immerhin war ein deutlicher Unterschied zeitweise vorhanden. Er. trat erstmals Ende Mai in Erscheinung, als das Kriegskabinett tagelang darüber debattierte, ob Friedensschritte angebracht seien und ob man Mussolini - der noch nicht im Krieg stand - als Vermittler einschalten solle. Während Halifax und Chamberlain, die zusammen mit Churchill, Attlee und Greenwood dem Kriegskabinett angehörten, solche Friedensversuche befürworteten, lehnte Churchill sie rundweg ab. Zwar räumte Churchill gelegentlich ein, wenn Deutschland nur die Vorherrschaft in Mitteleuropa sowie Kolonien verlange, dann könne er dem Frieden zustimmen, und selbst der Verlust von Malta und Gibraltar lasse sich verschmerzen. Aber am Ende beharrte er doch darauf, daß Verhandlungen derzeit nicht in Frage kämen. Halifax war darüber so erbittert, daß er noch am 17. Juni der schwedischen Regierung mitteilen ließ, die Unentwegten dürften einem Verhandlungsfrieden nicht im Weg stehen; der gesunde Menschenverstand und nicht gespielte Tapferkeit würden die Politik der britischen Regierung bestimmen. Die Ähnlichkeit der Vorgänge Ende Mai und Mitte Juni liegt auf der Hand: Damals hatte Halifax in Italien einen mehr oder weniger neutralen Vermittler gesucht, jetzt suchte er einen neutralen Vermittler in Schweden. Freilich stand dabei außer Zweifel, daß Halifax und die anderen Appeaser keinen Frieden um jeden Preis anstrebten, daß auch sie nicht zu kapitulieren gedachten. Der Unterschied zwischen ihnen und Churchill war eher taktischer Natur; während Churchill von vornherein nicht verhandeln wollte und dies damit begründete, Hitler werde sowieso keine erträglichen Bedingungen stellen, meinten die Appeaser, daß man dies ohne Verhandlungen gar nicht wissen könne und daß Churchill sich von seiner Kriegslüsternheit leiten lasse oder von seinem Wunsch, den Helden zu spielen. Das war wohl nicht ganz falsch, dennoch setzte sich Churchill auch diesmal durch, wobei es ihm zustatten kam, daß Hitler ein greifbares Friedensangebot mit deutlich umrissenen Bedingungen nie machte. Augenscheinlich legte Hitler es darauf an, daß Britannien gewissermaßen zu Kreuze kroch, daß es dankbar aus der Hand des Führers denjenigen Frieden empfing, welchen er großmütig zu bewilligen geruhte, und daß es sich in die Vorgänge auf dem Kontinent zukünftig nicht mehr einmischte, vielmehr in wohlwollender Verbundenheit mit dem Reich eine Art Schutzwall gegen Amerika bildete. So weit wollten freilich auch die Appeaser nicht gehen; ein Friedensschluß kam für sie nur dann in Betracht, wenn er die Unabhängigkeit und Freiheit Britanniens nicht antastete. Was das im einzelnen hieß, konnte nie ausgelotet werden, denn dazu hätte unter Gleichberechtigten verhandelt werden müssen, und solche Verhandlungen wünschten weder Churchill noch Hitler. Statt dessen ließ Chur-
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chill die französische F1otte überfallen, um den Willen zum Weiterkämpfen unter Beweis zu stellen. Das Unternehmen, aus strategischen Gründen angezeigt, stellte zugleich einen Schlag gegen Churchills innenpolitische Gegner dar, weil es ein Zeichen setzte, daß übereilte Verständigungsbereitschaft fehl am Platze sei, solange Britannien noch die Meere zu beherrschen wisse. Andererseits setzte der Angriff auf die französische F1otte auch ein Zeichen gegenüber Amerika. Wollten die Appeaser den USA eine entscheidende Mitwirkung am Kriegsausgang nicht zugestehen, so zielte umgekehrt Churchill darauf ab, gerade mit Hilfe der USA den Sieg zu erringen, wohl in der Hoffnung, die von den Appeasern vorausgesagten Folgen, nämlich Abstieg des Empire und amerikanische Vorherrschaft, hintauhalten zu können. Roosevelt wiederum war langfristig durchaus willens, diese Hilfe zu gewähren oder genauer: durch den vollen Einsatz der amerikanischen Macht den Krieg zu entscheiden, nur mußte er sich vorerst zurückhalten, teils wegen des isolationistischen Widerstand~, teils weil er eine dritte Präsidentschaft anstrebte- am 19. Juli nahm er für seine Partei die Kandidatur an -, teils weil Amerika auch noch nicht die erforderlichen Streitkräfte besaß, um sowohl in Europa wie in Ostasien den Ausschlag zu geben. Einige Sorgen bereitete dem Präsidenten der Zwiespalt in London wegen der Friedensfrage. Churchill meinte später, die Amerikaner hätten nach dem Zusammenbruch Frankreichs ein paar Wochen lang die Briten wie Krebskranke behandelt. Beispielsweise hatte Churchill Mitte Mai um die Überlassung von 50 älteren amerikanischen Zerstörern gebeten, worauf Roosevelt zunächst nicht einging, weil es, wie er sagte, keinen Sinn habe, die USA zu gefährden, solange keine positiven Ergebnisse für die Alliierten erreichbar seien. Dabei ängstigte den Präsidenten weniger der Gedanke, die Wehrmacht könnte erfolgreich eine Invasion in England vornehmen, denn erstens war eine Landung mit den begrenzten deutschen Hilfsmitteln nicht so leicht zu bewerkstelligen, zweitens hätten gerade die 50 Zerstörer eine erhebliche Verstärkung gegen die Invasion dargestellt, und drittens hätte eine Schlacht um England, bei welcher Britannien wirklich an den Rand des Abgrunds geriet, wohl die Gelegenheit geboten, den Isolationismus zu überwinden, denn ohne Britannien schwebten selbst die USA in Gefahr. Vielmehr befürchtete Roosevelt, in London könnte sich die Friedenspartei durchsetzen und mit Hitler ZUJ;n Abschluß kommen. In diesem Fall hatte es tatsächlich keinen Sinn, den Briten die Zerstörer zu überlassen, denn der Verteidigung Englands würden sie nichts mehr nützen, dagegen würden die USA sich gefährden, weil ihrer eigenen Verteidigung diese Zerstörer fehlten, namentlich dann, wenn Britannien am Ende einen ähnlichen Weg beschritt wie Frankreich, d. h. freundschaftliche Beziehungen zum Reich ins Auge faßte. Roosevelt begann erst anderen Sinnes zu werden, als der Angriff auf die französische F1otte erfolgte, und vollends, als eine Friedensrede Hitlers vom 19. Juli in scharfer und endgültiger Weise am 22. Juli zurückgewiesen wurde - und zwar durch keinen anderen als durch Halifax. Sofern Halifax sich nicht einfach der Kabinettsdisziplin beugte, muß man wohl annehmen, daß auch er sich jetzt davon überzeugt hatte, das Warten auf ein brauchbares Verhandlungsangebot Hitlers sei zwecklos. Roose-
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velt gab nun der Bitte um die besagten 50 Zerstörer nach; Anfang September wurden sie offiziell den Briten überlassen, wofür diese den USA Stützpunkte auf britischen Inseln im Atlantik und in der Karibik verpachteten. Die amerikanische Neutralität gegenüber England wurde damit schon mehr als wohlwollend und näherte sich einem verkappten Bündnis. 15 Hitler benützte eine große Reichstagsrede am 19. Juli teils dazu, den Briten ein allgemeines Friedensangebot zu machen, teils dazu, den Sieg im Westen zu feiern. Dabei wurden viele Beförderungen ausgesprochen, so erhielt eine Anzahl verdienter Truppenführer den Rang eines Feldmarschalls, Göring wurde trotz des Fehlschlags von Dünkirchen sogar Reichsmarschall, und auch für das ungeliebte OKH fielen ein paar Brosamen ab, indem Brauchitsch zum Feldmarschall und Haider zum Generaloberst ernannt wurde. Offen bleibt, warum Hitler weder in dieser Rede noch bei anderer Gelegenheit seine Friedensvorstellungen genauer umriß. Zuweilen ließ er durchblicken, das Empire erhalten zu wollen, aber in London hätte man natürlich auch gern gewußt, in welchem Umfang dies gelten sollte, wie es sich mit der britischen Seemacht und ihren Stützpunkten oder gegebenenfalls mit deutschen (und italienischen) Stützpunkten verhielt, wie die Dinge im Mittelmeer zu regeln waren und was überhaupt mit dem Rest Europas ~eschehen sollte. An Hitler wäre es gewesen, greifbare Friedensbedingungen zu nennen, denn die Friedenspartei in London konnte es ohne Einwilligung Churchills nicht, außerdem hätte sie es wohl auch nicht gewollt. Beispielsweise war es für Britannien sehr verfänglich, Friedensbedingungen anzubieten, welche den verbündeten oder unterdessen von der Wehrmacht besetzten Ländern Opfer zumuteten; soweit solche Opfer unumgänglich waren, mußten sie von Hitler gefordert werden. Inwieweit die Londoner Friedenspartei derartige Opfer hingenommen bzw. die betreffenden Länder geopfert hätte, ist schwer zu sagen, doch lag die Bandbreite der verschiedenen Möglichkeiten offenbar zwischen zwei Polen: Entweder man suchte nach einem allgemeinen europäischen Frieden, der zugleich Länder wie Polen, Norwegen, Holland und Frankreich einbezog, dann mußten die Opfer verteilt werden, etwa in der Weise, daß auch Britannien ein paar Kolonien abgab oder Malta und Gibraltar, wie Churchill früher erwähnt hatte. Malta war nicht so wichtig, solange Frankreich im Mittelmeer ein Gegengewicht zu Italien bildete. Oder die Appeaser faßten äußerstenfalls einen regelrechten Sonderfrieden ins Auge, d. h. sie erkannten die auf dem Kontinent geschaffenen Tatsachen an, wie es augenscheinlich Hitler wünschte, dann war nicht einzusehen, wieso Britannien zusätzlich Opfer bringen sollte, zumal es selbst ja noch nichts verloren hatte, sondern dann mußte gegenüber dem Machtzuwachs Deutschlands in Buropa das Empire ts Allgemein zur Friedensfrage Martin, Friedensinitiativen, 267 ff. Die britischen Kabinettsberatungen Ende Mai 1940 nach Reynolds, Churchill. Reynolds, Britain, 128. Lukacs, Entmachtung, 84 ff., 418 ff. Attlee und Greenwood im Frühjahr 1940 nach Addison, 73. Churchill über Krebskranke nach C. King, Diary, 109. Roosevelt über Zerstörer in Ickes III, 199f. (5. 6. 1940). Die Rede von Halifax am 22. 7. 1940 in Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 173 ff. Ferner Carr, 158 ff.
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mindestens erhalten bleiben, wenn nicht gar gestärkt werden, um seine Freiheit und Unabhängigkeit zu wahren. Eine britische Regierung konnte äußerstenfalls obwohl man daran zweifeln mag - die Gewinne Deutschlands in Europa anerkennen, aber sie konnte nicht zugleich auch noch das ganze Mittelmeer einem beutegierigen Italien preisgeben, vor allem nicht die strategische Stellung im östlichen Mittelmeer und den vorderen Orient mit seinen Ölquellen. Nun hatte aber Italien bereits Forderungen angemeldet, die praktisch auf die Herrschaft über das ganze Mittelmeer einschließlich des vorderen Orients und Nordostafrikas hinausliefen. Was sollte Hitler in dieser Lage tun? Hielt er sich an den Stahlpakt, dann mußten die Friedensverhandlungen zusammen mit Mussolini stattfinden, d. h. Hitler mußte die Friedensbedingungen offenbaren, die teils eine deutsche Herrschaft im mittleren und westlichen Europa beinhalteten, teils eine italienische im Mittelmeer, was auf der Gegenseite für niemanden verhandelbar war. Weitere Friedensgespräche durfte Hitler dann abschreiben. Oder Hitler tat etwas, was er aus weltanschaulichen Gründen wahrscheinlich nicht wollte: Er hinterging Mussolini und bot den Briten einen Sonderfrieden an, bei welchem sie nur die deutschen Gewinne hinnahmen. Dann beging er einen schweren taktischen Fehler, weil einerseits nicht sicher war, ob die Briten zu diesen Bedingungen abschlossen, und weil er ihnen andererseits eine Kurbel in die Hand gab, an der sie nach Belieben drehen konnten, um einen Keil zwischen Hitler und Mussolini zu treiben. Erfuhr Mussolini, daß Hitler ihn leer ausgehen lassen wollte, so mochte er sich von Deutschland trennen, zumal wenn die Briten die eine oder andere Entschädigung anboten. Umgekehrt würden die Briten, wenn sie Mussolini abspenstig machen konnten, wohl noch weniger zum Frieden bereit sein. So verschwieg Hitler seine Vorstellungen über den Frieden und nährte damit den - im Grunde ja zutreffenden - Eindruck, daß ein tragfähiger Frieden mit ihm ohnedies nicht zu erreichen sei. Ob die Appeaser sich durchgesetzt hätten, wenn Hitler ein brauchbares Angebot gemacht hätte, könnte an sich eine aufschlußreiche Frage sein. Sie ist allerdings müßig, weil Hitler dazu gar nicht in der Lage war: erstens aus Rücksicht auf Mussolini und zweitens wegen seiner Zielsetzung, den ganzen Kontinent zu beherrschen, mit einem vorgelagerten und zu eigenständigem Handeln nicht mehr befähigten England als Wache am Atlantik. Die Appeasementpolitik war damit definitiv am Ende. Mit ihr war zugleich die Vorstellung am Ende, den Krieg auf Europa zu begrenzen, ihn ohne eine letzte Entscheidung zwischen Deutschland und England abzuschließen und so zu verhindern, daß das Schicksal Europas demnächst von außereuropäischen bzw. halbeuropäischen Mächten, d. h. den USA und der Sowjetunion, entschieden wurde. Churchill suchte nie etwas anderes als die letzte Entscheidung durch die Waffen; zu diesem Zweck trachtete er auch danach, Amerika in den Krieg hineinzuziehen, und streckte ab dem Sommer 1940 Fühler nach Rußland aus. Churchill wollte gewissermaßen den Ersten Weltkrieg noch einmal führen, einen Krieg, in welchem Deutschland und Rußland sich gegenseitig aufgerieben hatten. Zusammen mit der Sowjetunion dem Dritten Reich entgegenzutreten, hatte Churchill schon vor dem
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Krieg empfohlen, und im Juni 1940 übersandte er Stalin eine Botschaft, daß England und ·die Sowjetunion imstande seien, der deutschen Hegemonie zu widerstehen, was England auch tun werde. Das war ein erster vorsichtiger Annäherungsversuch, in welchem angedeutet wurde, Britannien und Rußland könnten sich gemeinsam gegen Deutschland stellen. Weiter ging der neu ernannte britische Botschafter in Moskau, Stafford Cripps, ein Sozialist und außenpolitischer Amateur, der bei den Fachleuten manches Kopfschütteln hervorrief, aber fest an seine Sendung glaubte, engere Beziehungen zwischen den beiden Ländern herbeizuführen. Bei Gesprächen mit Stalin und Molotow (1. Juli bzw. 14. Juni) erwähnte er- ohne Auftrag - eine sowjetische Führungsrolle auf dem Balkan gegen den deutsch-italienischen Einfluß, was in der Tat einen deutsch-sowjetischen Gegensatz nach sich gezogen hätte. Auf derlei Anbiederungsversuche gingen die russischen Politiker nicht ein, wobei Stalin rundheraus erklärte, daß ihm nichts daran liege, das europäische Gleichgewicht wiederherzustellen. Dennoch war Churchill zuversichtlich, daß der gemeinsame Kampf mit der Sowjetunion gegen das Dritte Reich kommen werde, denn wie er dem südafrikanischen Ministerpräsidenten Smuts am 27. Juni schrieb, werde Hitler sich wahrscheinlich gegen Osten wenden, wenn er eingesehen habe, daß er England nicht schlagen könne. In ähnlicher Weise hatte Roosevelt schon vor dem Krieg gemeint, wenn Hitler Frankreich besiegt habe, seien als nächste die Sowjets an der Reihe. Bei einem Gespräch mit dem Präsidenten Anfang Juni 1940 stellte Innenminister Ickes fest, Stalin wünsche einen Krieg zwischen Deutschland und den europäischen Westmächten bis zur Erschöpfung, um sich Europas zu bemächtigen; bei passender Gelegenheit werde er in den Krieg eingreifen, denn ein Zusammenstoß zwischen Rußland und Deutschland müsse früher oder später kommen. Roosevelt widersprach dem nicht; er meinte nur, Rußland werde nicht jetzt schon in den Krieg eintreten. Die Vermutung oder sogar die Erwartung, der Zusammenstoß zwischen der Sowjetunion und Deutschland werde nicht ausbleiben, bestand demnach auf britischer wie amerikanischer Seite, und spätestens dann konnte auch Amerika nicht mehr abseits stehen. Churchill knüpfte daran die Hoffnung, in der weltweiten Auseinandersetzung das Empire retten zu können, während Roosevelt in dem künftigen Weltkrieg die Gelegenheit erblickte, den Willen Amerikas bzw. seinen eigenen Willen erdumspannend durchzusetzen - nämlich den Willen, die Beziehungen der Völker untereinander fortan auf eine umwälzend neue Grundlage zu stellen. Auf dem Weg dorthin schlugen die Ereignisse des Jahres 1940 eine tiefe Bresche in den Isolationismus, denn der Zusammenbruch Frankreichs, der Kriegseintritt Italiens, die Gefährdung Englands und die unsichere Lage im Paziflk überzeugten den Kongreß wie die Öffentlichkeit, daß es nunmehr an der Zeit sei, mehr für die Sicherheit Amerikas zu tun. Hatte Roosevelt im Januar 1940 für weitere Aufrüstung die Summe von zwei Milliarden Dollar verlangt und mühsam darum feilschen müssen, so bewilligte der Kongreß bis zum Oktober nicht weniger als 17 Milliarden. Waren zunächst lediglich fünf Divisionen mit ein paar hundert Panzern, knapp 3 000 Flugzeuge sowie eine allerdings starke Flotte mit rund 20 älte-
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ren oder im Bau befindlichen Schlachtschiffen und sieben Flugzeugträgem vorhanden, so sollte jetzt ein Wehrpflichtheer mit rund zwei Millionen Mann aufgestellt, die Luftwaffe um viele tausend Flugzeuge vergrößert und die Flotte gewaltig ausgebaut werden. Die Planungen wurden später noch öfters geändert, teils erhöht, teils auch wieder vermindert, doch sollte die Flotte, die 1940 für den Kampf an den beiden Seeflanken Amerikas ausgelegt wurde (Zwei-Ozean-Flotte) und 1942 sogar für den Kampf auf allen Weltmeeren, nach den letzten Planungen rund 30 Schlachtschiffe und ebenso viele schwere Flugzeugträger umfassen, dazu in großer Zahl Geleitträger für die U-Boot-Jagd und die Unterstützung von Landungen sowie sonstige Streitkräfte. Die Flottenplanungen allein zeigen schon, daß es Roosevelt nicht bloß darum ging, Amerika samt Britannien zu verteidigen, sondern die USA sollten die beherrschende Weltmacht schlechthin werden, die mit ihrer Flotte jeder anderen Flotte auf der Erde überlegen war und überall auf der Erde eingreifen konnte. Die zunehmende Abhängigkeit Englands von Amerika erwies sich im Herbst 1940, als England, das bis dahin Kriegsmaterial aus den USA auf der Grundlage von "cash and carry" bezogen hatte, in ernsthafte Zahlungsschwierigkeiten geriet. Britannien hatte bis zum November Lieferungen im Wert von viereinhalb Milliarden Dollar bar bezahlt, verfügte noch über Werte von zwei Milliarden, die nicht leicht flüssig zu machen waren, brauchte aber mindestens das Doppelte, um nur die laufenden Bestellungen zu bezahlen, und ein Vielfaches für die zukünftigen Aufträge. In dieser Notlage erfand Roosevelt den Gedanken von "lend-lease" (Leihe und Pacht), den er am 17. Dezember mit dem berühmten GartenschlauchBeispiel so erläuterte: Wenn man einen Gartenschlauch besitze und beim Nachbarn das Haus brenne, dann werde man diesem den Gartenschlauch nicht verkaufen, sondern ihn zum Löschen des Brandes ausleihen. Vorbereitet durch Roosevelts publikumswirksame Formel, Amerika müsse das Arsenal der Demokratie sein (29. Dezember), wurde ein entsprechendes lend-lease-Gesetz im Januar 1941 eingebracht und im März 1941 mit großer Mehrheit verabschiedet. Man erkennt nun leicht, daß Kriegsmaterial nicht einfach ausgeliehen und später wieder zurückgegeben werden kann. Nach den Kampfhandlungen ist es verbraucht, abgenutzt, beschädigt, zerstört oder veraltet, so daß es entweder doch bezahlt oder verschenkt werden muß. Tatsächlich haben die USA nach dem Krieg den Briten einen großen Teil der !end-lease-Schulden erlassen, ihnen also das betreffende Material geschenkt. Während des Krieges jedoch wurden die Lieferungen kreditiert, wie gegenüber Britannien so später auch gegenüber der Sowjetunion, woraus die USA eine überaus starke Gläubigerposition gewannen, die sie bei Kriegsende, je nachdem, wie weit ihr politisch-militärischer Einflußbereich sich erstreckte, geltend machen konnten. Davon abgesehen schaltete Amerika sich immer stärker in das militärische Kriegsgeschehen ein. Nachdem Roosevelt schon im Sommer 1940 britisch-amerikanischen Stabsgesprächen zugestimmt hatte, ergaben diese Besprechungen im März 1941, daß- vorbehaltlich des amerikanischen Kriegseintritts- der Schwer-
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punkt der gemeinsamen Anstrengungen im atlantisch-europäischen Raum liegen solle ("Germany frrst"). Im Juli 1941 besetzten die USA Island und lösten damit die Briten ab, die im Anschluß an das deutsche Norwegen-Unternehmen auf den Färöern (16. 4. 1940) sowie auf Island (10. 5. 1940) gelandet waren. Island war dazu bestimmt, ein Stützpunkt für amerikanische See- und Luftstreitkräfte zu werden, die ab September 1941 einen Teil der Geleitzugsicherung im Nordatlantik übernahmen. Dadurch kam es zu Zwischenfällen mit deutschen U-Booten, bei welchen im Oktober ein amerikanischer Zerstörer torpediert und ein anderer versenkt wurde. Man darf wohl sagen, daß der Ausbruch des offenen Krieges zwischen Deutschland und Amerika nur noch eine Frage der Zeit war. 16 Im Sommer 1940 begann sich dies erst abzuzeichnen; zunächst schien Britannien noch ums Überleben zu kämpfen. Soweit das Bündnis zwischen Hitler und Mussolini überhaupt jemals einen Sinn hatte, konnte er nur darin bestehen, England im Mittelmeer leichter zu schlagen. Nicht einmal das gelang, im Gegenteil legte Mussolini einen ähnlichen militärischen Unverstand an den Tag wie bei anderer Gelegenheit Hitler, er nahm die allenfalls vorhandenen günstigen Möglichkeiten nicht wahr und erzeugte statt dessen Verhältnisse, die seinem Land bloß schadeten und die Wehrmacht in Unternehmungen hineinzogen, die letztlich eine strategisch nutzlose Vergeudung von Kräften bewirkten. Dabei schienen sich die Aussichten einer Kriegführung im Mittelmeer anfangs recht günstig anzulassen. Spanien, wo sich im Bürgerkrieg der Diktator Francisco Franeo mit deutscher und italienischer Hilfe durchgesetzt hatte, war noch vor Kriegsausbruch dem deutschjapanisch-italienischen Anti-Komintern-Pakt beigetreten, hatte am 4. September 1939 seine Neutralität und am 12. Juni 1940 seine Nichtkriegführung verkündet. Am 19. Juni 1940 ließ Franeo in Berlin eine Denkschrift vorlegen, worin er die Bereitschaft zum Kriegseintritt gegen England erklärte, sofern er Gibraltar, französische Besitzungen, darunter Marokko, sowie Lebensmittel und Material aus französischen Beständen erhalte. Mit den Absichten Hitlers war das nicht vereinbar, da dieser ja einen Übergang der französischen Kolonien und der französischen Flotte auf die britische Seite verhindern wollte, und wenn Spanien sich anschickte, Teile der Kolonien zu besetzen, dann würde eben jener Übergang vermutlich eintreten. Von dem spanischen Angebot machte Hitler daher keinen Gebrauch. Das änderte sich ab Juli 1940, als der Frieden mit England nicht in Sicht kam, so daß Hitler nun danach trachtete, auch im Mittelmeer militärischen und politi16 Hitlers Reichstagsrede vom 19. 7. 1940 in Domarus 11/1, 1540ff. Die italienischen Forderungen nach einem Telegramm des deutschen Botschafters vom 17. 7. 1940 in ADAP, Ser. D, Bd 10, 207 f. Chorchilis Botschaft an Stalin und das Wirken von Cripps nach Miner, 6, 37, 60, 66 ff. und passim. Dazu Ross, Office, 6 ff., 72 ff. Kitchen, Policy. Chorchili an Smuts, 27. 6. 1940, in W. Churchill, Zweiter Weltkrieg 11/1, 244 f. Roosevelt über Hitlers Absichten in Davies, Botschafter, 349 (Juli 1939). lckes und Roosevelt in Ickes III, 200f. (5. 6. 1940). Zur amerikanischen Rüstung und den weiteren Maßnahmen Angermann, 220, 225. Carr, 155 f. Hillgruber, Weltkrieg, 52 ff. MGFA, Weltkrieg III, 516 ff. (Beitrag Schreiber). Jacobsen, Weg, 147 ff. W. Fischer, Geschichte V, 98,406. Potter/Nirnitz/Rohwer, passim. 17 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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sehen Druck auszuüben, um entweder Britannien doch noch zum Einlenken zu bewegen oder Buropa nach Süden abzuschirmen. Dies wurde umso dringlicher, als bis Ende August Französisch-Kamerun und das Tschad-Gebiet, bis Mitte November ganz Französisch-Äquatorialafrika von Vichy abfielen und zur freifranzösischen Bewegung de Gaulies übergingen. Im September setzten die Briten einen Flotten- und Landungsverband gegen Dakar an, der zusammen mit freifranzösischen Truppen unter de Gaulle selbst diesen strategisch wichtigen Stützpunkt einnehmen sollte. Mit Hilfe des dort liegenden schweren Schlachtschiffes der VichyFlotte und anderer Streitkräfte wurde der Angriff abgeschlagen, doch war nun der Beweis erbracht, daß Nordwestafrika als Aufmarschgebiet für die anglo-amerikanischen Seemächte dienen konnte und daß von hier eine Bedrohung des europäischen Kontinents ausging. Zugleich war für die Regierung Petain nun erwiesen, daß es an ihr lag, die Kolonien gegen England und die de Gaulle-Bewegung zu verteidigen bzw. die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Hitler kam immer wieder auf den Gedanken zurück, Spanien jetzt doch in den Krieg zu ziehen, um das Mittelmeer im Westen abzuschließen und Gibraltar zu erobern. Allerdings begann jetzt Franeo sich zu winden, denn die Voraussetzungen für die spanische Teilnahme entschwanden zusehends. Die Niederlage Britanniens oder dessen Nachgeben rückte in weite Feme; Spanien, vom Bürgerkrieg ausgelaugt und militärisch schwach, brauchte umfangreiche Zufuhren an Nahrungsmitteln wie Rohstoffen, die nur aus dem Machtbereich Englands und Amerikas, nicht jedoch aus demjenigen des Reiches zu erlangen waren; und der erhoffte Kriegsgewinn, namentlich Marokko, ließ sich gegen den Widerstand von Vichy nicht erreichen, sofern man nicht den Abfall aller französischen Kolonien in Kauf nehmen wollte. Bis zum Oktober kam Hitler zu der Einsicht, die Lösung der Interessengegensätze zwischen Frankreich, Italien und Spanien sei nur durch grandiosen Betrug möglich. rn diesem Sinn versuchte der Diktator bei verschiedenen Gesprächen mit Mussolini, Petain und Laval sowie Franeo im Oktober, sowohl die italienischen Ansprüche gegenüber Frankreich zu mäßigen (wofür er vorgab, zugleich die deutschen mäßigen zu wollen) als auch die Franzosen für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, als auch Spanien zum Kriegseintritt zu bewegen, freilich unter dem Vorbehalt, die spanischen Gebietserwerbungen erst später genau festzulegen. Wie zu erwarten, gelang es Hitler auch in diesem Fall nicht, alle Welt für dumm zu verkaufen. Ob zu jener Zeit noch eine Chance existierte, Spanien in den Krieg zu ziehen, mag bezweifelt werden, aber wenn es sie gab, dann jedenfalls nur unter der Voraussetzung, daß die Erwerbungen in Nordafrika gesichert waren, und das wollte Hitler nicht zugestehen. So kam es, wie es kommen mußte: Nach einigem weiteren Hin und Her lehnte Franeo am 7. Dezember 1940 eine spanische Kriegsbeteiligung jetzt und für die Zukunft ab. 17 17 Die spanische Denkschrift vom 19. 6. 1940 in ADAP, Ser. D, Bd 9, 513f. Allgemein zur spanischen Politik Detwiler; Ruh!; Holst; Bernecker; MGFA, Weltkrieg III, 129ff., 16~ ff. (Beitrag Schreiber). Zu den Vorgängen in Nordafrika Aron, Vichy. Amouroux. Hili-
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Das spanische Intermezzo verdiente an sich keine gesteigerte Aufmerksamkeit, wenn es nicht einmal mehr die Zerfahrenheit der Strategie Hitlers und seines außenpolitischen Gehilfen Ribbentrop zeigte. Um Nordwestafrika bzw. das westliche Mittelmeer zu sichern, konnte Hitler entweder auf die spanische Karte setzen, dann mußte er beizeiten, am besten noch vor dem Waffenstillstand mit Frankreich, das Angebot Francos annehmen, mußte alsbald deutsche Truppen nach Nordwestafrika in Marsch setzen und dort den Krieg, gegebenenfalls zusammen mit Italien, bis zur Einnahme dieses Gebietes fortführen. Das hätte freilich vorausgesetzt, den Krieg rechtzeitig fachmännisch planen zu lassen - aber einen vernünftigen, stabsmäßig erarbeiteten strategischen Plan gab es bekanntlich im Dritten Reich nicht, sondern Hitler hielt sich an seine eigenen Eingebungen, d. h. in diesem Fall an die Hoffnung, mit England bald Frieden schließen zu können. Oder Hitler setzte auf die französische Karte, dann konnte er, wie es früher beschrieben wurde, mit Frankreich mindestens zum Schutz seiner Kolonien zusammenarbeiten. Gibraltar war in diesem Fall nicht so wichtig, weil es sich durch Luftangriffe aus Nordafrika niederhalten ließ und weil eine britische Flotte im westlichen Mittelmeer von der nordafrikanischen Küste aus stets gefährdet blieb. Hitler setzte statt dessen auf die spanische und die französische Karte zugleich, obendrein auch noch auf die italienische, und verlor am Ende mit allen dreien. In Italien kam Mussolini im Juni 1940 zu dem Entschluß, von Libyen aus in das formell neutrale Ägypten einzudringen, um den dort stationierten britischen Streitkräften den Suezkanal zu entreißen und eine Landverbindung nach Abessinien herzustellen. Beides war erforderlich, damit die Kolonien Abessinien und Somaliland, die abgeschnitten am Horn von Afrika lagen, aus der Heimat versorgt werden konnten. Im August 1940 wurde dort Britisch-Somalia erobert, was indes die Lage der italienischen Besitzungen nicht verbesserte. Über den Angriff auf Ägypten bestanden lange Unstimmigkeiten zwischen Mussolini und seinen Generalen, wobei vor allem der Oberbefehlshaber in Libyen, Marschall Graziani, die Erfolgsaussichten düster beurteilte. Die einfachste Lösung wäre natürlich gewesen, die Schwäche der italienischen Streitkräfte auszugleichen, indem man den deutschen Bundesgenossen um Verstärkung bat. Haider und Brauchitsch besprachen am 30. Juli 1940 die allgemeine Lage und kamen zu dem Ergebnis, eine Landung in England werde voraussichtlich in diesem Jahr nicht mehr möglich sein. Als Ausweichlösung hielten sie es für ratsam, den Krieg ins Mittelmeer zu verlegen, denn dann ,,könnten wir den Engländer im Mittelmeer entscheidend treffen, von Asien abdrängen, dem Italiener sein Mittelmeerreich aufbauen helfen und uns selbst mit Hilfe Rußlands das in West- und Nord-Europa geschaffene Reich ausbauen. Wir können dann einen jahrelangen Krieg mit England getrost in Kauf nehmen."
grober, Strategie, 135. Hitler über grandiosen Betrug nach Halder, KTB II, 124 (3. 10. 1940). Hitlers Gespräche im Oktober 1940 in Hillgruber, Staatsmänner I, 229 ff., 257 ff., 266 ff., 272ff. Die Ablehnung von Franeo in KTB OKW 111, 219 (8. 12. 1940), 222 (10. 12. 1940).
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Bei einer Besprechung mit Hitler am nächsten Tag schlug daher Brauchitsch dem Diktator vor, die Italiener mit zwei Panzerdivisionen in Nordafrika zu unterstützen. Nachdem auch das OKW den Gedanken aufgegriffen hatte, machte Hitler ihn sich im Laufe des August zu eigen, so daß Jodl Anfang September und Hitler selber Anfang Oktober die Italiener davon in Kenntnis setzen konnten. Am guten Willen auf deutscher Seite fehlte es demnach nicht, sehr wohl jedoch auf der italienischen. Mussolini hielt fest an seiner Vorstellung vom Parallelkrieg, in welchen die Deutschen sich nicht einmischen sollten, weswegen die Italiener anfangs keine deutschen Verstärkungen erbaten und später die entsprechenden Angebote verschleppten. Statt dessen befahl Mussolini am 7. September den Angriff auf Ägypten, dessen Ergebnis bescheiden blieb, da Graziani bis Mitte September nur zu dem Ort Sidi Barrani vordrang, etwa 100 km hinter der Grenze gelegen und mit einem Flugplatz ausgestattet, wo er stehenblieb. Wie der Feldzug bei einem Einsatz deutscher Panzerdivisionen verlaufen wäre, läßt sich nicht genau sagen, da die Briten in Ägypten einige Vorteile hatten: Sie besaßen die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer und konnten am Nil den weiter ostwärts gelegenen Suezkanal verteidigen, während die Angreifer durch die Wüste marschieren mußten, mit entsprechenden Nachschubschwierigkeiten und einer Gefährdung an der Seeflanke. Immerhin spricht einiges dafür, daß die Sache nicht aussichtslos war, wenn sie rechtzeitig vorbereitet und mit dem erforderlichen Nachdruck betrieben wurde, ehe die Briten ihre zunächst verhältnismäßig schwachen Kräfte verstärkt hatten. Umgekehrt durfte ein Erfolg ohne deutsche Mitwirkung jedenfalls nicht erwartet werden. Hatte Mussolini auf diese Weise die günstige Gelegenheit, seine eigenen Ziele zu fördern und den Gegner schwer zu treffen, erst einmal vertan, so beging er alsbald die nächste Torheit. Aus Gründen, über die noch zu sprechen sein wird, entsandte Hitler im Oktober eine deutsche Militärmission nach Rumänien. Für Mussolini, der noch Anfang Oktober eine teilweise Demobilmachung angeordnet hatte, wurde dies der Anlaß, einen Angriff auf Griechenland zu befehlen, ohne Hitler vorher einzuweihen. Bei diesem ziemlich wirren Entschluß trafen anscheinend verschiedene Beweggründe zusammen: erstens das seit Jahren bestehende Vorhaben, Griechenland und Jugoslawien politisch oder militärisch dem italienischen Machtbereich einzugliedern; zweitens die Furcht, Hitler könnte seinen Einfluß auf dem Balkan ohne oder gegen Italien ausweiten; drittens die Absicht, von Griechenland aus die Operationen im östlichen Mittelmeer zu unterstützen; und viertens vielleicht auch ein gekränktes Selbstgefühl, weil Italien in diesem Krieg bislang nichts Bedeutendes zuwege gebracht hatte. Der italienische Griechenland-Feldzug, der am 28. Oktober 1940 aus Albanien heraus begann, endete mit einem Fiasko. Die Griechen fingen bis Mitte November den Angriff auf und drängten bis Ende Dezember die Italiener weit nach Albanien zurück, wo bis ins Frühjahr 1941 die Front stehen blieb. Britannien, seit 1939 mit Griechenland durch eine Garantieerklärung verbunden, nahm die Gelegenheit gern wahr, mit eigenen Streitkräften in
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Griechenland Fuß zu fassen, womit die strategische Lage im östlichen Mittelmeer und auf dem Balkan für die Achsenmächte erheblich schlechter wurde. Um das Maß voll zu machen, erlitt Italien weitere Katastrophen. In der Nacht vom 11. auf den 12. November 1940 griffen Flugzeuge einer britischen Trägerkampfgruppe die italienische Flotte in Tarent an, versenkten ein leichtes Schlachtschiff und setzten ein weiteres leichtes sowie ein schweres für längere Zeit außer Gefecht. Die italienische Flotte konnte nunmehr mindestens zeitweise der britischen nicht mehr gefährlich werden; tatsächlich wurde sie es überhaupt nie mehr. Gedeckt durch ihre Seeherrschaft, eröffneten die Briten am 9. Dezember eine Offensive aus Ägypten, bei welcher sie bis zum Februar 1941 den ganzen Ostteil Libyens, die Cyrenaika, eroberten. Abgeschnitten von der Heimat ging auch ltalienisch-Ostafrika im Laufe des Jahres 1941 verloren. Insgesamt büßten die Italiener in Afrika an die 10 Divisionen ein und durften sich darauf gefaßt machen, demnächst weitere Schläge einzustecken. Im Laufe des Dezember tat Mussolini das, was er vorher ein halbes Jahr lang versäumt hatte - er bat Hitler um Hilfe: um Hilfe gegen Griechenland, um Hilfe der Luftwaffe gegen die britische Flotte und um Entsendung einer deutschen Panzerdivision nach Libyen. Mussolinis Parallelkrieg war damit beendet; er hätte besser nie stattgefunden. 18 Ein weiteres Land, auf welches der deutsche Sieg im Westen weitreichende Auswirkungen hatte, war Japan. Den Hintergrund für die politischen und militärischen Maßnahmen Tokios bildete stets die Tatsache, daß das Kaiserreich wirtschaftlich in hohem Maße verwundbar und von anderen Ländern abhängig war, teils für den Bezug von Rohstoffen, Nahrungsmitteln und hochwertigen Maschinen, teils für den Absatz seiner Industriewaren. Die Regierung Konoye hatte 1938 den Ausweg gewählt, mit Japan, Mandschukuo und China eine neue Ordnung in Ostasien zu errichten, welche die Verwundbarkeit Japans mildem sollte, doch schwebte über dem Kaiserreich fortwährend die Drohung, verstärkt seit der Kündigung des Handelsvertrags mit Amerika Anfang 1940, es könnte durch Sperrung der Zufuhren wirtschaftlich so unter Druck gesetzt werden, daß es seine politische Handlungsfreiheit einbüßte, es könnte mit anderen Worten erpreßt werden. Nach dem Kriegsausbruch in Europa hatte die Regierung zunächst den Kurs verfolgt, die Spannungen im Verhältnis zu den Westmächten nicht zu verschärfen, während .die Beziehungen zu den Achsenmächten einerseits und zur Sowjetunion andererseits, die infolge des Hitler-Sta1in-Pakts ihre frühere Grundlage verloren hatten, einstweilen im Unbestimmten gelassen wurden. Nicht zum Zug gekommen war die denkbare I8 Zur italienischen Kriegführung Knox, Mussolini. MGFA, Weltkrieg III, passim. Haider und Brauchitsch am 30. 7. 1940, der Vorschlag von Brauchitsch zur Entsendung von zwei Panzerdivisionen in Halder, KTB II, 45 f., 47. G. Wagner, Lagevorträge, 128. Haltung des OKW hierzu nach KTB OKW 1/1, 11 (7. 8. 1940), 63f. (5. 9. 1940). Warlimont I, 124f., 135 f. Hitler hierzu in Hillgruber, Staatsmänner I, 230ff. (4. 10. 1940). Über Aussichten einer Operation in Nordafrika Halder, KTB II, 150 (25. 10. 1940), 160 f. (2. 11. 1940). Die italienischen Hilfsersuchen in ADAP, Ser. D, Bd 11/2, 682 ff. (8. 12. 1940), 760 ff. (20. 12. 1940). KTB OKW 1/1,241 (20. 12. 1940). Hillgruber, Strategie, 289, 340f.
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und von manchen bereits erwogene Lösung, die Einigung mit den letztgenannten Mächten zu suchen und dafür den Gegensatz zu den Westmächten in Kauf zu nehmen. Auf eben diese andere Linie schwenkte Tokio um, als Deutschland im Sommer 1940 siegreich blieb und damit die europäischen Kolonialmächte teils ausschaltete, teils fesselte. Die japanischen Blicke richteten sich nun verstärkt auf die Kolonialgebiete Südostasiens, d. h. vor allem auf Niederländisch Indien (lndonesien), das französische lndochina und britische Kolonien wie Malaya, die von ihren Mutterländern kaum noch verteidigt werden konnten. Wichtig waren diese Gebiete für Japan aus zwei Gründen: Erstens lieferten sie Rohstoffe und Nahrungsmittel, die Japan dringend benötigte, wie Erdöl, Gummi, Zinn, Reis und anderes; zweitens verliefen über jene Gebiete, nämlich über lndochina und Burma, die wichtigsten Nachschubwege für Nationalchina, auf welchen die militärische Widerstandsfähigkeit Tschiang Kai-scheks am Leben erhalten wurde. Wenn es Tokio gelang, in den besagten Kolonien seinen Willen geltend zu machen, dann vermochte es zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Es konnte seine Versorgungsnöte beheben oder wenigstens mildem, und es konnte, indem es die Unterstützung für Nationalchina abdrosselte, dieses zum Aufgeben zwingen, um in China endlich zum Frieden z~ gelangen. Die Stoßrichtung der japanischen Politik nach Südostasien ließ sich wiederum auf zweierlei Art zweckmäßig ergänzen. Einerseits wurde der japanische Hegemonialraum in Nordchina von der Sowjetunion bedroht, so daß es sich für Tokio empfahl, eine Verständigung mit Rußland zu suchen, um alle Kräfte für China und den Süden freizuhaben. Andererseits waren die USA in der Lage, dem japanischen Eindringen in die Kolonialgebiete entgegenzutreten, so daß es sich für Tokio anbot, Verbindungen zu den Achsenmächten anzuknüpfen, die sich nicht, wie früher, gegen die Sowjetunion richteten, sondern gegen Amerika, um mehr Rückhalt gegen die USA zu gewinnen. Der Kurswechsel Japans deutete sich sehr schnell an. Schon die amtierende Regierung Yonai erwog ein Neutralitätsabkommen mit Rußland und verlangte im Juni 1940 von London sowie der Regierung Petain das Schließen der Versorgungswege nach China, was beide zugestanden, Britannien allerdings nur für drei Monate. Um die neue Politik mit aller Entschiedenheit durchzusetzen, trat am 22. Juli ein Regierungswechsel ein, wobei Konoye erneut das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, mit Matsuoka Yosuke als Außenminister und General Tojo als Kriegsminister. Die außenpolitischen Richtlinien, von Matsuoka entworfen, sahen ein enges Zusammenwirken Japans mit den Achsenmächten vor oder, anders ausgedrückt, eine neue Achse Japan-Deutschland-Italien; ferner einen Nichtangriffspakt mit Rußland, der Japan Zeit geben sollte, sich auf eine spätere Auseinandersetzung mit der Sowjetunion vorzubereiten; sodann die Errichtung einerneuen Ordnung in Ostasien, die nunmehr auch die südostasiatischen Kolonien umfassen sollte; und schließlich nach Möglichkeit einen Ausgleich mit Nationalchina, bei welchem dieses in dem ostasiatischen Block mitarbeitete. Die erweiterte ostasiatische Ordnung unter Einschluß Südostasiens hieß fortan die "Großostasiatische Wohlstandssphä-
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re". Im Innem suchte die Regierung Konoye eine stärkere Mobilisierung des Volkes und eine bessere Durchsetzung des Regierungswillens zu erreichen, indem die Parteien aufgelöst wurden. An ihre Stelle trat als einheitliche Massenorganisation eine Vereinigung zum Dienst am Thron, die das gesamte öffentliche Leben auf die Erfordernisse der Außenpolitik, der Verteidigung und der japanischen Sendung in Ostasien ausrichtete. Diese Ziele beinhalteten noch nicht den Willen zum Krieg, gegen die langfristig weit überlegenen USA ohnehin nicht und gegen Britannien, das im Sommer 1940 in Ostasien ziemlich wehrlos war, ebenfalls nicht. Vielmehr trachtete Matsuoka danach, eine neue Konstellation der Mächte im Weltmaßstab herbeizuführen, welche das Errichten der Großostasiatischen Wohlstandssphäre auf friedlichem Weg erlaubte. Zu diesem Zweck sollte einerseits eine große Koalition aller Mächte auf der eurasischen Landmasse geschaffen werden, von Japan über die Sowjetunion bis zu den europäischen Achsenmächten, und andererseits sollte die ganze Erde in eine Anzahl riesiger Einflußräume aufgeteilt werden: ein deutsch-italienischer in Europa und Afrika, ein russischer im Süden der Sowjetunion in Richtung auf den Indischen Ozean, ein japanischer in Ost- und Südostasien sowie ein amerikanischer in der westlichen Hemisphäre. Zwischen Japan und Rußland sollten die Dinge so geregelt werden, daß Sinkiang und die Äußere Mongolei in den sowjetischen Großraum fielen, China und die Mandschurei in den japanischen, während Rußland die japanische Hegemonie über Südostasien duldete und Japan gegebenenfalls eine russische über Persien und Indien. In einem ersten Schritt waren bündnismäßige Verflechtungen mit den Achsenmächten herzustellen, welche Amerika auch im atlantischen Raum fesseln und von einem Eingreifen in Südostasien abschrecken sollten; außerdem sollten die europäischen Achsenmächte dann ihrerseits daran arbeiten, Rußland in die eurasische Kombination einzubeziehen, und Vermittlerdienste für den Ausgleich zwischen Tokio und Moskau leisten. Frei von jeder Bedrohung im Rücken, mittelbar oder unmittelbar unterstützt von den europäischen Achsenmächten wie von der Sowjetunion, konnte Japan dann darangehen, die Großostasiatische Wohlstandssphäre zu errichten, wobei die Hoffnung bestand, die Westmächte würden sich aus diesem Gebiet freiwillig zurückziehen, wenn sie einsahen, daß sie gegen die gewaltige eurasische Machtzusammenballung nicht viel auszurichten vermochten. Im Licht der älteren Macht- und Gleichgewichtspolitik war dieser Plan an sich gar nicht so abwegig. Betrachtet man wieder einmal das Potential der verschiedenen Mächtegruppen, so verfügten die beiden Seemächte Amerika und England über gut die Hälfte der Weltindustrieerzeugung, die eurasischen Mächte über knapp die Hälfte; allerdings hätten die letzteren, sofern sie ganz Asien und große Teile Afrikas unter ihre Botmäßigkeit brachten, den Vorteil der größeren Menschenmassen, der größeren Rohstoffreserven und der größeren Absatzmärkte besessen. Immerhin hätte für Amerika selbst und seinen Vorposten England keine unmittelbare Existenzgefahr bestanden, solange sie imstande blieben, ausreichende Flottenstreitkräfte zu unterhalten, was mindestens für längere Zeit gesichert war.
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Der Gedanke, die USA und England könnten veranlaßt werden, sich auf die westliche Hemisphäre bzw. auf den Rest des Empire zurückzuziehen, erschien daher als einsichtig. Niemand kann wissen, ob die anglo-amerikanischen Seemächte wirklich nachgegeben hätten, wenn der vorgesehene eurasische Block zustande gekommen wäre. Denkbar ist sicher auch, daß die Regierung Roosevelt den Überlegungen treu blieb, die schon zur Zeit des Ersten Weltkriegs von der Regierung Wilson angestellt worden waren, nämlich eine machtpolitische Zusammenfassung des Potentials von ganz Burasien niemals hinzunehmen - so daß die Regierung Roosevelt, falls dies doch eintrat, erst recht den Kampf aufgenommen hätte, um nicht in einer ferneren Zukunft Amerika von dem eurasischen Block an die Wand drücken zu lassen. Doch wie dem auch sei, der Entwurf Matsuokas scheiterte bereits daran, daß der besagte Block gar nicht ins Leben trat. Am 27. September 1940 schlossen Deutschland, Japan und Italien einen Dreimächtepakt, weswegen man in den Ausdruck Achsenmächte von da an auch Japan einbeziehen darf. In dem Abkommen sicherten sich die Beteiligten wechselweise zu, bei der Schaffung einer neuen Ordnung in Europa bzw. in Ostasien die Führung Deutschlands und Italiens bzw. Japans anzuerkennen. Ferner übernahmen die Beteiligten die Verpflichtung, sich mit allen Mitteln gegenseitig zu unterstützen, falls sie von einer Macht angegriffen wurden, die gegenwärtig nicht in den europäischen oder ostasiatischen Krieg verwickelt war. Mit dieser Macht war Amerika gemeint, so daß der Vertrag ein Verteidigungsabkommen gegen die USA darstellte. Hitler hatte, nach anfänglichem Zögern, die Anregung Japans zum Paktabschluß aufgegriffen, weil er hoffte, Amerika von einem Eingreifen in den europäischen Krieg abschrecken und auf diese Weise vielleicht doch noch zum Ausgleich mit England gelangen zu können. Tokio wiederum versprach sich eine ähnlich abschreckende Wirkung im Pazifik, da Amerika, wenn es in Südostasien eingriff, auch den Krieg im Atlantik in Kauf nehmen mußte. Den Krieg selber wünschten weder Deutschland noch Japan, wobei Tokio sogar noch einen besonderen Vorbehalt einbrachte. Während die deutsche Seite zusicherte, Japan bei einem Angriff der USA oder Englands zu helfen, lehnte Tokio eine Beistandsautomatik ab, vielmehr sollte im Falle eines Krieges der USA gegen die europäischen Achsenmächte erst geklärt werden, ob ein Angriff vorliege. Man darf daher den Vertrag nicht überschätzen; größere Bedeutung hätte er nur erlangt als Vorstufe zu dem geplanten eurasischen Block. Schon die Abschreckung Amerikas trat nicht ein. Nachdem Roosevelt bereits im Juli die Ausfuhr von Schrott und Flugzeugbenzin nach Japan eingeschränkt hatte, verhängte er Ende September, als japanische Truppen in Nordindochina einmarschierten, eine vollständige Ausfuhrsperre für Schrott, wodurch die japanische Stahlerzeugung sank und der Bau von Handelsschiffen beeinträchtigt wurde (die im Krieg dann fehlten). Ebenfalls im September versuchte Tokio, durch langfristige Verträge wesentlich höhere Lieferungen an Rohstoffen, vor allem Öl und Benzin, aus Niederländisch Indien zu erhalten, doch gestand die dortige Kolonialverwaltung mit Rücksicht auf die Westmächte, welche die Rohstoffe selbst abnah-
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men, nur kurzfristige Verträge und geringere Liefermengen zu. Um die Jahreswende 1940/41 verstärkte Roosevelt die Hilfe für Tschiang Kai-schek und ordnete weitere Ausfuhrbeschränkungen nach Japan an, so für Metalle und Maschinen. Allerdings hütete sich der Präsident, die Embargoschraube zu überdrehen, denn in Washington war ebenso bekannt wie in Tokio, daß bei einem vollständigen Ausfuhrverbot für Öl Japan in solch unerträgliche Versorgungsschwierigkeiten geraten würde, daß es entweder vor Amerika kapitulieren oder die südostasiatischen Rohstoffgebiete erobern mußte, wobei es wahrscheinlich das letztere tun würde. Amerika verstärkte zwar allmählich seine Bindungen an England, entwickelte sich deutlich sichtbar zur Schutzmacht für Ost- wie Südostasien und allgemein zur entscheidenden Macht im Hintergrund, doch vermied Roosevelt vorderhand alle übereilten Festlegungen. Dies geschah weniger mit Rücksicht auf Südostasien, denn die dortigen Rohstoffe bildeten für die Westmächte wohl eine wertvolle Ergänzung, waren indes nicht schlechterdings lebensnotwendig. Während des Krieges mußten die Westmächte auf diese Gebiete jahrelang verzichten und haben den Krieg trotzdem gewonnen. Auch dürfte Roosevelt schwerlich geglaubt haben, den Krieg doch noch vermeiden zu können: in Ostasien ebensowenig wie in Europa. Vielmehr wollte Roosevelt sich die Entscheidung offenhalten, zu welcher Zeit Amerika zweckmäßigerweise in den Krieg eintrat - nämlich dann, wenn die USA besser gerüstet waren, und vor allem dann, wenn das Verhältnis der eurasischen Mächte zueinander sich abgeklärt hatte. Vielleicht hätte Roosevelt vor dem Krieg zurückgescheut, wenn der eurasische Block entstanden wäre, vielleicht auch nicht. Jedenfalls aber empfahl es sich für Amerika nicht, in den Krieg gegen die Achsenmächte in Europa wie in Asien einzutreten und diese niederzuwerfen, solange die Sowjetunion im Rücken der kämpfenden Achsenmächte darauf lauem konnte, aus der Fesselung der Achsenmächte oder ihrer Niederlage gegen die Westmächte unbehelligt Gewinn zu schlagen, d. h. große Teile Europas und Ostasiens zu vereinnahmen. Traf hingegen die Vermutung bzw. Erwartung Roosevelts und Churchills zu, die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Hitler und Stalin werde nicht ausbleiben, dann würde sich die Lage in einer für die Belange Amerikas wie die eigentlichen Ziele Roosevelts gleichermaßen günstigen Weise klären: Einerseits würde der eurasische Block auffriedlichem Wege nicht entstehen, andererseits würde der Kampf zwischen Deutschland und Rußland den USA voraussichtlich Gelegenheit geben, die Schwierigkeiten mit den Achsenmächten wie diejenigen mit der Sowjetunion auf einen Schlag zu lösen, indem zunächst die Sowjetunion von der Wehrmacht geschwächt oder weitgehend unschädlich gemacht wurde und anschließend Amerika die Achsenmächte besiegte, um endlich in einer Welt, in der es keine mit Amerika vergleichbare Macht mehr gab, eine Ordnung des Friedens, des Rechts und der allgemeinen Wohlfahrt zu errichten (an der dann übrigens auch die vormaligen Achsenmächte teilhaben sollten). Daß sich die Dinge in diese Richtung entwickelten, deutete sich bald an. Tokio versuchte im Sinne des Matsuoka-Planes, nach dem Vertrag mit den europäischen
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Achsenmächten auch das Verhältnis zur Sowjetunion zu bereinigen. Für Stalin und seinen Ministerpräsidenten Molotow hatte es damit freilich keine Eile. An sich verfolgte Moskau durchaus das Ziel, Japan den Rücken freizumachen für einen Krieg gegen die Westmächte, ähnlich wie es 1939 Hitler den Rücken freigemacht hatte. Nur wollte es dies, ähnlich wie 1939, nicht ohne Gegenleistungen tun, sondern verlangte einige japanische Zugeständnisse, vor allem auf der Insel Sachalin, deren Südhälfte Japan 1905 gewonnen hatte und auf deren Nordhälfte Japan Ölund Kohlekonzessionen besaß. Für Tokio war es ein schwerer Brocken, auf die wenigen Ölvorkommen, zu denen es einigermaßen gesicherten Zugang besaß, auch noch zu verzichten. Außerdem kam das, w.as Matsuoka eigentlich bezweckte, nämlich der eurasische Brückenschlag, nicht voran. Wie noch darzulegen sein wird, verhandelten zwar Deutschland und Rußland im Herbst 1940 über die große eurasische Liga, doch erwies es sich als unmöglich, die unterschiedlichen Vorstellungen auszugleichen. Matsuoka unternahm daraufhin im März/April 1941 eine Reise nach Berlin und Moskau, um seinen Entwurf zu verwirklichen. Wenngleich ihm in Berlin verschwiegen wurde, daß der Entschluß zum Angriff auf die Sowjetunion bereits gefallen war, konnte der japanische Außenminister doch erkennen, daß sein ursprünglicher Plan als gescheitert gelten mußte. Immerhin blieb ihm noch die Möglichkeit, bessere Beziehungen zwischen Tokio und Moskau herzustellen. Dies gelang, als nach persönlichem Eingreifen Stalins die russischen Forderungen wegen Sachalin fallengelassen wurden, so daß am 13. April 1941 zwar nicht der ursprünglich beabsichtigte Nichtangriffspakt, aber statt dessen ein gleichwertiger Neutralitätsvertrag abgeschlossen wurde. Darin verpflichteten sich Japan und die Sowjetunion, gegenseitig ihre territoriale Unversehrtheit zu achten, was auch für den japanischen Satellitenstaat Mandschukuo wie für den russischen Satellitenstaat Mongolei galt, und im Falle eines Krieges mit dritten Ländern die Neutralität zu wahren. Für Stalin dürfte die Erwägung, durch den Vertrag Sicherheit vor einem japanischen Angriff zu erhalten, kaum eine Rolle gespielt haben. Tatsächlich hat sich der sowjetische Diktator auf den Vertrag nie verlassen (ihn später übrigens auch gebrochen), sondern in Sibirien stets Kräfte stationiert, die den japanischen überlegen blieben. Eine Entlastung an der sibirischen Grenze trat dennoch ein, weil Japan nunmehr die erwünschte Rükkenfreiheit für die Stoßrichtung seiner Politik nach Südostasien erhalten hatte und sich in der Folgezeit ganz darauf konzentrierte, so daß Stalin einen doppelten Erfolg erzielte: Einerseits verstrickte Japan sich in wachsende Gegensätze zu den Westmächten, schließlich in den Krieg; jlJJ.dererseits konnte Rußland Kräfte aus Sibirien abziehen, die ihm dann gegen die Wehrmacht zustatten kamen. Tokio wiederum betrachtete den Vertrag keineswegs als notwendige Voraussetzung für den Krieg; vielmehr suchte es dadurch seine Verhandlungsposition zu stärken, um mit mehr Nachdruck gegenüber den Westmächten auftreten zu können und sie zur Preisgabe Ost- wie Südostasiens zu veranlassen. Hierüber fanden fast während des ganzen Jahres 1941 Verhandlungen mit Amerika statt; eigens zu diesem Zweck war Ende 1940 der als prowestlich eingestufte ehemalige Außenrnini-
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ster Admiral Nomura zum Botschafter in Washington ernannt worden. Nennenswerte Fortschritte wurden dabei freilich nicht erzielt. Während die Japaner eine dauerhafte Vormachtstellung in China anstrebten einschließlich der Stationierung von Truppen, dazu maßgeblichen Einfluß in Südostasien, nach Möglichkeit politischer, mindestens aber wirtschaftlicher Natur, verlangten die Amerikaner nicht weniger als die territoriale Unversehrtheit aller Länder sowie die Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten, insbesondere die Wiederherstellung der vollen Souveränität Chinas, ferner die Gleichberechtigung im Handel, also die offene Tür, und eine Veränderung des bestehenden Zustands im Paziflk nur mit friedlichen Mitteln. Japan wäre damit nicht bloß auf den Zustand der 1930er Jahre zurückgedrängt worden, sondern es wäre auch, wirtschaftlich wie politisch, wieder in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den Westmächten geraten - genau der Zustand, den Konoye immer beklagt und den Japan seit längerem zu überwinden getrachtet hatte. Die Umkehr war in den Augen der meisten Japaner nicht mehr vollziehbar, zumindest nicht ohne Kampf. Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 überraschend, wenngleich nicht ganz unvermutet, in Rußland eindrang, sprach sich Matsuoka für eine Teilnahme Japans am Krieg gegen die Sowjetunion aus, um gewissermaßen auf deren Trümmern doch noch den großen eurasischen Block in anderer Form zu errichten. Das Eingreifen der USA befürchtete er dabei nicht, da, wie er meinte, die USA die Sowjetunion nicht liebten. Obwohl in Matsuokas Auffassung strategisch wie politisch manches Richtige steckte, vermochte er sich nicht durchzusetzen. Erstens war das japanische Heer auf einen Angriff in Sibirien nicht vorbereitet, außerdem mußte es, wenn es nach einigen Monaten vorbereitet war, immer noch die überlegene Ausrüstung der Roten Armee fürchten. Zweitens wurden durch einen Krieg in Sibirien die japanischen Versorgungsschwierigkeiten nicht gelöst. Amerika vermochte dem Kaiserreich nach wie vor den Ölhahn abzudrehen, und ob Japan, selbst bei einem glücklichen Ausgang des 1\.rieges, von dem höchst unzuverlässigen und unberechenbaren Hitler die nötigen Rohstoffe erhielt, blieb ungewiß. Drittens ließ sich nicht ausschließen, daß doch ein Bündnis zwischen Rußland und Amerika zustande kam, durch welches die USA Luft- und Flottenstützpunkte in Sibirien erhielten, von wo aus sie Japan wirkungsvoll bedrohen konnten. So entschied die Verbindungskonferenz (in welcher Regierungsmitglieder und die militärische Führung gemeinsam berieten) Ende Juni/Anfang Juli 1941, an der Hauptstoßrichtung nach Süden festzuhalten, für welche ja auch der Neutralitätsvertrag mit Rußland geschlossen worden war, und zur Verbesserung der Ausgangslage in Südostasien demnächst das südliche lndochina zu besetzen. Im Norden sollten lediglich die Truppen verstärkt werden, um bei günstiger Gelegenheit, etwa bei einem Zusammenbruch Rußlands, in Sibirien eingreifen zu können. Matsuoka schied danach aus dem Kabinett aus. Den Einmarsch japanischer Truppen in Südindochina Ende Juli 1941 nahm Roosevelt zum Anlaß, dem Kaiserreich die Rohstoffzufuhren endgültig abzudrosseln. N~tchdem schon im Jun(die Ölausfuhr weiter eingeschränkt worden war, entschied
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Roosevelt nunmehr persönlich, es sei eine Handelssperre zu verhängen, was Ende Juli/Anfang August in der Weise geschah, daß die japanischen Guthaben gesperrt und alle strategischen Ausfuhren sowie die Einfuhren aus Japan genehrnigungspflichtig wurden. Britannien und die Niederlande schlossen sich an, wodurch die seit längerem eingeleitete Zusammenarbeit der sog. ABCD-Staaten (Amerika, Britannien, China, Niederlande= engl. Dutch) weiter bekräftigt und Japan vom Welthandel weitgehend ausgeschlossen wurde. In der Vorgeschichte des pazifischen Krieges stellte dies die entscheidende Wende dar. In Washington wiesen verschiedene Stellen zutreffend darauf hin, diese Maßnahme werde Japan in den Krieg treiben; die Stabschefs lehnten die Maßnahme sogar ab, weil Amerika noch nicht genügend auf den Krieg vorbereitet sei. Roosevelt ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken; er glaubte, daß Japan den Krieg nicht sofort wagen, sondern erst einmal abwarten wolle. Damit behielt er recht, denn Konoye suchte weiterhin nach einer Verhandlungslösung und wünschte zeitweise, Roosevelt persönlich zu treffen. Da die amerikanische Seite daran kein Interesse zeigte und bei den fortgesetzten Verhandlungen sich kaum eine Annäherung der Standpunkte ergab, trat Konoye im Oktober zurück. Sein Nachfolger, General Tojo Hideki, wollte einen letzten Versuch unternehmen, durch Verhandlungen zum Ausgleich zu gelangen, und zugleich die bereits eingeleiteten Kriegsvorbereitungen abschließen. Aus klimatischen Gründen mußte der Angriff, falls er unvermeidlich war, gegen Jahresende stattfinden; zudem besaß Japan nur noch Ölvorräte für ein bis zwei Jahre und konnte nicht mehr lange warten. Entweder kapitulierte das Kaiserreich vor den USA, zog seine Truppen aus China zurück (was Konoye gelegentlich erwog) und unterwarf sich wieder der Abhängigkeit von Rohstofflieferungen und Märkten im amerikanisch-britischen Machtbereich, oder Japan besetzte kriegerisch die südostasiatischen Rohstoffgebiete und hoffte dann darauf, gegen Amerika so lange standhalten zu können, daß ein erträglicher Friede möglich wurde. Als auch die letzte Verhandlungsrunde im November 1941 erfolglos blieb, wählte Tokio den Angriff. 19 Sieht man von den versäumten Gelegenheiten ab, nach dem deutschen Westfeldzug auf einen tragfähigen Frieden hinzuarbeiten, so erfolgte die entscheidende Weichenstellung zwischen dem Sommer 1940 und dem Sommer 1941 im deutschrussischen Verhältnis. Der Entschluß zum Krieg gegen die Sowjetunion verschüttete nicht nur alle Möglichkeiten, die bisherige europäische Auseinandersetzung an ein Ende zu bringen und die Ausweitung zum Weltkrieg zu verhindern, er verschüttete nicht nur alle Möglichkeiten, den Krieg auf eine ganz andere Weise fortzuführen, z. B. mit der Rückendeckung durch einen großen eurasischen Block oder durch das Verlegen des Schwerpunkts der Kampfhandlungen ins Mittelmeer, sondern jener Entschluß gilt gemeinhin auch als der schicksalhafte Wendepunkt, an 19 Der deutsch-japanisch-italienische Dreimächtepakt vom 27. 9. 1940 sowie der japanisch-sowjetische Neutralitätsvertrag vom 13. 4. 1941 in Jacobsen, Weg, 82f., 176f. Allgemein Iriye. Herde, 80 und passim. Ike. Krebs. Sommer. Libal. Hillgruber, Strategie. MOFA, Weltkrieg VI, 143 ff., 201 ff. (Beitrag Rahn).
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welchem der zukünftige Niedergang der Achsenmächte eingeläutet wurde. Dabei schienen wirklich ernsthafte Spannungen zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion zunächst nicht zu bestehen. Stalin hatte ursprünglich wohl auf einen langwierigen Krieg Deutschlands gegen die europäischen Westmächte spekuliert. Als sich jedoch der unerwartet schnelle Zusammenbruch Frankreichs abzeichnete, wodurch Hitler in Zukunft größere militärische und politische Bewegungsfreiheit auf dem europäischen Festland erhielt, beeilte sich Stalin, das westliche Vorfeld Rußlands besser abzusichern. Die baltischen Staaten, wo es seit dem Herbst 1939 nur russische Stützpunkte gegeben hatte, wurden ab dem Juni 1940 vollständig besetzt und der Sowjetunion einverleibt; außerdem verlangte Moskau Ende Juni von Rumänien die Herausgabe Bessarabiens und der Nordbukowina. Mit Ausnahme der Nordbukowina ließ sichalldies mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 vereinbaren; hinsichtlich der Nordbukowina ließ sich immerhin ins Feld führen, daß sie weitgehend von Ukrainern besiedelt war. Rumänien, wegen seiner Ölvorkommen für das Reich strategisch unverzichtbar, überdies seit 1939 durch einen Handelsvertrag ganz auf Deutschland ausgerichtet, wandte sich um Hilfe an das Reich, mußte aber noch Ende Juni ein kurzfristiges sowjetisches Ultimatum annehmen. Durch diese Vorgänge bildete sich ein neues Kräfteverhältnis am Ostsaum des mitteleuropäisch-balkanischen Raumes. Nach den Erkenntnissen der deutschen Aufklärung standen im Juli 1940 in den baltischen Ländern 20 sowjetische Infanteriedivisionen und 10 mechanisierte Brigaden, gegenüber der Grenze zum polnischen Gebiet 12 Infanterie- und 12 Kavalleriedivisionen, schließlich gegenüber der neuen rumänischen Grenze 30 Infanterie-, 9 Kavalleriedivisionen und 10 mechanisierte Brigaden. Diesen rund 100 Verbänden konnte Deutschland anfangs fast nichts entgegenstellen, da der Osten während des Frankreichfeldzugs weitgehend entblößt war. Im Laufe des Juni entschloß sich das OKH, die Kräfte im Osten ein wenig zu verstärken, was Haider gelegentlich auf die Formel brachte, man müsse dort Schlagkraft schaffen. Diese "Schlagkraft" bestand dann aus einer Armee und einer Panzergruppe mit insgesamt rund 20 Divisionen, darunter sechs schnellen. Ihr Auftrag lautete, die Ostgrenze zu sichern und bei einem russischen Angriff auf Verstärkung zu warten; an günstigen Stellen sollten sie feindliche Angriffsvorbereitungen durch eigenen Angriff zerschlagen. Die Verlegung der Truppen, die der sowjetischen Seite übrigens mitgeteilt wurde, war eine völlig normale und sehr bescheidene Maßnahme, die mit deutschen Offensivabsichten nicht das geringste zu tun hat; natürlich war es ausgeschlossen, mit rund 20 Divisionen an die 100 gegnerische Verbände anzugreifen. Haider und Brauchitsch kamen in ihrer bereits früher erwähnten Besprechung vom 30. Juli 1940 zu dem Ergebnis: "Die Frage, ob man, wenn gegen England eine Entscheidung nicht erzwungen werden kann und die Gefahr besteht, daß England sich mit Rußland liiert, den dann entstehenden Zweifrontenkrieg zunächst gegen Rußland führen soll, ist dahin zu beantworten, daß man besser mit Rußland Freundschaft hält. Besuch bei Stalin wäre erwünscht. Die Bestrebungen Rußlands an den Meerengen und in Richtung auf den Persischen
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Golf stören uns nicht. Am Balkan, der wirtschaftlich in unseren Wirkungsbereich fallt, können wir uns aus dem Weg gehen. Italien und Rußland werden sich im Mittelmeer nicht wehe tun." Hitler sah das anders. In diesen Untersuchungen wird die Auffassung vertreten, daß Hitler stets an seinem Fahrplan festhielt, nach der Niederwerfung Frankreichs sein Hauptziel zu verwirklichen, nämlich die Eroberung des russischen Lebensraums, durch welche zugleich die von der jüdischen Rasse ausgehenden Gefahren für die moderne Gesellschaft beseitigt werden sollten. Belege dafür lassen sich über die Jahre hinweg immer wieder finden, auch wenn manche dieser Belege angefochten werden. In ihrer Fülle scheinen sie dennoch ein zuverlässiges Bild zu ergeben, und zu den eindrucksvollsten Belegen dürften ja wohl der Rußlandfeldzug selbst sowie insbesondere die Art dieses Krieges zählen, der offenkundig mit Ausrottungsmaßnahmen einherging. Hätte Hitler etwas anderes gewollt, so hätte er ja etwas anderes tun können; da er genau dieses tat, hat er es augenscheinlich auch gewollt. Was nun die genannten Belege betrifft, so berichtet Hitlers Luftwaffenadjutant Below, Hitler habe ihm im November 1939 gesagt, er dränge auf den Angriff im Westen, weil er im nächsten Jahr das Heer wieder frei haben wolle für eine große Operation gegen Rußland. Das paßt durchaus ins Bild und würde erklären, warum Hitler so bald, nach fachmännischen Gesichtspunkten eigentlich zur Unzeit, den Westfeldzug beginnen wollte. Zugleich bestätigt es das, wovon hier immer wieder die Rede ist, daß nämlich Hitler ein von seinen Vorurteilen getriebener Fanatiker war, der vernunftgemäße Sacherwägungen regelmäßig seiner wirren Weltanschauung und seinem Dilettantismus zum Opfer brachte. In diesem Zusammenhang traf Below auch das Richtige, wenn er meinte: "Ich stand immer unter dem Eindruck, daß die Offiziere des Generalstabes des Heeres, an der Spitze Haider, nie zu Hitler, seinen Plänen und Anordnungen standen, sondern ganz andere Auffassungen verfolgten." So war es in der Tat, auch wenn dieser Unterschied heutzutage gern verkleistert wird. Jodl erinnerte sich im Jahr 1943, der Führer habe ihm bereits während des Westfeldzugs seinen grundlegenden Entschluß mitgeteilt, der bolschewistischen Gefahr zu Leibe zu rücken, sobald es die militärische Lage irgendwie erlaube. Bei einem Gespräch mit Rundstedt und seinem Stabschef Sodenstern am 2. Juni 1940 sagte Hitler, wenn England jetzt zum Friedensschluß bereit sei, was er erwarte, dann habe er endlich die Hände frei für seine große und eigentliche Aufgabe - die Auseinandersetzung mit dem Bolschewismus. Die Frage sei nur: "Wie sage ich es meinem Kinde?", d. h. also, wie könne Hitler dies der Wehrmacht und dem Volk begreiflich machen. Vor dem Hintergrund solcher Willensbekundungen des Diktators werden die einschlägigen Vorgänge im Sommer 1940 leichter verständlich. Das Wehrmachtführungsamt wurde Ende Juni/Anfang Juli mit Vorarbeiten für einen Rußlandfeldzug im Herbst 1940 betraut. Haider hatte am 3. Juli eine Rücksprache mit seinem Chef der Operationsabteilung, Oberst (bald darauf Generalmajor) Greiffenberg, über operative Fragen. Dazu hielt er fest: "Im Vordergrund steht zur Zeit die Frage England, die gesondert behandelt werden wird, und die Frage des
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Ostens. Letztere muß man von dem Hauptgesichtspunkt betrachten, wie ein militärischer Schlag gegen Rußland zu führen ist, um ihm die Anerkennung der beherrschenden Stellung Deutschlands in Europa abzunötigen. Daneben können Sondergesichtspunkte, wie Ostseeländer oder Balkanländer, Varianten veranlassen." Die Stelle läßt sich nicht so leicht erklären, wie meistens angenommen wird. Vor allem erheben sich zwei Fragen: Wie kam Haider dazu, und was bezweckte er damit? Einfacher läßt sich beantworten, wie er dazu kam. Da es nicht zu den Aufgaben des Generalstabschefs gehörte, ungefragt Feldzugspläne zu entwickeln, schon vollends nicht für einen Angriffskrieg (was er auch sonst nie tat), ist es von vornherein wahrscheinlich, daß er einen Auftrag erhielt. Das scheint so gewesen zu sein, denn nach den vorliegenden Zeugnissen dürfte ihn Brauchitsch gebeten haben, sich über einen Krieg gegen die Sowjetunion Gedanken zu machen, damit das OKH nicht unvorbereitet vor eine Frage gestellt werde. Demnach hätte es sich um theoretische und unverbindliche Überlegungen gehandelt, die nur dazu dienten, dem OKH einen ersten Überblick zu verschaffen. Dazu paßt ausgezeichnet, daß im Generalstab wegen dieser Angelegenheit in den nächsten Wochen nichts Wesentliches geschah. Es gab keine Aufmarschanweisung, es gab keine Kriegsspiele, es gab keine Überlegungen zum Nachschub, Haider und Greiffenberg kümmerten sich kaum um die Angelegenheit, vielmehr holten sie einen nachgeordneten Gehilfen, den Oberstleutnant und Operationsoffizier eines Korps Feyerabend in den Generalstab, der sich mit dieser Nebensache beschäftigen sollte. 20 Damit gerät man bereits in die Nähe der Frage, was Haider mit der genannten Anweisung an Greiffenberg bezweckte. Der Wortlaut ist insoweit unbestimmt, als man noch nicht einmal mit völliger Sicherheit sagen kann, Haider habe einen Angriffskrieg im Auge gehabt; denkbar wäre auch ein Gegenschlag bei russischen Angriffsvorbereitungen. Auf jeden Fall aber blieb offen, wann und wie eine solche Operation stattfinden sollte;,der Zeit- und Kräftebedarf mußte augenscheinlich erst ermittelt werden. Am 21. Juli fand nun eine Besprechung Hitlers mit den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte statt, über welche Haider tags darauf von Brauchitsch unterrichtet wurde. Haider zeichnete darüber auf, dem Führer sei gemeldet, daß der Aufmarsch vier bis sechs Wochen dauere, daß man 80 bis 100 eigene Divisionen benötige, weil Rußland nur 50 bis 75 gute Divisionen besitze, daß man das russische Heer schlagen solle oder wenigstens so weit russischen Boden in die 2o Zur Verlegung deutscher Truppen nach dem Osten und zum Stärkeverhältnis MGFA, Weltkrieg IV, 202ff., 209 (Beitrag Klink). Haider über Schlagkraft im Osten (25. 6. 1940) sowie die Besprechung mit Brauchitsch vom 30. 7. 1940 in Halder, KTB I, 372; II, 46. Hitler über West- und Ostangriff im November 1939 sowie Belows Eindruck vom Generalstab bei Below, 217, 316. Jodl1943 über Hitlers Entschluß zum Ostkrieg in KTB OKW IV/2, 1540. Hitler zu Rundstedt und Sodenstern bei Klee, Seelöwe, 189. Vorarbeiten des Wehrmachtführungsamts für einen Ostfeldzug nach Hillgruber, Noch einmal: Hitlers Wendung gegen die Sowjetunion 1940, in Hillgruber, Zerstörung, 245. Halders Rücksprache mit Greiffenberg am 3. 7. 1940 in Halder, KTB II, 6. Über den Auftrag hierzu durch Brauchitsch Klee, Seelöwe, 191, Anm. 521. Zur Tätigkeit des Generalstabs in dieser Sache Halder, KTB II, 8 (Kinzel), 39 (Feyerabend) und passim.
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Hand nehmen, als nötig sei, um feindliche Luftangriffe gegen Berlin und das schlesische Industriegebiet zu verhindem sowie ein paar weitere Einzelheiten, die gleich noch zur Sprache kommen werden. Über diese Stelle herrscht seit Jahrzehnten großes Rätselraten. Häufig wird angenommen, Brauchitsch habe dem Führer diese Dinge gemeldet, bis hin zu der wirren Behauptung, im Grunde gehe dies alles auf Haider zurück, der spätestens seit Anfang Juli einen Feldzug gegen die Sowjetunion vorbereitet und ihn noch im Herbst 1940 habe durchführen wollen. In Wahrheit lassen sich die Vorgänge ziemlich einfach erklären, wenn man über einen gewissen militärischen Sachverstand verfügt (was freilich bei vielen Geschichtsschreibern nicht der Fall ist) und wenn man sich einmal der Mühe unterzieht, die Quellen wirklich zu lesen, statt immer nur seine eigenen Vorurteile an sie heranzutragen. In Halders Aufzeichnung heißt es am Anfang: "Russisches Problem in Angriff nehmen. Gedankliche Vorbereitungen treffen." Als letzter Punkt erscheint das folgende: "Operation: Welche Operationsziele können wir stellen? Welche Kräfte? Zeit und Raum der Bereitstellung? Operationsbahnen: Baltikum, Finnland Ukraine. Berlin und schlesische Gebiete schützen. Rumänische Ölzentren schützen." Das sind offenbar Aufträge; die Frage eines Krieges gegen Rußland sollte durchdacht, die Operationsziele sollten festgestellt, Kräfte- und Zeitbedarf geklärt werden, außerdem wurden bereits einige Festlegungen getroffen über die Anlage der Operationen (Operationsbahnen) sowie über ihren Zweck (Schutz Berlins etc.). Diese Aufträge stammten von Hitler, denn Brauchitsch berichtete ja über das Gespräch mit ihm, und wurden nun an Haider weitergereicht Vergleicht man diese Aufträge mit dem, was Hitler gemeldet worden war, so sieht man sofort, daß die Meldung unmöglich von Brauchitsch stammen kann. Wenn Brauchitsch gemeldet hätte, daß der Aufmarsch vier bis sechs Wochen dauere, warum hätte dann das OKH noch feststellen sollen, wie lange der Aufmarsch dauere (,,Zeit und Raum der Bereitstellung")? Wenn Brauchitsch gemeldet hätte, man benötige 80 bis 100 Divisionen, warum hätte dann das OKH noch den Kräftebedarf ermitteln sollen ("welche Kräfte")? Wenn Brauchitsch gemeldet hätte, was mit der Operation erreicht werden solle, warum mußte sich dann das OKH Gedanken darüber machen, welche Operationsziele es stellen könne? Hat man das erst einmal begriffen, dann klärt sich die Angelegenheit. Das, was in Halders Aufzeichnung zu finden ist, hat Brauchitsch jedenfalls nicht gemeldet, und möglicherweise hat er überhaupt nichts gemeldet. Es ist durchaus vorstellbar, daß Hitler dem Oberbefehlshaber des Heeres lediglich seinen eigenen Kenntnisstand mitteilte und das OKH aufforderte, seinerseits Stellung zu beziehen. Das würde gut zu der vorhin erwähnten Äußerung Hitlers passen, "wie sage ich es meinem Kinde?", d. h. Hitler tastete sich erst an die Sache heran und wollte das OKH nicht überfahren, weil er genau wußte, daß es seine Abenteuer beargwöhnte. Woher bezog dann Hitler seinen Kenntnisstand? Abgesehen von der gelegentlich geäußerten Vermutung, Hitlers Chefadjutant Schmundt könnte der Einbläser gewesen sein, liegt die Annahme nahe, die Quelle sei im OKW zu suchen, das ja bereits mit
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entsprechenden Vorarbeiten beauftragt worden war. Dem widerspricht nur scheinbar der Umstand, daß Keitel und Jodl, als sie von Hitlers Absicht erfuhren, noch im Herbst 1940 einen Angriff auf Rußland zu beginnen, dies in einer Denkschrift zurückwiesen. Wahrscheinlich hat Hitler sich vorläufig vom OKW unterrichten lassen, hat die Mitteilungen dann, wie es seine Gewohnheit war, mit allerlei eigenen Eingebungen verrührt und den so entstandenen Gedankenbrei dem Oberbefehlshaber des Heeres aufgetischt. Es muß deshalb längst nicht alles, was dem Führer angeblich gemeldet war, aus dem OKW stammen; etliche der Auslassungen, die in Halders Aufzeichnung erscheinen, sind so typisch für das unvergorene Denken Hitlers, kehren auch später bei ihm wieder, daß sie nur im Hirn des Diktators entstanden sein können. Die Offiziere des OKW waren vielleicht Hitler-hörig, aber nicht so unbedarft, daß sie elementare militärische Tatsachen übersahen. Selbst wenn der Aufmarsch nur vier bis sechs Wochen dauerte, konnte der Feldzug gegen Rußland frühestens im September beginnen, so daß bis zum Herbstschlamm, der Bewegungen aufs stärkste behinderte, lediglich ein paar Wochen blieben. Was hätte man denn in dieser Zeit erreichen wollen? Keitel und Jodl wußten, daß ein solcher Feldzug sinnlos war, und selbst Hitler hat es kurz darauf eingesehen. Die einzigen, die es nicht wußten, sollen Haider und Brauchitsch gewesen sein, denn sie sollen nach Auffassung heutiger Historiker einen Herbstfeldzug befürwortet haben. Heilige Einfalt !21 Richtig ist demgegenüber, daß Haider und Brauchitsch einen Krieg gegen die Sowjetunion überhaupt nicht wünschten, weder im Herbst 1940 noch zu einer anderen Zeit, wie es bei ihrer Besprechung vom 30. Juli 1940 zum Ausdruck kam: Man solle besser mit Rußland Freundschaft halten. Was bezweckte dann Haider mit seiner Anweisung an Greiffenberg vom 3. Juli? Den Krieg jedenfalls nicht, sondern er gab Greiffenberg den Auftrag, einmal grundsätzlich die Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland zu bedenken, sei es zur Abwehr einer Bedrohung oder sei es aus anderen Gründen. Dies kleidete er in die präzise Sprache des Gene21 Besprechung Hitlers mit Brauchitsch am 21. 7. 1940 in Halder, KTB II, 30ff., hier 32f. (Punkt 8 der Aufzeichnung Halders vom 22. 7. 1940). Dazu Klee, Seelöwe, 191, Anm. 520. Die Vermutung über Einflüsterungen Schmundts bei Cecil, Decision, 74. Über den Widerstand des OKW gegen einen Herbstfeldzug Warlimont I, 127 f. Zur Entwicklung der Ansichten in der Geschichtsschreibung: Hillgruber, Strategie, 207 ff., hatte in Hitler noch den Hauptantreiber für einen Feldzug gegen Rußland im Herbst 1940 gesehen, hatte indes gemeint, Brauchitsch und Haider hätten dies befürwortet. Später hat dann ein gewisser Barry Leach die Behauptung aufgebracht, Haider und Brauchitsch hätten von sich aus seit dem Juni 1940 die Absicht gefaßt, Rußland im Herbst 1940 im Wege des Angriffskriegs zu schlagen. Leach, Strategy, 52 ff. und passim. Dies wurde noch einmal vergröbert in einem Beitrag von Klink zu MGFA, Weltkrieg IV, dort 202ff., 207, 212ff., wo es heißt, Haider (er in erster Linie) sowie Brauchitsch hätten durch einen begrenzten Schlag gegen die Sowjetunion im Herbst 1940 einen glücklichen Kriegsausgang sichern und damit zugleich England zum Einlenken zwingen wollen. Obwohl eine widerspruchsfreie, auf die Quellen gestützte Gedankenführung nirgendwo erkennbar ist, gelten derlei Ungereimtheiten heutzutage als Beitrag zur Forschung und werden von anderen übernommen. MGFA, Weltkrieg IV, 9ff., l4f. (Beitrag Förster). Stegemann, Entschluß. Vgl. ferner die Beiträge in dem Sammelband von Bamett, Generals.
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ralstabs und legte gleich fest, wozu ein solches Unternehmen dienen sollte: Der Sowjetunion die Anerkennung der beherrschenden Rolle Deutschlands in Europa abzunötigen. Das war ein politisches Ziel im herkömmlichen Sinne, nicht ein weltanschauliches wie bei Hitler, und es bezog sich, wie der Ausdruck "abnötigen" zeigt, nicht auf die Vernichtung der Sowjetunion, also auch nicht auf die Beherrschung dieses Staates selbst, sondern es bezog sich darauf, die Stellung Deutschlands in Europa, wie es sie durch den Frankreichfeldzug erlangt hatte, gegenüber der Sowjetunion zu wahren. Sollte ein Krieg gegen Rußland unumgänglich werden, dann mußte dieses dazu gebracht: dazu genötigt werden, Deutschlands Rolle als einer die anderen europäischen Mächte überragenden Macht anzuerkennen. Genau dasselbe hat Haider übrigens auch nach dem Krieg gesagt, wenn er ausführte, die deutschen Streitkräfte hätten 1941 ausgereicht, große Teile der westlichen Sowjetunion zu besetzen als strategisches Vorfeld und als Faustpfand für Friedensverhandlungen. Der öfters unternommene Versuch, dem Generalstabschef nachträgliche Verdrehungen und Beschönigungen vorzuwerfen, findet in den Quellen keine Stütze - sofern nicht die Quellenaussagen grob fahrlässig oder vorsätzlich böswillig verdreht werden. Wie dem auch sei, Haider selbst wurde in der Frage eines Rußlandfeldzugs erst tätig, nachdem ihm Brauerutsch am 22. Juli Hitlers Auftrag übermittelt hatte, gedankliche Vorbereitungen zu treffen, und zwar wohlgemerkt nur gedankliche, noch keine anderen. Einen Angriffsaufmarsch gab es nach wie vor nicht und auch sonst keine konkreten Vorbereitungen. In den nächsten Tagen machte sich Haider erstmals Gedanken über die Anlage einer Ostoperation, wobei bereits jetzt ein grundlegender Unterschied zwischen seinen fachmännischen Überlegungen und den dilettantischen Ansichten, die Hitler gegenüber Brauchitsch geäußert hatte, deutlich wurde. Auf diese Dinge wird noch einzugehen sein; vorläufig sei nur erwähnt, daß Haider den Generalstabschef der 18. Armee, die im Osten das Oberkommando innehatte, nämlich den General Marcks, zum Generalstab kommandieren ließ, damit er einen Operationsentwurf erstellte. Das zeigt, daß die eigentlich zuständigen Leute des Generalstabs, nämlich Haider und Greiffenberg (die Stelle des Oberquartiermeister I war seit dem Ausscheiden Stülpnagels nicht besetzt), nach wie vor keine Zeit oder keine Lust hatten, sich eingehend mit dieser Sache zu befassen. Daran änderte sich auch nicht viel, als Hitler bei einer Besprechung mit Brauchitsch, Halder, Keitel und Jodl am 31. Juli 1940 verkündete, er habe den Entschluß gefaßt, Rußland zu erledigen durch einen Feldzug, der im Mai 1941 beginnen solle. Hitler gab zu, daß er am liebsten noch in diesem Jahr (1940) zugeschlagen hätte. Das gehe aber nicht, um die Operation einheitlich durchzuführen. Die Operation habe nur einen Sinn, wenn der russische Staat in einem Zug schwer zerschlagen werde. Bei einem Herbstfeldzug 1940 wäre das nicht der Fall gewesen; gewisser Raumgewinn allein genüge nicht, und das Stillstehen im Winter sei bedenklich. Auf die Denkgewohnheiten der Offiziere war es vermutlich zugeschnitten, wenn Hitler seinen Entschluß nicht etwa mit weltanschaulichen Erwägungen begründete, sondern ein gewaltiges außenpolitisches Panorama entfaltete. England
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setze, so meinte er, seine Hoffnungen auf Rußland und Amerika. Wenn Rußland entfalle, dann werde Amerika durch Japan in Ostasien gebunden, so daß England alleinstehe. Haider und Brauchitsch dürften durch diese merkwürdige Konstruktion weniger überzeugt als vielmehr verblüfft worden sein, so daß sie sich eines Kommentars enthielten. Ob Hitler seine Argumentation selbst geglaubt hat, ist zweifelhaft. Am 17. Dezember 1940 betonte er gegenüber Jodl, "daß wir 1941 alle kontinentaleuropäischen Probleme lösen müßten, da ab 1942 USA in der Lage wäre, einzugreifen." Die wirklichen Gedanken des Diktators scheint dies besser wiederzugeben. Ähnlich wie sich Hitler 1939 unter Zeitdruck gefühlt hatte, die erste Etappe seines Fahrplans durchzuführen, ehe die europäischen Westmächte in der Rüstung aufgeholt hatten, fühlte er sich 1940 unter Zeitdruck, die Sowjetunion auszuschalten, ehe die westlichen Seemächte Deutschland so stark fesselten, daß es zu einer Auseinandersetzung mit Rußland zu schwach war. 22 In der Rückschau ist es leicht, Hitlers Willensbekundung vom 31. Juli 1940 als dasjenige Ereignis zu deuten, bei welchem die Wendung nach Osten als unwiderruflicher Entschluß in Erscheinung trat. Für die Zeitgenossen freilich war das nicht so eindeutig. Haider meinte nach dem Krieg, der endgültige Entschluß zum Ostfeldzug sei bei Hitler erst sehr spät gefallen, möglicherweise erst im Frühjahr 1941. Das mag ein Irrtum sein oder auch nicht; jedenfalls hatte das OKH zunächst keinen Anlaß, Hitlers Meinungsbildung schon als abgeschlossen zu betrachten. Besprechungen zwischen dem Diktator und dem OKH wegen der Rußland-Angelegenheit fanden bis zum 5. Dezember 1940 nicht mehr statt; dafür schien aber die außenpolitische Lage in Fluß zu geraten, als einerseits die französischen Annäherungsversuche erkennbar wurden und andererseits, noch wichtiger, mit dem Dreimächtepakt vom September 1940 sowie den späteren Verhandlungen mit Moskau die Umrisse einer eurasischen Liga sich abzeichneten, wodurch ein Krieg gegen Rußland von selbst entfallen wäre. Die Vorbereitungen für einen Rußland-Feldzug blieben daher anfangs eine Randerscheinung. Mit Angriffsabsichten hatte es nichts zu tun, wenn ab August die Ostsicherung verstärkt und fortan von einer Heeresgruppe mit 35 Divisionen wahrgenommen wurde. Allenfalls der Ausbau des Heeres kann als Vorbereitungsmaßnahme gelten, wiewohl verstärkte Rüstung allgemein noch kein Beweis für Kriegswillen ist.
Eben diese verstärkte Rüstung wirft nun einige Fragen auf. Die Monate Juni und Juli 1940 bilden eine Zeit schnell wechselnder und bald wieder umgestoßener Entscheidungen auf dem Rüstungsgebiet, weil ein ausgearbeiteter Kriegs- oder Rüstungsplan bekanntlich fehlte und Hitler in seiner sprunghaften Art noch um den Entschluß rang, wie der Krieg weiterzuführen sei. Am 7. Juni äußerte sich Hitler dahingehend, der Rahmen des Heeres solle, vorbehaltlich etwaiger Vorschläge 22 Haider über mögliche Ziele eines Rußlandfeldzugs 1941 in Halder, Hitler, 37. Haider über Anlage Ostoperation in seinem KTB ll, 37 (Kinzel, 26. 7. 1940), 39 (GreiffenbergFeyerabend, 27. 7. 1940), 41 (Marcks, 29. 7. 1940). Hitler über Ostfeldzug am 31. 7. 1940 in Halder, KTB ll, 49f. Hitler zu Jod!, 17. 12. 1940, in KTB OKW 112,996.
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durch den Oberbefehlshaber des Heeres, auf 120 vollwertige Divisionen unter entsprechender Kürzung auch der Heerestruppen zurückgeführt werden. Da das Heer zu dieser Zeit knapp 160 Divisionen urnfaßte, scheint dies eine kräftige Verringerung zu beinhalten. Es ist jedoch schon hier festzuhalten, daß die Äußerung drei Einschränkungen machte: Erstens war die Rede vom Rahmen des Heeres, nicht vom Heer schlechthin; zweitens sollte es sich um 120 vollwertige Divisionen handeln, nicht um irgendwelche Divisionen; und drittens sollte Brauchitsch seine Meinung dazu sagen. Zur Vollwertigkeit der Divisionen gehörte auch, daß die Zahl der schnellen Divisionen zu verdoppeln war, so daß die, Gesamtzahl von 120 zugleich 20 Panzer- und 10 motorisierte Divisionen einschloß. Im Grundsatz galt diese Willensbekundung Hitlers bis Ende Juli, woraus in der Geschichtsschreibung gelegentlich der Schluß gezogen wurde, Hitler könne im Juni und Juli einen Angriff auf die Sowjetunion nicht beabsichtigt haben, weil er sonst schwerlich die Verkleinerung des Heeres befohlen hätte. Die Ansicht, zur Vorbereitung des Ostfeldzugs habe man nicht die Landstreitkräfte vermindern können, wird freilich auch in anderer Form vertreten, und zwar nunmehr gemünzt auf Halder. Da der Generalstabschef im Juni und Juli einen Rußland-Feldzug geplant habe, so heißt es, habe er auch die Verkleinerung des Heeres hintertrieben. In Wahrheit sind diese angeblichen Pläne Halders eine reine Erfindung. Derartiges läßt sich natürlich nicht empirisch bestätigen, und so ist in der Tat die Behauptung, Haider habe die Heeresverminderung unterlaufen, auf nichts anderes gegründet als Vermutungen. Um zu verstehen, worum es wirklich ging, muß man sich vor Augen halten, daß vor Kriegsausbruch das deutsche Heer 53 aktive Divisionen des Friedensheeres und 50 Reservedivisionen umfaßt hatte, die dann zusammen das Feldheer bildeten. Beim Kriegsheer trat neben das Feldheer noch das Ersatzheer, d. h. die in der Heimat verbleibenden Dienststellen, Wachtruppen und Ausbildungseinrichtungen, wobei aus dem Ersatzheer im Bedarfsfall zusätzliche Verbände gebildet werden konnten. So waren bis zum Ende des Westfeldzugs die ursprünglich 103 Divisionen auf fast 160 angewachsen. Bei der Zurückführung des Heeres auf 120 Divisionen ging es nicht schlechterdings um eine Verminderung, sondern um eine Neuorganisation. In diesem Sinn wies der Munitionsminister Todt Anfang Juli seine Mitarbeiter darauf hin, es sei das Ziel des Führers, die Armee so weit auszubauen ( !), daß sie der Summe aller Feindarmeen gewachsen sei. Durch OKW-Erlaß vom 9. Juli wurde ein neues Rüstungsprogramm angeordnet, das zugleich eine Neuordnung des künftigen Friedensheeres vorsah. Dieses neue Heer sollte die besagten 120 Divisionen umfassen, dazu ein Ersatzheer und eine Reserve für Neuaufstellungen bis zu einer Gesamtstärke von 160 Divisionen. Verglichen mit dem Vorkriegsheer wäre also das stehende Heer mehr als verdoppelt worden, während die Zahl der Reservedivisionen etwas zurückgehen sollte (von früher 50 auf jetzt höchstens 40). Was die Sache ein wenig verwirrend macht, ist der Umstand, daß Hitler von den vorhandenen knapp 160 Divisionen knapp 40 auflösen wollte, teils um Arbeitskräfte für Industrie und Landwirtschaft freizumachen, teils weil das Personal der früheren Reservedivisionen vielfach überaltert war und teils um die verbleibenden
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Divisionen aufzufüllen. Die Frage der Auflösung oder Nichtauflösung der besagten knapp 40 Divisionen war ein technisches Problem, denn wenn man sofort 40 Divisionen demobilisierte, zerriß man eingespielte Verbände, die man später, wenn über die 120 Divisionen hinaus Reserven zu bilden waren, ja doch wieder aufstellen mußte. Zwischen Hitler und Brauchitsch wurde darüber verhandelt, doch stand dabei nicht zur Debatte, ob das Heer vermindert werden solle oder nicht, sondern es stand zur Debatte, wie man neben den 120 Divisionen die unumgänglichen Reserven gewinnen könne. Brauerutsch bezog dabei durchgängig den Standpunkt, daß zwar von den alten Reservedivisionen eine Anzahl der schwächsten aufgelöst werden sollte, daß aber die übrigen wenigstens in ihrem organisatorischen Gefüge zu erhalten waren. Mitte Juli setzte er sich damit schließlich durch, so daß nur 17 Divisionen endgültig aufgelöst wurden, während von weiteren 18 das Personal zu 60 % langfristig beurlaubt wurde. Welche Rolle Haider dabei spielte, ist unklar. Im Generalstab war gelegentlich von nur 62 Divisionen des Friedensheeres die Rede, was möglicherweise darauf hindeutet, daß Haider ein kleineres, aber schlagkräftiges Heer befürwortet hätte. 23 All dies wurde hinfällig, als Hitler am 31. Juli, im Zusammenhang mit dem für 1941 vorgesehenen Ostfeldzug, die Vermehrung des Heeres auf 180 Divisionen befahl. Das OKW muß dies schon vorher gewußt haben, da Keitel einige Tage früher gegenüber General Thomas entsprechende Andeutungen machte. Für Hitler selbst ergab sich keine allzu große Änderung, da er für den Osten genau 120 Divisionen veranschlagte. Im September wurde die Rüstung, die seit Juli auf die Bedürfnisse eines Krieges gegen England ausgerichtet war, erneut umgesteuert zugunsten einer verstärkten Heeresrüstung. War das fortwährende Umsteuern der Rüstung schon reichlich unzweckmäßig, weil es das gleichmäßige Erzeugen störte, so stellte es auch die Ernsthaftigkeit der Hitlerschen Entschlüsse in Frage. Dem Umsteuern der Rüstung gegen England folgte dennoch keine Landung; mußte dem Umsteuern der Rüstung gegen Rußland ein Krieg folgen? Aus der Entwicklung der außenpolitischen Lage ergab sich die Antwort vorderhand ebenfalls nicht. Moskau hatte im Juni, neben der Besetzung der früher erwähnten Gebiete, gegenüber den verbliebenen Ländern Zwischeneuropas eine diplomatische Offensive begonnen, deren Beweggründe schwer zu deuten sind, die es aber jedenfalls verdiente, auf deutscher Seite sorgfaltig beobachtet zu werden. Von Finnland hatte Moskau das Abtreten der Konzession für die Nickelerzgruben bei Petsamo gefordert, es hatte begonnen, die aus dem Versailler System herrührenden territorialen 23 Haider über Hitlers Entschluß in Halder, Hitler, 36. Hitler über 120 Divisionen, 7. 6. 1940, nach OKW-Erlaß, 14. 6. 1940, in Thomas, Wehrwirtschaft, 406f. Die These, Hitler habe Juni/Juli den Ostkrieg nicht gewollt, bei Stegemann, Entschluß, 206. Schustereit, Vabanque, 20 ff. Die angebliche Absicht zur Heeresvermehrung bei Haider in MGFA, Weltkrieg VII, 833 ff., 838 (Beitrag Kroener). Todt über Heeresausbau nach Hillgruber, Strategie, 259 (5./6. 7. 1940). Der OKW-Erlaß vom 9. Juli 1940 in Thomas, Wehrwirtschaft, 408 ff. Dazu Aktennotiz von Thomas, 20. 8. 1940, in KTB OKW U2, 968f. Ferner Müller-Hillebrand II, 62 ff. Halder, KTB I, 363; li, 20, 22, 26 f.
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Revisionsforderungen Ungarns und Bulgariens gegenüber Rumänien zu unterstützen, es hatte diplomatische Beziehungen zu Jugoslawien aufgenommen, und schließlich hatte es von der Türkei die Rückgabe der im Ersten Weltkrieg verlorenen kaukasischen Provinzen Kars und Eriwan sowie das Einräumen militärischer Stützpunkte an den Meerengen verlangt, was die türkische Seite mit der Feststellung zurückwies, das Beharren auf solchen Forderungen stelle einen Kriegsgrund dar. Insgesamt schickte sich die Sowjetunion offenbar an, die außenpolitischen Bahnen des zaristischen Rußland wieder zu beschreiten, d. h. neben der Rückgewinnung verlorener Gebiete auch nach bestimmendem Einfluß auf dem Balkan und an den türkischen Meerengen zu trachten. Für Deutschland brauchte dies nicht gefährlich zu sein, solange freundschaftliche Beziehungen zwischen Berlin und Moskau bestanden; unter dieser Voraussetzung ließ sich eine Einigung wohl bewerkstelligen, wie Haider und Brauchitsch in ihrer mehrfach erwähnten Abstimmung vom 30. Juli festhielten. Anders lagen die Dinge, wenn Stalin insgeheim den Plan verfolgte, Deutschland im Kampf gegen die anglo-amerikanischen Seemächte ausbluten zu lassen, um es zu gegebener Zeit politisch oder militärisch unter Druck zu setzen. Falls Rußland inzwischen Länder wie Finnland, Rumänien und die Türkei von sich abhängig machte, geriet Deutschland schon wirtschaftlich in eine ausweglose Lage. Ohne Nickel aus Finnland, ohne Öl aus Rumänien, ohne Chrom aus der Türkei war die deutsche Wirtschaft fast vollständig von Rußland abhängig, das ihr nahezu alles liefern konnte - oder Deutschland war, sofern die Lieferungen verweigert wurden, nach Belieben erpreßbar. Um die Erpreßbarkeit auszuschließen, mußte jedenfalls dafür gesorgt werden, daß die unverzichtbaren Rohstofflieferanten, wozu außer den genannten auch andere Balkanländer sowie Schweden gehörten, nicht oder zumindest nicht ungehemmt unter sowjetische Aufsicht fielen. Eine gewisse Abhängigkeit des Reiches von Rußland blieb dann zwar immer noch erhalten, etwa bei Öl, Mangan und anderem, und insofern auch eine gewisse Erpreßbarkeit, doch machte sie Deutschland nicht gänzlich wehrlos. Solange Amerika nicht im Krieg stand, vermochte Deutschland sich zu behaupten, notfalls auch gegen die Sowjetunion. Ein Krieg gegen Rußland konnte bei offenkundiger Erpressung, bei sowjetischem Angriff auf einen Rohstofflieferanten wie Rumänien oder beim Angriff auf das Reich notwendig werden. Ob ein Verteidigungskrieg einem Angriffskrieg vorzuziehen war, läßt sich schwer sagen, da dies auf der deutschen Seite nicht durchgespielt wurde, man darf es aber vermuten. Wahrscheinlich wäre es der Wehrmacht gelungen, im polnisch-westrussischen Vorfeld, nahe den eigenen Kraftquellen und mit günstigen Nachschubverhältnissen, einen sowjetischen Ansturm so schwer zusammenzuschlagen, daß anschließend ein Gegenstoß tief ins russische Hinterland möglich wurde. Wenn freilich die Wehrmacht erst zu großen Teilen im Kampf gegen die Westmächte gebunden war, dann würde sie wohl auch einem russischen Angriff im Rücken nicht mehr gewachsen sein. Im Sommer und Herbst 1940 ließ sich indes noch nicht absehen, ob es dahin kommen würde. Seit Juli versuchte Hitler, die Gegensätze zwischen Rumänien,
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Ungarn und Bulgarien auszugleichen, um einen drohenden Krieg oder gar das Eingreifen der Sowjetunion abzuwenden. Dies gelang, als Rumänien und Ungarn sich der Vermittlung durch Deutschland und Italien unterwarfen, die im zweiten Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 die Rückgabe von Nordsiebenbürgen an Ungarn festlegten. Rumänien, das außerdem die südliche Dobrudscha an Bulgarien abtrat, erhielt dafür eine Garantie seines Besitzstandes durch die Achsenmächte. Infolge dieser Ereignisse kam in Rumänien eine diktatorische Regierung unter Marschall Antonescu zustande, die sich eng an Deutschland anlehnte und die Entsendung einer deutschen Militärmission erbat. Rumänien wurde damit zu einem deutschen Satelliten; die Militärmission, deren Eintreffen im Oktober den Auslöser für Mussolinis Griechenland-Feldzug abgab, sollte das Ölgebiet schützen und nötigenfalls einen gemeinsamen Krieg gegen Rußland vorbereiten. Mit Finnland, das sich durch russische Truppenansammlungen an der Grenze und durch Truppentransporte nach dem sowjetischen Stützpunkt Hangö bedroht fühlte, wurde im September ein Abkommen über den Transit deutscher Truppen nach Nordnorwegen geschlossen, was darauf hinauslief, daß nun im Bedarfsfall auch deutsche Truppen zum Schutz Finnlands eingesetzt werden konnten. Sowjetischen Ausdehnungsgelüsten in Finnland und auf dem Balkan war damit fürs erste ein Riegel vorgeschoben; ohne Landverbindung vermochte Rußland weder auf den Balkan noch zu den türkischen Meerengen vorzudringen. Allerdings besetzten russische Truppen im Oktober einige Inseln im Donau-Delta am Schwarzen Meer, während Moskau den Anspruch anmeldete, die Donaumündung zu überwachen, d. h. in rumänischen Angelegenheiten ein Mitspracherecht zu erlangen. Ob das Dritte Reich und die Sowjetunion ihre beiderseitigen Ansprüche entlang der Trennungslinie ihrer jeweiligen Machträume auf friedlichem Weg ausgleichen könnten oder nicht, war demnach die Frage, die sich im Herbst 1940 stellte. Daß es auf friedliche Weise geschehen müsse, bildete einen Grundgedanken des japanischen Plans einer großen eurasischen Liga, wie er vor allem von Matsuoka vertreten wurde. Im Zusammenhang mit dem Dreimächtepakt vom September griffen Hitler und Ribbentrop den Plan auf. Hatte Ribbentrop schon den Zweck des Dreimächtepakts darin erblickt, wie er später glaubwürdig aussagte, daß dadurch unter Umständen die USA neutralisiert und England isoliert werden könnten, um dann auf dieser Basis doch noch zu einem Kompromißfrieden mit Britannien zu kommen, so sollte die Erweiterung des Dreimächtepakts zum Viermächtepakt (Deutschland- Italien- Japan- Rußland) erst recht diesem Zweck dienen. Damit wurde in gewisser Weise das Spiel vom August 1939 wiederholt, als Hitler und Ribbentrop vom Nichtangriffsvertrag mit der Sowjetunion eine solch abschreckende Wirkung auf Britannien erhofft hatten, daß dieses nicht in den Krieg um Polen eingriff, was dann immerhin insoweit erreicht worden war, als die europäischen Westmächte im Sitzkrieg monatelang untätig geblieben waren. Ein neuerlicher Versuch dieser Art schien insofern nicht aussichtslos zu sein, als im Rahmen des Matsuoka-Planes Rußland nach Süden, in Richtung auf den Indischen Ozean, abgelenkt werden sollte. Falls die Sowjetunion sich in den eurasischen Block ein-
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fügte und tatsächlich das Vorfeld Indiens sowie dieses selbst bedrohte, dann mochte sich Britannien veranlaßt sehen, den Krieg gegen Deutschland einzustellen, damit nicht das Empire von Deutschland, Rußland und Japan gemeinsam zerschlagen wurde. Damit hätte Hitler erreicht, was er seit Jahren anstrebte: den Ausgleich mit England und die Rückenfreiheit für den Krieg gegen Rußland - einen Krieg, der sich vielleicht sogar mit britischem Wohlwollen führen ließ, weil er zugleich Indien schützte. Die USA wurden unter solchen Umständen vermutlich neutralisiert, weil sie schwerlich ohne oder gegen England in einen Krieg zur Unterstützung Rußlands eintreten konnten. 24 Man darf wohl davon ausgehen, daß die Verantwortlichen in Moskau die Hintergedanken Hitlers bei dem geplanten eurasischen Block durchschauten. Der sowjetische Ministerpräsident und Außenminister Molotow führte auf Einladung Ribbentrops vom 12. bis zum 14. November 1940 in Berlin Gespräche mit Hitler und seinem Außenminister wegen dieser Angelegenheit. Der Umstand, daß die Unterredungen infolge britischer Luftangriffe zeitweise im Luftschutzbunker stattfanden, veranlaßten Molotow, sich über die großspurigen Auslassungen seiner Gesprächspartner, der Krieg sei im Grunde schon gewonnen, lustig zu machen. Während Hitler auf die Möglichkeit für die Sowjetunion verwies, sich in Richtung auf den Indischen Ozean auszudehnen, wobei er allerdings das Wort Indien nicht in den Mund nahm, vielleicht weil er in Wahrheit das britische Empire erhalten wollte, richtete Molotow seine ganze Aufmerksamkeit auf Europa. Er erinnerte daran, daß Finnland gemäß Abmachung vom August 1939 in die sowjetische Einflußzone gehöre, er bemängelte die Garantie für Rumänien, die tatsächlich gegen Rußland gerichtet sei, er verlangte eine sowjetische Garantie für Bulgarien, d. h. ein enges Verhältnis zu diesem Land, damit sich Rußland an die türkischen Meerengen heranschieben konnte, und schließlich wünschte er russische Stützpunkte an den Meerengen. All dies brauchte nicht übermäßig besorgniserregend zu sein, falls sich auf der Grundlage befriedigender Abmachungen das Einbeziehen der Sowjetunion in die eurasische Liga bewerkstelligen ließ. Im Anschluß an die Verhandlungen, am 25. November, gab Molotow die Bedingungen bekannt, unter denen Moskau dem Viermächtepakt beitreten wollte. Von Rumänien war nicht mehr die Rede, es sollte also im deutschen Einflußbereich bleiben; im Hinblick auf Finnland sollten die Zugehörigkeit zur sowjetischen Einflußsphäre anerkannt und die deutschen Truppen zurückgezogen werden, wofür sich Moskau zur Erhaltung friedlicher Beziehungen sowie zur Wahrung der deutschen Wirtschaftsinteressen verpflichtete; mit Bulgarien sollte ein Beistandspakt geschlossen und von der Türkei sollten Stützpunkte gepachtet werden, wozu die Achsenmächte ihre Unterstützung 24 Hitler über Zahl der Divisionen am 31. 7. 1940 und Kenntnis des OKW nach Halder, KTB II, 50; KTB OKW 1/2, 969. Zur Umsteuerung der Rüstung der Führererlaß vom 28. 9. 1940 in Thomas, Wehrwirtschaft, 432 ff. Zur sowjetischen Außenpolitik Hillgruber, Außenpolitik; ders., Strategie. Allgemein zu den Ereignissen der fraglichen Zeit und zum Schrifttum Schieder, Europäische Geschichte VII. Der zweite Wiener Schiedsspruch in Jacobsen, Weg, 81 f. Ribbentrop über Dreimächtepakt in IMG, Bd 10, 334.
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zu leihen hatten; schließlich sollte eine russische Interessenzone südlich des Kaukasus in Richtung auf den Persischen Golf eingeräumt werden, was zwar auf Persien, aber nicht direkt auf Indien oder andere britische Besitzungen zielte. In letzterem darf man wohl einen geschickten Schachzug sehen, allzu starke Spannungen zwischen London und Moskau zu vermeiden und so bis zu einem gewissen Grad die Idee der eurasischen Liga zu unterlaufen. Allerdings hätte auch ein Vorstoßen Rußlands zu den türkischen Meerengen Britannien nicht gleichgültig gelassen, so daß Moskau doch ein verhältnismäßig enges Zusammenwirken mit den Achsenmächten in Aussicht nahm. Der Vorschlag Moskaus wurde indes von Hitler und Ribbentrop nicht mehr beantwortet. Vielleicht sahen sie ihre Hoffnung entschwunden, zwischen Rußland und Britannien würde ein so tiefer Riß entstehen, daß letzteres zum Frieden mit Deutschland bereit war. Auf jeden Fall aber hatte Molotow bei den Berliner Gesprächen ein paar Andeutungen gemacht, die Unheil versprachen. Schon seine wiederholte Feststellung, die Abmachungen von 1939 bildeten nur eine Teillösung, die durch die weitere Entwicklung überholt sei und den Verhältnissen angepaßt werden müsse, ließ nichts Gutes ahnen. Bei seiner letzten Unterredung mit Ribbentrop gab Molotow dann zu verstehen, daß die Sowjetunion außer an Finnland und Bulgarien auch an Rumänien und Ungarn interessiert sei, ferner an Jugoslawien und Griechenland, ja sogar an Westpolen. Zweifellos waren das unbestimmte Andeutungen, denn in irgendeiner Weise war Rußland selbstverständlich am Schicksal dieser Länder interessiert. Aber wenn sich das Interesse nur auf Selbstverständliches bezog, dann brauchte man es nicht zu erwähnen. Mit Sicherheit jedoch ging es über jede Selbstverständlichkeit hinaus, wenn Molotow sagte, die Sowjetunion sei auch an der Frage der schwedischen Neutralität interessiert und wolle wissen, ob die Aufrechterhaltung dieser Neutralität im Interesse der Sowjetunion und Deutschlands liege. Außerdem glaube die Sowjetregierung, daß die Frage der Ostseeausgänge ähnlich geregelt werden müsse wie die Frage der Donaumündung, d. h. im Wege der Überwachung durch Rußland. Was hier entrollt wurde, war ein beängstigendes Bild. Von der Frage der Ostseeausgänge her erklärt sich die Frage der schwedischen Neutralität, denn die Ostseeausgänge konnte Rußland dann wirkungsvoll überwachen, wenn es in Schweden Fuß gefaßt hatte. Demnach sollte offenbar, ähnlich wie das Schwarze Meer mit Hilfe Bulgariens und der türkischen Meerengen zu einem russischen Binnenmeer gemacht werden konnte, auch die Ostsee mit Hilfe Schwedens und der Ostseeausgänge zu einem russischen Binnenmeer gemacht werden. Von daher wird dann zugleich das sowjetische Interesse am ganzen Balkan besser verständlich. Für Deutschland besaß eine russische Herrschaft über die Ostsee eine ähnliche Bedeutung wie eine russische Herrschaft über den Balkan. Um gegenüber Rußland eine gewisse Selbständigkeit wahren zu können, brauchte das Reich Eisenerz aus Schweden und Nickel aus Finnland, brauchte es Öl, Bauxit, Chrom und anderes vom Balkan. Wenn es all dies nicht mehr zur Verfügung hatte, war das Reich strategisch am Ende oder, anders gewendet, dann war es ein ebenso unselbständiger wie hilfloser Vasall Rußlands.
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Was bezweckte demnach Molotow mit seinen Andeutungen? Ein bloßer Ausrutscher war es wohl nicht und auch keine Ankündigung der Ziele, die Moskau während oder infolge des Krieges zu erreichen trachtete. Bedenkt man, daß Molotow bald darauf ein durchaus gemäßigtes Angebot für einen Beitritt der Sowjetunion zum Viermächtebund machte, so liegt es nahe, seine Bemerkungen bei den Berliner Gesprächen in diesen Zusammenhang zu stellen. Die Andeutungen Molotows wären dann als Drohungen zu verstehen - weniger als Drohungen, um aus der deutschen Seite möglichst große Zugeständnisse herauszupressen, denn die späteren Forderungen Moskaus waren gar nicht besonders hoch, sondern als Drohungen, die der deutschen Seite vor Augen führen sollten, was Moskau alles verlangen könnte. Das scheint auf den ersten Blick unverständlich zu sein, denn wieso sollte Moskau, wenn es zum Abschluß des Viererpakts bereit war, dem potentiellen Verbündeten von morgen vorher drohen? Es ergäbe jedoch sehr wohl einen Sinn, wenn Molotow damit andeuten wollte, daß die deutsche Führung sich entscheiden müsse: entweder für Rußland oder gegen es. Die Bildung eines eurasischen Blocks stellte ja auch für Moskau eine Maßnahme dar, die sorgfältig überlegt sein wollte. Eine denkbare Folge war, daß England tatsächlich aus dem Krieg gegen Deutschland ausschied, so daß die Sowjetunion dem Willen Hitlers ausgeliefert wurde. Dieses Risiko ließ sich einerseits verringern, indem Rußland nicht unmittelbar den Bestand des Empire bedrohte, und andererseits besaß dieses Risiko von Haus aus kein großes Gewicht. Denn auch in London und Washington war bekannt, daß man Hitler nicht einfach freie Hand geben durfte, die Sowjetunion zu erobern, um anschließend für eine Auseinandersetzung mit den Westmächten besser gewappnet zu sein. Britannien würde also vermutlich weiterkämpfen, und die USA würden sich über kurz oder lang anschließen. Eine zweite denkbare Folge war wesentlich einschneidender: Die Westmächte konnten äußerstenfalls auch der Sowjetunion den Krieg erklären. Stalin scheint mit diesem Gedanken gespielt zu haben, denn nach dem Zeugnis seiner Tochter wünschte er, mit den Deutschen in einem langen, festen Bündnis zu bleiben, und selbst nach Kriegsende pflegte er noch zu wiederholen: ,,Zusammen mit den Deutschen wären wir unbesiegbar gewesen." Hier ließ sich ebenfalls das Risiko vermindern, indem Rußland das Empire nicht unmittelbar bedrohte; im übrigen blieb das Risiko erträglich, weil die Hauptlast des Kampfes von den vorgelagerten Verbündeten Deutschland und Japan getragen werden mußte. Darüber hinaus bot ein solcher Krieg die Gelegenheit, den Gedanken der kommunistischen Weltrevolution zu fördern, denn Deutschland, vom Kampf gegen die Westmächte erschöpft und von Rußland unterstützt, mochte leicht dem Bolschewismus anheimfallen. Vielleicht bezog sich hierauf auch die früher erwähnte Äußerung Molotows anläßlich der Besetzung des Baltikums im Sommer, wenn das europäische Proletariat der sowjetischen Hilfe bedürfe, werde die Rote Armee sie ihm bringen, auf dem Boden des westlichen Europa und mit einer Entscheidungsschlacht am Rhein. Die dritte Lösung schließlich war die bequemste: Der Viererbund kam zustande, Deutschland sowie gegebenenfalls Japan erschöpften sich im Krieg gegen die
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Westmächte, und die Sowjetunion sammelte am Ende ein, was sie an Beute erjagen konnte. All dies galt freilich nur, wenn Hitler sich für die Sowjetunion entschied, also den Viererpakt abschloß. Entschied er sich gegen Rußland, dann würde er zwar zwischen diesem und den Westmächten eingeklemmt sein, es bestand aber die Gefahr, daß die Westmächte ein Überrollen Europas durch die Sowjetunion zu verhindern trachteten und deshalb nichts dagegen hatten, wenn das Dritte Reich seinerseits die Sowjetunion schwächte, wenngleich sie das Dritte Reich sicher nicht unterstützen würden. Die Drohungen Molotows hätten sich, wenn diese Überlegungen richtig sind, auf die Entscheidung Hitlers bezogen. Entschied er sich für den Viererpakt, so bekam er ihn zu günstigen Bedingungen; entschied er sich dagegen, so blieb er in den Krieg gegen die Westmächte verstrickt und mußte sich in Zukunft auf weitere Forderungen Moskaus einstellen, bis hin zur Herrschaft Rußlands über die Ostsee und über den Balkan. Das Angebot brauchte in sowjetischen Augen nicht schlecht zu sein; immerhin lief Rußland Gefahr, selbst in den Krieg gezogen zu werden und an der Seite Deutschlands zu kämpfen. Es war auch einsichtig, warum Molotow drohte, denn der Viererpakt war für Moskau gleichbedeutend mit Sicherheit vor einem deutschen Angriff, während umgekehrt, wenn Hitler sich dagegen entschied, diese Sicherheit nicht bestand. Es ließe sich nun darüber spekulieren, wie der weitere Gang der Entwicklung hätte verlaufen können, wenn der Viererbund ins Leben getreten wäre. Der Krieg wäre mit großer Wahrscheinlichkeit weitergegangen, aber die Achsenmächte hätten seinen Schwerpunkt ins Mittelmeer verschieben und damit Britannien in große Verlegenheit bringen können. Möglicherweise hätte Japan die Ziele erreicht, die es mit dem Viererbund verfolgte, also die Aufsicht über die südostasiatischen Rohstoffgebiete, namentlich dann, wenn die Westmächte sich zuerst gegen die von Deutschland ausgehende Gefahr gewandt hätten. Vorstellbar ist sodann, daß die Westmächte in ihren Kriegsanstrengungen gegen die europäischen Achsenmächte abgewartet hätten, ob sich nicht doch ein Bruch zwischen Deutschland und Rußland einstelle. Für Deutschland wiederum brauchte der Bund mit der Sowjetunion fürs erste keine Nachteile zu erzeugen. Sofern ein russischer Angriff drohte, war die Wehrmacht für einige Zeit sehr wohl imstande, ihn zu zerschlagen. Erst wenn die Westmächte sich anschickten, Europa zurückzuerobern, geriet Deutschland in eine ausweglose Klemme. Die Drohungen Molotows hatten zwar erkennen lassen, daß man gegenüber Rußland auf alles gefaßt sein mußte. Aber der Viererbund hätte trotzdem einen Versuch wert sein können, jedenfalls dann, wenn Deutschland grundsätzlich zu einem erträglichen Frieden bereit war. Eben hier lag die Schwierigkeit. Deutschland hätte auf dem Weg über Frankreich auf den Frieden hinarbeiten können; ebenso hätte es den Viererbund errichten und dennoch nach einem Ausgleich mit den Westmächten suchen können. Noch stand Amerika nicht im Krieg, noch war Britannien geschwächt und allein, noch würde es die Sowjetunion nicht wagen oder zumindest zögern, das Reich zu überfallen. Noch war Zeit, einen Ausweg aus dem bislang glücklichen, doch in Zukunft sicher unglücklichen Krieg zu suchen. Darin lag ja auch der Sinn des Matsuoka-Planes: mit Hilfe des Vierer-
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bundes den Krieg nicht etwa auszuweiten, sondern zu einer friedlichen Regelung zu gelangen, bei welcher insbesondere Amerika aus dem Krieg ferngehalten wurde. Gewiß durfte die Sowjetunion als bedrohlich eingeschätzt werden, und was sie wirklich anstrebte, war in Molotows Andeutungen noch nicht einmal vollständig enthalten. Aber sie würde es nur dann erreichen können, wenn Deutschland aus dem Krieg nicht mehr rechtzeitig herauskam. Diesen Schluß zog Hitler nicht; er unternahm keinen Versuch, den Krieg durch einen haltbaren Frieden zu beenden. Vielmehr zog er den Schluß, Rußland müsse rechtzeitig niedergeworfen werden. Die Drohungen Molotows bestärkten ihn bei seinem sowieso bestehenden Vorsatz, die Sowjetunion auszuschalten. Nach den Gesprächen im November stand für Hitler fest, daß Molotow die Katze aus dem Sack gelassen habe. Die Russen nach Europa hineinzulassen, sei das Ende Mitteleuropas. Das war wohl richtig, nur hatte Hitler selbst 1939 damit begonnen, die Russen nach Europa hineinzulassen. Als Ausweg blieb für ihn bloß der Krieg. 25 3. Der Krieg gegen England
Der Krieg zwischen Deutschland und Britannien darf als geradezu klassischer Fall des Kampfes einer Landmacht und einer Seemacht gelten. England war außerstande, das Reich an Land zu schlagen, und das Reich war außerstande, Britannien zur See zu besiegen. An Land vermochte Britannien das Reich nur mit Hilfe von Verbündeten schwer zu treffen, zuerst Frankreich, danach gegebenenfalls die Sowjetunion und Amerika oder kleinere Länder. Das gängige Kriegsmittel einer Seemacht, die Aushungerung durch die Blockade, verlor den Großteil ihrer Wirkung, seitdem die Sowjetunion das Reich belieferte, und noch mehr, seitdem durch die deutschen Siege die Hilfsquellen Europas dem Reich zur Verfügung standen. Allein durch die Blockade war das Reich auf absehbare Zeit nicht in die Knie zu zwingen. Umgekehrt vermochte Deutschland seinen Gegner nur dort schwer zu treffen, wo es ihn auf dem Landweg erreichen konnte. Ein Sieg über Verbündete Britanniens wie Frankreich oder potentielle Verbündete wie die Sowjetunion zog für England allenfalls das Schwinden von Siegeshoffnungen nach sich, aber es zwang Britannien noch nicht zum Aufgeben. Zur See konnte Deutschland seinen Gegner nur mit Hilfe von Verbündeten in ernstliche Bedrängnis bringen, doch entfiel der mögliche Verbündete Frankreich aus politischen Gründen, und Italien war zu schwach. Den Gegner zu Lande entscheidend zu schlagen, setzte für Deutschland eine erfolgreiche Landung auf der britischen Insel voraus, doch verfügte das Reich nicht über die nötige Seemacht, um eine solche Landung durchzuführen. 25 Die Dokumente zu Molotows Berliner Gesprächen in ADAP, Ser. D, Bd 11. Auszugsweise auch in Biiigel, 258 ff. Dazu Fabry, 256 und passim. Hillgruber, Strategie, 304 ff., 355 ff. Pietrow, Stalinismus, 214 ff. Stalins Tochter über den Ausspruch wegen der Deutschen in Allilujewa, 369. Hitler über Molotows Eröffnungen in Engel, Heeresadjutant, 91 f. (15. 11. 1940).
3. Der Krieg gegen England
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Der Krieg zwischen Deutschland und Britannien stand deshalb im Sommer 1940 und danach bei einem Unentschieden. Er wäre übrigens auch bei einem deutschen Sieg über Rußland noch unentschieden gewesen, wie Halder und Brauchitsch bei einer strategischen Lageeinschätzung Anfang 1941 feststellten. Der Sinn des Rußlandfeldzugs war nach ihrer Auffassung nicht klar, denn England würde man dadurch nicht treffen, und die deutsche Wirtschaftsbasis wurde nicht wesentlich besser. In diesem unentschiedenen Kampf zwischen Deutschland und Britannien konnte das Reich dreierlei tun: Es konnte erstens versuchen, England zur See zu treffen, was keine durchschlagende Wirkung versprach. Es konnte zweitens eine Landung unternehmen, die voraussichtlich mißglücken würde. Und es konnte drittens Britannien da angreifen, wo es zu Lande erreichbar war, nämlich im Mittelmeerraum. Diese drei Wege sind zu betrachten. Da Deutschland nur eine schwache Flotte besaß, vermochte es nicht um die Seeherrschaft zu kämpfen, sondern den Seekrieg lediglich in der Form des Kreuzerkriegs zu führen. Dies gilt vorbehaltlich der Einschränkung, daß Deutschland seine seestrategische Position insoweit zu verbessern bzw. diejenige Englands insoweit zu schwächen vermochte, als das Reich Gebiete, die im Wirkungsbereich seiner Boden- und Luftstreitkräfte lagen, an sich nehmen bzw. seinem Gegner entreißen konnte. Davon war zunächst Norwegen betroffen, dann Frankreich mit der Atlantikküste, schließlich mochte es auf Nordafrika und den vorderen Orient zutreffen, falls Deutschland dort mit ausreichendem Nachdruck einen Angriff ins Werk setzte. Nach Kriegsausbruch hatte Britannien, entsprechend der seestrategischen Lage, seine Flotte anfangs für den Schutz seiner Seeverbindungen eingesetzt sowie für die Blockade der Nordsee. Gemäß den Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg ging man sehr bald zum Geleitzugsystem über, das allerdings lange Zeit erhebliche Lükken aufwies, da es in den weiten Seeräumen und bei der Vielfalt unterschiedlicher Transportbewegungen nicht möglich war, alle Handelsschiffe gleichmäßig zu bündeln und zu sichern. Einzelfahrer blieben deshalb stets ein bevorzugtes Ziel des deutschen Kreuzerkriegs bzw. Handelskriegs, so auch nach dem Kriegseintritt der USA, als es in amerikanischen Gewässern monatelang kein Geleitzugwesen gab. Um gleich hier einen Eindruck von den Ausmaßen des Handelskriegs zu geben, sei erwähnt, daß die See- und Luftstreitkräfte der europäischen Achsenmächte, in erster Linie die deutschen, zwischen 1939 und 1945 rund 23 Millionen BRT (ein Hohlraummaß für Handelsschiffe) ihrer alliierten Gegner versenkten, davon rund 62 % durch U-Boote. Von den Versenkungserfolgen der U-Boote wiederum (insgesamt über 2 700 Schiffe) stammten nur 28% aus Geleitzügen. Diesen Handelskrieg nun hatte die deutsche Seekriegsleitung gleich nach Kriegsausbruch begonnen, zunächst allerdings mit einer gewissen Zurückhaltung, da Hitler noch auf diplomatische Erfolge hoffte. Im Herbst 1939 operierten im Atlantik sowie im Indischen Ozean zwei Panzerschiffe, wovon eines, die "Graf Spee", verlorenging. In der Nordsee wurden Überwasserstreitkräfte und U-Boote tätig, vorzugsweise beim Legen von Minensperren, auf den Zufahrtswegen westlich England U-Boote. Bekanntlich können U-Boote sowohl beim reinen Kreuzer-
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krieg eingesetzt werden als auch beim Kampf um strategische Positionen oder beim Kampf gegen feindliche Seestreitkräfte. Die deutschen U-Boote wurden während des Krieges nicht ausschließlich für den Handelskrieg verwendet; so drang im Herbst 1939 ein U-Boot in den britischen Stützpunkt Scapa Flow ein, wo es ein Schlachtschiff vernichtete, und ein anderes versenkte westlich der britischen Inseln einen Flugzeugträger. Während des Norwegen-UnternehmenswurdenU-Boote zur Unterstützung dieser Operation eingesetzt, wobei ihnen auf Grund von Torpedomängeln viele mögliche Erfolge versagt blieben. Später zweigte Hitler öfters VBoote vom Handelskrieg ab, etwa zum Schutz Norwegens gegen eine angebliche Invasionsgefahr und vor allem zum Kampf ums Mittelmeer, wo die U-Boote 19411 42 ein Schlachtschiff und zwei Flugzeugträger versenkten, abgesehen von kleineren Einheiten. Beim Handelskrieg wurde den deutschen V-Booten bis Mitte 1940 schrittweise der unbeschränkte Einsatz wie im Ersten Weltkrieg freigegeben, weil sie sonst gegen gesicherte und teilweise bewaffnete Handelsschiffe nichts ausrichten konnten. Anders als im Ersten Weltkrieg waren Verwicklungen mit Amerika nicht zu befürchten, da die USA ein Gebiet um die britischen Inseln zum Kampfgebiet erklärten, welches amerikanische Schiffe, im Zusammenhang mit der isolationistischen Neutralitätspolitik, nicht befahren durften. Der deutsche U-Bootkrieg hielt sich zunächst weitgehend an dieses Gebiet bzw. an die Hauptlinien des britischen Geleitzugverkehrs. Ab Mitte 1940 standen für den Handelskrieg im Atlantik auch italienische U-Boote zur Verfügung, die ebenso wie die deutschen nunmehr von französischen Stützpunkten aus eingesetzt wurden, doch zeigten sich die italienischen Boote für den Geleitzugkampf unter schwierigen Bedingungen wenig geeignet, so daß sie tiefer im Atlantik gegen Einzelfahrer angesetzt wurden. Nach dem Fall Frankreichs konzentrierte die britische Marine ihre Anstrengungen auf zwei Schwerpunkte: zum einen die Verteidigung des Mittelmeers und zum anderen die Sicherung der Zufuhren im Atlantik, wozu zeitweise noch als Nebenschwerpunkt einige Vorbereitungen für die Abwehr einer theoretisch möglichen deutschen Landung traten. Im Herbst 1940 standen mehr britische Schlachtschiffe im Mittelmeer (Alexandria und Gibraltar) als im Atlantik oder bei den britischen Inseln. Diese Kräfteverteilung, von der ja auch andere Streitkräfte wie Zerstörer betroffen waren, schwächte die Geleitzugsicherung, so daß das zweite Halbjahr 1940 gewissermaßen das goldene Zeitalter der U-Boote wurde, in welchem ihr Wirkungsgrad den höchsten Stand des ganzen Krieges erreichte. Die deutsche Seekriegsleitung verfolgte an sich den Plan, den Handelskrieg im Atlantik sowohl mit V-Booten als auch mit Überwasserstreitkräften zu führen. Wegen der Ausfälle beim Norwegen-Unternehmen konnte dies jedoch erst ab Ende 1940 verwirklicht werden. 1940 gingen ein Panzerschiff und ein schwerer Kreuzer in den Atlantik, dazu etliche Hilfskreuzer (umgebaute und bewaffnete Handelsschiffe). 1941 sollte dann die gesamte deutsche Schlachtflotte, gestützt auf den französischen Atlantikhafen Brest, die britischen Zufuhrlinien bedrohen. Den beiden leichten Schlachtschiffen Schamhorst und Gneisenau, die Anfang des Jahres in den Atlantik ausbrachen, folgte im Mai das neue schwere Schlachtschiff Bismarck mit einem schwe-
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ren Kreuzer; ein weiteres schweres Schlachtschiff, die Tirpitz, war noch nicht frontverwendungsfähig. Beim Unternehmen der Bismarck zeigte sich indes sehr schnell eine wesentliche Schwäche der deutschen Flotte, die über keinen einsatzfähigen Flugzeugträger verfügte und allgemein ihren Schiffen nicht die erforderliche Luftsicherung geben konnte, was sicher mit dem Fehlen einer eigenen Marineluftwaffe zusammenhängt. Nachdem die Bismarck, an sich eine sehr kampfstarke Einheit, ein britisches Schlachtschiff versenkt hatte, erhielt sie beim Marsch nach Brest durch den Lufttorpedo eines britischen Trägerflugzeugs einen unglücklichen Treffer in die Ruderanlage, der sie manövrierunfähig machte, so daß sie von einer britischen Übermacht vernichtet wurde. Mit dem Handelskrieg durch Überwasserstreitkräfte war es von da an vorbei, abgesehen von ein paar Hilfskreuzern. Durch das Mittel der Funkaufklärung wurde ein Netz deutscher Versorgungsschiffe, das im Atlantik als Ersatz für die fehlenden Stützpunkte aufgebaut worden war, entdeckt und ausgehoben. Die deutschen Schiffe in Brest wurden durch fortwährende britische Luftangriffe am Einsatz gehindert, so daß Hitler sie Anfang 1942 in einer Überraschungsaktion auf dem Weg durch den Ärmelkanal, wo sie Luftsicherung erhalten konnten, in die Heimat zurückverlegen ließ. Das Auftreten deutscher Überwasserstreitkräfte als Handelsstörer erlangte keinerlei nennenswerte strategische Bedeutung. Diese Schiffe vermochten auf den gegnerischen Nachschublinien kleinere Erfolge zu erzielen und Unruhe zu stiften, aber selbstverständlich den Handel nicht schwerwiegend zu schädigen oder gar zu unterbinden. Mit dem U-Bootkrieg verhält es sich nicht grundlegend anders. Der Befehlshaber der V-Boote und seit 1943 Oberbefehlshaber der Marine, Großadmiral Dönitz, vertrat nach dem Krieg die Auffassung, wenn er nur rechtzeitig ausreichend viele V-Boote zur Verfügung gehabt hätte, dann hätte er die Schlacht im Atlantik für die deutsche Seite entscheiden können. Darin war mittelbar das Eingeständnis enthalten, daß unter den gegebenen Verhältnissen, also mit den verfügbaren V-Booten, die Atlantikschlacht nicht zu gewinnen war. Für diese Atlantikschlacht entwickelte Dönitz, neben der Rudel-Taktik, die Vorstellung vom Tonnagekrieg, d. h. es sollte unabhängig von Zielrichtung und Zweckbestimmung gegnerischer Schiffsbewegungen möglichst viel Transportraum versenkt werden, wo sich dies am schnellsten und mit dem geringsten eigenen Kraftaufwand bewerkstelligen ließ. Der Tonnagekrieg bildete demnach die wirtschaftlichste Form des Handelskriegs, denn für den Gegner war immer die Transportkapazität ausschlaggebend: Je weniger er davon besaß, umso weniger konnte er kriegswichtige Transporte durchführen. Wer begriffliche Spitzfindigkeiten liebt, mag den Tonnagekrieg vom Zufuhrkrieg unterscheiden, denn beim Zufuhrkrieg ging es darum, bestimmte Transporte anzugreifen. Der Zufuhrkrieg zielt auf einen strategischen Einzelzweck und sucht mit den Schiffen deren Ladung zu treffen. Das war etwa der Fall beim Krieg gegen die alliierten Transporte durch das Nordmeer nach Rußland ab 1942, durch den die Versorgung und Verstärkung der Sowjetunion verhindert werden sollte. Die Atlantikschlacht war ein Zufuhrkrieg insofern, als sie dem nachschubmäßigen Aushungern Britanniens diente. Dagegen sucht der Tonnagekrieg dem Gegner oder den
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Gegnern in globaler strategischer Zielsetzung die Transportkapazität zu entziehen, so daß die Gegner unterschiedslos in ihrer wirtschaftlichen wie militärischen Tätigkeit behindert werden. In diesem Sinne war der Angriff auf die Schiffahrt in amerikanischen Gewässern Anfang 1942 ein Tonnagekrieg, nicht ein Zufuhrkrieg. Tatsächlich jedoch gingen beide Erscheinungsformen ineinander über. Beim Zufuhrkrieg wurden immer auch Schiffe und Geleitzüge angegriffen, die in der Gegenrichtung liefen, also keine Zufuhren brachten; und der Tonnagekrieg diente immer zugleich dem Zweck, die Zufuhr zu erschweren. Man erkennt nun leicht, daß der Tonnage- oder Zufuhrkrieg ein relationales Gefüge darstellte, wie jeder Krieg. Auf der einen Seite stand die verfügbare Tonnage der Gegner, ferner die Fähigkeit, zusätzliche Tonnage herzustellen, also Schiffe zu bauen, sowie die Fähigkeit, die Schiffe zu schützen. Auf der anderen Seite stand die Fähigkeit, Tonnage zu vernichten, was letztlich darauf hinauslief, möglichst viele und möglichst geeignete V-Boote zum Einsatz zu bringen. Besonders geeignet waren die V-Boote von Haus aus nicht, weil sie eigentlich so etwas ähnliches wie Torpedoboote darstellten, die zur Not auch tauchen konnten. Wenn den Gegnern ausreichende Sicherungsstreitkräfte zur Verfügung standen, hatten die VBoote nicht die leiseste Chance. Dieser Zustand trat 1943 ein, als die Westmächte genügend Geleitfahrzeuge besaßen, darunter die neu entwickelten und neu gebauten Geleit- oder Hilfsflugzeugträger (Handelsschiffrümpfe mit einem Flugdeck und einer Anzahl von Flugzeugen), darunter ferner neu entwickelte und neu gebaute kleine Kriegsschiffe für Geleitzwecke, die Fregatten und Korvetten, sodann Zerstörer, landgestützte Flugzeuge mit großer Reichweite und ausreichend Ortungsgeräte. Wegen unerträglich hoher V-Boot-Verluste mußte Dönitz im Mai 1943 den V-Bootkrieg auf seinem Hauptschauplatz, dem Nordatlantik, abbrechen; anschließend wurden die V-Boote auch aus dem Mittelatlantik verjagt. Gesicherte Geleitzüge waren gegen die V-Boote praktisch immun geworden. Das hat an sich auch Dönitz nicht bestritten, er meinte nur, es sei zwischen 1939 und 1943 versäumt worden, so viele V-Boote bereitzustellen, daß diese den Wettlauf zwischen der Vernichtung der Tonnage einerseits und dem vorhandenen bzw. durch Neubau geschaffenen Tonnagebestand sowie dessen Sicherung andererseits gewinnen konnten. Daß die deutsche Seite das Wettrennen um die Tonnage verlor, wird gemeinhin auf drei Hauptgründe zurückgeführt: Erstens seien zu wenige VBoote gebaut worden; zweitens seien die vorhandenen Boote verzettelt worden, indem man sie für Nebenaufgaben abzweigte wie den Krieg im Mittelmeer, wo sie hohe Verluste erlitten und zum Tonnagekrieg fast nichts beitrugen. Neuerdings wird noch ein dritter Grund genannt, der mit der gegnerischen Aufklärung zusammenhängt. Nach einigen Vorarbeiten seit den Vorkriegsjahren gelang es einer dem britischen Außenministerium unterstehenden Nachrichtenabteilung, die in Bletchley Park bei London ihren Sitz hatte, seit 1940 die Verschlüsselung deutscher Funksprüche zu brechen, so daß die Sprüche fast ohne Zeitverzug mitgelesen werden konnten. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse erhielten den Geheimhaltungsgrad "Ultra", woraus später, als der Sachverhalt der Öffentlichkeit bekannt wurde,
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der Name für das ganze Entzifferungsunternehmen entstand. Wer mit der militärischen Aufklärungstätigkeit einigermaßen vertraut ist, der weiß, daß die Nachrichtengewinnung aus vielen verschiedenen Quellen schöpft, um ein Feindlagebild zu erhalten. Das Mitlesen gegnerischer Funksprüche stellt zweifellos eine wertvolle Ergänzung dar, aber wenn man dazu, wie meistens der Fall, nicht imstande ist, so gibt es doch hinreichend andere Erkenntnismöglichkeiten, um den Zustand und das Verhalten des Gegners brauchbar abzuschätzen. Durch "Ultra" haben die Westmächte den Krieg ganz gewiß nicht gewonnen, und den Seekrieg ebensowenig. Richtig ist lediglich, daß der Einsatz der U-Boote einen günstigen Ansatzpunkt für Ultra bot, weil die Rudeloperationen durch Funk von einer Befehlsstelle an Land geführt wurden. Dadurch ließen sich zeitweise die Standorte der Rudel erfassen, so daß die Geleitzüge ihnen ausweichen konnten und infolgedessen die Versenkungserfolge geringer wurden. Nach einer überschlägigen Berechnung sollen auf diese Weise im Jahr 1941 nicht die eigentlich möglichen 3,5 Millionen BRT versenkt worden sein, sondern bloß 2 Millionen, so daß Ultra rund 1,5 Millionen BRT gerettet hätte. Solche Zahlen muß man allerdings ins richtige Verhältnis setzen. Britannien besaß bei Kriegsausbruch rund 17 Millionen BRT Handelstonnage und vermochte pro Jahr etwa ein bis zwei Millionen neu zu bauen. Daraus darf man aber natürlich nicht schließen, daß es für die deutsche Seite nur darauf ankam, pro Jahr mehr Tonnage zu versenken als die Briten nachbauten. Denn den Briten wurde im Laufe des Krieges ein großer Teil der gesamten Welttonnage zugänglich, seit dem lendlease-Gesetz von 1941 auch der amerikanischen bzw. der amerikanischen Schiffbaukapazität In den Jahren 1939 und 1940 wurde die Tonnage derjenigen Länder, die unter deutsche Herrschaft fielen, zum großen Teil für England verfügbar, also von Polen, Norwegen, den Niederlanden und Belgien; 1941 kamen weitere Länder dazu, vor allem die USA. Im August 1941 berechnete die Seekriegsleitung die britische Tonnage, einschließlich der Reserven, die England aus der Welttonnage herausziehen konnte, auf gut 17 Mio. BRT, so daß seit Kriegsbeginn kein Schwund eingetreten war. Macht man für sämtliche Alliierten einschließlich der USA eine Gewinn- und Verlustbilanz der Neubauten und Versenkungen auf, so ergibt sich, daß bis Mitte 1942 die Verluste die Neubauten überwogen, während ab Mitte 1942 ein Nettogewinn eintrat, also mehr nachgebaut als versenkt wurde, so daß die vorhandene Tonnage der Alliierten ab Mitte 1942 zunahm. Demnach war der Tonnagekrieg bereits Mitte 1942 verloren. Insgesamt konnten die Alliierten im Jahr 1942 um die 30 Mio. BRT für sich nutzbar machen; die 1,5 Mio. BRT, die durch Ultra gerettet wurden, hätten dem Krieg auch keine Wende gegeben. Es bleibt die Frage, ob der Tonnagekrieg zu gewinnen war, wenn mehr U-Boote zur Verfügung standen. Die Verzettelung der U-Boote auf unterschiedlichen Kriegsschauplätzen mag dabei auf sich beruhen; hätte es mehr U-Boote gegeben, so wäre sie nicht so stark ins Gewicht gefallen. Hinter der Frage des Tonnagekriegs scheint sich eigentlich eine Frage der Rüstungspolitik zu verbergen: Warum wurden nicht mehr U-Boote gebaut? Daß für einen erfolgversprechenden Zufuhr19 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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krieg im Atlantik mindestens 300 größere U-Boote erforderlich seien, hatte Dönitz schon vor dem Krieg festgestellt, und seit dem Herbst 1939 wünschte die Seekriegsleitung ein Bauprogramm für U-Boote, wonach im Jahr 1940 rund 50 Boote fertiggestellt werden sollten, 1941 rund 250 und 1942 rund 350. Der Bestand hätte dann, ohne die unterdessen eingetretenen Verluste, Ende 1940 gut 100 Boote betragen, Ende 1941 gut 350 Boote und Ende 1942 gut 700. Verglichen mit dem Ersten Weltkrieg war das sogar noch zurückhaltend, denn damals hatte man eine monatliche Baurate von 36 Booten geplant, während jetzt nur 20 bis 30 erreicht werden sollten. Dieses Programm ließ sich nie verwirklichen. Hitler mochte sich von vomherein nicht dafür entscheiden, und sowohl für den Frankreichfeldzug als auch für den Rußlandfeldzug erhielt die Heeresrüstung Vorrang. Eine monatliche Rate der Fertigstellungen von 20 bis 30 Stück wurde erst 1943 erreicht, als die monatlichen Verluste zum Teil schon darüber lagen, und in den Jahren davor betrug der monatliche Ausstoß erst 1942 um die 20 Stück. Ende 1940 standen 73 Boote insgesamt zur Verfügung, davon 27 Frontboote, Ende 1941 insgesamt 236, davon 88 Frontboote, Ende 1942 insgesamt 381, davon 204 Frontboote (die übrigen befanden sich in der Ausbildung und Erprobung). Die alte Forderung von Dönitz, 300 Frontboote zum Einsatz zu bringen, wurde in den entscheidenden Jahren auch nicht annähernd verwirklicht. Dafür lassen sich zwei Gründe namhaft machen: Erstens wollte Hitler, der von Seestrategie ohnehin nichts verstand, lediglich Britannien durch gezielte Schläge zum gütlichen Ausgleich veranlassen, aber nicht durch einen rücksichtslosen Vernichtungskrieg das Empire zusammenbrechen lassen, jedenfalls nicht, bevor er sich zum Herrn des Kontinents gemacht hatte. Auch scheute er sich, Amerika vorzeitig in den Krieg zu ziehen, was unfehlbar eingetreten wäre, wenn das Überleben Englands auf dem Spiel stand. Zweitens war die Wirrnis der deutschen Kriegswirtschaft naturgemäß nicht dazu angetan, herausragende Rüstungsleistungen zu erbringen, für die gesamte Wehrmacht nicht und für die Teilstreitkraft Marine erst recht nicht, wenn sie anderen Teilstreitkräften den Vortritt lassen mußte. In der halbherzigen Übergangswirtschaft, wie sie seit 1939 durch den Verzicht auf eine totale Mobilmachung im Dritten Reich herrschte, vermochte die Marine weder die nötigen Arbeitskräfte noch die erforderlichen Rohstoffe für ein umfangreiches Bauprogramm zu erhalten. Dabei kann es kaum einem Zweifel unterliegen, daß bei sachgerechter Organisation der deutschen Kriegswirtschaft sowohl die Arbeitskräfte als auch die Rohstoffe für ein solches Bauprogramm hätten bereitgestellt werden können. In der Zeit bis zum Frankreichfeldzug, als Rohstoffe noch knapp waren, sollte das Programm erst anlaufen; und wenn die Industrie imstande war, im Jahr 1943 rund 20 bis 30 Boote pro Monat auszustoßen, dann hätte sie dasselbe wenige Jahre früher auch gekonnt. Bei einer Monatserzeugung von drei Mio. Tonnen Eisen und Stahl im Reichsgebiet Ende 1939 hätten sich die 200 000 Tonnen Eisen und Stahl, die von der Marine Ende 1939 verlangt wurden, wohl abzweigen lassen. Statt der geforderten sieben Prozent der gesamten Eisen- und Stahlerzeugung erhielt die Marine jedoch weniger als fünf Prozent, weil das Durcheinander
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der nationalsozialistischen Wirtschaftssteuerung außerstande blieb, solch geringfügige Verschiebungen zuwege zu bringen. Wäre man dazu fähig gewesen, dann hätte die Marine im Jahr 1942 wohl an die 300 U-Boote an die Front bringen können, was mit Sicherheit dem Tonnagekrieg ein anderes Gesicht gegeben hätte. Ob Deutschland dann den Tonnagekrieg gewonnen hätte, ist freilich eine andere Frage. Die Frage wurde in diesen Untersuchungen an früherer Stelle rundweg verneint. Dem ist nichts Wesentliches hinzuzufügen. In dem relationalen Gefüge, welches der Tonnagekrieg darstellte, kam es nicht bloß auf die Zahl der U-Boote und die verfügbare Tonnage der Gegner an, sondern zu den Bestimmungsmerkmalen zählte auch die Fähigkeit der Gegner, die Tonnage zu schützen. Die U-Boote erreichten ihren höchsten Wirkungsgrad, als der Schutz am schwächsten war; als sich der Schutz verbesserte, sank der Wirkungsgrad schwerwiegend. Im zweiten Halbjahr 1940 versenkte ein deutsches Frontboot durchschnittlich pro Seetag 500 BRT und mehr; im ersten Halbjahr 1943 versenkte ein deutsches Frontboot durchschnittlich pro Seetag weniger als 100 BRT. Die Zahl der Boote allein besagt gar nichts; als die Zahl der Boote 1940 gering war, erzielten sie große Wirkung, als die Zahl der Boote 1943 groß war, trat die Niederlage im Zufuhrkrieg ein. Entscheidend ist vielmehr die Frage, inwieweit die Boote zu Versenkungen imstande waren und inwieweit sie daran gehindert werden konnten. Im Jahr 1940 konnten sie nur wenig daran gehindert werden, weil die Sicherung der Schiffe und Geleitzüge nicht ausreichte. Sie reichte nicht aus, weil die britische Flotte zu großen Teilen durch andere Aufgaben gebunden war und weil Amerika sich an der Sicherung noch nicht beteiligte. Dieser Zustand war nicht zwingend so. Äußerstenfalls hätte Britannien das Mittelmeer preisgeben können, wo ein großer Teil seiner Flotte eingesetzt war, und Amerika den Paziftk, wo es sogar die Hauptmacht seiner Flotte stationiert hatte. Beide Länder brauchten dies nicht zu tun, weil die U-Boote Britannien nicht in tödliche Gefahr brachten. Hätte es beizeiten mehr U-Boote gegeben und wäre England an den Rand der Niederlage geraten, so hätten beide Seemächte ihre Flotten im Atlantik zusammenziehen können, mit Hunderten von Zerstörern und einem Dutzend Flottenträgem, um die Geleitzüge wirkungsvoll zu sichern und den U-Booten den Garaus zu machen. Im Jahr 1943 genügten eine Handvoll von Geleitträgem und etliche hundert meist schwächere Geleitfahrzeuge, um den U-Bootkrieg zum Erliegen zu bringen. Mehrere hundert starke Flottenzerstörer und ein Dutzend starke Flottenträger, abgesehen von allen anderen Streitkräften, hätten mit Sicherheit ausgereicht, bei Bedarf dasselbe zu bewirken. Unstreitig hätte, wenn dies eingetreten wäre, der Krieg einen anderen Verlauf genommen: Den Westmächten wäre wohl das Mittelmeer zunächst verlorengegangen, im Paziftk hätten sich neue Verhältnisse eingestellt, und selbst der Rußlandfeldzug, falls er stattfand, mochte sich in anderer Weise abspielen. Unter solchen Umständen hätte der Handelskrieg mit U-Booten sogar die strategische Lage verändert, freilich nicht in dem Sinn, daß dadurch der Seekrieg und mit ihm der ganze Krieg zugunsten der Achsenmächte entschieden worden wäre. Der Kreuzerkrieg allein hätte Britannien nie und nimmer zum Aufgeben gezwungen; sofern nicht auf ande-
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rem Weg ein grundlegender Wandel eintrat, war der Kreuzerkrieg allenfalls imstande, die schließliehe Niederlage der Achsenmächte hinauszuzögem?6 Wirklich besiegen ließ sich England nur durch eine Landung auf der britischen Insel. Ob eine solche Landung jemals ernsthaft beabsichtigt war, unterliegt indes dem größten Zweifel. Haider gab nach einem Gespräch mit Weizsäcker am 30. Juni 1940 die Auffassung Hitlers dahingehend wieder, England werde "voraussichtlich noch einer Demonstration unserer militärischen Gewalt bedürfen, ehe es nachgibt und uns den Rücken frei läßt für den Osten". Daraus kann man nicht zwingend auf die Absicht zu einem Angriffskrieg gegen Rußland schließen, da ja die Rückenfreiheit zweifellos auch erstrebenswert war, um allen zukünftigen Wechselfällen im Verhältnis zur Sowjetunion besser gewachsen zu sein, gegebenenfalls auch dem bloß friedlichen Zurückweisen einer russischen Bedrohung. Aufschlußreich ist vielmehr, daß in Hinblick auf England nicht etwa von militärischem Niederwerfen oder einer Invasion die Rede war, sondern lediglich von einer Demonstration militärischer Gewalt, die Britannien zum Nachgeben veranlassen sollte. Dieses Nachgeben oder Einlenken sollte wiederum so beschaffen sein, daß Britannien, ohne eigentlich besiegt zu sein, der deutschen Seite den Rücken frei ließ, also in eine Beendigung des Krieges einwilligte. Offenbar entsprach das genau dem, was Hitler zu dieser Zeit wünschte, nämlich eine friedliche Einigung mit London, ohne daß die Angriffsabsicht im Osten schon deutlich ausgesprochen wurde. Eine Vernichtung Britanniens bzw. des Empire wurde nicht angestrebt, sondern es sollte nur militärische Macht demonstriert werden, um den Briten vor Augen zu führen, daß sie besser nachgaben. Das lief im Grunde auf so etwas wie Tauschung hinaus, wobei es auf sich beruhen mag, ob Hitler die Landung in England nicht wünschte, weil er das Empire nicht zerstören wollte, oder ob er sie nicht wagte, weil er - mit Recht - ihren Mißerfolg befürchtete, oder ob er sie scheute, weil er Amerika vom Krieg fernzuhalten trachtete. Für die Deutung, daß England einer ernstlichen Invasionsgefahr nie ausgesetzt war, spricht sodann die Feststellung von Haider und Brauchitsch am 30. Juli 1940, die Kriegsmarine werde aller Voraussicht nach dem Heer in diesem Herbst die Voraussetzungen für den erfolgreichen Absprung nach England nicht schaffen. Churchill hielt die Landung von vomherein für unwahrscheinlich, weil sie in Anbetracht der deutschen Hilfsmittel selbstmörderisch sei, und glaubte je länger desto 26 Haider und Brauchitsch über Rußlandfeldzug in Halder, KTB II, 261 (28. 1. 1941). Zum Handelskrieg Potter/Nimitz/Rohwer, 543,550 und passim. MGFA, Weltkrieg II, 159ff., 345 ff. (Beitrag Stegemann); VI, 275 ff. (Beitrag Rahn). Zu Dönitz dessen Schlacht im Atlantik. Vgl. Roskill. Über Ultra Rohwer, Einfluß. Der Einfluß von Ultra auf den Tonnagekrieg 1941 nach MGFA, Weltkrieg VI, 337 (Beitrag Rahn). Seekriegsleitung über britische Tonnage 1941 nach Salewski, Seekriegsleitung I, 405, Anm. 18. Tonnagebilanz in MGFA, Weltkrieg VI, 308 (Beitrag Rahn). Dazu Salewski, Seekriegsleitung III, 323. Zum U-Boot-Bau G. Wagner, Lagevorträge, 28 ff. und passim. MGFA, Weltkrieg V/I, 380 (Beitrag Müller); VI, 319 (Beitrag Rahn). Salewski, Seekriegsleitung I, 128 ff., 261 ff. Durchschnittliche Versenkung nach MGFA, Weltkrieg VI, 367 (Beitrag Rahn).
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weniger daran. Hitler selbst sagte schon am 22. Juli dem Feldmarschall Rundstedt, die Invasionsvorbereitungen seien eher psychologisch als militärisch. Das läßt darauf schließen, daß es sich beim deutschen Aufmarsch um bloßen Bluff handelte. Die Rüstungsmaßnahmen auf deutscher Seite scheinen darauf hinzudeuten, daß er das tatsächlich war. Am 2. August gab Keitel innerhalb des OKW die Richtlinie aus, die Beurlaubung von Soldaten zur Arbeit in der Industrie solle sofort nach einer negativen Entscheidung des Führers über die Landung in England anfangen. Dies bezog sich auf die von Hitler Ende Juli geäußerte Ansicht, im September könne damit begonnen werden, das geplante 180-Divisionen-Heer aufzubauen und zu diesem Zweck Soldaten in die Rüstungswirtschaft zu schicken, wo sie gewissermaßen ihre eigene Ausrüstung erzeugen sollten. Demnach dürften Hitler und Keitel spätestens Ende Juli/Anfang August gewußt haben, daß die Invasion nicht stattfinden würde bzw. daß man sie im Herbst 1940 abblasen würde. Tatsächlich begann ja im September das Umsteuern der Rüstung und der Ausbau des Heeres. Zwar könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dem Diktator sei gar manche Ungereimtheit zuzutrauen, etwa der Vorsatz, gleichzeitig in England zu landen und ein Heer für den Ostkrieg auszurüsten. Doch spricht dagegen wiederum, daß bei Hitler ein deutlicher Vorsatz für eine Landung nirgendwo erkennbar ist, vielmehr die einschlägige Willensbildung stets voller Vorbehalte steckte. Was dabei herauskam, beschrieb Haider am 6. August so: "Wir haben das eigenartige Bild, daß die Kriegsmarine voller Hemmungen ist, die Luftwaffe bei dieser Aufgabe, die sie zunächst allein lösen muß, nicht anfassen will, und OKW, das hier wirklich einmal vor einer Wehrmachtsführungsaufgabe steht, sich tot stellt. Die einzigen, die vorwärtsstreben, sind wir" (d. h. das OKH). "Wir werden es aber allein auch nicht schaffen." Alles Wesentliche war darin knapp zusammengefaßt: Die Marine steckte voller Hemmungen, weil sie genau wußte, daß sie mit ihren Mitteln die Aufgabe nicht lösen konnte; die Luftwaffe hielt sich zurück, weil ihr eine Last aufgebürdet wurde, die ihr zu schwer war; das OKW stellte sich tot, weil bei dieser Sache nichts zu gewinnen war und Hitler sie selbst nicht ernsthaft verfolgte; das OKH schließlich wünschte den Krieg gegen Rußland nicht und erblickte die Hauptaufgabe darin, gegen England zu einem brauchbaren Ergebnis zu gelangen, erkannte aber deutlich, daß das Heer, ohne die erforderlichen Vorleistungen der beiden anderen Wehrmachtsteile, ebenfalls nichts ausrichten würde. 27 Nach den gängigen Regeln der Strategie wie der Seekriegslehre war eine Landung in England an sich nicht möglich. Jeder Vergleich mit dem Norwegen-Unternehmen ist unfruchtbar, weil die Voraussetzungen sich ganz anders darstellten. Bei der Weserübung hatte die deutsche Marine gewissermaßen in Kommandounterneh27 Haider und Weizsäcker am 30. 6. 1940 sowie Haider und Brauchitsch am 30. 7. 1940 in Halder, KTB I, 375; II, 45. Churchill über Landung nach Winterbotham, 44, 57. Hitler zu Rundstedt am 22. 7. 1940 nach Hillgruber, Strategie, 170. Keitel und Hitler über Beurlaubung von Soldaten nach KTB OKW 1/1, 6. J. Förster, Wendung, 120. Haider über Aussichten einer Landung am 6. 8. 1940 in Hai der, KTB II, 57.
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men kleine Truppenteile überraschend an der norwegischen Küste abgesetzt, um die wichtigsten norwegischen Häfen in die Hand zu nehmen, d. h. sie nicht dem Feind zu überlassen. Die Hauptlandestelle, von der aus das ganze Staatsgebiet erobert wurde, war stets Oslo gewesen, denn dort hatte die Luftherrschaft und auf diese Weise mittelbar die Seeherrschaft errichtet werden können. Das Erringen der Luftherrschaft über Kattegat und Skagerrak war der Luftwaffe nicht schwergefallen; mangels starker Gegenwirkung hatte sie ohne große Mühe die Landflugplätze besetzt, und Britannien konnte in das südnorwegisch-dänische Gebiet nur wenig hineinwirken, da seine Landflugplätze zu weit ab lagen und Flugzeugträger wie andere Seestreitkräfte zu stark gefahrdet blieben. Bei einer Landung in England verhielt sich alles völlig anders. Britannien besaß eine starke Luftwaffe, gestützt auf günstig gelegene Landflugplätze, die sich über dem gesamten Staatsgebiet von vornherein nicht ausschalten ließ. Über einer geeigneten Landungsstelle die Luftherrschaft zu gewinnen, war, wenn überhaupt, nur durch einen längeren Abnützungskrieg aus der Luft möglich. Selbst wenn dies eintrat, behielt jedoch Britannien immer noch seine haushoch überlegene Flotte, der die deutsche Marine nichts annähernd Vergleichbares entgegenzustellen hatte. Die Wehrmacht konnte deshalb nicht irgendwo landen, sondern lediglich im Gebiet des Ärmelkanals, wo die Nähe eigener Landflugplätze den Kampf um die Luftherrschaft nicht grundsätzlich aussichtslos machte. Von der deutschen Flotte waren, wegen der Verluste und Beschädigungen bei der Weserübung, im Sommer und Herbst 1940 ohnedies nur schwächere Einheiten in geringer Zahl einsatzfähig. Aber auch wenn die beiden leichten Schlachtschiffe verfügbar gewesen wären, hätten sie sich von der Invasionsfront besser ferngehalten, weil sie gegen die überlegene britische Flotte nur sich selbst gefährdet hätten. Kam es wirklich, nach Erringen der Luftherrschaft, zu einer deutschen Landung, so nahmen die eigentliche Schlacht und die eigentlichen Schwierigkeiten erst ihren Anfang. Nach Errichten eines Brückenkopfs mußten die anfanglieh übergesetzten Truppen, an Land in Kämpfe verwickelt, auf dem Seeweg verstärkt und versorgt werden. Das bildete spätestens den Zeitpunkt, an welchem die britische Flotte eingreifen würde, gegebenenfalls bei Nacht oder bei schlechtem Wetter, wenn die Luftwaffe ihr wenig anzuhaben vermochte. Sie würde den Nachschub entweder auf See abfangen oder an den Landestellen vernichten, sie konnte die deutschen Nachschubhäfen angreifen und sie würde den Brückenkopf von der Seeseite aus beschießen, um ihn durch schwere und schwerste Schiffsartillerie zu zerschlagen. Abwehrmöglichkeiten dagegen hatte die deutsche Seite kaum; gegen eine starke Flotte nützen keine Behelfsmittel. Etwas anderes als Behelfsmittel besaß aber die deutsche Seite nicht, so daß eine methodische Landung im Grunde außer !Jetracht bleiben mußte. Allenfalls hätte sich eine schnelle Überraschungsaktion in Erwägung ziehen lassen, sofern sie England in einem Zustand der Schwäche antraf, wo Britannien weder zu Lande noch in der Luft nachhaltigen Widerstand leisten konnte. In einem solchen Zustand befand sich England im Spätsommer 1940 jedenfalls nicht.
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Da es in Deutschland keinen Kriegsplan gab, sondern jegliches strategische Verhalten von den Vorurteilen und Eingebungen Hitlers abhing, waren auch keinerlei Vorkehrungen getroffen für den Fall eines Sieges über Frankreich. Weder gab es durchdachte Vorstellungen, wie der Krieg gegen England beendet werden könnte, noch gab es Pläne, wie er gegebenenfalls weiterzuführen sei. Bezeichnenderweise suchten zuerst die Offiziere diese Lücke zu füllen. Den Beginn machte anscheinend Raeder, der mit einem baldigen Kriegsende offenbar nicht rechnete und schon am 21. Mai 1940 mit Hitler ein Gespräch unter vier Augen über eine Landung in England führte. Was dabei besprochen wurde, ist unbekannt; sofern Raeder nicht lediglich die Schwierigkeiten einer Invasion vor Augen rückte, könnte er höchstens darauf verwiesen haben, daß im Anschluß an die Vernichtung britischer Truppen in Nordfrankreich (der Rückzug aus Dünkirchen war zu dieser Zeit noch nicht absehbar) eine schnelle und überraschende Landung zu erwägen sei. Ende Mai erörterten Warlimont und andere Offiziere aus dem OKW den Gedanken, sofort den aus Dünkirchen fliehenden Briten nachzustoßen und auf die Insel überzusetzen, noch bevor Frankreich restlos besiegt war, doch blieb es bei einem unverbindlichen Meinungsaustausch. Anfang Juni erhielt ein Offizier im Generalstab des Heeres durch Greiffenberg den Auftrag, eine Studie über eine möglichst frühzeitige Überquerung des Kanals an dessen engster Stelle zu erarbeiten, bevor die Briten ihre aus Dünkirchen .entkommenen Truppen wieder instandgesetzt und bevor sie eine Küstenverteidigung aufgebaut hatten. Vermutlich ging die Idee von Haider oder Brauchitsch aus. Etwa zur selben Zeit empfahl der Staatssekretär im Luftfahrtministerium Milch seinem Oberbefehlshaber Göring, alle verfügbaren Kräfte der Luftwaffe an die Kanalküste zu verlegen und mit der Landung in England unverzüglich zu beginnen. Die Luftwaffe könne, ähnlich wie in Norwegen, mit Fallschirmjägern und anderen geeigneten Truppen Flugplätze erobern, dadurch deutsche Fliegergeschwader von englischen Plätzen aus einsetzen und demzufolge die Luftherrschaft über dem Kanal erringen; auf dem Luftweg könne man einige Divisionen hinüberbringen und das schwere Material sowie die Verstärkungen auf dem Seeweg nachführen. Warnend soll Milch hinzugefügt haben: "Wenn wir die Briten vier Wochen in Ruhe lassen, wird es zu spät sein." Zweifellos war der Gedanke kühn, denn auch im geschwächten Zustand würde Britannien bis hinauf nach Schottland sich nicht im Handstreich besetzen lassen, die britische Flotte würde gegen die Invasion tätig werden und Amerika würde wohl mit See- und Luftstreitkräften eingreifen, sofern es nicht von der Geschwindigkeit des deutschen Erfolges gelähmt wurde. Immerhin - falls es überhaupt eine Möglichkeit gab, Britannien auf seiner Insel zu besiegen, war dies vermutlich die einzige erfolgversprechende Lösung, und sie wäre noch erfolgversprechender gewesen, wenn Hitler nicht vorher die Briten aus Dünkirchen hätte entkommen lassen. Freilich hätte, um diese Lösung beizeiten zu prüfen und gegebenenfalls zu verwirklichen, der ganze Krieg sorgfaltig geplant werden müssen, und das war ja im Dritten Reich nicht üblich. Göring lehnte den Vorschlag Milchs ab, wobei er wahrscheinlich insofern recht hatte, als sich Flugplätze
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in England nicht ebenso leicht erobern ließen wie in Norwegen: Einerseits war es schon schwer, Flugplätze in ausreichender Zahl gegen eine starke Abwehr zu nehmen, und andererseits war es noch schwerer, sie gegen britische Angriffe aus der Luft und am Boden sowohl zu halten als auch zu benützen. Kurz vor dem Waffenstillstand mit Frankreich, am 20. Juni, schlug Brauchitsch dem Diktator vor, entweder mit England sofort Frieden zu schließen oder das Übersetzen vorzubereiten und sobald wie möglich durchzuführen. Letzteres schien für Hitler allerdings nicht dringlich zu sein. Als sich am 25. Juni das OKW wegen Vorüberlegungen für eine Landung an den Generalstab der Luftwaffe wandte, lehnte dessen Chef, General Jeschonnek, eine Stellungnahme ab, da seines Erachtens der Führer einen Kanalübergang nicht in Aussicht genommen habe. Das steht scheinbar im Widerspruch zu dem Umstand, daß Raeder bereits am 20. Juni dem Diktator über Vorbereitungen zur Landung in England berichtet hatte. Wahrscheinlich handelte es sich jedoch um ganz unverbindliche Gedankenspiele, denn Raeder berichtete auch über den von Hitler aufgeworfenen Gedanken, Island zu besetzen, was nun wirklich völlig ausgeschlossen war. Raeder hatte allgemein die Angewohnheit, Hitler behutsam zu behandeln und ihm nicht direkt zu widersprechen, wohl weil er wußte, daß er auf diese Weise bei dem rechthaberischen Dilettanten am ehesten etwas erreichen würde. Was Raeder zu dieser Zeit wirklich wollte, ist schwer erkennbar; er wies nur den Diktator darauf hin, daß für eine Landung die Luftherrschaft unerläßlich sei. Da die Luftwaffe bislang keinerlei Anstalten gemacht hatte, die Luftherrschaft zu erringen, blieb insoweit auch der Gedanke an eine Landung müßig. 28 Am 30. Juni legte Jodl eine Denkschrift über die Weiterführung des Krieges gegen England vor, in welcher er sowohl den Kampf gegen das Mutterland als auch den Kampf an der Peripherie empfahl, namentlich im Mittelmeer. Eine Landung wollte er nicht unternehmen, um England militärisch niederzuwerfen, sondern lediglich zu dem Zweck, dem Land notfalls den Todesstoß zu geben, soweit es nicht schon vorher durch den Luft- und Seekrieg kapitulationsreif gemacht worden war. Das Schwergewicht legte Jodl auf den Luftkrieg, was in der Hinsicht stimmig war, daß ohne Luftherrschaft auch die Landung unterbleiben mußte, aber in der Hinsicht falsch, daß eine sichere Gewähr für den Erfolg des Luftkriegs nicht vorlag. Möglicherweise hat Jod! das gewußt, wollte indes die Landung gar nicht unternehmen und schob deswegen den Luftkrieg vor. Wie dem auch sei, am 2. Juli wurde der Beschluß des Führers bekanntgegeben, unter bestimmten Voraussetzungen könne eine Landung in England in Frage kommen, doch habe der Plan noch keine feste Gestalt angenommen und es seien nur Vorbereitungen für einen möglichen Fall zu treffen. Verständlich wird dies vor dem Hintergrund von Hitlers Denkgewohnheiten und seinem Führungsstil. Es wurde dabei außer acht gelassen, daß die 28 Raeders Besprechungen mit Hitler am 21. 5. 1940 und 20. 6. 1940 in G. Wagner, Lagevorträge, 104, 107. Über Landung ferner Warlimont I, 120 ff. Klee, Seelöwe, 60 f. Milch nach lrving, Luftwaffe, 153 f. Brauchitsch nach Engel, Heeresadjutant, 82 f. Jeschonnek nach Klee, Dokumente, 296.
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Landung umso schwieriger werden mußte, je länger man sie hinauszögerte, weil Britannien sich unterdessen zur Verteidigung einrichten konnte. Wenn man die Landung überhaupt ernsthaft ins Auge faßte, mußte sie möglichst schnell und überraschend stattfinden, vielleicht schon im Anschluß an den Sichelschnitt, jedenfalls aber sofort nach dem Zusammenbruch Frankreichs. Zu diesem Zweck mußte sie rechtzeitig geplant werden, so daß zum betreffenden Zeitpunkt die erforderlichen Vorbereitungen, etwa das Zusammenziehen von Schiffsraum für die Überfahrt, bereits weitgehend abgeschlossen waren. Bei einem derart fachmännisch geführten Krieg hätten dann auch die sinnlosen Eingriffe Hitlers in die Operationsführung unterbleiben sollen. Daß man mit dem Sichelschnitt die britische Expeditionsarmee in Frankreich vernichten konnte, stand von vornherein fest; wäre sie nicht aus Dünkirchen entkommen, so hätte dies einen geeigneten Auftakt für die Invasion bilden können. Wenn man hingegen nach dem Fall Frankreichs erst langwierig über eine Invasion nachdachte und langwierige Vorbereitungen dafür traf, dann ließ man besser die Pläne fallen, weil die Landung sowieso nicht mehr glücken würde. Für Hitler allerdings brauchten solche Bedenken nicht schwerwiegend zu sein; er wünschte ja den Zusammenbruch Englands, mithin auch die Invasion, von vornherein nicht, sondern er wollte mit Britannien Frieden schließen, und wenn England dazu nicht bald bereit war, dann wollte er dem Land bzw. seiner Bevölkerung durch eine Demonstration militärischer Gewalt solchen Schrecken einjagen, daß es doch noch willfährig wurde. Militärische Gewalt konnte er demonstrieren, indem er eine Landung vorbereitete und in diesem Rahmen einen harten Krieg aus der Luft entfesselte - vielleicht ließen sich die Briten dadurch weich machen. In einer Führerweisung vom 16. Juli schimmerten diese Beweggründe durch, denn dort hieß es: "Da England, trotz seiner militärisch aussichtslosen Lage, noch keine Anzeichen einer Verständigungsbereitschaft zu erkennen gibt, habe ich mich entschlossen, eine Landungsoperation gegen England vorzubereiten und, wenn nötig, durchzuführen." Gemeint war damit, Britannien solle durch die Landungsvorbereitungen so unter Druck gesetzt werden, daß es die bislang mangelnde Verständigungsbereitschaft zu erkennen gab; erst wenn dies nicht eintrat, konnte die Invasion nötig werden. Die stillschweigende Hoffnung war natürlich, daß es nicht nötig wurde. Da die Weisung diesen unausgesprochenen Vorbehalt enthielt, war sie zugleich widersprüchlich. Schon die Behauptung von der militärisch aussichtslosen Lage Britanniens stellte eine übertriebene Schönfärberei dar. London war zum Nachgeben gerade nicht gezwungen, im Augenblick ohnedies nicht und nach einiger Zeit, wenn die Invasion drohte, ebensowenig, weil es bei einem Landungsversuch eine gute Gelegenheit erhielt, der Wehrmacht eine Niederlage beizubringen. Die aus Hitlers Vorstellungswelt stammende Frage, ob die Landung politisch nötig sei oder nicht, ging am Kern der Sache vorbei; entscheidend war vielmehr die Frage, ob die Landung militärisch möglich war oder nicht. War sie militärisch möglich, dann konnte man, je nach Bedarf, England unter Druck setzen oder die Invasion durchführen; war sie dagegen nicht möglich, dann konnte man sich auch die Vorbereitungen schenken, weil London auf den Trick sowieso nicht hereinfallen
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würde. Ob die Landung militärisch möglich war und unter welchen Bedingungen dies galt, hätte rrian sich rechtzeitig überlegen sollen. Tatsächlich jedoch griff Hitler auf ein Verfahren zurück, das er in ähnlicher Weise im Herbst 1939 schon einmal in Aussicht genommen hatte, als er die Offensive gegen Frankreich hatte beginnen wollen. Damals hatte er geglaubt, durch einen Angriff zu Lande gewissermaßen in den Gegner hineinstochern zu können, um zu sehen, wie weit er kam. Diesmal glaubte er, mit Hilfe der Landungsvorbereitungen, insbesondere dem Luftkrieg, in den Gegner hineinstochern zu können, um zu sehen, wie weit er kam. Im Falle Frankreichs war dieses Verfahren durch die Gunst der Umstände unterblieben. Im Falle Englands würde es nur dazu führen, die Luftwaffe unnötig abzunützen und den Briten das Hochgefühl eines Sieges zu verschaffen. Die Marine betrachtete das Landungsunternehmen so, wie Haider es später beschrieb: voller Hemmungen. Raeder erklärte dem Diktator am 11. Juli, er könne die Operation nicht wie seinerzeit die Landung in Norwegen von sich aus propagieren. In seiner vorsichtigen Art lehnte Raeder die Landung nicht rundweg ab, meinte aber, sie sei nur das letzte Mittel, um England friedensbereit zu machen. Mehr versprach er sich vom Abschneiden der Zufuhren durch einen Luft- und Seekrieg gegen die Geleitzüge sowie durch Luftangriffe auf große Häfen. Am 29. Juli legte die Seekriegsleitung für das Landungsunternehmen, das seit der Führerweisung vom 16. Juli den Decknamen "Seelöwe" trug, eine Denkschrift vor. Darin kam sie zu dem Ergebnis, die Durchführung noch in diesem Jahr sei nicht zu verantworten, und die Möglichkeit der Durchführung überhaupt erscheine höchst zweifelhaft. Das war unstreitig richtig, wenn man bedenkt, daß der deutschen Seite nahezu alle Voraussetzungen für eine Landung an verteidigter Küste fehlten. Die marinetechnischen Einzelheiten brauchen hier nicht alle aufgezählt zu werden; es sei nur erwähnt, daß für die Landung an der Küste lediglich Behelfsfahrzeuge vorhanden waren, die bei den schwierigen Seeverhältnissen im Kanal und dem Wetter im Herbst ein reibungsloses Übersetzen nicht erwarten ließen. Kamen indes Truppen und Material nicht geordnet, zeitgerecht und verläßlich an die Landungsstellen, so konnten sie dort ihre Aufgabe nicht erfüllen. Sodann mußten die Anmarschwege minenfrei gemacht und die Räumverbände geschützt werden, wobei letzteres mangels geeigneter Seestreitkräfte höchstens bei eigener Luftherrschaft und auch dann nur unvollkommen geschehen konnte. Ferner ist eine Landung aussichtslos, solange nicht die Küstenverteidigung niedergekämpft ist. Daß beim Fehlen eigener Schiffsartillerie die Luftwaffe dies besorgen könnte, durfte bezweifelt werden. Raeder schlug deshalb am 31. Juli dem Diktator vor, den "Seelöwen" auf Mai 1941 zu verschieben. Hitler zog sich aus der Affäre, indem er festlegte, die Vorbereitungen sollten bis Mitte September abgeschlossen werden. Vorher solle die Luftwaffe verschärfte Angriffe fliegen; falls sich dabei ausreichende Erfolge einstellten, solle der Seelöwe noch im Herbst 1940 stattfinden. Daß die Luftwaffe dies zuwege bringen würde, hat offenbar auch Hitler nicht mit Sicherheit erwartet. Andererseits muß Göring von Hitler eingeweiht worden sein, oder zumindest hat er Hitlers Absichten geahnt, denn am 8. August wies Warlimont im OKW darauf
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hin, auf Befehl Görings befasse sich die Luftwaffe nicht mit der Landung, und am 5. September hieß es im OKW, Göring interessiere sich nicht für die Seelöwe-Vorbereitungen, da er nicht an die Durchführung glaube. Der merkwürdige Sachverhalt, daß Raeder die Durchführbarkeit des Unternehmens bestritt, Göring nicht daran glaubte, Hitler selber sie bezweifelte und trotzdem die Vorbereitung anordnete, findet eine einfache Erklärung: Es sollte tatsächlich nur militärische Gewalt demonstriert werden, vor allem durch die Luftschlacht um England, in der Hoffnung, die Briten würden die Täuschung nicht durchschauen und vor lauter Angst klein beigeben. Auf dieselbe Weise erklärt sich sodann eine weitere Merkwürdigkeit. Nachdem das OKH bereits im Juni erste unverbindliche Vorüberlegungen wegen einer Landung angestellt hatte, wandte Haider im Juli seine ganze Aufmerksamkeit dieser Frage zu. Am 13. Juli trug er Hitler darüber vor und fand dessen Billigung. Haider entwickelte seinen Plan zunächst allein aus der Sicht des Heeres; ob und inwieweit Marine und Luftwaffe das Übersetzen sicherstellen konnten, suchte er vorläufig zu ergründen, etwa durch eine Rücksprache mit dem Stabschef der Seekriegsleitung, Admiral Schniewind, konnte es aber aus seiner Warte nicht abschließend klären. Haider plante die Landung im operativen Geist des Generalstabs; der Absprung sollte aus einer breiten Front an der Kanalküste \Ion Ostende bis Cherbourg erfolgen, drei Armeen hatten ihre Truppen zu drei Landungsstellen an der englischen Südküste zu überführen, die Landungsfront sollte ziemlich breit sein, damit die britische Abwehr in beweglicher Kriegführung aus den Angeln gehoben werden konnte, in einer ersten Welle sollten 13 Infanteriedivisionen übergesetzt werden, um den Brückenkopf zu errichten, und ihnen sollten, außer umfangreichen Reserven, insbesondere neun schnelle Divisionen folgen, um den Krieg ins Hinterland des Gegners zu tragen. Dieser Plan des OKH löste die erwähnte Denkschrift der Seekriegsleitung vom 29. Juli aus, in welcher bündig erklärt wurde, daß die Landung auf diese Weise nicht stattfinden könne. Haider hatte an drei Stellen landen wollen: einmal in der Kanalenge bei Dover, sodann östlich der Insel Wight zwischen Brighton und Portsmouth, schließlich westlich der Insel Wight bei Weymouth. Raeder stellte am 31. Juli unumwunden fest, die beiden westlichen Landestellen könnten gegen feindliche Seestreitkräfte nicht geschützt werden, so daß nur die Landung in der Dover-Straße in Frage komme und auch sie erst im nächsten Jahr. Hitler traf nun die merkwürdige Entscheidung, die Vorbereitungen für die Landung hätten weiterzulaufen, und zwar für das Heer mit der breiten Landungsfront, die Haider vorgeschlagen hatte. Es ist gewiß richtig, daß bei Hitler unüberlegte Entscheidungen an der Tagesordnung waren, aber in diesem Fall macht es doch stutzig, daß er, obwohl er die Möglichkeit einer Landung äußerst zurückhaltend beurteilte, die Einwände Raeders einfach überging und die unmögliche Landung auf breiter Front vorsah. Wenn er sich dabei in Übereinstimmung mit Haider befand, so besagt das nicht viel. Es war nicht Halders Aufgabe, einen Gesamtplan für die Landung zu entwerfen, sondern der Generalstabschef des Heeres hatte festzu-
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stellen, wie die Bodentruppen den Landkrieg erfolgreich führen konnten. Dafür brauchte das Heer eine breite Landungsfront, denn das britische Heer auf der Insel mit seinen rund 30 Divisionen, darunter etwa die Hälfte voll einsatzfähig, würde einen zu schmalen Brückenkopf abriegeln und eindrücken. Hitlers Aufgabe wiederum war es, als Oberbefehlshaber der Wehrmacht für einen Gesamtplan Sorge zu tragen bzw. die entsprechenden Entscheidungen zu fällen. Wenn die Landung auf breiter Front nicht möglich war, dann war sie gegebenenfalls überhaupt unmöglich und mußte unterbleiben. Hitler jedoch kümmerte sich gar nicht um diese entscheidende Frage, sondern beharrte einfach darauf, die Landung auf breiter Front vorzubereiten. Erneut scheint dies am ehesten dann einen Sinn zu ergeben, wenn es Hitler nicht auf die Landung selbst ankam, sondern nur auf den Druck, den er mittels der Vorbereitungen auf Britannien ausüben konnte. Damit war freilich die Sache noch nicht abgetan. Üblicherweise wird angenommen, Heer und Marine hätten in der Folgezeit ihre Gegensätze ausgeglichen und sich auf eine weniger breite Landungsfront geeinigt. Davon kann jedoch keine Rede sein oder höchstens in einem ganz oberflächlichen Sinn. Die Seekriegsleitung wollte zunächst Hitlers Anordnung, die Vorbereitungen für einen breiten Landungsstreifen fortzusetzen, nicht anerkennen. Am 7. August führten die beiden Stabschefs Haider und Schniewind in dieser Angelegenheit ein Gespräch, wobei Haider den Vorschlag der Marine, nur in der Kanalenge zwischen Polkestone und Eastbourne zu landen, scharf zurückwies mit den Worten, dies sei reiner Selbstmord, ebensogut könnte er die gelandeten Truppen gleich durch die Wurstmaschine drehen. Da an der von der Marine vorgeschlagenen Stelle die Landungstruppen in denkbar ungünstiges Gelände kamen, das eigene Panzerverwendung kaum zuließ und rundum von Höhenzügen eingeschlossen war, forderte das OKH zwei zusätzliche Landestellen, eine weiter westlich bei Brighton und eine weiter nördlich bei Deal, um die Verteidigung zu zersplittern und die flankierenden Höhenzüge zu überwinden. Nach einigem Tauziehen erklärte sich die Marine schließlich bereit, auch bei Brighton zu landen, woraufhin eine Weisung vom 27. August Hitlers Entschluß bekanntgab, es solle auf diese Weise verfahren werden, allerdings mit der Einschränkung, die Operationen des Heeres müßten sich den gegebenen Tatsachen anpassen. Was wie eine Klärung der Sachlage aussah, bedeutete in Wahrheit soviel wie das Ende der Invasion. Schon am 13. August hatte Jodl in einer Lagebeurteilung die Partei des Heeres ergriffen und festgehalten, man müsse an einer Landungsfront von Polkestone bis Brighton innerhalb von vier Tagen 10 Divisionen an Land setzen und innerhalb von vier weiteren Tagen mindestens drei Divisionen mit voller Ausstattung nachschieben sowie Verstärkungen auf dem Luftweg heranbringen. Wenn die Marine dazu außerstande sei, so stelle die Landung eine Verzweiflungstat dar. Jodl erkannte also deutlich - was regelmäßig übersehen wird daß außer der Breite der Landungsfront auch andere Bedingungen eine Rolle spielten, so insbesondere der Zeitfaktor, denn wenn die Landungstruppen zu langsam und zu schwach an der Küste Fuß faßten, würden sie bald wieder ins Meer geworfen werden.
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Diese anderen Bedingungen konnten nie erfüllt werden, wobei der Vollständigkeit halber erwähnt sei, daß die Marine dem Heer auch die geforderte Verbreiterung der Landungsfront bis Deal nicht zugestand. Raeder trug dem Diktator am 13. August wieder einmal vor, der Seelöwe könne nur die ultima ratio sein, was Hitler nicht bestritt. Tags darauf stellte Hitler selber fest, auch wenn die Invasion nicht stattfinde, solle doch die Drohung damit auf jeden Fall aufrechterhalten bleiben, womit er offen den bloß propagandistischen Charakter der Vorbereitungen eingestand. Als Haider am 23. August von Greiffenberg über die Verhandlungen mit der Seekriegsleitung unterrichtet wurde, notierte er sich die folgenden Punkte, die übrigens alle mit der Breite der Landungsfront nichts zu tun hatten, aber dennoch entscheidend waren: Erstens sollte Le Havre als Absprunghafen nur einmal benützt werden und ansonsten für den Nachschub ausfallen (Ausrufezeichen). Zweitens waren für die Überführung des ersten Treffens der Landungstruppen 12 Tage vorgesehen (zwei Ausrufezeichen. Jodl hatte vier Tage verlangt). Voraussetzung für den Verladebeginn sei drittens die Luftherrschaft (die nie erreicht wurde). Viertens konnten auf den Landungsfahrzeugen nur in ganz geringem Ausmaß Geschütze montiert werden, so daß die Landung weitgehend ohne Feuerschutz stattfinden mußte. Als Ergebnis hielt Haider fest, "auf diesen Unterlagen hat in diesem Jahr ein Angriff keine Aussicht." Damit war auch für das Heer der Seelöwe abgetan, was am 30. August durch einen Offizier aus dem. Generalstab des Heeres, Oberst Heusinger, noch einmal bestätigt wurde, der im OKW Halders Auffassung dahingehend darlegte, bei der jetzt befohlenen Operation könne es sich nur noch darum handeln, einem durch den Luftkrieg niedergeworfenen Gegner den Fangstoß zu geben. Das OKH führte die Vorbereitungen zwar noch weiter, doch war auch hier unschwer erkennbar, daß die Invasion mit ziemlicher Sicherheit nicht stattfinden würde. So hieß es in der Weisung der 16. Armee, die den größeren Teil des Landungsabschnitts zwischen Polkestone und Eastbourne in die Hand zu nehmen hatte, die vier (!) Infanteriedivisionen ihres ersten Treffens hätten sich darauf einzurichten, ihre Anfangsstellung mindestens acht Tage ohne weitere Unterstützung und ohne weiteren Nachschub an Munition, Verpflegung und Betriebsstoff gegen zu erwartende Angriffe der operativen Reserven des Feindes (einschließlich Panzerkräfte) zu verteidigen. Eine solche Invasion wäre in der Tat ein Verzweiflungsunternehmen geworden. 29
29 Jodls Denkschrift vom 30. 6. 1940, Hitlers Entschluß vom 2. 7. 1940 und die Führerweisung vom 16. 7. 1940 in Klee, Dokumente, 298 ff., 301 f., 310 ff. Raeders Vorträge bei Hitler am 11.7., 31.7. und 13. 8. 1940 in G. Wagner, Lagevorträge, 108ff., 126ff., 129ff. Über Göring am 8.8. und 5. 9. 1940 KTB OKW Ul, 13, 65. Die Denkschrift der Seekriegsleitung vom 29. 7. 1940 in Klee, Dokumente, 315 ff. Haider über Landung in seinem KTB II, 3 ff., 46 ff und passim. Dazu Klee, Seelöwe, passim. Das Gespräch Haider - Schniewind, die Weisung vom 27. 8. 1940 sowie Jodls Denkschrift vom 13. 8. 1940 in Klee, Dokumente, 341 ff., 358 f., 353 ff. Hitlers Feststellung vom 14. 8. 1940 nach Klee, Seelöwe, 198. Haider über Aussichtslosigkeit der Landung am 23. 8. 1940 in seinem KTB II, 75. Dazu Heusinger in KTB OKW Ul, 53. Weisung der 16. Armee vom 9. 9. 1940 in Klee, Dokumente, 378ff.
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Statt einer Landung hatten Raeder und Jodl schon im Juni/Juli 1940 so etwas wie einen strategischen Luftkrieg empfohlen, indem Raeder vor allem die Zufuhren angreifen wollte, während Jodl teils auf den unmittelbaren Kampf gegen die britische Luftwaffe abhob, teils auf den mittelbaren durch Angriffe auf die englische Flugzeugindustrie und teils auf den Krieg gegen die Versorgung. Mit einer Weisung vom 1. August über den Luft- und Seekrieg gegen England machte sich Hitler dies zu eigen. Es hieß dort, der Krieg gegen das britische Mutterland solle verschärft werden, um die Voraussetzungen für die endgültige Niederringung Englands zu schaffen. Daraus könnte man wohl auch den Schluß ziehen, die Niederringung solle durch die Invasion erreicht werden. Der Text der Weisung lehrt jedoch etwas anderes. Zunächst sollte die deutsche Luftwaffe die Luftüberlegenheit erringen im Kampf gegen die fliegenden Verbände, die Bodeneinrichtungen und die Flugzeugindustrie des Gegners; anschließend sollte der Krieg gegen Versorgungseinrichtungen weitergeführt werden. Von der Landung war nur insoweit die Rede, als die Luftwaffe für Seelöwe kampfkräftig zur Verfügung stehen sollte. Das ist in hohem Maße auffällig. Für eine Landung war zwar auch die Luftüberlegenheit oder Luftherrschaft nötig, aber der Kampf gegen Versorgungseinrichtungen war dafür ebenso überflüssig wie ungeeignet. Zur Vorbereitung einer Invasion mußten vorrangig militärische Ziele angegriffen werden, d. h. die gegnerische Luftwaffe, dann vor allem die Flotte mit ihren Landeinrichtungen, ferner die Bodentruppen und nicht zuletzt die Verkehrsverbindungen, um die bewegliche Abwehr einer Landung zu behindern. Ein solcher Luftkrieg wäre operativer Natur gewesen, d. h. er hätte die Landungsoperation vorbereitet und erleichtert. Einen solchen Krieg sah die Weisung nicht vor, vielmehr wurde ausdrücklich gesagt, der Krieg gegen feindliche Flotteneinheiten könne zurücktreten, von anderen militärischen Zielen war überhaupt nicht die Rede, statt dessen wurde vom Krieg gegen die Lebensmittelbevorratung gesprochen sowie von der Unterstützung von Seeoperationen, womit Angriffe auf Geleitzüge gemeint waren. Diese Art von strategischem Luftkrieg konnte offenbar nur einem Ziel dienen: die britische Bevölkerung mürbe zu machen, um so dem ersehnten Frieden näher zu kommen, und zwar nach Möglichkeit einem Frieden ohne Landung. Der geplante Luftkrieg fügt sich also nahtlos in die Absichten Hitlers ein: Es sollte militärische Gewalt demonstriert, Britannien unter Druck gesetzt werden, um es zum Nachgeben zu veranlassen. Die Schwachstelle dieser Art von Kriegführung wurde von der Seekriegsleitung sofort erkannt: Wenn der Luftkrieg sich kaum oder gar nicht gegen die britische Flotte richtete, dann war er als Vorbereitung für die Invasion ungeeignet. Anfang September, als die Luftwaffe zur Bombardierung Londons übergegangen war, stellte die Seekriegsleitung fest, zur Vorbereitung des Seelöwen wäre es angebracht, wenn die Luftwaffe sich jetzt auf die Häfen an der Kanalküste und die gegnerischen Seestreitkräfte konzentrieren würde. Manwolle eine solche Forderung jedöch riicht stellen, weil der Führer den strategischen Luftkrieg als möglicherweise kriegsentscheidend ansehe und weil sich vielleicht eine Haltung des Gegners ergebe, die den Seelöwen ganz unnötig mache.
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In diesem Sinn wurde die Luftschlacht um England tatsächlich geführt. Den genauen Zeitpunkt für den Beginn des verschärften Luftkriegs sollte gemäß der genannten Führerweisung die Luftwaffe je nach Stand der Vorbereitungen und Wetterlage selbst bestimmen; Göring legte ihn dann auf den 13. August, der als "Adlertag" bekannt wurde, weil die Operation unter dem Decknamen "Adler" lief. Übermäßig hoffnungsfroh kann Göring an das Unternehmen nicht herangegangen sein, denn er nahm in Aussicht, die Angriffe vorzeitig abzubrechen, wenn die eigenen Verluste während der ersten Tage, wie zu erwarten, nicht unerheblich sein sollten und wenn man nur unzureichend über die Angriffserfolge und die feindlichen Verluste unterrichtet wäre. Das trat zwar nicht ein, aber die Luftwaffe, als operative Streitkraft aufgebaut und zu einem regelrechten strategischen Luftkrieg eigentlich gar nicht in der Lage, erzielte lediglich begrenzte Erfolge. Mit einem Bestand von rund 950 einsatzfähigen Jagdflugzeugen, rund 1 100 einsatzfähigen Kampfund Sturzkampffliegern sollten die Luftflotten 2 und 3 aus dem Gebiet an der Nordsee und am Kanal, die Luftflotte 5 aus Norwegen zunächst die britische Luftmacht zerschlagen, die über rund 700 Jäger und 500 Bomber verfügte sowie über eine leistungsfähige Luftabwehrorganisation mit Radargeräten. Das früher erwähnte "Ultra" erwies sich als nützlich, um das deutsche Kampfverfahren besser zu erkennen, hatte indes keine entscheidende Auswirkung auf den Verlauf der Luftschlacht. Der deutsche Operationsplan sah vor, durch das Ausschalten der britischen Luftabwehr die Luftüberlegenheit oder sogar Luftherrschaft zu erringen, denn wenn die englischen Jäger nicht mehr oder nicht mehr ausreichend imstande waren, die deutschen Bomberverbände anzugreifen, konnten diese nach Belieben und Bedarf wirtschaftliche, militärische oder andere Ziele bekämpfen. Zu dem genannten Zweck fand der Luftkrieg anfangs hauptsächlich über Sü!iengland statt, weil die Masse der deutschen Jäger mit ihrer begrenzten Reichweite nur dort einsetzbar war.· In einem ersten Schritt sollten durch Bombenangriffe und Jägerkämpfe im südenglischen Raum die dortigen Bodeneinrichtungen zerstört und die britische Jagdwaffe abgenutzt werden. Ab Anfang September wurde der Angriffsschwerpunkt auf das Gebiet von London verlegt, teils um die englischen Jäger herauszulocken, teils um die dortige Luftrüstungsindustrie zu treffen. Daneben fanden Angriffe auf andere große Orte statt, so namentlich auf Liverpool, das als Zielpunkt von Geleitzügen für das Versorgen der Bevölkerung wichtig war. Man mag darüber streiten, ob die Luftwaffe bis in den September die Luftüberlegenheit im südenglischen Raum erlangte; jedenfalls wurde die britische Jagdabwehr zwar geschwächt, aber nicht ausgeschaltet, die britische Bomberwaffe, von der Führung bewußt zurückgehalten, erlitt geringe Einbußen und stand für das Zurückschlagen einer Invasion bereit, die Luftherrschaft, von Hitler und anderen als Vorbedingung des Seelöwen verlangt, wurde mit Sicherheit verfehlt. Bei einer Besprechung mit den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte am 14. September stellte deshalb Hitler fest, die Luftherrschaft sei bislang nicht erreicht worden, so daß der Beginn des Landungsunternehmens verschoben werden müsse. Wichtiger war indes die Aussage des Diktators, der Seelöwe solle jetzt noch nicht abgeblasen wer-
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den. Das setzt natürlich voraus, daß das Abblasen bereits erwogen oder gar seit längerem geplant worden war. Andererseits steht es in deutlichem Widerspruch zu Hitlers Behauptung, der Luftkrieg könnte in ein bis zwei Wochen doch noch stärkere Wirkung entfalten. Wenn letzteres begründet war, gab es ja keine Veranlassung, jetzt schon über das Abblasen nachzudenken. Der scheinbare Widerspruch klärt sich jedoch, wenn man annimmt, daß die Anwesenden im Grunde alle dasselbe im Auge hatten, es nur nicht ungeschminkt aussprachen. Raeder hatte die Landung sowieso nie gewollt; als sich jetzt abzeichnete, daß er mit seiner Meinung recht behalten würde, blieb er bei seiner alten Taktik, den Diktator vorsichtig zu beeinflussen, stimmte ihm zu, strich jedoch gleichzeitig heraus, die Luftlage werde sich in ein paar Wochen auch nicht ändern. Hitler selber gab zu erkennen, was ihn wirklich bewegte. Er meinte, die bisherigen Luftangriffe hätten eine ungeheure Wirkung ausgeübt, wenn vielleicht auch hauptsächlich auf die Nerven. Zu diesem Eindruck gehöre auch die Angst vor der Landung. Der Eindruck der Landungsgefahr dürfe nicht weggenommen werden, dies könnte sonst zur Nervenentspannung des Feindes führen. Bei einem Fortgang des Luftkriegs könnten auf englischer Seite noch hysterische Massenerscheinungen auftreten. Der Stabschef der Luftwaffe, Jeschonnek, sprach ebenfalls von einer Massenpanik, die aber bislang nicht eingetreten sei, weil keine Angriffe auf Wohnviertel stattgefunden hätten. Solche Angriffe auf die Zivilbevölkerung hatte Hitler in seiner Weisung vom 1. August sich vorbehalten und bisher nicht erlaubt, vielleicht weil er den Krieg gegen den Wunschpartner England nicht unnötig blutig machen wollte. Wie auch immer, es ist jedenfalls erkennbar, daß für Hitler und ansdreinend ebenso für die Luftwaffenführung die psychologische und propagandistische Wirkung des Luftkriegs wie der Landungsvorbereitungen im Vordergrund stand. Der Seelöwe wurde nicht eigentlich verschoben, sondern er wurde noch nicht abgesagt, obwohl insgeheim jeder wußte, daß er nicht stattfinden würde; und er wurde nicht abgesagt, weil man den Gegner in Angst halten wollte, verstärkt durch den Luftkrieg, um schließlich doch noch die Friedensbereitschaft herauszupressen. Die Sache schleppte sich noch eine Zeitlang hin, wobei die Wehrmachtsteile bereits begannen, die Vorbereitungen zu lockern, bis schließlich durch OKW-Weisung vom 12. Oktober Hitlers Entschluß bekanntgegeben wurde, die Landungsvorbereitungen seien lediglich als politisches und militärisches Druckmittel weiter aufrechtzuerhalten. Sollte im nächsten Jahr, 1941, die Landung erneut beabsichtigt werden, so werde dies zeitgerecht befohlen. Hätte der Luftkrieg wirklich der Vorbereitung des Seelöwen gedient, so wäre es zweckmäßig gewesen, ihn jetzt einzustellen. Dies geschah jedoch nicht; vielmehr gingen die Luftangriffe auf London weiter, dazu traten ab Oktober Angriffe auf das mittelenglische Industriegebiet sowie weitere Einsätze, die nach wie vor der Abnutzung der britischen Jagdwaffe dienen sollten. Außer einigen Schäden wurde damit nichts Wesentliches erzielt. Die Luftwaffe verlor über 2 000 Flugzeuge sowie, was schwerer wog, über 4 000 Mann des fliegenden Personals durch Tod oder Gefangennahme. Wertvolle Maschinen und unersetzliches Personal waren sinnlos verbraucht worden und fehlten
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dann bei anderer Gelegenheit. Hitlers Strategie hatte wieder einmal ihfe Früchte gezeitigt. 30 Wenngleich Britannien weder zur See noch durch eine Landung besiegt werden konnte, so blieb doch die Möglichkeit, das Land an anderer Stelle, namentlich im Mittelmeerraum, zu treffen. Diese Verlagerung des Krieges an die Peripherie wurde von Jodl in seiner Denkschrift vom 30. Juni 1940 angeregt, sie wurde vom OKH Ende Juli vorgeschlagen, sie wurde danach vom OKW weiter verfolgt, und sie wurde ab September vor allem von der Seekriegsleitung vertreten. Am 6. September fragte Raeder den Diktator unverblümt, welche politischen und militärischen Richtlinien er gebe, wenn der Seelöwe ausfalle. Der Oberbefehlshaber der Marine verbreitete sich sodann ausführlich über die entscheidende strategische Bedeutung einer Kriegführung im Mittelmeerraum, über die Sicherung unbeschränkter Rohstoffquellen, insbesondere das Öl des vorderen Orients, über die vorteilhafte politische Stellung, welche die Achsenmächte auf dem Balkan, in der Türkei, in Arabien, Ägypten und Afrika gewinnen würden, über das Schaffen einer günstigen Ausgangsbasis für weitere Maßnahmen gegen das Empire, über die Schwächung Englands und anderes mehr. Raeder sah in der Mittelmeerkriegführung eine Hauptaktion gegen England, die noch vor einem Eingreifen der USA durchgeführt werden müsse. Am 26. September kam Raeder erneut auf das Thema zu sprechen, gab ihm aber nun einen neuen Schwerpunkt. In einer Unterredung ohne Zeugen legte er dem Führer seine Auffassung über den Fortgang des Krieges dar, auch über sein eigenes Ressort hinaus. Was Raeder dabei entwickelte, war nichts anderes als ein strategischer Gegenentwurf zu den Absichten Hitlers, und zwar ein Entwurf, der grundsätzlich die Möglichkeit in sich barg, dem Krieg eine Wendung zu geben. Raeder wußte seit dem Juli 1940, daß Hitler mit dem Gedanken eines RußlandFeldzugs schwanger ging. Abgesehen davon, daß Raeder persönlich zu einer Verständigung mit Rußland neigte, wie er schon anläßlich der Weserübung deutlich gemacht hatte, überblickte der Oberbefehlshaber der Marine auch die strategische Lage im großen. Selbst wenn der Wehrmacht ein befriedigender Abschluß des Ostkriegs gelang, nützte das dem Deutschen Reich strategisch gar nichts, weil es anschließend erst recht darauf gefaßt sein mußte, von Amerika und England niedergerungen zu werden. Raeder zog daraus den Schluß, der Ostkrieg sei zu unterlassen; statt dessen sollte sich Deutschland ganz auf den Krieg gegen England konzentrieren, und zwar an der Stelle, wo es wirklich etwas erreichen konnte, nämlich im Mittelmeer, denn dort vermochte es in einem Landkrieg Boden- und Luftstreitkräfte zur Wirkung zu bringen, dort vermochte es durch den Gewinn von Rohstof30 Hitlers Weisung vom 1. 8. 1940 in Hubatsch, Weisungen, 75 f. Seekriegsleitung über Luftkrieg nach Klee, Seelöwe, 171 f., 175 (5.8. und 10. 9. 1940). Görings Haltung zum Luftkrieg nach KTB OKW 111, l1 (7. 8. 1940). Die Besprechung vom 14. 9. 1940 in Halder, KTB II, 98ff. G. Wagner, Lagevorträge, 142. Die Weisung vom 12. 10. 1940 in Klee, Dokumente, 441 f. Ferner MGFA, Weltkrieg II, 375 ff. (Beitrag Maier). Parker, Struggle, 48 ff. Haider, KTB II, 128. Rohwer, Einfluß, 342f.
20 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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fen seine strategische Standfestigkeit zu erhöhen, und dort vermochte es vor allem seine politische Lage wesentlich zu verbessern. Wenn es gelang, Frankreich auf die deutsche Seite zu ziehen, dann war Deutschland nicht nur imstande, den ganzen Mittelmeerraum zu seinem strategischen Hinterland zu machen, dann konnte es nicht nur Zugang zu Rohstoffen gewinnen, die es von Rußland unabhängiger machten und zugleich Hitlers Argument entkräfteten, Deutschland brauche die Rohstoffe Rußlands. Sondern wenn Deutschland den Schwerpunkt seiner Kriegführung politisch wie militärisch ins Mittelmeer verlegte, wenn es zur Zusammenarbeit oder gar zum Bündnis mit Frankreich gelangte, dann mochte sich doch noch die Gelegenheit ergeben, den Krieg zu einem glücklichen Ende zu führen. Erstens würde ein Feldzug gegen Rußland dann überflüssig sein; zweitens würde Amerika seine ~altung überdenken müssen, da es dann vor der Aussicht stand, zugunsten Britanniens in einen Krieg gegen Deutschland und Frankreich einzutreten, und zwar in einen Krieg bei ungewisser Stellung der Sowjetunion, da diese je nach Bedarf Deutschland mittelbar unterstützen oder, wenn das Reich einer Niederlage entgegenging, große Teile Europas überrollen konnte; und drittens würde Britannien nach dem Verlust des Mittelmeers zwar noch nicht besiegt sein, aber es würde weder auf Rußland noch auf Amerika mit Sicherheit zählen dürfen, so daß ihm langfristig schwerlich etwas anderes übrigblieb als der Friedensschluß. Bei der Unterredung vom 26. September 1940 legte deshalb Raeder dem Diktator dar, im Zentrum der britischen Gesamtstellung, im Mittelmeer, sei Italien immer stärker der Hauptangriffspunkt England suche Italien zu erdrosseln, was die Italiener noch nicht richtig begriffen hätten, da sie deutsche Hilfe ablehnten. Deutschland müsse den Kampf gegen England mit allem Nachdruck führen, vor allem im Mittelmeer und ohne jeden Verzug, ehe Amerika wirksam eingreifen könne. Raeder, der es gewöhnt war, Hitler behutsam zu behandeln, hatte wahrscheinlich den Verweis auf Italien als Ansatzpunkt gewählt, weil er auf diese Weise am ehesten das Ohr des Diktators zu gewinnen hoffte. Daß er zur Eile drängte, kann schwerlich mit der Furcht vor dem Eingreifen Amerikas zusammenhängen, denn so schnell vermochte Amerika nicht einzugreifen, sondern Hitler sollte möglichst schnell seine Aufmerksamkeit dem Mittelmeer zuwenden, damit er vom Ostfeldzug abgelenkt wurde. Der Großadmiral fuhr fort, da die Italiener voraussichtlich den Suezkanal nicht nehmen könnten, müßten sie durch deutsche Truppen unterstützt werden. Von Suez aus könne der vordere Orient in die Hand genommen werden, womit auch die Türkei von Deutschland abhängig werde. Das Rußlandproblem erhalte dann ein anderes Aussehen; ein Feldzug gegen Rußland werde dann wohl unnötig sein, zumal Rußland im Grunde Furcht vor Deutschland habe. Sodann sei die Frage Nordwestafrika von ausschlaggebender Wichtigkeit. Es sei wichtig, mit Frankreich zusammenzugehen, um Nordwestafrika zu sichern. Da Raeder Hitlers Voreingenommenheit gegenüber Frankreich und seine Anhänglichkeit gegenüber Mussolini kannte, behandelte er diesen Punkt mit einiger Vorsicht. Obwohl das Mittelmeer das politische Interessengebiet der Italiener sei, sprach er sich trotzdem für eine deutsche Führung in Nordafrika aus, auch deswegen, weil
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Frankreich sich nur Deutschland gegenüber als Besiegter fühle. Das lief am Ende darauf hinaus, Frankreich möglichst milde zu behandeln, wie dies zu jener Zeit ja von der Seekriegsleitung allgemein empfohlen wurde. Hitler stimmte den Gedankengängen Raeders - soweit er sie verstanden hatte grundsätzlich zu, deutete jedoch bereits an, daß er das zu tun beabsichtige, was früher beschrieben wurde, nämlich durch grandiosen Betrug einen Interessenausgleich zwischen Italien, .Frankreich und Spanien zuwege zu bringen. Raeder seinerseits verfocht noch monatelang den Gedanken, auf den Rußlandfeldzug zu verzichten und statt dessen Britannien im Mittelmeer zu schlagen, um Deutschland nicht politisch und militärisch in die Sackgasse zu manövrieren. Als er am 14. November feststellte, daß der Führer noch immer geneigt war, die Auseinandersetzung mit Rußland zu betreiben, empfahl er ihm eine Verschiebung auf die Zeit nach dem Sieg über England, da andernfalls ein Ende der Kriegführung nicht absehbar sei. Das war ein hintergründiger Rat. Raeder gab zu verstehen, auch bei einem Sieg über Rußland sei gar nichts entschieden. Andererseits bedeutete das Verschieben im Sinne Raeders, es müsse erst einmal der Sieg über England erfochten werden. Daß dies durch den Krieg im Mittelmeer mit Sicherheit erreicht werde, hat Raeder nie behauptet. Der Krieg konnte demnach weitergehen, selbst bei einem deutschen Sieg im Mittelmeer, und trotzdem sollte Rußland nicht angegriffen werden. Dahinter konnte sich nur die Absicht verbergen, den Krieg zu einem gütlichen Ende zu bringen, und zwar noch vor dem Eingreifen Amerikas, sonst würde das Ende kaum gütlich sein. Hilfestellung sollte dabei das Verhältnis zu Frankreich leisten, deswegen hielt die Seekriegsleitung im Oktober wieder einmal fest, es solle eine endgültige Regelung des Verhältnisses Deutschlands zu Frankreich auf der Basis eines europäischen Zusammenschlusses erreicht werden. In diesem Sinn meinte auch Warlimont, mittlerweile Generalmajor, kein Vorhaben als dieses schien größere Möglichkeiten zu bieten, der gefürchteten Ausweitung des Krieges nach Osten und vielleicht auch in Hinblick auf die Vereinigten Staaten von Amerika erfolgversprechend zu begegnen. Am 27. Dezember 1940 äußerte Raeder noch einmal schwere Bedenken gegen den Rußlandfeldzug vor der Niederringung Englands. Aber all dies half nichts mehr; Hitler blieb dabei, seinen Weltanschauungskrieg zu führen? 1 Die Form, in welcher es zu einer deutschen Kriegführung im Mittelmeerraum kam, hing mit dem Versagen Italiens zusammen. Nachdem Mussolini am 28. Oktober 1940 seinen unüberlegten Feldzug gegen Griechenland begonnen hatte, hielt Hitler zunächst an seiner Absicht fest, durch den erwähnten grandiosen Betrug Frankreich, Spanien und Italien auf eine Linie gegen England zu bringen. In Hitlers Weisung vom 12. November hieß es demzufolge, vordringliche Aufgabe der Franzosen bei ihrer geplanten Zusammenarbeit mit Deutschland sei die defensive 31 Raeders Vorträge bei Hitler am 6.9., 26.9., 14.11. und 27. 12. 1940 sowie weitere Dokumente zur Haltung der Seekriegsleitung in G. Wagner, Lagevorträge, 136ff., 143ff., 154ff., 173. Ferner Warlimont I, 136.
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und offensive Sicherung ihrer afrikanischen Besitzungen gegen England und die de-Gaulle- Bewegung. Ferner sollte der Kriegseintritt Spaniens herbeigeführt werden, um mit deutscher Hilfe Gibraltar zu nehmen und die Briten aus dem westlichen Mittelmeer zu vertreiben. In Hinblick auf Italien sollten sodann deutsche Kräfte bereitgestellt werden, darunter eine Panzerdivision sowie Fliegerkräfte, die jedoch angesichts des italienischen Widerstrebens, sich von den Deutschen helfen zu lassen, frühestens dann einzusetzen waren, wenn die Italiener bei ihrer Offensive in Ägypten den Ort Marsa Matruk erreicht hatten, womit wegen der italienischen Schwäche nicht so bald zu rechnen war. Was Rußland betrifft, so sollte das Ergebnis der Gespräche mit Molotow abgewartet werden, doch waren unabhängig davon die mündlich befohlenen Vorbereitungen für einen Feldzug fortzusetzen. Und schließlich sollten Vorbereitungen getroffen werden, um im Bedarfsfall aus Bulgarien heraus das griechische Festland nördlich des Ägäischen Meeres in Besitz zu nehmen und damit die Voraussetzung zu schaffen für den Einsatz deutscher Fliegerverbände gegen englische Luftstützpunkte, die das rumänische Ölgebiet bedrohten. Letzteres bildete eine unmittelbare Folge von Mussolinis Griechenland-Abenteuer, denn der griechische Diktator Metaxas bat auf Grund der britischen Garantieerklärung sofort um Hilfe in London, woraufhin die Briten Anfang November sich in Kreta einrichteten und in der Folgezeit Luftstreitkräfte auf das griechische Festland verlegten. Bei Fortdauer der Kämpfe in Griechenland zeichnete sich damit die Gefahr ab, daß eine Balkanfront entstand, angrenzende Länder in den Krieg hineingezogen wurden, die Italiener die Lage nicht meistem konnten, schließlich die Wehrmacht eingreifen mußte und die Briten die Gelegenheit wahrnahmen, das rumänische Ölgebiet zu bombardieren. Eine solche Lage war für Hitler zweifellos dann besonders unbequem, wenn sie die Durchführung des Rußlandfeldzugs behinderte; sie wäre indes auch unerfreulich gewesen, wenn der Ostkrieg nicht stattgefunden hätte, denn bei einem Krieg um Griechenland erhielt Britannien auf jeden Fall die Möglichkeit, die Achsenmächte zu schädigen und den Balkan in Unruhe zu versetzen. Daß dagegen Vorkehrungen zu treffen waren, verstand sich von selbst; die Führerweisung vom 12. November sprach denn auch nur davon, im Bedarfsfall einzugreifen, zudem sollte dann lediglich Nordgriechenland besetzt werden, um die britische Luftbedrohung abzuwenden. Nachdem die griechische Gegenoffensive ab Mitte November die Italiener weit zurückgeworfen hatte, wurde das Eingreifen der Wehrmacht fast unausweichlich. Dabei ging es Hitler gar nicht darum, Mussolini zu helfen, denn wie er bei einer Besprechung mit Brauerutsch und Haider am 5. Dezember ausführte, habe die unerfreuliche Lage in Albanien auch ihre Vorteile. Der Mißerfolg wirke als gesundes Zurückschrauben der italienischen Ansprüche auf die natürlichen Grenzen des italienischen Vermögens. Hitler kam es lediglich darauf an, die Briten aus Griechenland zu vertreiben. Dafür gab es zwei Wege. Entweder der griechische Krieg wurde beendet, äußerstenfalls auch durch einen Rückzug der Italiener aus Albanien, und die Griechen veranlaSten die Briten, ihr Land zu verlassen, dann brauchte die Wehrmacht nicht
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einzugreifen, wie Hitler selbst festhielt Oder dies geschah nicht, dann mußte die Wehrmacht die Briten aus Griechenland hinauswerfen. Für diesen Fall mußten die Vorbereitungen rechtzeitig getroffen werden, denn da ein deutscher Aufmarsch im Südosten an die drei Monate dauerte, mußten für einen Frühjahrsfeldzug die Befehle noch im Dezember 1940 hinausgehen. So erließ Hitler am 13. Dezember die Weisung für das Unternehmen "Marita", in welcher es hieß, angesichtsder bedrohlichen Lage in Albanien sei es doppelt wichtig, daß englische Bestrebungen, unter dem Schutz einer Balkanfront eine auch für das rumänische Ölgebiet gefährliche Luftbasis zu schaffen, vereitelt würden. Zu diesem Zweck solle in Rumänien eine Kräftegruppe gebildet werden, die im Frühjahr über Bulgarien hinweg die Nordküste der Ägäis und notfalls das ganze griechische Festland besetzen solle. Der Südostfeldzug war fast das einzige, was von der gewünschten deutschen Mittelmeerkriegführung übrigblieb. Vichy-Frankreich sah keine Veranlassung, sich ohne greifbare Gegenleistungen von Hitler ausnützen zu Jassen, und Spanien stellte für seinen Kriegseintritt Forderungen, die Hitler nicht erfüllen wollte. Über den augenblicklichen Mißerfolg hinaus bildeten diese Ereignisse eine der entscheidenden Weichenstellungen des Krieges. Die Tragweite der Geschehnisse liegt weniger in dem Umstand, daß im Herbst 1940 der günstige Zeitpunkt verpaßt wurde, den Schwerpunkt der Kampfhandlungen ins Mittelmeer zu verlegen und Britannien daraus zu vertreiben. Wurde die Mittelmeerstrategie nicht sofort gewählt, so konnte dennoch für sie gelten, daß sie nur aufgeschoben, nicht jedoch aufgehoben war. Es stellte sehr wohl eine Denkmöglichkeit dar, zunächst einen Feldzug gegen Rußland zu führen und erst danach die Wendung zum Mittelmeerraum zu vollziehen. Insofern durfte Hitler glauben, das Scheitern seines grandiosen Betrugs lasse sich verschmerzen, denn die Wehrmacht könne nach einem Sieg über die Sowjetunion immer noch darangehen, die Briten im Mittelmeer zu schlagen. Richtig war daran so viel, daß die Wehrmacht nach einer schnellen Niederwerfung Rußlands stark genug war, um auch im Mittelmeer bedeutende Erfolge zu erzielen, und daß durch den Gewinn dieses Raumes oder wesentlicher Teile davon die strategische Stellung der Achsenmächte erheblich verbessert wurde. Trotzdem enthielt eine solche Rechnung einen grundlegenden strategischen Denkfehler. Hitler glaubte, nach einem Sieg über die Sowjetunion den Westmächten standhalten zu können, namentlich Amerika, so daß es aus diesem Blickwinkel sogar zweckmäßig erscheinen mochte, die Mittelmeerstrategie erst nach dem Rußlandfeldzug zu verwirklichen. In Wahrheit jedoch traf das zu, was Raeder dem Diktator nahezubringen versuchte: Ein Niederwerfen der Sowjetunion (sofern es überhaupt eintrat) würde weder den Krieg insgesamt beenden noch die Aussichten der Achsenmächte auf einen Endsieg in irgendeiner Weise verbessern, im Gegenteil würde ein Krieg gegen Rußland das Dritte Reich in einen Weltkrieg verwickeln, in welchem das Potential Amerikas den Ausschlag geben würde. Einen solchen Krieg konnten die Achsenmächte niemals gewinnen, vielmehr gab es für Deutschland nur eine sichere Möglichkeit, heil aus dem Krieg herauszukommen: Es mußte den Krieg beenden, bevor Amerika Gelegenheit erhielt, ihn zu entscheiden. Zu diesem Zweck
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mußte das geschehen, was Raeder vorschlug: Der Feldzug gegen Rußland hatte zu unterbleiben, Britannien war im Mittelmeer zu bekämpfen, und Deutschland hatte den Ausgleich mit Frankreich anzustreben, teils um Nordwestafrika zu sichern, noch mehr aber, um auf diese Weise politisch einen Ausweg aus dem Krieg zu finden. Raeders Mittelmeerstrategie war deshalb Strategie im Vollsinn des Wortes: Sie stellte nicht bloß eine bestimmte Weise dar, den Krieg militärisch zu führen, sondern sie fragte nach dem Sinn und Ende dieses Krieges überhaupt und beantwortete die Frage aus der umfassenden Kenntnis aller Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen der Mächtekonstellation. In diesem Licht stellte Raeders Mittelmeerstrategie auch keine Alternativstrategie dar, sondern geradezu die einzig richtige bzw. die einzig erfolgversprechende Strategie. Ob Hitler die Gedankengänge Raeders begriffen oder nachvollzogen hat, bleibt ungewiß; jedenfalls folgte er ihnen nicht. Damit trat eben das ein, was vorhin genannt wurde: Der Südostfeldzug war fast das einzige, was von der gewünschten deutschen Mittelmeerkriegführung übrigblieb, und dies hing wiederum mit dem Versagen Italiens zusammen. Das heißt indes nicht, daß eine deutsche Mittelmeerstrategie durch Italien verhindert wurde, sondern Hitlers eigene Entschlüsse haben sie verhindert, nämlich einerseits seine Unfahigkeit, Frankreich als potentiellen Bundesgenossen anzuerkennen, und andererseits sein Wille, ohne Rücksicht auf weitergehende Erwägungen mit der Sowjetunion abzurechnen. Gewiß sorgte erst die eigensinnige, unberechenbare und katastrophenträchtige Art der italienischen Kriegführung dafür, daß ein deutsches Eingreifen im Südosten, auf dem Balkan, erforderlich wurde. Aber als dieses Eingreifen dann in Aussicht genommen wurde, hätte es zugleich den Ansatzpunkt bilden können, daraus in größerem Maßstab eine Kriegführung im Mittelmeer zu entwikkeln. Unter der Voraussetzung, daß Hitler sich bereitfand, Frankreich freundschaftlich die Hand zu reichen, wäre vielleicht sogar noch ein größeres Entgegenkommen Spaniens vorstellbar gewesen. Bekanntlich war Spanien abhängig von Zufuhren an Rohstoffen und Nahrungsmitteln. Nimmt man nun an, Deutschland wäre zu einer tragfähigen Übereinkunft mit Frankreich gelangt, und nimmt man ferner an, Deutschland hätte im Verein mit Italien auch den östlichen Mittelmeerraum unter seine Botmäßigkeit gebracht, so hätte, worauf die Seekriegsleitung gelegentlich hinwies, die Versorgung Spaniens (und Italiens) aus dem Mittelmeerraum großenteils sichergestellt werden können, so daß Spanien insoweit der Abhängigkeit von den westlichen Seemächten entronnen wäre. Ob Franeo sich dann mit dem Gewinn Gibraltars begnügt hätte - er wünschte ja auch noch Marokko -, kann man nicht wissen; immerhin ist es nicht ausgeschlossen. Und selbst wenn es nicht eintrat, konnte bei einer deutsch-französischen Einigung wenigstens Gibraltar von Nordafrika aus weitgehend unschädlich gemacht werden. Daß all dies nicht geschah, sind die Versäumnisse Hitlers. Am 27. Dezember legte Raeder dem Diktator das Ergebnis der letzten Entwicklung der Mittelmeerlage dar. Als ersten Punkt nannte er die entscheidende Verschlechterung der italienischen Position (nach den Niederlagen in Griechenland,
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Nordafrika und zur See) mit bedenklicher Auswirkung auf das Durchhaltevennögen Italiens. Zweitens sei die von der Seekriegsleitung immer geforderte und als kriegsentscheidend angesehene Vertreibung der englischen Flotte aus dem Mittelmeer nicht mehr erreichbar. Dazu ist erläuternd zu sagen, daß die Seekriegsleitung nicht angenommen hatte, die italienische Flotte könne die britische vertreiben. Sondern die Seekriegsleitung kannte die Seekriegslehre und wußte deshalb, daß zur Seemacht außer der Flottenmacht auch Stützpunkte gehören. Wenn es deutschen Streitkräften gelang, gemeinsam mit Verbündeten auf dem Land- und Luftweg den Briten ihre Stützpunkte zu nehmen oder deren Benützung zu verhindern, etwa Alexandria oder gegebenenfalls Gibraltar, dann wurde die britische Flotte von selbst aus dem Mittelmeer vertrieben und dieses zu einem Binnenmeer der Achsenmächte gemacht. Nach den italienischen Niederlagen war solches einstweilen nicht mehr möglich. Drittens erwähnte Raeder die zunehmende Gefährdung deutscher und damit europäischer Interessen im afrikanischen Raum. Das Reden von der europäischen Gemeinsamkeit taucht bei der Seekriegsleitung in jener Zeit öfters auf und bezieht sich vor allem auf die deutsch-französische Verständigung, denn damit konnte, auf dem Weg nüchterner Realpolitik, ein Zusammenschluß des mittleren und westlichen Europa erreicht werden, welcher imstande war, auf möglichst friedliche Weise sowohl der Sowjetunion als auch den USA zu trotzen. Zusammenfassend hielt Raeder fest, die erhoffte Kriegsentscheidung im Mittelmeerraum sei nicht mehr zu erzielen. Diese Aussage muß man freilich im richtigen Zusammenhang sehen. Auch Haider meinte nach dem Krieg, es sei unmöglich gewesen, England in Nordafrika entscheidend zu schlagen. Gültig ist dies allerdings nur rebus sie stantibus, also nach Maßgabe der vorliegenden Verhältnisse. Wenn Deutschland die Masse seiner Boden- und Luftstreitkräfte bei einem Ostfeldzug einsetzte, dann verfügte es in der Tat nicht mehr über so viel Potential, um auch noch England im Mittelmeer zu besiegen, zumal wenn es einen Teil der Luftwaffe bei der Luftschlacht um England verheizte. Dagegen hätte bei Konzentration der Kräfte im Mittelmeerraum sehr wohl die Aussicht bestanden, dort durchschlagende Erfolge zu erzielen, und wie früher erwähnt, waren selbst nach dem Sturz von Laval in Vichy-Frankreich Admiral Darlan und die Regierung Petain einem Zusammengehen mit Deutschland keineswegs abgeneigt. Von daher war also an der Jahreswende 1940/41 die Situation immer noch offen; es mußte die Entscheidung gefällt werden, ob Deutschland durch einen Ostfeldzug sich auf einen unabsehbaren Krieg einstellte, wie Raeder gesagt hatte, oder ob es die Gelegenheit wahrnahm, mit dem Kampf im Mittelmeer eine Strategie zu wählen, welche ein glückliches Ende des Krieges doch nicht aussichtslos machte. Deshalb sagte Raeder dem Diktator an jenem 27. Dezember, die Erkenntnis sei unumgänglich notwendig, daß als dringlichstes Gebot der Stunde die klare und ausschließliche Schwerpunktbildung gegen England erforderlich sei, d. h. die Bereitstellung der erforderlichen Kampfmittel mit aller Energie, jedoch bewußte Zurückstellung aller nicht unbedingt notwendigen Forderungen - was sich auf den Ostfeldzug bezog, gegen den Raeder anschließend schwere Bedenken vorbrachte.
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Verständlich wird vor diesem Hintergrund sodann Raeders Beharren auf einer verstärkten V-Boot-Rüstung. Für den Kampf im Mittelmeer waren U-Boote zwar ziemlich überflüssig, und daß mit den V-Booten der Zufuhrkrieg gegen England entschieden werden könnte, hat Raeder vom Beginn an nicht recht glauben wollen. Deswegen hatte er am 14. November festgestellt, die bisherigen Erfolge der VBoote seien durch die Schwäche der britischen Sicherungsstreitkräfte bedingt, doch werde diese Schwäche nicht auf die Dauer anhalten. Aber der U-Bootbau gehörte zu einer Strategie, die gegen England zielte, nicht gegen Rußland, so daß Raeder ausdrücklich von der Zurückstellung aller nicht unbedingt notwendigen Forderungen sprach, was in diesem Zusammenhang hieß, die Heeresrüstung solle zurückgestellt werden gegenüber der Marine- und Luftwaffenrüstung. Hitler hat das augenscheinlich verstanden, denn er meinte, es müsse unter allen Umständen der letzte kontinentale Gegner - Rußland - beseitigt werden, ehe er sich mit England zusammentun könne (woraus man wohl schließen muß, daß Hitler immer noch dem Hirngespinst eines Bündnisses mit England nachjagte). Daher müsse das Heer die nötige Stärke erhalten. Erst danach werde die volle Konzentration auf Luftwaffe und Marine erfolgen können. Demnach war es in der Tat so, daß jetzt und in Zukunft die erhoffte Kriegsentscheidung im Mittelmeerraum sich nicht mehr erzielen ließ. Was blieb, war ein deutscher Feldzug im Südosten, um die Briten aus Griechenland hinauszuwerfen. Zu mehr reichten die deutschen Kräfte nicht. Allenfalls konnten einige deutsche Truppen zur Stützung Italiens abgestellt werden, damit dieses nicht alsbald zusammenbrach und womöglich auf die Seite Englands abschwenkte. Zum Vertreiben der Briten aus dem Mittelmeer genügten solche schwachen Kräfte nicht. Diese strategische Lage umriß Haider nach dem Krieg so, es habe der Zeitpunkt, zu welchem England über die Nordküste Afrikas verfügen würde als Sprungbrett für ein Vorgehen gegen Italien oder den Balkan, so lange wie möglich hinausgeschoben werden müssen. "Es war, strategisch gesehen, ein Kampf um Zeitgewinn und ist vonseitendes OKH Hitler nie in anderer Beleuchtung gezeigt worden." Soweit es eine deutsche Mittelmeerstrategie gab, war es eine reine Defensivstrategie, mit dem Balkanfeldzug als offensiver Teiloperation, um die eigene Position zu stärken, und mit einigen vorgeschobenen Kräften, zum Teil in Afrika, um den Gegner hinzuhalten. Nicht einmal ein dauernder Abwehrerfolg war gewährleistet. Lediglich ein Sieg im Osten hätte die Lage umkehren können, doch trat dieser Sieg nicht ein. Ansonsten war der Krieg im Mittelmeer für die Achsenmächte langfristig verloren (man darf wohl hinzufügen: und damit der Krieg überhaupt), zumal Hitler sich auf kein Entgegenkommen gegenüber Frankreich einließ. Beständig in der Furcht lebend, die nordafrikanischen Kolonien könnten von Frankreich abfallen, ordnete Hitler am 8. Dezember Vorbereitungen an, um bei einem Eintreten dieses Ereignisses sofort Restfrankreich zu besetzen. Daß solche Maßnahmen getroffen wurden, war an sich nichts Besonderes; militärische Stäbe müssen auf denkbare Wechselfälle vorbereitet sein. Hier jedoch deutet es darauf hin, daß Hitler mit seiner Politik der bloßen Druckausübung auf Vichy-Frankreich
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nicht vorankam. Durch seine uneinsichtige Haltung schürte Hitler selbst die Gefahr eines Abfalls der Kolonien; hätte Hitler der Regierung Petain einen günstigen Frieden in Aussicht gestellt und ihr die Verteidigung der Kolonien überlassen, so wäre das Risiko nicht gewachsen, sondern gesunken, weil Vichy dann offenkundige Erfolge bei der Erhaltung Frankreichs vorweisen konnte und das Druckmittel der Besetzung Restfrankreichs sowieso immer vorhanden war. Diesen Weg vermochte Hitler nicht zu gehen, so daß ihm wieder einmal nur die Gewaltanwendung übrigblieb. Dabei ist noch keineswegs sicher, daß Hitlers Rechnung aufging, er könnte nach einem glücklichen Ende des Rußlandfeldzugs auch Frankreich zwingen, ohne Gegenleistungen für eine Abschirmung Nordwestafrikas zu sorgen. Wenn Hitler in diesem Fall wiederum nichts anderes zu Gebote stand als Erpressung oder die Drohung mit dem Einmarsch deutscher Truppen in den Kolonien, so würden diese wohl erst recht abfallen, abgesehen davon, daß es für Deutschland gar nicht so einfach war, überhaupt Truppen nach Nordwestafrika zu bringen. So gesehen mußte Hitler den nordwestafrikanischen Raum langfristig wahrscheinlich abschreiben - also gerade dasjenige Gebiet, wo die westlichen Seemächte besonders leicht Fuß fassen konnten, um den ganzen Mittelmeerraum aufzurollen. 32 Seitdem Mussolini im Dezember 1940 um deutsche Hilfe gebeten bzw. sich bereiterklärt hatte, solche Hilfe anzunehmen, standen dem deutschen Eingreifen im Mittelmeerraum an sich alle Türen offen. Um die Jahreswende 1940/41 wurde das X. Fliegerkorps mit mehreren hundert Flugzeugen von Norwegen nach Süditalien verlegt, um die Schiffahrt der Achsenmächte nach Nordafrika zu schützen, Malta niederzuhalten und den Briten zur See oder an Land möglichst viel Schaden zuzufügen. Nimmt man hinzu, daß die Wehrmacht später auch Kreta eroberte, so hätte die Luftwaffe die Basen besessen, von denen aus bei vollem Einsatz aller Kräfte mindestens die Luftüberlegenheit im Mittelmeer hätte errungen werden können. Anfang Januar 1941 entschloß sich Hitler, einen "Panzer-Sperrverband" nach Libyen zu entsenden, wo die Briten unaufhaltsam in Richtung Tripolis vorrückten. Dieser Verband, den Hit1er wegen der britischen Panzerüberlegenheit für notwendig hielt, wurde dann als 5. leichte Division aufgestellt und später in die 21. Panzerdivision umgewandelt. Anfang Februar meinte Hitler, der eine Verband müsse durch eine vollwertige Panzerdivision ergänzt werden, damit man in Nordafrika auch zum Angriff übergehen könne, selbst wenn diese Division für den Rußlandfeldzug fehle. Die Führung beider Verbände wurde einem Korpskommando unter Generalleutnant Erwin Rommel übertragen, das den Namen "Deutsches AfrikaKorps" tragen sollte und dem örtlichen italienischen Oberbefehlshaber für den taktischen Einsatz, ansonsten dem deutschen OKH unterstand. Das gesamte Korps 32 Hitlers Weisungen vom 12.11. und 13. 12. 1940 in Hubatsch, Weisungen, 77ff., 94ff. Die Besprechung vom 5. 12. 1940 in Halder, KTB II, 211 ff; KTB OKW 111, 203 ff. Raeder und Hitler am 27. 12. 1940 in G. Wagner, Lagevorträge, 171 ff. Haider über Nordafrika in Halder, Hitler, 34. Raeder über U-Bootkrieg 14. 11. 1940 in G. Wagner, Lagevorträge, 152. Zur Besetzung Restfrankreichs (Unternehmen ,,Attila") KTB OKW 111, 219 ff. Halder, KTB II, 218. Hubatsch, Weisungen, 91 ff. (10. 12. 1940).
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(dabei die 15. Panzerdivision) wurde von Februar bis Mai 1941 nach Tripolitanien überführt, wo Römmel schon Anfang April eigenmächtig eine Offensive begann, die Hitler dann guthieß. Für einen durchschlagenden Erfolg dieser Offensive reichten die beiden Divisionen (dazu eine Anzahl italienischer Verbände) nicht aus, auch blieb die Versorgung der Truppen in Nordafrika stets schwierig, da die italienische Flotte die Seeherrschaft zwischen Sizilien und Libyen nie sicherstellen konnte, die deutschen Luftstreitkräfte zu schwach blieben und die Briten, zum Teil von Malta aus, die Nachschublinien immer gefährdeten. Bei Versammlung stärkerer deutscher Luftstreitkräfte im Mittelmeer wäre der Aufbau einer gesicherten Versorgungsbasis in Libyen sowie die Überführung ausreichender Angriffskräfte eher möglich gewesen. Nimmt man hinzu, daß Hitler im Grunde immer noch die Wahl hatte, ein freundschaftliches Verhältnis zu Frankreich herzustellen, so hätte zusätzlich die Möglichkeit bestanden, Nachschub über das französische Tunesien nach Libyen zu bringen, so daß er den Einwirkungen der britischen Seemacht nahezu gar nicht ausgesetzt war. Wären überdies britische Streitkräfte gegen Frankreich in Nordwestafrika gebunden worden, so hätte sich eine Entlastung im östlichen Mittelmeerraum ergeben und den deutschen Truppen wäre ein Vordringen zum Suezkanal erleichtert worden. Wie die Dinge lagen, trat all dies jedoch nicht ein, sondern es blieb dabei, daß der Krieg in Nordafrika lediglich einen Verzögerungskampf darstellte, der einstweilen die Italiener in Libyen stützte. Daß Rommel überhaupt zu vorübergehenden Erfolgen kam, hing mit der Wechselwirkung der Kriegsschauplätze zusammen. Die Weisung für Unternehmen "Marita" hatte noch die Versammlung deutscher Kräfte in Rumänien vorgesehen und die Mitwirkung Bulgariens, über dessen Gebiet der Angriff geführt werden mußte, in Aussicht gestellt. Jugoslawien, das ebenfalls an Griechenland angrenzte, kam als Aufmarschgebiet nicht in Frage, da es nicht in die Auseinandersetzung verwickelt werden wollte. Anders lagen die Dinge bei Bulgarien, Verbündeter Deutschlands im Ersten Weltkrieg und wie dieses durch die Versailler Ordnung geschädigt, das schon in Verbindung mit dem zweiten Wiener Schiedsspruch durch deutsche Hilfe die Süddobrudscha zurückerhalten hatte und sich Hoffnungen machen durfte, bei Unterstützung Deutschlands gegen Griechenland auch das früher bulgarische Thrazien wiederzugewinnen. Zwar faßte Bulgarien die Sache diplomatisch behutsam an, so daß es erst am 1. März 1941 dem Dreimächtepakt (Deutschland-Japan-Italien) beitrat, wogegen Ungarn, Rumänien und die Slowakei im November 1940 sich jenem Bund angeschlossen hatten. Doch erlaubte Bulgarien bereits im Dezember die Einreise einer militärischen Erkundungsgruppe und ließ Ende Januar/Anfang Februar Stabsbesprechungen mit deutschen Dienststellen abhalten. Anfang März rückten die deutschen Truppen über die Donau, den Grenzfluß zu Rumänien, in Bulgarien ein, während Hitler am 17. März entschied, daß nunmehr das gesamte griechische Festland zu besetzen sei, wodurch die betreffenden Truppen beim Rußlandfeldzug fehlen würden. Dieser Entschluß wurde durch das Verlegen britischer Bodentruppen nach Griechenland ausgelöst, die dort ab dem 7. März eintrafen. London und Athen hatten sich
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im Laufe des Februar geeinigt, eine gemeinsame Verteidigung Griechenlands unter Einbeziehung britischer Divisionen vorzubereiten, falls die deutschen Truppen die Donau überschritten. London war allerdings nicht in der Lage, die von Athen für notwendig erachteten mindestens neun Divisionen bereitzustellen. Statt dessen entschied die britische Regierung, die geplante Eroberung ganz Libyens abzubrechen, rund drei Divisionen aus Afrika abzuziehen und sie in Griechenland einzusetzen. Daß ein verläßlicher Schutz für Griechenland damit nicht zu erzielen war, wurde in Kauf genommen; man hoffte, die Haltung anderer Länder, namentlich Jugoslawiens und der Türkei, zu beeinflussen, indem man Griechenland nicht preisgab, und sah im Verlust Griechenlands, falls er doch eintrat, keine Katastrophe. Umgekehrt gab die Schwächung der britischen Streitkräfte in Nordafrika dem deutschen Afrika-Korps die Gelegenheit, die Cyrenaika zurückzuerobern, was indes keine nennenswerten strategischen Folgen nach sich zog. Athen hätte den Krieg gegen Deutschland gern vermieden und suchte verschiedentlich Fühlung mit Berlin, um dies zu erreichen. Da es Hitler hauptsächlich darauf ankam, die Briten aus Griechenland zu vertreiben, konnte Athen sein Ziel freilich nur dann verwirklichen, wenn es die Briten aus dem Land wies. Einen solchen Weg glaubte die griechische Regierung nicht gehen zu dürfen, weil sie sich dann dem Willen Hitlers ausgeliefert, die Unterstützung durch England verloren und die Ansprüche Mussolinis nicht gemindert hätte. Hitler wiederum lag zwar nichts an der Zerschlagung Griechenlands, doch stand er unter Zeitdruck und mochte sich nicht auf langwierige diplomatische Verhandlungen einlassen, so daß er, nachdem die Briten ihre Divisionen nach Griechenland in Marsch gesetzt hatten, schon vollends keine andere Lösung mehr in Aussicht nahm als die kriegerische. Die Türkei, für welche nichts Bedeutendes auf dem Spiel stand, hielt sich aus der Angelegenheit heraus; lediglich Jugoslawien bereitete noch Schwierigkeiten. Hitler wünschte einen Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächtepakt, was auch dem Zweck diente, das Land in Zukunft gegen die Begehrlichkeit Mussolinis abzusichern. Jugoslawien erwuchsen daraus keine Nachteile; als jedoch der Beitritt am 25. März stattfand, wurde dies zum Anlaß für einen Putsch serbisch-nationaler Offiziere unter dem Luftwaffen-General Simovic, die in dem von nationalen Zwistigkeiten zerrissenen Land dem serbischen Element mehr Geltung verschaffen wollten, vor allem gegenüber den Kroaten. Außenpolitisch suchte Simovic vorsichtig zu taktieren, doch bestätigte seine Regierung den Beitritt zum Dreimächtepakt nicht, sie ließ die Mobilmachung anlaufen, nahm militärische Besprechungen mit Britannien auf und versuchte einen Beistandspakt mit der Sowjetunion zu schließen, woraus dann wegen des sowjetischen Zögerns nur ein Freundschaftsvertrag wurde (6. April). Was die Regierung Simovic wirklich wollte, ist nicht recht durchsichtig; was sie tat, war zumindest verdächtig. Hitler wartete gar nicht erst ab, was sie weiterhin tun würde, sondern gab noch am Tag des Pütsches, oem 27. März, die Anweisung, nunmehr auch Jugoslawien niederzuwerfen. Ob das zweckmäßig oder unbedingt erforderlich war, braucht hier nicht untersucht zu werden. Jedenfalls hatte Hitler einfach nicht die Zeit, sich auf neue diplomatische Verhandlungen und auf neue militäri-
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sehe Vorbereitungen einzulassen, wenn er den Rußlandfeldzug noch einigermaßen zeitgerecht durchführen wollte. Für den Entschluß, auch Jugoslawien schnell zu besetzen, improvisierte Haider einen Feldzugsplan, der auf die in Bulgarien bereits versammelten Kräfte zurückgriff und weitere Kräfte aus dem Reich heranführte. In operativer Hinsicht war die Ausweitung des Krieges auf Jugoslawien sogar vorteilhaft, weil sie die Möglichkeit bot, die Verteidigung in Nordgriechenland weiträumig aus den Angeln zu heben. Für Jugoslawien sah Haider vier Einbruchsrichtungen vor: Aus dem Bereich der 12. Armee unter Feldmarschall List in Bulgarien sollte eine Panzergruppe (Kleist) mit drei schnellen und zwei infanteristischen Divisionen aus dem Raum um Sofia nach Belgrad stoßen. Ein Panzerkorps mit drei Verbänden hatte aus dem Raum südlich Sofia auf Skoplje im jugoslawischen Mazedonien vorzugehen, um den Italienern in Albanien die Hand zu reichen und die Zusammenarbeit der griechischen mit den jugoslawischen Streitkräften zu verhindern, indem sie beide voneinander trennte. Aus der Südwestecke Bulgariens sollte ein Gebirgskorps, das vier Divisionen umfaßte, mit infanteristischen Kräften gegen die Befestigungslinie vorgehen, welche Nordgriechenland gegen Bulgarien schützte (Metaxas-Linie), während eine Panzerdivision über jugoslawisches Gebiet ausholte bis in das Tal des Flusses Vardar bzw. Axios, der bei Saloniki in die Ägäis mündet. Auf diese Weise konnte die Metaxas-Linie westlich umgangen und die Streitmacht im Nordosten Griechenlands abgeschnitten werden. Die vierte Einbruchsrichtung nach Jugoslawien sah Haider im Norden vor; dort mußten allerdings erst deutsche Kräfte herangeführt werden, so daß der Angriff der Bodentruppen auf Jugoslawien an den verschiedenen Frontabschnitten zeitlich versetzt beginnen sollte je nach Verfügbarkeit der Verbände. Unter dem Oberkommando der 2. Armee (Generaloberst Weichs) sollte ein Panzerkorps mit drei schnellen Divisionen aus Südwestungarn den Grenzfluß Drau überschreiten und dann sowohl auf die kroatische Hauptstadt Agram als auch auf Belgrad vorgehen, während zwei Infanteriekorps aus Österreich angriffen. Ein weiteres Panzerkorps hatte mit zwei schnellen Verbänden aus Rumänien auf Belgrad vorzustoßen. Griechenland besaß rund 20 Divisionen, von denen 14 gegen die Italiener in Albanien eingesetzt waren; dazu kamen drei britische Verbände, die als einzige nach ihrer Ausrüstung deutschen Divisionen annähernd gewachsen waren. Jugoslawien verfügte theoretisch über 36 Divisionen, die es aber nicht vollständig zum Einsatz brachte, weil unter den verschiedenen Nationalitäten etliche, vor allem die Kroaten, keine Lust hatten, für die Serben gegen die Deutschen zu kämpfen und daher entweder der Mobilmachung nicht folgten oder bald die Waffen wegwarfen. Der deutschen Luftflotte 4 mit rund 800 Flugzeugen standen insgesamt etwa 500 Flugzeuge gegenüber, die großenteils nicht viel taugten. Der deutsche Angriff begann sowohl auf Griechenland als auch auf Jugoslawien am 6. April, auf letzteres zunächst nur im Süden aus Bulgarien sowie mit der Luftwaffe. Halders Operationsgedanke für Griechenland sah vor, mit den infanteristischen Kräften von zwei Korps die Griechen in der Metaxas-Linie zu fesseln und sie zugleich durch den
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Stoß einer Panzerdivision auf Saloniki abzuschneiden. Das Panzerkorps, das nach Jugoslawisch-Mazedonien einbrach, um die Griechen von den Jugoslawen zu trennen, sollte anschließend über die griechische Grenze nach Zentralgriechenland durchstoßen, im Verein mit dem Korps, das von Saloniki nach Süden vorging, die Verteidigung Nordgriechenlands zerschlagen, dadurch die Masse des griechischen Heeres in Albanien abschneiden, so daß schließlich ganz Griechenland besetzt werden konnte. Hauptträger der Operationsidee waren wieder einmal die schnellen Verbände, anfangs nur drei, dann vier, nachdem eine Panzerdivision der Gruppe Kleist nachgeschoben worden war, wie immer unterstützt durch taktische und operative Einsätze der Luftwaffe sowie durch infanteristische Kräfte. Saloniki fiel nach drei Tagen, am 9. April, mit anschließender Kapitulation der Kräfte in Nordostgriechenland; das Korps, welches über Mazedonien angriff, erreichte am 7. April Skoplje, überschritt am 10. April die griechische Grenze, wurde durch Hitler, der hier erneut in die Operationsführung eingriff, zeitweise aufgehalten, stieß aber bis zum 19./20. April mit der nachgeführten Panzerdivision tief nach Zentralgriechenland vor. Am 21. April kapitulierten die griechischen Streitkräfte der Albanienfront vor den Deutschen; am 27. April wurde Athen erreicht und bis zum 30. April die Südküste des Peloponnes. Die Briten, seit den Kämpfen in Nordgriechenland zum Rückzug gezwungen, .hatten an den Thermopylen noch einmal Widerstand geleistet, um die Evakuierung der Expeditionsstreitmacht zu ermöglichen, und entkamen bis Ende April mit etwa 50 000 Mann zu Schiff aus Attika und dem Peloponnes, allerdings unter Verlust ihres Materials. Halders Operationsplan für Jugoslawien sah vor, durch den Vorstoß der Panzergruppe Kleist aus Bulgarien nach Belgrad sowie durch den entsprechenden Stoß des Panzerkorps aus Westungarn nach Belgrad die grenznah aufmarschierten jugoslawischen Kräfte nördlich und südlich Belgrad einzuschließen bzw. zu zerschlagen. Die Gruppe Kleist trat wie geplant am 8. April an; die Korps der 2. Armee, die ursprünglich um den 12. April ihren Angriff hatten beginnen sollen, stießen tatsächlich ab dem 10./11. April vor, obwohl ihr Aufmarsch noch nicht ganz beendet war. Von dem Panzerkorps aus Ungarn drangen zwei schnelle Divisionen nach Südosten vor, eine weitere Panzerdivision erreichte innerhalb eines Tages Agram, wo sie von den Kroaten mit Jubel begrüßt wurde. Am 13. April vereinigten sich die Gruppe Kleist, ein Panzerkorps aus Rumänien und die betreffenden Teile des Panzerkorps aus Ungarn bei Belgrad. Unterdessen hatten die aus Österreich angreifenden infanteristischen Korps Agram erreicht und machten die dortige Panzerdivision frei, die nun auf Sarajewo vorstieß, ebenso wie zwei schnelle Divisionen aus dem Raum Belgrad, um in einer zweiten Einschließung die noch verbliebenen oder ausgewichenen Feindkräfte abzufangen. Nachdem am 15. April bei Sarajewo das jugoslawische Oberkommando in Gefangenschaft geraten war, erfolgte am 17. April die Kapitulation. Simovic und der von ihm eingesetzte König entflohen nach England. Hitler suchte auf dem Balkan Ruhe einkehren zu lassen, zudem das Reich von militärischen Überwachungsaufgaben weitgehend zu entlasten, indem er den Staat
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Jugoslawien, eines der unseligen Ergebnisse des Ersten Weltkriegs, zerschlug und die Verbündeten an der Siegesbeute beteiligte. Das ehedem Österreichische Slowenien fiel mit seinem Nordteil an Deutschland, mit seinem Südteil, darin die alte Hauptstadt Laibach, an Italien; Kroatien wurde vergrößert und unter dem Faschistenführer Pavelic zu einem formell selbständigen Staat gemacht; Albanien erweiterte man durch das Einbeziehen volksmäßig zugehöriger Teile; Bulgarien erhielt Mazedonien sowie sein ehemaliges Gebiet in Thrazien; und Ungarn nahm sich einen Landzipfel zwischen Donau und Theiß. Italien durfte, obwohl es zum Sieg nahezu nichts beigetragen hatte, den größten Teil Griechenlands besetzen, weil dessen Küste gesichert werden mußte und die deutsche Marine dazu nicht in der Lage war. Deutschland behielt sich lediglich die Besetzung des verkleinerten Serbien vor. Eine dauerhafte Befriedung wurde durch all dies jedoch nicht erreicht; vielmehr trat das Gegenteil ein, da die getroffenen Regelungen vielerlei Schwachstellen aufwiesen, die Unzufriedenheit in den Gebieten des ehemaligen Jugoslawien sowie in Griechenland bald wuchs und binnen kurzem Partisanenbewegungen entstanden, so namentlich in den serbisch besiedelten Gegenden, die später noch ansehnliche Kräfte fesselten und weit mehr Opfer kosteten als der kurze Feldzug. Davon abgesehen forderte der Krieg gegen Jugoslawien und Griechenland von der Wehrmacht wahrscheinlich einige tausend Tote und Vermißte; die Verluste der Gegenseite sind unbekannt, aber sicher erheblich höher. 33 Am 21. April traf Hitler die Entscheidung, zum Abschluß des Balkanfeldzugs noch die Insel Kreta zu besetzen; am 25. April erging dazu die entsprechende Weisung (Unternehmen Merkur). Die Maßnahme entsprang einerseits Hitlers Wunsch, eine Luftgefährdung des rumänischen Ölgebiets auszuschließen, und war andererseits strategisch nützlich für den Krieg im östlichen Mittelmeer. Erwägungen über eine Wegnahme der Insel Malta wurden dadurch hinfällig, weil die Luftwaffe mit den verfügbaren Kräften nicht beides leisten konnte. Man mag geteilter Meinung sein, ob die Eroberung Kretas zweckmäßig war. Bei einer Entfernung von rund 1 000 km zwischen Kreta und dem rumänischen Ölgebiet erscheint die Furcht vor britischen Luftangriffen etwas übertrieben, zumal die deutsche Seite ja Abwehrmöglichkeiten gegenüber der ohnedies durch vielfältige Aufgaben im Mittelmeerraum gebundenen britischen Luftmacht besaß. Für eine Offensive im östlichen Mittelmeer war der Besitz Kretas nützlich oder sogar unerläßlich; solange jedoch die Achsenmächte im Mittelmeer in der Defensive verharrten, empfahl sich eher die Wegnahme Maltas, um die Verbindungswege nach Libyen zu_ sichern und so 33 Zur Entsendung von Divisionen nach Nordafrika KTB OKW 1/1, 253 f., 300f. (9.1. und 3. 2. 1941). Allgemein zu den Vorgängen auf dem Balkan Olshausen. Schramm- von Thadden. Sundhaussen. Schieder, Europäische Geschichte VII/2. Knoll, Jugoslawien. Fenyo. E. Barker, Policy. Hitlers Entschluß über Griechenland am 17. 3. 1941 sowie über Jugoslawien am 27. 3. 1941 in KTB OKW 111, 360f., 368. Hubatsch, Weisungen, 124ff. Zu Halders Planungen und den militärischen Ereignissen Halder, KTB II, 330f. und passim. MGFA, Weltkrieg III, 417ff. (Beitrag Vogel); 591 ff. (Beitrag Stegemann). Playfair. Baum/Weichold. Gundelach. Zur Sicherung der griechischen Küsten G. Wagner, Lagevorträge, 186 (4. 2. 1941). Zu den Verlusten Dahms, 238.
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die Verteidigung Nordafrikas zu stärken. Entsprechende Anregungen aus dem OKW wurden indes von Hitler beiseite gewischt. Auf britischer Seite herrschte zeitweise Ungewißheit, ob es sich überhaupt lohne, Kreta zu verteidigen. Schließlich entschied Churchill aber doch, den Kampf um die Insel aufzunehmen, wohl weniger aus strategischen Gründen, denn die für Kreta aufgewendeten Kräfte ließen sich in Nordafrika nutzbringender verwenden, als vielmehr aus politischen, denn König und Regierung Griechenlands befanden sich auf Kreta, so daß London hier ein Zeichen setzen konnte, seine Verbündeten nicht im Stich zu lassen. In operativer Hinsicht ist an der Schlacht um Kreta bemerkenswert, daß es sich praktisch um den Kampf einer Luftwaffe gegen eine Flotte handelte. Die italienische Marine hatte Ende März bei einem Gefecht vor der Küste des Peloponnes erneut eine Niederlage erlitten, durch welche sie drei schwere Kreuzer sowie zwei Zerstörer verlor und von weiteren Unternehmungen dieser Art abgeschreckt wurde. Für die Landung auf Kreta stellte sie nur leichte Streitkräfte bereit, so daß die deutsche Luftwaffe, welcher Hitler die Leitung des Unternehmens übertragen hatte, die Aufgabe großenteils allein lösen mußte. Unter dem Oberbefehl der Luftflotte 4 (General Löhr) befehligte das XI. Fliegerkorps (General Student) eine Fallschirmjägerdivision, zwei Gebirgsjägerdivisionen und rund 500 Transportflugzeuge, während das VIII. Fliegerkorps (General Richthofen) mit Kampf- und Jagdflugzeugen den Luftschirm stellte. Thnen standen einerseits die britische Mittelmeerflotte gegenüber, darunter mehrere Schlachtschiffe und ein Flugzeugträger, sowie andererseits die Besatzung von Kreta mit rund 40 000 Mann (etwa drei Verbände in Divisions- bzw. Brigadestärke), großenteils Neuseeländer und Australier, die aus Griechenland entkommen waren. Thr Befehlshaber, der neuseeländische General Freyberg, sorgte für den Ersatz des verlorengegangenen Materials, doch verfügte er über keine Luftstreitkräfte auf der Insel. Der deutsche Operationsplan sah vor, zunächst vier wichtige Orte und Flugplätze mit Fallschirmjägern zu nehmen, anschließend Gebirgsjäger einzufliegen und im behelfsmäßigen Seetransport schweres Material nachzuschieben. Die Chance der Verteidiger lag darin, den deutschen Luftlandungen standzuhalten, mit Hilfe der Flotte den deutschen Nachschub abzuschneiden und selbst Nachschub heranzubringen, so daß die Angreifer geworfen werden konnten. Eben dies versuchten die Briten, wobei die britische Flotte ein Verfahren anwandte, das sie bei einer deutschen Landung in England ebenso angewandt hätte: Sie trachtete danach, der deutschen Luftherrschaft bei Tage auszuweichen und die Kämpfe in die Nacht zu verlegen. Der Plan schien zunächst zu glücken. Beim deutschen Angriff, der am 20. Mai begann, hatten die Fallschirmjäger hohe Verluste und blieben an ihren Absprungstellen liegen, nur mühsam gelang das Freikämpfen eines Flugplatzes bei Maleme, so daß Gebirgsjäger eingeflogen werden konnten, doch kamen auch sie anfangs nicht voran. Die Entscheidung mußte demnach zur See fallen, im Kampf um den Nachschub und im Kampf der deutschen Luftwaffe gegen die britische Flotte. Der deutsche Nachschub, der in zwei Seetransportstaffeln herangeführt werden sollte, wurde in der Nacht, am 21. und 22. Mai, von britischen Seestreit-
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kräften abgefangen, so daß die Transportstaffeln unter einigen Verlusten umkehren mußten. Dennoch konnte die Luftwaffe den Kampf für sich entscheiden. Die britische Flotte vermochte sich bei Tage dem Wirkungsbereich der Bomber nicht zu entziehen und wurde wirkungsvoll angegriffen. Insgesamt verloren die Briten bei den Kämpfen um Kreta drei Kreuzer und sechs Zerstörer, ferner wurden ein Flugzeugträger, drei Schlachtschiffe, sechs Kreuzer und sieben Zerstörer mehr oder weniger schwer beschädigt. Nach Abschluß der Kämpfe war die britische Mittelmeerflotte weitgehend lahmgelegt In der klaren Erkenntnis, daß für die Auseinandersetzung im Mittelmeer die Flotte wesentlich wichtiger war als die Insel Kreta, ordnete der britische Oberbefehlshaber, Admiral Cunningham, am 23. Mai den Rückzug großer Teile seiner Flotte nach Alexandria an, um sie nicht bei Kreta aufreiben zu lassen. Nachdem er an den folgenden Tagen weitere Verluste erlitten hatte, wurde der Seeweg für die Achsenmächte wieder frei, während umgekehrt General Freyberg auf Kreta zwar noch Nachsehub erhielt, aber mir mit schnellen Schiffen bei Nacht, was nicht ausreichte, zumal die deutsche Luftwaffe bei Tage auch die Häfen angreifen konnte. Angesichts dieser Lage kam Freyberg zu der Einsicht, daß weiteres Durchhalten zwecklos sei, und entschloß sich am 27. Mai, mit Zustimmung Churchills, zur Evakuierung. Rund 17 000 Mann konnten aus Kreta gerettet werden, die griechische Regierung ging nach Ägypten ins Exil. Die deutschen Verluste betrugen rund 4 000 Tote und Verrnißte, dazu an die 200 Flugzeuge; die einzige Fallschirmjägerdivision war vorderhand nicht mehr einsatzfähig. An der strategischen Lage im Mittelmeer änderte sich ansonsten nichts; im Gegenteil konnten die Briten ihre Stellung eher noch verbessern. Der Krieg in Nordafrika ist aus zwielichtigen Gründen mit einer Aura des romantischen Heldentums umgeben und stellte in Wahrheit ein ziemlich belangloses Hin und Her dar. HaUler hielt von Rommel herzlich wenig, vor allem wegen dessen Eigenmächtigkeit. In der Tat war Rommel wohl ein schneidiger Draufgänger und taktisch begabter Truppenführer, was ihm das Wohlwollen Hitlers eintrug, aber es fehlte ihm der Blick für größere Zusammenhänge. Rommels Vorstellung, man könne unter den gegebenen Verhältnissen von Libyen aus Ägypten erobern, entbehrte jeder Grundlage. Die Aufgabe des Afrikakorps wäre es gewesen, unter möglichster Schonung der eigenen Kräfte die Briten in Nordafrika hinzuhalten; alles andere war unnützer Kräfteverschleiß. Nachdem Rommel im April 1941 die Cyrenaika zurückerobert hatte, blieb er vor der Festung Tobruk im Osten der Cyrenaika liegen, die von den Briten über See versorgt und deswegen nicht abgeschnitten werden konnte. Mit dem überlegenen Blick des Fachmanns notierte sich Haider dazu am 15. April: "Rommel meldet, daß er in Tobruk hartnäckigen Widerstand findet und nicht durchkommt... Nun meldet er selbst, daß seine Kräfte nicht ausreichen, um die "beispiellos günstige" Gesamtlage ausnützen zu können. Diesen Eindruck hatten wir hier in der Feme schon länger." Am 23. April meinte Halder, Rommel sei seiner Führungsaufgabe in keiner Weise gewachsen, er verzettele sich in taktischen Einzelmaßnahmen und verliere vollständig den Überblick. Haider bezeichnete ihn bei dieser Gelegenheit als verrückt gewordenen Soldaten; Anfang Juli hielt Haider
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fest: ,,Rammels charakterliche Fehler lassen ihn als eine besonders unerfreuliche Erscheinung hervortreten, mit der aber niemand in Konflikt geraten will wegen der brutalen Methoden und wegen seiner Stützung an oberster Stelle." Man könnte diese Bemerkung für überscharf halten, und möglicherweise floß in sie auch etwas von Halders Abneigung gegen Hitler ein. Nichtsdestoweniger blieb Rammels Herumfuhrwerken in Nordafrika operativ wie strategisch unergiebig, weil er einfach nicht die Mittel für einen weitreichenden und durchschlagenden Angriffsfeldzug besaß. Als die Briten im Juni einen Gegenangriff führten, konnte Rammel diesen zwar bei Sollum an der libysch-ägyptischen Grenze abwehren, doch vermochte er selbst ebenfalls nicht weiter vorzudringen. Eine erneute britische Offensive ab November 1941 trieb dann das Afrikakorps wieder auf seine Ausgangsstellungen vom Frühjahr zurück. Im Jahr 1942 wiederholte sich das Spiel, indem Rammel von neuem angriff, diesmal Tobruk eroberte und anschließend vor EI Alamein liegenblieb. Eine ernsthafte Chance, den Suezkanal zu erreichen, besaß er nie; selbst wenn er bis zum Nil vorgedrungen wäre, hätte man ihn dort zurückgeschlagen. Rammels Niederlage bei EI Alamein war keine entscheidende Wende, sondern ein Ereignis, das jeder Klarblickende nicht anders erwarten durfte. Unterdessen waren freilich die Briten nicht müßig gewesen. Im Irak, nach dem Ersten Weltkrieg britisches Mandatsgebiet und seit Erlangung formeller Souveränität 1932 durch einen Beistandspakt mit England verbunden, kam Anfang April 1941 eine achsenfreundliche Regierung unter el Gailani an die Macht, was London veranlaßte, von seinen Rechten Gebrauch zu machen und Truppen ins Land zu senden, damit nicht die Achsenmächte sich dort festsetzten. Tatsächlich wandte Gailani sich an die Achsenmächte um Hilfe, die er jedoch nur in ganz geringem Ausmaß erhielt, so daß die Briten, nachdem Anfang Mai Kämpfe ausgebrochen waren, diese bis Ende des Monats für sich entscheiden konnten und den Irak fest in die Hand nahmen. Eine wirkungsvolle Unterstützung Gailanis wäre allenfalls dann möglich gewesen, wenn Deutschland eine Mittelmeerstrategie verfolgt, insbesondere mit Frankreich fruchtbringend zusammengearbeitet und dann über die französischen Mandatsgebiete Syrien und Libanon Zutritt zum vorderen Orient erlangt hätte. Ansätze zu einer solchen Zusammenarbeit gab es zwar, indem Vichy den Luftweg über Syrien freigab und Waffen aus Syrien in den Irak lieferte, doch verschaffte dies den Briten den willkommenen Anlaß, nun auch Syrien als potentiellen Brückenkopf der Achsenmächte im östlichen Mittelmeer auszuschalten. Ab dem 8. Juni drangen britische und freifranzösische Truppende Gaulies in die französischen Mandatsgebiete ein und besetzten sie gegen den Widerstand vichy-treuer Streitkräfte bis Mitte Juli 1941. Seine Stellung im östlichen Mittelmeerraum hatte England damit gefestigt; sie zu brechen würde den Achsenmächten, sofern sie überhaupt je dazu kamen, nun erst recht schwerfallen. 34 34 Die Weisung für Unternehmen Merkur in Hubatsch, Weisungen, 134f. Ferner Warlimont I, 144 ff. MGFA, Weltkrieg III, 485 ff. (Beitrag Vogel). Mühleisen. Roskill. Playfair. Haider über Rommel in seinem KTB Il, 368, 377, 407; III, 48 (6. 7. 1941). Ferner MGFA,
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4. Die Atlantik-Charta
Im Ersten Weltkrieg hatte der amerikanische Präsident Wilson in einer öffentlichen Erklärung sein berühmtes 14-Punkte-Programm verkündet, das der Welt insgesamt und namentlich den Beziehungen der Staaten untereinander eine neue Ordnung geben sollte. In ähnlicher Weise verkündete im Zweiten Weltkrieg Präsident Roosevelt ein 8-Punkte-Programm, gemeinsam mit Premierminister Churchill, das an die 14 Punkte Wilsons anknüpfte und wiederum das Ziel verfolgte, eine neue Weltordnung zu begründen. Diese gemeinsame Erklärung von Roosevelt und Churchill, bekannt als Atlantik-Charta, erfolgte zwar e~st nach Beginn des deutschen Rußlandfeldzugs, nämlich am 14. August 1941. Dennoch ist es zweckmäßig, sie hier zu behandeln, denn einerseits besagt sie mittelbar sehr viel über das Verhältnis der Mächte untereinander und andererseits wurde ihr Schicksal durch den Verlauf des Rußlandfeldzugs entschieden. Die Atlantik-Charta ist eines der Schlüsseldokumente des Zweiten Weltkriegs, zugleich ein Schlüsseldokument für die Geschichte der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert und ein Schlüsseldokument für die Entwicklung des Gedankens einer neuen Weltfriedensgemeinschaft, einer neuen Organisationsform menschlichen Zusammenlebens jenseits des souveränen Machtstaats älterer Prägung. Dieser Gedanke einer organisierten Völkergemeinschaft zur Wahrung des Friedens und zur Beförderung des allgemeinen Wohls ist an sich nicht neu. Der wohl größte Philosoph des Abendlands, lmmanuel Kant aus Königsberg (einer Stadt, die aus Gründen der alten Machtpolitik dem deutschen Kulturkreis gewaltsam entrissen wurde)- Immanuel Kant also hat am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Grundzüge dessen vorhergedacht, was aufgeklärte und idealistische Geister, namentlich in der amerikanischen Regierung, während des 20. Jahrhunderts dann verwirklichen wollten. Kant meinte, es müsse ein Ziel der menschlichen Geschichte sein, aus dem gesetzlosen Zustand der Wilden, wie er in den Staatenbeziehungen tatsächlich herrsche, hinauszugehen und in einen Völkerbund zu treten, wo jeder Staat, auch der kleinste, seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht oder eigener rechtlicher Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde, von einer vereinigten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten könnte. Man wird sich erinnern, wie im ersten Band dieser Untersuchungen dargelegt wurde, daß es eben jenes von Kant beschriebene Ziel war, welches Präsident Wilson im Ersten Weltkrieg zu erreichen trachtete. Man wird sich ebenfalls erinnern, wie im ersten Band dieser Untersuchungen dargelegt wurde, woran das Erreichen jenes Zieles scheiterte. Verloren freilich war die Idee damit nicht; Roosevelt griff sie wieder auf und suchte nach geeigneten Wegen, um das in die Tat umzusetzen, was Kant so beschrieben hatte: Da doch die Vernunft, vom Thron der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab, den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdamme, den Friedenszustand dagegen zur unmittelWeltkrieg III, 542 ff. (Beitrag Schreiber), 591 ff. (Beitrag Stegernann). B. Schröder, Osten. Ders., Irak.
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baren Pflicht mache, welcher indes, ohne einen Vertrag der Völker unter sich, nicht gestiftet oder gesichert werden könne - so müsse es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund nennen könne, der sich aber vom Friedensvertrag darin unterscheide, daß dieser bloß einen Krieg, jener jedoch alle Kriege auf immer zu endigen suche. Die Ähnlichkeit in der Wortwahl verweist auf die Gleichartigkeit des Anliegens: Auch Wilson hatte den Ersten Weltkrieg führen wollen, um in Zukunft alle Kriege zu endigen. Der Ähnlichkeiten gibt es noch mehr. So hatte Kant gefordert, zum Zweck des ewigen Friedens sollten keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden. In einer Niederschrift für den Abteilungsleiter im Außenministerium Berle stellte Roosevelt im Juni 1941 fest, das Beseitigen kostspieliger Rüstungen sei der Schlüssel für die Sicherheit kleiner Länder und für wirtschaftliches Wohlergehen. Er - Roosevelt - habe herausgefunden, daß über 90% aller Staatsschulden der Länder zwischen 1921 und 1939 durch vergangene, gegenwärtige und zukünftige Kriege verursacht seien. Die allgemeine Abrüstung hatte Kant schon verlangt; nachdem der Gedanke bei Wilson noch gescheitert war, suchte Roosevelt ihn nun mit allem Nachdruck durchzusetzen. Bei diesen Hinweisen mag es sein Bewenden haben; natürlich wollten die amerikanischen Präsidenten nicht nur ein von Kant aufgestelltes Programm verwirklichen, zumindest nicht in allen Einzelheiten. Aber was die Sache bemerkenswert macht, ist dies: Die amerikanischen Präsidenten suchten, wie Kant vorhergedacht hatte, ein Zusammenleben der Menschen zu erreichen, das auf Vernunft, Recht und Sittlichkeit gegründet war, und sie suchten insoweit dem Fortschritt des Menschengeschlechts zu dienen. Daß es um eben diesen Fortschritt ging, war für Kant nie zweifelhaft gewesen; deswegen hatte er gemeint, es bestehe Hoffnung, daß dereinst einmal ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand entstehe, als der Schoß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt würden. Wenn das Glück es füge, so hatte Kant gemeint, werde einmal ein mächtiges und aufgeklärtes Volk den Mittelpunkt abgeben für die Vereinigung der Staaten in einem Friedensbund. Und Kant hatte auch gemeint, vielleicht werde einmal ein Kepler oder Newton kommen, der imstande sei, die Geschichte aus einem solchen Blickwinkel zu deuten. Neben dieser weiteren Vorgeschichte hatte die Atlantik-Charta auch eine engere. Wilsons Weltfriedensplan war am Ende des Ersten Weltkriegs gescheitert, weil die Siegermächte zäh an der alten Machtpolitik festgehalten hatten, weil sie nicht Versöhnung und gerechten Ausgleich zur Grundlage des Friedens gemacht hatten, sondern Raffgier und Gewalt. Das war die Erfahrung, die Roosevelt selbst besaß, und diese Erfahrung sollte sich nicht wiederholen. Daß die sogenannten Aggressorstaaten Deutschland, Japan und Italien daran gehindert werden mußten, gewaltsam große Teile der Erde zu unterwerfen, stand für Roosevelt außer Zweifel. Aber wenn sie durch den Kriegseintritt Amerikas schließlich besiegt wurden, so stand zu befürchten, daß sich die Ereignisse des Ersten Weltkriegs wiederholten: daß nämlich die Sieger erneut in die Bahnen der alten Machtpolitik traten, daß sie ihren Rachedurst befriedigten, unter dem Vorwand der eigenen Sicherheit nach terri-
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torialen und anderen Gewinnen trachteten, Selbstsucht und Beutegier an die Stelle der Verständigung setzten - kurz, daß sie erneut zur Grundlage des Zusammenlebens der Völker nicht das Recht machten sowie die Achtung vor dem Recht der anderen, sondern ihre je eigene Macht. Die Ansätze hierzu waren unübersehbar. Die polnische Exilregierung in London befürchtete seit dem Herbst 1939 den Verlust der ehemaligen polnischen Ostgebiete an Rußland und hielt deshalb nach Ersatz im Westen Ausschau. Da sie bei den Appeasem kein Entgegenkommen erwarten durfte, hielt sie sich anfangs zurück. Erst im November 1940 verlangte sie die Abtretung von Ostpreußen sowie mindestens von Teilen Schlesiens und Pommerns. Begründet wurde dies mit allerlei hochtrabenden Phrasen über ein stabiles Europa, das die Schwächung Deutschlands erheische, sowie mit phantasievollen Erfindungen über die Bevölkerung östlich der Oder, die angeblich entweder polnisch sprach oder rassisch polnisch war. Für die tschechoslowakische Exilregierung gab sich deren Präsident Benesch von vomherein nicht mit der Wiederherstellung des alten Zustands zufrieden, sondern er spielte ständig mit dem Gedanken der Bevölkerungsumsiedlung und verschärfte allmählich seinen Ton, bis er im Herbst 1941 von einer Bestrafung der Masse der Sudetendeutschen sprach, was im britischen Foreign Office als Ankündigung des Terrors verstanden wurde. Augenscheinlich sahen sowohl die Polen als auch die Tschechen die Gelegenheit, nach dem Sieg der Großmächte über Deutschland endlich ihren Leidenschaften freien Lauf zu lassen und mit den Deutschen abzurechnen, um so ihren eigenen brüchigen Staatswesen mehr Standfestigkeit zu verleihen. Gedanken über die Kriegs- bzw. Friedensziele machte sich sodann Churchill. Mit der gönnerhaften Gebärde des geschichtskundigen Staatsmannes wollte er zwar keinen Rachefrieden anstreben, aber Europa neu organisieren in einer seltsamen Mischung aus Rückgriffen in die Vergangenheit und unvergorenen Neukonstruktionen. Seine Vorstellungen formten sich im Laufe des Jahres 1940 und erhielten sich bis zum Kriegsende. Rußland wollte er aus Europa ausschließen. Wie das zu bewerkstelligen sei, sagte er nicht; man rechnet sich indes leicht aus, daß es nur dann möglich war, wenn Rußland bei Kriegsende so geschwächt war, daß es die Gestaltung Europas den siegreichen Westmächten überlassen mußte, und jene Schwächung Rußlands konnte voraussichtlich nur die Wehrmacht besorgen. Europa sollte alsdann aus neun Bestandteilen zusammengesetzt sein, nämlich den fünf großen Staaten Britannien, Frankreich, Italien, Spanien und "Preußen", worunter man sich ein norddeutsches Gebilde vorzustellen hat, sowie vier Föderationen, und zwar eine skandinavisch-niederländische mit der Hauptstadt Den Haag, eine mitteleuropäische mit der Hauptstadt Warschau oder Prag, eine Donauföderation, bestehend aus Baden, Württemberg, Bayern, Österreich und Ungarn mit der Hauptstadt Wien, schließlich eine Balkanföderation unter der Führung der Türkei sowie mit der Hauptstadt Konstantinopel. Was Churchill hier ins Auge faßte, war ein reiner Retortenentwurf, ausgerichtet an der Kabinettspolitik des 17. oder 18. Jahrhunderts sowie an der Vorstellung von einem europäischen Gleichgewicht, das auf der Zerschlagung Deutschlands und der Aufwertung der Kleinstaaten beruhte.
4. Die Atlantik-Charta
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Das Ganze sollte überwölbt werden durch gemeinsame Einrichtungen, namentlich einen europäischen Rat, dazu ein oberstes Gericht und eine gemeinsame Luftwaffe. Diese Einrichtungen sollten wohlgemerkt nicht von den bis dato vorhandenen Einzelstaaten beschickt werden, sondern von den neun genannten Gebilden, also beispielsweise von Schweden auf dem Umweg über Den Haag oder von Rumänien auf dem Umweg über Konstantinopel. Ansonsten sollte jedes der neun Gebilde seine eigene Miliz haben, weil das demokratisch sei, ausgenommen Preußen, das für hundert Jahre unbewaffnet bleiben müsse. Augenscheinlich sollte es auch der Schwächung Preußens und der Aufwertung der Kleinstaaten dienen, wenn Churchill das Abtreten von Gebieten sowie den Austausch von Bevölkerungen in Aussicht nahm, wie Polen und Tschechen es verlangten. In welchem Ausmaß Churchill derartige Verschiebungen erwog, ist unbekannt; da er jedoch später eine deutsche Ostgrenze an der Oder befürwortete, hat er wohl schon bald die Vertreibung von Millionen Menschen zumindest billigend in Kauf genommen. Jedenfalls war es im Sommer 1941 in den Kreisen europäischer Exilregierungen in London ein offenes Geheimnis, daß die Polen eine Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus gewissen Gebieten ins Auge faßten. Es kann der historischen Wahrheitstindung nicht verwehrt sein, gegenüber solchen Maßnahmen, wie sie von der polnischen sowie tschechoslowakischen Exilregierung angedeutet wurden und wie sie Churchill nicht unbekannt bleiben konnten, einen klaren Standpunkt zu beziehen: Wenn derlei Taten bei den Nationalsozialisten Verbrechen darstellten, dann stellten sie bei anderen ebenso Verbrechen dar; eine Untat wird nicht dadurch rechtens, daß sie von einem Sieger begangen wird. 35 Churchill fand mit seinen Ideen zunächst wenig Beifall. Im August 1940 versuchte Churchill, seine Absichten durch einen neugegründeten Kabinettsausschuß für Nachkriegsfragen bzw. Friedensziele verbindlich machen zu lassen, einen Ausschuß, dem auch Halifax angehörte. Dieser Ausschuß zeigte keine Neigung, auf Churchills Vorstellungen einzugehen, teils weil sie nichts Brauchbares enthielten und teils weil man auf Roosevelt Rücksicht nehmen mußte, von dem bekannt war, daß er die Zerstückelung Deutschlands nicht wünschte und die Fragen der Nachkriegsordnung selbst entscheiden wollte. Statt dessen ließ Halifax den führenden Wirtschaftswissenschaftler Keynes mit der Ausarbeitung einer Schrift über die wirtschaftspolitischen Friedensziele Britanniens beauftragen. Keynes, auf Grund seines wirtschaftlichen Sachverstandes früher ein harter Kritiker der verfehlten Versailler Ordnung, suchte nach einer angemessenen Lösung, die von selbst in einer gewissen Nähe zu den Vorstellungen der Appeaser stand, da sie einerseits dem Deutschen Reich die gebührende Rolle in Europa zubilligen und andererseits dem 35 Zu Kant dessen Scluiften: Idee zu einer allgerneinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, sowie Zum ewigen Frieden, in Kant, Werke VI, 33 ff., 195 ff. Roosevelt an Berle, 26. 6. 1941, in Roosevelt, Letters IV, 1175. Die Kriegszielvorstellungen der polnischen und tschechoslowakischen Exilregierung sowie Churchills in Dokumente zur Deutschlandpolitik 1/1, 73 f., 221 ff., 300f.; 144 ff., 149f., 205 f., 538 ff., 568 ff., 586ff.; 138, 198 f., 255 f., 266, 507; 1/2, 30 ff.
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Empire bestimmenden Einfluß in Europa wie in der Welt erhalten wollte. In dem Entwurf Keynes' von Ende 1940 war ausdrücklich die Rede von einer wirtschaftlichen Führung Deutschlands in Mitteleuropa, weil andernfalls Rußland als Vormacht an die Stelle Deutschlands treten werde. Obwohl die Formel von der deutschen Führungsstellung wieder entfernt wurde, da man sie propagandistisch für untunlich hielt, atmete der mehrmals überarbeitete Keynes-Entwurf den Geist einer fortwirkenden Appeasementpolitik. Der Entwurf unterstellte das Weiterbestehen eines starken und geeinten Deutschland, das durch die nachdrückliche wirtschaftliche Hilfeleistung von seiten Britanniens nach dem Krieg wieder auf die Beine gestellt werden sollte und das im Verbund eines europäischen Wiederaufbauprograrnms, zusammen mit dem Commonwealth, welches Rohstoffe und Nahrungsmittel lieferte, erneut jenes wirtschaftliche und politische Schwergewicht gebildet hätte, auf das schon die Appeaser hinausgewollt hatten. Im Frühjahr 1941 verschwand jedoch der Keynes-Entwurf wieder in der Versenkung, da er weder bei Churchill noch bei Roosevelt Anklang fand. Dem Premierminister mißfiel vor allem die vorgesehene Behandlung Deutschlands, die seinen Mitteleuropaplänen - Zerstückelung und Schwächung Deutschlands, dafür Aufwertung der Kleinstaaten - stracks zuwiderlief. Roosevelt auf der anderen Seite wollte zwar eine neue Friedensordnung errichtet sehen, in Europa mit einem weiterbestehenden und gesunden Deutschland, aber nicht durch Britannien, sondern durch Amerika. Der Präsident meinte daher, den Zielen könne er zustimmen, aber nicht den Mitteln, und überhaupt sei der Plan viel zu britisch und viel zu sehr auf Europa bezogen. Nachdem Roosevelt bereits im Frühjahr 1940 versucht hatte, die damaligen Regierungen der europäischen Westmächte auf seine Vorstellungen über einen haltbaren Frieden einzuschwören, zeigten ihm nun die Vorgänge in London, daß sein Anliegen nicht mehr viel Aufschub duldete. Noch dringlicher wurde die Sache nach Beginn des deutschen Rußlandfeldzugs (22. Juni 1941), denn London nahm sofort die Gelegenheit wahr, mit Moskau ein Abkommen über gegenseitige Hilfe zu schließen sowie über das Unterlassen eines gesonderten Waffenstillstands oder Friedens (12. Juli 1941). Damit tauchte die Gefahr auf, daß Britannien und die Sowjetunion auch ihre Kriegs- bzw. Friedensziele miteinander abstimmten, insbesondere territoriale Abmachungen trafen, wie es den Gepflogenheiten der älteren Machtpolitik entsprach. Der britische Botschafter Cripps hatte bereits im Oktober 1940 der Sowjetregierung angeboten, London könnte die Einverleibung des Baltikums, Ostpolens und Bessarabiens durch Rußland de facto anerkennen, also zwar nicht rechtlich, aber tatsächlich. Mitte Juni 1941 warnte Unterstaatssekretär Sumner WeHes den nunmehrigen britischen Botschafter in Washington, Halifax, vor einer Verständigung Londons mit Moskau auf Kosten des Baltikums, worauf Halifax zu verstehen gab, daß seiner Regierung das Schicksal dieser Länder gleichgültig sei, wenn man nur mit Rußland ins Geschäft komme. All dies waren für die Amerikaner Alarmzeichen. Dabei ist zu beachten, daß es den Amerikanern nicht allein und nicht einmal vordringlich um das Los der baltischen Länder ging; auf dem Spiel standen in Wahrheit viel wichtigere Dinge. Er-
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stens konnte Britannien erneut ein ähnliches Verhalten an den Tag legen wie im Ersten Weltkrieg, wo es zunächst die amerikanische Hilfe benützt hatte, um den Sieg zu erringen, und anschließend diesen Sieg zusammen mit seinen europäischen Verbündeten gegen alle Absichten Wilsons ausgeschlachtet hatte. Ein Merkmal jener früheren Verfahrensweisen waren die Geheimabmachungen unter den Alliierten über die Kriegsziele gewesen, die zwar nicht den eigentlichen Grund für das unerfreuliche Ergebnis des damaligen Friedens gebildet, aber doch den sichtbarsten Ausdruck dafür dargestellt hatten, daß die Alliierten den Krieg lediglich für das Sichern und Erweitern eigener Macht sowie für den Gewinn von Beute führten. Diesmal konnte Britannien das Bündnis mit Rußland benützen, um erneut solche Methoden anzuwenden; es konnte noch vor einer Friedenskonferenz große Teile Europas verschachern, es konnte eine diplomatische Mittlerstellung zwischen den USA und der Sowjetunion anstreben, um sein eigenes Gewicht zu erhöhen und sich von Amerika unabhängig zu machen, es konnte die amerikanischen Friedensvorstellungen unterlaufen und nach dem Krieg, unterstützt von seinen Verbündeten, sich für deren Ansprüche und natürlich auch für seine eigenen stark machen. Amerika würde dann wieder einmal allein dastehen, als der naive, getäuschte Idealist, der stets das Gute wollte und es nie erreichte. Das ist ja auch die gängige Rede seit Jahrzehnten: daß die Amerikaner naiv seien, weil sie sich immer dafür verantwortlich fühlten, in der Politik noch mehr zu sehen als nur das Verfolgen des eigenen Vorteils auf Kosten anderer. Zweitens hatten Roosevelt und seine Regierung nicht das geringste Interesse, die Sowjetunion in irgendeiner Weise an der Gestaltung des Friedens zu beteiligen. Im Gegenteil schien gerade der deutsche Angriff auf Rußland die Gelegenheit zu bieten, jeden nennenswerten Einfluß der Sowjetunion auf Europa wie auf die Welt insgesamt auszuschließen. Wie andernorts erwartete man auch in Washington, daß die Rote Armee der Wehrmacht allenfalls einige Monate standhalten könnte. Das hieß jedoch noch lange nicht, daß damit auch die Sowjetunion oder ein russischer Staat von der Bildfläche verschwand. Die Wehrmacht mochte binnen kurzer Zeit die Rote Armee schwer schlagen, aber sie würde vor dem Winter kaum über die Wolga und schon gar nicht über den Ural vordringen, so daß sich jedenfalls bis ins Jahr 1942 ein russischer Reststaat mindestens hinter dem Ural behaupten würde. Demzufolge kamen die amerikanischen Stabschefs in einer Denkschrift vom 11. September 1941 (die entsprechend früher ausgearbeitet worden war) zu dem Ergebnis, der Ausgang des derzeitigen Kampfes in Rußland lasse sich nicht vorhersagen. Aber selbst wenn die Sowjetarmeen sich hinter den Ural zurückziehen müßten und dort einen geordneten Widerstand fortsetzen könnten, so bliebe immer noch die Hoffnung, Deutschland zu Lande endlich und vollständig zu besiegen. Gemeint war damit nicht, daß die Sowjetunion Deutschland besiegen könnte, sondern sie würde nur deutsche Kräfte fesseln und es damit Amerika erleichtern, die Wehrmacht zu schlagen. Das heißt indes zugleich, daß die Sowjetunion beim Erringen des Sieges über Deutschland nur eine Nebenrolle spielen würde; irgendwo tief im eigenen Gebiet gebunden, würde die Sowjetunion das Kriegsende so erle-
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ben, daß Amerikaner und Briten in Europa einmarschierten, um den Sieg nach ihrem Willen zu gestalten. Gerade so sah Roosevelt die Sache, deswegen schrieb er am 26. Juni 1941, mit dem deutschen Angriff auf Rußland eröffne sich die Möglichkeit, Europa von der Nazi-Herrschaft zu befreien. Zugleich brauche man sich keine Sorgen zu machen wegen einer russischen Herrschaft über Europa. Offenbar hatte Roosevelt sich solche Sorgen gemacht, aber er brauchte sich jetzt, wenige Tage nach Feldzugsbeginn, keine Sorgen mehr zu machen, weil ihm die Wehrmacht diese Sorgen abnehmen würde. Dafür würde jedoch Amerika zur Befreiung Europas schreiten, und die USA würden es sein, die eine neue Friedensordnung schufen. Gerade deswegen war es verkehrt, mit Rußland noch irgendwelche Abmachungen zu treffen, denn sie würden nur die Gestaltungsfreiheit Amerikas einschränken. Drittens schließlich bildete es das Ziel Roosevelts, ebenso wie früher dasjenige Wilsons, einen Kreuzzug zu führen - nicht einen Kreuzzug für die Demokratie und schon gar nicht einen Kreuzzug gegen die Deutschen oder die Achsenmächte, sondern einen Kreuzzug gegen die alte Machtpolitik, einen Kreuzzug für eine neue Form im Zusammenleben der Völker, die auf das Recht gegründet war, für eine neue Ordnung der Welt, die den allgemeinen Frieden und die allgemeine Wohlfahrt verwirklichte. Ein solcher Kreuzzug war, so wie derjenige Wilsons, notwendig zum Scheitern verurteilt, wenn er selbst in den Formen der alten Machtpolitik geführt wurde, d. h. wenn die Verbündeten sich vorweg darauf verständigten, wie sie nach errungenem Sieg zum Zweck der eigenen Machtsteigerung andere schädigen konnten. Wilson hatte gewußt, daß eine dauerhafte Friedensordnung nur auf gerechtem Ausgleich beruhen durfte, nur auf der Achtung der Lebensbedürfnisse aller Länder und Völker, auch der besiegten. Roosevelt wußte es ebenfalls. Wenn er schon einen Krieg führte, um Europa und Asien vom Joch der Machtpolitik der Achsenmächte zu befreien, dann entstand keinerlei Fortschritt, falls anschließend die Völker der Achsenmächte dem Joch einer anderen Machtpolitik unterworfen wurden. Die Kriegsgegner zu verteufeln, sie als gemeingefährlich hinzustellen, sie niederzuhalten unter dem Vorwand, man müsse sich vor ihnen schützen - das war schon das Rezept gewesen, um Wilsons Weltfriedensplan zuschanden zu machen. Derlei Unfug wollte Roosevelt nicht wiederholen; diesmal sollte tatsächlich eine tragfähige Gemeinschaft aller Völker entstehen. Deswegen sollte es keine Abmachungen geben, wer dieses Stück von Deutschland und wer jenes Stück von Polen oder einem anderen Land erhielt, sondern alle Völker sollten das Recht erhalten, in ihren Siedlungsgrenzen glücklich zu werden? 6 36 Zum Keynes-Entwurf Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 198 f.; 152 f., 274, 308; 219f., 241 ff., 250ff. und passim, 329ff. (Churchill und Roosevelt). Das britisch-russische Abkommen vom 12. 7. 1941 in Jacobsen, Weg, 156f. Ferner zur Vorgeschichte der AtlantikCharta D. Reynolds, Creation, 252 ff. Hearden, 239 ff. Erwartungen über die Dauer des Rußlandfeldzugs sowie die Denkschrift der amerikanischen Stabschefs vom 11. 9. 1941 bei Sherwood, Hopkins, 303ff., 410ff. Jacobsen, Weg, 158ff. Roosevelt am 26. 6. 1941 in Roosevelt, Letters IV, 1177.
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Was Roosevelt und andere Mitglieder der amerikanischen Regierung in jenen Tagen bewegte, faßte der enge Mitarbeiter des Präsidenten Berle zusammen. Sein Mißtrauen gegenüber der britischen Politik wurde nur noch übertroffen von seinem Mißtrauen gegenüber der sowjetischen Politik, denn seit Beginn des Krieges fürchtete er, Stalin könnte dessen eigentlicher Gewinner sein, und den Briten lastete er an, daß sie im Ersten Weltkrieg Präsident Wilson an der Nase herumgeführt hatten, was sich nicht wiederholen dürfe. Amerika habe die sittliche Pflicht, den Frieden zu gestalten, anders als die Briten, die nur an ihr eigenes Wohl dächten. Dem Drängen Berles, alle geheimen Abmachungen über Kriegsziele hätten zu unterbleiben, entsprach Roosevelt durch ein Schreiben an Churchill vom 14. Juli 1941. Darin hielt er fest, es dürfe keine vorzeitigen Bindungen geben aus dem einfachen Grund, weil Amerika und Britannien in Zukunft den Frieden sichern wollten, indem sie einerseits alle Unruhestifter entwaffneten und indem sie andererseits auch das Lebensrecht kleiner Staaten achteten oder wiederherstellten, gegebenenfalls durch Volksabstimmungen. Man sollte diesen Satz sorgfältig zur Kenntnis nehmen. Eine allgemeine Abrüstung (disarmament) sowie eine internationale Polizeistreitmacht hatte Roosevelt bereits im Frühjahr 1940 erwähnt. Jetzt jedoch wurde dies verdeutlicht, indem offenbar Amerika und England diese internationale Polizeimacht darstellen sollten, und zwar so, daß sie alle Unruhestifter entwaffneten (by disarming all trouble makers) sowie den Bestand kleiner Staaten wahrten. Dabei legte Roosevelt Wert auf Volksabstimmungen und erwähnte als Beispiel, es sei vielleicht ratsam, die Kroaten vor dem Rachen der Serben zu retten und umgekehrt. Gemeint war damit zweierlei. Einerseits erkannte Roosevelt sehr wohl die UntauglichKeit gewisser Sta'atsschöpfungen, die aus dem Ersten Weltkrieg hervorge~ gangen waren, darunter Jugoslawien, und er nahm in Aussicht, solche mißratenen Gebilde wieder zu beseitigen. Andererseits verfolgte der Präsident mit seinem Schreiben zwar den Zweck, Absprachen über Kriegsziele allgemein zu verhindern, aber der eigentliche Ausgangspunkt waren Absprachen zwischen London und Moskau gewesen, etwa solche über das Baltikum. Derartige Absprachen sollte es nicht geben, um auch das Lebensrecht kleiner Länder wie der baltischen zu achten. Außerdem sollte es derartige Absprachen nicht geben, weil die internationale Polizeimacht alle ( !) Unruhestifter zu entwaffnen hatte. Auf welche Unruhestifter bezog sich dies? Nach gängiger Meinung nur auf die sogenannten Aggressorstaaten, doch läßt sich schon hier erkennen, daß das völlig abwegig ist. Es stand ja gar nicht zur Debatte, ob Deutschland das Baltikum vereinnahmen dürfe, und selbstverständlich standen auch keine Kriegszielabsprachen zwischen Deutschland und England zur Debatte. Sondern es sollten alle(!) Unruhestifter entwaffnet werden, und deswegen sollte es nicht vorher noch Absprachen mit ihnen über Kriegsziele geben. Genau dies meinte Roosevelt: Es sollten sämtliche Unruhestifter entwaffnet werden, die danach trachteten, andere Länder zu beherrschen, anderen Völkern ihr Gebiet wegzunehmen, die Freiheit anderer zu beeinträchtigen,' z. B. auch die Sowjetunion und Polen. Noch im Jahr 1942, als die Verhältnisse sich schon grundle-
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gend gewandelt hatten, weil man nunmehr damit rechnen mußte, daß die Sowjetunion bei Kriegsende eine der herausragenden Mächte sein würde - noch 1942 gab Roosevelt unverhohlen zu verstehen, wie weit er ursprünglich den Rahmen der allgemeinen Entwaffnung hatte ziehen wollen. Dem sowjetischen Außenminister Molotow erklärte er, außer den Weltpolizisten sollten alle Länder entwaffnet werden, d. h. neben den Achsenmächten auch Frankreich, Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien, Skandinavien, die Türkei usf. Da Roosevelt im Jahr 1941 genau zwei Weltpolizisten in Aussicht nahm, nämlich Amerika und England, liegt es auf der Hand, daß er 1941 alle anderen entwaffnen wollte, d. h. auch die Sowjetunion, einen der größten Unruhestifter. Eine Ausnahme machte Roosevelt 1941 lediglich bei England. Der wichtigste und der im Grunde allein ausschlaggebende Weltpolizist sollten natürlich nach dem Plan von 1941 die USA sein. Aber 1941 ging es gerade darum, Britannien am Rückfall in die alte Machtpolitik zu hindern, vor allem an Absprachen über Kriegsziele, welche London in die Lage versetzten, auf einer Friedenskonferenz die Russen, Polen und andere gegen die Amerikaner auszuspielen. Britannien sollte nicht mehr imstande sein, sich gegen die USA zu stellen, deren Ziele zu hintertreiben, sondern es sollte fest an Amerika gebunden werden und gemeinsam mit diesem eine neue Welt heraufführen. Deswegen und zum Ausgleich für den Verlust einer selbständigen Rolle in der alten Machtpolitik bot Roosevelt den Briten die Stellung als einer von zwei Weltpolizisten an, zwar im Gefolge Amerikas und als dessen Gehilfe, aber immerhin bevorzugt gegenüber allen anderen. Schon im Frühjahr 1940 hatte Roosevelt den damaligen Regierungen der europäischen Westmächte ,angesonnen, eine Erklärung abzugeben, in welcher sie sich zu einem Frieden nach amerikanischen Richtlinien bekannten. In seinem Schreiben an Churchill vom 14. Juli 1941 regte er erneut eine britische Erklärung an, in welcher ausgedrückt werden sollte, daß keine Bindungen existierten für den späteren Frieden in Hinblick auf Gebiete, Bevölkerungen oder Wirtschaft. Eine solche Erklärung wollte Roosevelt dann mit großem Nachdruck (in very strong terms) unterstützen. Und wie im Jahr zuvor war damit auch die Einheit und Unversehrtheit Deutschlands gemeint. Churchill gab auf Roosevelts Schreiben keine Antwort. Augenscheinlich geschah es deswegen nicht, weil man in London ganz genau verstand, was der Präsident beabsichtigte. Der neue britische Außenminister Eden (seit Dezember 1940) wies im August 1941 bei einem privaten Gespräch die verbreitete Beschwichtigungsformel, die Amerikaner seien kindlich, einfach und naiv, mit der Bemerkung zurück, er halte Roosevelt weder für einfach noch für naiv. In der Tat strebte Roosevelt danach, Amerika nicht nur zur führenden Macht auf der Erde zu erheben, wie es Wilson noch getan hatte, sondern zur schlechterdings beherrschenden, und wenn Britannien sich gewissermaßen zum Hilfspolizisten an der Seite Amerikas machen ließ, dann hatte es auf vieles Verzicht zu leisten, was ihm bis dahin lieb und teuer gewesen war. Die amerikanische Handelspolitik mit ihrem Streben nach der "offenen Tür" würde den wirtschaftlichen Zusammenhalt des Commonwealth aufbrechen; die amerikanische Abneigung gegen den Kolonialismus würde den
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Selbständigkeitsbestrebungen im Kolonialreich Vorschub leisten und dieses schließlich zerfallen lassen; Britannien würde nicht mehr eine der großen, selbständigen Weltmächte sein, sondern es würde, wirtschaftlich wie politisch von Amerika abhängig, an dessen Gängelband trotten; in einer befriedeten Welt würden andere Staaten, in erster Linie Deutschland, auf Grund ihrer Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl im Laufe der Zeit viel wichtiger werden als Britannien, und London würde nicht mehr zu dem Aushilfsmittel greifen können, unerwünschte Rivalen durch politische Winkelzüge gegeneinander zu treiben; überhaupt würde das Zeitalter der älteren Macht- und Gleichgewichtspolitik zu Ende sein, in welchem England seinen Aufstieg vollzogen hatte, und an dessen Stelle würde eine Welt des freien Austausches und des freien Wettbewerbs treten, in welcher jedes Land die Rolle spielen konnte, die ihm auf Grund seiner Leistungsfähigkeit zukam, ohne von auftrumpfenden Möchtegerns daran gehindert zu werden. Eine solche Welt hatten die europäischen Siegermächte schon im Ersten Weltkrieg nicht gewünscht, und im Zweiten wünschten sie es ebensowenig. Vorerst allerdings wußte Roosevelt Rat. Ohne die beiderseitigen Kabinette und Außenminister vorher zu unterrichten, ließ er Churchill über seinen Sonderbeauftragten Hopkins mitteilen, er wolle ihn - zum ersten Mal - persönlich treffen, doch umriß er die Beratungsgegenstände nicht genau. Das Treffen fand vom 9. bis zum 12. August 1941 in der Placentia-Bucht vor Neufundland an Bord von Kriegsschiffen statt; die beiden Regierungschefs Roosevelt und Churchill wurden von ihren Stabschefs begleitet sowie von den Unterstaatssekretären in den Außenministerien, Welles für die USA und Cadogan für Britannien. Daß man auch über Außenpolitik sprechen würde, durfte vermutet werden, aber Churchill hoffte vor allem Aufschluß über die weitere amerikanische Unterstützung zu erhalten, namentlich über einen amerikanischen Kriegseintritt Frohgemut posaunte er in einer Nachricht für den Präsidenten vom 5. August heraus, vor 27 Jahren hätten die ,,Hunnen" ihren letzten Krieg begonnen. Diesmal müsse man es ihnen ordentlich geben. Zweimal sei genug. Das war die Art von schlichtem Denken, die Churchill pflegte und die später viele Anhänger fand: Der Zweck des Krieges bestand darin, den Deutschen Saures zu geben; daß man den Krieg auch für eine neue und bessere Welt führen könnte, erschien ihm unbegreiflich. 37 Das Ergebnis der Atlantik-Konferenz fiel für die Briten auf militärischem Gebiet eher enttäuschend aus. Roosevelt sagte lediglich zu, daß amerikanische Seestreitkräfte den Schutz der Geleitzüge von der Küste Amerikas bis lsland übernahmen. Daß daraus Zwischenfalle entstehen würden und diese zum Krieg führen könnten, war den Beteiligten klar und wurde von Roosevelt nicht anders erwartet. 37 Zu Berle dessen Navigating. Ferner D. Reyno1ds, Creation, 256ff. Hearden, 240ff. Roosevelt an Churchill, 14. 7. 1941, in Kimball, Correspondence I, 221 f. Roosevelt zu Molotow, 29. 5. 1942, in FRUS 1942, III, 566ff. Auch in Dokumente zur Deutschlandpolitik 1/2, 281 ff. Eden im August 1941 nach D. Reynolds, Creation, 266. Roosevelts Vorbereitung der Konferenz sowie Churchills Nachricht vom 5. 8. 1941 nach Kimball, Correspondence I, 223, 226.
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Aber Roosevelt konnte und wollte nicht von sich aus in den Krieg eintreten, denn für eine Kriegserklärung benötigte er die Zustimmung des Kongresses, die sich zum damaligen Zeitpunkt nicht erreichen ließ. Außerdem brachte ein baldiger Kriegseintritt keine Verbesserung der militärischen Lage, denn ihre Flotte setzten die USA beim Geleitschutz ohnedies demnächst ein (soweit sie nicht als Gegengewicht zu Japan im Pazifik benötigt wurde), während Boden- und Luftstreitkräfte noch nicht so stark waren, daß sie auf dem europäischen Kriegsschauplatz etwas Nennenswertes ausgerichtet hätten. Unfruchtbar blieb sodann die Diskussion über die zukünftige Strategie. Auf Anordnung Roosevelts vorn 9. Juli 1941 entwickelten die amerikanischen Teilstreitkräfte im Laufe des Sommers ein Rüstungsprograrnrn, bekannt als Victory-Programm, wonach das Heer im Lauf der nächsten Jahre auf rund neun Millionen Mann einschließlich der Heeresluftwaffe ausgebaut werden und 215 Divisionen umfassen sollte, davon 61 Panzerdivisionen. Bis zum Jahr 1943 sollten rund fünf Millionen Mann für eine Invasion in Europa bereitgestellt werden, dazu die nötigen Schiffe für Transport und Landung. Eben diese Invasion mit anschließendem Vorstoß nach Deutschland hielten die amerikanischen Planer für unerläßlich, um die Kriegsentscheidung zu erzwingen. Demgegenüber stellte sich die britische Seite auf den Standpunkt, eine große Invasion und ein Entscheidungskampf gegen das deutsche Heer sei nicht erforderlich, vielmehr genüge es, Deutschland durch eine verschärfte Blockade, durch eine strategische Luftoffensive sowie durch kleinere Unternehmungen an den Rändern Europas so weit zu schwächen, daß es schließlich aufgeben müsse. Die Gedankengänge der britischen Planer waren wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen. Beispielsweise stellte der deutsche Rüstungsminister Speer im November 1943 fest, wenn Deutschland den Balkan und damii.die Zufuhr von Chrom verliere, dann werde der Krieg etwa 10 Monate später zu Ende sein, weil ohne Chrom die Fertigung der meisten Rüstungsgüter unmöglich sei. Es ließe sich demnach denken, daß die Westmächte den Balkan eroberten und damit Deutschland zum Aufgeben zwangen. Trotzdem wirken die Ansichten der britischen Planer merkwürdig konstruiert. Dabei mag die Frage auf sich beruhen, ob im Sommer 1941 ein vollständiger deutscher Sieg über die Sowjetunion vorstellbar war, wodurch Deutschland Zugang zu den russischen Rohstoffen erlangt und diejenigen des Balkan nicht mehr benötigt hätte. Aber selbst wenn das nicht eintrat, mußten die Westmächte den Balkan erst einmal erobern, und dann würde es eben hier zum Entscheidungskampf gegen die Wehrmacht kommen, weil Deutschland den Balkan nicht preisgeben durfte. Auch von einer strategischen Luftoffensive ließ sich nicht ohne weiteres ein durchschlagendes Ergebnis erhoffen; immerhin hatten die Briten bei der Luftschlacht um England selbst erlebt, daß die erzielte Wirkung sich in Grenzen hielt. Es drängt sich daher der Verdacht auf, daß bei den Auseinandersetzungen um die Strategie, wie sie bei der Atlantik-Konferenz erstmals in Erscheinung traten, noch andere Beweggründe eine Rolle spielten. Eine große Invasion, zweckmäßigerweise in Frankreich, sowie der anschließende Vorstoß nach Deutschland, bei dem Amerikaner die Masse der Truppen stellten,
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bildete die geeignete Voraussetzung für die Verwirklichung der politischen Ziele Roosevelts: Europa würde hauptsächlich durch die USA befreit, Deutschland und andere Staaten hauptsächlich von den Amerikanern besetzt werden, und Washington würde dadurch Gelegenheit erhalten, Buropa in seinem Sinne neu zu ordnen. Für die britische Regierung dagegen brauchte dies nicht so dringlich zu sein. Im Vordergrund stand für London zunächst der Erhalt des Empire, d. h. die Sicherung des Mittelmeerraums, des vorderen Orient, Indiens und der Besitzungen in Ostasien. Dafür mußte es vorrangig seine Streitkräfte bereitstellen, nicht für den großen Entscheidungskampf im Innern des europäischen Kontinents. Den Amerikanern wäre es gleichgültig oder sogar ganz recht gewesen, wenn das Empire zusammenbrach; den Briten war das nicht gleichgültig. So befürworteten die Briten eine periphere Strategie, welche die Entscheidung hinauszögerte, was wiederum den Amerikanern nicht einleuchtete, da sie- militärisch an sich schlüssig- einen möglichst baldigen Stoß mit gesammelten Kräften ins Herz des Gegners anstrebten. Zu einer Einigung kam man nicht. Erfolgreicher war Roosevelt bei seinem eigentlichen Anliegen, das er erst auf der Konferenz enthüllte. Ihm kam es darauf an, Churchill und damit die britische Regierung auf das amerikanische Ziel einer neuen Weltordnung zu verpflichten. Die Anregung zu einer gemeinsamen amerikanisch-britischen Erklärung, welche die Richtlinien für die Politik beider Länder niederlegte, ging im Laufe des 9. August von Roosevelt aus; spätestens am Abend desselben Tages kam man überein, daß die Briten einen Entwurf dafür vorlegen sollten. Das war geschickt eingefädelt, denn einerseits wurden die Briten nicht gezwungen, einer amerikanischen Erklärung zuzustimmen, sondern sie sollten selbst eine entwerfen, und andererseits konnte Churchill sich nicht gut weigern, da er auf die amerikanische Unterstützung angewiesen war. Den Entwurf arbeitete der britische Unterstaatssekretär Cadogan aus, der noch unter den Appeasern sein Amt erhalten hatte und seit Jahren mit den Einzelheiten der britischen Außenpolitik vertraut war. Insbesondere kannte er alle Vorstöße Roosevelts in der Frage der Kriegs- und Friedensziele, darunter eine Rede des Präsidenten vom 6. Januar 1941, in welcher er seine "vier Freiheiten" verkündet hatte. Diese Rede enthielt nicht weniger als ein Programm für di,s! Gestaltung der Lebensbedingungen allerVolkerund Menschen auf der ganzen Erde. Bei den "vier Freiheiten" handelte es sich um die Freiheit der Meinung sowie die Freiheit der Religion, die überall in der Welt gewährleistet sein sollten. Da diese beiden Freiheiten offenbar in der sowjetischen Diktatur ebenso unterdrückt wurden wie in der nationalsozialistischen, kann daraus nur folgen, daß beide Freiheiten sowohl in Deutschland als auch in Rußland wiederherzustellen waren. Sodann handelte es sich um die Freiheit von Not (freedom from want) und die Freiheit von Furcht. Die Freiheit von Not sollte erreicht werden durch eine Gestalt der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, die den Bewohnern aller Länder eine Verbesserung ihrer Existenzmöglichkeiten brachte. Die Freiheit von Furcht sollte erreicht werden durch eine weltweite Venninderung der Waffen bis zu dem Punkt und in der Weise, daß
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kein Land imstande war, ein anderes anzugreifen. Roosevelt meinte das wörtlich, d. h. es sollte eine allgemeine Entwaffnung aller Länder stattfinden, wenn nicht freiwillig, dann durch Zwang. Diese Aufgabe hatten die beiden Weltpolizisten zu lösen, denn sie würden zunächst dafür sorgen, daß die Achsenmächte entwaffnet wurden, und sie würden anschließend alle anderen Unruhestifter unschädlich machen, bis am Ende verbindliche und haltbare Regelungen gefunden waren, die ein friedliches und weitgehend waffenloses Zusammenleben aller Völker gewährleisteten. Cadogan legte nun, in Übereinstimmung mit Churchill, einen Entwurf vor, in welchem er den bekannten Wünschen Roosevelts Rechnung zu tragen suchte, insbesondere der Vorliebe des Präsidenten für eine Entwicklung aller Völker in Freiheit und Selbständigkeit. Der britische Entwurf enthielt fünf Punkte, wovon der erste besagte, Amerika und Britannien suchten keine territoriale oder sonstige Vergrößerung. Gemäß Punkt zwei verlangten (desin!) die beiden Regierungen, daß keine Gebietsveränderungen vorgenommen würden, die nicht mit den frei geäußerten Wünschen der betroffenen Völker übereinstimmten. Das lief in Streitfällen auf Volksabstimmungen hinaus, wie Roosevelt angeregt hatte, und besagte beispielsweise für Deutschland, daß weder eine Zerstückelung in Frage kam noch eine Abtrennung deutschsprachiger Gebiete, falls die betreffende Bevölkerung den Verbleib beim Reich wünschte, etwa im Falle Österreichs. Für Cadogan brachte eine solche Formulierung nicht viel Neues, zumindest nicht in Hinblick auf Deutschland, weil dies jahrelang die Leitlinie der Appeasementpolitik dargestellt hatte und offiziell noch nicht aufgegeben war. Dem Empfinden Churchills dürfte dieser Satz, soweit der Premier sich dessen Tragweite klarmachte, weniger entsprochen haben; wahrscheinlich bequemte er sich dazu, um Roosevelt nicht unnötig zu widersprechen. Laut Punkt drei achteten die beiden Regierungen das Recht aller Völker, sich diejenige Regierungsform zu wählen, unter der sie leben wollten; die beiden Regierungen kümmerten sich lediglich um das Verteidigen der Gedanken- und Meinungsfreiheit, ohne die jene freie Wahl unmöglich war. Dieser Satz nahm offenbar in Aussicht, die Diktatur zu beseitigen, ohne den betreffenden Völkern Vorschriften über ihre zukünftige staatliche Organisation zu machen; lediglich der Rechtsstaat sollte wiederhergestellt werden. Gemäß Punkt vier wollten die beiden Regierungen eine gerechte und billige Verteilung wichtiger Bodenerzeugnisse vornehmen, und zwar unter allen Ländern der Erde. Im Punkt fünf versicherten beide Regierungen, sie suchten einen Frieden, durch welchen nicht bloß die Nazi-Tyrannei für immer niedergeschlagen wurde, sondern welcher auch allen Staaten und Volkern durch eine wirksame internationale Organisation die Mittel gab, sicher innerhalb ihrer Grenzen zu leben und die Meere zu befahren, ohne Furcht vor rechtswidrigem Angriff sowie ohne Notwendigkeit, kostspielige Rüstungen aufrechtzuerhalten. Betrachtet man den britischen Entwurf im Überblick, so gewinnt man den Eindruck, daß Cadogan und Churchill gewissermaßen einen Handel anboten. Auf der einen Seite enthielt der Entwurf Wendungen, welche die USA mehr oder weniger
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verpflichteten, demnächst in den Krieg einzutreten. Sodann vermied der Entwurf geflissentlich, auf die amerikanische Idee der "offenen Tür" einzugehen, die den wirtschaftlichen Zusammenhalt des Commonwealth gefährdete; lediglich eine gerechte Verteilung von Bodenerzeugnissen wurde zugestanden. Auch der Gedanke der beiden Weltpolizisten fand keine Erwähnung; statt dessen begnügte sich der Entwurf mit dem allgemeinen Hinweis auf eine internationale Organisation und auf Rüstungsverminderung, was ziemlich nichtssagend war, da bekanntlich schon der Völkerbund nicht funktioniert und keine allgemeine Abrüstung zuwege gebracht hatte. Die genannten Dinge stellten das dar, was die Briten wünschten. Um auch den Amerikanern etwas anzubieten und sie dem Handel geneigt zu machen, gestand der britische Entwurf auf der anderen Seite den Verzicht auf sämtliche territorialen Kriegsziele zu und wollte allen Völkern das Recht einräumen, unversehrt und frei in ihren Siedlungsgrenzen zu leben. Es ist nun ziemlich aufschlußreich, daß Roosevelt gar nicht daran dachte, auf diesen Handel einzugehen. Aus dem britischen Entwurf übernahm er bloß das, was sich mit seinen Absichten deckte, namentlich die Wahrung des Besitzstandes und der Selbständigkeit jedes Volkes, nicht zuletzt des deutschen. Ansonsten setzte Roosevelt ohne Zaudern seine Vorstellungen in allen Einzelheiten durch, mit nur geringen Einschränkungen zugunsten Britanniens. Nachdem Roosevelt und sein Unterstaatssekretär Welles den britischen Entwurf vom 10. August geprüft hatten, arbeiteten sie bis zum folgenden Tag einen eigenen Entwurf aus, der dann ab dem 11. August die Grundlage der Beratungen bildete. Da dieser amerikanische Entwurf zum größten Teil in die Endfassung der AtlantikCharta einging, soll er hier nicht im einzelnen behandelt werden; es wird genügen, die Atlantik-Charta selbst zu besprechen und bei deren verschiedenen Punkten die unterdessen eingetretenen Änderungen zu vermerken. Vorab sei nur erwähnt, daß Churchill im Laufe der Verhandlungen sein heimisches Kabinett unterrichtete, womit er in London heftige Enttäuschung auslöste. Der Sekretär des Außenministers, Harvey, nannte die Charta ein schrecklich verschwommenes Dokument, voll mit den alten Klischees des Völkerbundszeitalters. Augenscheinlich hatte Harvey nicht verstanden, was darin stand, oder er hielt wieder einmal die Amerikaner für naiv. In Roosevelt sah er einen eigensinnigen Mann, der beim Frieden allein im Rampenlicht stehen wolle, dessen politische Ideen aber 20 Jahre alt seien. Solche Äußerungen brauchen hier nicht weiter kommentiert zu werden. Wichtig sind sie nur insofern, als sie zeigen, daß die Atlantik-Charta zwar formal eine britisch-amerikanische Erklärung darstellte, in Wahrheit jedoch ein ausschließlich amerikanisches Weltfriedensprogramm bildete, gewissermaßen eine Roosevelt-Doktrin. Was nun die Einzelheiten angeht, so verwarfen Roosevelt und Welles alle Wendungen, aus denen auf einen baldigen Kriegseintritt Amerikas geschlossen werden durfte. Dies geschah mit Rücksicht auf den Isolationismus in Amerika, dem keine Handhabe geliefert werden sollte, die Politik des Präsidenten zu behindern. Nichtsdestoweniger konnte man aus der Atlantik-Charta ohne Mühe herauslesen, daß Roosevelt bzw. Amerika gesonnen war, den Krieg zu entscheiden sowie den Frie-
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den nach seinem Willen zu gestalten. Es handelte sich also um ein Programm der amerikanischen Kriegs- und Friedensziele, und zwar, um das noch einmal zu erwähnen, ein Programm, das lange vor dem amerikanischen Kriegseintritt aufgestellt wurde. Dabei nahm Roosevelt bereits im Vorspann der Charta gewisse Änderungen vor. Im britischen Entwurf hatte es geheißen, der Präsident und der Premierminister seien zusammengekommen, um die erforderlichen Maßnahmen für die Sicherheit ihrer Länder zu beschließen und abzustimmen, und zwar angesichts der nationalsozialistischen und deutschen Aggression. Dahinter verbargen sich erstens der Wunsch, die Übereinstimmung zwischen Britannien und Amerika als möglichst eng erscheinen zu lassen mit der unausgesprochenen Folgerung, der amerikanische Kriegseintritt sei beschlossene Sache, sowie zweitens die Absicht Churchills, nicht nur die Nationalsozialisten, sondern Deutschland insgesamt bzw. das deutsche Volk für die Aggression haftbar zu machen. Dagegen hieß es in der Endfassung der amerikanisch-britischen Erklärung, der Präsident und der Premierminister hätten die Gefahren für die Weltzivilisation erwogen, die aus der Politik militärischer Eroberungsherrschaft erwüchsen, wie sie von der Hitler-Regierung in Deutschland und anderen mit ihr verbundenen Regierungen unternommen werde. Diese Formulierung war erstens für die amerikanische Politik viel unverbindlicher, und sie zog zweitens einen ganz klaren Trennungsstrich: Bekämpft wurden weder das deutsche Volk noch die Völker der Achsenmächte, sondern die Hitler-Diktatur und die Politik militärischer Eroberungsherrschaft Es dürfte an der Zeit sein, diesen Unterschied einmal zur Kenntnis zu nehmen. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß es sich bei der Atlantik-Charta um eine Willenserklärung der amerikanischen und britischen Regierung handelte, denn der Präsident sprach kraft Amtes für sein Land und Churchill wurde ausdrücklich als Vertreter der britischen Regierung genannt. Die Bindungswirkung sollte dieselbe sein wie bei allen amerikanischen Erklärungen dieser Art seit der Monroe-Doktrin, d. h. die Atlantik-Charta, gewissermaßen eine Roosevelt-Doktrin, sollte eine schlechterdings gültige Aussage über die zukünftige amerikanische (und britische) Politik darstellen. Von den acht Punkten der Charta enthielten die beiden ersten die bereits bekannten Festlegungen, daß Amerika und Britannien keine Vergrößerung anstrebten und daß die beiden Regierungen verlangten, keine Gebietsveränderungen gegen den Willen der betroffenen Völker vorzunehmen. Drittens respektierten beide Regierungen das Recht aller Völker, ihre Regierungsform selbst zu wählen, wozu auf Wunsch Roosevelts noch der Zusatz trat, Souveränitätsrechte und Selbstverwaltung sollten denjenigen Völkern zurückgegeben werden, welchen sie gewaltsam entrissen worden waren. Das umfaßte einerseits die Opfer von Angriffen der Achsenmächte wie Holland, Griechenland oder China; da jedoch Roosevelt seine Forderungen immer allgemein bzw. weltweit verstand, galt es andererseits auch für die Opfer sowjetischer Angriffe wie die baltischen Länder. Darüber hinaus lasen die Amerikaner in den Punkt etwas hinein, was die Briten so bestimmt nicht ge-
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meint hatten, nämlich die Befreiung der Kolonialvölker. Punkt vier war eine Neuschöpfung der Amerikaner und bezog sich auf die "offene Tür". Demnach sollte dafür Sorge getragen werden, daß alle Staaten, groß oder klein, Sieger oder Besiegte, zu gleichen Bedingungen Zugang erhielten zum Handel und zu den Rohstoffen der Welt, die sie für ihr wirtschaftliches Wohlergehen benötigten. Hierüber gab es heftige Auseinandersetzungen, da Churchill darin mit Recht einen Anschlag auf das Commonwealth-Zollsystem sah. Die Lösung wurde schließlich gefunden, indem Roosevelt, um das Zustandekommen der Charta nicht zu gefährden, einem Einschub zustimmte, wonach der Grundsatz des freien Handels nur mit gebührender Rücksichtnahme auf bestehende Verpflichtungen gelten sollte. Punkt fünf ging auf einen Vorschlag der britischen Regierung zurück und besagte, es solle wirtschaftliche Zusammenarbeit unter allen Ländern herbeigeführt werden mit dem Ziel, verbesserte Arbeitsbedingungen, wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Sicherheit für alle zu gewährleisten. Punkt sechs war wieder eine amerikanische Schöpfung und faßte im Grunde alles zusammen, was Roosevelt anstrebte. Es hieß dort, nach der schließliehen Zerstörung der Nazi-Tyrannei solle ein Friede errichtet werden, der alle Völker sicher innerhalb ihrer eigenen Grenzen leben lasse und welcher die Gewähr biete, daß alle Menschen in allen Ländern frei von Furcht und frei von Not ihr Leben gestalten könnten. Punkt sieben bildete sozusagen ein amerikanisches Steckenpferd seit Wilsons Zeiten und beinhaltete die Freiheit der Meere, was darauf hinauslief, auch auf den Ozeanen die alte Machtpolitik abzuschaffen. Der erregendste Punkt ist der achte, dessen Kern auf Roosevelt allein zurückgeht. Er besagte, aus tatsächlichen wie sittlichen (spiritual) Gründen müßten alle Völker der Erde dahin kommen, die Anwendung von Gewalt aufzugeben. Da kein zukünftiger Friede aufrechterhalten werden könne, wenn weiterhin Kriegswaffen aller Art solchen Ländern verfügbar seien, welche mit Angriffen jenseits ihrer Grenzen drohten oder drohen könnten, sei die Entwaffnung solcher Länder von wesentlicher Bedeutung. Desgleichen würden die beiden Regierungen alle anderen anwendbaren Maßnahmen unterstützen und fördern, welche für friedliebende Völker die drückende Bürde der Rüstungen erleichterten. An diesem Punkt braucht man nicht herumzudeuteln, man muß ihn nur genau lesen, denn er enthielt eben das, was dasteht. Roosevelt war der Sprache und der Logik so weit mächtig, daß er das, was er meinte, auszudrücken vermochte, und daß er eben das ausdrückte, was er meinte. Der Wortlaut ist völlig eindeutig: Alle Länder sollten entwaffnet werden, die mit Angriffen drohten oder drohen konnten (nations which threaten, or may threaten, aggressionoutside of their frontiers). Wer konnte einen Angriff androhen? Grundsätzlich jeder, also war grundsätzlich jeder zu entwaffnen. Tatsächlich jedoch würde ein kleines Land wie z. B. die Schweiz wohl nicht so leicht drohen, so daß es zuvörderst darauf ankam, die Hauptübeltäter zu entwaffnen, darunter jedenfalls auch die Sowjetunion; die anderen würden dann schon freiwillig folgen, zumal wenn sie von außen nicht mehr bedroht wurden. Aufschlußreich ist sodann die Debatte, die auf der Konferenz über diesen Punkt geführt wurde. Sum22 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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ner Welles meinte, die amerikanischen Isolationisten würden daraus den Schluß ziehen, Amerika wolle in den Krieg ziehen, um nicht nur Deutschland, sondern möglicherweise Japan und zumindest theoretisch auch die Sowjetunion zu entwaffnen. Welles brauchte nicht zu fragen, ob das so gemeint sei; seine einzige Sorge war, ob man das dem Kongreß so offen mitteilen solle. Roosevelt wiederum gab eine bemerkenswerte Antwort. Hätte er die Sache so verstanden, daß nur Deutschland oder nur die Achsenmächte entwaffnet werden sollten, dann hätte er das ja einfach sagen können; er hätte nur klarstellen müssen, daß beispielsweise die Sowjetunion nicht gemeint sei. Eine solche Antwort gab Roosevelt nicht; vielmehr erläuterte er, mit diesem Punkt solle klargemacht werden, was das Ziel sei, wenn der Krieg gewonnen sei; auch glaube er, das Volk der Vereinigten Staaten werde diesen Standpunkt teilen. Der Präsident fügte hinzu, nach seiner Auffassung werde der Realismus dieses Punktes der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner einleuchten, und sie werde begeistert die notwendige Entwaffnung von kriegslüsternen Ländern unterstützen. Damit mochte er wohl recht haben - allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Sowjetunion bei Kriegsende zu schwach war, um dem amerikanischen Druck nennenswerten Widerstand zu leisten. In der auf Roosevelt zurückgehenden ursprünglichen Fassung des genannten Punktes war nicht die Rede von einer internationalen Organisation in der Art des Völkerbunds. Das hieß nicht, daß der Präsident eine solche Organisation grundsätzlich ablehnte, er wußte aber, wie der frühere Völkerbundsgedanke mißbraucht worden war und wollte deshalb eine realistische Politik betreiben. Die wesentlichen Probleme, insbesondere die allgemeine Abrüstung, sollten nicht einer solchen Organisation überlassen, sondern vorher gelöst werden, nämlich durch die beiden Weltpolizisten, und erst danach war jene Einrichtung zu vollenden, eine organisierte Völkergemeinschaft Roosevelt sah also nach Kriegsende eine Übergangsperiode vor, in welcher die Grundlagen geschaffen werden sollten, um später die organisierte Völkergemeinschaft (die Vereinten Nationen, wenn man so will) wirksam und leistungsfähig ins Leben zu rufen. Das ist übrigens auch ein Beweis, daß Roosevelt nach dem Krieg noch andere Länder als die Achsenmächte entwaffnen wollte, denn wenn es nur darum gegangen wäre, die Besiegten abzurüsten, so hätte kein Hindernis bestanden, die organisierte Staatengemeinschaft sofort zu errichten - die Besiegten konnten sich der Entwaffnung sowieso nicht mehr entziehen. Dagegen konnten andere Länder sehr wohl versuchen, sich der Abrüstung zu entziehen, und um das zu verhindern, brauchte man eine Übergangsphase, in welcher die Weltpolizisten überall auf der Erde das Nötige durchführten. Zu diesem Nötigen mochten dann außer der allgemeinen Abrüstung auch sonstige Tätigkeiten gehören, etwa das Wiederingangsetzen des Wirtschaftslebens oder das Festlegen von Staatsgrenzen. Da Churchill und andere den Gedanken einer internationalen Organisation auch in der Charta verankert sehen wollten, stimmte Roosevelt schließlich einem Einschub zu, wonach die Entwaffnung kriegslüsterner oder kriegsfähiger Länder von großer Bedeutung sei, bis ein umfassenderes und dauerndes System der allgemeinen Sicherheit aufgebaut sein werde. 38
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Schon bald, nachdem die Atlantik-Charta am 14. August 1941 in Washington und London veröffentlicht worden war, setzte ein Vorgang ein, der bis heute anhält: Die Charta, in Amerika großenteils begrüßt, wurde ansonsten meist mißverstanden oder nicht ernst genommen. Vorerst kam das nicht zum Tragen, da die Gegner der Achsenmächte auf die Unterstützung durch die USA angewiesen waren und sich deshalb zähneknirschend dazu bequemen mußten, die Charta hinzunehmen. Aber es kündigte sich bereits an, daß die Charta keinen Pfifferling mehr wert sein würde, wenn der Kriegsverlauf es den Beteiligten erlaubte, in die Bahnen der alten Machtpolitik zurückzuschwenken und die eigene Begehrlichkeit als Realpolitik zu tarnen. Die polnische und die tschechoslowakische Exilregierung in London nahmen die Atlantik-Charta mit erregtem Mißmut zur Kenntnis, weil das Selbstbestimmungsrecht der Charta ihren Vorstellungen im Weg stand und insbesondere die Abtretung deutscher Gebiete an Polen dadurch ausgeschlossen wurde. Die Polen versuchten deshalb das britische Foreign Office zu einer Erklärung zu bewegen, daß das Selbstbestimmungsrecht fallweise außer Kraft gesetzt werden solle, was Außenminister Eden jedoch ablehnte, weil er amerikanischen Widerstand erwartete. Daraufhin gaben beide Exilregierungen am 24. September 1941 eine gemeinsame Erklärung ab, die Charta solle in einem Geist der Gerechtigkeit angewendet werden, der Deutschland anders behandle als sonstige Länder. Tatsächlich verbarg sich dahinter nichts anderes als Machtgier, Rachsucht und Unvernunft. Die Behauptung, man müsse sich in Zukunft vor Deutschland schützen, war an den Haaren herbeigezogen, denn erstens konnte es in Zukunft keinen besseren Schutz für alle Länder geben als die allgemeine Entwaffnung, und zweitens diente die Behauptung in Wahrheit nur der Rechtfertigung des Raubes. Im übrigen hatten die Sieger des Ersten Weltkrieges dasselbe Verfahren schon einmal angewandt und damit den neuerlichen Krieg heraufbeschworen - weswegen Roosevelt, ebenso wie Wilson, aus diesem Teufelskreis ausbrechen wollte. Wie dem auch sei, die polnische und die tschechoslowakische Exilregierung blieben nicht lange allein. Obwohl sich die britische Regierung durch die Charta selbst gebunden hatte, stellte Eden gegen Ende September, gerade einen Monat danach, Erwägungen darüber an, Ostpreußen an Polen zu geben und die Bevölkerung auszusiedeln. Das war das bekannte Verfahren: Man gab den Amerikanern gegenüber Lippenbekenntnisse ab, ließ sich von ihnen helfen, den Krieg zu gewinnen, und führte sie anschließend aufs Glatteis. Die Sowjetunion war, aus gutem Grund, an der Atlantik-Charta nicht beteiligt worden, was den sowjetischen Botschafter in London, Maiskij, zu der Bemerkung 38 Zur Atlantik-Konferenz und Atlantik-Charta Dokumente zur Deutschlandpolitik U1, 437 ff., 443 ff.; U2, 3 ff. S. Welles, Heading. Dilks, Cadogan, 394 ff. Nagel-Kohler. Th. Wilson, Summit. Gietz, 77 ff. Zum Victory-Programm und zur militärischen Planung der USA Langer I Gleason, War, 735 ff. Matloff I Snell, 58 ff. Wedemeyer, 80 ff. MGFA, Weltkrieg VI, 23 ff., 31 ff. (Beitrag Boog). Speer über Chrom in Speer, Erinnerungen, 329. Roosevelts "vier Freiheiten" in Rosenman, Papers 10, 663 ff. Harvey über Atlantik-Charta in 0. Harvey, Diaries, 31 (12. 8. 1941).
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veranlaßte, nach Auffassung der Sowjetregierung hätte sie wohl befragt werden sollen. Roosevelt und Churchill hatten lediglich Stalin von der Atlantik-Konferenz kurz unterrichtet sowie Besprechungen über Hilfslieferungen angekündigt. Solche Lieferungen blieben während des Jahres 1941 geringfügig, zunächst vor allem deshalb, weil nicht abzusehen war, ob die Sowjetunion länger durchzuhalten vermochte. Erst im November 1941 wurde die lend-lease-Hilfe auf Rußland ausgedehnt. Stalin wußte die Vorgänge sehr wohl zu deuten; er konnte sich ohne Mühe ausrechnen, daß Roosevelt bzw. Amerika den Frieden zu gestalten wünschte und auf eine durch den Krieg geschwächte Sowjetunion keine gesteigerte Rücksicht nehmen würde. Noch vor der Heimkehr Churchills von der Atlantik-Konferenz kam das britische Kriegskabinett auf die Idee, auch die Verbündeten Britanniens, größtenteils durch Exilregierungen vertreten, sollten sich zur Atlantik-Charta bekennen. Dies geschah auf einer interalliierten Konferenz in London am 24. September, doch gaben Polen und Tschechen dabei die eben erwähnte Erklärung ab, daß sie sich eigentlich an die Charta nicht gebunden fühlten. Für die Sowjetunion erklärte Maiskij, die praktische Anwendung der Charta müsse notwendigerweise den Umständen, Bedürfnissen und geschichtlichen Besonderheiten bestimmter Länder Rechnung tragen. Das hieß im Klartext, die Sowjetregierung würde die Charta nach eigenem Gutdünken anwenden bzw. überhaupt nicht anwenden. Das Schicksal der Charta war damit noch nicht besiegelt, aber es schälte sich deutlich heraus, daß die USA nur bei günstigem Kriegsverlauf die Atlantik-Charta durchzusetzen vermochten. 39 Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß die politische Gestalt der Erde und der weitere Verlauf der Geschichte sich grundlegend gewandelt hätten, wenn die Atlantik-Charta so, wie Roosevelt es beabsichtigte, verwirklicht worden wäre. Die Charta hätte dann geradezu den Beginn eines neuen Zeitalters angezeigt. Verglichen mit der Weltfriedensordnung, wie Präsident Wilson sie angestrebt hatte, ging die Weltfriedensordnung, die Roosevelt vorsah, noch einen erheblichen Schritt weiter. Man darf ungescheut sagen, daß mit dem Gedanken der organisierten Staatengemeinschaft auch der Gedanke einer Staatsbildung im Weltmaßstab ins Leben trat. Was ein Staat überhaupt ist und wie sich die Staatsentwicklung in den Jahrtausenden menschlicher Kulturentwicklung vollzogen hat, braucht hier nicht untersucht zu werden. In universalhistorischer Sicht wird es sich jedoch empfehlen, den Ausdruck Staat durch drei Bestimmungsmerkmale begrifflich festzulegen, nämlich Verband, öffentliche Angelegenheiten und öffentliche Gewalt. Eine besonders einfache Form von Staat ist der als Genossenschaft verfaßte Staat, dessen Mitglieder selbst Inhaber öffentlicher Gewalt sind, die aber zu einem Verband zusammentre39 Zur polnischen und tschechoslowakischen Exilregierung Dokumente zur Deutschlandpolitik 111, 441 ff., 448 ff., 456 ff., 479 ff. Eden über Ostpreußen nach 0. Harvey, Diaries, 45. Zur Hilfe für die Sowjetunion Maddux, Estrangement, 147 ff. Zu Maiskij und der interalliierten Konferenz Dokumente zur Deutschlandpolitik 1/1, 560ff. Tyrell, Deutschlandplanung, 47f.
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ten, indem sie sich ein Organ ihres Zusammentritts schaffen und gewisse öffentliche Angelegenheiten gemeinschaftlich besorgen. Das ältere Staatensystem, namentlich das ältere europäische Mächtesystem, stellte gewissermaßen eine Gesellschaft autonomer Individuen dar, eben der einzelnen Staaten, welche allein im Besitz öffentlicher Gewalt waren. Das Kennzeichen ihrer unbeschränkten Selbständigkeit bildete das freie Recht zu Krieg und Frieden, d. h. das Recht zur Gewaltanwendung gegen andere, welches durch kein übergeordnetes Recht und keine übergeordnete Gewalt beeinträchtigt wurde. Diese ältere Staatengesellschaft war nicht zu einem Verband zusammengetreten; sie besaß kein Organ gemeinschaftlichen Handeins und besorgte keine gemeinschaftlichen Angelegenheiten. Ob und inwieweit Streitfragen geregelt wurden, etwa durch den Krieg, im Anschluß an den Krieg oder bei anderer Gelegenheit, stand im freien Belieben jedes einzelnen Mitglieds der Staatengesellschaft; verbindliche Regeln dafür existierten nicht. Jeder einzelne Staat war souverän, d. h. er befand sich einerseits im Vollbesitz öffentlicher Gewalt und er verfügte andererseits über volle Wahlfreiheit hinsichtlich der Mittel seines außenpolitischen Verhaltens, eine Wahlfreiheit, die nur an Zweckmäßigkeitserwägungen oder am Grad der vorhandenen Macht ihre Grenzen fand. Machterhalt und Machtsteigerung waren deshalb die herausragenden Kennzeichen im Verkehr der Staaten untereinander; der Staat war nach außen vor allem Machtstaat, die Außenpolitik zuvörderst Machtpolitik, gerichtet auf den Erhalt oder den Erwerb von Macht. All dies sollte anders werden durch die Errichtung einer organisierten Staatenoder Völkergemeinschaft In einer solchen organisierten Gemeinschaft traten die selbständigen Mitglieder der Staatengesellschaft zu einem Verband zusammen, sie schufen sich (mindestens) ein Organ gemeinschaftlichen Handeins und besorgten gemeinschaftliche Angelegenheiten. Ein derartiges Ziel verfolgte Präsident Wilson mit der Errichtung des Völkerbunds. Der Völkerbund war organisiert als Genossenschaft; durch den Zusammentritt seiner Mitglieder, der Einzelstaaten, entstand ein eigenes Organ, die Völkerbundsversammlung; und diese Genossenschaft sollte, jedenfalls nach der Konstruktionsidee, gemeinsame Angelegenheiten besorgen, insbesondere gemeinsam den Frieden wahren oder wiederherstellen. Verbände, in denen mittels öffentlicher Gewalt öffentliche Angelegenheiten besorgt werden, sind politische Verbände; in diesem Sinne ist der Staat ein politischer Verband (der wiederum Unterverbände in sich enthalten mag), und ein Verband von Staaten ist ebenfalls ein politischer Verband, soweit er mittels öffentlicher Gewalt gemeinsame Angelegenheiten besorgt. Zur Wahrung des Friedens verfügte der Völkerbund- theoretisch- über die öffentliche Gewalt seiner Mitglieder; nach der Konstruktionsidee sollte der Gewalt des Friedensbrechers die vereinigte Gewalt der anderen entgegentreten, um den Frieden zu sichern oder zurückzubringen. Innerhalb dieses genossenschaftlich verfaßten politischen Verbandes bildete demnach die Friedenswahrung eine öffentliche Angelegenheit, nämlich eine Angelegenheit des ganzen Verbandes, des Völkerbundes, und zwar eine Angelegenheit, die mittels öffentlicher Gewalt besorgt wurde, nämlich derjenigen der Einzelstaaten. Diese
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Konstruktion hat bekanntlich nicht funktioniert, weil die Mitglieder keine Lust hatten, sich auf die Konstruktionsidee einzulassen (die Gründe sind an anderer Stelle verfolgt worden). Im Vorgang der allgemeinen Staatsentwicklung, zumindest derjenigen des Abendlandes, läßt sich nun eine zunehmende Verherrschaftung beobachten. Diese Verherrschaftung geht damit einher, daß den ursprünglichen Inhabern öffentlicher Gewalt diese Gewalt schrittweise abgenommen wird, bis schließlich der Staat, d. h. der politische Verband als solcher, im alleinigen Vollbesitz aller öffentlichen Gewalt ist. Das ist der Inhalt des Redens vom Gewaltmonopol des Staates. Im Zeichen der Volkssouveränität pflegt man das so auszudrücken, daß alle öffentliche Gewalt beim Volk liege, d. h. aber nicht beim jeweils einzelnen, sondern beim ganzen Verband, der sie durch seine Organe ausübt, z. B. durch das Organ der Stimmbürgerschaft oder das Organ der Regierung: Bringt man jenen Vorgang der allgemeinen Staatsentwicklung auf ein knappes Modell, dann kann man ihn so zusammenfassen, daß aus einem genossenschaftlichen Verband, dessen Mitglieder öffentliche Gewalt innehaben, ein körperschaftlicher Verband wird, der als solcher, jenseits seiner Mitglieder, im Besitze aller öffentlichen Gewalt ist. Das Mittel, eine solche Vereinigung und Konzentration öffentlicher Gewalt herbeizuführen, ist die Verherrschaftung. Dieses Modell erweist seine Gültigkeit auch dann, wenn man es auf den Gedanken der organisierten Staatengemeinschaft anwendet. Präsident Wilson hatte den Völkerbund als genossenschaftlichen Verband einrichten wollen, in welchem die Mitglieder durch gemeinsamen Gebrauch ihrer je eigenen öffentlichen Gewalt zusammenwirkten. Auf diese Weise sollte die alte Machtpolitik überwunden werden und ein haltbares, weil erzwingbares Völkerrecht entstehen, also eigentlich ein öffentliches Recht dieses Staatenverbandes, ein Recht, dessen Beachtung mit der vereinigten Gewalt der Verbandsmitglieder durchzusetzen war. Auf solche Weise wäre zur Grundlage des Verkehrs der Staaten untereinander nicht die je einzelstaatliche Macht, sondern das gemeinsame Recht geworden, ein Recht, das im Unterschied zum klassischen Völkerrecht erzwingbar sein sollte. Oder wie Kant gesagt hatte: Es solle jeder Staat, auch der kleinste, seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht oder eigener rechtlicher Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde, von einer vereinigten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens erwarten können. Der Bund wäre so zu einer Art Überstaat geworden, es hätte sich ein politischer Verband über den bestehenden politischen Verbänden gebildet, und der Übergang zu einer Staatsbildung im Weltmaßstab wäre vollzogen worden. Das Vorhaben scheiterte, weil die Einzelstaaten ihre Gewalt nicht gemeinsam füreinander verwandten, sondern, wie sie es aus der alten Machtpolitik gewöhnt waren, weiterhin gegeneinander. An dieser Stelle setzte das Wirken Roosevelts ein. Der souveräne Machtstaat klassischer Prägung zeichnete sich dadurch aus, daß er im Verkehr der Staaten untereinander als selbständiger Inhaber eigener Gewalt auftrat, einer Gewalt, die er
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nach eigenem Ermessen gegen andere anwenden konnte, wie ein beliebiger politischer Wille es gebot und das Maß an verfügbarer Macht es zuließ. Faßt man den Sachverhalt genauer, so äußerte sich die auswärtige Gewalt im Verkehr der Staaten teils als diplomatische, die vielfach unschädlich und insoweit unverzichtbar war, teils aber auch als Waffengewalt, entweder als Krieg oder als Benützung von Waffenmacht unterhalb der Schwelle des Krieges, z. B. als Drohung, Erpressung oder Einmarsch. Daß selbst die auswärtige Gewalt in Form der Diplomatie Schaden stiften konnte, hatte Präsident Wilson gewußt, deshalb hatte er versucht, geheime Abmachungen, die im Zweifelsfall regelmäßig den Zwecken eigensüchtiger Machtpolitik dienten, zu untersagen. Ansonsten hatte Wilson danach getrachtet, die auswärtige Gewalt in Form der Waffengewalt bzw. die Fähigkeit zur Gewaltanwendung auf zwei Wegen zu beschneiden oder fast zu beseitigen: einerseits durch die allgemeine Abrüstung und andererseits durch das Zusammenwirken der Völkerbundsmitglieder gegen etwaige Friedensbrecher. Beides schlug fehl, weil ein Völkerbund in tauglicher Weise nicht zustande kam und der zustande Gekommene keine taugliche Abrüstung zuwege brachte. Roosevelt zog daraus den Schluß, wenn der herkömmliche Machtstaat nicht imstande sei, durch freiwilliges Zusammenarbeiten mit anderen in genossenschaftlicher Weise den Frieden zu sichern und allen Völkern ihr Lebensrecht zu gewährleisten, dann müsse eben der herkömmliche Machtstaat eines wesentlichen Merkmals seiner auswärtigen Gewalt entkleidet werden. Dieses wesentliche Merkmal der einzelstaatlichen Gewalt im auswärtigen Verkehr war die Waffengewalt bzw. die Fähigkeit zur Gewaltanwendung. Wilson hatte versucht, die Einzelstaaten durch freiwillige Übereinkunft und gemeinschaftliches Wirken zum Verzicht auf Waffengewalt zu bringen. Roosevelt nahm in Aussicht, dem herkömmlichen Machtstaat so weit als nötig, d. h. mindestens den größeren und gefährlicheren Einzelstaaten, die Waffengewalt einfach zu entziehen, nämlich mittels der zwangsweisen Entwaffnung durch die Weltpolizisten. In das Verhältnis der Staaten untereinander kam damit ein Zug von Herrschaft. Soweit die Einzelstaaten wesentliche Merkmale der klassischen Souveränität, in diesem Fall das auswärtige Waffenrecht, einbüßten, sollten sie nicht durch freiwilligen Entschluß und einvernehmliches Handeln den Verzicht leisten, sondern durch einen von außen auferlegten Willen dazu veranlaßt und gegebenenfalls genötigt werden. Es wäre also, jedenfalls für die Übergangszeit nach dem Krieg, in welcher Roosevelt die allgemeine Entwaffnung vornehmen wollte, insoweit eine Herrschaft Amerikas und seines Hilfspolizisten Britannien über andere Länder entstanden. Durch Ausübung von Herrschaft hätten andere Staaten einen wichtigen Teil ihrer öffentlichen Gewalt verloren. Daß dieser Zustand dauerhaft geblieben wäre, darf allerdings bezweifelt werden. Angesichts der Klagen Roosevelts über die im Grunde sinnlosen Bürden der Rüstung ist es nicht wahrscheinlich, daß die beiden Weltpolizisten über längere Zeit als einzige solche Bürden getragen hätten, während andere Länder davon befreit waren und die entsprechenden Mittel zum Nutzen ihres Wohlstands verwen-
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den konnten. Vermutlich hätte die Lösung darin bestanden, daß die Verherrschaftung innerhalb der organisierten Staatengemeinschaft bzw. die Staatsbildung auf der Weltebene in anderer Form voranschritt, etwa so, daß allmählich ein eigener Verwaltungsapparat der Gemeinschaft entstand, eine Anzahl von Organen, die einerseits immer mehr Befugnisse der Mitglieder aufsaugten und andererseits immer größere Leistungen von den Mitgliedern verlangten, etwa in finanzieller Hinsicht. Es hätte sich wohl auch hier das bekannte Bild der Staatsentwicklung wiederholt, daß die zentralen Einrichtungen immer mehr öffentliche Angelegenheiten besorgten, immer mehr öffentliche Gewalt an sich zogen, immer mehr Tätigkeiten und Aufgaben bei sich vereinigten. Und um eine Staatswerdung hätte es sich wohl gehandelt, denn ein einzelnes Land, welches seine auswärtige Gewalt an ein anderes verliert, steht unter Schutz, Hegemonie oder Herrschaft und ist insoweit eine Art Vasallenstaat. Wenn dagegen die Mitglieder eines Staatenverbands insgesamt keine außenpolitische Souveränität mehr besitzen, sondern ihre Sicherheit gemeinsamen Einrichtungen übertragen, dann sind sie eigentlich nur noch Glieder eines Bundesstaats. 40
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Der Begriffsraster für eine Theorie der Staatsentwicklung in Rauh, Verwaltung.
111. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941 1. Die Vorbereitung
Man muß wohl davon ausgehen, daß der Krieg gegen die Sowjetunion einen Schwerpunkt, wenn nicht den Schwerpunkt schlechthin in Hitlers weltanschaulichem Programm bildete. Diese Dinge sind an anderer Stelle dargelegt worden und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Man muß sich aber zugleich klarmachen, daß die Einsicht in diese Dinge erst nach dem Krieg allmählich gereift ist; den Zeitgenossen war sie nicht ohne weiteres zugänglich. Daß Hitler den Feldzug gegen Sowjetrußland als reinen Eroberungs- und Ausrottungskrieg plante, blieb den meisten zunächst unbekannt, und daß mit diesem Krieg schließlich die Judenvernichtung einhergehen würde, war höchstens für einige Eingeweihte gewiß. Die Wehrmacht hat sich dem Entschluß Hitlers zum Ostfeldzug nicht deswegen gebeugt, weil sie mit den nationalsozialistischen Zielen ganz oder teilweise übereinstimmte. Sondern erstens sah nach den bisherigen politischen und militärischen Erfolgen die Masse der Soldaten wie des Volkes keinen Grund, an der strategischen Weisheit des Führers zu zweifeln. Zweitens stellten aus der Schar derjenigen, welche weiter dachten, viele ihre eigenen Überlegungen an, die einen Krieg gegen Sowjetrußland zu rechtfertigen schienen. So meinte Jodl bei Kriegsende im vertrauten Kreis: "Wir haben jedoch den Angriff gegen Rußland nicht geführt, weil wir den Raum haben wollten, sondern weil Tag für Tag der Aufmarsch der Russen gewaltig weiterging und zum Schluß zu ultimativen Forderungen geführt hätte." Der Generalstab des Heeres habe auch eingesehen, daß dieser Krieg notwendig war. Alle, besonders jeder Soldat, seien in diesen Krieg mit einem beklemmenden Gefühl gegangen beim Gedanken an seinen Ausgang. Drittens besaßen alle diejenigen, welche Hitlers Wünsche nicht teilten, keinerlei Aussicht, ihre abweichende Anschauung zum Tragen zu bringen. Raeder beispielsweise hat vom Ostfeldzug immer abgeraten und nie Gehör gefunden. Selbst Göring hatte Bedenken, die jedoch nicht beachtet wurden. Um Hitler an der Verwirklichung seiner Pläne zu hindern, gab es letztlich nur ein Mittel, nämlich den gewaltsamen Widerstand, wie Haider seit 1938 wußte. An einen Staatsstreich war indes nach dem Triumph beim Frankreich-Feldzug weniger denn je zu denken, weil er bei der Masse der Soldaten wie des Volkes keinerlei Verständnis gefunden hätte. So blieb deii Offizieren gar nichts anderes übrig als sich nach der Decke zu strecken. Thre Einwände wurden sowieso überhört; eine Beseitigung Hitlers kam nicht in Betracht; von sich aus den Dienst zu quittieren, war den Soldaten verwehrt, weil eine Armee sich auflösen müßte, wenn jeder, der keine Lust mehr hat, im Krieg die Fahne verlassen dürfte, so daß die Offiziere allenfalls durch unbotmäßiges Verhalten ihre
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III. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941
Verabschiedung hätten herbeiführen können, was auch nichts genützt hätte, da sie dann durch willfährigere Geister ersetzt worden wären. Nichtsdestoweniger machten sich hohe und höchste Offiziere ihre eigenen Gedanken über den Rußlandfeldzug. Von den Oberbefehlshabern der drei Heeresgruppen, die beim Angriff eingesetzt werden sollten, bemerkte Feldmarschall Leeb: "Muß denn auch das noch sein? Dazu reichen ja unsere Kräfte gar nicht. Das muß doch die Politik vermeiden." Feldmarschall Rundstedt sagte nach einem Zusammentreffen mit Leeb Anfang Mai 1941: "Dann also auf Wiedersehen in Sibirien." Feldmarschall Bock bemerkte Hitler gegenüber Anfang Februar 1941, er halte zwar einen Sieg über die Rote Armee für möglich, könne sich aber nicht vorstellen, wie die Sowjets zum Frieden zu zwingen seien. Der Stabschef von Rundstedt, Sodenstem, meinte bei einem Planspiel im Januar 1941: "Seid ihr euch eigentlich im klaren, daß nunmehr dieser Krieg verloren ist?" Die Äußerungen müssen im Zusammenhang gelesen werden, denn sie besagen im Grunde alle dasselbe. Die Offiziere zweifelten nicht daran, daß die Wehrmacht imstande sei, der Sowjetunion eine schwere Niederlage beizubringen, aber sie wußten, daß damit weder dieser Gegner völlig ausgeschaltet noch der gesamte Krieg gewonnen war. Rundstedts zweideutige Aussage konnte bedeuten, daß die Wehrmacht entweder Sibirien erobern müsse, um wenigstens diesen Feldzug zu gewinnen, oder daß man darauf gefaßt sein müsse, den Krieg zu verlieren und sich anschließend in einem Straflager in Sibirien wiederzufinden. Sodenstern drückte am deutlichsten das aus, was alle dachten: Die deutschen Kräfte reichten nicht aus, einen Mehrfrontenkrieg zu führen gegen eine nicht völlig niedergeworfene Sowjetunion, die sich in Sibirien weiterhin verteidigte, und zugleich gegen die Westmächte Amerika und England, die zu gegebener Zeit an jeder beliebigen Stelle des europäischen Kontinents landen konnten; deswegen würde Deutschland diesen Krieg wahrscheinlich verlieren. Die genannten Offiziere waren freilich nicht die einzigen, die derartige Überlegungen anstellten. Die deutsche Botschaft in Moskau hatte im August 1940 teils aus dem OKW und teils aus dem OKH Mitteilungen über Hitlers Angriffspläne erhalten. Botschafter Schulenburg, ein Verfechter der deutsch-russischen Verständigung, ließ im Oktober 1940 dem Verbindungsmatln des Auswärtigen Amts beim OKH, Etzdorf, eine Denkschrift mit Warnungen vor einem Krieg gegen die Sowjetunion zuleiten, die auch Haider erreichte, und wandte sich im April 1941 an Hitler persönlich, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Die Warnungen des Botschafters und seiner Mitarbeiter bezogen sich vor allem darauf, daß Deutschland aus den eroberten Gebieten kaum wirtschaftlichen Gewinn ziehen könne, während umgekehrt die russische Bevölkerung bei einem Angriff fest in der Hand der Regierung bleiben werde und ein Zusammenbruch des Sowjetsystems nicht erwartet werden dürfe. Staatssekretär Weizsäcker stieß in einer Ausarbeitung für Ribbentrop von Ende April 1941 ins selbe Horn, indem er feststellte, die deutsche Seite werde das Gewonnene nicht ausnutzen können, vielmehr werde das StalinSystem in Ostrußland sowie Sibirien weiterbestehen und dort den Widerstand fort-
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setzen. Man sieht, daß deutsche Offiziere und Diplomaten die Sachlage ähnlich einschätzten wie später die amerikanischen Stabschefs und Roosevelt: Ein Sieg der Wehrmacht über die Rote Armee war selbstverständlich zu erwarten, aber deswegen würde der sowjetische Staat nicht zusammenbrechen, sondern er würde den Krieg tief im Landesinnern fortsetzen und durch das Fesseln deutscher Kräfte den Westmächten das Bezwingen der Wehrmacht erleichtern. 1 Damit erhebt sich natürlich die Frage, wie das OKH die Dinge betrachtete, vor allem Halder, der mit Recht als der führende Kopf im OKH galt. Am 9. Dezember 1940 versuchte Haider den Diktator von seinen Rußlandplänen abzubringen, indem er ihn auf die Notwendigkeit hinwies, den Angriff gegen die englischen Inseln mit allen Mitteln fortzusetzen, außerdem die Gefahren herausstrich, die im östlichen Mittelmeer drohten, wenn Italien in Libyen nicht standzuhalten vermochte und England eine Balkanfront errichtete. Beides zusammen lief darauf hinaus, sich auf den Krieg gegen Britannien zu beschränken, mit einem Schwerpunkt im Mittelmeer, wie auch Raeder es empfahl. Anscheinend antwortete Hitler ausweichend, doch erweckte er in jener Zeit nicht den Eindruck, als ob der Entschluß zum Rußlandfeldzug schon feststehe. Am 18. Dezember 1940, nachdem eine Weisung für den Ostfeldzug ergangen war, wies Brauchitsch den Heeresadjutanten bei Hitler, Major Engel, an, zu ergründen, ob Hitler tatsächlich den Waffengang wolle oder ob er nur zu bluffen beabsichtige. Engel konnte darüber keine Klarheit gewinnen, er meinte aber, Hitler wisse es selber nicht. Wenn Hitler schon unentschlossen war, wie er sich weiter verhalten solle, dann möchte man ja meinen, er hätte auf den Rat der Fachleute hören und sich von ihnen ein begründetes strategisches Lagebild erarbeiten lassen können. Eben dies geschah nicht, sondern es trat genau das ein, was in diesen Untersuchungen schon öfters beschrieben wurde: Nur in seinem eigenen Kopf, nur nach seinem eigenen beschränkten Horizont und nach seinen eigenen Vorurteilen setzte Hitler sich sein politisches wie militärisches Weltbild zusammen und schirmte es gegen unbequeme Einwände ab; nur nach seinen eigenen Eingebungen und seiner eigenen verbohrten Weltanschauung faßte er seine Entschlüsse und ließ sich von vernünftigen Sachargumenten nicht beirren. Die Fachleute hatten zu seiner Meinungs- und Willensbildung nichts beizutragen, sie hatten lediglich seine Befehle auszuführen und durften allenfalls in diesem Rahmen selbständig denken. Ob und wie er den Rußlandfeldzug führen würde, behielt er seiner eigenen Entscheidung vor; die Fachleute, namentlich diejenigen im OKH, sollten ihm dabei nur Handlangerdienste leisten. Für Halder, das OKH und andere schälte sich erst nach der Jahreswende allmählich heraus, daß Hitler den Krieg gegen Rußland tatsächlich führen wollte. I Zu Hitlers Weltanschauung Bd I dieser Untersuchungen. Jodl über Ostfeldzug, 15. 5. 1945, in KTB OKW IV/2, 1503. Zu Göring MGFA, Weltkrieg IV, 283 f. (Beitrag Boog). Zu Leeb dessen Tagebücher, 267. Rundstedt und Bock nach Hillgruber, Zerstörung, 265 f. Sodenstern nach Vollmacht II, 210. Die Denkschrift für Etzdorf bei Gibbons. Zu Schulenburg Fleischhauer, Widerstand (1987, 1991). Dies., Sonderfrieden, 16ff. Wegner-Korfes. Weizsäckers Niederschrift vom 28. 4. 1941 in Jacobsen, Weg, 110.
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III. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941
Wie Haider dazu stand, hat er nach dem Krieg so umschrieben: Eine politische Lösung der Gegensätze habe Hitler 1940 versäumt, zuletzt bei den Gesprächen mit Molotow. Doch sei der Entschluß zum Angriff auf Rußland dem Diktator sehr schwer gefallen. Dafür gesprochen habe seine "feste und nicht unbegründete Überzeugung, daß Rußland sich zum Angriff auf Deutschland rüste. Wir wissen heute aus guten Quellen, daß er damit Recht hatte. Den Zeitpunkt seines Angriffs würde Rußland natürlich so wählen, daß er Deutschland in einer möglichst ungünstigen Lage traf, also dann, wenn auch der Westen wieder aktiv werden konnte. Der Zweifrontenkrieg, den schon die Denkschrift des Generalstabs des Heeres im Jahre 1938 vorausgesagt hatte, war da." Haider fuhr fort, unter solchen Umständen sei es dem Feldherrn nicht versagt, das eigene Land gegen den feindlichen Zugriff durch einen Angriff zu schützen. Es wäre 1941 möglich gewesen, die Masse der russischen Streitkräfte entscheidend zu schlagen und damit für geraume Zeit eine militärische Aktivität Rußlands auszuschließen. Zugleich hätte man im westlichen Rußland ein strategisches Vorfeld gewonnen und damit ein Faustpfand für Friedensverhandlungen. Falls diese Aussage richtig ist, so besagt sie, Haider habe den Rußlandfeldzug als eine Art Präventivkrieg betrachtet, allerdings in dem weiteren Sinne, daß eine unmittelbare Bedrohung des Reiches nicht zu bestehen brauchte, vielmehr damit gerechnet werden mußte, die Sowjetunion würde dann angreifen, wenn die Wehrmacht gegen den Westen so stark gebunden war, daß sie der Sowjetunion nicht mehr ausreichend Widerstand leisten konnte. Woraus Haider auf die russischen Absichten schloß, sagte er nicht, aber das kann einstweilen auf sich beruhen. Der Zweck eines deutschen Rußlandfeldzugs war nach den Worten Halders völlig eindeutig: Es sollte die Rote Armee so schwer geschlagen werden, daß für geraume Zeit eine militärische Aktivität Rußlands ausgeschlossen wurde. Haider behauptete nicht, daß danach ein Frieden mit der Sowjetunion möglich war, und einen völligen Zusammenbruch dieses Staates zog er überhaupt nicht in Betracht. Vielmehr sollte ein strategisches Vorfeld gewonnen werden sowie ein Faustpfand, falls Friedensverhandlungen zustande kamen. Diese Darlegung wirkt ziemlich einleuchtend, zumal wenn man bedenkt, daß sie einige nur schwach angedeutete zusätzliche Annahmen enthielt. Haider wußte selbstverständlich, daß Deutschland auf längere Sicht mit einem Krieg gegen beide westlichen Seemächte rechnen mußte, vor allem Amerika, dessen Potential das deutsche weit überstieg. Durch einen Feldzug gegen Rußland würde Deutschland sein Potential nicht nennenswert erhöhen, was Haider 1941 mit der Feststellung zum A~;~sdruck brachte, die deutsche Wirtschaftsbasis werde dadurch nicht wesentlich besser. Also würde Deutschland den Krieg voraussichtlich verlieren, zumal wenn es nicht bloß den weit überlegenen Westmächten gegenüberstand, sondern ein Teil seiner Kräfte auch noch im Osten gebunden blieb. Der springende Punkt dabei war, daß die Sowjetunion vorher so geschlagen wurde, daß sie für geraume Zeit Deutschland nicht zu überrollen vermochte, und daß Deutschland außerdem ein strategisches Vorfeld besaß, um die Rote Armee von seinen Grenzen fernzuhalten. Demnach bestand Aussicht, daß
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Deutschland den Krieg gegen die Westmächte verlieren und gegebenenfalls von diesen besetzt werden würde, vor allem von den Amerikanern. Darüber hinaus durfte sogar die Hoffnung genährt werden, der Staatsstreich und die Beseitigung Hitlers könnten wieder möglich werden, wenn die Niederlage sich abzeichnete und das Volk wie die Wehrmacht sich von Hitler abwandten. Im günstigsten Fall ließ sich dann vielleicht noch ein erträglicher Frieden vor der völligen Niederwerfung Deutschlands erreichen. Solche Folgerungen sind schlüssig, wenn man Halders Andeutungen zu Ende denkt. Der Generalstabschef hatte im Sommer 1940 einen Krieg gegen Rußland abgelehnt, und von sich aus gewünscht hat er ihn auch danach nicht. Nachdem aber klar wurde, daß Hitler weder eine politische Beendigung des Krieges zuwege bringen noch eine wirkungsvolle Strategie gegen England verfolgen, vielmehr sich in den Feldzug gegen die Sowjetunion verbeißen würde, beugte Haider sich dem Unvermeidlichen, denn der Diktator ließ sich von seinem Weg nicht abbringen. Kam eine politische Verständigung mit der Sowjetunion nicht zustande und zog sich der Krieg lange hin, dann war die Furcht berechtigt, die Sowjetunion könnte dem Reich in den Rücken fallen. Es empfahl sich daher, der Sowjetunion rechtzeitig die Angriffsfähigkeit zu nehmen, so daß die Wehrmacht wenigstens den Krieg nicht gegen die Rote Armee verlieren würde. Einigen Zeitgenossen fiel auf, daß Haider tatsächlich in solchen Bahnen dachte. Hitlers Luftwaffenadjutant Below kam im Februar 1941 anläßlich einer Besprechung über den Ostfeldzug der Gedanke, Haider und Brauchitsch hätten die Unmöglichkeit der Operationen voll und ganz erkannt, sie hätten aber nichts dagegen unternehmen und Hitler in sein Unglück hineinrennen lassen wollen. Der Gedanke war insofern falsch, als Haider und Brauchitsch sicher nicht den Ostfeldzug verlieren wollten, aber insofern richtig, als Haider wußte, daß damit der Krieg insgesamt verloren sein würde. Der Widerstandskämpfer Fabian von Schlabrendorff berichtet, Haider habe die zu erwartende Ostkrise benutzen wollen, um Hitler zu beseitigen. Auch hier wurden die Zusammenhänge verkürzt; Haider erwartete nach seinem Feldzugsplan eigentlich keine Krise im Osten, dagegen erwartete er sehr wohl eine Krise des Krieges insgesamt. Oberst Hans Speidel, damals Stabschef des Militärbefehlshabers in Frankreich, wohnte Anfang Juni 1941 einer Besprechung im OKH bei, wo Haider die Tragweite des Ostfeldzugs herausstrich und. die Bedenken des OKH zu erkennen gab, die Hitler jedoch in den Wind geschlagen habe. Optimismus strahlte Haider nicht aus. Wiederum kann sich dies kaum auf den Rußlandfeldzug beziehen, bei dem Haider einen Erfolg erwartete, sondern nur auf die Begleitumstände dieses Krieges und den Kriegsverlauf im ganzen. Ein Generalstabsoffizier beobachtete Haider kurz nach dem Balkanfeldzug beim Besuch einer Armee im Osten. "Die pronon~ierte Frische des Generaloberst ließ für den stillen Beobachter nach, wenn das Gespräch an Spannung verlor. In unbeobachtet geglaubten Momenten zitterten seine Lippen unaufhörlich." Das war die seelische Spannung eines Mannes, der für einen wildgewordenen Fanatiker einen aussichtslosen Krieg führte, um wenigstens das größte Unheil von seinem Vaterland abzuwenden. 2
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Das größte Unheil ließ sich dann abwenden, wenn die Sowjetunion so geschlagen wurde, daß sie für geraume Zeit nicht mehr angriffsfähig war, also Deutschland nicht mehr ernsthaft bedrohen konnte. Das war das Ziel, welches Halder und das OKH sich steckten, und dieses Ziel wäre mit den verfügbaren deutschen Kräften im Jahr 1941 erreichbar gewesen. Dieser klare Sachverhalt wird in der Regel nicht zur Kenntnis genommen, statt dessen werden allerlei Erwägungen angestellt über eine angebliche Unterschätzung der Sowjetunion, die das Fehlschlagen des Feldzugs nach sich gezogen habe. Soweit die Unterschätzungstheorie überhaupt einen erkennbaren Sinn hat, kann er sich allenfalls auf Hitler beziehen. Aber auch in Hinblick auf den Diktator wird damit keine abschließende Erklärung geliefert. Sondern der tiefere Grund für das Scheitern des Rußlandfeldzugs liegt darin, daß Hitler- um es auf eine zugespitzte Formel zu bringen- jeder geistigen und charakterlichen Befähigung zum sachgerechten Kriegführen ermangelte. Er war schon beim Frankreichfeldzug dafür eigentlich zu unbegabt gewesen, nur hatte sich das damals noch nicht stark ausgewirkt. Beim Rußlandfeldzug war er dazu genauso außerstande, und hier wirkte es sich aus. Haider wußte das übrigens sehr wohl; er hatte ja schon beim Frankreichfeldzug erlebt, wie Hitler in die Operationsführung hineinpfuschte und vieles verdarb. Aus den Erfahrungen beim zweiten Teil des Frankreichfeldzugs zog Haider den Schluß, dem rechthaberischen Dilettanten Hitler nicht direkt entgegenzutreten, weil es ohnehin nichts fruchtete, sondern einfach an seinem Operationsgedanken festzuhalten und darauf zu bauen, Hitler würde sich auf Grund der Lageentwicklung doch den operativen Vorstellungen des Generalstabschefs annähern. Das hatte damals funktioniert, denn Halders Gedanke einer großen Rechtsschwenkung um Paris herum war damals von Hitler aufgegriffen worden, wenngleich zu spät und dadurch verwässert. Beim Rußlandfeldzug funktionierte das Verfahren nicht, und dadurch scheiterte der Feldzug. Ein brauchbarer Kriegsplan muß eine stimmige Abwägung vornehmen zwischen den eigenen Kräften und Möglichkeiten sowie denjenigen des Gegners. Auf Grund einer solchen stimmigen Abwägung kann man sich dann seine strategischen Ziele stecken, z. B. Vernichtung des Gegners oder bloß seine Schwächung, Besetzung des gegnerischen Territoriums oder bloß eines Teiles davon, Offensive bis zur Niederwerfung des Gegners oder begrenzte Offensive und anschließend Defensive. Solche klaren Begriffe sind notwendig; wer sie nicht besitzt, sollte keinen Krieg führen und keine Kriegsgeschichtsschreibung betreiben. Hitler besaß sie augenscheinlich nicht. Als er im Herbst 1939 den Angriff im Westen befahl, hatte er keinerlei begründete Vorstellung, was mit den deutschen Kräften möglich war, und ebensowenig hatte er eine begründete oder durchdachte Vorstellung, was mit dem Angriff überhaupt erreicht werden sollte. Haider lieferte ihm dann die Pläne, mit 2 Haider am 9. 12. 1940 in seinem KTB II, 219. Brauchitsch und Engel am 18. 12. 1940 nach Engel, Heeresadjutant, 92. Vgl. Warlimont I, 156. Haider über Ostfeldzug in Halder, Hitler, 35 ff. Haider über wirtschaftliche Nutzlosigkeit des Ostfeldzugs in seinem KTB II, 261 (28. 1. 1941). Below über Haider und Brauchitsch in Below, 262. Ferner Schlabrendorff, 43. Speidel, 113. Teske, Spiegel, 109.
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denen zuerst, beim Sichelschnitt, die gegnerischen Kräfte geschwächt und anschließend Frankreich gänzlich niedergeworfen wurde. Was an diesen Plänen das Entscheidende war, hat Hitler nie richtig verstanden. Beim Ostfeldzug verhielt es sich ebenso. Aus seiner unsäglichen Weltanschauung leitete Hitler den Vorsatz ab, die Sowjetunion in irgendeiner nicht näher definierten Weise zu zerschlagen. Betrachtet man die Sache ganz wertfrei, so bildete die Eroberung Rußlands bzw. das Zerschlagen der Sowjetunion zweifellos ein denkbares politisches Ziel, eine vorstellbare politische Verhaltensweise. Alexander der Große hat Persien erobert und gilt als bedeutender Mann; Cäsar hat Gallien erobert und gilt als bedeutender Mann; Friedrich der Große hat Schlesien erobert und gilt als bedeutender Mann. Theoretisch hätte ein deutscher Staatsmann den Gedanken fassen können, die potentiell stets gegebene Zweifrontensituation Deutschlands, eingeklemmt zwischen mächtigen Staaten im Westen und Osten, dadurch zu beseitigen, daß Rußland auf kriegerischem Wege als möglicher Gegner ausgeschaltet und für die Zukunft in geeigneter Weise mit dem Reich verbunden wurde. Der Kampf gegen die stalinistisch-kommunistische Herrschaft wäre ein passender Ansatzpunkt gewesen; der Krieg hätte sich als Feldzug zur Befreiung des russischen Volkes von seinen bolschewistischen Unterdrückern führen lassen, mit dem Ziel, den Bewohnern der Sowjetunion nichts zu nehmen, sondern ihnen die Selbstbestimmung in ihrem eigenen Staat zu geben, allerdings unter der Bedingung, in ein enges und freundschaftliches Verhältnis zum Reich zu treten, gegebenenfalls in Form eines Bündnisses. Wären die Deutschen als Befreier und Freunde gekommen, so wäre das eingetreten, was sich zu Beginn des Feldzugs in gewissem Umfang tatsächlich beobachten ließ: Sie wären mit offenen Armen empfangen worden, jedenfalls von großen Teilen der Bevölkerung, so daß einige Aussicht bestanden hätte, mit Hilfe der Bevölkerung das stalinistische System zum Einsturz zu bringen. Allenfalls auf solchem Weg hätte sich das Zerschlagen der Sowjetunion ins Auge fass.en lassen. Derartigen Gedanken war Hitler freilich nicht zugänglich. Er erstrebte die bloße Unterjochung der eroberten Gebiete, das Ausrotten eines Teiles der Bevölkerung, das Vertreiben eines anderen, das Ansiedeln einer germanischen Herrenschicht und das Ausplündern der wirtschaftlichen Reichtümer des Landes. Das konnten zwar anfangs die meisten noch nicht mit Sicherheit wissen, aber aus der Behandlung Polens, Frankreichs und anderer Länder ließ sich doch ableiten, daß Hitler in seinem Vorrat politischer Handlungsweisen über nicht viel mehr verfügte als die Mittel stumpfsinniger Gewaltanwendung und kleinkarierter Hinterlist. An Hitler war nichts Großartiges, nichts Großzügiges; er blieb ein engstirniger, verbohrter Kleingeist, auf welchen, nachdem er an die Macht gelangt war und freie Bahn erhalten hatte, das Sprichwort zutraf: Wenn der Bettler aufs Pferd kommt, dann teitet er es zuschanden. Hitler zeigte sich außerstande, etwas Schöpferisches zu leisten, politisch etwas aufzubauen, deswegen waren Halder und Weizsäcker schon nach dem Ende des Frankreichfeldzugs zu dem Ergebnis gelangt, Deutschland werde die Erfolge dieses Feldzuges nur mit den Kräften erhalten können, mit denen sie errungen wurden, also mit militärischer Gewalt. Unter solchen Umständen würde auch
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dem Ostfeldzug keine tragfähige, aufbauende Idee zugrunde liegen, er würde nur militärische und andere Gewalt zum Tragen bringen, die Bevölkerung nicht gewinnen und daher, wie Weizsäcker und andere vorhersahen, den sowjetischen Staat nicht einstürzen lassen. Die Erfolge des Ostfeldzugs würden nur so weit reichen, wie die blanke militärische Gewaltanwendung reichte, und die würde mit Sicherheit nicht weit genug reichen, um den sowjetischen Staat vollständig niederzuwerfen, ihn vollständig von der Erdoberfläche zu tilgen. Das scheint auch Hitler geahnt zu haben, jedenfalls soll er nach Beginn des Feldzugs geäußert haben, man könne Rußland nicht erobern. Hätte er die Einsicht zu Ende gedacht, so wäre er zum selben Ergebnis gelangt wie Halder: Angesichts der begrenzten deutschen Mittelließ sich gegen die Sowjetunion nur ein begrenzter Feldzug mit begrenztem Ziel führen, ein Feldzug, bei welchem lediglich Teile des russischen Territoriums besetzt wurden, bei welchem ein russisch-sowjetischer Staat den Widerstand fortsetzen würde und bei welchem es allein darum gehen konnte, diesem Staat für die nähere Zukunft die Angriffsfähigkeit zu nehmen. Solche Schlußfolgerungen zog Hitler jedoch nicht, weil er zeit seines Lebens die Fähigkeit zum logischen, disziplinierten Denken nicht ausgebildet hatte. Wenn er schon den sowjetischen Staat zerschlagen wollte, dann hätte es ja nahegelegen, den Verbündeten Japan an dem Unternehmen zu beteiligen, also die Sowjetunion in die Zange zu nehmen, indem Japan in Sibirien angriff. Während der Vorbereitungszeit für den Rußlandfeldzug wurden jedoch keine Versuche unternommen, Japan in diesen Krieg einzubeziehen, im Gegenteil wurde Tokio bewußt im Dunkeln gelassen. Eine Weisung vom 5. März 1941 bestimmte, den Japanern gegenüber dürfe keine Andeutung über den Ostkrieg gemacht werden. Vielmehr solle Tokio zum aktiven Handeln in Südostasien gebracht werden, am besten durch die Wegnahme Singapurs. Erst Anfang Juni 1941 deutete Hitler gegenüber demjapanischen Botschafter die Möglichkeit eines Kriegsausbruchs an und ließ erkennen, daß er einem japanischen Eingreifen in Sibirien aufgeschlossen gegenüberstehe. Dazu kam es dann nicht, weil Tokio darauf nicht vorbereitet und allgemein in der Zielrichtung seiner Politik schon anderweitig festgelegt war. Das Drängen Ribbentrops im Juli 1941, Deutsche und Japaner sollten sich auf der Transsibirischen Eisenbahn die Hand reichen, nützte nun nichts mehr; Hitler und sein außenpolitischer Gehilfe hätten besser daran getan, sich die politischen und militärischen Möglichkeiten eines Zusarnmenwirkens rechtzeitig zu überlegen. Außerdem bleibt undeutlich, wie die Deutschen überhaupt auf die Transsibirische Eisenbahn hätten kommen sollen, denn der Feldzugsplan sah einen Vorstoß lediglich bis zur Wolga vor, und wenn der sowjetische Staat dann noch nicht zusammengebrochen war, mußte man sich erst mühsam über den Ural nach Sibirien vorankämpfen. Früher als 1942 konnte das sowieso nicht stattfinden, und ob es dann stattfinden würde, war mehr als zweifelhaft, weil in dem weitgehend wegelosen Gebiet ein schneller Bewegungskrieg sich kaum noch führen ließ. 3 3 Halders Verhalten in Anlehnung an den Westfeldzug nach Schall-Riaucour, 159. Zu Hitlers Zielen im Osten Jacobsen, Weg, 118ff. MGFA, Weltkrieg IV, 1070ff. (Beitrag För-
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Hitler freilich glaubte ein anderes Rezept für den Zusammenbruch der Sowjetunion zu besitzen. Vor dem Frankreichfeldzug hatte er mit dem Gedanken gespielt, ein "Anschlagen" der feindlichen Kräfte genüge, um den Widerstandswillen zu brechen. Vor dem Rußlandfeldzug wiederholte er derlei Absonderlichkeiten. Bei einer Besprechung mit Brauchitsch und Haider am 5. Dezember 1940 meinte er, es "sei zu erwarten, daß die russische Armee, wenn sie einmal angeschlagen sei, einem noch größeren Zusammenbruch entgegengehe als Frankreich 1940." Anscheinend brachte er den Gedanken gleich mehrfach vor, denn in Halders Aufzeichnung heißt es darüber: "Werden die Russen durch starke Teilschläge getroffen, dann werden von einem gewissen Moment ab, wie in Polen, das Verkehrswesen, das Nachrichtenwesen usw. zusammenbrechen und eine volle Desorganisation eintreten." Was sich dahinter verbarg, war wieder einmal die Rassentheorie. Rassisch hochstehende Völker besaßen nach Hitlers Anschauung einen flammenden nationalen Selbsterhaltungswillen, starke moralische Widerstandsfähigkeit und eisernes Durchhaltevermögen. Bei den Russen traf das nicht zu, denn: "Der russische Mensch ist minderwertig", wie Hitler am 5. Dezember 1940 erklärte. Die Russen mußten also in Angst und Schrecken versetzt werden, dann würden sie seelisch zusammenbrechen. Dazu gehörte auch, daß die weltanschaulichen Bande, welche sie zusammenhielten, zerrissen wurden. Wie noch zu zeigen sein wird, strebte Hitler von vornherein und stets unbeirrt eine höchst merkwürdige Operation an mit zwei Hauptstößen, der eine Richtung Leningrad und der andere Richtung Ostukraine/Stalingrad. Dafür gab es verschiedene Gründe, die alle miteinander nicht stichhaltig waren, doch beruhte einer der wichtigsten offenbar auf seiner Rassentheorie. Haider berichtet darüber, bei einer Besprechung habe der Diktator ausgeführt, sein Interesse gelte den Brutstätten des Bolschewismus, Leningrad und Stalingrad. Wenn man diese durch weitausholende Bewegungen starker Heeresgruppen im Norden und Süden zerstöre, dann sei der Bolschewismus tot, und darauf komme es an. Zumindest in Hinblick auf Leningrad ist das auch anderweitig belegt, denn anläßtich eines Besuches bei der Heeresgruppe Nord erklärte Hitler am 21. Juli 1941, im Zusammenhang mit dem slawischen Volkscharakter, der unter den starken Belastungen der Kämpfe schon stark angegriffen sei, könne es mit dem Fall von Leningrad auch zum völligen Zusammenbruch kommen. Durch den Fall solcher Symbolorte wollte also Hitler die weltanschaulichen Bande des russischen Volkes zerreißen. Darüber hinaus sah er in Rußland das Judentum sowohl als Herrenschicht wie auch als Träger der Weltanschauung am Werk. Er suchte deshalb durch die Beseitigung dieser Herren- und Intelligenzschicht zugleich den weltanschaulichen Zusammenhalt und die Widerstandsfähigkeit des russischen Volkes auszuhöhlen. In diesem Sinne meinte er am 17. März 1941, die von Stalin ster). Haider und Weizsäcker, 30. 6. 1940, in Halder, KTB I, 374 f. Hitler über Unmöglichkeit der Eroberung Rußlands nach MGFA, Weltkrieg IV, 905, 1073 (Beitrag Förster). Die Weisung vom 5. 3. 1941 in Hubatsch, Weisungen, 121 ff. Hitler zumjapanischen Botschafter, 3. 6. 1941, in Jacobsen, Weg, llOff. Ribbentrop über Transsibirische Eisenbahn, 10. 7. 1941, in ADAP, Ser. D, Bd 13, 94ff. 23 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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eingesetzte Intelligenz müsse vernichtet, die Führermaschinerie des russischen Reiches zerschlagen werden. "Weltanschauliche Bande halten das russische Volk noch nicht fest genug zusammen. Es wird mit dem Beseitigen der Funktionäre zerreißen." Dasselbe hatte er schon in "Mein Kampf' gesagt, wo es hieß: "Und das Ende der Judenherrschaft in Rußland wird auch das Ende Rußlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird." Göring, der seine Bedenken mittlerweile zurückgestellt und sich der Sprachregelung Hitlers angepaßt hatte, meinte im Februar 1941, beim Einmarsch deutscher Truppen werde der ganze bolschewistische Staat zusammenbrechen; es komme darauf an, zunächst schnell die bolschewistischen Führer zu erledigen. 4 So einfach war das also: Man mußte nur dem russischen Volk harte Schläge versetzen, die Funktionäre ausrotten, dann würde auch der bolschewistische Staat zusammenbrechen und Deutschland den Sieg erringen. Außerdem würde ein solcher Sieg die Richtigkeit der Rassentheorie bestätigen. Das ist der Hintergrund von Hitlers Rußlandfeldzug. Hitler hat diesen Feldzug nicht verloren, weil er Rußland unterschätzt hätte - zu einer fachmännischen Lageeinschätzung war er weder fähig noch willens -, sondern weil er ein weltanschaulicher Fanatiker war, der unangenehme Tatsachen gar nicht erst zur Kenntnis nahm. Es ist daher auch nicht sonderlich erhellend, die Vorstellungen Hitlers über die Gestaltung des eroberten Ostraums zu untersuchen; sie sind ebenso schwer nachvollziehbar wie der Rest seines Weltbildes. Anscheinend sollte nach dem erwarteten Zusammenbruch des sowjetischen Staates die Grenze des großgermanischen Machtbereichs irgendwo in der Gegend des Ural verlaufen, wobei man indes von einer festen Grenze wohl nicht sprechen kann, da es sich eher um eine fließende Zone handelte, in welcher dauernde Grenzkämpfe stattfinden sollten, um die germanischen Siedler vor der Erschlaffung zu bewahren. Die Voraussetzung bildete freilich, daß Deutschland bis dahin den Krieg gewonnen hatte, vor allem gegen die USA, doch glaubte Hitler das als sicher unterstellen zu dürfen, weil ihm ja der eroberte Ostraum all die Bodenschätze und sonstigen Reichtümer geben sollte, um dem Kampf der Kontinente gewachsen zu sein. Sodann scheint er gehofft zu haben, durch den Sieg über Rußland werde auch Britannien bekehrt werden und entweder aus dem Krieg ausscheiden oder sich gar an die Seite Deutschlands stellen. Was auch immer Hitler sich gedacht haben mag, es soll hier auf sich beruhen. Denn all seine Pläne waren von vornherein auf Sand gebaut, weil er einen Krieg gegen Amerika, England und Rußland zugleich sowieso nicht gewinnen konnte und weil er sogar den Rußlandfeldzug in einer Weise führte, die den möglichen Erfolg verschenkte. Halder, der imstande war, eine brauchbare Lageeinschätzung vorzunehmen, wollte der Sowjet4 Hitler über "Anschlagen" im Westen nach Halder, KTB I, 231 (17. 3. 1940). Die Besprechung vorn 5. 12. 1940 in KTB OKW 1/1, 205. Halder, KTB II, 214. Hitler über Leningrad und Stalingrad nach Halder, Hitler, 38. KTB OKW 1/2, 1030. Hitler arn 17. 3. 1941 in Haider, KTB II, 320. Über Rußland Mein Kampf, 743 und passim. Göring nach Vollmacht II, 210f.
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union die Angriffsfähigkeit nehmen, damit Deutschland nicht aus dem Osten überrollt wurde. Hitler, der zu einer brauchbaren Lageeinschätzung nicht imstande war, wollte den russischen Staat zerschlagen und erreichte damit nur, daß der Feldzug scheiterte und Deutschland tatsächlich aus dem Osten überrollt wurde, wenigstens zu großen Teilen. Es ist demnach die Anlage des Ostfeldzugs zu untersuchen, wobei zweckmäßigerweise die Gedanken Halders und Hitlers gemeinsam und vergleichend betrachtet werden, um den Unterschied deutlich zu erkennen. Vorab ist die Frage zu beantworten, ob und inwieweit der Rußlandfeldzug als Präventivkrieg angesehen werden darf. Die Frage wurde zeitweise mit einer Leidenschaft debattiert, die aus rein wissenschaftlichen Beweggründen nicht zu erklären ist, sondern welcher der verbreitete Hang zu moralisierendem Gerede und politisierter Voreingenommenheit zugrunde liegt. Während manche der propagandistischen Sprachregelung folgten, der sozialistische Staat Sowjetunion, das "Vaterland der Werktätigen", könne per definitionem nicht angriffslüstern gewesen sein, suchten andere sich hervorzutun, indem sie einmal mehr alle Schuld auf Deutschland häuften. So wurde einerseits die konstruierte und nachweislich falsche Behauptung zum Dogma erhoben, Deutschland sei nicht bloß für beide Weltkriege in ähnlicher Weise verantwortlich, sondern hinter beiden stecke auch das gewaltsame Weitmachtstreben der sog. konservativen Führungsschichten, die sich Hitler bereitwillig zur Verfügung gestellt hätten. Aus dieser politisch eingefärbten Geschichtsklitterung ließ sich andererseits ohne Mühe ableiten, Hitler und die Wehrmacht hätten gemeinsam, im selben Geist der Eroberungslust und Herrschsucht, die Sowjetunion zu unterwerfen getrachtet. Gegen Halder, der in dieses Bild zunächst nicht recht hineinzupassen schien, da er auf Grund seiner Widerstandstätigkeit eigentlich als Gegner Hitlers angesehen werden müßte, wurde eine mehr oder weniger gezielte Rufmordkampagne eingeleitet, aus welcher sich ergeben sollte, daß den Generalstabschef ebenso wie die ganze Wehrmacht eine Mitschuld an der Politik Hitlers, ihren Folgen und den damit verbundenen Verbrechen belaste. Der wissenschaftliche Ertrag solcher Verzerrungen bewegt sich nahe bei Null, wie es immer zu sein pflegt, wenn Wissenschaft und politische Vorurteile nicht säuberlich auseinandergehalten werden. Das Auffällige oder genauer: das Beschämende der ganzen Debatte liegt dabei darin, daß die meisten einschlägigen Teilfragen längst geklärt sein könnten, wenn man sich einmal der Mühe unterzöge, die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und deutliche Begriffe zu verwenden. Selbstverständlich vermochte auch der totalitäre Staat Hitlerscher Prägung einen Präventivkrieg Zl! führen; der Norwegenfeldzug stellte ein präventives Unternehmen dar, das in der Absicht unternommen wurde, einem Zugriff der europäischen Westmächte zuvorzukommen. Was den Rußlandfeldzug angeht, so hatte Hitler bereits in den 1920er Jahren die Absicht, dereinst die Sowjetunion zu zerschlagen. Daraus muß nicht zwingend folgen, daß er eben deswegen oder allein deswegen später den Ostkrieg führte; er hätte ja in der Zwischenzeit seine Meinung ändern können. Soweit erkennbar, hat er seine Meinung tatsächlich nicht geändert, was aber wiederum nicht heißt, daß der Ostkrieg allein daraus zu erklären ist. Das inter23*
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nationale System bzw. das Verhältnis der Staaten untereinander bildet ein relationales Gefüge, ein Netzwerk von Beziehungen, in welchem die einzelnen Akteure in vielfältigen Wechselwirkungen stehen. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und danach war es feststehende Überzeugung westlicher Staatsmänner, daß Stalin auf den Krieg kapitalistischer Staaten gegeneinander. warte, die Gegensätze zu schüren trachte, um nach Schwächung der Kriegsparteien in die Auseinandersetzung einzugreifen und den Gewinn für Rußland einzustreichen bzw. die kommunistische Weltrevolution zu fördern. Gemäß den verfügbaren Zeugnissen dürfte jene Überzeugung westlicher Staatsmänner richtig gewesen sein. Die Appeaser zogen daraus die Folgerung, einen solchen Krieg nach Möglichkeit zu vermeiden; statt dessen sollte Deutschland in friedlicher Weise ein Gegengewicht zur Sowjetunion bilden sowie das westliche Europa abschirmen. Hitler durchkreuzte diese Rechnung, indem er mit Rückendeckung Stalins den Krieg entfesselte, womit er zugleich den sowjetischen Absichten diente. Der Sachverhalt trat zunächst nur geringfügig in Erscheinung, da der schnelle deutsche Sieg im Westen ein langes Abringen der kapitalistischen Länder in Europa unterband und Rußland vorerst lediglich geringere Gewinne einbringen konnte. Längerfristig blieb die Sachlage trotzdem dieselbe, denn Hitler verstand es nicht, den Krieg zu einem annehmbaren Ende zu bringen, sondern sah einem verlustreichen Abringen gegen England und Amerika entgegen, bei welchem die Sowjetunion den günstigsten Zeitpunkt zum Eingreifen abwarten konnte. In diese Lage hatte Hitler sich selbst gebracht, zuerst durch den Pakt mit Stalin und die Entfesselung des Krieges, dann durch seine Unfähigkeit, nach dem Frankreichfeldzug auf den Frieden hinzuarbeiten. Hitler mußte damit rechnen, daß Stalin seine Beute an sich raffen würde, wenn Deutschland im Krieg gegen die Westmächte so sehr geschwächt war, daß es sich gegen die Bedrohung im Rücken nicht mehr zu wehren vermochte. Verständlich wird ein solches Verhalten - Hitlers allgemeine Denkschwäche einmal außer acht gelassen -, wenn man annimmt, Hitler habe sich mit Absicht in jene Lage gebracht, da er den Nichtangriffsvertrag mit Stalin nur so lange zu halten gedachte, wie er benötigte, um die europäischen Westmächte zu besiegen. Hitler hätte demnach von vornherein den Vorsatz gehegt, nach der Niederwerfung Frankreichs sich gegen Rußland zu wenden. Diese Deutung findet ihre Stütze teils in Hitlers programmatischen Schriften, teils in dem Umstand, daß zwischen seinen programmatischen Schriften sowie seinem späteren Handeln verblüffende Übereinstimmungen bestehen, und teils in einzelnen Äußerungen Hitlers aus den fraglichen Jahren. Da Hitler den Krieg gegen Rußland stets geplant und an diesem Plan stets festgehalten hatte, war der Rußlandfeldzug insofern ein reiner Angriffskrieg, ein bloßer Überfall zum Zweck der Eroberung. Andererseits standen Hitler und mit ihm Deutschland Ende 1940/ Anfang 1941 tatsächlich vor der Situation, sich demnächst im Krieg gegen England und Amerika zu verausgaben, während Stalin darauf lauem konnte, zu gegebener Zeit das Reich unter Druck zu setzen. Das war genau der Zustand, den Haider beschrieb, wenn er sagte, den Zeitpunkt seines Angriffs würde Rußland natürlich so wählen,
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daß er Deutschland in einer möglichst ungünstigen Lage traf, also dann, wenn auch der Westen wieder aktiv werden konnte. Die denkbaren Auswege aus dieser Lage hatte Hitler allesamt verbaut: Er hatte keinen allgemeinen Frieden gesucht, er hatte Britannien keinen annehmbaren Frieden vorgeschlagen, er hatte keinen Sonderfrieden mit Frankreich geschlossen und würde auch in Zukunft keinen schließen, er hatte den Viererpakt mit Rußland verworfen und würde ebenso in Zukunft jeden derartigen Ausgleich verwerfen. Damit blieb ihm, abgesehen vom Rußlandfeldzug, ab Anfang 1941 nur noch die Wahl, eine Mittelmeerstrategie zu verfolgen, freilich allein mit Italien im Bunde. Das Erobern des vorderen Orients wäre dann wohl möglich gewesen, sofern man schnell und entschlossen genug handelte. Doch hätte dies auf lange Sicht nicht viel genützt. Gefehlt hätte vor allem das entscheidende Glied in der Kette Frankreich, teils für das Abschließen des Mittelmeers, teils für den Schutz Nordwestafrikas, in erster Linie aber dafür, gemeinsam mit diesem Land überhaupt nicht auf die Beherrschung ganz Kontinentaieuropas oder Britanniens auszugehen, sondern den Frieden wiederherzustellen und Amerika aus dem Krieg herauszuhalten. Denn das muß an dieser Stelle erneut festgehalten werden: Die Mittelmeerstrategie als solche bot noch keine Aussicht, den Krieg zu gewinnen, jedenfalls dann nicht, wenn Amerika in den Krieg eintrat. Vielmehr war die Mittelmeerstrategie erst dann sinnvoll, wenn sie erstens den Krieg gegen Rußland vermeiden half und wenn sie zweitens die Beendigung des Krieges gegen England nach sich zog, bevor Amerika das Heft in die Hand genommen hatte. Eine Zusammenarbeit bzw. ein Bündnis mit Frankreich, auf der Grundlage eines angemessenen Friedens mit diesem Land, war hierfür das geeignete Mittel, weil ein solches Bündnis den deutlichen Beweis dafür darstellte, daß Mäßigung obwaltete, daß der Krieg begrenzt bleiben sollte, und weil Frankreich dann selbst in die Friedensbemühungen eingeschaltet werden konnte. Denn Frankreich würde weder an der Vernichtung Britanniens ein Interesse haben noch am Krieg gegen Amerika, sondern an der Wiederherstellung eines erträglichen Verhältnisses der Mächte untereinander, während umgekehrt die USA bei einer solchen Sachlage kaum Veranlassung hatten, gegen Deutschland und Frankreich Krieg zu führen. Da Hitler eine derartige Lösung verwarf, machte es keinen großen Unterschied, ob Deutschland ins Mittelmeer vorstieß oder nicht, es würde auf jeden Fall zwischen den Westmächten und Rußland eingeklemmt bleiben. War die Wehrmacht erst gegen die Westmächte gebunden, sei es im vorderen Orient oder bei Landungen der Westmächte an den Küsten Europas, dann war für die Sowjetunion der günstige Zeitpunkt zum militärischen Eingreifen gekommen. Gegen eine solche Betrachtungsweise könnten zwei Einwände erhoben werden: Erstens habe man nicht mit Sicherheit wissen können, ob die Sowjetunion wirklich angreifen würde; und zweitens dürfe man von einem Präventivkrieg nur sprechen, wenn es sich um die Abwehr einer unmittelbar drohenden Gefahr handle, also beispielsweise ein Angriffsaufmarsch erkennbar sei. Derartige Einwände stehen allerdings auf wackligen Beinen. Die Auseinandersetzung mit den Westmächten würde eines Tages die Wehrmacht so stark fesseln, daß sie zur Abwehr eines russischen Angriffs au-
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ßerstande war. Die Wehrmacht durfte demnach nicht bis dahin warten, denn sie würde in solchem Fall weder zur wirksamen Verteidigung noch zu einem Präventivkrieg fähig sein. Ein Präventivkrieg kam für die deutsche Seite nur in Betracht, solange sie noch über genügend Kräfte verfügte, um ihn durchzuführen. Daß Hitler die unselige Lage Deutschlands zwischen Ost und West selbst herbeigeführt hatte, blieb für die Wehrmacht unmaßgeblich; jedenfalls bestand diese Lage, und sie konnte für Deutschland nur insofern gebessert werden, als Rußland ausgeschaltet wurde, um wenigstens die Gefahr auszuschließen, daß die Heimat von der Roten Armee überrannt wurde. Sodann durfte die deutsche Seite mit Recht annehmen, die Absichten Stalins und der Sowjetregierung seien nicht harmloser Natur. Schon der russische Aufmarsch des Jahres 1940 war ziemlich auffällig, denn um das Baltikum und Bessarabien zu besetzen, brauchte die Sowjetunion nicht rund 100 große Verbände an ihrer Westgrenze zu versammeln. Was sich dahinter verbarg, ist einstweilen unbekannt, aber da ein solcher Aufmarsch nicht von heute auf morgen durchgeführt werden konnte, wäre zu erwägen, ob es sich nicht um eine Bereitstellung handelte, welche je nach Entwicklung des deutsch-französischen Krieges die Rote Armee zum Eingreifen befähigen sollte. Hätte der deutsche Westangriff nicht durchgeschlagen, wäre es zu einem verlustreichen Abringen mit entsprechender Schwächung der Wehrmacht gekommen, so konnte die Rote Armee für geeignete Maßnahmen eingesetzt werden. Dabei brauchte es sich zunächst nicht um einen Angriff auf Deutschland zu handeln - einen Angriffsaufmarsch gegen das Reich gab es tatsächlich nicht -, aber es genügte schon, wenn Rumänien besetzt wurde, weil dann die Wehrmacht aus Mangel an Treibstoff binnen kurzem nicht mehr kampffähig sein würde. In diesem Sinn stellte die zuständige Feindlageabteilung im Generalstab des deutschen Heeres Ende April 1940 fest: "Ob Rußland in nächster Zeit eine Angriffsoperation gegen Rumänien führen wird, hängt also lediglich von den politischen Verhältnissen ab. Militärisch ist es dazu in der Lage." Die deutsche Seite tat demnach gut daran, sich vorzusehen; wenngleich ein russischer Angriff nach dem Sieg der Wehrmacht im Westen demnächst nicht bevorstand, mußte das nicht für alle Zeit so bleiben, vor allem dann nicht, wenn die Wehrmacht eines Tages geschwächt war. Deshalb mahnte der Militärattache in Moskau, General Köstring, im November 1940: "Aber auch immer wieder meine alte Predigt: kommt stark aus dem Kriege zurück! Es ist das einzige Mittel für ein noch nicht organisiertes Europa, den Zukunftsplänen eines Expansionsdranges Schranken zu setzen, der sich 'Weltrevolution', 'Befreiung vom kapitalistischen Joch', 'Schutz gegen kapitalistische Einkreisung' oder ähnlich nennt." Die oft wiederholte Ansicht, Köstring habe vor dem deutschen Rußlandfeldzug gewarnt, ist höchstens die halbe Wahrheit. Vielmehr hat Köstring keinen Zweifel gelassen, daß es einen sowjetischen Ausdehnungsdrang gebe, welcher nur von einer starken Wehrmacht aufgehalten werden könne. Aber was sollte geschehen, wenn die Wehrmacht nicht mehr stark war, weil sie sich gegen die Westmächte verausgabte? Demzufolge hat Haider die Warnungen Kästrings und der deutschen Botschaft in
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Moskau nicht etwa in den Wind geschlagen, denn die Feststellung der deutschen Botschaft, Deutschland könne aus einem eroberten Rußland keinen bedeutenden wirtschaftlichen Gewinn ziehen, hat Haider voll und ganz übernommen. Der Generalstabschef hat vielmehr Köstrings Einsicht in den sowjetischen Ausdehnungsdrang ernst genommen und die Folgerung gezogen, die Wehrmacht müsse ihm entgegentreten, solange sie noch stark genug sei. Der sowjetische Aufmarsch ging unterdessen weiter. Bis zum Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 dürften an der sowjetischen Westgrenze zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee mindestens 170 Divisionen versammelt worden sein. Zuverlässige Zahlen sind schwer erhältlich, da die sowjetische Seite offenbar jahrzehntelang bemüht war, die Wahrheit zu verschleiern oder zu beschönigen. Entgegen anders1autenden Angaben können die russischen Verbände nicht wesentlich schwächer gewesen sein als die deutschen; vermutlich stand der sowjetische Aufmarsch in seinem Umfang dem deutschen nicht nach, da er gemäß Mitteilungen, die den Tatsachen einigermaßen nahekommen mögen, knapp drei Millionen Mann umfaßt haben soll. Nun kann freilich ein Aufmarsch, je nach dem verfolgten Zweck, ganz unterschiedlich angelegt werden; ein Verteidigungsaufmarsch wird erheblich anders aussehen als ein Angriffsaufmarsch. Die militärischen und politischen Führungseinrichtungen der beteiligten Länder waren in der Regel imstande, sich mit den verfügbaren Aufklärungsmitteln zumindest ein grobes Bild vom Verhalten des Gegners zu machen. Die Unterschätzungstheorie krankt schon daran, daß sie von der Aufklärungstätigkeit vielfach nur recht laienhafte Vorstellungen besitzt. Unter den Bedingungen der Zeit war die Aufklärungsarbeit selten ganz genau, immerhin war sie normalerweise so genau, daß sie eine brauchbare Grundlage für Führungsentschlüsse lieferte. In Deutschland erzeugte die Gegneraufklärung ein solch zuverlässiges Lagebild, daß Haider am 7. April 1941 festhielt: ,,Die russische Gliederung gibt zu Gedanken Anlaß: Wenn man sich von dem Schlagwort freimacht, der Russe will Frieden und wird nicht von sich aus angreifen, dann muß man zugeben, daß die russische Gliederung sehr wohl einen raschen Übergang zum Angriff ermöglicht, der uns außerordentlich unbequem werden könnte." Haider sagte damit, daß der russische Aufmarsch gewissermaßen ein Mehrzweckaufmarsch war, der teils dazu dienen konnte, einen gegnerischen Angriff kurz hinter der Grenze abzufangen, teils aber auch dazu, selber schnell zum Angriff anzutreten. In der Folgezeit verschob sich der russische Aufmarsch noch stärker zum Angriffspol hin, indem die Truppen näher zur Grenze aufschlossen, grenznahe Flugplätze und Nachschublager errichtet wurden und eine auffällige Massierung von Kräften in vorspringenden Frontbögen erfolgte. Für jeden Fachmann lag es auf der Hand, daß eine solche Aufstellung für die Verteidigung höchst nachteilig und nur für den Angriff sinnvoll war. Denn die vorgeschobenen Kräftezusammenballungen liefen Gefahr, vom Gegner eingekesselt und vernichtet zu werden, was auch sowjetische Fachleute wie der Generalstabschef Schukow erkannten oder zumindest nach dem Krieg zugaben. Hätte die Sowjetunion sich wirklich nur verteidigen wollen, so wäre ein völlig anderer Aufmarsch zweckmäßig gewesen, etwa
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in der Art, wie ihn Marschall Schaposchnikow empfahl, der von 1937 bis Mitte 1940 und von Mitte 1941 bis 1942 Generalstabschef der Roten Armee war. Schaposchnikow schlug vor, die Truppen nicht grenznah aufzustellen, sondern tiefer im Landesinnern, so daß ein deutscher Angriff erst einmal ins Leere gestoßen wäre. 5 Warum das nicht geschah, ist bis heute unbekannt. Ebenso unbekannt ist es, welchem Zweck der sowjetische Aufmarsch dienen sollte. Allein der Verteidigung diente er sicher nicht; dafür standen die Truppen zu massiert und zu dicht an der Grenze, d. h. es fehlte die defensive Tiefengliederung mit starken operativen Reserven im Hinterland zum Auffangen eines feindlichen Durchbruchs. So, wie die Rote Armee aufmarschiert war, mußte sie im Verteidigungsfall den Kampf grenznah aufnehmen - was sie dann tatsächlich getan hat - und kam beim Durchbruch des Gegners in eine höchst üble Lage. Dabei war der sowjetischen Führung keineswegs entgangen, daß die Wehrmacht bei den Feldzügen in Polen und Frankreich den Durchbruch erzwungen und anschließend durch weiträumige Bewegungen im Hinterland des Gegners die feindlichen Streitkräfte vernichtet hatte. Auf Grund dieser Einsicht wurden ab dem Sommer 1940 in großer Zahl mechanisierte Korps aufgestellt; auch entwickelte die Führung der Roten Armee sehr wohl den Gedanken, bei ihren eigenen Operationen die Front des Gegners aufzureißen und ihn durch weiträumige Bewegungen auszuschalten. Da die sowjetische Seite damit rechnen mußte und auch damit gerechnet hat, der Krieg werde genau so ablaufen, ist die Erklärung nicht überzeugend, man habe in Moskau einen Sieg über die Wehrmacht durch grenznahe Abwehr erwartet. Es liegt deshalb nahe, nach einer anderen Erklärung für den merkwürdigen sowjetischen Aufmarsch zu suchen. Stalin hat zwar im Laufe der Zeit allerlei Gerüchte und Nachrichten über deutsche Angriffspläne vernommen, man muß sich aber darüber im klaren sein, daß solche Dinge wenig aussagekräftig waren, solange die deutsche Seite nicht ein entsprechendes militärisches Verhalten an den Tag legte, oder anders ausgedrückt: Ein Angriff auf die Sowjetunion kam erst dann in Betracht, wenn die Wehrmacht einen Angriffsaufmarsch durchführte. Haider legte allerdings den deutschen Ostaufmarsch so an, daß er längere Zeit als Angriffsaufmarsch kaum erkennbar war. Dieser Aufmarsch fand ab Anfang 1941 in mehreren Staffeln statt, wobei die ersten Staffeln unauffällig Verstärkungen heranbrachten, vorzugsweise in das rückwärtige Gebiet. Erst mit der dritten Staffel ab Mitte April konnte der Aufmarsch nicht mehr getarnt werden. Daß ein Angriff bevorstand, wurde aber erst mit der vierten Staffel deutlich, die wenige Wochen vor Feldzugsbeginn in einem Höchstleistungsfahrplander Eisenbahn die Masse der gepanzerten und motorisierten Dis Zur Frage des Präventivkriegs und zur Rolle Halders MOFA, Weltkrieg, passim, sowie die Beiträge in den Sammelbänden von Michalka, Weltkrieg, und B. Wegner, Moskau. Die Lageeinschätzung der Abteilung Fremde Heere Ost aus dem Generalstab, 29. 4. 1940, nach MOFA, Weltkrieg IV, l94f. (Beitrag Klink). Köstring am 14. ll. 1940 in Teske, Köstring, 286. Zum sowjetischen Aufmarsch MOFA, Weltkrieg IV, 56 ff. (Beitrag Hoffmann). Haider über russischen Aufmarsch, 7. 4. 1941, in seinem KTB Il, 353. Der Vorschlag von Schaposchnikow nach Gosztony, 180.
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visionen heranbrachte. Auf Grund dieses Aufmarsches konnte die sowjetische Aufklärung wohl feststellen, daß sich auf der deutschen Seite etwas tat, doch vermochte sie erst ab April/Mai 1941 den begründeten Schluß zu ziehen, hier könnte ein Angriffsaufmarsch im Gange sein, der freilich so lange keine unmittelbare Gefahr in sich barg, wie die schnellen Divisionen nicht eingetroffen waren (was erst im Juni geschah). Soweit erkennbar, hat die sowjetische Aufklärung eben diese Schlüsse gezogen. Demzufolge kann der sowjetische Aufmarsch, den Haider Anfang April beschrieb, keine Antwort auf den deutschen gewesen sein, denn jener sowjetische ,,Mehrzweckaufmarsch" muß zu einer Zeit eingeleitet worden sein, wo noch niemand einen deutschen Angriffsaufmarsch erkennen konnte. Warum standen im Frühjahr 1941 die sowjetischen Truppen so, daß sie auch zum Angriffüberzugehen vermochten? Die Antwort mag darin liegen, daß Stalin im Frühjahr 1941 die Gelegenheit witterte, bei Errichtung einer Balkanfront durch Britannien und bei Bindung starker deutscher Kräfte auf dem Balkan ein russisches Eingreifen ins Auge zu fassen. Das vorrangige Ziel wäre neuerlich Rumänien gewesen, außerdem hätte man gegebenenfalls den Jugoslawen und den Briten in Griechenland die Hand reichen können. Der stellvertretende Außenminister Wyschinskij soll im Februar 1941 gesagt haben, die Sowjetunion werde in den Krieg eintreten, sobald die Briten eine Balkanfront eröffneten. Sowjetische Truppen würden unmittelbar gegen Bulgarien und die türkischen Meerengen vorgehen. Wie dem auch sei, die Rote Armee stand jedenfalls in einer Aufstellung an der Grenze, die den Angriff ermöglichte. Einem neuerdings bekanntgewordenen Zeugnis zufolge schlugen am 15. Mai 1941 Generalstabschef Schukow und Verteidigungsminister Timoschenko dem Diktator Stalin vor, dem deutschen Aufmarsch angriffsweise entgegenzutreten. Die Wehrmacht sei im Begriff, so hieß es, der Roten Armee beim Aufmarsch zuvorzukommen; deshalb solle der Spieß umgedreht und die Wehrmacht angegriffen werden, solange sie den Aufmarsch noch nicht beendet habe. Der Plan Schukows veranschlagte auf deutscher Seite 100 Divisionen und auf sowjetischer rund 150. Durch eine weiträumige Umfassungsbewegung sollten die deutschen Kräfte in Polen und Ostpreußen eingeschlossen und vernichtet werden. Der Plan war durchaus folgerichtig, wenn man voraussetzt, daß die sowjetische Führung mittlerweile den deutschen Aufmarsch erkannt und zugleich eingesehen hatte, daß die eigene Truppe in ihrem grenznahen Aufmarsch stark gefährdet war, falls die Wehrmacht losschlug. Aus dieser Lage gab es in der Tat nur zwei Auswege: Entweder der Kreml nahm die eigene Truppe in eine günstigere Verteidigungsstellung zurück, oder er ging rechtzeitig zum Angriff über, bevor die Wehrmacht ihren Aufmarsch beendet hatte. Beides geschah nicht, anscheinend weil Stalin nicht glauben mochte, Hitler werde den Zweifrontenkrieg auf sich nehmen. Offen bleibt die Frage, ob Stalin dem deutschen Diktator den Zweifrontenkrieg aufzwingen wollte. Die einfachste Deutung dürfte sein, daß er dies durchaus wollte, aber vermutlich nicht sofort, sondern bei günstiger Gelegenheit. Am 6. Mai 1941 übernahm Stalin, bislang nur Generalsekretär der KPdSU, auch das Amt des Ministerpräsidenten (Vorsitzender des Rates der Volkskomrnissare).
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Der deutsche Botschafter Schulenburg begründete dies damit, der unerwartet schnelle und erfolgreiche Abschluß des deutschen Balkanfeldzugs habe die Sowjetregierung überrascht. Wegen der Größe und der Schnelligkeit der deutschen militärischen Erfolge sei in Moskau eine Neubeurteilung der internationalen Lage notwendig geworden, dazu die -Abkehr von den bisherigen außenpolitischen Methoden der Sowjetregierung, die zu einer Entfremdung von Deutschland geführt hatten. Stalin wolle nun das Ruder herumwerfen und einen Zusammenstoß mit Deutschland vermeiden. Nimmt man an, daß dies einigermaßen zutrifft, so würde es zugleich den sowjetischen Aufmarsch besser erklären. Stalin hatte demnach erwartet, die Wehrmacht werde sich auf dem Balkan festfressen, so daß die Rote Armee ohne Bedenken grenznah aufgestellt werden konnte, entweder um selbst zum Angriff überzugehen oder weil sie nicht unmittelbar gefährdet war. Nachdem sich dies als Irrtum herausgestellt hatte, begann man in Moskau nervös zu werden; einerseits tauchte der Plan auf, die Rote Armee solle sofort losschlagen, während andererseits Stalin die Lösung bevorzugte, erst einmal abzuwarten und die Bezie! hungen zu Deutschland zu verbessern, zumal er den Verdacht hegte, London wolle einen Krieg zwischen dem Reich und der Sowjetunion provozieren, damit beide sich gegenseitig aufrieben. Was Stalin längerfristig anstrebte, ließ er in einer Rede vor den Absolventen der sowjetischen Militärakademien am 5. Mai 1941 erkennen. Dergenaue Inhalt dieser Rede wurde - wohl aus gutem Grund - geheimgehalten; er läßt sich jedoch erschließen, teils aus den Angaben von Teilnehmern an der Veranstaltung, die später von den Deutschen gefangengenommen wurden, teils aus den Mitteilungen eines britischen Journalisten, dem nach Kriegsausbruch darüber berichtet wurde. Die Gefangenenaussagen stimmen im Kern überein und geben Stalins Äußerungen so wieder, daß die Zeit der sowjetischen Friedenspolitik vorüber sei. Nunmehr sei die Ausdehnung der Sowjetunion nach Westen mit Waffengewalt erforderlich. Der Kriegsbeginn stehe in nicht allzu ferner Zeit bevor, und zwar unabhängig davon, ob die Wehrmacht von sich aus angreife. Die Mitteilungen des genannten Journalisten sind ausführlicher, besagen aber ebenfalls, daß nach Ansicht Stalins der Krieg in absehbarer Zeit- angeblich 1942- fast unvermeidlich war, wobei gegebenenfalls die Rote Armee den Angriff eröffnen werde. Vorerst sollte der Kriegsausbruch hinausgezögert werden, um die Rote Armee weiter erstarken zu lassen, doch solle es dabei nicht bleiben, da eine dauernde Vorherrschaft Nazi-Deutschlands in Europa "nicht normal" sei. Die Äußerung mag so gefallen sein, da Stalin im Interesse des revolutionären Weltkommunismus nur eine sowjetische Vorherrschaft in Europa für normal hielt. Außer dem Inhalt dieser Rede, welcher der deutschen Seite zugänglich wurde, gab es eine Vielzahl anderer Hinweise auf den russischen Kriegswillen, darunter insbesondere die propagandistische Vorbereitung der eigenen Truppe auf einen Angriff. Die früher erwähnte Feststellung Halders, man wisse aus guten Quellen, daß sich die Sowjetunion zum Angriff auf Deutschland rüstete, findet so ihre Erklärung. Der deutschen Feindaufklärung wurden aus Ge-
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fangenenaussagen und Dokumentenfunden die Nachrichten zugänglich, welche eben dies belegten. 6 Wie stellte sich nun die operative Anlage des Feldzugs dar? Ein sorgfältig erarbeiteter Operationsplan beruht erstens auf einem Vergleich der beiderseitigen Kräfte und Möglichkeiten sowie zweitens auf einer daraus abgeleiteten strategischen Zielsetzung. Als Hitler am 21. Juli 1940 dem Oberbefehlshaber des Heeres den Auftrag erteilte, gedankliche Vorbereitungen für einen Ostfeldzug zu treffen, sprach der Diktator davon, daß Rußland 50 bis 75 gute Divisionen besitze und daß 80 bis 100 deutsche Divisionen nötig seien. Wie Hitler zu solchen Zahlen kam, ist unbekannt; jedenfalls hatten diese Zahlen weder mit den Erkenntnissen der deutschen Aufklärung noch mit Planungen des OKH irgendetwas zu tun. Da sich, wie früher erwähnt, Haider um diese Dinge zunächst kaum kümmerte, greift man zweckmäßigerweise auf den Operationsentwurf des Generalmajors Marcks von Anfang August 1940 zurück, der nach Halders Anweisungen entstanden war und den Kenntnisstand des OKH enthielt. Demnach verfügte die Rote Armee im Sommer 1940 über insgesamt 221 größere Verbände, nämlich 151 Infanteriedivisionen, 6 Zum deutschen Ostaufmarsch KTB OKW U1, 299f. (3. 2. 1941); Halder, KTB II, 387 (30. 4. 1941); Müller-Hillebrand II, 99 ff. Wyschinskij im Februar 1941 nach Hillgruber, Strategie, 436f., Anm. 54. Der Angriffsvorschlag von Schukow, 15. 5. 1941, nach Der Spiegel 22, 1990, 170ff.; 24, 1991, 140. Zum Vergleich des deutschen und russischen Aufmarsches auch Helmdach. Suworow. Schulenburg überStalins Übernahme der Ministerpräsidentschaft, 7. 5., 12. 5. und 19. 5. 1941, in ADAP, Ser. D, Bd 12/2, sowie Brügel, 307ff. Stalins Rede vom 5. 5. 1941 nach Hilger, Kreml, 307f. Werth I, 112f. Dazu ferner J. Hoffmann, Angriffsvorbereitungen. Wolkogonow. Neuerdings soll eine Aufzeichnung von Stalins Rede und seinen Äußerungen bei einem anschließenden Festessen aufgetaucht sein. Was es damit auf sich hat, kann hier nicht entschieden werden; der Einfachheit halber soll einmal angenommen werden, daß die Aufzeichnung echt ist und ihr Inhalt zuverlässig. Demnach ließ Stalin keinen Zweifel daran, daß sich in Zukunft die Wege Deutschlands und Rußlands trennten. Deutschland sei militärisch auf dem absteigenden Ast, Rußland auf dem aufsteigenden; wegen der deutschen Entfremdung von Rußland sei der Zusammenstoß unvermeidlich. Die bisherige sowjetische Friedenspolitik sei nützlich gewesen; da aber jetzt endlich die notwendige Erneuerung der Streitkräfte erfolgt sei, müsse man von der Verteidigung zur Offensive übergehen. Die Sowjetunion sei verpflichtet, offensiv zu handeln, von der Verteidigung zur Militärpolitik der Offensivhandlungen überzugehen. Die sowjetische Erziehung, die Propaganda, Agitation, die Presse müßten im offensiven Sinn umgebaut werden. Die Rote Armee sei eine moderne Armee, und die moderne Armee sei eine Offensivarmee. Man sieht, daß in Stalins Äußerungen ziemlich genau das enthalten war, was diejenigen, welche davon Kenntnis erhielten, darüber berichteten. Da Stalin auch auf die noch bestehenden Schwächen der sowjetischen Aufrüstung hinwies, durfte man aus seinen Auslassungen wohl den Schluß ziehen, er wolle nicht sofort losschlagen, sondern auf einen günstigeren Zeitpunkt warten, vielleicht 1942. Jedenfalls ließ Stalin keinen Zweifel daran, daß die Rote Armee die Offensive anstreben und darauf vorbereitet werden solle. Eine Offensive kann bekanntlich in zwei Formen stattfinden: entweder als eigener Angriff oder als Gegenschlag bei einem feindlichen Angriff. Indem Stalin beides in Aussicht nahm, ließ er die Frage offen, ob die Sowjetunion einen deutschen Angriff abwarten werde. Je nach den Umständen konnte die Rote Armee auch von sich aus angreifen. Das verstanden die Zuhörer, und in diesem Sinn berichteten sie. Der Inhalt von Stalins Aussagen ist so klar, daß es daran nichts abzumildern gibt. Vgl. Fleischhauer, Widerstand (1991), 322ff., 406, Anm. 180.
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32 Kavalleriedivisionen und 38 motorisiert-mechanisierte Brigaden. Abzüglich der Verbände, welche damals gegen Japan, die Türkei und Finnland gebunden waren, verblieben gegenüber Deutschland 147 Verbände, nämlich 96 Infanterie- und 23 Kavalleriedivisionen sowie 28 mechanisierte Brigaden. Wie stark die Rote Armee im nächsten Frühjahr (1941) sein würde, wenn der Feldzug stattfinden konnte, wußte Marcks nicht, er veranschlagte jedoch die deutschen Kräfte für einen Feldzug zu diesem Zeitpunkt auf 147 Divisionen. Hitler freilich faßte bei seiner Unterredung mit Brauchitsch am 21. Juli 1940 einen Herbstfeldzug noch im selben Jahr ins Auge. Als strategische Zielsetzung gab er an, es sei das russische Heer zu schlagen oder wenigstens so weit russischer Boden in die Hand zu nehmen, als nötig sei, um feindliche Luftangriffe gegen Berlin und das schlesische Industriegebiet zu verhindern. Das erinnert verblüffend an Hitlers wirre Anordnungen für einen Westfeldzug im Herbst 1939, denn damals hatte er das Ruhrgebiet schützen wollen, sich aber nicht entscheiden mögen, ob er nun die französischen Streitkräfte vernichtend schlagen oder lediglich begrenzten Raumgewinn erzielen wollte. Und wie immer bei Hitler traten auch hier an die Stelle klarer Begriffe bloße Wünsche. Es sei erwünscht, hieß es, so weit vorzudringen, daß man mit der Luftwaffe wichtigste Gebiete zerschlagen könne. Diese wichtigsten Gebiete mußten ziemlich tief in der Sowjetunion liegen, denn als politisches Ziel wurde die Abtrennung der Ukraine, Weißrußlands und des Baltikums genannt, so daß man in ihnen jedenfalls nichts mehr zu zerschlagen brauchte, vielmehr andere Gebiete gemeint waren, vielleicht Moskau oder der Ural. Man müßte auf den Hitlerschen Gedankenmorast nicht weiter eingehen, wenn darin nicht bereits dasjenige enthalten gewesen wäre, was später den Feldzug zum Scheitern brachte. In Halders Aufzeichnung über die Besprechung vom 21. Juli 1940 findet sich der knappe Vermerk: "Operationsbahnen: Baltikum, Finnland Ukraine". Gemeint war damit, daß Hitler einerseits in die Ukraine vorstoßen wollte und andererseits in das Baltikum, um die Verbindung zu den Finnen herzustellen. An dieser Vorstellung hielt Hitler unbeirrt fest. Am 31. Juli 1940 benannte er als strategisches Ziel die Vernichtung der Lebenskraft Rußlands, die er erreichen wollte durch zwei Teiloperationen, nämlich einen Stoß Richtung Kiew in der Ukraine und einen Stoß Richtung Moskau zur Besetzung des Baltikums. Durch die Erwähnung von Moskau darf man sich nicht verwirren lassen; gemeint war vielmehr eine riesenhafte Zangenbewegung mit einem Zangenarm in der Ukraine, dem anderen im Baltikum, wobei, wie es am 31. Juli hieß, beide später aus Norden und Süden zusammengeführt werden sollten. Anschließend sollte das Ölgebiet von Baku im Kaukasus erobert werden. Im Winter 1940/41 erläuterte Hitler seine Ideen noch genauer. Das Ziel des Feldzuges müsse die Vernichtung des russischen Heeres, die Wegnahme der wichtigsten Industriegebiete und die Zerstörung der übrigen Industriegebiete, vor allem im Ural, sein; außerdem müsse das Gebiet von Baku in Besitz genommen werden. Durch die Eroberung des russischen Riesenraumes mit seinen unermeßlichen Reichtümern sei Deutschland in Zukunft imstande.; auch den Kampf gegen Konti-
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nente zu führen, es könne dann von niemand mehr geschlagen werden. Der Ostfeldzug werde seinen Abschluß mit dem Erreichen etwa der Wolga finden, von wo aus Überfalle zur Zerstörung weiter entfernt liegender Rüstungsanlagen unternommen werden müßten. Im Osten brauchten dann nur 40 bis 60 Divisionen zu bleiben. Die Durchführung des Feldzugs dachte sich Hitler so, daß durch starke Flügel die im Baltikum sowie in der Ukraine stehenden russischen Kräfte eingekesselt und vernichtet wurden. Die wichtigste Aufgabe sei die rasche Abschneidung des Ostseeraumes, damit die Erzschiffahrt in der Ostsee nicht lange gefahrdet werde (durch die russische Marine). Moskau sei nicht wichtig. Vielmehr müsse man die Flankengebiete (Baltikum und Ukraine) mit stärksten Kräften in Besitz nehmen, dagegen in der Mitte - also in Richtung auf Moskau - verhalten, um dann von den Flanken aus den Gegner aus der Mitte herauszumanövrieren. Ob man nach Vernichtung der im Norden und im Süden eingekesselten russischen Massen auf Moskau oder in die Gegend ostwärts Moskau vorgehe, könne später entschieden werden. Das beinhaltete wieder den Gedanken der riesigen Zange, die bei Moskau oder hinter Moskau an der Wolga zu schließen war. Haider drückte es später so aus, den Diktator habe der Gedanke beherrscht, das europäische Rußland durch zwei sehr starke Stoßkeile im Süden bis an das Schwarze Meer, im Norden bis Leningrad zu umklammern und dann den großen Ring entlang der Wolga zu schließen. Das Urteil des Fachmannes Haider dazu lautete, diese "Horizontschleicherei" am Finnischen Meerbusen und am Schwarzen Meer entlang sehe zwar fabelhaft genial aus, mißachte aber souverän die realen Möglichkeiten, die der damaligen deutschen Kraftfahrzeugausstattung gegeben waren. Die Übertragung von Einkreisungsgedanken aus der Taktik auf die große Operation sei laienhaft. 7 Demgegenüber entwickelten Haider und das OKH einen anderen Operationsgedanken. Hitlers strategisches Ziel, aus seiner Weltanschauung geboren, bildete eigentlich das Zerschlagen des sowjetischen Staates. Wie immer war die Angelegenheit nicht sorgfaltig durchdacht und mit anderen Ideen vermischt; eine seiner Hauptideen bestand darin, die russischen Rohstoff- und Industriegebiete zu erobern, darunter den Kaukasus, um dem Kampf der Kontinente gewachsen zu sein (was allein schon den Gegebenheiten nicht gerecht wurde). Das Zerschlagen des sowjetischen Staates gedachte Hitler zu erreichen durch das Zerschlagen der 7 Hitlers Besprechung mit Brauchitsch, 21. 7. 1940, nach Halder, KTB II, 32 f. Die Stärkezahlen im Operationsentwurf des Generals Marcks, 5. 8. 1940, in Lachnit/Klein, 117. Die Führerbesprechung vom 31. 7. 1940 in Halder, KTB II, 50. Hitlers Äußerungen im Winter 1940/41 in KTB OKW I/1, 205, 209, 258, 298; I/2, 996 (5. 12. 1940, 9. 1. und 3. 2. 1941; 21. 12. 1940). Halder, KTB II, 210f., 319 (5. 12. 1940, 17. 3. 1941). Haider über Hitlers Zangenidee nach Schali-Riaucour, 158, 171. Eine anband von Akten verfaßte Ausarbeitung, die nicht früher als im Sommer/Herbst 1941 entstanden sein kann und möglicherweise aus dem OKW stammt, die allerdings vom Herausgeber in sträflicher Weise verhunzt wurde, kam zu dem Ergebnis: ,,Ein Abschneiden des russischen Heeres in seiner geschlossenen Gesamtheit von den Rückzugsmöglichkeiten durch eine tiefe einseitige Umfassung von einem, oder durch doppelseitige Umfassung von beiden Flügeln aus verbot sich bei der außerordentlichen Breite der Angriffsfront" Besymenski, Barbarossa, 317.
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sowjetischen Streitkräfte und durch das Ausrotten der Funktionäre, der "jüdischbolschewistischen Intelligenz"; der spätere germanische Lebensraum im Osten sollte erobert werden durch die erwähnte riesige Zangenbewegung, die den Raum bis zur Wolga in deutsche Hand geben sollte, während anschließend Vorstöße zum Ural oder auch darüber hinaus diesen Raum zu sichern hatten. Vom Erobern des Lebensraums war bei den einschlägigen Besprechungen Hitlers mit den Spitzen des OKH offenbar nie die Rede; das Ausrotten der Funktionäre betrachtete Hitler wohl als Teil der militärischen Aufgabe, da es zum Zerfall des sowjetischen Staates beitragen sollte, und gab es der Wehrmacht im Frühjahr 1941 bekannt. Bis dahin verschwieg Hitler seine weltanschaulichen Ziele, zumindest gegenüber dem OKH, und beschränkte sich auf allgemeine militärische und außenpolitische Erörterungen. Die Idee mit der riesigen Zange war dem OKH seit dem Sommer 1940 bekannt und wurde von ihm als eine der üblichen Entgleisungen des Diktators betrachtet. Dagegen ging Haider als Fachmann an die Sache heran; aus der Abwägung der deutschen und russischen Kräfte zog er den Schluß, das strategische Ziel eines einzelnen Feldzugs in Rußland könne nur darin bestehen, die Rote Armee so weit zu schlagen und das russische Gebiet so tief zu besetzen, daß die Sowjetunion zu gefährlichen Angriffshandlungen, zu einem operativ geführten Krieg mit weitgesteckten Zielen demnächst nicht mehr instande war. Zu diesem Zweck mußte auf jeden Fall Moskau erobert werden, nicht einfach weil es die Hauptstadt war, sondern weil es den Mittelpunkt des sowjetischen Verkehrs- und Nachrichtennetzes darstellte sowie eines der Rüstungszentren, um das sich naturgemäß erhebliche Teile der zu erwartenden russischen Neuaufstellungen gruppieren mußten. Moskau bildete, wie es später einmal hieß, den Brückenkopf Asiens, d. h. falls der Krieg länger dauerte, vermochte die Sowjetunion mit Hilfe der Verkehrsspinne Moskau aus den Menschen und Rüstungsgütern ihrer asiatischen Teile, unterstützt von den Westmächten, diejenigen Streitkräfte bereitzustellen, welche der Wehrmacht zunächst einen verlustreichen Abnützungskrieg aufzwangen und schließlich, wenn große Teile der Wehrmacht im Westen gebunden waren, zum Vorstoß bis nach Deutschland ansetzten. Umgekehrt würde die Einnahme Moskaus den Zusammenhang der russischen Verteidigung zerreißen, Rußland gewissermaßen in eine Nordund eine Südhälfte aufspalten, damit das Verschieben von Kräften hinter der Front stark erschweren oder zumindest verzögern und es auf diese Weise der Wehrmacht erleichtern, jede der beiden Hälften für sich zu besetzen. Da die sowjetische Führung dies natürlich wußte, würde sie mit aller Kraft Moskau zu verteidigen suchen, so-daß die Gelegenheit bestand, auf dem Weg nach Moskau große Teile der sowjetischen Streitkräfte zu zerschlagen. Unter diesen Umständen würde die Rote Armee voraussichtlich das Gebiet bis zur Wolga preisgeben müssen. Die Wehrmacht stand dann für die Fortsetzung des Krieges in einer günstigen Verteidigungsposition: Gedeckt durch das Stromhindernis der Wolga, verfügte sie über ein weites strategisches Vorfeld, in welchem die Verkehrsspinne Moskau das Führen des Abwehrkampfes erleichterte. Die Sowjet-
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union würde die Industrie und die Menschen in dem von der Wehrmacht besetzten europäischen Rußland verlieren, insoweit in ihrer Angriffskraft geschwächt werden; sie würde ihr bei Kriegsbeginn vorhandenes Heer weitgehend einbüßen, also ein zum Angriff befähigtes Heer erst wieder aufbauen müssen; und sie würde, falls sie es wieder aufbaute, in operativ ungünstiger Stellung an der Wolga bzw. in den Steppen und Wäldern Ostrußlands stehen, so daß die Wehrmacht ihre Angriffe geraume Zeit aufzuhalten vermochte. Halders operatives Hauptziel war also Moskau; sein Operationsgedanke läßt sich nicht auf eine ganz knappe Formel bringen, da wegen der Weite des zu überwindenden Raumes und wegen der an sich günstigen Verteidigungsmöglichkeiten des Gegners die Operation verschiedene Dinge zu berücksichtigen hatte und in einzelnen Schritten ablaufen mußte. Man kann aber grob und vorläufig sagen, daß Halders Operationsidee darin bestand, den Hauptstoß möglichst schnell und ohne Umwege nach Moskau zu führen, um anschließend den Rest des europäischen Rußland vorwärts der Wolga zu besetzen bzw. die dort noch vorhandenen sowjetischen Streitkräfte zu schlagen. Nachdem Haider am 22. Juli 1940 durch Brauerutsch den Auftrag Hitlers erhalten hatte, gedankliche Vorbereitungen für einen Ostfeldzug zu treffen, ließ sich der Generalstabschef am 26. Juli vom zuständigen Abteilungschef für die Feindlage Ost, Oberstleutnant Kinzel, über die Verhältnisse auf der Gegenseite unterrichten. Daraus zog er den Schluß, "daß die günstigste Operationsmöglichkeit mit Anlehnung an die Ostsee Richtung Moskau nimmt und dann die russische Kräftegruppe in der Ukraine und am Schwarzen Meer von Norden her zum Kampf mit verkehrter Front zwingt". Es sollte also der Hauptstoß auf Moskau geführt werden, wobei der Ausdruck "Anlehnung an die Ostsee" besagt, daß der Hauptstoß in seiner linken Flanke durch einen Nebenstoß ins Baltikum gedeckt werden sollte. Nach Erreichen des Hauptziels Moskau waren die sowjetischen Kräfte südlich davon einzukesseln (Schlacht mit verkehrter Front), so daß schließlich mit den Räumen um Leningrad und Moskau sowie der Ukraine die Industriegebiete des europäischen Rußland besetzt werden konnten. Bei diesem Entwurf richtete Haider sich auch an den geographischen Gegebenheiten aus, denn das Operationsgebiet wurde durch die ausgedehnten Pripjet-Sümpfe, etwa zwischen Minsk und Kiew gelegen, räumlich und verkehrsmäßig in zwei ungleiche Hälften geteilt. Im Sommer 1940 standen südlich der Pripjet-Sümpfe umfangreiche russische Kräfte in Stärke von rund 60 Divisionen, die sich am einfachsten ausschalten ließen, wenn man mit einer starken Streitmacht nördlich der Sümpfe vorging, wo es bessere Verkehrsverbindungen gab, und dann hinter den Sümpfen die gegnerische Gruppe in der Ukraine umfaßte. Da man diese Gruppe bis dahin nicht sich selbst überlassen konnte, verstand es sich von selbst, daß sie durch ausreichende eigene Kräfte gefesselt und zurückgedrängt werden mußte, um sie schließlich hinter den Sümpfen einzuschließen. Die Anlage der Operation stand damit in groben Zügen fest. Am 27. Juli 1940 besprach sich Haider mit seinem Operationschef Greiffenberg und mit Oberstleutnant Feyerabend, der den Auftrag erhalten hatte, die Ostangelegenheit zu bearbei-
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ten, weil Haider und Greiffenberg vorrangig mit der Landung in England befaßt waren. Bei dem Gespräch tauchte der Gedanke auf, den Schwerpunkt der Operation nicht nördlich der Pripjet-Sümpfe zu legen, sondern südlich; auch wurde, aus unbekannten Gründen, der Kräftebedarf auf lediglich 100 Divisionen veranschlagt. Halder lehnte das ab und betonte erneut, die Operation müsse von vomherein darauf angelegt werden, die sicherlich starken feindlichen Südkräfte durch eine von Moskau aus nach Süden geführte schnelle Operation zur Schlacht mit verkehrter Front zu zwingen. Vermutlich um unfruchtbare Erörterungen abzuschneiden, gab Halder dem General Marcks, der nunmehr einen Operationsentwurf erstellen sollte, entsprechende Anweisungen; so betonte er, daß der Vorstoß ins Baltikum nur eine Nebenoperation sein dürfe, welche die Hauptstoßrichtung Moskau nicht beeinträchtige, und verwies darauf, die südliche Operationsgruppe könne schon deswegen nicht allzu stark sein, weil der Aufmarsch in Rumänien nicht gesichert sei. Man darf deshalb davon ausgehen, daß der Operationsentwurf von Marcks, der am 5. August 1940 vorlag, sich weitgehend mit den Ansichten Halders deckt. In diesem Entwurf wurde das strategische Ziel des Feldzugs kurz und bündig so umschrieben: ,,Zweck des Feldzugs ist, die russische Wehrmacht zu schlagen und Rußland unfähig zu machen, in absehbarer Zeit als Gegner Deutschlands aufzutreten. Zum Schutz Deutschlands gegen russische Bomber soll Rußland bis zur Linie unterer Don - mittlere Wolga - nördliche Dwina besetzt werden." Das entspricht genau dem, was bislang hier ausgeführt wurde: Es sollte ein begrenzter Feldzug mit begrenztem Ziel geführt werden, um Deutschland Sicherheit vor einem russischen Angriff zu geben. Die zu erreichende Linie, die der späteren Verteidigungslinie gleichkam, verlief großenteils an Flußhindernissen, so an der Wolga und am unteren Don; ausgedrückt in Städtenamen war es die Linie Archangelsk- GorkiStalingrad - Rostow. Eine solche Linie erschwerte es zugleich den Westmächten, Nachschub nach Rußland zu bringen, denn die Häfen am Eismeer waren dann den Westmächten nicht mehr zugänglich, und den wichtigen Schiffahrtsweg der Wolga würde die Wehrmacht sperren. Daß der sowjetische Staat zusammenbreche, wurde nicht erwartet, deshalb sagte Marcks: "Wenn die Sowjetregierung nicht stürzt oder Frieden schließt, kann es notwendig werden, noch bis zum Ural weiterzugehen. Wenn Rußland nach der Zerschlagung seiner Wehrmacht und dem Verlust seiner wertvollsten europäischen Gebiete auch nicht mehr zu aktiven Kriegshandlungen fähig ist, kann es doch noch, gestützt auf Asien, auf unabsehbare Zeit im Kriegszustand verharren." Der Krieg würde also voraussichtlich weitergehen, weil Rußland zum Aufgeben nicht gezwungen war. Schon die vorhin erwähnte Bemerkung, Deutschland solle vor russischen Bombern geschützt werden, setzt das ja eigentlich voraus, denn solche Bomber konnten nur aus einem russischen Reststaat kommen. Das Weitergehen zum Ural bildete eine unverbindliche Eventualüberlegung; im Grunde war es überflüssig, weil sich der Aufwand nicht lohnte, wenn man sich hinter den Stromhindernissen gut verteidigen konnte_ . _ Bei der Anlage der Operation hielt sich Marcks an Halders Vorgaben. Den Hauptstoß wollte er nach Moskau führen, im Besitze Moskaus nach Süden
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schwenken und zusammen mit der deutschen Südgruppe die Ukraine erobern. Der Hauptstoß sollte in der linken Flanke durch einen Angriff Richtung Leningrad gedeckt werden. Ansonsten erwog Marcks, den Hauptstoß aus Rumänien über die Ukraine nach Moskau zu führen, lehnte den Gedanken aber ab, da weder die politische Lage auf dem Balkan noch die Verkehrsverhältnisse einen befriedigenden Aufmarsch zuließen. Der deutschen Kräftegruppe südlich der Pripjet-Sümpfe kam damit die Aufgabe zu, den gegenüberstehenden Feind zu schlagen und über den Dnjepr vorzugehen, um jenseits der Sümpfe mit der nördlichen Hauptgruppe zusammenzuwirken. Halders Idee einer großen Kesselschlacht hinter den Sümpfen besagte also nicht, daß die deutsche Hauptgruppe von Moskau bis zum Schwarzen Meer herunterstoßen sollte (der Weg wäre wohl auch zu weit gewesen), sondern die deutsche Südgruppe sollte ihr entgegengehen, etwa in Richtung CharkowKursk. Erwähnung verdient der Umstand, daß Marcks keinen starren Plan für den Ablauf des Feldzugs aufstellte, insbesondere keinen starren Zeitplan. Wie sich die Kämpfe entwickelten, war nicht vorhersehbar; klar war nur, daß die sowjetische Verteidigungsfront aufgerissen und zersprengt werden mußte, entweder grenznah oder tiefer im Landesinnem, ungefähr an den Flüssen Düna und Dnjepr. Dieses Aufreißen der russischen Verteidigungsfront war nur der erste Takt, dem als zweiter Takt die Einnahme von Moskau und Leningrad sowie der Einbruch in die Ostukraine folgte. Marcks stellte in Rechnung, daß sich die Erfolge des ersten Takts in Grenzen hielten, so daß Moskau nicht durch bloße Verfolgung genommen werden könne, sondern der Weg nach Moskau erst freigekämpft werden müsse. ,Jst aber das russische Heer mit großen Teilen noch kampffähig, so wird erst angetreten werden können, wenn die Versorgung das Vorgehen der Masse des deutschen Heeres erlaubt." In diesem Fall mußte eine Pause eingelegt werden für das Heranbringen des Nachschubs und das Auffrischen der Verbände, eine Pause, die Marcks auf drei bis sechs Wochen veranschlagte. War jedoch die Rote Armee zerschlagen, spätestens beim Kampf um Moskau, Leningrad und die Ostukraine, so erwartete Marcks für die Besetzung des restlichen Gebiets bis zur Wolga und zum Don keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr. Insgesamt rechnete er mit einer Feldzugsdauer von höchstens vier Monaten. 8 Haider wich von seinem operativen Grundgedanken nie ab. Noch während des Feldzugs, am 3. Juli 1941, hielt er fest: ,,Für die Fortführung der russischen Operation wird es zunächst darauf ankommen, zwischen Smolensk und Moskau eine neue Basis zu gewinnen; von der aus im Zusammenhang mit der zu gewinnenden Basis Leningrad, Nordrußland und das Moskauer Industriegebiet in die Hand genommen werden kann. Anschließend in Zusammenarbeit mit der Heeresgruppe Süd das Industriegebiet des Donezbeckens." Die vorbereitenden Tätigkeiten des Generalstabs zwischen dem Sommer 1940 und dem Feldzugsbeginn dienten nicht dem Verbessem oder Verändern von Halders Grundgedanken, sondern dem Hers Haider über Brückenkopf Moskau in seinem KTB III, 279 (3. 11. 1941). Haider über Ostoperation am 26. 7., 27. 7., 29. 7. und 1. 8. 1940 in seinem KTB li, 37, 39, 41, 51 f. Der Entwurf von Marcks bei Lachnit/Klein. Allgemein auch Philippi/Heim. 24 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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ausarbeiten der Einzelheiten sowie dem genaueren Festlegen und Verfeinern des Kräfteansatzes und der Durchführung der Operation. Im Zuge der Neubesetzung von Generalstabsstellen wurde der bisherige Stabschef der 6. Armee, General Paulus, am 3. September zum neuen Oberquartiermeister I ernannt, da Haider gern einen Panzerfachmann als seinen ständigen Stellvertreter haben wollte. Kurz darauf übernahm Oberst Heusinger die Leitung der Operationsabteilung von General Greiffenberg; ebenfalls in dieser Zeit wurde der bisherige Stabschef des Generalquartiermeisters (für Heeresversorgung), General Eduard Wagner, zum Generalquartiermeister ernannt und sein Amtsvorgänger, General Eugen Müller, zum General z.b.V. beim Oberbefehlshaber des Heeres. Anfang 1941 trat an die Stelle von General Tippelskireh als Oberquartiermeister IV (für Feindlage) der bisherige Militärattache in Tokio, Oberst Matzky. Greiffenberg blieb gewissermaßen Haider eng verbunden; Anfang 1941 wurde er Stabschef der 12. Armee, welche die Hauptlast des Balkanfeldzugs trug, und vor dem Rußlandfeldzug wurde er Stabschef der Heeresgruppe Mitte unter Feldmarschall Bock, welche auf Moskau vorstoßen sollte. In den Händen der genannten Offiziere lag nun die Vorbereitung des Ostkriegs, nicht zuletzt in denjenigen von Paulus, der den Auftrag Halders erhielt, die operative Planung fortzuführen. Paulus sah drei Heeresgruppen vor, die schwächste nördlich für den Nebenstoß auf Leningrad, die stärkste in der Mitte, nördlich der Pripjet-Sümpfe, für den Hauptstoß auf Moskau, und eine weitere starke südlich der Pripjet-Sümpfe. Durch Kriegsspiele Ende November/ Anfang Dezember 1940 prüfte Paulus die Möglichkeiten für die Durchführung der Operation sowie das voraussichtliche Verhalten des Gegners. Dabei wurden die Annahmen Halders bestätigt: Für ein gleichmäßiges Vorantreiben des Angriffs auf der ganzen Front, die sich trichterförmig ausweitete, reichten die deutschen Kräfte nicht aus. Es kam gerade nicht darauf an, die gegnerische Abwehr auf der ganzen Frontbreite in einer Reihe taktischer Einzelhandlungen zu zermahlen, weil dann der Gegner Zeit gewinnen würde, seine Reserven zu mobilisieren, die in jedem Fall stärker waren als die deutschen. Sondern was der deutschen Seite an Kräften fehlte, das mußte sie ausgleichen durch operative Kunst, d. h. durch geeigneten Kräfteansatz, durch die Bewegung und durch Schnelligkeit. Wie die Kriegsspiele ergaben, durfte mit schweren russischen Verlusten in den Anfangsschlachten gerechnet werden, doch galt der Gegner danach noch keineswegs als geschlagen, vielmehr war er zur Errichtung weiterer Widerstandslinien imstande. Daß der Gegner starke Reserven heranführen würde, mußte erwartet werden; vor allem aber nahm man bei den Spielen an, daß der Gegner versuchen werde, Zeit zu gewinnen, um sich zu verstärken, namentlich vor Moskau. Für die deutsche Seite ging es deshalb darum, dem Gegner möglithst wenig Zeit zu gönnen, die eigenen Kräfte nicht zu verzetteln und in den weiten Räumen zu verstreuen, sondern sie straff zusammenzuhalten und sie entschlossen in der entscheidenden Richtung voranzutreiben. Wegen der großen Entfernungen und der Schwierigkeiten der Versorgung konnte der Feldzug ohnedies nicht an einem Stück durchgeführt werden. In einem
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ersten Takt sollten die gegnerische Front aufgerissen und dem Gegner starke Verluste beigebracht werden, doch war anschließend, etwa auf halbem Weg nach Moskau, eine kurze Pause einzulegen, um die Versorgung sicherzustellen und die Verbände aufzufrischen. Bei den Kriegsspielen bestand Einigkeit, nach Abschluß der ersten Feldzugsphase mit den anfangliehen Kesselschlachten gelte es, so bald wie möglich wieder anzutreten, vor allem in Richtung Moskau, weil jeder Tag den russischen Abwehrmaßnahmen zugute komme. Ähnlich wie beim Westfeldzug handelte es sich also um eine Operation, deren Erfolg mit der Schnelligkeit der Bewegung stand oder fiel, UQ.d zwar mit der Schnelligkeit der Bewegung an den entscheidenden Stellen. Wesentlich war, dem Gegner nicht die Zeit zur Mobilisierung und Entfaltung seiner Kräfte zu gönnen. Dem hatten sich auch die Operationen der beiden HeeresgrupJ?en an den Flügeln unterzuordnen. Bei den Planspielen wurde vorhergesehen, daß die Heeresgruppen in der Ukraine und im Baltikum Unterstützung von der mittleren Heeresgruppe anfordern würden, um mit dem jeweils gegenüberstehenden Feind leichter fertigzuwerden und Frontlücken zu schließen. Man entschied sich jedoch, solchen Störungen der operativen Hauptidee nicht nachzugeben, sondern alles auf das Ziel Moskau zu konzentrieren. Der Feind konnte nicht überall geschlagen werden, dafür war man nicht stark genug, er mußte vielmehr an der richtigen Stelle geschlagen werden. Deshalb sollten sich die beiden Heeresgruppen an den Flügeln darauf beschränken, die mittlere Heeresgruppe bei ihrem Vorstoß auf Moskau an den Flanken zu schützen. Die Eroberung Leningrads und der Ukraine wurde dem schnellen, geradlinigen Vorstoß auf Moskau nachgeordnet; war Moskau erst gefallen, so würde der Gegner auch Leningrad und die Ukraine nicht mehr halten können. Die Kriegsspiele waren so wirklichkeitsnah, daß Paulus an der Jahreswende 1941142 feststellen konnte, es sei alles genauso eingetroffen, wie auf Grund der Kriegsspiele vorausgesehen. 9 Das steht in auffälligem Widerspruch zu der verbreiteten Unterschätzungstheorie. Es wird sich daher empfehlen, einmal kurz zu prüfen, was es mit der angeblichen Unterschätzung auf sich hat. Soweit die von sowjetischer Seite vorliegenden Angaben einigermaßen zuverlässig sind, verfügte die Rote Armee Anfang 1941 über rund vier Millionen Mann und bei Kriegsbeginn, als die friedensmäßige Mobilisierung weiter vorangeschritten war, über rund fünf Mio. In den Wochen nach Kriegsausbruch wurden weitere fünf Mio. eingezogen, die jedoch nur notdürftig ausgerüstet werden konnten. Vor Kriegsbeginn umfaßte das sowjetische Heer rund 300 Divisionen oder divisionsähnliche Verbände, wovon Anfang 1941 rund 80 Divisionen erst in der Aufstellung begriffen waren. In den Jahren seit 1939 erfuhren die sowjetischen Streitkräfte nicht bloß eine starke Vermehrung, sondern auch eine lebhafte Umorganisation. An die Stelle von Kavalleriedivisionen und mechanisierten Brigaden traten zunehmend Panzerdivisionen und motorisierte Divisionen. Vermutlich wurden die einen in die anderen umgewandelt - ein Vorgang, der in 9 Haider am 3. 7. 1941 in seinem KTB 111, 38. Zu Paulus auch Schall-Riaucour, 131. Zu den Vorbereitungen von Paulus IMG, Bd 7, 284ff. Halder, KTB II, 103, 201, 205, 217 (17. 9., 29. ll., 3. 12., 7. 12. 1940). Görlitz, Paulus, l09ff., ll7ff., 112, 123,56.
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den deutschen Aufklärungsergebnissen verdeckt blieb, weil dort die älteren Bezeichnungen weiterverwendet wurden und das Auftreten von Panzerdivisionen nur zögerlich, von motorisierten Divisionen gar nicht vermerkt wurde. Für die angebliche Unterschätzung folgt daraus freilich wenig; die Masse des sowjetischen Heeres bestand ohnedies aus gewöhnlichen Schützen- bzw. Infanteriedivisionen, lediglich wo die deutsche Seite Kavalleriedivisionen und mechanisierte Brigaden annahm, handelte es sich nach sowjetischen Angaben häufig um motorisierte (mechanisierte) Divisionen und Panzerdivisionen. Die deutschen Bezeichnungen waren möglicherweise sogar genauer, da gemäß den sowjetischen Angaben die geplanten Panzerkorps, die aus Panzerdivisionen und motorisierten Divisionen bestehen sollten, zu einem erheblichen Teil noch nicht fertig aufgebaut und umgerüstet waren. Wie dem auch sei, die deutsche Aufklärung veranschlagte jedenfalls im Sommer 1940 die Gesamtzahl sowjetischer Verbände auf 221 Divisionen und Brigaden. Im Januar 1941 gab das OKH eine Dienstschrift über die Kriegswehrmacht der UdSSR heraus, in welcher es die Stärke der sowjetischen Truppen im Mobilmachungsfall auf 209 Schützendivisionen bezifferte sowie jeweils 30 bis 40 Kavalleriedivisionen und mechanisierte Brigaden. Zu diesen ungefähr 280 Verbänden kamen noch Heerestruppen und Sonderverbände wie Artilleriedivisionen und Fallschirmbrigaden, woraus sich eine Gesamtzahl der Verbände von rund 300 errechnete sowie eine Gesamtzahl des Kriegsheeres von über sechs Millionen Mann (einschließlich rückwärtige Dienste und Heimattruppen). Im ersten Halbjahr 1941 konnten diese Erkenntnisse weiter verbessert werden, als die Funkaufklärung sowie die Luftaufklärung, die von den Sowjets nicht behindert wurde, zusätzliche Ergebnisse erbrachten. Richtig gesehen wurden das Fortschreiten der russischen Mobilmachung und das Einberufen wehrfähiger Männer, das Aufschließen der Truppen an die Grenze, das Nachführen von Verstärkungen aus dem Landesinnern sowie die Kräfteverteilung beim Aufmarsch. Zur Zeit des deutschen Angriffs am 22. Juni 1941 bezifferte der Generalstab die Gesamtzahl sowjetischer Verbände auf 265 Divisionen und Brigaden, dazu eine Anzahl Sonderverbände. Im europäischen Rußland wurden 227 Verbände angenommen, vor der Front der Wehrmacht '177 Divisionen und Brigaden. Merkwürdigerweise hatte die zuständige Abteilung des Generalstabs (Fremde Heere Ost) Anfang April 1941 die Zahl sowjetischer Verbände im europäischen Rußland auf 247 veranschlagt, also 20mehr als im Juni. Was sich dahinter verbirgt, ist unklar; sofern die betreffende Abteilung nicht einfach Angaben der Japaner oder Finnen übernommen hatte, an denen sie später nicht festhielt, müßte man wohl annehmen, daß in der Zwischenzeit 20 sowjetische Divisionen aus Buropa wieder verschwunden seien oder daß die deutsche Aufklärung 20 Divisionen gewissermaßen verloren habe, was eher unwahrscheinlich ist. Allgemein läßt sich zunächst festhalten, daß die deutschen Aufklärungsergebnisse zuverlässig genug waren, um einen erfolgversprechenden Operationsplan darauf zu gründen. Bei einem Führervortrag am 3. Februar 1941 sprach Haider zwar da-
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von, daß die Feindnachrichten nicht erschöpfend und nicht zuverlässig seien. Aber das war einerseits wohl auf Hitler gemünzt, welcher die Nachrichtengewinnung, die in dem riesigen, nach außen abgeschotteten russischen Reich ohnedies schwierig genug war, nach dem Pakt mit Stalin zusätzlich erschwert hatte, indem er die Aufklärungstätigkeit innerhalb der sowjetischen Grenzen bis Ende 1940 verbot. Andererseits befanden sich die sowjetischen Streitkräfte zu jener Zeit, Anfang 1941, in einem Zustand tiefgreifender Umstrukturierung, indem allein an die 30 Panzerkorps und 80 Divisionen neu aufgestellt wurden. Solche Verschiebungen ließen sich naturgemäß nicht leicht erfassen, so daß es umso bemerkenswerter ist, wieviel die deutsche Aufklärung davon dennoch erfaßte. Sodann waren die sowjetischen Neuaufstellungen aus mehreren Gründen nicht übermäßig besorgniserregend. Erstens rechnete der deutsche Generalstab bei einer Mobilmachung der Roten Armee ohnedies mit rund 300 Divisionen und ähnlichen Verbänden. Die Wehrmacht mußte sich in jedem Fall auf eine derartige Zahl einstellen, gleichgültig, ob die Sowjetunion die Mobilisierung schon vor dem Krieg vollzog oder erst bei Kriegsausbruch. Tatsächlich soll, sowjetischen Angaben zufolge, auf Grund der friedensmäßigen Mobilmachung die Rote Armee bei Kriegsausbruch rund 300 Divisionen umfaßt haben, was jedoch die deutsche Seite nicht vor unerwartete Probleme gestellt haben kann. Zweitens waren die neuaufgestellten Verbände bei Kriegsbeginn offenbar noch nicht alle fertig. Das wird von sowjetischer Seite bestätigt und schlägt sich ebenso in den deutschen Aufklärungsergebnissen nieder, denn diese verzeichneten bei Feldzugsbeginn nicht 300 sowjetische Verbände insgesamt, sondern lediglich 265 oder, unter Einrechnung von Sonderverbänden, vielleicht 280. Drittens war das Neuaufstellen von Verbänden für die deutsche Seite in gewisser Weise sogar vorteilhaft. Da die sowjetische Führung ihre Truppen in den öfters erwähnten grenznahen Aufmarsch stopfte, darunter augenscheinlich auch neue und noch nicht voll einsatzbereite Divisionen, erhielt die Wehrmacht Gelegenheit, bei den anfänglichen Kesselschlachten gegnerische Verbände in großer Zahl zu zerschlagen, darunter auch neuaufgestellte, die dann der sowjetischen Verteidigung im Hinterland fehlten. Die sowjetischen Neuaufstellungen vor Kriegsbeginn haben deshalb das OKH mit Recht nicht sonderlich beunruhigt. Bei dem besagten Führervortrag am 3. Februar 1941 veranschlagte Haider die sowjetischen Kräfte vor der deutschen Front auf 100 Infanterie- und 25 Kavalleriedivisionen sowie 30 mechanisierte Brigaden, also zusammen 155. Das dürfte die Wirklichkeit gut getroffen haben, da sowjetische Angaben ebenfalls um die 150 Divisionen nennen. Bis Feldzugsbeginn schob die Rote Armee Verstärkungen nach, so daß vor der deutschen Front 170 Divisionen gestanden sein sollen, während die deutsche Aufklärung 177 Verbände zählte. Man sieht nicht, wo da die Unterschätzung sein könnte. Das OKH hat die Zahl sowjetischer Verbände mit Sicherheit nicht unterschätzt, und die Verstärkung des sowjetischen Aufmarsches an der Grenze durfte das OKH schon vollends kalt lassen, weil dies den deutschen Absichten in die Hände arbeitete. Allenfalls ließe sich darauf verweisen, daß Haider am 3. Februar die Zahl der sowjetischen Panzer auf rund 10 000 bezifferte,
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womit er lediglich die Panzer vor der deutschen Front meinte. Die sowjetischen Kampfwagen hielt der Generalstabschef überwiegend für geringwertig; immerhin, so meinte er, seien Überraschungen nicht ausgeschlossen. In Wahrheit sollen die russischen Truppen vor der deutschen Front 14 000 bis 15 000 Panzer besessen haben, darunter in kleiner Stückzahl sehr leistungsfähige Typen. Ähnlich verhielt es sich bei der Luftwaffe, wo man die Zahl sowjetischer Frontflugzeuge, die der Wehrmacht gegenüberstanden, auf knapp 6 000 veranschlagte, während es in Wahrheit knapp 9 000 gewesen sein sollen. Trotzdem lassen sich daraus keine weitreichenden Schlüsse ziehen. Allein nach den Zahlen der Waffen und Geräte waren die sowjetischen Streitkräfte den deutschen sowieso haushoch überlegen; ob sie nun bei Panzern um das Dreifache oder eher das Vierfache, bei Flugzeugen um das Zweifache oder eher das Dreifache überlegen waren, spielte wirklich keine große Rolle. Wie immer beim Kriegführen waren vielmehr andere Dinge entscheidend: die Qualität des Materials und die Fähigkeit der Soldaten, damit umzugehen; die Organisation, Ausbildung und Erfahrung der Truppe; das Können, die Wendigkeit und Kühnheit der Führung. In all diesen Dingen wußte sich die Wehrmacht der Roten Armee überlegen, und mit eben diesen Eigenschaften sollte der Feldzug gewonnen werden. Es wurde erwartet, daß der russische Soldat in der Verteidigung tapfer, zäh und erfindungsreich kämpfen würde, aber es wurde ebenso erwartet, daß die Rote Armee zu einem weiträumigen Bewegungskrieg, der selbständiges Denken und Handeln erforderte, nicht imstande sei. Das vorhandene, sehr zahlreiche Material war großenteils von geringer Qualität und wegen technischer Mängel oftmals nicht verwendbar oder ganz nutzlos; die Ausbildung der Truppe war unzureichend, die Führung schwerfällig, schematisch und verantwortungsscheu, unter der Generalität waren viele der besten Köpfe den Säuberungen Stalins zum Opfer gefallen. Die Erwartungen Halders und des OKH bestätigten sich später auf dem Gefechtsfeld. Eine allgemeine Feindbeurteilung aus dem Generalstab vom 25. Juli 1941 stellte fest, der Gegner sei in Stärke der Panzereinheiten stärker als erwartet (Halder hatte Überraschungen nicht ausgeschlossen). Die Zähigkeit des Widerstands sei besonders groß, die offensive Führung des Gegners im Süden gut, in der Mitte und im Norden schlecht, die taktische Führung und Ausbildung der Truppe mäßig. Halders Feldzugsplan wurde durch solche Erfahrungen nicht gefährdet. 10 Das eigentliche Problem der vermeintlichen Unterschätzung findet sich an ganz anderer Stelle. Einerseits lag es auf der Hand, daß das russische Heer in Stärke von 10 Die Unterschätzungstheorie bei Hillgruber, Zerstörung, 256ff. Seaton. Reinhardt, Wende. Wilhelm, in Wilhelm/de Jong. Zur Stärke der sowjetischen Streitkräfte und zur deutschen Aufklärung MGFA, Weltkrieg IV, 56 ff. (Beitrag Hoffmann); 191 ff., 272 ff. (Beitrag Klink); 286 ff. (Beitrag Boog). Gosztony, 173 ff. Nekritsch/Grigorenko. Schukow. Halder, KTB II, 266ff. (2. 2. 1941, zum Führervortrag vom 3. 2. 1941), 288ff., 295, 345, 461 (22.2. und 27. 2. 1941 über sowjetische Luftwaffe, 4.4. und 21. 6. 1941 über Zahl der sowjetischen Divisionen). KTB OKW Ul, 297 f. (3. 2. 1941). Die Feindbeurteilung vom 25. 7. 1941 in Haider, KTB III, 112.
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300 Divisionen nicht auf einen Schlag ausgeschaltet werden konnte. Wenn vor der deutschen Front 170 Divisionen standen, so blieben immer noch an die 130. Rechnet man davon ganz grob und überschlägig 50 ab, die an sonstigen Fronten gebunden waren, so verfügte die Rote Armee über Reserven in Stärke von 80 Divisionen. Da die Wehrmacht die 170 Divisionen vor ihrer Front sicher nicht im ersten Ansturm zerschlagen würde, vermochte die Sowjetunion die Verteidigung in der Tiefe des Raumes mit über 100 Divisionen fortzusetzen. Andererseits besaß die Sowjetunion bei einer Bevölkerung von 170 Millionen ein Potential wehrfähiger Männer in Stärke von 10 bis 20 Millionen. Wenn es der sowjetischen Führung gelang, über ihre bei Kriegsbeginn vorhandenen Streitkräfte hinaus diese Reserven zu mobilisieren, auszubilden und auszurüsten, dann besaß die Wehrmacht wenig Aussichten, den Krieg im Osten zu gewinnen. Haider und das OKH wußten das; deshalb wußten sie auch, daß der Feldzug gegen Rußland in einer ganz bestimmten Weise geführt werden mußte. Das strategische Ziel, die Besetzung des europäischen Rußland vorwärts der Wolga, sollte teils die spätere Abwehr an Stromhindernissen ermöglichen, vor allem aber die Ballungsräume der Bevölkerung und die wichtigsten Industriegebiete in deutsche Hand geben - nicht um sie auszubeuten, da ihr Nutzen für Deutschland sowieso gering sein würde (tatsächlich lieferte das besetzte Rußland während des Krieges nur ein Siebtel dessen, was das Reich aus Frankreich herauszog), sondern um der Sowjetunion die Angriffsfähigkeit zu nehmen. Das OKH und ähnlich das Wehrwirtschaftsamt tappten hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungskraft der Sowjetunion nicht etwa im Dunkeln, sie waren vielmehr mit der russischen Wirtschaftsgeographie gut vertraut. Ende 1940 hielt Haider fest, die russische Rüstungsindustrie liege zu 32 % in der Ukraine, zu 28 % (besonders Luftfahrtindustrie) in der Gegend Moskau-Gorki, zu 16 % in der Gegend Leningrad, der Rest im Ural und Femen Osten. Genauere Zahlen sind bis heute nicht bekannt geworden. Als sich der amerikanische Sonderbevollmächtigte Hopkins Ende Juli 1941 bei Stalin aufhielt, teilte dieser mit, etwa 75 %der sowjetischen Rüstungsindustrie befänden sich in der Ukraine, um Moskau und Leningrad. Von den weiter östlich gelegenen Landesteilen weiß man, daß sie vor Kriegsbeginn nicht mehr als rund ein Viertel der sowjetischen Industriekapazität beherbergten. Gemäß der Planung des OKH stellte es ein vorrangiges Ziel des Feldzugs dar, dem Gegner die besagten Produktionsstätten des europäischen Rußland aus der Hand zu nehmen und ihn so zu hindern, wie Haider während des Feldzugs einmal schrieb, "aus der gewaltigen Leistung seiner Industrie und aus den unerschöpflichen Menschen-Reserven wieder eine neue Wehrmacht aufzustellen". Von daher ergab sich die Anlage der Operation. Um das europäische Rußland vorwärts der Wolga zu besetzen, mußten die sowjetischen Streitkräfte schwer geschlagen werden; um die Mobilisierung der sowjetischen Reserven zu unterlaufen, mußte die Rote Armee schnell geschlagen werden. Das ließ sich mit einiger Sicherheit nur in der Richtung auf Moskau bewerkstelligen. Was die deutsche Seite unter allen Umständen vermeiden mußte, war das Vertändeln von Zeit, und sie
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würde mit Sicherheit Zeit vertändeln, wenn sie ihre Kräfte bei unfruchtbaren Nebenoperationen in der Weite des Raumes verzettelte. Denn die sowjetische Seite würde dann Zeit gewinnen, um Reserven heranzuführen oder zu mobilisieren: teils Reserven aus anderen Gegenden der Sowjetunion, teils Reserven aus dem Bestand der Wehrfähigen, die ausgebildet, ausgerüstet und in den Kampf geworfen werden konnten. Die Wehrmacht durfte gegen die Rote Armee keinen langwierigen Verschleißkrieg führen, denn falls die Sowjetunion über die bei Kriegsbeginn vorhandenen fünf Millionen Mann und 300 Divisionen hinaus noch weitere fünf bis zehn Millionen Mann bereitstellte, wenn sie es vermochte, daraus zusätzlich hunderte schlagkräftiger Divisionen zu bilden, dann würde die Wehrmacht ihre Ziele nicht erreichen. 11 Halders Plan eines schnellen Vorstoßes nach Moskau war deshalb nicht eine von verschiedenen Möglichkeiten, sondern es war die einzige Möglichkeit, den Feldzug zu gewinnen. Dabei mußte, wie geplant, zunächst die grenznahe russische Verteidigung zerschlagen werden, um die Rote Armee zu schwächen und die Voraussetzungen zu schaffen für den zweiten Takt des Feldzugs, den entscheidenden Angriff auf Moskau. Zwischen diesen beiden Abschnitten des Feldzugs war eine Pause einzulegen. Zeitliche Verzögerungen von wenigen Wochen konnte man sich leisten, mehr aber auch nicht, da ja der ganze Feldzug nur einige Monate dauern sollte. Was die angebliche Unterschätzung betrifft, so liegt das wirkliche Problem ausschließlich in der Frage des Zeitfaktors oder, was auf dasselbe hinauskommt, in der Frage des Kräfteansatzes Richtung Moskau. Dieses zentrale Problem hat Hitler wieder einmal nicht kapiert; er wollte die deutschen Kräfte in der Weite des Raumes verzetteln, vom geraden Weg nach Moskau abweichen, und gab damit dem Gegner genau das, was er brauchte, nämlich Zeit. Umgekehrt war die deutsche Seite auf eine schnelle Entscheidung schon deswegen angewiesen, weil sie nicht genug Treibstoff für einen langen Feldzug besaß. Häufig wird angenommen, das Scheitern des Rußlandfeldzugs hänge mit dessen verspätetem Beginn zusammen. Hätte der deutsche Angriff, so heißt es, nicht erst am 22. Juni, sondern bereits im Mai begonnen, so hätte man noch vor dem Herbstschlamm und vor dem Wintereinbruch Moskau erreicht. Als Gründe für die Verzögerung werden meistens der Balkanfeldzug, gelegentlich auch die Wetterlage im Frühjahr 1941 genannt, denn große Überschwemmungen im Operationsgebiet sollen einen frühzeitigen Feldzugsbeginn verhindert haben. Der Gedankengang ist insofern stimmig, als die Wehrmacht bei einem frühen Feldzugsbeginn im Mai gewissermaßen mehr zeitliche Reserven besessen hätte, da bis zum Oktober, wo die Wetterlage alle Bewegungen erschwerte, immerhin fünf Monate zur Verfügung gestanden wären. Der Gedankengang ist jedoch insofern falsch, als die deutsche Sei11 Die wirtschaftliche Leistung des besetzten Rußland nach Dallin, 380 f., 420. Die geographische Verteilung der sowjetischen Industrie nach Halder, KTB II, 236 (17. 12. 1940). Thomas, Wehrwirtschaft, 515 ff. (13. 2. 1941). Sherwood, Hopkins, 337 f. FRUS, 1941, I, 805ft'. (31. 7. 1941). Segbers, 36. Haider über Wegnahme russischer Produktionsstätten in seinem KTB III, 38 f. (3. 7. 1941).
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te wohlberaten war, sich bis zum Erreichen Moskaus nicht fünf Monate Zeit zu lassen. Haider nahm, aus den erwähnten Gründen, ein viel früheres Erreichen Moskaus in Aussicht; die zeitliche Reserve diente dann einerseits dazu, durch einen Stoß von Moskau nach Süden die Ukraine zu erobern, und andererseits dazu, das restliche Gebiet bis zur Wolga in die Hand zu nehmen, was hauptsächlich wohl durch schnelle Truppen und gegebenenfalls mit Hilfe der Luftwaffe geschehen mußte. Der ausschlaggebende Grund für die Verzögerung des Angriffsbeginns ist nun offenbar der Balkanfeldzug. Man sieht ja auch leicht, daß die Überschwemmungen belanglos gewesen sein müssen, wenn wegen des Balkanfeldzugs der Angriff im Osten sowieso erst im Juni stattfinden konnte. Während Hitler ursprünglich den Mai für den Beginn des Ostkriegs vorgesehen hatte, allerdings ohne genauen Termin, befahl er am 27. März 1941, als er wegen des Staatsstreichs in Jugoslawien die Ausweitung des Balkanfeldzugs anordnete, eine Verschiebung des Ostangriffs um rund vier Wochen. Ob sich daraus schon der Termin für den Ostangriff am 22. Juni ergab, ist ungewiß. Anscheinend legte Haider erst nach der Besetzung Jugoslawiens und Griechenlands Ende April den Fahrplan für die letzten Aufmarschstaffeln gegen Rußland fest. Wahrscheinlich verband sich damit das Festlegen des Angriffsterrnins. Ein früherer Beginn wäre wohl auch dann nicht möglich gewesen, wenn das OKH seine Truppen schneller vom Balkan zurückgebracht hätte, weil die Kräfte der Luftwaffe, die bis Anfang Juni bei der Eroberung Kretas gebunden waren, anschließend in den Osten verlegt werden mußten, was unter Halders sorgenvollen Blicken gerade noch rechtzeitig bis zum 22. Juni geschah. Ansonsten haben anscheinend Haider und das OKH die Verzögerung des Angriffsbeginns für erträglich gehalten - nicht weil sie Rußland sträflich unterschätzten, sondern weil für einen langen Feldzug gar nicht genügend Treibstoff da war. Daraus folgte erst recht, daß man sich auf den schnellen und entscheidenden Stoß nach Moskau konzentrieren mußte und daß man nicht den kostbaren Treibstoff bei überflüssigen Nebenoperationen in der Weite des russischen Raumes aufbrauchen durfte. Haider verfolgte im ersten Halbjahr 1941 fortwährend die Treibstofflage, wobei sich die Verhältnisse im Laufe der Zeit nicht ganz so düster darstellten, wie es ursprünglich schien. Im März kam Haider zu dem Ergebnis, der Treibstoff reiche bei einer Großoffensive für etwa drei Monate. Kurz vor Feldzugsbeginn, am 13. Juni, versicherte ihm General Thomas, der Treibstoff sei im Herbst zu Ende; Flugbenzin sei dann nur noch zur Hälfte des Bedarfs, Vergaserkraftstoff zu einem Viertel und Dieselkraftstoff zur Hälfte des Bedarfs vorhanden. Man sieht, daß die Wehnnacht gut daran tat, ihre Hauptziele bis zum Herbst, d. h. etwa bis zum Oktober, zu erreichen; danach würde sie schon aus Treibstoffmangel nicht mehr viel ausrichten. 12 12
Zur Verzögerung des Angriffs im Osten Hillgruber, Strategie, 504 ff. MGFA, Weltkrieg
ill, 483 (Beitrag Vogel). Philippi/Heim, 49. Halder, KTB li, 50, 214, 332, 387, 408, 427, 433. Haider über Treibstofflage in seinem KTB li, 256, 311 f., 422, 454.
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III. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941
Halders Plan für den Ostfeldzug stand seit 1940 fest, derjenige Hitlers auch, und seit Ende 1940 war Hitler fortwährend damit beschäftigt, Halders Plan zu zerstören. Als Halder, zusammen mit Brauchitsch, am 5. Dezember 1940 dem Diktator über die Ostoperation Vortrag hielt, kramte Hitler sofort wieder einen Gedanken heraus, den er anscheinend bereits im Juli 1940 geäußert hatte. Er wollte die auf Moskau anzusetzende Heeresgruppe so stark machen, daß sie mit erheblichen Teilen nach Norden einschwenken könne, um die im Baltikum stehenden feindlichen Kräfte einzukesseln. Gemeint war damit von neuem die riesige Zange mit den beiden Armen im Baltikum und in der Ukraine, die später hinter Moskau an der Wolga zu schließen war. Diese Absicht beruhte offenkundig allein auf Hitlers Eingebungen; jedenfalls läßt sich jeglicher Einfluß des OKW in dieser Hinsicht ausschließen. Im Anschluß an die Besprechung vom 5. Dezember hatte das OKW verschiedene Weisungen auszuarbeiten, darunter auch eine für den Ostfeldzug. Wie diese Weisung zustande kam, ist in den Einzelheiten nicht erkennbar; das OKW scheint sich aber anfangs an den Plan Halders gehalten zu haben, denn das Einschwenken von Teilen der mittleren (Moskauer) Heeresgruppe nach Norden war in dem Entwurf des OKW nicht enthalten. Die Endfassung der Weisung spiegelte dann Hitlers Gedanken wider, die von Jodl in die entsprechende militärische Ausdruckweise übersetzt wurden. Es muß deshalb mit Nachdruck festgehalten werden, daß sich aus der Weisung keine Schlüsse auf die Feldzugsplanung des OKH ziehen lassen, sondern in der Weisung ist nichts anderes enthalten als die wirre Vorstellungswelt des Diktators. Damit wiederholten sich die Vorgänge aus der Zeit des Frankreichfeldzugs; auch damals hatte Hitler allerlei unsinnige Weisungen erlassen, die jedoch großenteils folgenlos geblieben waren, sonst hätte man den Krieg schon damals verloren. Hitlers Weisung vom 18. Dezember 1940 setzte für den Rußlandfeldzug den Decknamen "Barbarossa" fest, vermutlich weil der Diktator damit auf den Kreuzzugsgedanken anspielen wollte (bei den vorangegangenen Planungen waren die Decknamen "Fritz" und "Otto" verwendet worden). Eine eindeutige Angriffsabsicht ließ sich aus der Weisung nicht entnehmen, vielmehr mußten die Vorbereitungen dahin abgestimmt werden, daß es sich um Vorsichtsmaßnahmen handelte für den Fall, daß Rußland seine bisherige Haltung gegenüber Deutschland änderte. Außerdem hieß es, die Durchführung liege zeitlich noch gar nicht fest. Als allgemeine Absicht wurde genannt, die Sowjetunion, sofern der Fall Barbarossa eintrat, in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen, was ziemlich ungenau ausgedrückt war, da "niederwerfen" im allgemeinen bedeutet, einen Gegner so zu schlagen, daß er zum Einstellen des Widerstands gezwungen ist. Das entsprach zwar Hitlers Vorstellung, der sowjetische Staat werde zusammenbrechen, doch gab es dafür keine Gewähr, denn gemäß der Weisung bestand das Endziel der Operation lediglich in der Abschirmung gegen das asiatische Rußland aus der Linie Wolga - Archangelsk. Gemeint war damit freilich nicht die Linie Archangelsk - mittlere Wolga- unterer Don (Rostow), sondern die Linie Archangelsk- Astrachan am Kaspischen Meer, so daß zusätzlich das Kaukasusgebiet besetzt werden mußte. Um
I. Die Vorbereitung
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diese Linie zu erreichen, sollte die im westlichen Rußland stehende Masse des russischen Heeres in kühnen Operationen unter weitem Vortreiben von Panzerkeilen vernichtet, der Abzug kampfkräftiger Teile in die Weite des russischen Raumes verhindert werden. Die Formulierung war unverfänglich, denn das westliche Rußland ist ein weites Gebiet. Im Sinne Halders hätte dies auch so ausgelegt werden können, daß die Rote Armee teils in ihren Verteidigungsstellungen hinter der Grenze, teils auf dem Weg nach Moskau und teils in einer Umfassungsoperation von Moskau nach Süden zerschlagen werden sollte. In Wahrheit freilich enthielt die Weisung einen Sprengsatz, indem sie eine ganz andere Operation in Aussicht nahm. Der Schwerpunkt sollte, wie beim OKH, nördlich der Pripjet-Sümpfe liegen, doch sollte die mittlere Heeresgruppe, nachdem sie feindliche Kräfte in Weißrußland zersprengt hatte, starke Teile ihrer schnellen Truppen nach Norden eindrehen, um die feindlichen Kräfte im Baltikum zu vernichten. Erst nach dem Erreichen Leningrads war der Angriff auf Moskau fortzusetzen. Nur ein überraschend schnell eintretender Zusammenbruch der russischen Widerstandskraft sollte es rechtfertigen, beide Ziele zugleich anzustreben. Südlich der Sümpfe war die vollständige Vernichtung der in der Ukraine stehenden russischen Kräfte noch westlich des Dnjepr anzustreben. Mit der Vernichtung der Kräfte im Baltikum und in der Ukraine sah Hitler offenbar die Hauptschwierigkeiten als gelöst an; denn anschließend sollten im Rahmen der Verfolgung, d. h. ohne entscheidende Kämpfe, sowohl das Industriegebiet des Donez-Beckens als auch Moskau eingenommen werden. Man sieht nun leicht, daß hier noch eine Unstimmigkeit vorlag, denn von der mittleren Heeresgruppe waren starke Teile der schnellen Truppen nach Norden einzudrehen, aber was sollte mit dem Rest geschehen? Als Jodl mit dem Diktator über die Weisung verhandelte, brachte Hitler verschiedene Wünsche vor, so meinte er, die nach Norden abzudrehenden Kräfte müßten in der Flanke geschützt werden, was gegebenenfalls durch gepanzerte Kräfte zu geschehen habe. Möglicherweise wollte Hitler den Flankenschutz der nordwärts stoßenden Truppen durch den Rest der schnellen Verbände besorgen lassen (daß die Panzerkräfte der mittleren Heeresgruppe zweckmäßigerweise den Gegner vor Moskau direkt schlugen, statt seine Flankenangriffe abzuwehren, scheint Hitler nicht gesehen zu haben). Wahrscheinlicher ist indes eine andere Deutung. Während des Feldzugs, im August 1941, erklärte Hitler unumwunden, er habe den Schwerpunkt in der Mitte der Front nicht bilden lassen, weil er dort die entscheidende Zielsetzung des Feldzugs angenommen habe (Moskau), sondern weil er entschlossen war, dort die feindliche Front aufzubrechen sowie anschließend sie nach Norden und nach Süden(!) aufzurollen. Es habe kein Zweifel bestanden, daß die mittlere Heeresgruppe nach Erreichen der ersten Ziele anzuhalten war, um ihre schnellen Truppen (zwei Panzerarmeen) sowohl nach Norden als auch nach Süden zu entlassen mit der Aufgabe, im Baltikum wie in der Ukraine zur Vernichtung des Gegners beizutragen. Das war es also, was sich wirklich hinter Hitlers Barbarossa-Weisung verbarg: Der Schwerpunkt in der Mitte der deutschen Front sollte gar nicht dem geraden
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Ill. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941
Vorstoß auf Moskau dienen, sondern seine gepanzerten Kräfte sollten gewissermaßen nach außen abgeklappt werden, nach Norden und Süden, damit der Gegner auf den Flügeln, im Baltikum und in der Ukraine, vernichtend geschlagen sowie anschließend die große Zange gebildet werden konnte, welche im Süden über die Ukraine und im Norden über Moskau an der Wolga zuschnappte. Warum das in der Weisung nur versteckt angedeutet, nicht aber offen ausgesprochen wurde, läßt sich lediglich vermuten. Vielleicht hat Jodl, der sich während des Feldzugs selbst für den Vorstoß auf Moskau aussprach, den ärgsten Unfug verhindert, vielleicht wollte Hitler sich noch nicht völlig festlegen, vielleicht glaubte der Diktator, es genüge, wenn er erst während des Feldzugs seine Absichten in die Tat umsetze jedenfalls entstand eine Weisung, die mit dem Willen der verantwortlichen Fachleute nichts zu tun hatte, die jeder Vernunft hohnsprach und die, soweit sie einen Feldzugsplan enthielt, diesen nur teilweise offenlegte. 13 Das OKH verzichtete auf fruchtlose Auseinandersetzungen mit dem Diktator und tat, was es schon beim Frankreichfeldzug getan hatte: Es arbeitete eine Aufmarschanweisung gemäß Hitlers Auftrag aus. Als wahrscheinliches Verhalten des Gegners wurde erwartet, daß er mindestens mit starken Teilen den Kampf westlich der Flüsse Düna und Dnjepr annahm. Die erste Absicht des OKH bestand darin, die russische Front aufzureißen und die voneinander getrennten Feindgruppen zu vernichten, wozu starke schnelle Verbände (Panzerkeile) rasch und tief vorstoßen sollten. Wenn davon die Rede war, den Gegner westlich der Düna-Dnjepr-Linie zu vernichten, so hieß das selbstverständlich nicht, daß die gesamte Streitmacht des Gegners vorwärts dieser Linie zerschlagen werden könne. Vielmehr sollte der Gegner, ähnlich wie beim Sichelschnitt in Frankreich, durch die ersten Schlachten so geschwächt werden, daß er für den Endkampf, der erst danach stattfinden würde, nicht mehr stark genug war. Die Grenzschlachten sollten lediglich eine Vorentscheidung bringen; erst in den folgenden Abschnitten des Feldzugs würde sich dessen schließliebes Ergebnis herausbilden. Für diese späteren Teile des Feldzugs suchte sich das OKH die Entscheidungsfreiheit so weit wie möglich zu wahren. Südlich der Pripjet-Sümpfe sollte die Heeresgruppe Süd unter Feldmarschall Rundstedt, die mit einer Panzergruppe und zwei Armeen aus dem südlichen Polen, mit einer abgesetzten Armee aus Rumänien anzugreifen hatte, die feindlichen Kräfte in der Westukraine vernichten, die Dnjepr-Übergänge bei und südlich Kiew in die Hand nehmen und damit die Bewegungsfreiheit sicherstellen, um entweder (was das OKH anstrebte) mit den deutschen Kräften im nördlichen Rußland zusammenzuwirken oder (was Hitler wollte) neue Aufgaben im südlichen Rußland wahrzunehmen, d. h. das Donez-Becken zu besetzen. Nördlich der Sümpfe sollte die Heeresgruppe Mitte unter Feldmarschall Bock, die mit zwei Panzergruppen und zwei Armeen aus dem nördlichen Polen anzugreifen hatte, auf Smolensk vorstoßen, und zwar mit den Panzergruppen auf den Flügeln, um den Gegner einzu13 Die Barbarossa-Weisung in Hubatsch, Weisungen, 96ff. Zur Entstehung KTB OKW II 1, 209ff., 233; 112,981 f., 996. Warlimont I, 152ff. Hitlers Auslassungen vom 22. 8. 1941 in KTB OKW 112, 1063 ff.
1. Die Vorbereitung
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kesseln. Die Heeresgruppe Nord unter Feldmarschall Leeb, die mit einer Panzergruppe und zwei Armeen aus Ostpreußen anzugreifen hatte, sollte die im Baltikum kämpfenden Feindkräfte vernichten und Leningrad besetzen. Das OKH konnte nicht umhin, das Eindrehen schneller Truppen von der Heeresgruppe Mitte nach Norden, wie Hitler es in der Barbarossa-Weisung verlangt hatte, in seine Aufmarschanweisung einzufügen. Aber anscheinend versuchte Halder, es ganz anders auszudeuten. Bei einem Führervortrag am 3. Februar 1941 legte er dar, die Heeresgruppen Nord und Mitte hätten den Auftrag, mit in drei Gruppen zusammengefaSten Panzerkräften in nordostwärtiger Richtung über die Düna vorzustoßen. Die nördlichste Panzergruppe sei auf den Peipus-See angesetzt, um von dort aus im Zusammenwirken mit den beiden anderen, gegen Smolensk angesetzten Panzergruppen weiter nach Osten vorzugehen. Demnach hätte Haider die Absichten Hitlers geradezu umgekehrt: Soweit schnelle Kräfte der Heeresgruppe Mitte nach Norden schwenkten, sollten sie nicht etwa in Richtung Leningrad vorgehen, sondern sie sollten allenfalls bei ihrem ostwärtigen Stoß auf Moskau nach Norden ausholen. Dabei sollten sie mit der Panzergruppe der Heeresgruppe Nord in der Weise zusammenwirken, daß auch diese in ostwärtiger Richtung vorging und damit, wie es bei den Kriegsspielen eingeplant worden war, die linke Flanke der Heeresgruppe Mitte deckte. Leningrad wäre dann im Südosten weiträumig umfaßt und von seinen Verkehrsverbindungen nach Innerrußland abgeschnitten worden. Überhaupt dürften Haider und Brauchitsch bei dem Führervortrag vom 3. Februar versucht haben, dem Diktator seine haltlosen Eingebungen auszureden. Sie verwiesen auf die großen Menschenreserven der Sowjetunion sowie die nicht genau bekannte Rüstungsstärke, die es verboten, sich auf zeitraubende Unternehmungen in den russischen Weiten einzulassen. Haider sprach von der Möglichkeit, westlich der Dnjepr-Düna-Linie viel zu zerschlagen, was freilich noch lange nicht hieß, daß die Rote Armee in den Anfangsschlachten weitgehend aufgerieben werden könne. Außerdem warnte der Generalstabschef, die Heeresgruppe Süd, die einen sehr starken Feind vor sich habe, werde vielleicht langsamer vorankommen. All dies focht indes Hitler nicht an. Er meinte wiederum, vernichtende Anfangserfolge würden die bolschewistische Herrschaft zusammenbrechen lassen, die Eroberung des Baltikums sei vorrangig und die Entscheidung müsse auf den Flügeln gesucht werden, während man in der Mitte verhalte. Im März 1941 griff Hitler sodann in den Aufmarsch ein. Haider hatte bei der Heeresgruppe Süd eine beidseitige Umfassung vorgesehen, bei welcher auch die aus Rumänien angreifende Armee mit Panzerkräften ausgestattet war. Nunmehr jedoch sollte eine einarmige Umfassung angestrebt werden, indem alle schnellen Truppen am Nordflügel der Heeresgruppe Süd angesetzt wurden, während die Armee in Rumänien den Gegner nur zu fesseln hatte. Was Hitler damit bezweckte, ist undurchsichtig; tatsächlich führte die Maßnahme wohl dazu, daß die Heeresgruppe Süd später in Zeitverzug geriet. Ferner sollte nach Hitlers Willen am Angriff auf Rußland außer Rumänien nur noch Finnland teilnehmen (wozu beide Länder bereit waren, da sie ihre an die Sowjetunion
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III. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941
verlorenen Gebiete zurückgewinnen wollten). Operationen deutscher Truppen wurden in Nordfinnland geplant, was sicher insofern zweckmäßig war, als die finnischen Nickelgruben von Petsamo nahe der nordnorwegischen Grenze gesichert, die sowjetischen Truppen im äußersten Norden gebunden und die betreffenden russischen Gebiete im Laufe des Feldzugs besetzt werden mußten. Haider sah ursprünglich die Bereitstellung mehrerer Divisionen in Lappland vor, die entweder, nach der Besetzung von Petsamo, auf den Hafen Murmansk oder weiter südlich auf die dorthin führende Bahn vorgehen sollten. Dagegen entschied Hitler im März 1941, beide Angriffe zugleich durchzuführen, allerdings beide mit unzureichenden Kräften. Haider sah den Mißerfolg voraus; er sprach davon, daß es sich nicht um eine Operation, sondern eine Expedition handle und daß es um die eingesetzten Kräfte schade sei. Wohl aus diesem Grund überließ das OKH den finnischen Kriegsschauplatz dem OKW, welches jedoch, gebunden an Hitlers Vorgaben, keine zweckmäßige Abstimmung der Operationen zuwege brachte. Jodl zweifelte von vomherein am Erfolg der Landangriffe, und die an sich naheliegende Lösung, den Angriff auf Murmansk zusammen mit der Marine in Form amphibischer Unternehmungen durchzuführen, kam nicht zustande. Immerhin brauchte man dem finnischen Nebenkriegsschauplatz so lange keine übertriebene Beachtung zu schenken, wie der Feldzug im Innem Rußlands befriedigend verlief. Denn wenn es gelang, das Gebiet nördlich Moskau in die Hand zu nehmen, darunter etwa den Eisenbahnknotenpunkt Wologda, dann würde der äußerste Norden Rußlands abgeschnitten sein und sich nicht auf die Dauer halten können. 14 Vom Kräfteverhältnis her durfte die deutsche Seite beim Unternehmen Barbarossa einen Sieg erwarten, sofern der Feldzug operativ richtig geführt wurde. Den insgesamt rund 170 sowjetischen Divisionen mit knapp drei Millionen Mann vor der deutschen Front stellte das OKH rund 150 Divisionen mit etwa drei Millionen Mann entgegen. Der Ausrüstungsstand entsprach ungefähr demjenigen beim Westfeldzug; er war jedoch vereinheitlicht und in Einzelheiten verbessert worden, so bei Granatwerfern und Nebelwerfern, einem Salvengeschütz. Die Kraftfahrzeuglage war nicht günstig, aber immer noch besser als vor dem Westfeldzug, da eine Anzahl von Verbänden mit Beutematerial ausgestattet werden konnte. Die verbesserte Ausstattung, dazu Ausbildung und Kampferfahrung hoben insgesamt den Gefechtswert der Truppe. Waren vor dem Frankreichfeldzug nur 77 Divisionen einsatzfähig für alle Aufgaben gewesen, so waren es jetzt 129. An schnellen Verbänden standen 19 Panzer- und 10 motorisierte Divisionen des Heeres zur Verfügung, dazu vier motorisierte Divisionen der Waffen-SS und einige andere Verbände wie die einzige Kavalleriedivision des Heeres. Die Panzerdivisionen waren umorgani14 Die Aufmarschanweisung des OKH in der Endfassung vom Juni 1941 bei Halder, KTB II, 464ff. Zum Führervortrag am 3. 2. 1941 KTB OKW VI, 297ff.; V2, 1000. IMG, Bd 20, 630ff. (Brauchitsch, 9. 8. 1946). Halder, Hitler, 22f. Halder, KTB II, 266ff. Zu Hitlers Eingriffen im März 1941 KTB OKW VI, 349f. (8. 3. 1941), 360ff. (18. 3. 1941). Halder, KTB II, 318ff. (17. 3. 1941), 411 (14. 5. 1941). MGFA, Weltkrieg IV, 242ff. (Beitrag Klink); 378 ff., 391 (Beitrag Ueberschär).
1. Die Vorbereitung
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siert worden; sie besaßen jetzt weniger Kampfpanzer und mehr motorisierte Schützen, was indes ihre Kampfkraft nicht wesentlich beeinträchtigte. Insgesamt waren beim Ostheer etwa 3 500 Panzer vorhanden, dazu etliche hundert Sturmgeschütze, eine Art Infanteriepanzer mit starrem Geschütz ohne Drehturm. Die schnellen Verbände wurden zusammengefaßt in den Panzergruppen 1 (General Kleist) bei Heeresgruppe Süd, 2 und 3 (General Guderian und General Hoth) bei Heeresgruppe Mitte sowie 4 (General Hoepner) bei Heeresgruppe Nord. Die drei Heeresgruppen wurden unterstützt von drei Luftflotten mit insgesamt über 3 000 Bombern, Jägern und Aufklärern, davon 2 500 einsatzbereiten. Zu diesen deutschen Truppen traten noch diejenigen der Verbündeten, anfangs nur Finnen und Rumänen, nach Feldzugsbeginn auch Expeditionskorps der Italiener, Ungarn, Slowaken sowie eine spanische Division, zusammen über eine halbe Million Mann, wovon jedoch nur die Finnen eine nennenswerte Verstärkung bildeten, während die anderen lediglich für leichte Aufgaben eingesetzt werden konnten. Immerhin kamen so auf seiten Deutschlands und seiner Verbündeten fast 200 Divisionen zusammen, wobei die finnischen Streitkräfte eine Anzahl sowjetischer Verbände fesselten, während die übrigen Verbündeten wenigstens deutsche Divisionen für schwere Aufgaben freimachen konnten. An Personalersatz für die eintretenden Verluste standen dem deutschen Ostheer knapp 500 000 Mann zur Verfügung. Haider rechnete damit, daß dieser Ersatz bis Ende September aufgebraucht sein werde; das Risiko, ab Oktober ohne ausgebildeten Ersatz dazustehen, hielt er für erträglich, da der Feldzug, wenn er richtig geführt wurde, in dieser Zeit zum Abschluß kommen mußte. Tatsächlich betrugen die Verluste bis zum 30. September 550 000 Mann (Gefallene, Vermißte und Verwundete), so daß Halders Rechnung insoweit ungefähr aufgegangen wäre. Das Versorgungswesen sollte so geregelt werden, daß die vorrückende Front durch motorisierte Nachschubkolonnen aus den rückwärtigen Materiallagern versorgt wurde. Diese Materiallager wiederum sollten schrittweise nach vom verlegt werden, also der Front gewissermaßen auf den Fersen bleiben, und sollten durch die Eisenbahn mit den entsprechenden Gütern aus der Heimat aufgefüllt werden. Da die russischen Bahnen eine andere Spurweite hatten als die deutschen und nicht . erwartet werden durfte, die russischen Bahnen mit ihrem rollenden Material einfach übernehmen zu können, mußten die russischen Gleise umgenagelt und dann der Bahnbetrieb mit deutschen Zügen aufgenommen werden. Solche nachschubtechnischen Besonderheiten waren auch für die Operationsplanung nicht belanglos. Auf weite Entfernungen würden die Bahnen die Nabelschnur der Operationen werden; die motorisierten Kolonnen vermochten die Truppe nur in einem gewissen Radius um die Materiallager (etliche hundert Kilometer) zu versorgen. Zwar ließ sich ohne weiteres eine begrenzte Anzahl von Bahnlinien innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit der vorrückenden Front nachbauen, aber man konnte nicht uferlos das ganze Land mit umgenagelten Gleisen überziehen. Es empfahl sich daher, die Truppe in einigen operativ unerläßlichen Hauptstoßrichtungen zusammenzuhalten, damit rasch und ohne große Schwierigkeiten die Bahnen nachgebaut werden konn-
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III. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941
ten. In dem riesigen russischen Gebiet waren keine beliebigen Truppenbewegungen möglich, sondern nur solche, die sich in Übereinstimmung mit einem leistungsfähigen Bahnbetrieb bringen ließen. Um die Versorgung zu erleichtern, sollte sich die Truppe so weit wie möglich aus dem Land verpflegen. An den Nachschubfragen brauchte der Feldzug nicht zu scheitern. In der Tat gibt es keinen einzigen Beleg, daß die Operation, wie Haider sie plante, von Versorgungsengpässen behindert worden wäre. Alle anderslautenden Behauptungen sind reine Erfindung.15 2. Die "verbrecherischen Befehle"
Unter den "verbrecherischen Befehlen" des Rußlandfeldzugs versteht man den sog. Kommissarbefehl über die Tötung bolschewistischer Funktionäre sowie den sog. Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa über die Einschränkung der militärischen Strafgerichtsbarkeit Daß beide Erlasse dem sonst gültigen Recht zuwiderliefen, ist bekannt und unbestritten. In hohem Maße strittig ist dagegen, in welchem Ausmaß die Wehrmacht dafür verantwortlich sei bzw. inwieweit sie an den weltanschaulichen Maßnahmen Hitlers und der Nationalsozialisten teilgenommen habe. Dabei wurde behauptet, der Rußlandfeldzug habe Hitler und die Wehrmacht zu Komplizen im Verbrechen gemacht, Haider trage die Verantwortung für die verbrecherischen Befehle, und die Wehrmacht habe, in Gemeinschaft mit der SS, den Krieg als Ausrottungskrieg geführt. Demgegenüber hat ein leitender Oberstaatsanwalt, der sich seit Jahrzehnten mit nationalsozialistischem Unrecht befaßt und das entsprechende Aktenmaterial kennt, die These zurückgewiesen, es gebe eine Kollektivschuld der deutschen Streitkräfte. Der pauschale Vorwurf, an der Vernichtung der Juden im Osten und an der völkerrechtswidrigen Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen maßgebend beteiligt gewesen zu sein, gelte für die Wehrmacht nicht. Es sei wissenschaftswidrig, von einer subjektiven These auszugehen und lediglich passendes Material zu subsumieren. "Das kennen wir auch von den Apologeten des Dritten Reiches." Angesichts dieser Sachlage dürfte es sich empfehlen, der Frage der verbrecherischen Befehle noch einmal nachzugehen. 16 Als das OKH die Vorbereitungen für den Ostfeldzug traf, plante es auch eine Behandlung der voraussichtlichen Besatzungsgebiete, die sich im Rahmen des Herkömmlichen hielt. General Marcks hatte in seinem Operationsentwurf eine Militärverwaltung vorgesehen sowie die spätere Selbständigkeit unter einheimischen 1s Halder, KTB II, 395, 422 (5.5. und 20. 5. 1941); III, 266 (4. 10. 1941). MGFA, Weltkrieg V, 554 (Beitrag Müller); 826 (Beitrag Kroener). Rohde, Wehrmachttransportwesen. Schüler. 16 Die Behauptungen über die Verwicklung der Wehrmacht in die nationalsozialistischen Verbrechen bei Messerschrnidt, Verhältnis. Ders., Motive, 1026. Förster, Rolle. MGFA, Weltkrieg IV, 413 ff. (Beitrag Förster). C. Hartrnann, Halder, 241 ff. Schulte, Arrny. Vgl. Krausnick/Wilhelrn. Gegen pauschale Schuldzuweisungen Streirn, Wehrmacht. Ders., Kriegsgefangene.
2. Die "verbrecherischen Befehle"
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Regierungen für die Ukraine, Weißrußland und die baltischen Länder, was vermutlich Halders Ansichten entsprach. Später entwarf General Wagner, der neue Generalquartiermeister des Heeres, eine Militärverwaltung, die darauf berechnet war, der Wehrmacht ihre Operationen zu erleichtern, indem sie die Hilfsquellen des Landes der kämpfenden Truppe wie der heimischen Kriegswirtschaft nutzbar machte. Dies ging aus von der unter den Fachleuten verbreiteten Erkenntnis, daß der wirtschaftliche Gewinn im Osten gering sein würde, daß aber die Wehrmacht wenigstens ihre Versorgungslage erleichtern könne, indem sie auf Lebensmittel und Beutegut, etwa Treibstoff, aus dem Land zurückgriff. Nach der Jahreswende 1940/41 begann jedoch Hitler, diese Pläne zu unterlaufen. Für ihn bildete der Osten das Mekka an Rohstoffen und Nahrungsmitteln, die es auszubeuten galt. Im Februar 1941 erteilte er Göring den Auftrag, für das wirtschaftliche Ausnützen der eroberten Gebiete zu sorgen. Göring ließ daraufhin den Wirtschaftsstab Ost errichten, der ihm persönlich unterstand und vertretungsweise von seinem Staatssekretär Körner aus dem preußischen Staatsministerium geleitet wurde. General Thomas vom Wehrwirtschaftsamt hatte gehofft, im Wirtschaftsstab Ost die maßgebliche Rolle spielen zu können, sah sich aber bald an den Rand gedrängt. Mit der Errichtung des Wirtschaftsstabes Ost begann auch für die Verwaltung der besetzten sowjetischen Gebiete jenes chaotische Durcheinander Platz zu greifen, das für den Herrschaftsbetrieb wie die Kriegswirtschaft des Dritten Reiches insgesamt kennzeichnend war. Das OKH hatte eine einheitliche Militärverwaltung geplant, welche die Wehrmacht aus dem gesamten besetzten Gebiet mit Versorgungsgütern hätte ausstatten und ihr insoweit den Vormarsch hätte erleichtern können. Ein derart einfacher und wirkungsvoller Aufbau wurde mit dem Errichten des Wirtschaftsstabs Ost durchlöchert, was Hitler durch einen Erlaß vom 29. Juni 1941 bekräftigte, in welchem er Göring zur höchstmöglichen Ausnutzung der Wirtschaft des Besatzungsgebiets ermächtigte sowie zum Erlaß von Weisungen gegenüber der Wehrmacht. Die Dienststellen des Wirtschaftsstabs Ost sollten zwar auch für die Bedürfnisse der Truppe sorgen, sie unterstanden aber nicht dem OKH, sondern Göring, und erhielten den Auftrag, möglichst viele Nahrungsmittel, Rohstoffe und sonstige Güter für den Bedarf in Deutschland sicherzustellen. Unter dem Einfluß Hitlers und anderer Nationalsozialisten wurde dabei von vornherein eine Entindustrialisierung russischer Gebiete sowie der Hungertod von Teilen der Bevölkerung in Kauf genommen. Mit den Absichten der Wehrmacht hatte das überhaupt nichts zu tun, auch nicht mit denjenigen von General Thomas, im Gegenteil hatte die Wehrmacht selber darunter zu leiden. Realistisch wäre es gewesen, die Truppe bis zu einem gewissen Grad aus dem Lande zu versorgen und überschüssige Güter, etwa bestimmte Rohstoffe, nach Deutschland zu verbringen. In Wahrheit jedoch wurden Nahrungsmittel nach Deutschland transportiert, die dann der Truppe fehlten oder durch Lieferungen aus dem Reich ersetzt werden mußten. Andererseits litt die russische Bevölkerung Hunger, weswegen viele sich den Partisanen anschlossen, der Arbeit fernblieben oder anderweitig für Unruhe sorgten, so daß die Wehrmacht mehr Sicherungsstreitkräfte benötigte und andere Nachteile erlitt wie ver25 Rauh, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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III. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941
meidbare Verluste oder das Fehlen von Arbeitskräften für vielerlei kriegswichtige Zwecke. Brauchitsch regte im Oktober 1941 an, der sinnlosen Ausbeutungspolitik ein Ende zu bereiten, indem nur etwaige Überschüsse an Nahrungsmitteln (soweit es sie gab) nach Deutschland verbracht wurden, konnte sich aber nicht durchsetzen. Göring blieb bei der von Hitler vorgegebenen Aushungerungsstrategie, die er im September so umriß, daß zunächst die Wehrmacht in Rußland und in der Heimat sowie die deutsche Bevölkerung versorgt werden solle, erst zum Schluß die Landeseinwohner Rußlands und auch sie nur, soweit sie für Deutschland arbeiteten. Was dabei herauskommen mußte, beschrieb der Rüstungsinspekteur Ukraine, ein General Leykauf, im Dezember 1941 so: "Wenn wir die Juden totschießen, die Kriegsgefangenen umkommen lassen, die Großstadtbevölkerung zum erheblichen Teile dem Hungertode ausliefern, im kommenden Jahre auch einen Teil der Landbevölkerung durch Hunger verlieren werden, bleibt die Frage unbeantwortet: Wer denn hier eigentlich Wirtschaftswerte produzieren soll?" Der General legte damit den Finger auf den wunden Punkt, nämlich den ökonomischen - und militärischen - Widersinn von Hitlers Politik. Dafür war freilich nicht die Wehrmacht verantwortlich, denn ihre Pläne waren ja verworfen worden, sondern allein Hitler und die Nationalsozialisten, die ihren weltanschaulichen Wahnideen nachjagten. 17 Nachdem Hitler die Ausbeutung der zu besetzenden Gebiete an Göring übertragen hatte, tat er alsbald den nächsten Schritt. Das OKW hatte einen Entwurf ausgearbeitet über Richtlinien auf Sondergebieten zum Fall Barbarossa, der offenbar die Errichtung einer Militärverwaltung beinhaltete. Diesen Entwurf gab Hitler etwa Anfang März 1941 zurück mit dem Auftrag, in der Endfassung einer solchen Weisung das Folgende zu berücksichtigen: Der kommende Feldzug sei mehr als nur ein Kampf der Waffen, er führe auch zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen. Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz müsse beseitigt werden. Es 17 Hitlers Erlaß vom 29. 6. 1941 in KTB OKW 1/2, 1019. Allgemein zur wehrwirtschaftlichen Vorbereitung und Durchführung des Ostkriegs MGFA IV, 113 ff., 989 ff., 1010 (Beitrag Müller). Der dort unternommene Versuch, General Thomas mit der Verantwortung für die wirtschaftliche Ausbeutungsstrategie zu belasten, beruht auf einer massiven Fehldeutung von Quellen. So legte Thomas unter dem Datum des 13. 2. 1941 eine Denkschrift über die Leistungsfähigkeit und die Zusammenhänge der sowjetischen Wirtschaft vor, welche nicht etwa Hitlers Vorurteile bestätigte, wie behauptet wird, sondern aus welcher man genau das herauslesen konnte, was Eingeweihte wie Haider und Brauchitsch ohnedies schon wußten: daß in wirtschaftlicher Hinsicht ein Krieg gegen die Sowjetunion keinen erheblichen Nutzen versprach. Thomas, Wehrwirtschaft, 515 ff. Im Wirtschaftsstab Ost hatte Thomas dann nicht mehr viel zu sagen, insbesondere war für die Landwirtschaftspolitik, d. h. die landwirtschaftliche Ausbeutung, der Staatssekretär im Ernährungsministerium Backe zuständig, ein Nationalsozialist, der die Ansicht vertrat, um das Dritte Reich mit Lebensmitteln aus Rußland zu versorgen, müsse das Verhungern vieler Millionen Menschen in Kauf genommen werden. Derartiges findet sich auch in einer Aktennotiz über eine "Besprechung der Staatssekretäre" vom 2. 5. 1941, einem ziemlich merkwürdigen Dokument, von dem man nicht weiß, wie es zustande kam und welches sein Stellenwert in der Willensbildung war. IMG, Bd 31, 84. Daß derlei Absichten von Thomas ausgegangen seien, ist eine blanke Unterstellung.
2. Die "verbrecherischen Befehle"
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seien neue sozialistische Staatsgebilde aufzubauen (gemeint waren wohl nationalsozialistische Staatsgebilde), die vom Dritten Reich abhingen. Diese Aufgaben seien so schwierig, daß man sie nicht dem Heer zumuten könne. Die Folgerungen, die Hitler daraus zog, gab Jodl so wieder, daß das Heer für seine Operationen ein gewisses Gebiet zugewiesen erhalte. Dahinter sei keine Militärverwaltung einzurichten, sondern Reichskommissare hätten die Verwaltung gewisser Großräume zu übernehmen. Den Reichskommissaren sollten Wehrmachtbefehlshaber für die militärischen Aufgaben zur Seite treten, außerdem sollte die Masse der Polizeikräfte, d. h. praktisch Himmlers SS, zu den Reichskommissaren treten. Es müsse geprüft werden, ob es notwendig sei, auch im Operationsgebiet Organe des Reichsführers SS einzusetzen. Die Notwendigkeit, alle Bolschewistenhäuptlinge und Kommissare sofort unschädlich zu machen, spreche dafür. Militärgerichte müßten für alle diese Fragen ausgeschaltet werden, sie hätten sich nur mit den Gerichtssachen innerhalb der Truppe zu befassen. Man erkennt, was sich hier ankündigte: eine Sonderbehandlung bolschewistischer Funktionäre, die von der SS durchzuführen war, und eine Einschränkung der Gerichtsbarkeit, damit Unrechtshandlungen nicht verfolgt werden konnten. Jodl fügte hinzu, der Entwurf solle bald erstellt und mit so weitem Zeilenabstand geschrieben werden, daß der Führer Änderungen vornehmen könne (woraus zu ersehen ist, wie wichtig Hitler die Sache nahm). Mit dem OKH könne in Verbindung getreten werden. Dies geschah sehr rasch, denn am 5. März wurde Haider vom Generalquartiermeister Wagner über einen entsprechenden Entwurf des OKW unterrichtet. Ganz reibungslos kann das Ausarbeiten der Weisung nicht abgelaufen sein, denn im OKW sah man sich am 6. März noch einmal veranlaßt, die Willensbekundung Hitlers herauszustreichen, auch wurde zweimal mit dem Generalquartiermeister des Heeres Rücksprache gehalten, wobei man dessen Vorschläge berücksichtigte, die im einzelnen nicht bekannt sind. Sodann war offenbar Hitler mit dem Entwurf nicht zufrieden, denn dieser enthielt Regelungen über die Gerichtsbarkeit, die jedoch in der Endfassung entfielen. Statt dessen hieß es nun, das Verhalten der Truppe gegenüber der Bevölkerung und die Aufgaben der Wehrmachtsgerichte würden gesondert geregelt und befohlen. Dagegen zeigten sich OKW und OKH insofern willig, als der Entwurf ebenso wie die Endfassung dem Reichsführer SS die Befugnis einräumten, auch im Operationsgebiet des Heeres Sonderaufgaben im Auftrag des Führers wahrzunehmen, was Jodl ursprünglich nur zur Erwägung gestellt hatte. Den Beteiligten in OKW und OKH wurde später vorgeworfen, sie hättenalldies ohne Widerstand hingenommen, obwohl sie nach den vergangenen Erfahrungen mit Hitler hätten abschätzen können, was sich daraus entwickeln würde. Ganz so einfach liegen die Dinge freilich nicht. Die Beteiligten konnten nicht genau wissen, welche Formen und welche Ausmaße die Tätigkeit der SS in den besetzten Gebieten annehmen würde. Sie konnten aber sehr wohl erahnen und haben auch erahnt, in welche Richtung Hitlers Vorgaben zielten. Die Ereignisse in Polen bildeten ein Lehrstück dafür. Beim Polenfeldzug folgte der Wehrmacht eine Anzahl von 25*
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Einsatzgruppen der SS, die alsbald damit begannen, politisch Mißliebige umzubringen, insbesondere die polnische Bildungsschicht sowie Juden. Da die Einsatzgruppen dem Heer unterstanden, konnte dieses dagegen einschreiten. So kam es zu Kriegsgerichtsverfahren und Verurteilungen, was Hitler dadurch unterlief, daß er im Oktober 1939 eine allgemeine Amnestie für einschlägige Verbrechen erließ und eine eigene Strafgerichtsbarkeit der SS errichtete. Nachdem Ende Oktober 1939 die militärische Verwaltung durch eine zivile abgelöst worden war, verdammte der Oberbefehlshaber der in Polen stationierten Truppen, General Blaskowitz, die unterdessen noch angeschwollenen Ausschreitungen der SS. Seine Entrüstung, die von weiten Kreisen in der Wehrmacht geteilt wurde, veranlaßten Brauchitsch, Himmler zur Rede zu stellen, wobei man schließlich übereinkam, den Reichsführer SS in einem Vortrag vor den höheren Befehlshabern des Heeres die nationalsozialistische Polenpolitik erläutern zu lassen. Bei diesem Vortrag im März 1940 gestand Himmler dasjenige ein, was bis dahin außerhalb des OKH bei den Offizieren und der Truppe kaum bekannt war: daß nämlich Hitler selbst die Polengreuel billigte. Damit kommt man zum wesentlichen Punkt. Es ist leicht, im nachhinein vom hohen Roß moralischer Entrüstung herab Brauchitsch zu tadeln. Aber was hätte Brauchitsch tun sollen? Die nationalsozialistischen Untaten entsprachen dem Willen der verantwortlichen politischen Führung. Sich dem entgegenzustellen bedeutete zugleich die Bereitschaft zum zivilen oder militärischen Ungehorsam. Sofern der Soldat die Maßnahmen der politischen Führung nicht billigt, mag er allenfalls Einspruch erheben; wird dieser nicht gehört und verlangt die politische Führung Gehorsam oder Duldung (wie es in Polen geschah), so bleiben dem Soldaten I augenscheinlich nur zwei Möglichkeiten: Er kann entweder sich davon fernhalten oder er kann rebellieren, sich auflehnen. Das letztere läuft am Ende immer auf den Hochverrat hinaus, den politischen Umsturz. Die Frage des Staatsstreichs wurde hier bereits untersucht; man mag Brauchitsch mangelnde Kühnheit oder Entschlußkraft vorwerfen, weil er im Herbst und Winter 1939/40 den Staatsstreich nicht durchführte, aber es gab auch wohlerwogene sonstige Gründe. Wagner und Tippelskireh schlugen gegen Ende 1939 das Verhängen des Ausnahmezustands in Polen vor, d. h. die Übernahme der vollziehenden Gewalt durch das Heer und die Entmachtung der nationalsozialistischen Zivilverwaltung. Das wäre offene Auflehnung gewesen, die zur Folge gehabt hätte, daß entweder Hitler sich freiwillig beugte, was nicht erwartet werden durfte, oder daß der Kampf im Innern losbrach, was sich allenfalls vermeiden ließ, indem man von vornherein auf den umfassenden Umsturz lossteuerte. Da Brauchitsch vor dem Staatsstreich zurückscheute, blieb ihm nur der andere Weg: sich von den nationalsozialistischen Untaten fernzuhalten. Dies wiederum konnte er entweder allein für seine Person tun, durch seinen Rücktritt. Im Herbst 1939 hat Brauchitsch mindestens einmal seinen Rücktritt angeboten, der jedoch nicht angenommen wurde. Brauchitsch hätte auch versuchen können, seinen Rücktritt zu erzwingen, etwa durch eine unbotmäßige Erklärung. Dann wäre er eben ersetzt worden, und ansonsten hätte sich gar nichts
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geändert. Von 17 Feldmarschällen des Heeres wurden zehn im Laufe des Krieges abgesetzt und drei hingerichtet, von 36 Generalobersten wurden 23 abgesetzt und drei hingerichtet; geändert hat es nichts. Oder, andere Möglichkeit, Brauchitsch versuchte, das ganze Heer, dessen Oberbefehlshaber er war, von den nationalsozialistischen Untaten fernzuhalten. Das stellte nicht die Lösung eines großen Widerstandskämpfers dar, doch war es insofern eine ehrenhafte Lösung, als wenigstens das Heer nicht mit Greueltaten befleckt wurde. Diesen Ausweg beschritt Brauchitsch seit dem Polenfeldzug, und an diesem Ausweg wollte er im Frühjahr 1941 festhalten, als der Ostkrieg näherrückte. 18 In der erwähnten Weisung über Sondergebiete, die am 13. März 1941 erging, war das eigentliche Problem nicht die Zulassung der SS in das Operationsgebiet des Heeres, sondem die Errichtung von Reichskommissariaten. Die nationalsozialistische Willkürherrschaft mit ihren rassischen Säuberungen hatte sich in Polen erst voll entfaltet, als die Militärverwaltung abgelöst worden war und die zivilen Beauftragten Hitlers freie Bahn erhalten hatten. In der besetzten Sowjetunion hätte sich die nationalsozialistische Rassenpolitik höchstens dann verhindern lassen, wenn eine Militärverwaltung errichtet worden wäre, wie das OKH und anscheinend auch das OKW ursprünglich beabsichtigten. Nachdem Hitler den Aufbau von Reichskommissariaten unter nationalsozialistischer Zivilverwaltung angeordnet hatte, konnte man sich unschwer ausrechnen, was dort geschehen würde, zumal die Masse der Polizeikräfte, mithin auch der SS, bei der politischen Verwaltung der Reichskommissare angesiedelt werden sollte. Die SS würde in den Reichskommissariaten ähnliche Dinge tun wie in Polen, d. h. sie würde Bolschewisten und Juden umbringen. Angesichts solcher Entwicklungen gab es für das OKH, wie im Falle Polen, nur zwei Möglichkeiten: Man konnte entweder auf den Umsturz hinarbeiten oder versuchen, das Heer aus politischen Greueltaten herauszuhalten. Daß zumindest Haider den Gedanken an den Staatsstreich nicht aufgegeben hatte, ist gut belegt. Entsprechend seiner alten Ansicht, ohne ein Klima der Bereitschaft bei Wehrmacht und Volk sei der Umsturz nicht durchführbar, hatte er nach dem Frankreichfeldzug einem Kreis von Gesinnungsgenossen, darunter Stauffenberg, dargelegt, auf den günstigen Zeitpunkt für einen Staatsstreich müsse man warten. Ein solch günstiger Zeitpunkt war im Frühjahr 1941 zweifellos nicht gegeben, weswegen niemand den Staatsstreich in Aussicht nahm. Also konnte das OKH nur versuchen, wenigstens das Heer von rassenpolitischen Maßnahmen und anderen Ausschreitungen fernzuhalten. Eine zusätzliche Schwierigkeit entstand nun dadurch, daß Hitler in seinen vorhin genannten Anordnungen von Anfang März verlangt hatte, die Militärgerichts18 Hitlers Anordnungen über die Weisung auf Sondergebieten in KTB OKW 111, 340ff. (3. 3. 1941). Die Weisung selbst (Richtlinien auf Sondergebieten zur Barbarossa-Weisung, 13. 3. 1941) in Hubatsch, Weisungen, 101 ff. Auch in Buchheim, Anatomie Il, 166ff. Warlimont I, 166ff. Zur Ausarbeitung KTB OKW 1/1, 346, 349. Krausnick, KommissarbefehL Halder, KTB Il, 303. Zu den Ereignissen in Polen K.-J. Müller, Heer, 426ff. Krausnick/Wilhelm. Die Zahl der abgesetzten und hingerichteten höchsten Offiziere im IMG, Bd 22, 101.
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barkeit auf Gerichtssachen innerhalb der Truppe zu beschränken. Das lief offenbar darauf hinaus, im Verhältnis zwischen der eigenen Truppe einerseits und der gegnerischen Truppe sowie der gegnerischen Bevölkerung andererseits gewissermaßen einen rechtsfreien Raum zu erzeugen oder mit anderen Worten: der eigenen Truppe die blanke Willkür freizugeben. Die eigene Truppe durfte dann nach Herzenslust beim Gegner jede Art von Verbrechen begehen, ohne mit Strafverfolgung rechnen zu müssen. Das entsprach wohl Hitlers Auffassung vom Rassenkampf; nicht umsonst hatte er ja bereits vor dem Krieg verkündet, das Recht sei eigentlich ein Hemmschuh und im Rassenkampf schon vollends entbehrlich. Ein solches Ansinnen erzeugte in OKW und OKH beträchtliche Unruhe, weil man dort die Gefahr sah, die Truppe könnte zu einer rohen Soldateska entarten, die nicht bloß im Feindesland hauste wie eine wilde Barbarenhorde, sondern die auch der Disziplin entglitt und damit wohl gar straff gelenkte Operationen unmöglich machte. Da über diese Dinge viel Unkenntnis herrscht, wird es sich empfehlen, etwas weiter auszuholen. Jeder deutsche Soldat trug in seinem Soldbuch die "10 Gebote für die Kriegführung" mit sich, in denen es hieß, die Zivilbevölkerung sei unverletzlich, Kriegsgefangene dürften nicht mißhandelt werden, es dürfe kein Gegner getötet werden, der sich ergebe, Zuwiderhandlungen gegen die Gebote seien strafbar und sofern der Gegner rechtswidrig handle, seien Vergeltungsmaßnahmen nur auf Befehl der höheren Truppenführung zulässig. Diese Vorschriften entsprachen dem anerkannten Völkerrecht, über ihre Einhaltung wachten die Militärgerichte, und zur Beratung der militärischen Führung in Rechtsfragen waren in den hohen Stäben eigene Dienststellen eingerichtet, so im OKW und OKH. Bei den betreffenden Rechtsmaterien handelte es sich hauptsächlich um Strafrecht, d. h. einerseits die Rechtsfolgen für verbotenes Handeln eigener Soldaten und andererseits die Rechtsfolgen für verbotenes Handeln beim Gegner. Im Feindesland regelte dieses Strafrecht auch das Verhältnis zwischen der eigenen Truppe und dem Gegner; doch ersetzte die Militärgerichtsbarkeit nicht das Gerichtswesen des Gegners, es oblag ihr also nicht das Behandeln ziviler und anderer Rechtsfälle innerhalb der gegnerischen Bevölkerung. Die Militärgerichtsbarkeit besorgte im Feindesland einerseits den Rechtsschutz des Gegners gegenüber der eigenen Truppe und andererseits den Rechtsschutz der eigenen Truppe gegenüber dem Gegner. Rechtswidriges Handeln des Gegners gegenüber der eigenen Truppe lag beispielsweise vor bei Freischärlerei, anderen Formen des bewaffneten oder unbewaffneten Widerstands durch Zivilisten, Diebstahl von Wehrmachtseigentum, kleineren Straftaten wie dem Übertreten von Ausgangssperren, aber auch bei rechtswidrigen Kampfmethoden der feindlichen Truppe. Der Grundgedanke, auf dem dieses Strafrecht beruhte, kam in den genannten "10 Geboten für die Kriegführung" zum Ausdruck: Der Krieg als zulässige, organisierte Anwendung von Waffengewalt sollte sich auf das unmittelbare Kampfgeschehen zwischen den dazu befugten Waffenträgem beschränken; alles andere, z. B. die direkte Schädigung der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen oder die Widersetzlichkeit der Zivilbevölkerung, insbesondere der bewaffnete Widerstand in Form der Freischärlerei, waren verboten.
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Es liegt nun auf der Hand, daß die Grenzen dieses Kriegsrechts oft und leicht verschwimmen: Der Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung widerspricht eigentlich jener Grundidee, Bevölkerung und Kriegsgefangene mögen mittelbar geschädigt werden, etwa durch mangelhafte Ernährung, und allgemein ist es in vielen Fällen schwer auseinanderzuhalten, wer rechtmäßig oder wer unrechtmäßig zu Schaden kommen könnte. Sodann ist es eine bekannte Erscheinung, daß die strengen Grenzen des Rechts im Krieg fortwährend verletzt werden, und zwar auf allen Seiten; einen Krieg ohne solche Verletzungen dürfte es bislang nicht gegeben haben. Doch wie dem auch sei, der Sinn des Kriegsrechts besteht darin, die rohe Gewaltanwendung einzudämmen, nicht sie zu entfesseln, das Ausarten des Krieges in eine bloße Schlächterei zu verhindern. Eben dieses Ausarten nahm Hitler in Aussicht, wenn er den gerichtlichen Rechtsschutz des Gegners vor der eigenen Truppe und der eigenen Truppe vor dem Gegner beseitigen wollte. Das OKW sowie das OKH, vertreten durch den Generalquartiermeister, folgten dem jedoch nicht, sondern schlugen einen anderen Weg ein. Wenn Hitler in seinen Anordnungen einerseits das Beseitigen der bolschewistischen Intelligenz verlangt hatte und andererseits das Ausschalten der Militärgerichte im Verhältnis zwischen Wehrmacht und Gegner, so ließ sich daraus der begründete Schluß ziehen, die Wehrmacht solle Unrechtshandlungen begehen, unter anderem an der Beseitigung der bolschewistischen Intelligenz mitwirken. Dies freilich wurde in dem Entwurf des OKW zu Sondergebieten, den es Anfang März 1941 erstellte, rundweg ausgeschlossen, denn einschlägige Tätigkeiten der Wehrmacht wurden dort nicht erwähnt, zudem blieben sie strafbar, da die Militärgerichtsbarkeit insoweit erhalten blieb. Entgegen Hitlers Anordnungen wurde der gerichtliche Rechtsschutz bei Verfehlungen der eigenen Truppe am Gegner nicht beeinträchtigt. Anscheinend glaubte man im OKW, man müsse Hitler, gewissermaßen zum Ausgleich für die Unbotmäßigkeit, etwas anbieten, um ihn der vorgeschlagenen Lösung geneigt zu machen. Was man Hitler anbot, war einerseits der Einsatz der SS im Operationsgebiet und andererseits eine Beschränkung der Militärgerichtsbarkeit bei Rechtswidrigkeiten des Gegners. Das Zulassen der SS im Operationsgebiet war nicht so wichtig, wie es später öfters hingestellt wurde. Reichskommissariate würden auf jeden Fall errichtet werden, und bei erfolgreichem Feldzugsverlauf würden sie den größten Teil des besetzten Gebietes erfassen. In den Reichskommissariaten würde die SS an ihren Untaten ohnedies nicht zu hindern sein, so daß es keinen großen Unterschied machte, wenn sie dasselbe auch im Operationsgebiet tat. Außerdem mochte Hitler dann leichter darauf verzichten, die Wehrmacht mit solchen Dingen zu belasten. Was die Einschränkung des Rechtsschutzes betrifft, so sollten die Militärgerichte im Operationsgebiet sowie im Gebiet der politischen Verwaltung (Reichskommissariate) Straftaten von feindlichen Ausländern nur dann verfolgen, wenn sie sich unmmittelbar gegen die Wehrmacht und ihr Gefolge richteten. Im Operationsgebiet sollten überdies die Gerichte nur dann tätig werden, wenn ein sofortiges Aburteilen möglich war. Alle anderen Vorfälle sollten der nächsten Dienststel-
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le des Reichsführers SS übergeben werden. Das war so undeutlich formuliert, daß sich die Bedeutung nur schwer erschließt. Es ist zu bedenken, daß Hitler die gerichtliche Behandlung von Straftaten feindlicher Ausländer ganz hatte abschaffen wollen. Da die Wehrmacht solche Straftaten nicht einfach über sich ergehen lassen konnte, mußte sie sich dagegen schützen, was beim Fehlen des gerichtsförmigen Rechtsschutzes eine Art von Selbstjustiz der Wehrmacht nach sich zog, indem sie Schuldige und Verdächtige nach Belieben behandelte, z. B. großenteils erschoß. Oder wie Hitler es einmal ausdrückte: Man solle jeden totschießen, der nur schief schaue. Im OKW fand man nun den Ausweg, die Gerichte im Operationsgebiet nur dann einzuschalten, wenn sofortiges Aburteilen möglich war, d. h. bei Ergreifung des Täters sowie bei klarer Beweislage. Was das für Folgen hatte, ist im einzelnen schwer zu überblicken, man kann aber versuchen, es zu erschließen. Die erste Voraussetzung für ein gerichtliches Aburteilen ist die Ergreifung des Täters. Wird der Täter bei Begehung der Tat angetroffen, so dürfte die Beweislage im allgemeinen klar sein. In solchen Fällen traten die Gerichte in Tätigkeit. Schwieriger liegen die Dinge in anderen Fällen. Beispielsweise konnte ein deutscher Soldat umgebracht, es konnte Wehrmachtsgut gestohlen oder es konnte sogar eine SSEinheit von Freischärlern massakriert werden, ohne daß jeweils die Täter bekannt waren. Mit solchen Vorfällen sollten die Wehrmacht und ihre Gerichte nicht befaßt werden, vielmehr waren sie gemäß OKW-Entwurf der SS zu übergeben. Man möchte vermuten, daß sich dahinter eine doppelte Absicht verbarg. Wenn Hitler schon meinte, er müsse an der Gerichtsbarkeit herumspielen, dann sollte erstens seine SS für die Folgen geradestehen. Zweitens wurde auf diese Weise die SS mit den Aufgaben einer Wehrmachtspolizei hinter der Front überhäuft, insbesondere der Bandenbekämpfung, so daß ihr möglicherweise Zeit und Kräfte fehlten, um sich in vollem Umfang ihren rassenpolitischen Tätigkeiten zu widmen. Faßt manalldies zusammen, so zeigt sich, daß OKW und OKH in der fraglichen Angelegenheit an einem Strang zogen: Die rassenpolitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten ließen sich ohnedies nicht ganz verhindern, deshalb schloß sich das OKW der von Brauchitsch vertretenen Linie an, das Heer aus den Greueln der SS herauszuhalten, und wandte es auf die Wehrmacht insgesamt an. 19 Dem Diktator gefiel das gar nicht. Den Entwurf des OKW nahm er zwar an, doch nur mit der Änderung, das Verhalten der Truppe gegenüber der Bevölkerung und die Aufgaben der Wehrmachtsgerichte würden gesondert geregelt. Er beharrte also auf dem, was das OKW hatte umgehen wollen, nämlich auf der Einbeziehung der Wehrmacht in den Rassenkampf. Zunächst allerdings fanden, wie in der Weisung zu Sondergebieten vorgesehen, Verhandlungen statt zwischen dem OKH, vertreten durch den Generalquartiermeister Wagner, sowie dem Reichsführer SS, ver19 Haider über Staatsstreich im Sommer 1940 nach Ch. Müller, Stauffenberg, 192, 535 f. Zu Hitlers Rechtsverständnis Bd I dieser Untersuchungen. Zu den "10 Geboten für die Kriegführung" IMG, Bd 9, 100 (11. 3. 1946). Allgemein Krausnick, KommissarbefehL Hit1er über Erschießen am 16. 7. 1941 nach Jacobsen, Weg, 121.
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treten durch den Chef des Reichssicherheitshauptamts Heydrich, über den Einsatz von SS-Formationen im Operationsgebiet Die Weisung zu Sondergebieten sah gemäß Hitlers Anordnungen das Einsetzen von Reichskommissaren vor, denen die Masse der Polizeikräfte beigegeben werden sollte, ferner das Einsetzen von Wehrmachtsbefehlshabern neben den Reichskommissaren, die für die militärischen Belange zuständig waren und dem Chef des OKW unterstanden, schließlich die Befugnis des Reichsführers SS, im Operationsgebiet Sonderaufgaben im Auftrag des Führers wahrzunehmen. Die Art dieser Aufgaben ergab sich, wie es hieß, aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politischer Systeme; der Reichsführer SS hatte dabei selbständig und in eigener Verantwortung zu handeln. Der Rahmen für die Tätigkeit der SS-Formationen im Operationsgebiet war damit in groben Zügen umrissen, so daß die Verhandlungen zwischen Wagner und Heydrich sich nur auf die technischen Einzelheiten beziehen konnten. Obwohl über den Gang der Verhandlungen praktisch nichts bekannt ist, wird allgemein unterstellt, die Einigung sei rasch und reibungslos erfolgt. Merkwürdigerweise wird auch nicht beachtet, daß der Entwurf eines einschlägigen OKH-Befehls, über den Wagner und Heydrich bereits am 26. März 1941, 13 Tage nach der Weisung zu Sondergebieten, Einigung erzielt haben sollen, erst über einen Monat später, am 28. April, von Brauchitsch unterzeichnet wurde. Es dürfte deshalb an der Zeit sein, den Entwurf Wagners und den davon nicht abweichenden Befehl von Brauchitsch sorgfältig zu lesen. Etliche Bestimmungen darin waren ziemlich selbstverständlich; so führten die Sonderkommandos der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienst der SS, welcher seit 1939 mit der Sicherheitspolizei im Reichssicherheitshauptamt zusammengefaSt war) ihre Aufgaben in eigener Verantwortlichkeit durch. Den Militärbehörden waren sie nur hinsichtlich Marsch, Versorgung und Unterbringung unterstellt, ihre fachlichen Weisungen erhielten sie vom Chef des Reichssicherheitshauptamts. Die Aufgaben der Sonderkommandos waren diejenigen einer politischen Polizei und wurden in dem Entwurf Wagners niedergelegt; wenn dabei die Rede war von einer Bekämpfung reichsfeindlicher Bestrebungen, so wäre dies in einem Rechtsstaat harmlos gewesen, es würde aber von der SS voraussichtlich in einem bestimmten Sinne ausgelegt werden. Da Wagner dies wußte, baute er dagegen Dämme ein. Erstens sollte sich die Bekämpfung der reichsfeindlichen Bestrebungen nur so weit erstrecken, wie diese nicht der feindlichen Wehrmacht eingegliedert waren. Das war etwas ungeschickt formuliert, bezog sich jedoch darauf, daß es in der Roten Armee politische Funktionäre gab ("Kommissare"), eine Art politischer Aufpasser, die allerdings uniformiert waren und den Status von Soldaten genossen. Hitler wollte die Kommissare, auch diejenigen beim Militär, umbringen lassen. Wagner dagegen legte fest, daß die SS die militärischen Kommissare im Operationsgebiet jedenfalls nicht umbringen würde. Das schloß nicht aus, daß sich die SS in den Reichskommissariaten und im Heimatgebiet Zutritt zu den Kriegsgefangenenlagern verschaffte und die Kommissare dort umbrachte; immerhin war das nicht Sache des Heeres, denn diese Lager unterstanden dem OKW.
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Zweitens walzte Wagner eine Bestimmung aus der Weisung zu Sondergebieten breit aus, .wo es hieß, der Reichsführer SS sorge dafür, daß bei Durchführung seiner Aufgaben die Operationen nicht gestört würden. Dies drehte Wagner gewissermaßen um und legte in mehrfacher Wiederholung fest, daß überall da, wo die Störung der Operationen vermieden werden mußte, die Militärbehörden den Sonderkommandos vorrangige Weisungen erteilen durften, ihre Maßnahmen genehmigen oder ihren Einsatz untersagen konnten. Das war in hohem Maße dehnbar und insofern für die SS schwer erträglich. Im Interesse der Operationen mochten Straßen und Gebiete für die Sonderkommandos gesperrt, es mochte ihnen der Treibstoff entzogen oder das Beunruhigen der Bevölkerung verboten werden und dergleichen mehr. Bei entschlossener Anwendung konnte dies sehr wohl einen Hebel darstellen, um den Sonderkommandos ihr Handwerk zu verleiden oder ganz zu legen. Ob das Heer davon Gebrauch machte, mußte sich zeigen; jedenfalls hatte Wagner eine Handhabe geschaffen. Für Hitler ergab sich daraus gegen Ende März 1941, daß er seine eigentlichen Absichten nur zum Teil erreicht hatte. Wohl sollten Reichskommissariate errichtet werden und die SS ihren rassepolitischen Tätigkeiten nachgehen, doch hielt sich die Wehrmacht sorgfältig aus allen rechtlosen Maßnahmen heraus: Sie beteiligte sich weder am Kampf gegen die jüdisch-bolschewistische Intelligenz noch an unrechtmäßigen Handlungen gegenüber der Bevölkerung, sie unterstützte die SS bei ihren rassepolitischen Tätigkeiten nicht, sondern suchte sie eher zu behindern, und der Entwurf des Generalquartiermeisters eröffnete zudem die Möglichkeit, das Wirken der SS im Operationsgebiet zu unterbinden. Daraufhin hielt Hitler am 30. März eine Rede vor den Befehlshabern der zukünftigen Ostfront, in welcher er zwei Dinge verlangte: Einerseits sollten sowjetische Funktionäre ("Kommissare") auch von der Truppe umgebracht werden; andererseits sollte für das Verhältnis zwischen Truppe und Gegner die Kriegsgerichtsbarkeit weitgehend außer Kraft treten. Was danach geschah, ist bis heute nicht zureichend aufgeklärt worden. Als erstes fällt auf, daß zunächst über einen Monat lang so gut wie nichts geschah. Das ist umso erstaunlicher, als im Anschluß an Hitlers Anordnungen von Anfang März das OKW nur wenige Tage benötigt hatte, um einen entsprechenden Entwurf zu erstellen. Warlimont meinte später, die Untätigkeit des OKW sei beabsichtigt gewesen; man habe durch eine "Verschwörung des Schweigens" versucht, die Sache in Vergessenheit geraten zu lassen. Das Schweigen sei erst durchbrochen worden, als der General z.b.V. beim Oberbefehlshaber des Heeres, Eugen Müller, am 6. Mai 1941 einschlägige Entwürfe für den Kommissarbefehl und für die Einschränkung der Gerichtsbarkeit vorlegte. Wie Müller dazu kam, ist unklar. Neuerdings wird behauptet, die Verantwortung liege bei Halder. Der Versuch, Haider die Schuld anzulasten, beruht auf grob fahrlässiger oder vorsätzlicher Verdrehung der Tatsachen. Nach den vorliegenden Zeugnissen, die bislang durch nichts widerlegt sind, äußerten im Anschluß an die Rede Hitlers etliche hohe Offiziere, namentlich die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen, bei Brauchitsch ihre Entrüstung über das Ansirinen Hitlers. Die Vermutung, der Protest ha-
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be sich eher gegen die Einschränkung der Gerichtsbarkeit (und damit die Lockerung der Disziplin) als gegen die Tötung der Kommissare gerichtet, ist gegenstandslos. Wurde die Gerichtsbarkeit nicht entsprechend eingeschränkt, dann durfte die Truppe auch keine Kommissare umbringen, sonst wurde sie dafür bestraft. Wenn die Offiziere das Einschränken der Gerichtsbarkeit ablehnten, dann lehnten sie zugleich das Töten der Kommissare durch die Truppe ab. Dies war für die Offiziere vorrangig. Eine andere Frage stellte es dar, ob und inwieweit Hitler an seinen Absichten überhaupt gehindert werden konnte. Wenn Hitler die Kommissare töten lassen wollte, konnte er dies in den Reichskommissariaten tun oder gegebenenfalls anderswo durch die SS. Daran war er voraussichtlich nicht zu hindern, also war es für die Offiziere auch nicht vorrangig. Wollte Hitler seinen Willen durchsetzen, dann sollte er dies gefälligst durch die SS tun und nicht die Wehrmacht damit behelligen. Die Einwände der Offiziere wurden von Brauchitsch beschwichtigt, wobei möglicherweise davon die Rede war, Brauchitsch werde einen Befehl über die Wahrung der Manneszucht erlassen. Im Anschluß an diese Auseinandersetzungen schlug Halder, wie er später aus der Erinnerung angab, seinem Oberbefehlshaber Brauchitsch vor, er solle ihrer beider Rücktritt einreichen, worauf Brauchitsch jedoch nicht einging. Halders Darstellung ist schlüssig, denn die Rede Hitlers bildete einen Anschlag auf die Ehre und die rechtlichen Grundlagen des Heeres, auf die ein verantwortungsbewußter Oberbefehlshaber eigentlich mit einem Rücktrittsangebot antworten mußte. Die Antwort von Brauchitsch ist verständlich, denn der Rücktritt beider Offiziere wäre erstens mit ziemlicher Sicherheit nicht angenommen worden und er hätte zweitens auch die Lage nicht verbessert, weil dann allenfalls willfährigere Geister an ihre Stelle getreten wären. Für Haider standen überdies noch andere Dinge auf dem Spiel. Daß Hitler den Feldzug auf ganz andere Weise führen wollte als das OKH, war sattsam bekannt. Er würde es umso leichter können, falls die Schöpfer eines erfolgversprechenden Feldzugsplanes nicht mehr im Amt waren, und dann würde schon der Rußlandfeldzug in der Katastrophe enden. Außerdem mochte sich im weiteren Verlauf des Krieges wieder die Gelegenheit für einen Staatsstreich bieten - aber wer sollte ihn durchführen, wenn an Stelle Halders ein weniger selbständiger Kopf den Generalstab leitete? Haider war nun einmal, wie es in diesen Untersuchungen früher ausgedrückt wurde, der wichtigste Gegenspieler Hitlers; und es wird schon seinen Grund haben, wenn heutige Geschichtsschreiber mit allen Mitteln versuchen, ihn von seinem Sockel zu zerren. Wie dem auch sei, Haider blieb, zusammen mit Brauchitsch, auf seinem Posten, er lehnte es jedoch ab, in die Machenschaften Hitlers verwickelt zu werden. In der Rückschau hat er sich deswegen getadelt, da er meinte, wenn er die Leitung der Verhinderungsmaßnahmen im OKH in der Hand behalten hätte, dann wäre das OKH vielleicht nicht mit dem Makel befleckt worden, Entwürfe zu den verbrecherischen Befehlen vorzulegen. Freilich bezog sich dies nur auf das OKH; im Frühjahr 1941 mußte aber damit gerechnet werden, daß Hitler seinen Willen durchsetzen würde, und dies würde auf dem Weg über das OKW vor sich gehen,
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so daß Haider in seiner Stellung es nicht verhindem konnte. Immerhin war ja in der Weisung zu Sondergebieten unmißverständlich festgelegt, daß das Verhalten der Truppe im Feindesland sowie die Gerichtsbarkeit noch geregelt werden sollten, ebenso stand zu erwarten, Hitler würde an den Forderungen seiner Rede vom 30. März weiter festhalten. Insofern hatte es schon einen Sinn, wenn Haider sich aus diesen Dingen heraushielt; er würde dann wenigstens persönlich nicht davon betroffen werden. In der Tat wurden während des April und Mai 1941 vorbereitende Verhandluggen in den fraglichen Angelegenheiten geführt, allerdings innerhalb eines eher seltsam zusammengesetzten Kreises. Dazu gehörte der Chef der Wehrmachtrechtsabteilung im OKW, Ministerialdirektor Lehmann, der Generalstabschef der Luftwaffe Jeschonnek sowie der General z.b.V. im OKH Müller mit dem ihm unterstellten Leiter der Gruppe Rechtswesen im OKH, Oberstkriegsgerichtsrat Lattmann. Jeschonnek schaltete sich also in die Vorgänge ein, Haider nicht. Soweit erkennbar, ging das OKW recht zögerlich an die Sache heran; einen Befehl über die Tötung von Kommissaren arbeitete es gar nicht aus, und der Einschränkung der Gerichtsbarkeit trat Lehmann erst unter dem Druck Hitlers schrittweise näher. Von Bereitwilligkeit oder gar eigenem Antrieb kann keine Rede sein; allenfalls mag man den Beteiligten vorwerfen, daß sie Befehle Hitlers überhaupt ausführten. Immerhin kam auf diese Weise bis zum 9. Mai ein schrittweise verschärfter Entwurf über die Gerichtsbarkeit zustande. Unterdessen hatte freilich der General z.b.V. Müller am 6. Mai seine Entwürfe für einen Kommissarbefehl sowie für die Einschränkung der Gerichtsbarkeit dem OKW zugeleitet. Beim Entwurf des Kommissarbefehls bezog sich Müller auf einen bereits am 31. 3. 1941 erteilten Auftrag. Was das für ein Auftrag war, ist unbekannt. Folgende Deutungen stehen zur Auswahl: 1. Es handelt sich um einen Irrtum im Datum, Müller meinte die Hitler-Rede vom 30. 3. 1941. In diesem Fall erhielt Müller keinen förmlichen Auftrag, sondern handelte selbständig. Hier lassen sich wieder zwei Möglichkeiten unterscheiden, nämlich a) Müller handelte aus eigenem Antrieb oder b) Müller wurde gedrängt, wobei der Generalquartiermeister Wagner in Frage kommt, der einen solchen Befehl befürwortet haben soll, weil er glaubte, das Heer könne ihn leicht sabotieren, während andernfalls die Gefahr drohe, Hitler werde die Frage der Kriegsgefangenen in die Hand der SS legen. Das könnte insofern einen Sinn ergeben, als gemäß dem erwähnten OKH-Befehl vom 28. 4. 1941 (das sog. Wagner-Heydrich-Abkommen) die Kriegsgefangenen im Operationsgebiet dem Zugriff der SS entzogen sein sollten; auch läßt sich die Absicht des OKH, den Kommissarbefehl zu unterlaufen, nicht leugnen. 2. Müller erhielt einen Auftrag des OKW (Keitel), der gegebenenfalls über Brauchitsch an ihn gelangte. 3. Müller erhielt einen Auftrag aus dem OKH, d. h. entweder von Brauchitsch oder von Halder. Da zu dieser Frage keine beweiskräftigen Quellen vorliegen, wird man vermutlich noch lange fruchtlos darüber debattieren können. Möglicherweise geht die Fragestellung aber auch in eine falsche Richtung, weil sie den Eindruck erweckt, es hätte wenigstens der Kommissarbefehl verhindert werden können, wenn nur Müller seinen Entwurf nicht vorgelegt hätte. Das ist durch
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nichts erwiesen; Hitler veranlaßte das OKW, bis Anfang Mai einen Entwurf über die Gerichtsbarkeit auszuarbeiten, der seinen Vorstellungen zusagte, und es spricht nichts dagegen, daß er dasselbe in Hinblick auf die Kommissare vermocht hätte. Der Kommissarbefehl mag im OKW Unwillen erzeugt haben, aber verhindem konnte oder wollte man ihn dort auch nicht mehr. 20 Was nun Haider betrifft, so hatte er durch Organisationsbefehl vom 29. 9. 1940 die Stelle eines "Generals zu besonderer Verfügung beim Oberbefehlshaber des Heeres" geschaffen, dem die Gruppe Rechtswesen unterstand, die bislang zum Bereich des Generalquartiermeisters gehört hatte. Diesen Befehl hatte Haider "i.V." unterzeichnet, wozu er befugt war, da er den Oberbefehlshaber bei dessen Abwesenheit vertrat. Der General z.b.V. (Eugen Müller) erhielt vom Generalstabschef Weisungen in den Angelegenheiten der Strafrechtspflege im Feldheer und gegenüber der Bevölkerung der besetzten Gebiete sowie beim Kriegsgefangenenrecht und beim Völkerrecht. Aus diesem Sachverhalt wird öfters der Schluß gezogen, der General z.b.V. Müller werde bei den verbrecherischen Befehlen seine Aufträge wohl von Haider erhalten haben. Das ist in jeder Hinsicht falsch (um nicht zu sagen: an den Haaren herbeigezogen). Die formelhafte Wendung, daß einer dem anderen Weisungen erteilt, besagt nicht, daß er dazu gezwungen ist, sondern sie besagt, daß er das kann, wenn er es für nötig hält. Es mag der Fall eintreten, daß jemand sich wohlweislich hütet, einem anderen Weisungen zu erteilen. Man müßte also feststellen, ob Haider dem General z.b.V. in der fraglichen Angelegenheit Weisungen tatsächlich erteilt hat. Falls er das nicht hat, bricht die ganze Konstruktion in sich zusammen (zu der es übrigens auch gehört, Tagebucheinttagungen Halders verzerrt wiederzugeben). Ein erster Hinweis besteht bereits darin, daß Müller, als er seine beiden Entwürfe dem OKW übersandte, den Briefkopf verwandte "Oberkommando des Heeres. General z.b.V. beim Ob.d.H.", und daß er selbst unterzeichnete. Das war formal korrekt und deutet darauf hin, daß die Sache weder von Brauchitsch ausging noch von Halder, sondern eben von Müller. Ein zweiter Hinweis besteht darin, daß von allen Beteiligten, die sich über die Sache geäußert haben, niemals einer auf den Gedanken gekommen ist, die Verantwortung auf Haider abzuwälzen, nicht einmal der General Müller selbst, der es ja am ehesten gewußt haben wird. Sodann trugen Müller und der Rechtsberater des OKH Lattmann am 6. Mai bei Haider über verschiedene Gegenstände vor, nämlich die beiden Entwürfe sowie die Frage von Todesurteilen gegen Heeresangehörige während der Operationen, wobei das letztere ausschließlich in den Verantwortungsbereich des Oberbefehlshabers Brauchitsch fiel. Der Vortrag diente lediglich der Unterrichtung Halders und bezweckte keinerlei Art von Auftragserteilung. In seinen Aufzeichnungen erwähnte Haider einen 2o Die angezogenen Dokumente in Buchheim, Anatomie II, 166ff. Hitlers Rede vom 30. 3. 1941 nach Halder, KTB ll, 335 ff. Warlimont I, 175 ff. Einspruch der Generale nach IMG, Bd 20, 635 (9. 8. 1946). Schall-Riaucour, 162ff. Allgemein Krausnick, KommissarbefehL Betz, Landkriegsvölkerrecht
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Befehl an die Truppen im Sinne der letzten Führer-Ansprache an die Generäle, womit wohl der Kommissarbefehl gemeint war, und gab den Inhalt dieses Entwurfs oder beider Entwürfe so wieder: "Truppe muß den weltanschaulichen Kampf mit durchfechten bei Ostfeldzug." Die Unterstellung, Haider habe derartiges gutgeheißen, ergibt sich weder aus dieser noch aus einer anderen Quelle; sie bildet damit eine fahrlässige oder böswillige Irreführung. Im übrigen folgte die Formulierung Halders dem Wortlaut der beiden Entwürfe, denn dort hieß es, der Truppe trete der Träger der jüdisch-bolschewistischen Weltanschauung entgegen, vor dem sich die Truppe schützen müsse (was auch Hitler schon verkündet hatte). Über die beiden Entwürfe fand ein Gespräch statt, von dessen Inhalt Müller oder Lattmann den Chef der Wehrmachtrechtsabteilung Lehmann unterrichtete, der es seinerseits bei anderer Gelegenheit wiedergab. In dem Entwurf Müllers bzw. Laumanns zur Gerichtsbarkeit hieß es, Angriffe jeder Art von Landeseinwohnern gegen die Wehrmacht seien mit den Waffen sofort mit den äußersten Mitteln niederzuschlagen. Zu einschlägigen Tätern zählte der Entwurf außer Freischärlern auch alle diejenigen, welche sich durch irgendeine Tat gegen die Wehrmacht auflehnten; sie sollten im Kampf oder auf der Flucht erschossen werden. Wurden sie auf diese Weise nicht erledigt, so waren sie sogleich einem Offizier vorzuführen, der über ihre Erschießung entschied. (Man muß auf diese Einzelheiten ein wenig eingehen, um die Zusammenhänge zu verstehen.) Den Maßnahmen der Wehrmacht unterlagen demnach alle, die sich durch irgendeine Tat, wozu auch ein nicht näher definierter Widerstand gehörte, gegen die Wehrmacht auflehnten. Solche Täter waren entweder bei Begehung der Tat zu erschießen oder auf der Flucht, was offenbar heißen sollte, daß die Truppe sie unmittelbar verfolgte. Waren sie dann immer noch am Leben, so sollte ein Offizier über ihre Erschießung entscheiden. Sieht man von der Unschärfe dieser Festlegungen ab, so liefen sie wohl darauf hinaus, daß die Truppe sich nur durch Selbsthilfe gegen rechtswidrige Handlungen der Bevölkerung schützte. In diesem Sinne stellte Lehmann fest, eine Militärgerichtsbarkeit über Landeseinwohner gebe es in dem Entwurf praktisch nicht. Dagegen wandte sich nun Halder. Er wollte die Gerichtsbarkeit gern erhalten sehen in den Fällen, wo die Truppe keine Zeit zu Ermittlungen hatte, und ebenso bei den vielen kleinen Delikten, die ein Erschießen nicht rechtfertigten. Die Selbsthilfe der Truppe sollte also beschränkt werden auf die Abwehr schwerer Angriffe, darunter der unbedingt todeswürdigen Freischärlerei, während ansonsten die Gerichte zuständig waren, sofern nicht die Truppe durch eigene Ermittlungen die Schuldfrage klärte (was sie vermutlich nur in besonderen Fällen tun würde). Vom Normalzustand wäre das wohl nicht weit entfernt gewesen. Lehmann strich besonders den Umstand heraus, daß Halders Gedanke in den Entwurf Müllers nicht übernommen worden war. Das ist in der Tat bemerkenswert. Man kann daraus nur den Schluß ziehen, daß Haider in dieser Angelegenheit dem General z.b.V. Müller nie einen Auftrag erteilt hat. Er hat ihm vorher keinen erteilt, sonst hätte Müller keinen Entwurf erstellt, der das Gegenteil von dem be-
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sagte, was Haider wollte, und er hat am 6. Mai keinen Auftrag erteilt, sonst hätte Müller seinen Entwurf ändern müssen. Das entspricht genau dem, was Haider immer festgestellt hat: Er wollte sich aus dieser Sache heraushalten. Man könnte dann höchstens noch die Frage stellen, warum Haider nicht am 6. Mai eine Änderung erzwang. Die Antwort ist ziemlich einfach: Es hätte sowieso nichts genützt, weil zu dieser Zeit im OKW bereits ein Entwurf vorbereitet wurde, der über denjenigen Müllers noch hinausging. Der Vollständigkeit halber sei schließlich erwähnt, daß Haider den Offiziersentscheid über die Erschießung guthieß. Das erklärt sich leicht im Zusammenhang mit seinen sonstigen Vorschlägen. Wenn die Gerichtsbarkeit, wie Haider anregte, weitgehend erhalten blieb, dann gab es bei nicht todeswürdigen Verbrechen ohnedies keinen derartigen Offiziersentscheid, und bei todeswürdigen Verbrechen mußte entweder durch Ermittlungen die Schuldfrage geklärt werden oder das Erschießen durch Offiziersentscheid konnte nur bei klarer Beweislage stattfinden, also dann, wenn der Täter auch durch ein Gericht zum Tod verurteilt worden wäre. Ferner schlug Haider vor, gegen Ortschaften, aus denen hinterlistige und heimtückische Angriffe erfolgten, seien unverzüglich auf Anordnung eines Kommandeurs kollektive Gewaltmaßnahmen durchzuführen, falls die Umstände eine rasche Feststellung einzelner Täter nicht erwarten ließen. Gemäß einer verbreiteten Rechtsauffassung war dies mit dem Völkerrecht vereinbar. Beim Kommissarbefehl enthielt sich Haider eigener Vorschläge. Der Rechtsberater des OKH Laumann berichtete darüber später, er- Laumann -habe auf die Völkerrechtswidrigkeit hingewiesen, worauf Haider erwidert habe: "Ist das wirklich Thre Ansicht?" Ferner habe Lattmann gefragt, ob nicht das OKH bei Hitler gegen den Befehl Einwände erheben könne. Haider habe das als zwecklos abgelehnt und gemeint, man solle besser den Befehl bei der Weitergabe abschwächen; er werde darüber noch mit Brauchitsch sprechen. Durch diese Aussage aus der Erinnerung werden die Angaben Halders in willkommener Weise ergänzt, auch wenn man in Rechnung stellen muß, daß sie die eine oder andere Unschärfe enthält. Zunächst ist festzuhalten, daß der Kommissarbefehl und der Gerichtsbarkeitserlaß in den vorgelegten Entwürfen logisch miteinander verknüpft waren. Das erforderte die Systematik des Rechts, denn das Töten von (zivilen oder militärischen) Kommissaren bildete eine Straftat, die als solche verfolgt werden mußte. Das bloße Anordnen von Straftaten änderte an ihrer Strafbarkeit gar nichts; solche Handlungen wurden erst dann zulässig, wenn die Strafbarkeit beseitigt wurde. In Müllers bzw. LaUmanns Entwurf zur Gerichtsbarkeit wurde daher die Truppe für derartige Handlungen straffrei gestellt. Der Kommissarbefehl war also ohne den Gerichtsbarkeitserlaß nicht denkbar. Die Ausarbeitung des Gerichtsbarkeitsentwurfs hat Haider offenkundig nicht befohlen, demzufolge kann er auch die Ausarbeitung des Kommissarentwurfs nicht befohlen haben. Der Kommissarentwurf muß entweder von Lattmann oder von Müller erstellt worden sein, vermutlich eher von LaUmann, da dieser mit ziemlicher Sicherheit auch den Gerichtsbarkeitsentwurf ausgearbeitet hat. Daraus würde sich ergeben, daß Lattmann gegenüber Haider die Völkerrechtswidrigkeit seines eigenen Entwurfs herausstrich und den Generalstabs-
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chef fragte, ob nicht das OKH bei Hitler Einwände erheben könne gegen seinen Laumanns - Entwurf. Merkwürdiges Verhalten! Allerdings durchaus verständlich, wenn man den Zusammenhängen nachgeht. Zu dieser Zeit stand das OKW noch in der Auseinandersetzung mit Hitler, hatte keinen Kommissarbefehl ausgearbeitet, befand sich jedoch gewissermaßen auf dem Weg, der dorthin führte. Aus rechtslogischen Gründen war der Gerichtsbarkeitserlaß immer vorrangig oder übergeordnet; wenn die Strafbarkeit von Handlungen der eigenen Truppe beseitigt wurde, durfte die Truppe gar vieles tun, z. B. auch Kommissare umbringen. In diesem Fall lag es sogar nahe, genau zu umreißen, was die Truppe durfte und in welchen Formen sie es tun sollte, damit nicht jeder sich aufführte, wie seine Instinkte es ihm eingaben. Der Chef der Wehrmachtrechtsabteilung Lebmann hatte nun bereits in einen Entwurf zur Gerichtsbarkeit vom 28. April den Satz aufgenommen, für Handlungen, welche Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begingen, bestehe kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen sei. Offenbar ging das Hitler noch nicht weit genug, denn mit diesem Entwurf gab er sich nicht zufrieden. Damit erschließt sich ein Zugang zu der erwähnten Mitteilung Lattmanns. Hitler beharrte auf seiner Forderung, die Gerichtsbarkeit großenteils auszuschalten und die Wehrmacht in den weltanschaulichen Kampf mit einzubeziehen, auch durch das Töten bolschewistischer Funktionäre. Weil Müller dies wußte, fühlte er sich bemüßigt, eigene Entwürfe vorzulegen, wobei die Neuerung darin bestand, nunmehr zugleich die Kommissarfrage zu regeln. Die Gründe werden vielleicht immer im Dunkeln bleiben; denkbar wäre, daß Müller die Verwilderung der Truppe fürchtete, die notwendigerweise eintreten mußte, wenn ihr Verbrechen jeder Art freigegeben wurden, und daß er glaubte, dem lasse sich am ehesten begegnen, indem ein geregeltes Verfahren für das Töten von Kommissaren festgesetzt wurde, so daß einerseits Hitler befriedigt wurde und andererseits die Manneszucht keinen Schaden litt. Trifft das zu, dann hätte Haider in seinen Aufzeichnungen am 6. Mai die Beweggründe Müllers festgehalten: "Truppe muß den weltanschaulichen Kampf mit durchfechten bei Ostfeldzug." Sie mußte es tun, nach Müllers Meinung, weil der Führer dies verlangte und weil es unter solchen Umständen zweckmäßig war, geordnete Formen dafür zu finden. Müller und Laumann wußten sehr wohl, daß dies dem Völkerrecht zuwiderlief; deswegen äußerte Lattmann, als er und Müller am 6. Mai mit Haider sprachen, seine Bedenken und fragte, ob das OKH etwas gegen den Kommissarbefehl unternehmen könne. Man erkennt leicht, daß Laumanns Einwände auf niemand anderen zielten als auf den Diktator selbst. Hitler war ja der Ursprung für Müllers Maßnahmen; nur wenn man Hitler seine Ideen ausreden konnte, so Lattmanns Überlegung, wurde der Kommissarbefehl entbehrlich. Zugleich wußte Lattmann, daß Haider dem General z.b.V. keinen Auftrag erteilt hatte, denn andernfalls wäre seine Anregung, das OKH solle gegen den Kommis-
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sarbefehl einschreiten, völlig widersinnig gewesen. Hätte Haider einen derartigen Auftrag erteilt, so hätte Lattmanns Anregung bedeutet, Haider solle seinen Oberbefehlshaber Brauerutsch veranlassen, daß er gegen eine Anordnung Halders bei Hitler protestiere, oder Haider solle selber bei Hitler gegen seine Anordnung protestieren, also praktisch Hitler veranlassen, daß er Halders Anordnung zurücknahm. Solche Absonderlichkeiten hatte Lattmann natürlich nicht im Sinn, vielmehr war ihm bewußt, daß sowohl Haider als auch Brauchitsch Hitlers Absichten weder unterstützten noch daran teilnahmen. Haider wiederum wollte mit der Angelegenheit eigentlich nichts zu tun haben, erklärte sich aber immerhin bereit, Brauchitsch noch einmal an eine Abschwächung zu erinnern. Von daher wird wohl auch die rätselhafte Antwort Halders auf Lattmanns Hinweis wegen der Völkerrechtswidrigkeit verständlich: "Ist das wirklich Ihre Ansicht?" Darin verbarg sich ein spürbarer Tadel, denn wenn die Entwürfe völkerrechtswidrig waren, warum hatte Laumann sie dann ausgearbeitet? Er war ja schließlich Rechtsberater des OKH und als solcher zuständig für die Rechtlichkeit. Hauptaufgabe des Generalstabschefs bildeten Operationen und dergleichen; es zählte nicht zu seinen Obliegenheiten, auch noch dem Rechtsberater dessen Verpflichtungen abzunehmen. Aber es war so, wie es meistens zu sein pflegt: Lattmann wußte, daß eigentlich etwas unternommen werden müsse, er wollte es nur nicht selber tun, sondern andere vorschicken. Darüber mag sich ereifern, wer will, man sollte indes berücksichtigen, daß dies die gängige Einstellung der meisten Leute ist. Haider kannte diese Einstellung, nicht zuletzt aus den Kreisen des Widerstands, wo mancher dazu neigte, seine eigene Hilflosigkeit mit galligen Bemerkungen über Haider und Brauchitsch zu überspielen. Das war einer der Gründe, wieso Haider es für das Klügste hielt, in die unerquicklichen Auseinandersetzungen um die verbrecherischen Befehle nicht verwikkelt zu werden. Freilich noch aus einem anderen Grund: Nachträglich hat man Haider vorgeworfen, er habe nicht versucht, den Kommissarentwurf Müllers bzw. Lattmanns abzuschwächen. Beim Entwurf über die Gerichtsbarkeit hat Haider derartiges sehr wohl versucht, und Müller hat es nicht übernommen. Haider hätte den General z.b.V. zwingen können, neue Entwürfe auszuarbeiten. Dann wäre Haider dafür verantwortlich gewesen; er hätte seinen guten Namen hergegeben für ein Unterfangen, aus welchem sich hätte ablesen lassen, Haider wünsche ein weit geringeres Maß an Unrecht als Hitler, oder mit anderen Worten: Haider wünsche weniger Menschen umzubringen als Hitler. Der Generalstabschef wünschte aber überhaupt kein Unrecht, und da er das Unrecht nicht verhindern konnte, hat er wenigstens sich selber davon freigehalten. Im OKW haben Warlimont und andere danach getrachtet, Hitlers Unrecht zu vermindern - sie sind allesamt verurteilt worden. Und noch eins: Obwohl Haider definitiv nichts nachzuweisen ist, finden heute manche Leute ein Vergnügen daran, ihn durch den Schmutz zu ziehen. Was würden sie erst sagen, wenn dokumentarisch belegte Vorgänge wirklich dem Verdacht Nahrung geben könnten, Haider habe dem Unrecht in beschränktem Umfang zugestimmt ?21 26 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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Die Ausgestaltung des Gerichtsbarkeitserlasses sowie des Kommissarbefehls wurde im OKW vorgenommen. Der Gerichtsbarkeitserlaß erging als Führererlaß am 13. Mai 1941 und stellte einleitend fest, die Wehrmachtsgerichtsbarkeit diene in erster Linie der Erhaltung der Manneszucht Zweifellos stellte dies den Versuch dar, die Folgen des weitgehenden Beseitigens der Gerichtsbarkeit möglichst gering zu halten. Wenn das Verhältnis zwischen Wehrmacht und Gegner nicht mehr durch das Recht geregelt wurde, dann geriet nicht nur die Disziplin in Gefahr, sondern dann war umgekehrt die Disziplin das einzige Mittel, wenigstens einen Rest an Ordnung im Verhältnis zwischen Truppe und Gegner aufrechtzuerhalten. Ohne Manneszucht stellte der Krieg dann wirklich nur noch eine rohe Schlächterei dar, bei welcher jeder tun durfte, was ihn gutdünkte. Der gerichtliche Rechtsschutz bei Straftaten von Landeseinwohnern entfiel (fast) vollständig; Straftaten feindlicher Zivilpersonen sollten der Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit entzogen sein. Allerdings wurde die Möglichkeit offengelassen, in ausreichend befriedeten Gebieten die Militärgerichtsbarkeit wieder einzuführen. Bis dahin war die Truppe auf die Selbsthilfe angewiesen, d. h. sie sollte Angriffe von Zivilpersonen mit den äußersten Mitteln bis zur Vernichtung des Angreifers niedermachen; Tatverdächtige waren einem Offizier zum Entscheid über die Erschießung vorzuführen. Auf der anderen Seite entfiel der Zwang zur Strafverfolgung bei Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges (also auch der SS) gegen feindliche Zivilpersonen. Da ausdrücklich von Zivilpersonen die Rede war, durften sowjetische Kommissare der Roten Armee nicht behelligt werden, weder von der Truppe noch von der SS. Gemäß dem sog. Wagner-Heydrich-Abkommen galt dies für das Operationsgebiet ohnehin; das OKW, das gegenüber Hitler offenbar noch immer bremste, wollte es auf seinen eigenen Bereich ausdehnen, d. h. auf die entsprechenden Kriegsgefangenenlager. Als später der Kommissarbefehl erging, mußte man sich damit behelfen, daß die militärischen Kommissare nicht als Soldaten anerkannt wurden. Obwohl der Verfolgungszwang bei Straftaten der eigenen Truppe entfiel, konnten solche Straftaten verfolgt werden, wenn die Erhaltung der Manneszucht es gebot. Brauchitsch erließ am 24. Mai einen erläuternden OKH-Befehl zum Gerichtsbarkeitserlaß, in der erkennbaren Absicht, ihn zu entschärfen. Das harte Durchgreifen gegen Landeseinwohner sollte auf schwere Fälle der Auflehnung beschränkt werden, geringere Straftaten waren durch geeignete Mittel zu sühnen, z. B. vorübergehende Haft, Anbinden, Strafarbeit. Die eigene Truppe durfte nicht tun, was sie wollte, sondern war unbedingt an die Befehle ihrer Offiziere gebunden. Diese Wortwahl verrät eine gewisse Ratlosigkeit, was leicht erklärlich ist, da Hitlers Vorstellung, die Gerichtsbarkeit zu beseitigen, nicht einfach nur moralisch verwerflich 21 Der Organisationsbefehl über den General z.b.V. in Bundesarchiv- Militärarchiv, RH 19 III/146. Zu Halders Befugnissen Schall-Riaucour, 78. Die Entwürfe Müllers in Buchheim, Anatomie li, 174ff. Dazu Moritz, Barbarossa. Vortrag bei Haider am 6. 5. 1941 in Halder, KTB li, 399 f. Allgemein Krausnick, KommissarbefehL Betz, Landkriegsvölkerrecht, 181 ff. und passim.
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war, sondern einen Anschlag darstellte auf die geregelte Ausübung des Soldatenhandwerks. Menschliches Verhalten wird durch das Recht geordnet, und die Einhaltung des Rechts wird durch die Gerichtsbarkeit erzwungen. Entfallen diese Bausteine zivilisierter Verhaltensweisen, so werden die Errungenschaften langer Kulturentwicklung preisgegeben. Hitlers Weltanschauung wurde in diesen Untersuchungen früher als Anti-Modernismus beschrieben; bestätigt wird dies unter anderem durch Hitlers Einstellung zum Recht im allgemeinen und zum Militärrecht im besonderen. Der Wunsch des Diktators, die Truppe in den weltanschaulichen Kampf zu verwickeln, erzeugte in Wirklichkeit nur Durcheinander und brachte unnütze Belastungen für die Truppe mit sich. Demgegenüber bot der Gerichtsbarkeitserlaß gewissermaßen den Notnagel, die normale Strafverfolgung bei Handlungen der eigenen Truppe beizubehalten, wenn die Disziplin es verlangte. Brauchitsch hätte das in seinen Zusatzbefehl aufnehmen und beispielsweise anordnen können, alle Taten, welche die Manneszucht gefährdeten, seien gerichtlich zu verfolgen. Aus guten Gründen tat er es nicht. Eine Handlung ist entweder strafbar oder sie ist es nicht; sie kann nicht bloß dann strafbar sein, wenn sie unter Verletzung der Disziplin begangen wird. Das liefe am Ende darauf hinaus, daß ein disziplinierter Mord zulässig ist. Brauchitsch besaß tatsächlich keine andere Handhabe als den Verweis auf die Befehle der Offiziere. Damit wurde die Entscheidung, wann Straftaten zu verfolgen seien, auf die Truppenführung verlagert. Diese wiederum war damit überfordert, weil keine klare Rechtslage mehr existierte. Die Truppenführung konnte je nach Ermessen oder eigenem Geschmack strafbare Handlungen gerichtlich verfolgen oder es bleibenlassen. Für die Truppe entstand daraus allgemeine Rechtsunsicherheit, denn dieselbe Art von Taten mochte an einem Ort verfolgt werden, am andem nicht, was wiederum die Disziplin gefährdete. Entweder alle durften dasselbe oder alle durften es nicht. Was unter solchen Umständen eintreten würde, war ziemlich klar abzusehen: Die Truppenführung würde auf jeden Fall versuchen, die Disziplin zu wahren, aber beim Begehen von Straftaten würde es Einbrüche geben, weil kein einheitlicher Zwang zum Verfolgen von Straftaten mehr vorlag und deshalb manche Straftaten Duldung oder Hinnahme erfahren würden. Der Kommissarbefehl erging als OKW-Erlaß am 6. Juni 1941; er war nicht unterschrieben, vielleicht weil weder Keitel noch Jodl sich dafür hergeben wollten, so daß Warlimont ihn weiterleiten mußte, wobei er nur bis zu den Armeen und Luftflotten schriftlich-verteilt werden sollte. Hitler hatte an sich alle bolschewistischen Funktionäre ("Kommissare") beseitigen wollen. Dies wurde vom OKW eingeschränkt, wobei es ihm zustatten kam, daß der Parteiideologe Rosenberg, der als Minister für die besetzten Ostgebiete vorgesehen war, zivile Funktionäre der unteren Ebenen für den Aufbau der Verwaltung als unentbehrlich ansah und daher am Leben lassen wollte. Der Kommissarbefehl sah vor, zivile Funktionäre, die sich keiner feindlichen Handlung schuldig machten, zunächst unbehelligt zu lassen; wurden sie wegen zweifelhaften Verhaltens ergriffen, so waren sie an die Sonderformationen der SS abzugeben. Falls zivile Funktionäre Widerstand leisteten, wa26•
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ren sie als Freischärler zu erledigen. Militärische Kommissare mußten, wenn im Kampf ergriffen, noch auf dem Gefechtsfeld von der Truppe erledigt werden. Brauchitsch gab auch zum Kommissarbefehl einen eigenen Befehl heraus, der nicht viel mehr enthielt als die Bestimmung, das Erledigen der Kommissare durch die Truppe habe abseits und unauffällig auf Befehl eines Offiziers zu erfolgen. Dabei ging es natürlich wieder um die Wahrung der Manneszucht; außerdem bestand so eine gewisse Aussicht, das Töten der Kommissare zu verhindern, weil dies erst einmal von einem Offizier angeordnet werden mußte. Ordnete es keiner an, so fand es nicht statt. Daraus läßt sich schließen, daß das OKH seinen Widerstand keineswegs einstellte. Nach dem Zeugnis des Generals z.b.V. Müller hatte Brauchitsch wiederholt bei Hitler Einspruch gegen den Kommissarbefehl erhoben, war aber von Hitler zweimal hinausgeworfen worden, ohne eine Zurücknahme oder Änderung des Befehls zu erreichen. Dazu ist zu bemerken, daß es an sich nicht zu den Aufgaben des Soldaten gehört, die Maßnahmen der politischen Führung zu kritisieren. Im Dritten Reich ist das fortwährend geschehen und hat trotzdem nichts genützt. Brauchitsch hat seine Pflicht als Oberbefehlshaber und seine Pflicht als sittliches Wesen erfüllt; er hat versucht, Hitler von seinen Plänen abzubringen, und er hat, als dies nicht gelang, etwas getan, was normalerweise kein Soldat tun darf: Er hat versucht, die Anordnungen der politischen Führung zu hintertreiben. Was erwartet man eigentlich noch? Hinz und Kunz gehen heute hausieren mit dem Argument, die Soldaten hätten nicht genug getan. In Wahrheit trifft das zu, was in diesen Untersuchungen des öfteren festgestellt wird: Durch bloßes Zureden und durch Sachargumente ließ Hitler sich nie von seinem Weg abbringen. Dieses Subjekt konnte nur durch Gewalt aufgehalten werden, durch einen Staatsstreich. Das hatte Haider beizeiten erkannt. Da der Staatsstreich im Jahr 1941 nicht möglich war, konnten die Soldaten nicht viel mehr tun, als sie tatsächlich getan haben. Welche Folgen die verbrecherischen Befehle bei der Wehrmacht hatten und in welchem Ausmaß sie von der Truppe durchgeführt wurden, ist bis heute nicht genau bekannt. Auch von daher verbietet sich jede pauschale Schuldzuweisung an die Wehrmacht. Dabei ist zu bedenken, daß der Kommissarbefehl unmißverständlich ausdrückte, die Truppe habe die militärischen Kommissare zu töten. Das war ein klarer Befehl, und jeder, der den Befehl mißachtete, machte sich im Prinzip der Gehorsamsverweigerung schuldig, die strafbar war. Nichtsdestoweniger wurde der Befehl auf allen Ebenen der Kommandohierarchie vielfach umgangen, d. h. ein großer Teil der Wehrmacht verfiel in Ungehorsam. Wie groß dieser Teil war, weiß man nicht, er muß aber sehr groß gewesen sein. Haider wurde am 1. August 1941 von General Müller darüber unterrichtet, die gefangenen Kommissare würden zum größten Teil erst in den Gefangenenlagern festgestellt. Das entspricht dem, was auch sonst über die Sachlage bekannt ist. Demnach kann die Truppe an der Front zum größten Teil die Kommissare nicht erschossen haben. Dieser Umstand bleibt festzuhalten; er sagt einiges aus über das charakterliche und sittliche Rückgrat der Soldaten. Selbstverständlich bestand die Masse der Wehrmacht nicht aus Widerstandskämpfern, ebensowenig wie die Masse des Volkes. Bei einer Anzahl von
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Truppenteilen wurden die Kommissare erschossen, weil die Offiziere meinten, einem Befehl gehorchen zu müssen, weil ihnen die Rechtslage unklar war oder weil sie vielleicht auch glaubten, der Kampf gegen den Bolschewismus erfordere es. Aber die weit überwiegende Mehrheit der Soldaten folgte ihrem Gewissen, ihrem Gefühl für Anstand und ihrer Erziehung, die es ihnen verboten, Wehrlose umzubringen. Die Wehrmacht insgesamt war kein williges Werkzeug für Hitlers Ausrottungsabsichten; entgegengesetzte Behauptungen wären eine glatte Lüge. Hitler meinte dazu, er wisse ja, daß man im Heer die gegebenen Befehle, z. B. den Komrnissarbefehl, gar nicht oder nur zögernd befolgt habe, woran das OKH schuld sei. Wenn er - Hitler - seine SS nicht hätte, wäre noch vieles unterblieben. In der Tat wurde das Töten der Kommissare zum größten Teil von der SS besorgt (oder genauer gesagt vom Reichssicherheitshauptamt, in welchem SS und politische Polizei verschmolzen waren). Wie nicht anders zu erwarten, versuchte Heydrich bald nach Feldzugsbeginn, seiner SS den Zugang zu den Kriegsgefangenenlagern zu öffnen, was ihm gelang, als er Mitte Juli 1941 ein entsprechendes Abkommen mit dem OKW schloß und im Oktober eines mit dem Generalquartiermeister des Heeres, welches sich auf das rückwärtige Heeresgebiet bezog. Den Maßnahmen der SS in den Kriegsgefangenenlagern fielen bis Kriegsende vermutlich weit über 100 000 Menschen zum Opfer. Was die sowjetischen Kriegsgefangenen insgesamt angeht, so dürften während des Krieges von den 5,3 Millionen Mann über zwei Mio. verstorben bzw. ums Leben gekommen sein, der größte Teil davon schon bis Frühjahr 1942. Das ging weder auf eine allgemeine Vernichtungsabsicht zurück noch kann es ohne weiteres der Wehrmacht angelastet werden. Nach den ursprünglichen Plänen von OKH und OKW hätte es in Rußland eine einheitliche Militärverwaltung geben sollen, die einheitlich für die Versorgung der Truppe und ihrer Gefangenen hätte wirken können, insbesondere durch den Rückgriff auf die Hilfsquellen des Landes. Hitler durchkreuzte dies, indem er die wirre Organisation der Besatzungsherrschaft anordnete mit ihrem Nebeneinander von Operationsgebiet, Reichskomrnissariaten, Zuständigkeiten des Heeres und des OKW, sowie Göring mit der wirtschaftlichen Ausplünderung des Landes beauftragte, was zur Folge hatte, daß Nahrungsmittel, die im Lande benötigt wurden, herausgeschafft und die Kriegsgefangenen zu unnützen Essern erklärt wurden, so daß viele an Hunger und Seuchen starben. Daß Hitler außerstande war, einen Krieg vernünftig zu planen und durchzuführen, war nicht die Schuld der Wehrmacht; sie hatte sich nur mit den Folgen auseinanderzusetzen. Das gilt auch für die Kommissarfrage. Aus der Truppe trafen ab August 1941 Berichte ein, das fallweise vorgenommene Erschießen der Kommissare trage zur Versteifung des sowjetischen Widerstands bei. Das OKH beantragte daraufhin im September die Aufhebung des Kommissarbefehls, was Hitler ablehnte. Erst im Mai 1942 ließ Hitler die Anwendung des Befehls im Operationsgebiet aussetzen. Über die Auswirkungen des Gerichtsbarkeitserlasses auf das Verhalten der Wehrmacht läßt sich wenig Bestimmtes ausmachen. Da die Truppe bei Straftaten
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von Landeseinwohnern auf die Selbsthilfe angewiesen war, mag man vermuten, daß entsprechende Maßnahmen mehr Opfer kosteten, als wenn die Gerichtsbarkeit eine sorgfaltige Klärung der Schuldfrage vorgenommen hätte. Dieser Zustand blieb während des ganzen Krieges erhalten, da die Gerichtsbarkeit nie mehr eingeführt wurde. Was Straftaten von Wehrmachtsangehörigen betrifft, so darf man nicht kurzerhand annehmen, einschlägige Verbrechen wie Raub, Mord, Plünderung, Notzucht und dergleichen seien sprunghaft angestiegen. Soweit erkennbar, hat die Truppenführung gegen solche Vorfalle sehr wohl eingegriffen, auch gerichtlich, schon um die Manneszucht zu wahren. Das Heer ist nie zu einer Verbrecherhorde geworden. Schwieriger liegen die Dinge im Umkreis rassenpolitischer Maßnahmen, die sich in einen gewissen Zusammenhang mit der Gerichtsbarkeit bringen lassen. Dabei ist erst einmal festzuhalten, daß der Hauptträger rassenpolitischer Maßnahmen von Haus aus die SS war und sein sollte, und daß die Wehrmacht nicht mit der Verantwortung für die Maßnahmen der SS belastet werden kann. Den vorrückenden deutschen Truppen folgten vier Einsatzgruppen der SS in Stärke von je 600 bis 1 000 Mann, die bis Ende 1941 vermutlich rund eine halbe Million Menschen umbrachten, fast ausschließlich Juden. Dies geschah öfters unter Hilfestellung der einheimischen Bevölkerung, ferner nicht ausschließlich im Operationsgebiet des Heeres, sondern auch in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine, die schrittweise seit Juli 1941 aufgebaut wurden und bis zum Herbst das Baltikum mit Weißrußland sowie die Ukraine westlich des Dnjepr umfaßten. Nach den Absichten der Heeresführung sollten an sich die Aufgabengebiete der Truppe und der SS streng getrennt sein; der Truppe oblag der Kampf gegen die feindlichen Streitkräfte, die SS hatte sich ihren politischen Tatigkeiten zu widmen - Tatigkeiten, deren Art von vornherein vermutet worden war, deren Durchführung nicht verborgen bleiben konnte, deren Ausmaß aber schwerlich ein Offizier übersah. In Wahrheit freilich ließ sich jene strenge Trennung nicht aufrechterhalten. Weniger bedeutend ist der Umstand, daß gelegentlich Soldaten bei Judenerschießungen zusahen oder gar aus eigenem Antrieb sich daran beteiligten. Die Truppenführung hat öfters versucht, derartiges zu unterbinden, konnte aber gewissermaßen nur mit gefesselten Händen tätig werden, weil es keinen Zwang zur Strafverfolgung für solche Vorkommnisse mehr gab und die SS dergleichen offenbar tun durfte. Daß dieses verboten sei, ließ sich den Soldaten schwer vermitteln, wenn die SS es ungehindert tat. Die Maßnahmen der SS im Operationsgebiet zu unterbinden, was der Truppenführung auf Grund des sog. Wagner-Heydrich-Abkommens wohl möglich gewesen wäre, fiel den Befehlshabern aus zwei Gründen schwer. Erstens hatte nicht nur die SS, sondern ebenso die Truppe den Auftrag zu Handlungen, die dem Rechtsempfinden widersprachen, nämlich in Gestalt des Kommissarbefehls. Eine glatte Lösung hätte nur darin bestehen können, alle diese Mißstände durch klare Anordnung auszuschalten, aber dazu hätten die Befehlshaber auch die Ausführung des Kommissarbefehls laut und deutlich verbieten müssen, was keiner wagte. So half man sich vielfach damit, den Kommissarbefehl unter der
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Hand zu sabotieren und über das Wirken der SS hinwegzusehen. Zweitens verfügten die Befehlshaber in den rückwärtigen Gebieten der Armeen und Heeresgruppen nur über sehr begrenzte Kräfte, so daß sie mehr oder weniger gezwungen waren, auf die Formationen der SS zurückzugreifen, die sich ohnedies bevorzugt dort aufhielten. Auf diese Weise entstand als wichtigster Berührungspunkt zwischen Truppe und SS die Bandenbekämpfung in den rückwärtigen Gebieten. Die SS ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, aus der Bandenbekämpfung eine allgemeine Judenjagd zu machen. Es mag sein, daß sich unter den Partisanen in größerer Zahl Juden befanden, zumal man vermuten möchte, mancher Jude habe lieber als Partisan um sein Leben gekämpft, statt still auf das Abschlachten zu warten. Es mag auch sein, daß etliche Befehlshaber den Zwiespalt überbrücken wollten, welcher für die Truppe entstand aus der Tätigkeit der SS in den rückwärtigen Gebieten einerseits sowie dem Gefühl andererseits, dieses sei eigentlich rechtswidrig und widerspreche der Würde des Soldatentums. Jedenfalls erließen einige Befehlshaber im Laufe des Jahres 1941 Befehle, in welchen sie die Sicherung der rückwärtigen Gebiete bzw. den Kampf gegen Partisanen mit judenfeindlichen Auslassungen verquickten, was ihnen später übel angekreidet wurde (einer davon, Manstein, wurde übrigens vor Gericht deswegen freigesprochen). Wie auch immer, in den rückwärtigen Gebieten geriet die Truppe sozusagen hautnah in Berührung mit der Tätigkeit der SS, wobei augenscheinlich vereinzelt die Truppe auch Juden erschoß. In welchem Umfang dies geschah, ist bislang nicht systematisch untersucht worden; was an Hinweisen tatsächlich vorliegt, erweist solche Vorfälle nicht als Regel, sondern als Ausnahme. Aber selbst wenn in den rückwärtigen Gebieten derartige Ereignisse häufiger aufgetreten sein sollten, besagt dies nichts über das Verhalten der Masse der Soldaten. In den rückwärtigen Gebieten befanden sich immer nur verhältnismäßig geringe Kräfte; der weitaus größte Teil aller Verbände stand an der Front, wo er mit Juden praktisch gar nichts zu tun hatte. Die Verstrickung der Wehrmacht in die rassenpolitischen Maßnahmen Hitlers und seiner SS betraf die weit überwiegende Mehrheit der Truppe nicht; der durchschnittliche Soldat kämpfte für sein Vaterland, nicht für die nationalsozialistische Weltanschauung. Allenfalls mittelbar wurde die Masse der Soldaten von den Folgen der weltanschaulichen Kriegführung erfaßt, und zwar so, daß die Truppe das Ergebnis der Hitlerschen Unvernunft ausbaden mußte. Tatsächlich brachte Hitlers Wille, den Krieg als rassischen Ausrottungskampf zu führen, der Wehrmacht nur Nachteile, da diese Art der Kriegführung Streitkräfte und Bevölkerung des Feindes gegen die Eindringlinge zusammenschweißte, die Rote Armee härter und ausdauernder kämpfen ließ, die Bevölkerung erbitterte und den Partisanen Zulauf verschaffte. Die Wehrmacht hat die weltanschauliche Kriegführung weder gewollt noch getragen, sie wurde lediglich dafür mißbraucht. Der Wehrmacht waren Unrechtshandlungen teils aufgetragen und teils nahegelegt, aber sie gab sich insgesamt nur geringe Blößen und bewies gegenüber den Zumutungen der Nationalsozialisten eine beachtliche Standfestigkeit 22
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3. "Barbarossa" - die Zerstörung eines Feldzugsplans Der deutsche Rußlandfeldzug des Jahres 1941, also im engeren Sinne das "Unternehmen Barbarossa", scheiterte nicht wegen der Unterschätzung des Gegners, nicht wegen des verspäteten Feldzugsbeginns, nicht wegen der Weite des Raumes und nicht wegen des Wetters - sondern er scheiterte, weil Hitler den allein erfolgversprechenden Feldzugsplan des OKH bzw. Halders zerstörte oder, genauer ausgedrückt, weil Hitler während des Feldzugs seine eigenen Vorstellungen gegen den Plan des OKH durchsetzte. Man erinnert sich, daß die Operationen in Frankreich und Rußland, wie Haider sie plante, in einem Punkt eine bemerkenswerte Ähnlichkeit aufwiesen: Beide setzten bedingungslos auf die Schnelligkeit der Bewegung, auf das rasche Durchstoßen in der entscheidenden Richtung - beim Frankreichfeldzug zur Kanalküste, beim Rußlandfeldzug nach Moskau. Tatsächlich jedoch stieß die Heeresgruppe Mitte, nachdem sie planmäßig bis Smolensk vorgedrungen war, nicht unverzüglich weiter nach Moskau vor, sondern sie blieb rund zwei Monate weitgehend untätig stehen, während ein Teil ihrer Kräfte mit zeitraubenden Nebenoperationen beschäftigt war. Ein nachdenklicher Beobachter ist auf den Gedanken gekommen, dies mit dem Frankreichfeldzug zu vergleichen. Was wäre denn geschehen, wenn die Heeresgruppe A im Westen bzw. die Panzergruppe Kleist nach dem Durchbruch an der Maas wochenlang untätig stehengeblieben wäre? Nun, der Gegner hätte eine neue Abwehrfront errichtet, der Sichelschnitt hätte in der bekannten Form nicht stattgefunden, der Krieg wäre vielleicht im Stellungskrieg versackt und niemand wüßte etwas von einem deutschen Sieg im Westen. Welche Erklärungen hätte dann die Geschichtsschreibung dafür feilgeboten? Daß man den Gegner sträflich unterschätzt habe, daß Frankreich sowieso nicht zu schlagen war, daß der schnelle Vorstoß von Panzerverbänden eine Irrlehre sei oder was sonst? Nebenbei bemerkt, hatte Hitler auch beim Frankreichfeldzug wegen einer eingebildeten Flankengefahr nach dem Maasdurchbruch die Panzergruppe Kleist anhalten wollen, was ihm damals mit Mühe ausgeredet worden war. Beim Rußlandfeldzug ließ er sich nichts mehr ausreden - das Ergebnis ist bekannt. Am 22. Juni 1941, morgens um drei Uhr, begann der Feldzug gegen die Sowjetunion, eine Stunde später wurde die Kriegserklärung überreicht. Eine strategische Überraschung war ausgeschlossen, da die russische Seite den deutschen Aufmarsch kannte und selbst aufmarschiert war, dagegen gelang die taktische Überraschung, da Stalin bis dahin unnötige Spannungen hatte vermeiden wollen. So kam 22 Der Einspruch von Brauchitsch gegen den Kommissarbefehl nach P. Hoffmann, Widerstand, 333. Die Dokumente sowie Hitlers Äußerung über die Durchführung des Kommissarbefehls in Buchheim, Anatomie II, !55, 179 ff. Haider über Durchführung des Kommissarbefehls in seinem KTB III, 139, 243 (1. 8., 21. 9. 1941). Zu den sowjetischen Kriegsgefangenen MGFA, Weltkrieg IV, 730 (Beitrag Hoffmann). Streim, Kriegsgefangene, 244ff. Zur Aussetzung des Kommissarbefehls Warlimont I, 185 f. Zu den Einsatzgruppen Krausnick I Wilhelm. Longerich. Einige neuere Versuche über das Thema der Kriegsverbrechen, wie diejenigen von Bartov, J. Friedeich und Schulte, sind in der Quellenbehandlung und Tatsachenfeststellung so unzuverlässig, daß sie zur Wahrheitsfindung nichts beitragen.
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es, daß erst in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni für die Truppen vor der deutschen Front die Gefechtsbereitschaft angeordnet wurde, wobei indes der Befehl die meisten Einheiten nicht mehr rechtzeitig erreichte. Der sowjetische Widerstand war anfangs ungeordnet; zur Verwirrung trug ein Befehl der sowjetischen Führung vom Abend des 22. Juni bei, dem Angreifer offensive Gegenschläge zu versetzen. Der Gedanke des Gegenangriffs ist im Grundsatz natürlich nicht falsch, zumal wenn er feindliche Stoßkeile in der Flanke faßt. Das setzt allerdings voraus, daß Führung und Truppe auf einen Angriff gefaßt sind, daß der Lageüberblick nicht verlorengeht, Oberkommando und Truppenführung den Widerstand einheitlich organisieren, dazu Befehlshaber und Kommandeure selbständig mitdenken sowie zweckdienlich handeln. All dies war nicht oder nicht in ausreichendem Maße gegeben, so daß die Rote Armee unmittelbar an der Grenze keinen nennenswerten Widerstand leistete, ansonsten den Kampf da annahm, wo sie eben hinter der Grenze stand, und vor allem die gefährlichen deutschen Durchbrüche nicht aufzuhalten vermochte. Die deutsche Luftwaffe errang nach wenigen Tagen die Luftüberlegenheit, streckenweise wohl auch die Luftherrschaft; am ersten Tag wurden mindestens 1200, nach anderen Angaben 1800 sowjetische Flugzeuge vernichtet, bis Ende Juni sollen es 4600 gewesen sein und bis zum 12. Juli fast 7000, während bis dahin 550 deutsche Flugzeuge zu Verlust gingen, also weniger als ein Zehntel. Ähnlich war das Verhältnis übrigens bei den Bodentruppen, wo die deutsche Seite bis zum 16. Juli rund 100 000 Mann an Toten, Vermißten und Verwundeten verlor, während für die sowjetische Seite mindestens eine Million geschätzt wurde (einschließlich Gefangene), also rund das Zehnfache. Bis Ende Juli stiegen die deutschen Verluste auf gut 200 000, was sich nicht stark vom Frankreichfeldzug unterschied, wo in der gleichen Zeitspanne ein Verlust von gut 150 000 Mann eingetreten war. Die sowjetische Führung unternahm verzweifelte Versuche, das drohende Verhängnis abzuwenden, so durch das Einziehen von rund fünf Millionen Wehrfähigen, die großenteils mit mangelhafter Ausrüstung und Ausbildung ins Gefecht geworfen wurden. In den Wochen nach Kriegsausbruch entstand eine neue Spitzengliederung mit dem Staatlichen Verteidigungskomitee, einer Art Kriegskabinett unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten und Parteisekretärs Stalin, ferner das Oberkommando der Streitkräfte (Stawka), ebenfalls unter der Leitung von Stalin, welcher obendrein das Amt des Verteidigungsministers sowie des Oberbefehlshabers übernahm und damit eine ähnliche Stellung bekleidete wie Hitler. Die Stawka als mehrköpfiges Entscheidungsorgan bediente sich für die militärische Planungsund Führungstätigkeit des Generalstabs, nunmehr unter der Leitung von Marschall Schaposchnikow. Die sowjetische Führung rechnete mit einem weiten Vordringen der Wehrmacht und wollte ihr möglichst wenig Beute in die Hand fallen lassen. Deswegen betrieb sie einerseits eine Politik der verbrannten Erde, indem landwirtschaftliche und andere Güter vernichtet wurden, ohne Rücksicht auf die Folgen für die Lebensbedürfnisse der Bevölkerung. Andererseits wurden Industriewerke aus den westlichen Landesteilen in die östlichen verlegt, insgesamt rund 1500, davon
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rund 1300 Rüstungsbetriebe, die dann dazu beitrugen, ab 1942 die Rote Armee auszurüsten. Die sowjetische Industrie erzeugte 1942 mehr Rüstungsgüter als 1941, wobei allerdings zu bedenken ist, daß nur die Ukraine fast vollständig in deutsche Hand fiel, während die beiden anderen Ballungsräume der sowjetischen Rüstungsindustrie, das Gebiet um Moskau sowie Leningrad, den Sowjets verblieben, so daß sie mindestens zwei Drittel der Rüstungskapazität des ganzen Landes behielten (unter Einrechnung der abtransportierten Betriebe vermutlich mehr). 23 Der deutsche Vormarsch entwickelte sich zunächst einigermaßen programmgemäß. Haider und sein Stellvertreter Paulus hatten ja geplant, in einem ersten Takt des Feldzugs die sowjetische Verteidigungsfront aufzureißen, den Gegner erheblich zu schwächen, um anschließend die deutschen Verbände bereitzustellen für den zweiten Takt, den Angriff auf Moskau, Leningrad und die östliche Ukraine. Zu diesem Zweck sollte im ersten Takt die Heeresgruppe Nord etwa bis zum PeipusSee vordringen, die Heeresgruppe Mitte bis Smolensk, die Heeresgruppe Süd bis zum Dnjepr und zum Raum um Kiew, damit anschließend die Heeresgruppe Mitte auf Moskau vorgehen konnte, an den Flanken gedeckt durch die beiden Heeresgruppen auf den Flügeln. In den ersten Wochen schien dies ohne Mühe erreichbar zu sein. Am 3. Juli meinte Halder, der Auftrag, die Masse des russischen Heeres vorwärts Düna und Dnjepr zu zerschlagen, dürfe als erfüllt gelten. Es sd wohl nicht zuviel gesagt, wenn er behaupte, daß der Feldzug gegen Rußland innerhalb von 14 Tagen gewonnen wurde. Natürlich sei er damit noch nicht beendet. Die Weite des Raumes und die Hartnäckigkeit des mit allen Mitteln geführten Widerstandes würden die deutsche Seite noch viele Wochen beanspruchen. Wenn die Wehrmacht erst einmal Dnjepr und Düna überwunden habe, werde es sich weniger mehr um das Zerschlagen gegnerischer Truppenteile handeln als darum, dem Feind seine Produktionsstätten aus der Hand zu nehmen. Diese Meinungsäußerung Halders gilt üblicherweise als ein Beispiel für verfrühte Siegesfreude und mittelbar als ein Beleg für die These, die deutsche Seite sei zu einer unvoreingenommenen Feldzugsplanung nicht in der Lage gewesen. Richtig ist demgegenüber, daß Halders Lageeinschätzung vor dem Hintergrund der operativen Entwürfe des OKH sowie der verfügbaren Aufklärungsergebnisse durchaus zutreffend war. Am 8. Juli hielt Haider über die Feindlage fest, von 164 aufgetretenen sowjetischen Schützendivisionen im europäischen Rußland fielen 89 ganz oder mit starken Teilen aus, 46 stünden noch kampfkräftig vor der deutschen Front und 29 seien an anderer Stelle gebunden (Finnland, Kaukasus) oder befanden sich als Reserve im Hinterland. Von 29 aufgetretenen Panzerdivisionen seien 20 ganz oder mit starken Teilen ausgefallen, 9 noch voll kampfkräftig. Die Bildung einer durchgehenden Gesamtfront sei dem Gegner nicht mehr möglich. Der Gedanke 23 Der Vergleich mit dem Frankreichfeldzug bei Stolfi, 42 ff. Zu den Verlusten MGFA, Weltkrieg IV, 652 ff. (Beitrag Boog). Halder, KTB III, 95, 151. Stolfi, 35. Allgemein zur russischen Seite Gosztony, 189ff. Pietrow, Stalinismus, 260ff. MGFA, Weltkrieg IV, passim. Kusnezow, 336 ff. Schukow. Segbers, passim. Erickson.
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der roten Heeresleitung scheine zur Zeit zu sein, den deutschen Vorstoß unter Einsatz aller Reserven auf dem Weg der Zermürbung durch Gegenangriffe so weit wie möglich westlich aufzuhalten. Dabei würden die deutschen Verluste offenbar gewaltig überschätzt. Inzwischen werde man mit dem Versuch rechnen müssen, neue Verbände aufzustellen, um mit ihnen gegebenenfalls später zum Angriff überzugehen. Besonders bei Panzerverbänden werde das Neuaufstellen in größerem Umfang aber scheitern, weil das erforderliche Personal fehle. Gemäß den verfügbaren sowjetischen Angaben müssen diese deutschen Aufklärungsergebnisse ziemlich genau gewesen sein. Bereits nach drei Kriegswochen befanden sich von den zunächst 170 russischen Divisionen vor der deutschen Front nur noch 70 in kampfkräftigem Zustand; rund 30 waren völlig und weitere 70 zu großen Teilen aufgerieben, was im Schnitt über 60 vernichteten Verbänden entspricht. Da bis dahin von den anfänglichen Kesselschlachten erst eine, diejenige von Minsk, stattgefunden hatte, müssen im weiteren Verlauf der ersten Feldzugsphase mit ihren Vernichtungsschlachten und sonstigen Kämpfen die sowjetischen Verluste noch steil in die Höhe geschnellt sein. Selbst wenn die sowjetische Verlustrate aus den ersten Feldzugswochen in der Folgezeit nur annähernd gleichblieb, dürften bis gegen Ende Juli kaum weniger als 100 Divisionen und bis Mitte August an die 150 vernichtet worden sein. Die sowjetische Panzerwaffe wurde in den Anfangsschlachten weitgehend zerschlagen und erholte sich bis Ende 1941 nicht mehr davon. Ende Juli mußten die Panzerkorps aus Mangel an Personal und Material aufgelöst werden. An ihre Stelle sollten zehn neue Panzerdivisionen mit verminderter Panzerzahl treten, was auch nicht gelang, so daß im September einige dieser Verbände als Schützendivisionen eingesetzt wurden, während aus dem Rest wenigstens Panzerbrigaden gebildet werden sollten. Bei den Schützendivisionen wurde der sollmäßige Personalbestand um ein Drittel, die sollmäßige Artillerieausstattung um die Hälfte und die Kraftfahrzeugausstattung um zwei Drittel gekürzt. Die sowjetische Luftwaffe war hoffnungslos unterlegen und trat kaum noch in Erscheinung. In den Anfangsschlachten wurde die Rote Armee so schwer zusammengeschlagen, daß sie tatsächlich, wie Haider meinte, den Hauptteil ihrer Kampfkraft einbüßte. Unter der Voraussetzung, daß der Feldzug weiterhin operativ richtig geführt wurde, nämlich so, wie das OKH plante, durfte Haider mit Recht sagen, der Feldzug sei schon am Anfang gewonnen worden. Dennoch würde er, nach Halders Auffassung, noch viele Wochen andauern; der sowjetische Widerstand würde in der Tiefe des Raumes weiterhin hartnäckig sein und der deutschen Seite weitere Kämpfe abverlangen. Allerdings würde das Ausschalten gegnerischer Streitkräfte nicht mehr das Hauptziel sein, wie am Anfang, vielmehr waren, gegen den feindlichen Widerstand, die Industriegebiete zu erobern, damit der Gegner nicht seine Streitkräfte erneut ausrüsten konnte. Dies mußte natürlich schnell geschehen, sonst würde der Zweck des Feldzugs verfehlt werden. Im einzelnen verliefen die Ereignisse im ersten Takt des Feldzugs so, daß die Heeresgruppe Süd gegen einen zahlenmäßig überlegenen Feind zunächst nur unter erheblichen Schwierigkeiten vorwärtskam. Haider hatte dies erwartet, denn wie er
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am 23. Juni festhielt, war durch den Wegfall der ursprünglich geplanten Operation aus Rumänien heraus (den Hitler angeordnet hatte) keine befriedigende operative Gestaltungsmöglichkeit gegeben. Man sei deshalb darauf angewiesen, die weiche Stelle. zu finden und an dieser den Panzerkeil mit allen Mitteln durchzutreiben. Die weiche Stelle wurde schließlich gefunden, als die Panzergruppe 1 am 7./9. Juli auf Berditschew und Schitomir westlich von Kiew durchstieß. Haider und das Oberkommando der Heeresgruppe Süd sahen daraufhin die Möglichkeit, sowohl im Handstreich Kiew zu nehmen als auch dem Gegner südlich des Dnjepr in den Rükken zu stoßen. Hitler, der sich wieder einmal einmischte, ohne wirklich zu verstehen, was vorging, verbot jedoch den Angriff gepanzerter Kräfte auf Kiew, so daß diese günstige Gelegenheit nicht genutzt werden konnte. Auch die zweckmäßige Form der Einkesselung südlich des Dnjepr mußte ihm erst mühsam abgerungen werden. Immerhin kam es so Anfang August zur Kesselschlacht von Uman, an welcher von Süden her auch die zur Heeresgruppe Süd gehörende 11. Armee teilnahm, die am 2. Juli aus Rumänien heraus zum Angriff angetreten war. Bei der Heeresgruppe Mitte schlossen die Panzergruppen 2 und 3 schon am 28. Juni den Kessel von Bialystok und Minsk, Mitte Juli den Kessel von Smolensk, wobei anschließend beide Kessel von den nachfolgenden Infanteriearmeen ausgeräumt wurden. Allein bei Minsk und Smolensk machte die Wehrmacht weit über eine halbe Million Gefangene und zerstörte oder erbeutete an die 7000 Panzer. Insgesamt dürfte die Rote Armee in den Anfangsschlachten gegen die drei deutschen Heeresgruppen mindestens 10 000 Panzer verloren haben, vermutlich noch mehr. Bei der Heeresgruppe Nord überwand die Panzergruppe 4 bis Ende Juni die Düna und ging anschließend, gefolgt von den Infanteriearmeen, in den Raum südlich des Peipus-Sees vor. Unterdessen hatte freilich auch Hitler sich zu Wort gemeldet. Der ursprüngliche Gedanke Halders, den Vormarsch der Heeresgruppe Nord Richtung Leningrad so anzulegen, daß dadurch die Heeresgruppe Mitte bei ihrem Vorstoß nach Moskau in der linken Flanke gedeckt werden konnte, muß immer noch lebendig gewesen sein. Das schnelle Erreichen der Düna durch die Panzergruppe 4 warf am 27. Juni die Frage auf, wie bei Heeresgruppe Nord die Operationen weiterzuführen seien: Sollte die Heeresgruppe nach Norden einschwenken, also nach Leningrad, oder sollte sie gewissermaßen an Leningrad vorbei in Richtung auf den Raum von Moskau stoßen? Hitler beantwortete die Frage so, daß es nicht darauf ankomme, die feindliche Hauptstadt, sondern die Kräfte des Feindes zu treffen, also den Gegner im Baltikum zu vernichten. Die Aufmarschanweisung des OKH hatte vorgesehen, die Panzergruppe 4 in den Raum nordostwärts Opotschka vorzuführen, von wo aus sie dann je nach Lage in nordöstlicher oder nördlicher Richtung weiter vorgehen konnte. Der Vorstoß Richtung Norden führte zwischen Peipus-See und Ilmen-See in den Raum von Leningrad; der Vorstoß in nordöstlicher Richtung dagegen führte südlich des Ilmen-Sees auf die Waldai-Höhe, einen operativen Schlüsselraum, weil von hier aus der Gegner sowohl die rechte Flanke der Heeresgruppe Nord als auch die linke Flanke der Heeresgruppe Mitte bedrohen konnte. Warum Haider die Wahlmöglichkeit offengelassen hatte, darf man vermu-
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ten: Operativ richtig wäre es gewesen, im Sinne der ursprünglichen Feldzugsplanung mit starken Kräften südlich des Ilmen-Sees vorzugehen, um die Heeresgruppe Mitte nach Norden abzudecken. Leningrad konnte in diesem Falle warten; selbst wenn nur schwächere Kräfte zwischen Peipus-See und Ilmen-See auf Leningrad vorgingen, würde die Stadt nach dem Fall Moskaus vom Gegner nicht zu halten sein. Andererseits stand zu befürchten, daß Hitler schnelle Kräfte von der Heeresgruppe Mitte nach Norden eindrehen wollte. Dem ließ sich unter Umständen begegnen, indem die Heeresgruppe Nord einen kraftvollen und schnellen Angriff auf Leningrad führte, so daß Hitler sich überzeugen ließ, der Heeresgruppe Mitte ihre Kräfte für den Stoß nach Moskau zu belassen. An jenem 27. Juni verlangte nun Hitler, die Panzergruppe 4 solle auf Ostrow, zwischen Opotschka und dem Peipus-See gelegen, durchstoßen, um das Entkommen der russischen Truppen aus dem Baltikum zu verhindern. Am 30. Juni spielte der Diktator gegenüber Haider und Brauchitsch wieder das alte Lied, es sei eilig, den Raum um Leningrad zu gewinnen, um die russische Flotte auszuschalten; außerdem sollten die Panzerverbände der Heeresgruppe Mitte im Norden, bei Leningrad, reinen Tisch machen, dann könne man sie anschließend, in Form der großen Zange, östlich Moskau sammeln. Dem OKH schien es daraufhin geraten zu sein, nicht mehr auf der an sich richtigen Lösung zu beharren, welche starke Kräfte südlich des Ilmen-Sees vorführte. Statt dessen erhielt die Panzergruppe 4 Anfang Juli den Auftrag, das Gebiet in die Hand zu nehmen, welches im Norden begrenzt wurde durch die Linie zwischen dem Ilmen-See sowie Pieskau am Südende des Peipus-Sees und im Osten durch den Fluß Lowat südlich des Ilmen-Sees bis Welikije Luki. Ferner sollte sich die Panzergruppe bereithalten, auf Befehl des OKH nach Norden vorzugehen mit dem doppelten Ziel, die Lücke zwischen dem Finnischen Meerbusen und dem Peipus-See zu sperren sowie Leningrad zwischen dem Finnischen Meerbusen und dem Ladoga-See abzuschließen. Im Grunde ließ das immer noch die Möglichkeit offen, mit starken Kräften südlich des Ilmen-Sees vorzugehen. Am 8. Juli meinte jedoch Hitler, die Heeresgruppe Nord könne den Auftrag, Leningrad zu erobern, allein erfüllen, was zugleich bedeutete, daß er einstweilen keine Kräfte der Heeresgruppe Mitte nach Norden eindrehen wollte. Das OKH gab sich deshalb mit dieser Lösung zufrieden und ließ die Heeresgruppe Nord mit dem Schwerpunkt in Richtung Leningrad angreifen. Eine ihrer Infanteriearmeen übernahm die Sicherung nach Osten in Richtung auf den Lowat - wo sich in Zukunft eine schwache Stelle der deutschen Front herausbildete, weil eben südlich des 11men-Sees andere Maßnahmen am Platz gewesen wären. 24 24 Halders Lagebeurteilungen vom 3. 7. und 8. 7. 1941 in seinem KTB III, 38f., 52. Zur Lage der Roten Armee Gosztony, I 93, 198 ff. MGFA, Weltkrieg IV, 713 ff. (Beitrag Hoffmann). Nekritsch-Grigorenko, 246. Zu den operativen Geschehnissen allgemein Philippi/ Heim. MGFA, Weltkrieg IV, 451-652 (Beitrag Klink), ist widersprüchlich und irreführend. Zu Heeresgruppe Süd Halder, KTB III, 7, 58ff. Zu Heeresgruppe Nord KTB OKW U2, 426, 1019. Halder, KTB III, 20, 29, 35 ff., 53. Fernschreiben des OKH an die Heeresgruppe Nord, 8. 7. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 211326.
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Die großen Auseinandersetzungen mit Hitler begannen freilich erst noch. In den ersten Wochen des Feldzugs kam Hitler fortwährend auf seine alte Vorstellung zurück, nach dem Erreichen von Smolensk die beiden Panzergruppen der Heeresgruppe Mitte nach Norden und Süden einzudrehen. Wenn er am 8. Juli gemeint hatte, die Heeresgruppe Nord könne allein bis Leningrad vorstoßen, so war dies nur eine Augenblickseingebung, von der er sofort wieder abrückte, als der Angriff nach Leningrad nicht unverzüglich durchschlug. Was der Diktator wirklich wollte, eröffnete er in einer Weisung vom 19. Juli, wo es hieß, die Heeresgruppe Mitte solle allein mit Infanteriedivisionen nach Moskau vorrücken, während die beiden Panzergruppen nach außen abgeklappt werden sollten, um die Heeresgruppen auf den Flügeln zu unterstützen. Nachdem Brauchitsch Einspruch erhoben hatte, erging am 22./23. Juli eine Ergänzung zu dieser Weisung, in welcher es hieß, die Panzergruppen 1 und 2 sollten unter einheitlichem Oberbefehl zusammengefaßt werden, um gemeinsam mit Infanteriedivisionen über das Industriegebiet von Charkow zum Kaukasus vorzustoßen. Die Panzergruppe 3 solle der Heeresgruppe Nord unterstellt werden für die Einkreisung des Feindes bei Leningrad, während die Heeresgruppe Mitte allein mit Infanterieverbänden Moskau in Besitz zu nehmen habe. Die beiden Weisungen hatten mit ernsthafter operativer Führung absolut nichts zu tun, vielmehr erwuchsen sie aus dem Eigensinn eines unbelehrbaren Ignoranten, der sich schon vor Feldzugsbeginn solch abwegige Vorstellungen gebildet hatte und sie nun mit aller Macht durchsetzen wollte. Das Drängen auf die rasche Einnahme Leningrads bzw. das zugehörige Abschwenken von der Mitte nach Norden verfolgte - abgesehen von Hitlers weltanschaulichen Beweggründen - im wesentlichen drei Ziele, die alle miteinander nicht stichhaltig waren: das Ausschalten der dortigen Industrie, das Herstellen der Verbindung zu den Finnen und die Sicherung der Ostsee. Ob die Leningrader Industrie ein paar Wochen früher oder später den Sowjets entrissen wurde, spielte keine große Rolle; sie würde am sichersten in deutsche Hand fallen, wenn die Rote Armee vor Moskau so geschlagen wurde, daß sie auch zur wirksamen Verteidigung Leningrads nicht mehr imstande war. Den Finnen die Hand zu reichen, war überflüssig, denn die Finnen, die am 10. Juli beiderseits des Ladoga-Sees den Kampf eröffnet hatten, würden auf jeden Fall russische Kräfte fesseln, und die beste Entlastung konnte man den Finnen bringen, indem man die sowjetischen Kräfte in Innerrußland zerschlug. Das Baltikum zu besetzen, um die russische Flotte auszuschalten und damit die Erzverschiffung aus Schweden zu schützen, war nicht so dringlich, denn erstens konnte die Besetzung der Küste bis hinauf nach Estland in vertretbarer Zeit auch von einer Infanteriearmee besorgt werden, zweitens ließ sich der Finnische Meerbusen - wie es tatsächlich geschah - durch Minensperren abschließen, und drittens gab es ja schließlich noch deutsche Seestreitkräfte, um die ohnedies nicht sehr schlagkräftige russische Flotte in Schach zu halten. Sodann blieb unklar, was die Panzergruppe 3 im Norden überhaupt sollte. Einmal hieß es, sie solle den Feind um Leningrad einkesseln, ein andermal, sie solle
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die rechte Flanke der Heeresgruppe Nord decken, was in jedem Fall einen Stoß über hunderte von Kilometern quer zur Vormarschrichtung beinhaltete. Die Versorgungslinien hätten über eine unzumutbare Entfernung in wegearmem Gelände quer durchs Feindesland gelegt werden müssen, was wohl nur so denkbar war, daß zugleich erhebliche infanteristische Kräfte von der Heeresgruppe Mitte ebenfalls nach Norden eingedreht wurden - eine aberwitzige Operation. Wie sehr Hitler sich im luftleeren Raum bewegte, wird auch daran deutlich, daß er im weiteren Verlauf der Operationen starke Teile der Heeresgruppe Nord, darunter die Panzergruppe 4, sowie infanteristische Kräfte der Heeresgruppe Süd in die Heimat zurückverlegen wollte. Offenbar rechnete er tatsächlich damit, der sowjetische Staat werde demnächst zusammenbrechen, wenn man ihm nur harte Schläge im Norden und Süden versetze, so daß anschließend geringere Kräfte den Vormarsch bis zur Wolga und zum Kaukasus bewerkstelligen könnten. Es paßt in dieses Bild der tobenden Unvernunft, wenn Hitler in der Weisung vom 22./23. Juli anordnete, für die Sicherung der eroberten Gebiete keine zusätzlichen Truppen zu verlangen. Widerstände der Bevölkerung dürften nicht durch die juristische Bestrafung der Schuldigen geahndet werden, vielmehr habe die Besatzungsmacht denjenigen Schrecken zu verbreiten, der allein geeignet sei, der Bevölkerung jede Lust zur Widersetzlichkeit zu nehmen. Hitler hätte wohl besser daran getan, die Bevölkerung durch einsichtige Behandlung zu gewinnen, dann hätten auch die Sicherungskräfte eher ausgereicht. Doch wie dem auch sei, Hitlers Weisungen stießen auf die Ablehnung des OKH und der Truppenführung. Durch eine weitere Weisung vom 30. Juli stellte daher Hitler seine Absichten vorerst zurück und ordnete an, die Heeresgruppe Mitte habe zur Verteidigung überzugehen und die Panzergruppen 2 und 3 zur Auffrischung aus der Front zu ziehen. Einer neueren These zufolge soll die Schlacht von Smolensk den eigentlichen Wendepunkt des Ostfeldzugs darstellen. Die hartnäckige Gegenwehr der Roten Armee bei Smolensk habe, so heißt es, das deutsche Anhalten erzwungen; außerdem habe das Anhalten die japanische Regierung veranlaßt, nicht in den Krieg einzutreten. Was Japan betrifft, so ist festzuhalten, daß der Entschluß in Tokio, vorerst nicht in den Krieg einzutreten, mindestens einen Monat vorher gefaßt wurde. Im übrigen war die Wehrmacht sowieso darauf angewiesen, Moskau und die Wolga aus eigener Kraft zu erreichen; die Japaner konnten ihr dabei nicht viel helfen. Ebenso unbegründet ist die Meinung, die Schlacht von Smolensk habe etwas mit dem Ausgang des Ostfeldzugs zu tun. Hitler hatte die Absicht, die beiden Panzergruppen der Heeresgruppe Mitte nach außen abzuklappen, lange vor der Schlacht von Smolensk und wurde nicht erst durch diese Schlacht dazu veranlaßt Richtig ist, daß das Anhalten bei Smolensk und das Stehenbleiben der Heeresgruppe Mitte, das zwei Monate dauerte, den Feldzug entschied. Aber dieses Anhalten ging nicht auf den russischen Widerstand zurück (der übrigens den erfolgreichen Abschluß der Kesselschlacht Ende Juli/ Anfang August nicht verhinderte), sondern auf die unsinnigen Eingriffe Hitlers. Es wird sich daher empfehlen, einmal zu prüfen, was in jener Zeit tatsächlich geplant wurde und ob das Anhalten notwendig war.
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Am Beginn jeder Operationsplanung muß selbstverständlich eine brauchbare Beurteilung der Feindlage stehen. Hierzu stellte das OKH Ende Juli fest, die Masse des operationsfähigen russischen Heeres sei zerschlagen, also nicht des Heeres schlechthin, sondern seiner wertvolleren Teile. Starke personelle Reserven und rücksichtsloser Einsatz auch mangelhaft Ausgebildeter erlaubten es dem Feind aber auch weiterhin, in den für ihn wichtigen Richtungen dem weiteren Vorgehen der deutschen Kräfte zähen Widerstand entgegenzusetzen. Der Gegner werde versuchen, eine geschlossene Abwehrfront zu bilden und das Vorgehen des deutschen Heeres im Stellungskrieg erstarren zu lassen. Das OKH glaube jedoch, daß die russischen Kräfte hierfür nicht mehr ausreichten. Im einzelnen rechnete das OKH mit 180 sowjetischen Divisionen vor der deutschen Front, die von der Aufklärung erlaßt waren. Diese Verbände waren fast durchwegs so abgekämpft und hatten solche Verluste, daß die Kampfkraft nur noch ungefähr die Hälfte betrug. An Neuaufstellungen seien bislang 25 Divisionen im europäischen Rußland festgestellt worden, weitere dürften in verhältnismäßig großer Zahl erwartet werden. Ihre Ausstattung mit Waffen und Gerät werde gering sein, ihr Personal sei zum großen Teil unausgebildet oder ganz kurz ausgebildet. Neue Panzerverbände könnten voraussichtlich nur noch etwa in Bataillons-Stärke erwartet werden.
Diese Lageeinschätzung entsprach dem, was heute von der sowjetischen Seite bekannt ist; außerdem kann das OKH dadurch nicht überrascht worden sein. Mit rund 300 Divisionen hatte es bei Kriegsausbruch rechnen müssen, die zu erwartenden Neuaufstellungen waren angelaufen, hatten jedoch noch keinen großen Umfang erreicht. Macht man eine überschlägige Rechnung auf, so kann man den 300 Divisionen bei Kriegsausbruch 30 neuaufgestellte hinzuzählen und etwa 50 an anderen Fronten (Finnland, Kaukasus, Sibirien) abziehen, womit 280 bleiben. Vor der deutschen Front standen 180, so daß bis dahin etwa 100 von der Wehrmacht vernichtet wurden, was mit der sowjetischen Angabe übereinstimmt, daß von 170 Divisionen nur noch 70 übrig waren. Diese Rechnung ist nicht genau und braucht es auch nicht zu sein; wesentlich ist nur die Feststellung, daß die deutsche Aufklärung offenbar auf der Höhe war. Gemäß der gesunkenen Kampfkraft sowjetischer Verbände veranschlagte das OKH vor den deutschen Heeresgruppen nur etwa die Hälfte der russischen Divisionen, die dort tatsächlich erlaßt waren. Der Einfachheit halber sei hier nicht das Lagebild des OKH von Ende Juli aufgeführt, sondern eine etwas abweichende Aufstellung Halders vom 1. August, die wahrscheinlich noch die unterdessen eingetretenen Änderungen berücksichtigte. Demnach besaß die Heeresgruppe Nord 20 Infanteriedivisionen und 6 schnelle Verbände, der gegenüberstehende Feind 13 Schützen- und 2 Panzerdivisionen. Heeresgruppe Mitte hatte 42 Infanterie- und 17 schnelle Divisionen, der Gegner 26 Schützen- und 8 Panzer- bzw. Kavalleriedivisionen; Heeresgruppe Süd hatte 41 Infanterie- und rund 10 schnelle Divisionen, der Gegner 29 Schützen- und 10 Panzer- bzw. Kavalleriedivisionen. 25 25 Hitler über Eindrehen der Panzergruppen in KTB OKW JJ2, 1019ff., 1029ff. Die Weisungen vorn 19. 7., 22./23. 7. und 30. 7. 1941 in Hubatsch, Weisungen, 163ff. Über die
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Aus diesen Zahlen kann sogar der Laie leicht den Schluß ziehen, daß die deutsche Seite deutlich überlegen war. Das gilt selbst dann, wenn man berücksichtigt, daß auch die deutschen Verbände Verluste erlitten hatte. Am 23. Juli veranschlagte Haider die Kampfkraft der Infanteriedivisionen auf 80 % der Sollstärke, diejenige der schnellen Verbände auf 50 %. Bei letzteren ließ sich allerdings durch die vorgesehene Auffrischung der Zustand verbessern, zumal die Totalausfälle an Panzern nur 20 % betrugen. Gerechnet wurde mit einer Aufbesserung der Kampfkraft auf 60 bis 70 %. Das Gesamtbild verschiebt sich ein wenig durch den Umstand, daß die sowjetische Seite 28 Divisionen in der Reserve aufwies, wogegen die deutsche Seite fast keine Reserven mehr besaß (zwei Panzerdivisionen, die das OKH eingeplant hatte, hielt Hitler zurück). Es kam hinzu, daß die Rote Armee in absehbarer Zeit über viele Neuaufstellungen verfügen würde und gegebenenfalls Divisionen von anderswo, etwa aus Sibirien, heranziehen konnte. Gemäß Halders Rechnung bestand derzeit noch eine spürbare Überlegenheit der Deutschen, die jedoch in Zukunft zusehends schwinden würde, zumindest zahlenmäßig und bis zu einem gewissen Grad auch in der Kampfkraft Daraus ergab sich genau die Folgerung, welche der Generalstab schon vor dem Krieg gezogen hatte: Jeder Tag war kostbar; die Wehrmacht mußte so schnell wie möglich den Angriff weiterführen, um die Verstärkung der Roten Armee zu unterlaufen. Außerdem war Eile nötig, um die weitgesteckten Ziele zu erreichen, und sie war angebracht, weil der Gegner im Augenblick schwer angeschlagen war. Eben dieses schnelle Weitereilen nahmen Haider und das OKH in Aussicht, unterstützt von der Truppenführung. Anläßtich eines Vortrags bei Hitler am 23. Juli hielt Haider die derzeitigen Pläne des OKH fest. Zur Feindlage bemerkte er, der Gegner sei zwar entscheidend geschwächt, aber noch nicht so endgültig zerschlagen, daß man über ihn zur Tagesordnung übergehen könnte. Das entsprach dem, was Haider schon Anfang des··Monats festgestellt hatte: Der Widerstand in der Tiefe des Raumes würde weiterhin heftig sein und die Wehrmacht noch viele Wochen beanspruchen. In diesem -Sinn meinte der Generalstabschef am 23. Juli, jede weiterzuführende oder neu einzuleitende Bewegung müsse sich die Bewegungsfreiheit erst von neuem erkämpfen; eine bloße Verfolgung des Gegners kam demnach nicht in Betracht. Für die Richtung der nunmehr neu anzusetzenden Bewegungen war nach Auffassung des Generalstabschefs maßgebend, was erreicht werden sollte. Dabei handelte es sich sachlich um die Zertrümmerung der Stätten der Rüstungsproduktion, wie Haider es von vornherein geplant und auch am 3. Juli noch einmal ausgesprochen hatte. Räumlich handelte es sich um die Besetzung des Gebietes bis zur Wolga und zum Kaukasus. Im Norden sollte dieses Gebiet begrenzt werden durch die Linie von Rybinsk
(= Schtscherbakow an der oberen Wolga und an dem gleichnamigen Stausee) bis
Schlacht von Smolensk Hillgruber, Zerstörung, 296 ff. Die Beurteilung der Feindlage durch das OKH in einer Weisung von Brauchitsch für die Fortführung der Operationen, 28. 7. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 2/1326. Halders Kräftebilanz vom 1. 8. 1941 in seinem KTB III, 141. 27 Rauh, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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zum Onega-See. Es fällt auf, daß Halder, ähnlich wie Marcks, ursprünglich die Linie Archangelsk - Wolga - unterer Don hatte erreichen wollen. Von Archangelsk war jetzt nicht mehr die Rede; die zu erreichende Linie sollte weiter im Süden und Westen liegen. Das mag verschiedene Gründe haben, unter anderem den, daß der Angriff in Lappland, wie Haider erwartet hatte, mittlerweile steckengeblieben war, so daß auch von daher ein Aufrollen der gegnerischen Front in Nordrußland nicht erwartet werden durfte. Sodann hatte der Feldzug mindestens einen Monat später begonnen als ursprünglich angenommen. Im russischen Norden pflegte indes der Winter früher hereinzubrechen als im Süden, so daß wenig Aussicht bestand, vor Wintereinbruch noch bis Archangelsk zu kommen. Umgekehrt ließen die Witterungsverhältnisse im Süden eine längere Dauer der Kämpfe zu, weswegen Haider nunmehr den Vorstoß Richtung Kaukasus ins Auge faßte, den Hitler ohnedies wünschte. Allerdings fiel damit ein Bestandteil der ursprünglichen Planung weg, nämlich das Abschneiden des russischen Reststaats von den Häfen am Eismeer, so daß die Sowjetunion, die aus Sibirien den Krieg weiterführen würde, über Murmansk und Archangelsk von den Westmächten versorgt werden konnte. Haider hielt deshalb fest, es müsse die Bahn gesperrt werden, die über Kirow nordöstlich der oberen Wolga zum Eismeer führte. Für die Sicherung des besetzten Gebietes vorwärts der Wolga erachtete Haider zunächst mindestens zwei Drittel der derzeit bewegten Kräfte als notwendig. Der Generalstabschef teilte nicht die abwegige Ansicht des Diktators, man könne noch während der Operationen Kräfte abziehen, und ebensowenig teilte er dessen Ansicht, als Besatzungsmacht reichten 50 oder 60 Divisionen aus. Das ist auch leicht verständlich, denn trotz der Besetzung bis zur Wolga würde der Krieg weitergehen, und dann würden mindestens 100 Divisionen in Rußland bleiben müssen. Im einzelnen stellte sich Haider die Operationen so vor, daß die Heeresgruppe Nord, wie vorgesehen, nördlich des Ilmen-Sees das Abschnüren von Leningrad besorgte. War dies erreicht, dann sollte die Heeresgruppe ihre schnellen Kräfte an die Heeresgruppe Mitte abgeben und mit den verbleibenden infanteristischen Kräften den Bereich bis zur Linie Rybinsk - Onega-See in die Hand nehmen. Für die Heeresgruppe Mitte sah Haider eine Umstellung der Kommandoverhältnisse vor. Nach der Feldzugseröffnung waren anfangs den Panzergruppen 2 und 3 die 4. Armee unter Feldmarschall Kluge und die 9. Armee unter Generaloberst Strauß gefolgt. Zum Angriff auf Smolensk waren beide Panzergruppen unter das Oberkommando der 4. Armee getreten, die daraufhin 4. Panzerarmee hieß, während die 2. Armee unter Generaloberst Weichs das Oberkommando über die infanteristischen Kräfte hinter der Panzergruppe 2 übernommen hatte. Haider wollte zur Fortsetzung des Angriffs die Grenze zwischen den Heeresgruppen Nord und Mitte, die bis dahin durch Welikije Luki verlief, weiter nördlich auf die Linie von Cholm am Lowat bis zum Eisenbahnknotenpunkt Bologoje im Gebiet der Waldai-Höhe verlegen. Weichs sollte den rechten Flügel von Strauß übernehmen, Strauß den rechten Flügel der links anschließenden 16. Armee von Heeresgruppe Nord. Die Heeresgruppe Mitte unter Feldmarschall Bock sollte dann mit der 2. und 9. Armee, vorneweg
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die Panzergruppe 3, in ostwärtiger Richtung beiderseits Moskau an die Wolga vorgehen, um in der Mittellinie Moskau - Kasan die Wolga zwischen Rybinsk und Saratow zu erreichen. Sobald die Panzergruppe 4 ihre Aufgabe bei Leningrad erfüllt hatte, sollte sie sich dem Vormarsch zur Wolga anschließen. Mit der Umstellung der Kommandoverhältnisse bzw. der Verschiebung der Heeresgruppengrenze nach Norden verfolgte Haider das Ziel, sowohl die linke Flanke der Heeresgruppe Mitte als auch die rechte Flanke der Heeresgruppe Nord gegen feindliche Angriffe aus dem Gebiet der Waldai-Höhe zu decken. Da die Panzergruppe 4 dies nicht mehr durch einen Vorstoß südlich des Urnen-Sees besorgen konnte, mußte die Heeresgruppe Mitte selbst mit ihrem linken Flügel über die Waldai-Höhe auf Moskau vorgehen. Im Zusammenhang mit Hitlers Anordnung, die Panzergruppe 3 mit Stoßrichtung Nord auf die Waldai-Höhe vorzutreiben, kam es dazu nicht mehr, aber das OKH versuchte wenigstens, den Schaden möglichst gering zu halten. Haider stellte sich auf den Standpunkt, bis die Panzergruppe 3 von Süden Bologoje erreiche, könnten auch Infanteriedivisionen von Westen herangekommen sein, so daß die Panzergruppe keine lohnenden Ziele mehr finde. Als Hitler bei seiner Meinung beharrte, suchte das OKH der Panzergruppe keine nördliche, sondern eine nordöstliche Stoßrichtung zu geben, damit der baldige Vormarsch auf Moskau doch noch möglich blieb.
Am Südflügel der Heeresgruppe Mitte sollte Kluges 4. Armee den rechten Flügel der 2. Armee übernehmen, dazu die Panzergruppe 2 von General Guderian. Diese Kräftegruppierung hatte unter den Befehl der Heeresgruppe Süd zu treten und von Smolensk nach Südosten abzuschwenken. Am 21. Juli hielt Haider fest, Kluge solle seinen linken Flügel - das war wohl die Panzergruppe 2 - auf Zarizyn (=Stalingrad) vorführen; am 23. Juli meinte Halder, die Gruppe Kluge sei über die Linie Gomel - Brjansk in allgemeiner Richtung Charkow anzusetzen. Beides stimmt zusammen, wenn man sich vor Augen hält, daß die Gruppe Kluge und die Panzergruppe 1 der Heeresgruppe Süd, die südöstlich Kiew über den Dnjepr zu gehen hatte, im Raum Charkow sich die Hand reichen sollten, um ostwärts der Pripjet-Sümpfe einen großen Kessel zu bilden. Anschließend bot sich eine Fortsetzung des Stoßes nach Südosten an, für den zwei Panzergruppen sowie die Infanterie der Gruppe Kluge zur Verfügung standen, während von Westen die restliche Infanterie der Heeresgruppe Süd über den Dnjepr nachrückte. Es ließ sich dann durch einen Stoß zum unteren Don das Industriegebiet des Donez-Beckens umfassen und zugleich am linken Flügel ein Vorstoß nach Stalingrad führen, um die Wolgaübergänge in die Hand zu nehmen und den Gegner hinter den Fluß zu drükken. Ob das Abschwenken der Gruppe Kluge von Smolensk nach Südosten von Hitlers Idee veranlaßt war, die beiden Panzergruppen der Heeresgruppe Mitte nach außen abzuklappen, oder ob es Halders eigener Gedankenbildung entsprang, ist schwer zu entscheiden; möglicherweise traf beides zu. An sich hatte der Generalstab ja geplant, mit den Panzergruppen 2 und 3 zunächst Moskau zu umfassen und 27*
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im Besitz Moskaus dann nach Süden vorzustoßen, um zusammen mit der Heeresgruppe Süd die Ukraine zu erobern. Dieser Gedanke tauchte im Entwurf zu einer Denkschrift des OKH von Ende Juli noch einmal auf, wo die überragende Bedeutung Moskaus für den Feldzugsverlauf herausgestrichen und vorgeschlagen wurde, mit den beiden Panzergruppen Moskau von Norden und Süden einzuschließen. Auf der anderen Seite waren gegenüber der ursprünglichen Planung mittlerweile einige Änderungen eingetreten. Die Heeresgruppen auf den Flügeln konnten den Vorstoß nach Moskau kaum noch in den Flanken decken, denn die Panzergruppe 4 stand unterdessen vor Leningrad, und die Heeresgruppe Süd kam ziemlich langsam voran, da Hitler ihren operativen Ansatz verwässert hatte. In dieser Situation mochte es naheliegen, am ursprünglichen Plan nicht mehr festzuhalten. In der Tat hatte Haider schon am 12. Juli gemeint, er könne sich durchaus vorstellen, daß Guderian vielleicht sogar bis in den Bereich Kiew herunterstoßen müsse, um die Heeresgruppe Süd zu entlasten. Der Gedanke, die Heeresgruppe Süd zu unterstützen, setzte sich von da an bei Haider fest, noch bevor Hitler es verbindlich anordnete. Allerdings gab es gegenüber Hitlers Vorstellungen einen grundlegenden Unterschied. Der Diktator war außerstande, die Anlage des Feldzugs im Ganzen zu überblicken, er vermochte nicht zu erkennen, daß alle Operationen in den weiten Räumen wechselseitig von einander abhingen. Wenn man schon der Heeresgruppe Süd mit Kräften der Heeresgruppe Mitte zu Hilfe kam, dann mußte es so geschehen, daß die anderen Operationen dadurch nicht beeinträchtigt, vielmehr der Verlauf des ganzen Feldzugs und das Erreichen aller Ziele gefördert wurden. Halder fand die Lösung, indem der Stoß von Moskau nach Süden gewissermaßen vorverlegt wurde. Auch nach der ursprünglichen Planung hatten sich Kräfte der Heeresgruppen Mitte und Süd im Raum zwischen Moskau und dem Schwarzen Meer treffen sollen, allerdings nicht bei Charkow, sondern weiter nördlich (die Planspiele des Generalstabs von Ende 1940 hatten einen Stoß der Heeresgruppe Süd über Charkow - Kursk in Richtung Jelez vorgesehen). Haider wollte nun die Gruppe Kluge nicht erst bei Moskau abdrehen, sondern schon bei Smolensk, und zwar nicht nach Süden, sondern nach Südosten. Das entsprach zugleich der Feindlage, denn der Gegner hatte verschiedene Kräftegruppen aufgebaut, darunter eine zwischen Moskau und Smolensk sowie je eine weitere nordwestlich und südwestlich Moskau. Die Feindgruppe südwestlich Moskau (im Gebiet von Btjansk) sollte von der Gruppe Kluge gefaßt und damit zugleich die rechte Flanke der Heeresgruppe Mitte gedeckt werden. In einem weiteren Sinn war das Abdrehen der Gruppe Kluge mit der ursprünglichen Planung durchaus verträglich, denn es hatte ja von Anfang an hinter den Pripjet-Sümpfen eine große Kesselschlacht stattfinden sollen. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, daß für den Stoß auf Moskau nunmehr die Panzergruppe 2 fehlte. Angesichts der Stärkeverhältnisse stellte dies jedoch keinen entscheidenden Nachteil mehr dar. Gemäß der früher erwähnten Stärkeberechnung vom 1. August - die sich bis zum 10. August nicht wesentlich änderte- standen der Heeresgruppe Mitte rund 60 Divisionen zur Verfügung (einschließlich Gruppe Kluge), während der Gegner
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vor ihr, umgerechnet auf den Kampfwert, 34 Divisionen besaß, darunter sieben Panzer- und eine Kavalleriedivision. Rechnet man die Gruppe Kluge ab, die einen Teil der Gegnerkräfte bei Brjansk fassen würde, so verblieben der Heeresgruppe Mitte rund 40 Divisionen, darunter die sieben schnellen der Panzergruppe Hoth, womit sie dem Gegner, gemessen an den bisherigen Kampferfahrungen, immer noch überlegen war. Daran würden auch die sowjetischen Reserven in Stärke von 28 Divisionen nicht viel ändern. Da es sich zum großen Teil um Neuaufstellungen mit kaum ausgebildetem Personal und schwacher Ausrüstung handelte, besaßen sie nur geringen Kampfwert. Von den 34 sowjetischen Divisionen vor der Heeresgruppe Mitte würde die Gruppe Kluge rund ein Drittel fassen, so daß über 20 blieben. Brachte dann der Gegner aus seiner Reserve noch etliche schwache Verbände vor Moskau heran, so brauchte dies die Heeresgruppe Mitte nicht stark zu beunruhigen. Außerdem sah Haider vor, im Verlauf der Kämpfe die Panzergruppe Hoepner der Heeresgruppe Nord heranzuziehen, um die Heeresgruppe Mitte beim Vorstoß Richtung Moskau und an die Wolga zu unterstützen. Bei einer durchschnittlichen Vormarschgeschwindigkeit von 25 km am Tag vermochte die Infanterie der Heeresgruppe Mitte die Entfernung zwischen Smolensk und Moskau (300 bis 400 km)" innerhalb von zwei Wochen zurückzulegen, während die schnellen Divisionen der Panzergruppe Hoth die Verkehrsverbindungen um Moskau abzuschneiden hatten, damit der Gegner keine Verstärkungen mehr heranführen konnte. In den Tagen um den 23. Juli planten also Haider und das OKH diejenigen Operationen, welche das ganze eropäische Rußland vorwärts der Wolga in deutsche Hand geben sollten. Bei einer Besprechung mit den Stabschefs der Heeresgruppen am 25. Juli stellte Haider die Einheitlichkeit der Auffassungen sicher. Demnach sollte die Heeresgruppe Nord gegen Ende Juli zum Angriff antreten, die Heeresgruppe Mitte sowie die Gruppe Kluge - nach Auffrischung ihrer schnellen Verbände - um den 10. August, während die Heeresgruppe Süd voraussichtlich erst in Laufe des August über den Dnjepr kommen würde. Nach dem Stand der Dinge waren diese Planungen realistisch, zumal Anfang August die Kesselschlachten von Smolensk und Uman abgeschlossen wurden. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß sich das Antreten aus irgendwelchen Gründen noch ein wenig verzögerte, lag die Wehrmacht zeitlich gut im Rennen, denn bei den Planspielen Ende 1940 war angenommen worden, die Heeresgruppe Mitte könne um den 40. Tag nach Feldzugsbeginn wieder antreten, d. h. etwa Anfang August. Für das Fortsetzen des Angriffs bildete selbstverständlich die Regelung der Nachschubfrage eine grundlegende Voraussetzung. Wie geplant, war die vorrükkende Truppe· zunächst durch motorisierte Transportkolonnen versorgt worden, während unterdessen die Eisenbahnlinien in Betrieb genommen bzw. nachgebaut wurden, an deren Kopfstationen die Versorgungslager errichtet wurden, aus denen wiederum die motorisierten Kolonnen die Güter abholten. Bis Ende Juli wurden die Eisenbahnen und die entsprechenden Versorgungslager im Norden bis Pieskau vorgeschoben, in der Mitte in den Raum von Smolensk und im Süden bis in die Gegend von Kiew, blieben also tatsächlich den Truppen dicht auf den Fersen. Un-
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überwindliehe Schwierigkeiten waren dabei nicht aufgetreten, so daß das OKH davon ausgehen durfte, dies werde auch in Zukunft so bleiben. Im weiteren Verlauf der Operationen sollten die Eisenbahnen im Norden bis vor Leningrad nachgebaut werden, in der Mitte bis Gomel, Moskau und Kalinin, im Süden über den Dnjepr. Mit den motorisierten Transportkolonnen konnten ungefähr 400 km überbrückt werden, was in etwa der Entfernung Smolensk - Moskau entsprach. Nicht ganz einfach würde die Versorgung der Gruppe Kluge sein, die von Smolensk nach Südosten auf Charkow abgedreht werden sollte. Sie würde einen erheblichen Teil des motorisierten Transportraums der Heeresgruppe Mitte beanspruchen, sofern nicht durch den Nachbau einer Bahn die Versorgungslage erleichtert wurde. Andererseits brauchte die Heeresgruppe Mitte, wenn sie ohne die Gruppe Kluge auf Moskau vorstieß, auch den entsprechenden motorisierten Transportraum nicht. Von den Verkehrsmöglichkeiten her waren demnach die geplanten Operationen durchführbar, zumal wenn die Bahnen schnell nachgebaut wurden. Um die Nachschublage Ende Juli/ Anfang August zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß es für die Divisionen einen Rechensatz an Versorgungsgütern gab, die sog. erste Ausstattung. Eine erste Munitionsausstattung sollte rechnerisch etwa für eine Woche reichen; tatsächlich reichte sie beim Rußlandfeldzug etwa zwei Wochen. Die deutsche Artillerie verbrauchte in den ersten acht Wochen drei bis vier Ausstattungen. Ein Verbrauchssatz Treibstoff sollte für etwa 100 km reichen; tatsächlich reichte er im Osten meist nur für 70 km. Ein Tagessatz Verpflegung reichte für Menschen und Pferde einen Tag. Beim Bewegungskrieg bildete sich die Erfahrung heraus, daß die Truppe verhältnismäßig wenig Munition und verhältnismäßig viel Treibstoff verbrauchte. Der Gegner wurde eher durch die Bewegung ausmanövriert als durch die Waffenwirkung niedergekämpft. Für die Versorgung war die Bewegung insofern vorteilhaft, als man im Feindesland öfters Treibstoff erbeutete und Nahrungsmittel beschaffen konnte, was den Nachschub entlastete. Ebenso war der Munitionsverbrauch in der Bewegung geringer als beim Stellungskrieg, was ebenfalls dem Nachschub zugute kam. Um den Angriff fortzusetzen, hielt Haider eine notdürftige Bevorratung für unerläßlich. Bis dahin hatte die Truppe gewissermaßen von der Hand in den Mund gelebt, d. h. es war nur der laufende Bedarf gedeckt worden, was im allgemeinen glatt vor sich gegangen war. Für die neuen Operationen sollten verläßlichere Bedingungen geschaffen werden, d. h. es sollten die Bestände bei der Truppe aufgefüllt werden, damit diese ohne Sorgen zum Angriff antreten konnte, und anschließend war in den vorgeschobenen Versorgungslagern ein Vorratspuffer anzulegen, um den Verbrauch der Truppe schnell wieder auszugleichen. Eine kühne Versorgungsführung hätte wohl auch die Truppe nur mit ihren eigenen Beständen antreten lassen, um erst im Verlauf der Gefechte die Lager aufzufüllen, doch wollte sich der Generalstab auf ein solch riskantes Verfahren nicht einlassen. Am 27. Juli gab Haider die Richtlinie aus, bis zum 3. August sei die Ausstattung der Truppe zu ergänzen, danach müßten Vorräte in den Lagern angelegt werden. Der Generalquartiermeister Wagner glaubte anfangs, erst ab 15. August die Vorräte auffüllen
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zu können, doch stellte sich dies bald als zu vorsichtig heraus. Der Zulauf von Zügen wurde erheblich gesteigert, so daß Wagner schon am 6. August meldete, die Versorgungslage sei überall ausreichend, bei Heeresgruppe Nord sogar gut. Am 5. August verfügten die Heeresgruppen Nord und Süd über je 1 1/ 2 Munitionsausstattungen, die Heeresgruppe Mitte über knapp eine Munitionsausstattung (berechnet auf den Durchschnitt der Verbände). Die Heeresgruppen Mitte und Süd besaßen je 3 1/ 2 Verbrauchssätze Betriebsstoff, die Heeresgruppe Nord sogar 5 1/ 2 Verbrauchssätze. Mit diesen Munitionsmengen konnten Nord und Süd an die drei Wochen kämpfen, Mitte fast zwei Wochen. Mit den genannten Treibstoffmengen konnten Mitte und Süd an die 250 km zurücklegen, Nord sogar fast 400 km. Zum Vergleich sollte man vielleicht erwähnen, daß noch am 1. August alle Heeresgruppen erheblich weniger Nachschub besessen hatten, die Heeresgruppe Mitte beispielsweise nur 1/ 4 Munition und einen Verbrauchssatz Treibstoff, ohne daß deswegen die Operationen ins Stocken geraten wären. Offenbar wurde Anfang August auch bereits damit begonnen, kleine Vorräte in den Lagern anzulegen, denn Haider wies den Generalquartiermeister am 7. August an, sowohl die Ausstattung der Truppe als auch die Vorräte im Operationsgebiet aufzustocken. Die Vorräte in den Lagern brauchten zudem nicht allzu groß zu sein, da die Lager, wenn der Eisenbahnbetrieb erst lief, dauernd beliefert werden konnten. Die Lager stellten an sich ja nur Umschlagplätze dar, wo die motorisierten Kolonnen den laufenden Bedarf der Truppe abholten. Wenn Wagner am 6. August meinte, die Vorratsbildung in den neuen Basen werde erst ab dem 10. August in Schwung kommen, so schloß das nicht aus, daß kleinere Vorräte bereits vorhanden waren. Jedenfalls besaß die Außenstelle des Generalquartiermeisters bei der Heeresgruppe Mitte am 15. August Munition für die Verbände in Höhe von über einer Ausstattung und Treibstoff in Höhe von einem Verbrauchssatz, was als Vorratspuffer zweifellos ausreichte, wenn die Bahn dauernd nachlieferte. Es ergibt sich also, daß gemäß der Versorgungslage die Truppe imstande war, am 10. August zum Angriff anzutreten, wie Haider es geplant hatte, oder spätestens einige Tage danach. Haider und der Generalstab planten folglich wirklichkeitsnah. Am 23. Juli rechnete Haider dem Diktator vor, wie nach seiner Planung derzeitliche Ablauf der Operationen zu denken sei. Etwa in einem Monat, d. h. gegen Ende August, könne man die deutschen Truppen um Leningrad annehmen, um Moskau sowie in der Linie Orel - Krim. Anfang Oktober könne die Wehrmacht an der Wolga stehen, Anfang November am Kaukasus. 26 Da vielleicht nicht jeder auf Anhieb solche generalstabsmäßigen Berechnungen versteht, werden hier ein paar Erläuterungen am Platz sein. Die Wehrmacht bzw. 26 Zur Karnpflcraft deutscher Verbände Halder, KTB III, 103 f., 115. KTB OKW JJ2, 1030. Halders Ausarbeitung zum Führervortrag arn 23. 7. 1941 in Halder, KTB III, 103 ff. Zur Operationsplanung des OKH auch Weisung von Brauchitsch, 28. 7. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 2/1326. Halder, KTB III, 69, 90, 100, 110 ff., 119 f. Entwurf zu einer Denkschrift des OKH von Ende Juli 1941 in KTB OKW JJ2, 1031 ff. Görlitz, Paulus, 124f. Zu den Nachschubfragen Halder, KTB III, 81, 125, 129, 138, 156, 158, 160, 179, 186, 244.
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das deutsche Heer legte innerhalb von ungefähr sechs Wochen rund 700 km Luftlinie von der Grenze bis Smolensk zurück, zerschlug bei den Kampfhandlungen der drei Heeresgruppen die Masse des operationsfähigen russischen Heeres, vernichtete einschließlich der Kesselschlachten von Smolensk und Uman an die 150 feindliche Divisionen mit wahrscheinlich über 10 000 Panzern und befand sich immer noch in kampfkräftigem Zustand. Die Infanterie marschierte, Kampfhandlungen inbegriffen, durchschnittlich um die 20 km am Tag, ohne Kampfhandlungen noch mehr, und war nach Erreichen von Smolensk nicht entscheidend geschwächt. Legte man diese unbestreitbaren Tatsachen zugrunde, so durfte man erwarten, das deutsche Heer würde innerhalb weniger Wochen gegen einen schwer erschütterten Feind die restlichen 300 bis 400 km nach Moskau zurücklegen. Desgleichen durfte man erwarten, durch einen Stoß der Gruppe Kluge über rund 500 km bis Charkow eine Vernichtungsschlacht hinter den Pripjet-Sümpfen zu schlagen, denn dieser Stoß führte die schnellen Truppen hinter den Rücken des Gegners in weitgehend feindfreies Gebiet, wo die schnellen Truppen bei einer theoretisch möglichen Vormarschgeschwindigkeit von 100 bis 150 km am Tag ihr Ziel innerhalb kurzer Zeit zu erreichen vermochten, wogegen die Infanterie bei einer Marschgeschwindigkeit von 25 km am Tag innerhalb von drei Wochen herankommen konnte. Der Vorstoß nach Charkow unterschied sich nicht wesentlich vom Sichelschnitt in Frankreich, denn auch dort hatte die Entfernung rund 400 km betragen, auch dort war man in den Rücken des Feindes gestoßen und auch dort hatten schnelle Truppen und Infanterie ihr Ziel, die Kanalküste, unter Kampfhandlungen innerhalb von zwei Wochen erreicht. Bei einem Antreten der Heeresgruppe Mitteam 10. August konnte daher die Wehrmacht, wie Haider errechnet hatte, Ende August um Leningrad, Moskau und Charkow stehen, und sie konnte durch die entsprechenden Schlachten bei den genannten Orten, soweit es nicht schon vorher. geschehen war, den Rest des halbwegs kampfkräftigen sowjetischen Aufgebots aus dem Weg räumen. Nach diesen Schlachten würde es nur noch Trümmer der Roten Armee geben, zahlenmäßig schwach sowie schlecht ausgerüstet und noch schlechter ausgebildet, die eine einheitliche Front sowieso nicht mehr errichten konnten und beim Errichten einzelner Widerstandsnester dadurch aufs schwerste behindert wurden, daß der Zusammenhang des russischen Verkehrs- und Nachrichtennetzes bei Moskau zerrissen war, wodurch Kräfteverschiebungen hinter der Front mühsam und zeitraubend, wenn nicht fallweise ganz unmöglich wurden. Unter diesen Umständen war es leicht vorstellbar, daß die sowjetische Führung das Gebiet westlich der Wolga freiwillig preisgab, um erst hinter dem natürlichen Verteidigungsbollwerk der Wolga die verbliebenen Kräfte zu sammeln und eine großräumig organisierte Abwehr aufzubauen. Geschah dies nicht, so vermochte die Rote Armee vorwärts der Wolga allenfalls hinhaltenden Widerstand zu leisten, vorzugsweise dort, wo das Bilden einzelner Verteidigungsinseln von der Schutzbedürftigkeit wichtiger Räume geboten und von den Verkehrsverhältnissen ermöglicht wurde. Die Besetzung Rußlands hinter Moskau würde deshalb für die Wehrmacht weniger eine Frage des Kampfes
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als vielmehr eine Frage der Marschleistung sein. Dafür standen bei geringeren Entfernungen die Infanterie, bei größeren Entfernungen hauptsächlich die schnellen Truppen zur Verfügung, d. h. bei der Heeresgruppe Mitte außer der Panzergruppe 3 auch die Panzergruppe 4, die aus der Gegend von Leningrad heranzuziehen war. Erschöpfung brauchte die Wehrmacht nicht zu fürchten, da nach dem Weiterbau der Bahnen bis Leningrad, Moskau und Charkow der Nachschub sowie das Auffrischen der Verbände gesichert waren. Außerdem durfte mit einiger Beute gerechnet werden, etwa an Kraftstoff und Fahrzeugen. Von Moskau aus ließ sich die Wolga im Norden zwischen Rybinsk und Gorki (=Nischnij-Nowgorod) leicht mit der Infanterie erreichen, da die größte Entfernung, diejenige bis Gorki, etwa 400 km betrug, was die Infanterie in zwei bis drei Wochen schaffen konnte. Auf die entfernteren Ziele ließen sich zunächst schnelle Divisionen ansetzen, rund ein Dutzend in einer Anzahl von Panzerkorps, welche die Orte im Wolgabogen östlich Moskau bei einer Entfernung um die 800 km in einer Woche oder etwas mehr erreichen konnten. Welche Operationen im einzelnen anzusetzen waren, mußte je nach der Lage entschieden werden; man darf jedoch getrost davon ausgehen, daß Haider bereits gewisse Vorstellungen darüber besaß. Wenn er festhielt, Bock (der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte) solle beiderseits Moskau mit Mittellinie auf Kasan führen, so beinhaltete dies eine Vormarschlinie über Moskau an die Wolga bei Gorki und anschließend weiter bis Kasan, wo eine Eisenbahn nach Sibirien die Wolga überquerte. Das wichtige Industriegebiet von Gorki mußte sowieso erreicht werden, ebenso mußte die Eisenbahn in dieser Richtung nachgebaut werden. Falls die Rote Armee vorwärts der Wolga noch Widerstand leistete, würde sie voraussichtlich Verteidigungsinseln bei Gorki und im Donez-Gebiet errichten. Von Moskau aus ließ sich ohne Mühe die Wolga zwischen Rybinsk und Gorki mit der Infanterj.e erreichen; nach Kasan mochten schnelle Verbände entlang der Eisenbahn vorgeworfen werden. Anschließend konnten, je nach den Umständen, schnelle Divisionen an der Wolga nach Süden stoßen, was zweckmäßig ergänzt wurde, indem auch weiter im Süden, spätestens bei Stalingrad, Panzerkorps an die Wolga vorgingen. Für die schnellen Verbände kam es weniger darauf an, das Wolgaufer zu besetzen, als vielmehr darauf, die Wolgaübergänge zu sperren, etwa bei Kasan, Kuibyschew und Saratow. Falls sich dann noch sowjetische Truppen auf dem Westufer der Wolga befanden, war ihnen der Rückzug abgeschnitten, so daß ihnen nur mehr die Wahl blieb, sich zu ergeben oder schwimmend die Flucht zu ergreifen. Die Wache am Wolgastrand mochte alsdann die Infanterie übernehmen, die nach einiger Zeit mit der Bahn oder anderswie herankommen würde. Was den Vorstoß zum Kaukasus betrifft, so betrug die Entfernung zwischen Charkow und Baku rund 1500 km. Der Heeresgruppe Süd standen zwei Panzergruppen zur Verfügung, welche theoretisch die Strecke in wenigen Wochen zurücklegen konnten, praktisch allerdings länger brauchen würden. Die Infanterie vermochte, wieder bei einer Marschgeschwindigkeit von 25 km am Tag, innerhalb von zwei. Monaten am Kaukasus zu stehen, wenngleich nicht unbedingt schon vor
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Baku. Freilich würde ein regelrechter Fußmarsch der Infanterie in großen Massen gar nicht mehr nötig sein, wenn erst im Norden die Wolga erreicht, im Süden das Donez-Becken eingenommen war und bei dieser Gelegenheit weitere sowjetische Kräfte, die sich allenfalls noch zum Kampf gestellt hatten, zersprengt worden waren. Soweit beim Vormarsch zum Kaukasus noch Infanterie benötigt wurde, mochte sie behelfsmäßig motorisiert werden und würde alsdann erheblich höhere Marschgeschwindigkeiten erreichen. Halders Rechnung, die Wehrmacht könne innerhalb von zwei Monaten, gerechnet ab Charkow, am Kaukasus stehen, also Anfang November, war daher nicht etwa übertrieben, sondern ziemlich vorsichtig. Bei einer Marschgeschwindigkeit zwischen 50 und 100 km am Tag würde ein Monat reichen. Halders Erwartungen waren demnach wohlbegründet; es war tatsächlich durchführbar, das europäische Rußland vorwärts der Wolga bis zum Herbst 1941 in die Hand zu nehmen. Hitler ging darauf nicht ein. Daß der Feldzug in einer bestimmten Weise geführt werden mußte, um erfolgreich und zeitgerecht abzulaufen, hatte er schon vorher nicht begriffen, und er begriff es auch jetzt nicht. Oder wie Haider es ausdrückte: Hitler hatte sich seine Ziele gesetzt und blieb dabei, ohne Rücksicht auf Feind und andere Einwände. Die Ziele Hitlers blieben immer dieselben; er wollte den Gegner vernichtend schlagen, vorzugsweise bei Leningrad und in der Ukraine, und hoffte darauf, der sowjetische Staat werde anschließend zusammenbrechen. Wahrscheinlich lehnte Hitler den Plan des Generalstabschefs schon deswegen ab, weil dieser unverhohlen von der Voraussetzung ausging, der sowjetische Staat werde nicht zusammenbrechen und der organisierte Widerstand werde mit dem Erreichen der Wolga nicht aufhören. In Hitlers Augen kam dies einem Anschlag auf die Rassentheorie gleich, denn gemäß der Rassentheorie mußte der jüdisch-bolschewistische Staat ganz einfach zusammenbrechen. Sodann mögen Hitlers Wunsch eine Rolle gespielt haben, den militärischen Fachleuten die eigene Überlegenheit zu beweisen, und nicht zuletzt auch der Umstand, daß Hitler weder flihig noch willens war, die angestrengte Gedankenarbeit stabsmäßiger Planung nachzuvollziehen. Wie dem auch sei, der Diktator blieb bei seinen Vorurteilen. Zwar billigte Hitler das Abdrehen der Gruppe Kluge in Richtung auf Charkow und den Kaukasus (vermutlich hatte ihn Brauchitsch veranlaßt, diesen Gedanken in die Weisung vom 22./23. Juli aufzunehmen), aber Hitler beharrte am 23. Juli darauf, die Panzergruppe 3 nach Leningrad abzudrehen und die Heeresgruppe Mitte allein mit Infanterieverbänden nach Moskau ziehen zu lassen. Für Hitler war das schlüssig, denn er hatte ja schon immer nach Leningrad und in die Ukraine gewollt. Nur ließ sich auf diese Weise der Feldzug nicht gewinnen, weil das Abdrehen der Panzergruppe 3 einen überflüssigen Zeit- und Kraftaufwand in der falschen Richtung beinhaltete, weil die Heeresgruppe Mitte so geschwächt sein würde, daß sie kaum vorankam, und weil die Gruppe Kluge, wenn sie allein nach Südosten vorstieß, in der Luft hängen würde. Bei Halders Plan waren die einzelnen Operationen auf einander bezogen und an der Feindlage ausgerichtet. Der gemeinsame Vormarsch aller drei Heeresgruppen würde den Gegner an verschiedenen Stellen schlagen oder zumin-
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dest überall fesseln, er würde dadurch wechselweise für Entlastung sorgen, wichtige Verbindungslinien des Gegners durchtrennen und gegenseitig die Flanken schützen. Bei Hitlers Absichten traf all dies nicht zu; sie eröffneten dem Gegner günstige Angriffsmöglichkeiten, kosteten viel Zeit und würden am Ende bei großem Kraftaufwand nichts Entscheidendes bewirken. Daß Operation ein Netzwerk von Beziehungen darstellt, blieb Hitler immer verschlossen; für solch verzweigte Zusammenhänge reichte sein Denkvermögen nicht. Die Auseinandersetzungen der folgenden Wochen waren so zerfahren und unübersichtlich, daß sich kaum eine klare Linie darin entdecken läßt. Während Hitler fortwährend mit neuen sprunghaften Eingebungen aufwartete, suchten Brauchitsch und Halder, unterstützt von Jodl, die Querschüsse Hitlers abzufangen. Dabei entstand mancherlei Verwirrung, weil die Verhältnisse an der Front nicht mehr einheitlich von einem Willen geordnet wurden, sondern sozusagen mehrere Köche im selben Topf rührten und sich nicht einig waren, wie gegebene Befehle auszulegen seien. Als Hitler seine Weisung vom 30. Juli erließ, wonach die Heeresgruppe Mitte zur Verteidigung überzugehen hatte, atmete Halder erleichtert auf. Diese Lösung, so meinte der Generalstabschef, befreie jeden denkenden Soldaten von dem fürchterlichen Alpdruck der letzten Tage, in denen man durch die unnachgiebige Haltung des Führers ein völliges Versanden der Ostoperation greifbar vor sich gesehen habe. Endlich gebe es wieder einmal einen Lichtblick. Freilich handelte es sich dabei um einen trügerischen Lichtblick. Um den 25. Juli hatte Hitler als seine neueste Erkenntnis verkündet, weitausholende operative Umfassungen führten gegenüber den Russen nicht zum vollen Erfolg. Dies könne man etwa beim Kessel von Smolensk sehen, wo der Einkreisungsring nicht sofort habe abgedichtet werden können, so daß sowjetische Truppenteile entkommen seien. Dem Generalstab warf Hitler vor, daß er gegenüber dem Gegner operativ zu großzügig führe, daher taktisch die Erfolge im Verhältnis zu den Leistungen zu gering seien. Soweit darin etwas Richtiges enthalten war, rannte Hitler offene Türen ein. Für die Besprechung Halders mit den Stabschefs der Heeresgruppen am 25. Juli stellte der Generalstab die bisherigen Erfahrungen des Ostfeldzugs zusammen. Für das Gebiet der Taktik hieß es, man solle in Zukunft die Panzer nicht zu weit vortreiben, die Infanterie dicht folgen lassen, die Flanken besser schützen und die Kessel nicht zu groß machen. Für das Gebiet der Operation hieß es, man solle die operative Grundlinie nicht verlassen infolge taktischer Schwierigkeiten, sich nicht durch das Feindverhalten von der eigenen Absicht abbringen lassen und beim Kräfteansatz weit vorausschauen. Es liegt nun auf der Hand, daß es zwar wünschbar war, die taktischen und die operativen Einsichten zur Deckung zu bringen, daß dies aber nicht in jedem Fall möglich sein würde. Wenn man beispielsweise die Gruppe Kluge über hunderte von Kilometern auf Charkow ansetzte, dann konnte man eben keinen kleinen Kessel bilden, andernfalls mußte man den Vorstoß auf Charkow sein lassen. Im Zweifelsfall gingen die operativen Erfordernisse immer vor, andernfalls mußte man die Operation sein lassen. Wenn man den Feldzug nicht operativ führen wollte, dann hätte man ihn besser nicht angefangen.
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Eben diesen Verzicht auf eine operative Kriegführung verlangte nun Hitler. Er wünschte, die militärische Führung solle sich von großen operativen Einkreisungsschlachten umstellen auf taktische Vernichtungsschlachten in kleineren Räumen, in denen der gestellte Feind hundertprozentig vernichtet werde. Diese Taktik sei umso notwendiger, als beim weiteren Vorgehen im russischen Raum eine Aufspaltung des Heeres in einzelne Kampfgruppen unabhängig voneinander und ohne Anlehnung unvermeidlich sei. Diese allein mögliche Form weiterer Kriegführung in Rußland bedinge die vorherige restlose Erledigung der russischen Armee, damit die eigenen Kampfgruppen volle Bewegungsfreiheit hätten. Derlei Unsinn hing natürlich mit Hitlers eigenen operativen Vorstellungen zusammen. Er hatte ja schon immer gemeint, man müsse das russische Heer in Westrußland vernichten, vor allem auf den Flügeln im Norden und Süden, um anschließend volle Bewegungsfreiheit zu besitzen für die große Zange an der Wolga, bei welcher, wie Hitler meinte, das Heer in unabhängige Kampfgruppen aufgespalten würde. Daß der Gegner dennoch imstande sein würde, in der Tiefe des Raumes neue Divisionen aufzustellen, nahm Hitler nicht zur Kenntnis. Ebensowenig nahm er zur Kenntnis, daß die Schlacht von Smolensk trotz einiger taktischer Schwierigkeiten operativ ein voller Erfolg war. Man konnte versuchen, in Zukunft die taktischen Schwierigkeiten zu verringern, wie auch der Generalstab es vorhatte, aber selbstverständlich blieben die Operation und am Ende die Strategie die übergeordneten Gesichtspunkte. Wenn man mit Hilfe der Operation den Feldzug zu gewinnen vermochte, dann durfte man ein paar taktische Schwierigkeiten wohl im Kauf nehmen, zumal die Truppe immer damit fertig geworden war. Hitler sah das anders. Er wollte nunmehr zu kleinen taktischen Vernichtungsschlachten übergehen, wohl in der Hoffnung, den Gegner dadurch so zu zermürben, daß er am Ende doch zusammenbrach. Mit solchen kleinen Vernichtungsschlachten wollte er auch sogleich beginnen, und zwar bei Gomel, wo eine russische Kräftegruppe an der Südflanke der Heeresgruppe Mitte stand. Als Haider am 26. Juli davon erfuhr, zeichnete er auf, dieser Gedanke "bedeutet den Übergang von der operativen zur taktischen Führung. Wenn wir unser Ziel nur mehr darin sehen, kleine örtliche feindliche Anhäufungen zum Ziel unseres Einsatzes zu machen, so wird die Weiterführung dieses Feldzuges eine Kette von kleinen Erfolgen werden, die uns zu einem langsamen Schrittmaß im Vorschieben unserer Front zwingen. Wir werden dann kein taktisches Risiko mehr laufen, werden allmählich unsere zwischen den Heeresgruppen bestehenden Lücken schließen, alle unsere Kräfte in die immer mehr in der Breite verlaufende Front unter Verzicht auf Tiefe verteilen- und im Stellungskrieg enden!" Das klingt dramatisch, und so war die Lage auch. Ein Führervortrag am Abend desselben Tages wuchs sich zu einer erregten Auseinandersetzung aus. Hitler verlangte, die geplante Gruppe Kluge solle die Frage Gomel im Sinne einer rein taktischen Handlung erledigen. Dies solle möglichst bald geschehen ohne Rücksicht auf den zeitlichen Rahmen anderer Angriffe und solle möglichst noch zur Abschnürung der feindlichen Gruppe um Korosten führen, die sich seit Feldzugsbe-
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ginn in den Pripjet-Sümpfen zwischen den Heeresgruppen Mitte und Süd gehalten und von da aus die Heeresgruppe Süd in der Flanke belästigt hatte. Diese und andere Forderungen Hitlers schrieben bewußt jede operative Führung ab. Der Russe sei, so meinte Hitler, mit operativen Erfolgen nicht zu schlagen, weil er sie einfach nicht anerkenne. Daher müsse er Stück für Stück in kleiner, taktisch zu wertender Umfassung zerbrochen werden. Haider verkannte nicht, daß sich in den Ausführungen Hitlers auch ein Körnchen Wahrheit entdecken ließ, allerdings nur insofern, als die Russen heftigen Widerstand geleistet und die deutschen Operationen streckenweise behindert hatten, ohne sie am Ende aufhalten zu können. Aber insgesamt hielt Haider fest, der Diktator gebe sich "in der Gedankenbildung in das Schlepptau des Feindes", was dazu führen werde, die weiteren Kampfhandlungen so sehr in die Länge zu ziehen, daß die gesteckten Ziele an der Wolga nicht zu erreichen seien. "Denn der Russe hat Menschen genug. Daß man mit diesem Verfahren den Augenblick erreicht, in welchem er zerbricht, und dann der Weg für Operationen wieder frei wird, kann ich nicht glauben. Ich sehe in dieser Gedankenbildung den Anfang des Versandens der bisherigen schwungvollen Operation und einen Verzicht auf Ausnützung des Schwunges, welcher in unserer Truppe und in unseren schnellen Verbänden liegt. Ob diese völlige Umstellung in der Führung, die zunächst sicher auch für den Feind überraschend sein wird, zum Erfolg führt, bleibt abzuwarten. Die Einwände bezüglich der Bedeutung von Moskau werden ohne wirksamen Gegenbeweis einfach abgelehnt." Brauchitsch befahl am 28. Juli das Weiterführen der Operationen im Sinne Hitlers, obwohl Haider Einspruch erhob. Warum Brauchitsch dies tat, ist unbekannt; möglicherweise glaubte er, es werde kein großer Schaden angerichtet, wenn erst einmal die Truppen bereitgestellt wurden für einen Angriff, der in unterschiedliche Richtungen führen konnte, und anschließend Hitler überzeugt wurde, in derjenigen Richtung anzugreifen, die das OKH wünschte. In diesem Sinne sollte die Panzergruppe 3 so bereitgestellt werden, daß sie in nordöstlicher Richtung anzutreten vermochte, und die Panzergruppe 2 so, daß sie in Richtung Gomel vorgehen konnte, aber ohne Mühe auch die Richtung auf Charkow einzuschlagen vermochte. Wenige Tage später gelang es, wahrscheinlich unter Mithilfe Jodls, dem Diktator die Weisung vom 30. Juli zu entlocken, wonach die Heeresgruppe Mitte zur Verteidigung überzugehen hatte und ihre beiden Panzergruppen aufzufrischen waren. Halders Erleichterung darüber war vielleicht etwas verfrüht, denn Hitler stellte seine bisherigen Absichten nur vorläufig zurück. Der Angriff gegen Gomel wurde weiterhin in Aussicht genommen; ferner sollte die Heeresgruppe Mitte ihren linken Flügel nach Nordosten vortreiben und die Lage an der Grenze zur Heeresgruppe Nord bei Welikije Luki bereinigen. Letzteres hätte sich schon längst in die Wege leiten lassen, wenn man Halders Vorschlag vom 21. Juli aufgegriffen hätte, die Heeresgruppengrenze weiter nach Norden zu verlegen. Brauerutsch folgte auch dieser neuen Weisung Hitlers, was Haider mit den unzufriedenen Worten kommentierte, der Oberbefehlshaber sei leider nicht dazu zu veranlassen, auch nur die Andeutung eines eigenen Willens in seinen Befehl zu legen. Brauchitsch sei diktiert
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von der Sorge, ja keinen Widerspruch nach oben anzudeuten. Die vorsichtige und gegenüber Hitler eher gehemmte Art von Brauchitsch wurde damit wohl richtig beschrieben. Nur hätte ein härteres Auftreten von Brauchitsch vermutlich auch nichts bewirkt. So sollte nunmehr die Heeresgruppe Mitte an ihren beiden Flanken weiterhin angreifen, teils bei Welikije Luki, teils im Süden, um den späteren Angriff auf Gomel vorzubereiten, während ansonsten die Heeresgruppe zur Verteidigi.mg überzugehen hatte. Beides vertrug sich nur schlecht miteinander, denn einerseits sollten die schnellen Verbände aus der Front gezogen und aufgefrischt werden, andererseits wurden schnelle Verbände und Infanteriedivisionen für den Angriff an den Flanken benötigt, so daß Infanteriedivisionen fehlten, um die schnellen Verbände in der Front abzulösen. Für die bloße Sicherung der Flanken hätten wenige Infanteriedivisionen ausgereicht, für den Angriff an den Flanken benötigte man erheblich mehr. Operativ richtig wäre es gewesen, die Front der Heeresgruppe Mitte mit Infanterie so zu besetzen, daß der Kessel von Smolensk ausgeräumt sowie Angriffe des Gegners abgewehrt werden konnten, und ansonsten die Heeresgruppe nach der Tiefe zu gliedern, d. h. die Kräfte für den späteren Angriff nach Osten bereitzustellen. Operativ falsch war es, die Kräfte an die Flanken zu ziehen, damit die übrige Front zu schwächen und die Gliederung nach der Tiefe zu stören. Bei dem ganzen Wirrwarr kamen am Ende nur Halbheiten heraus: Da, wo die Heeresgruppe hätte stark sein sollen, wurde sie schwach oder nicht stark genug; wo sie stärker wurde, nämlich in Richtung Gomel, war es operativ unergiebig; und insgesamt war sie nirgendwo wirklich stark. Außerdem störte das Durcheinander die Versorgung, denn statt den Nachschub in das Auffüllen der Bestände und Vorräte zu stecken, wurde er nun für den Angriff benötigt. Die Heeresgruppe Mitte geriet darllit in eine ziemlich unerfreuliche Lage, mit überdehnten und eigentlich zu schwach besetzten Fronten nicht weil der Gegner so stark, sondern weil die eigene Führung so zerfahren war. Diese Dinge muß man übrigens auch berücksichtigen, wenn man der Frage nachgeht, ob die Heeresgruppe Mitte gemäß Halders früher geschildertem Plan am 10. August zum großen Angriff nach Osten hätte antreten können. Bei einheitlicher und sachgerechter Führung Ende Juli/ Anfang August hätte sie dies sehr wohl vermocht; sie geriet erst in Schwierigkeiten, als die einheitliche und sachgerechte Führung entfiel. Den Zustand, der daraus erwuchs, faßte Halder am 4. August so zusammen: "Wir beschränken unsere ganze Führungstätigkeit auf Einzelheiten, die Sache der Heeresgruppenkommandos sind, statt unseren Heeresgruppen klare Aufträge und die Unterlagen für selbständiges Handeln zu geben. Um das bessern zu können, muß Klarheit geschaffen werden, was die politische Führung als maßgebendstes Ziel ansieht." Wenn der Feind vernichtend geschlagen werden solle, müsse das OKH volle Freiheit in der Verwendung seiner Mittel haben. Eine solche Zielsetzung ende in diesem Jahr um Moskau und überlasse den Raumgewinn der Entwicklung der Lage. Es sei dann nicht zu erwarten, daß die Wehrmacht bis Winterbeginn am Kaukasus stehe. Halder fühlte sich offenbar veranlaßt, von seinem Plan,
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den er um den 23. Juli entwickelt hatte, Abschied zu nehmen, und zwar wegen der Eingriffe Hitlers. Als sicher erreichbares Ziel sah der Generalstabschef nur noch Moskau an; ob die Wolga erreicht werden könne, blieb offen, und den Kaukasus würde man nicht erreichen. Das war die notwendige Folge des Umstands, daß die Heeresgruppe Mitte nunmehr, wie Haider früher gesagt hatte, ihre Kräfte in die Breite verteilte und keine Tiefe mehr besaß für den Angriff an der entscheidenden Stelle, d. h. die Heeresgruppe werkelte an ihren Flanken herum, statt die Kräfte zusammenzufassen für die Bewegung und dann aus der Bewegung heraus die Flanken zu schützen. Es war das alte Problem: Dieser Feldzug konnte nicht gewonnen werden im frontalen Abringen an einer breiten Front, nicht im langsamen Zermahlen des Gegners, sondern nur durch das Zusammenwirken straff konzentrierter Stoßkräfte in weiträumiger Operation. 27 Wie nicht anders zu erwarten, zogen sich die Kämpfe an den Flanken der Heeresgruppe Mitte wochenlang hin. Das lag nicht an der Stärke des Gegners, sondern es dauerte eben seine. Zeit, auf überdehnten Linien mit verhältnismäßig geringen Kräften den Gegner zu schlagen oder zurückzudrängen. Diese Art der taktischen Kriegführung brachte der deutschen Seite außer bescheidenem Geländegewinn nahezu gar nichts ein, sie verschaffte lediglich dem Gegner die dringend benötigte Atempause. Zu einer wesentlichen Schwächung des Gegners konnte es auch nicht kommen, weil die Hauptkräfte des Gegners nicht an den Flanken der Heeresgruppe Mitte standen. Unterdessen bohrte das OKH, unterstützt von der Truppenführung, dauernd bei Hitler nach, um ihn zu einer vernünftigen Lageauffassung zu bekehren. Am 5. August meinte Halder, in Zukunft werde eine Besserung erst dann eintreten, wenn der Zug der Operationen so fließend werde, daß Hitler mit taktischen Einzelheiten gar nicht mehr mitkomme. Am Tag darauf, als Hitler bei der Heeresgruppe Süd weilte, hob Rundstedt auf Halders Wunsch die Bedeutung von Moskau hervor. Hitler lehnte dies eindeutig ab und blieb bei seiner alten Melodie, zunächst müsse mit Hilfe der Panzergruppe 3 Leningrad fallen, dann müsse Gomel bereinigt werden, dann müsse die Ostukraine erobert werden und erst ganz zum Schluß komme Moskau an die Reihe. Wieder einen Tag später zog Haider den General Jodl ins Vertrauen und legte ihm dar: "Die Frage Moskau oder Ukraine oder Moskau und Ukraine muß nach der Seite des und beantwortet werden. Wir müssen es, weil wir sonst die Kraftquelle des Feindes nicht vor Herbst zum Versiegen bringen. Wir können es nach dem überlegenen Siege von Rundstedt und nach dem absinkenden Wert des Feindes. Die Gruppe Korosten ist kein OperationszieL Sie muß zum Abfaulen gebracht werden. Wir dürfen uns mit unseren operativen Gedanken nicht in das Schlepptau der Taktik des Feindes begeben. Wenn wir seinen Nadelstichen in der Flanke nachlau27 Hitler arn 23. 7. 1941 nach Halder, KTB III, 107f. Hitler über taktische Schlachten (25. 7. 1941) in KTB OKW I/2, 1035 f. Die Weisungen des OKH vom 28.7. und 31.7. 1941 in Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 2/1326. Ferner Halder, KTB III, 112f., 121 ff., 129, 131, 133 f., 136, 146, 153. Guderian, 165 und passim. Lammers, Fahrtberichte, 64 ff. Hoth.
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fen, tun wir ihm den größten Dienst. Wir müssen den Erfolg suchen im Zusammenhalten der Kräfte für die weiträumige, entscheidende Ziele treffende Operation und dürfen uns nicht mit nebensächlichen Zielen verplempern." Jodl verstand genug vom Kriegführen, um trotzder stets bestehenden Spannungen zwischen OKW und OKH die Richtigkeit von Halders Ausführungen einzusehen und mit ihm am selben Strang zu ziehen. Wahrscheinlich unter dem Einfluß Jodls erließ Hitler am 12. August eine neue Weisung, in welcher er zwar verlangte, es müßten zunächst die feindlichen Flankenstellungen an beiden Flügeln der Heeresgruppe Mitte beseitigt werden. Doch schien sich immerhin eine Wendung zum Besseren anzubahnen, indem es hieß, das Zentrum Moskau müsse dem Gegner noch vor Eintritt des Winters entzogen werden. Freilich wurde das sofort wieder eingeschränkt und verwässert, denn der Angriff auf Moskau durfte erst nach Abschluß der Operationen gegen Leningrad beginnen und mußte überdies so weit nach Norden ausholen, daß die rechte Flanke der Heeresgruppe Nord gedeckt wurde. Auch diese Weisung enthielt wenig Brauchbares und ist nur verständlich als Zwischenstation in dem unwürdigen Feilschen um einen tragfähigen Operationsplan. Hitler hielt sich ohnedies nicht daran. Bevor diesen Dingen nachgegangen wird, ist indes ein Einschub angebracht. Soweit erkennbar, findet sich in Halders Aufzeichnungen ein einziger Eintrag, der sich mit der Unterschätzung befaßt, und dieser Eintrag wird natürlich von den Anhängern der Unterschätzungstheorie mit Genuß zitiert. Am 11. August hielt Haider fest: "An den von Angriffsbewegungen nicht betroffenen Fronten ist Erschöpfung =Ruhe. Das, was wir jetzt machen, sind die letzten verzweifelten Versuche, die Erstarrung im Stellungskrieg zu vermeiden. Die oberste Führung ist in ihren Mitteln sehr beschränkt. Die Heeresgruppen sind durch natürliche Grenzen (Sumpfniederungen) voneinander getrennt. Unsere letzten Kräfte sind ausgegeben. Jede Neugruppierung ist eine Verschiebung auf der Grundlinie innerhalb der Heeresgruppen. Das dauert Zeit und verbraucht Kraft von Menschen und Maschinen." Was Haider hier beschrieb, war der Zustand, der durch Hitlers Eingriffe entstanden war: vor allem bei der Heeresgruppe Mitte, die ihre Kräfte bei nutzlosen Unternehmungen in der Weite des Raumes verteilte, aber auch bei Heeresgruppe Nord, die südlich des Ilmen-Sees nur mühsam vorankam, weil ihre stärkste Schlagkraft nicht hier, sondern vor Leningrad stand, sowie bei Heeresgruppe Süd, weil diese sich mit einer einarmigen Umfassung langsam und mühevoll durch den Gegner hatte fressen müssen und deshalb einige Ermüdungserscheinungen zeigte. All dies war nicht unvermeidlich, und all dies hätte sich überwinden lassen .. Am Tag, als Haider seine Sätze niederschrieb, am 11. August, hätte nach seiner eigenen Planung eigentlich schon der Angriff der Heeresgruppe Mitte unterwegs sein sollen, der über Moskau auf die Wolga zielte. Nicht der Gegner hatte diesen Angriff verhindert, sondern Hitler war es gewesen. Haider fuhr in seinen Aufzeichnungen fort: "In der gesamten Lage hebt sich immer deutlicher ab, daß der Koloß Rußland, der sich bewußt auf den Krieg vorbe-
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reitet hat, mit der ganzen Hemmungslosigkeit, die totalitären Staaten eigen ist, von uns unterschätzt worden ist. Diese Feststellung bezieht sich ebenso auf die organisatorischen wie auf die wirtschaftlichen Kräfte, auf das Verkehrswesen, vor allem aber auf rein militärische Leistungsfähigkeit. Wir haben bei Kriegsbeginn mit etwa 200 feindlichen Divisionen gerechnet. Jetzt zählen wir bereits 360. Diese Divisionen sind sicherlich nicht in unserem Sinne bewaffnet und ausgerüstet, sie sind taktisch vielfach ungenügend geführt. Aber sie sind da. Und wenn ein Dutzend davon zerschlagen wird, dann stellt der Russe ein neues Dutzend hin. Die Zeit dazu gewinnt er dadurch, daß er nah an seinen Kraftquellen sitzt, wir immer weiter von ihnen abrücken. So ist unsere auf größte Breite auseinander gezerrte Truppe ohne jede Tiefe immer wieder den Angriffen des Feindes ausgesetzt. Diese haben teilweise Erfolg, weil eben auf den ungeheuren Räumen viel zu viele Lücken gelassen werden müssen." Die entscheidende Frage ist hier offenbar, wen Haider mit "wir" meinte, denn es hieß ja, der Gegner sei "von uns" unterschätzt worden. Wenn man die Stelle mit einigem militärischen Sachverstand liest, kann man die Frage an sich schnell beantworten. Die Antwort läßt sich aber auch Schritt für Schritt methodisch begründen. Zunächst ist festzuhalten, daß Haider in seinen Aufzeichnungen ganz undifferenziert das Wort "wir" verwendete und daß man jeweils aus dem Zusammenhang erschließen muß, auf wen es sich bezog. Manchmal war damit der Generalstab oder das OKH gemeint; manchmal hieß es ganz allgemein soviel wie "die deutsche Seite", etwa wenn Haider am 31. 7. 1940 sagte: "Die Bestrebungen Rußlands an den Meerengen und in Richtung auf den Persischen Golf stören uns nicht"; und manchmal bezog es sich auf Hitler, so wenn Haider im Mai 1940 über die Politik des Diktators sagte: "Wir suchen Fühlung mit England auf der Basis der Teilung der Welt." Haider benützte das Wort "wir" in jenem unscharfen Sinn des allgemeinen Sprachgebrauchs, welcher den Sprecher in ein Kollektiv stellt und bei Nennung des Kollektivs offenläßt, auf welche Mitglieder die Aussage zutrifft. Am besten könnte man das Wort "wir" bei Haider vielleicht übersetzen mit: gewisse Leute bei uns, wobei der Kundige dann schon wußte, welche Leute, nämlich je nach den Umständen andere. Die zitierte Stelle ist übrigens ein Paradebeispiel dafür, denn das Wort "wir" heißt dort fast in jedem Satz etwas anderes. Wenn dort stand, die sowjetischen Divisionen seien nicht in "unserem" Sinne ausgerüstet, so bedeutet dies, sie seien nicht im Sinn des deutschen Ausrüstungsstandards ausgestattet, wobei offenblieb, ob der Standard auf Hitler, auf den Generalstab oder auf sonstwen zurückging. Wenn dort stand, "wir" rückten immer weiter von den Kraftquellen ab, so bezog sich dies weder auf Hitler noch auf den Generalstab, sondern auf die deutschen Truppen, wobei wiederum offenblieb, wer es veranlaßt hatte. Im nächsten Satz war die Rede von "unserer" auf größte Breite auseinandergezerrten Truppe. War das Hitlers Truppe oder diejenige des Generalstabs, und wer hatte sie auseinandergezerrt? Doch genug der sprachlichen Vorüberlegungen! Nach Halders Meinung war offenbar der Koloß Rußland auf der deutschen Seite unterschätzt worden, "von uns" 28 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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oder von gewissen Leuten bei uns. Wer hatte Rußland unterschätzt? Bei Kriegsbeginn hatten "wir" mit etwa 200 feindlichen Divisionen gerechnet; jetzt zählten "wir" bereits 360. Diese Zahlen sind verwirrend, sie klären sich jedoch, wenn man der Frage nachgeht, was Haider damit ausdrücken wollte. Der Generalstab hatte bei Kriegsbeginn 265 Divisionen und Brigaden der Roten Armee insgesamt gezählt, unter Berücksichtigung von Sonderverbänden noch einige mehr. Im europäischen Rußland waren 227 Verbände angenommen worden, während Haider in seinen Aufzeichnungen die letztere Zahl auf 213 Divisionen umgerechnet hatte, wobei er vermutlich die Brigaden mit zwei Drittel der Stärke einer Division veranschlagte. Die 360 Divisionen entsprachen dem Kenntnisstand der deutschen Aufklärung Anfang August und umfaßten alle Divisionen, die seit ~egsbeginn von der deutschen Aufklärung erlaßt worden waren. Darin waren weit über 100 Divisionen enthalten, welche die Wehrmacht bereits vernichtet hatte, ferner solche, welche so geschwächt waren, daß sie nicht mehr viel taugten, sowie eine wachsende Zahl von Neuaufstellungen mit begrenztem Kampfwert Die tatsächliche Lage vor der deutschen Front sah daher gar nicht ungünstig aus und wurde von Haider am 8. August so festgehalten (wobei der Generalstabschef nicht mehr, wie in der vorhin genannten Aufstellung, die Zahl sowjetischer Verbände auf den Kampfwert umrechnete, also praktisch halbierte, sondern einfach die nackten Zahlen wiedergab): Heeresgruppe Nord besaß 26 Verbände, darunter 6 schnelle, der gegenüberstehende Feind 23 Verbände, darunter 2 schnelle; Heeresgruppe Mitte hatte 60 Verbände, darunter 17 schnelle, der gegenüberstehende Feind 70 Verbände, darunter 8 1/ 2 schnelle; Heeresgruppe Süd hatte 50 1/ 2 Verbände, darunter 9 1/ 2 schnelle, sowie zahlreiche Bundesgenossen (Rumänen, Ungarn, Italiener), der Feind 50 1/ 2 Verbände, darunter 6 1/ 2 schnelle. Zu fürchten brauchte die deutsche Seite sich wahrlich nicht, und die deutsche Aufklärung war so leistungsfähig wie zuvor. Haider fand sein altes Urteil bestätigt, daß Nord für die Durchführung seiner Aufgabe stark genug war, bei Mitte alle Kräfte zusammengefaßt werden mußten, um die Masse des Feindes zu zerschlagen, Süd ausreichend stark war, um seine Aufgabe zu Ende zu führen, vielleicht sogar Mitte noch helfen konnte. Drei Tage später soll Haider die Unterschätzung des Feindes bejammert haben? Wer hatte hier unterschätzt? Und wovon war hier überhaupt die Rede? Der Feldzug war zunächst ungefähr so verlaufen, wie der Generalstab geplant hatte: Die Masse des operationsfähigen russischen Heeres war in den Anfangsschlachten zerschlagen worden, die Heeresgruppen hatten ihre Ziele erreicht, der Zeitplan war einigermaßen eingehalten worden, für das Weiterführen der Operationen bis zur Wolga gab es keine schwerwiegenden Hindernisse. Mit ungefähr 300 feindlichen Divisionen hatte der Generalstab gerechnet, ebenso mit Neuaufstellungen. Ende Juli hatte das OKH vor der deutschen Front insgesamt noch 180 Divisionen angenommen; am 8. August veranschlagte Haider 144 Verbände, wozu eine nicht genannte Anzahl von Divisionen in der Reserve kam. Eben hier, bei den Reserven, lag das Problem. Der Generalstab wußte, und hatte immer gewußt, daß das europäische Rußland auf dem Weg über Moskau schnell erobert werden mußte, um die
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Mobilisierung und das Heranführen von Reserven zu verhindern. Wer es nicht wußte, war Hitler. Noch besaßen die russischen Reserven keine große Bedeutung (Anfang August dürften es um die 40 gering ausgebildete und schlecht ausgerüstete Divisionen gewesen sein), aber Umfang und Kampfwert dieser Reserven würden in Zukunft von Tag zu Tag anwachsen. Halders Zahlen vom 11. August über die russischen Divisionen (200 bzw. 360) sind irreführend, aber der Generalstabschef wollte damit sagen, daß die Sowjetunion in der Lage war, in großem Maßstab neue Verbände aufzustellen. Tatsächlich wurden bis Ende 1941 mehrere hundert Divisionen und andere Verbände neu aufgestellt, dazu Reserven aus anderen Landesteilen wie Sibirien herangezogen. Das hätte Hitler berücksichtigen müssen, und eben dies tat er nicht; insofern unterschätzte er den Gegner. Statt so schnell wie möglich weiter nach Moskau und zur Wolga vorzustoßen, hielt er die Heeresgruppe Mitte an und vertändelte kostbare Zeit mit sinnlosem Kleinkram. Statt die Kräfte an der richtigen Stelle zusammenzufassen und weiträumige Operationen auf die entscheidenden Ziele anzusetzen, verstreute er die Truppen in der Weite des Raumes und zwang sie in eine Art von Stellungskrieg. Durch seine Eingriffe zerstörte der Diktator Halders Feldzugsplan und beschwor die Gefahr herauf, daß dieser Feldzug irgendwo vor Moskau versacken werde. Dieser Feldzug wurde nicht entschieden, wie Hitler meinte, indem man an einer langgestreckten Front den Gegner aufrieb und auf seinen Zusammenbruch hoffte, sondern er wurde entschieden, indem man in kühnen, weitreichenden Bewegungen das europäische Rußland mitsamt seinen Industriegebieten in die Hand nahm, um dem Gegner für die Zukunft die Angriffsfähigkeit zu nehmen. Hitlers Unvermögen, dies zu begreifen, umschrieb Haider mit dem Wort Unterschätzung. In gewisser Weise war in diese Unterschätzung auch das OKW verstrickt, ja sogar Brauchitsch; das ist der zusätzliche Sinn des "wir". Natürlich wußte Brauchitsch, wie der Feldzug eigentlich geführt werden mußte, und auch Jodl war nicht uneinsichtig. Aber dem OKW war es bislang nicht gelungen, den Diktator richtig zu beraten; und Brauchitsch hatte, in Halders Augen, wenig Standfestigkeit bewiesen, als es darum gegangen war, Hitler die unselige Gomel-Angelegenheit auszureden. So war es gekommen, daß die Truppe auf größte Breite auseinandergezerrt und Angriffen des Feindes ausgesetzt wurde. Zu erreichen war auf diese Weise nichts, denn wenn man dem Russen ein Dutzend Divisionen zerschlug, dann würde er ein neues Dutzend hinstellen. Die Zeit dafür gewann er dadurch, daß er nahe an seinen Kraftquellen saß, namentlich denen von Moskau, während die deutsche Seite sich immer weiter davon entfernte. Gemeint waren damit nicht die deutschen Kraftquellen, sondern die Wehrmacht rückte von den sowjetischen Kraftquellen ab, indem sie nicht auf Moskau vorging, vielmehr an den Flanken der Heeresgruppe Mitte sich nach Norden und Süden bewegte, in eine tote Richtung. 28 28 Halder, KTB III, 155, 157f., 159f. Hitlers Weisung vom 12. 8. 1941 in Hubatsch, Weisungen, 171 ff. Zur angeblichen Unterschätzung Halder, KTB III, 170 (II. 8. 1941); ll, 46; I, 308; II, 461; III, 165.
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Hitlers nächster Geniestreich fand am 15. August statt. Die Heeresgruppe Nord war am 8. August zwischen dem Nordende des Peipus-Sees und dem 11men-See gegen Leningrad angetreten und gut vorangekommen. Als jedoch südlich des 11men-Sees ein Einbruch stärkerer Feindteile erfolgte, verlor Hitler wieder einmal die Nerven und verlangte, ein .Korps der Panzergruppe 3, fast die Hälfte ihrer Kampfkraft, an den 11men-See zu verschieben. Der Entschluß, den das OKH nicht aufzuhalten vermochte, war in verschiedener Hinsicht untauglich. Erstens war die Heeresgruppe Nord imstande, mit ihren eigenen Kräften und geringerem Aufwand die Lage wiederherzustellen. Zweitens konnte das betreffende Korps der Panzergruppe 3 sowieso nicht mehr rechtzeitig eintreffen, da es sich in der Auffrischung befand, sein Gerät nicht einsatzfähig und die Truppe großenteils nicht marschfähig war, außerdem das Korps auf einem langen Weg quer hinter der Front verschoben werden mußte. Drittens verlor damit der linke Flügel der Heeresgruppe Mitte einen großen Teil seiner Angriffskraft gegen Moskau. Viertens schließlich brachte die Maßnahme auch da keinen wesentlichen Vorteil, wo Hitler ihn hauptsächlich erwartete, nämlich beim Angriff gegen Leningrad. Wenn gemäß Halders früherem Plan die Heeresgruppe Mitteam 10. August zum Angriff gegen Moskau angetreten wäre, dann hätte der Gegner schwerlich noch einen Einbruch südlich des 11men-Sees erzielt, weil er dann vollauf durch den Angriff der Heeresgruppe Mitte gebunden worden wäre. Da Hitler das kunstvolle Netz von Halders Operationsplanung zerrissen hatte, kam es zu solchen Zwischenfallen wie dem Einbruch südlich des 11men-Sees. Dieser wiederum mußte von der Heeresgruppe Nord selbst bereinigt werden, wozu die Heeresgruppe schnelle Divisionen aus der Angriffsrichtung Leningrad abzog. In Richtung auf Leningrad wurden bis zum 20. August tiefe Einbrüche erzielt, die dann jedoch nicht vollständig ausgenützt werden konnten, weil die schnellen Divisionen fehlten, die unterdessen südlich des 11men-Sees kämpften. Das Korps der Panzergruppe 3 befand sich in der Zwischenzeit auf dem Anmarsch hinter der Front; als es schließlich eingetroffen war, wurde es in den Angriff auf Leningrad eingegliedert, der freilich wegen des Fehlens schneller Truppen ins Stocken geraten war. Das Korps der Panzergruppe 3 brachte vor Leningrad keine wesentliche Verstärkung, weil die nach dem 11men-See abgezogenen Verbände der Heeresgruppe Nord in Zukunft dort blieben. Man sieht, daß die Eingriffe Hitlers das Kampfgeschehen an der Ostfront in eine Vielzahl taktischer Einzelhandlungen auflösten, mit gewaltigem Verschleiß, unnützen Bewegungen und ohne nennenswerten Fortschritt. Sinnvoll wäre es gewesen, den Einbruch am 11men-See, wie Haider vorhatte, der Heeresgruppe Nord zu überlassen, möglichst bald nach Moskau anzugreifen, die Heeresgruppe Nord auf diese Weise zu entlasten und ihr den Angriff gegen Leningrad zu erleichtern. Aber solche einfachen Zusammenhänge wollten in den Kopf des Diktators nicht hinein; er behielt sich das Recht vor, den Feldzug eigenhändig in die Sackgasse zu steuern. Um dem planlosen Gewurstel Hitlers ein Ende zu bereiten, legte der Oberbefehlshaber des Heeresam 18. August einen Vorschlag für die Fortführung der Operationen vor. Dieser befaßte sich hauptsächlich mit dem Angriff auf Moskau; die
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Heeresgruppen Nord und Süd wurden nur insoweit angesprochen, als sie lebenswichtige Industriegebiete gewinnen und die russische Flotte ausschalten sollten. Bemerkenswerterweise wurde auch hier noch einmal das alte Kriegsziel des OKH genannt, welches darin bestand, dem Gegner die Möglichkeit zum Erneuern seiner geschlagenen Wehrmacht und zur Schaffung noch operativ zu wertender Angriffskräfte zu nehmen. Nicht das Zerschlagen des sowjetischen Staates wurde angestrebt, sondern die Sicherung des Reiches gegen einen zukünftigen Angriff. Vom Erreichen der Wolga oder noch fernerer Ziele war nicht mehr die Rede; das erklärt sich leicht daraus, daß nach Abschluß der gegenwärtig laufenden Flankenkämpfe bei Heeresgruppe Mitte (Gomel sollte noch erreicht werden) die Heeresgruppe Mitte nicht vor Anfang September zum Angriff antreten konnte. Aus Witterungsgründen blieben dann nur noch der September und Oktober, in welchen die geschwächte Heeresgruppe Mitte über Moskau nicht weit hinauskommen würde. Die Heeresgruppe Mitte besaß noch die Panzergruppe 2 (Guderian), die wegen der Flankenkämpfe bei Gomel nicht voll aufgefrischt werden konnte, sowie die halbe Panzergruppe 3 (Hoth), was gerade für den Angriff auf Moskau ausreichte. Der früher geplante Stoß auf Charkow mußte entfallen; ob ein Zusammenwirken der Heeresgruppen Mitte und Süd östlich der Pripjet-Sümpfe noch in Frage kam, blieb offen. Auszuschließen ist es nicht, aber dann würde die Heeresgruppe Süd voraussichtlich nicht weit nach Norden in Richtung Moskau vordringen, allenfalls konnte die Heeresgruppe Mitte nach Süden herunterstoßen, dann würde sie nicht bis an die Wolga östlich Moskau gelangen. Der Angriff der Heeresgruppe Mitte sollte als Umfassungsoperation angelegt werden, mit starken Angriffsgruppen auf den Flügeln und einer Fesselung des Gegners in der Mitte zwischen den Flügeln. Die Flügel waren in Richtung auf Rschew nordwestlich und Kaluga südwestlich Moskau vorzuführen; je nach Lage sollte dann entschieden werden, ob der Kessel noch vor Moskau oder hinter Moskau zu schließen war. Auf jeden Fall ergab sich eine ziemlich weiträumige Einschließung, ähnlich dem Kessel von Smolensk. Am Nordflügel waren eine Infanteriearmee und die halbe Panzergruppe Hoth anzusetzen, am Südflügel eine Infanteriearmee und der größere Teil der Panzergruppe Guderian. Die Flanken des Angriffs sollten gedeckt werden, indem hinter dem Südflügel eine Armee im Staffelverhältnis nachgeführt wurde, die bedrohliche feindliche Kräftegruppen sofort zu schlagen hatte. Hierzu sollten ihr die Teile der Panzergruppe Guderian zugeteilt werden, welche nicht mehr rechtzeitig mit der Auffrischung fertig wurden. Eine ähnliche Staffel ergab sich hinter dem Nordflügel, indem diejenigen Kräfte der Heeresgruppe Nord, welche den Einbruch südlich des Ilmen-Sees bereinigten, anschließend auf die Waldai-Höhe vorgingen. Vom Kräfteverhältnis her durfte ein Erfolg erwartet werden, da der Heeresgruppe Mitte, die ein paar Divisionen zurücklassen mußte, für den Angriff noch 56 Divisionen zur Verfügung standen, während der gegenüberstehende Gegner 42 Divisionen besaß, dazu etwa 20 in der Aufstellung begriffene. Bei den beiden Angriffsflügeln, die auf Moskau zielten, waren noch insgesamt 10 schnelle Divisionen vorgesehen, nicht sehr viel, aber ausreichend,
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wenn die Infanterie scharf herangehalten wurde. Zum Vergleich sei daran erinnert, daß Haider bei seinem Plan vom 23. Juli den unmittelbaren Angriff auf Moskau mit den sieben schnellen Divisionen der Panzergruppe Hoth sowie der erforderlichen Infanterie hatte führen wollen, wobei im weiteren Verlauf der Kämpfe die Panzergruppe 4 hatte folgen und die Gruppe Kluge auf ihrem Weg nach Charkow starke Feindteile hatte schlagen oder fesseln sollen. Rechnet man die Kräfte zusammen, so wäre der Angriff, den Haider am 23. Juli plante, wirkungsvoller gewesen als derjenige, welcher am 18. August vorgeschlagen wurde. Der neue Plan des OKH fand auch bei Jodl Unterstützung. Anders Hitler. Am 21. August erließ er eine Weisung an den Oberbefehlshaber des Heeres, in welcher er kurz und bündig erklärte, der Vorschlag vom 18. August stimme mit seinen Absichten nicht überein. Er befehle folgendes: Das wichtigste, noch vor Einbruch des Winters zu erreichende Ziel sei nicht die Einnahme von Moskau, sondern die Wegnahme der Krim, des Donez-Gebiets und die Abschnürung der russischen Ölzufuhr aus dem Kaukasus, im Norden die Abschließung Leningrads und die Vereinigung mit den Finnen. Dieser Satz besagte, sofern die Logik noch eine Bedeutung hat (was man bei Hitler allerdings bezweifeln darf), daß vor dem Winter die genannten Ziele erreicht werden müßten, und wenn dies dazu führe, daß Moskau vor dem Winter nicht mehr erreicht werde, dann solle es dabei sein Bewenden haben. Als Haider am Tag darauf die Weisung erhielt, stellte er deshalb ganz richtig fest, die Weisung sei entscheidend für das Ergebnis des Feldzugs. Nachdem der Feldzugsplan des OKH schon bisher von Hitler fortlaufend ausgehöhlt worden war, durfte man sich jetzt darauf einrichten, daß nicht einmal mehr Moskau erreicht werden konnte. Das würde voraussichtlich bedeuten, daß Deutschland nicht nur diesen Feldzug, sondern den ganzen Krieg gegen die Sowjetunion verlor und daß eines Tages die Rote Armee an der deutschen Grenze stehen würde - oder noch weiter im Westen. Hitler fuhr in seiner Weisung fort, die operativ selten günstige Lage, die durch das Vordringen der Heeresgruppen Mitte und Süd entstanden sei, müsse ausgenützt werden, um den sowjetischen Streitkräften, welche in der Fronteinbuchtung zwischen beiden Heeresgruppen standen, das Ausweichen hinter die Linie Desna Konotop - Sula zu verwehren. Da diese Linie von der Südostecke der Heeresgruppe Mitte zum Dnjepr unterhalb Kiew führte, war klar, daß Hitler eine Einkreisungsoperation entlang dieser Linie wünschte. Darin drückte sich der beschränkte militärische Sachverstand beim Diktator aus, der mit dem Finger auf der Karte herumfuhr, einen Frontbogen entdeckte und darin die Gelegenheit erblickte, dem Gegner einen Schlag zu versetzen. Im Grunde handelte es sich um eine Fortsetzung seines Gedankens, den Gegner in kleinen taktischen Vernichtungsschlachten aufzureiben, übertragen in einen größeren Maßstab. An der von Haider beklagten Erstarrung im Stellungskrieg änderte sich dadurch praktisch nichts, denn die Gesamtfront kam weiterhin nicht voran, schon gar nicht in der entscheidenden Richtung, vielmehr löste sich das Kampfgeschehen in eine Anzahl von Nebenhandlungen entlang einer überdehnten Stellungsfront auf. Die Kräfte wurden wei-
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ter im Raum verstreut, und der Gegner erreichte genau das, was er wollte, nämlich Zeitgewinn und Festnageln des deutschen Vormarsches. Hitler schloß seine Weisung mit der Anordnung, erst das enge Abschließen von Leningrad und das Abschneiden des genannten Frontbogens bei Kiew schüfen die Voraussetzung, um im Sinne seines Befehles vom 12. August die feindlichen Kräfte vor Moskau mit Aussicht auf Erfolg angreifen zu können. Das war insofern widersprüchlich, als jene Weisung vom 12. August klar ausgedrückt hatte, Moskau müsse dem Gegner noch vor Wintereinbruch entzogen werden. Jetzt jedoch wurde in Kauf genommen, wegen anderer Ziele, insbesondere des Frontbogens bei Kiew, Moskau nicht mehr vor dem Winter zu erreichen. Am Tag darauf, dem 22. August, reichte Hitler eine eigenhändig verfaßte Studie nach, um seinen Entschluß zu begründen. Anscheinend verspürte der Diktator das Bedürfnis, besonders absurde Entscheidungen vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Dasselbe hatte er im Herbst 1939 getan, als er durch eine Denkschrift den Angriff auf Frankreich, der zu dieser Zeit einfach nicht möglich war, zu begründen versucht hatte; und jetzt, im Sommer 1941, verhielt er sich ebenso. Der Versuch, aus diesen Denkschriften einen tragfähigen Gedanken herauszudestillieren, dürfte ein müßiges Unterfangen sein; es besteht der Verdacht, daß in beiden Denkschriften die wirklichen Beweggründe gar nicht genannt oder höchstens angedeutet wurden. Möglicherweise hatte Hitler im Herbst 1939 deswegen so schnell im Westen angreifen wollen, weil er meinte, bei einem Sieg umso früher gegen Rußland losschlagen zu können. Hinter der Denkschrift vom 22. August dürfte sich ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung verbergen, weil Hitler einzusehen begann, der sowjetische Staat werde nicht zusammenbrechen und deswegen könne der Krieg im Jahre 1941 nicht beendet werden.
Häufig wird angenommen, Hitler sei es hauptsächlich um das Erreichen wirtschaftlicher Ziele gegangen, vor allem in der Ukraine und im Kaukasus. Das ist in dieser Form zu eng. Sicherlich wollte er das auch, aber er verknüpfte es mit bestimmten strategischen und operativen Vorstellungen. Er war an den Feldzug herangegangen mit der Erwartung, vernichtende Schläge (dazu das Ausrotten der bolschewistischen Intelligenz) würden die Widerstandsfähigkeit des russischen Volkes und Heeres zerbrechen, den sowjetischen Staat zusammenstürzen lassen. Solche vernichtenden Schläge sollten anfangs von allen drei Heeresgruppen ausgeteilt werden, anschließend waren die Panzergruppen der Heeresgruppe Mitte nach Norden und Süden einzudrehen, um die vernichtenden Schläge vor Leningrad und in der Ukraine fortzusetzen. In diesem Sinn hatte Hitler im Juli 1941 seine Weisungen erlassen; den aus dem OKH stammenden Gedanken, die Gruppe Kluge auf Charkow anzusetzen, hatte er ohne Mühe übernommen, weil das in etwa seinen Vorstellungen zu entsprechen schien. Zugleich hatte er Kritik geäußert, weil die bisherigen Schläge nicht vernichtend genug gewesen waren, und hatte das Aufreiben des Gegners in kleinen taktischen Schlachten verlangt. Moskau war für ihn immer nebensächlich gewesen; wenn er Moskau überhaupt erobern ließ, worauf die militärische Führung unablässig drängte, dann sollte dies lediglich dem Zweck
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dienen, dem Gegner einen weiteren vernichtenden Schlag zu versetzen. Auch die Schlacht bei Moskau bildete für Hitler eigentlich kein operatives Ziel, sondern ein taktisches. In diesem Sinne meinte er in der Studie vom 22. August, beim Angriff auf Moskau müßten die sowjetischen Kräfte in kurzer Umklammerung vernichtet werden; erst danach sei der Vormarsch auf Moskau anzutreten. Hitlers Idealvorstellung bestand darin, spätestens durch vernichtende Schläge bei Leningrad und in der Ukraine den Zusammenbruch des Gegners herbeizuführen; eben zu diesem Zweck sollten ja die Panzergruppen nach Norden und Süden abgedreht werden. Zum vernichtenden Schlag in der Ukraine gehörte auch das Erobern von Stalingrad, schon aus geographischen Gründen, weil hier die Wolga erreicht wurde und erreicht werden mußte, um die Flanke eines Vorstoßes in den Kaukasus abzudecken. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, daß Hitler, wie Haider später berichtete, den Gewinn der bolschewistischen Symbolorte Leningrad und Stalingrad mit dem Zusammenbruch des Bolschewismus in Verbindung setzte. Brach der sowjetische Staat zusammen, dann ließ sich leicht die große Zange an der Wolga schließen. Dieser primitive Plan mit den vernichtenden Schlägen hatte freilich eine entscheidende Schwachstelle. Der bolschewistische Staat zeigte keinerlei Neigung zum Zusammenbruch, im Gegenteil schien sich der Widerstand fortwährend zu versteifen. Daß dieser Eindruck von Hitlers eigenen Maßnahmen und Eingriffen hervorgerufen wurde, dürfte sich der Diktator kaum eingestanden haben. Wenn aber der bolschewistische Staat nicht zusammenbrach, dann würde der Krieg über den Winter fortdauern. Daß dies so sein würde, hatte der Generalstab schon immer angenommen, deswegen hatte er den Feldzug in einer bestimmten Weise angelegt. Für Hitler dagegen bedeutete das Aufdämmern dieser Einsicht eine Umstellung. Er suchte dem gerecht zu werden, indem er einerseits weiterhin vernichtende Schläge austeilte, den einen bei Kiew, den anderen bei Moskau. Brach der sowjetische Staat dann doch noch zusammen - umso besser. Brach er nicht zusammen, dann sollte wenigstens eine günstige Grundlage für das Weiterführen des Krieges geschaffen werden. Dazu gehörte das Erobern des Donez-Beckens, die Wegnahme der Krim sowie das Abschnüren der russischen Ölzufuhr aus dem Kaukasus, was nur so geschehen konnte, daß bei Stalingrad die Wolga gesperrt wurde, auf welcher das Öl transportiert wurde. Alle drei Ziele erklären sich aus der Erwartung, der Krieg werde fortdauern. Die Krim wollte Hitler erobern, damit nicht sowjetische Bomber durch Luftangriffe auf die rumänischen Erdölanlagen die deutsche Treibstoffversorgung beeinträchtigten. Durch die Wegnahme des Donez-Beckens und die Sperrung der Wolga wollte Hitler der Sowjetunion die betreffenden Rohstoffe entziehen, was voraussetzt, daß er einstweilen mit der Fortsetzung des Widerstands durch den bolschewistischen Staat rechnete, nicht mit dessen Zusammenbruch. Ob er glaubte, die Sowjetunion werde längerfristig doch zum Aufgeben gezwungen sein, wenn sie über die betreffenden Rohstoffe nicht mehr verfügte, läßt sich nicht deutlich erkennen.
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Für das OKH zeichnete sich damit ab, daß der Feldzug wahrscheinlich in einem Mißerfolg enden werde. Halder meinte, das bisherige OKH, das im vierten siegreichen Feldzug stehe, könne nicht seinen guten Namen mit den nunmehr getroffenen Anordnungen beflecken. Er schlug daher Brauchitsch vor, ihrer beider Amtsenthebung zu beantragen. Brauchitsch lehnte ab, weil es zur Niederlegung des Amtes nicht käme, also nichts geändert würde. Am 23. August unternahm Halder einen letzten Versuch, indem er Guderian zum Führer schickte, da Guderian, der von Hitler als Truppenführer und Panzerfachmann geschätzt wurde, als äußerst durchsetzungsfähig galt und seit Monaten auf das Ziel Moskau eingeschworen war. Nicht einmal Guderian erreichte etwas, sondern gab schließlich Hitler gegenüber klein bei. Brauchitsch hatte schon recht mit seiner Einstellung, daß Hitler Vernunftgründen nicht zugänglich sei und immer jemanden finden würde, der ihm folgte. So blieb auch Halder kein anderer Ausweg, als seiner Verbitterung in Briefen an seine Frau Luft zu machen. Am 23. August schrieb er ihr: "Qualvolle Tage liegen hinter mir. Wieder einmal habe ich mein Amt zur Verfügung gestellt, um einen Unsinn zu verhüten. Der Erfolg war völlig unbefriedigend. Alleine. komme ich nicht auf gegen eine Welt von Feigheit, die zwar meine Ansicht teilt, aber nicht kämpfen will. Weglassen will man mich auch nicht, um nicht die schweren Meinungsverschiedenheiten der Öffentlichkeit fühlbar zu machen. So bleibt das quälende Ergebnis ein aufreibender Kleinkrieg, um wenigstens in der Durchführung der Dinge noch eine leidlich vernünftige Linie zu halten. Das Ziel aber, das ich mir gesteckt hatte und das zu erreichen wäre, nämlich den Russen in diesem Jahr endgültig zu erledigen, wird nicht erreicht werden und wir werden über den Winter eine kräftezehrende Ostfront haben und im Frühjahr einen aus der Unermeßlichkeit seines Landes neue Divisionen schaffenden Feind, gegen den mit viel Blut vielleicht erzwungen werden kann, was jetzt mit einiger Kühnheit spielend zu erreichen wäre. Der schwerste Vorwurf, der einer Führung gemacht werden kann, daß sie aus Scheu vor Risiko den Angriffsschwung ihrer Truppe nicht nutzt, wird uns von der Geschichte gemacht werden. Wir hatten im Westfeldzug ähnliche Fälle. Doch dort hat der innere Zusammenbruch des Feindes die Fehler mit gnädigem Schleier verdeckt. Ob uns diesmal die gütige Hand des Schicksals die gleiche Gnade gewährt, dürfen wir kaum erwarten. Verdient haben wir es sicher nicht ... " Dem ist an sich nichts hinzuzufügen; Halder besaß genügend Weitblick, um zu erkennen, daß in jenen Tagen der Verlauf des Rußlandfeldzuges und der Verlauf des Krieges insgesamt entschieden wurde. Trotzdem noch eine Bemerkung: Es ist heute üblich geworden, Halder etwas am Zeug· zu flicken. Richtig bleibt demgegenüber, daß Halder einer der bedeutendsten Soldaten der deutschen Geschichte war und zudem ein Beispiel charaktervoller Pflichterfüllung darstellte. Man möchte hoffen, daß das Verständnis für solche Dinge wieder zurückkehrt, damit nicht das politisierte Gerede kleiner Geister an die Stelle verläßlicher Geschichtskenntnis tritt. 29
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Guderian stieß mit seiner Panzergruppe 2, die seit Feldzugsbeginn fast pausenlos im Einsatz gewesen war, ab Ende August nach Süden vor, um die von Hitler gewünschte Einkreisung der sowjetischen Kräfte bei Kiew in die Wege zu leiten. Ab Anfang September kam ihm die Panzergruppe 1 über den Dnjepr entgegen, so daß Mitte September der Ring geschlossen wurde. Die Schlacht bei Kiew, die größte Kesselschlacht der Geschichte, brachte der Wehrmacht fast 700 000 Gefangene ein (die sie anschließend nicht ernähren konnte) und führte im übrigen dazu, daß Moskau nicht mehr erreicht und damit der mögliche Sieg im Rußland-Feldzug verschenkt wurde. Zeitlich kostete das Abschwenken Guderians nach Süden ungefähr einen Monat, weswegen der Angriff auf Moskau erst um den Beginn des Oktober in Gang kommen konnte - zu einer Zeit also, wo die Wehrmacht nach Halders früheren Plänen bereits an der Wolga hätte stehen sollen. Mittlerweile hatte Hitler am 6. September wieder eine seiner unschätzbaren Weisungen erlassen (nebenbei bemerkt: An sich hätte es vollauf genügt, wenn der Staatschef und Oberbefehlshaber Hitler eine durchdachte Weisung für den ganzen Barbarossa-Feldzug erteilt und anschließend das OKH seine Arbeit hätte tun lassen. Aber der größte Feldherr aller Zeiten fühlte sich bemüßigt, den Generalen zu zeigen, wie man einen Feldzug führte; er besaß ja auch die erforderlichen Fähigkeiten dazu). In der neuen Weisung hieß es, die russische Heeresgruppe vor Moskau - die seit Juli unter dem Oberbefehl des vormaligen Verteidigungsministers Marschall Timoschenko stand - müsse in der befristeten Zeit bis zum Einbruch des Winterwetters vernichtend geschlagen werden. Damit war das Wichtigste eigentlich schon gesagt, denn im Vordergrund stand gar nicht die Einnahme Moskaus, sondern die Vernichtung der Heeresgruppe Timoschenko. Es sollte also wieder einmal ein vernichtender Schlag geführt werden; vielleicht brachte es diesmal etwas. Damit das OKH auch wußte, was es zu tun hatte, gab Hitler gleich Regieanweisungen. So mußte die Heeresgruppe Mitte zunächst in einer scharf zusammengehaltenen, eng umfassenden (!) Vernichtungsoperation die Gruppe Timoschenko schlagen; erst danach durfte sie zur Verfolgung in Richtung Moskau ansetzen. Damit die Umfassung auch wirklich eng war, mußte eine doppelseitige Umfassung mit starken Panzerkräften auf den Flügeln aus dem Raum um Smolensk auf Wjasma angesetzt werden. Dazu ist zu bemerken, daß die Entfernung von der deutschen Front bei Smolensk bis Wjasma nur etwa 100 km betrug. Die Kesselschlachten von Minsk und Smolensk waren jeweils über eine Entfernung von mehreren hundert Kilometern geschlagen worden. Die Entfernung von Wjasma bis Moskau betrug noch einmal über 200 km, so daß sich erst erweisen mußte, ob es vor Einbruch des Winterwetters möglich sein würde, sowohl die Schlacht von Wjasma zu 29 Zum Urnen-See Halder, KTB III, 178 ff., 189 f. und passim. Der Operationsvorschlag des OKH vom 18. 8. 1941 sowie Hitlers Antwort darauf in KTB OKW JJ2, 1054ff., 1061 ff. Dazu ferner Halder, KTB III, 185, 192 (Hitlers Weisung vom 21.8. enthielt Schreibfehler, weswegen Haider den Text in seinem Kriegstagebuch richtig wiedergab), 193 ff. Warlimont I, 202 ff. Heusinger, 7, 132 ff. Guderian, 179 ff. Halders Brief an seine Frau, 23. 8. 1941, bei Schall-Riaucour, 168 f.
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schlagen als auch im Zuge der Verfolgung Moskau zu erreichen. Und wie sollte die Verfolgung aussehen? Im Grunde mußte doch hinter Wjasma ein zweiter Kessel gebildet werden, um auch Moskau einzuschließen. Brauchte man wirklich zwei Kessel, um Moskau zu erobern? Würde denn die Zeit ausreichen, um zwei Kessel zu bilden, oder würde die vermutete Verfolgung im Winter steckenbleiben? Beim Operationsvorschlag des OKH vom 18. August war die Frage offengeblieben, ob der Kessel vor oder hinter Moskau zu schließen sei. Aber damals hätte man erstens einen Monat mehr Zeit besessen, und zweitens waren auch die Stärkeverhältnisse ganz anders. Damals waren für den unmittelbaren Angriff auf Moskau nur 10 schnelle Verbände verfügbar gewesen, diesmal würden es viel mehr sein. Denn Hitler ordnete in seiner Weisung vom 6. September an, der Heeresgruppe Mitte für den Angriff bei Smolensk starke Teile der Heeresgruppe Nord zuzuführen. Ferner sollten die Panzergruppe 2 und die 2. Armee nach der Schlacht bei Kiew wieder zur Heeresgruppe Mitte zurückkehren, um für den Angriff Richtung Moskau am rechten Flügel eine Flankenstaffel zu bilden. Schließlich sollten der Heeresgruppe Mitte die beiden Panzerdivisionen unterstellt werden, die Hitler bisher zurückgehalten hatte, gut ausgestattete und aufgefüllte Verbände mit beachtlicher Kampfkraft Infolge dieser Weisung mußte die Heeresgruppe Nord die Panzergruppe 4 mit sieben schnellen Divisionen abgeben, Guderian brachte von der Heeresgruppe Süd vier weitere schnelle Divisionen mit (außer seinen eigenen), so daß der Heeresgruppe Mitte insgesamt 14 Panzerdivisionen und 10 sonstige schnelle Verbände zur Verfügung standen, dazu 47 Infanteriedivisionen. Wäre damit nicht eine weite Umfassung möglich gewesen, die vom Beginn an auf Moskau zielte, ohne den Zwischenschritt Wjasma, ähnlich wie beiMinskund Smblensk? Um eine solche Frage beantworten zu können, sind, wie üblich, die Feindlage und die Versorgungslage zu betrachten. Die deutsche Heeresgruppe Mitte verfügte beim Beginn der Operation über rund 70 Divisionen und sonstige Truppen mit insgesamt 1,9 Millionen Mann sowie, vorsichtig gerechnet, mindestens 1500 Panzern. Demgegenüber besaß die sowjetische Heeresgruppe Timoschenko, soweit die vorliegenden Angaben einigermaßen zuverlässig sind, wahrscheinlich über 100 Verbände einschließlich der rückwärtigen Reserven, zusammen mindestens 1,2 Millionen Mann. In diesem Zahlenverhältnis schlägt sich der Umstand nieder, daß die sowjetischen Verbände mittlerweile sehr schwach geworden waren und einen Großteil ihrer Kampfkraft eingebüßt hatten. Die deutsche Aufklärung dürfte deshalb die Wahrheit getroffen haben, wenn sie den Kampfwert der gegenüberstehenden Verbände auf 54 Divisionen veranschlagte. Der Zerfall der sowjetischen Panzerwaffe seit Kriegsbeginn drückte sich darin aus, daß bei der Heeresgruppe Timoschenko, vorliegenden Angaben zufolge, nur noch eine Panzerdivision sowie 13 schwächere Panzerbrigaden vorhanden waren, dazu 9 Kavalleriedivisionen, während die Gesamtzahl der Panzer vermutlich bei 1000 bis 1500 lag. Die deutsche Heeresgruppe Mitte war demnach klar überlegen, sowohl nach der Zahl der Soldaten als auch nach der Zahl der Panzer, als auch nach der Leistungsfähigkeit der schnellen Verbände.
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Die letzteren waren, so weit wie möglich, aufgefrischt worden, was bei Guderians Panzergruppe 2 am wenigsten gelungen war, da sie nach langen Märschen direkt aus der Schlacht von Kiew zurückkam. Wie Haider am 1. Oktober festhielt, besaß die Panzergruppe 2 rund 50 % ihrer sollmäßigen Kampfkraft an Panzern, die Panzergruppe 3 immerhin 70 bis 80 %, während die Panzergruppe 4 nahe an 100% herankam (wozu die Unterstellung der beiden frisch aus dem Reich herangeführten Verbände, der 2. und 5. Panzerdivision, beitrug). Besser als bei Panzern war die Lage bei sonstigen Motorfahrzeugen, denn die Heeresgruppe Mitte besaß insgesamt noch knapp 70 % ihrer Zugmaschinen und knapp 80 % ihrer Kraftfahrzeuge, die Panzergruppe 2 mindestens 60 % ihrer Räderfahrzeuge. Natürlich war das nicht ideal, aber bei sowjetischen Divisionen war mittlerweile schon die sollmäßige Kraftfahrzeugausstattung auf ein Drittel heruntergesetzt worden. Die Schwierigkeit bei den Motorfahrzeugen der Wehrmacht lag weniger in der geschrumpften Zahl als vielmehr darin, daß sie durch die bisherigen Kämpfe und Bewegungen (von denen viele operativ unergiebig waren) starken Verschleiß erlitten hatten und deshalb tunliehst nicht mehr sehr lange im Einsatz bleiben sollten. Ähnlich war die Lage bei Pferden, die ja als Zugtiere im deutschen Heer immer noch eine große Rolle spielten. Immerhin konnte man hier auf Pferde aus dem Land zurückgreifen. Daß sich die Truppe vielfach mit Panje-Wagen als Transportmittel behalf, machte vielleicht einen eher unkriegensehen Eindruck, war jedoch den schlechten Verkehrsverhältnissen des Landes gut angepaßt. Überlegen war sodann die deutsche Luftwaffe. Während die Luftflotte 2, welche die Heeresgruppe Mitte unterstützte, mehr als 1000 Flugzeuge aufwies, verfügte der Gegner wahrscheinlich über weniger als 1000. Die Qualität von Personal und Material war zudem auf der deutschen Seite immer noch besser. Vergleicht man all dies mit dem Beginn des Feldzugs, so zeigt sich, daß die Rote Armee am 22. Juni bei Panzern um das Vierfache, bei Flugzeugen um das Dreifache überlegen war. Trotzdem gelang es der Wehrmacht, innerhalb weniger Wochen über hunderte von Kilometern hinweg die beiden großen Kessel von Minsk und Smo1ensk zu schließen und dabei große Teile der sowjetischen Streitkräfte zu zerschlagen. Jetzt, beim Angriff Richtung Moskau Anfang Oktober, war die Heeresgruppe Mitte an Panzern zahlenmäßig überlegen, an Flugzeugen stärker, sie war überdies an Soldaten, Kampfkraft und Kampferfahrung überlegen - hätte es da nicht möglich sein sollen, auch bei Moskau einen großen Kessel zu schließen, ohne den Zwischenschritt bei Wjasma? Von seiten der Versorgung gab es dafür augenscheinlich keine Hindernisse. Der Generalquartiermeister Wagner konnte am 29. September melden, die Versorgung für den Angriff der Heeresgruppe Mitte sei zufriedenstellend; zum Absprung sei alles bereit. Wagner zeigte sich zuversichtlich, die Heeresgruppe bis Moskau bringen zu können. Schon am 11. September hatte die Heeresgruppe mehr als eine Ausstattung Munition sowie vier Verbrauchssätze Betriebsstoff für ihre Verbände besessen. Es muß noch einmal daran erinnert werden, daß die Heeresgruppe mit dieser Munitionsmenge mindestens zwei Woche kämpfen und mit dieser Treib-
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stoffmenge rund 300 km zurücklegen konnte. Unterdessen ließen sich die Lager hinter der Front auffüllen, aus denen die Truppe ihren laufenden Bedarf deckte. Da mittlerweile mehrere Eisenbahnlinien bis dicht hinter die Front führten und der Zugverkehr, abgesehen von gelegentlichen Reibungen, sich eingespielt hatte, war insoweit die Operation bis hinter Moskau gesichert. Bis Angriffsbeginn traten freilich noch Verstärkungen aus Nord und Süd im Umfang von etwa einer Armee zur Heeresgruppe, die zusätzlich versorgt werden wollten. Außerdem wurde Nachschub für die anderen Heeresgruppen benötigt, vor allem für Süd, die ebenfalls anzugreifen hatte; sodann stellte Haider sich wiederum auf den Standpunkt, man brauche außer den Beständen bei der Truppe auch einen gewissen Vorrat. All dies gelang; Wagner meldete am 20. September über die Betriebsstofflage, bis zum 1. Oktober könne jede Heeresgruppe mit einem Vorrat von vier Ausstattungen (gemeint waren wohl Verbrauchssätze) versehen werden. Dennoch gab es Schwierigkeiten, aber sie lagen an anderer Stelle. Am 11. September hielt Haider fest, um für die neuen Operationen die Truppen bereitzustellen und die sonstigen Vorbereitungen zu treffen, seien bis Anfang Oktober täglich 27 Betriebsstoffzüge für alle drei Heeresgruppen nötig, nach Beginn der Operationen täglich 29 Betriebsstoffzüge. Das OKW konnte zwar für die zweite Septemberhälfte die verlangten 27 Betriebsstoffzüge zusagen, für den Oktober jedoch nur 22 Züge täglich, und für den November nicht mehr als drei Züge täglich. Damit trat das in Erscheinung, was an sich schon vor Feldzugsbeginn klar gewesen war: Der Treibstoff würde im Herbst knapp werden, so daß größere Operationen wahrscheinlich zum Erliegen kamen. Wurde der Feldzug nicht im Oktober erfolgreich abgeschlossen, so bestand wenig Aussicht, ihn überhaupt noch erfolgreich abzuschließen. Anscheinend sah man das auch im OKW ein, denn am 26. September wurden für den Oktober täglich 26 Betriebsstoffzüge zugesagt. Nach den Berechnungen des Generalstabs genügte das immer noch nicht ganz, da der Generalquartiermeister für die Heeresgruppe Mitte 18, für Süd 10 und für Nord 2 Züge täglich veranschlagte, also zusammen 30. Immerhin durfte erwartet werden, mit den verfügbaren Lieferungen und der vielleicht anfallenden Beute wenigstens bei Heeresgruppe Mitte das gesteckte Ziel zu erreichen. Das setzte indes voraus, daß Moskau noch im Oktober erobert wurde. Dies wiederum war umso ratsamer, als nach gängiger Erfahrung im Oktober häufig eine Wetterverschlechterung einsetzte, noch nicht das eigentliche Winterwetter, aber dessen Vorbote, die Schlammperiode. Am Beginn des Feldzugs war es gelungen, jeweils innerhalb von ein oder zwei Wochen mit den vorausgeworfenen schnellen Verbänden die Kessel um Minsk und Smolensk zu schließen, über Entfernungen von mindestens 300 km und gegen einen starken Feind. Wäre es nicht möglich gewesen, innerhalb weniger Wochen gegen einen verhältnismäßig viel schwächeren Feind über 400 km hinweg einen Kessel um Moskau zu schließen? Wenn man zuerst den Kessel bei Wjasma schloß, blieb der Gegner im Besitz der Verkehrsspinne Moskau und konnte nach wie vor Kräfte vor die deutsche Front heranführen. Wenn man aber Moskau umfaßte, wurden alle Verkehrsverbindungen
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abgeschnitten und der Gegner zu zeitraubenden Umwegen im Hinterland gezwungen. Die Materialausstattung der deutschen Verbände sprach nicht gegen eine weite Umfassung. Zwar würden nach etlichen hundert Kilometern Panzer, Zugmaschinen und Kraftwagen in größerer Zahl wegen Überbeanspruchung ausfallen. Trotzdem würden die schnellen Verbände eine ausreichende Kampfkraft behalten, denn von ihren mindestens 1500 Panzern war fast die Hälfte neu in den Einsatz gekommen, und für Zugmaschinen sowie Lastkraftwagen schätzte der Generalstab nach Zurücklegen einer Entfernung von 400 km den Fehlbestand auf knapp die Hälfte bzw. rund ein Drittel. Wenn die Motorfahrzeuge erst im Herbstschlamm feststeckten, würden die Ausfälle noch höher sein. Aber war es dann nicht günstiger, wenn die schnellen Verbände, nachdem sie 400 km zurückgelegt hatten, bereits hinter Moskau standen, als wenn sie sich noch vor Moskau durch den Schlamm wühlten, bis sie liegenblieben ?30 Was Haider davon hielt, ist schwer erkennbar. Nachdem ihn Jodl am 31. August davon unterrichtet hatte, daß er mit der Panzergruppe 2 und der 2. Armee rechnen könne, um später den Angriff der Heeresgruppe Mitte nach Osten fortzusetzen, nahm Haider die früheren Gedanken des OKH für eine Umfassungsoperation Richtung Moskau wieder auf. Bei einem Gespräch mit dem Stabschef der Heeresgruppe, Greiffenberg, war davon die Rede, am Nordflügel eine Umfassungsgruppe zu bilden, die über Rschew vorging, während der südliche Umfassungsflügel über Brjansk herankommen sollte. Am Südflügel würde naturgemäß Guderian stehen, dazu weitere Kräfte der Heeresgruppe, wenn diese bis Angriffsbeginn Schwerpunkte auf den Flügeln bildete. Den Nordflügel hielt Haider für den wichtigeren; hier lag in seinen Augen möglicherweise die Hauptchance des Angriffs auf Timoschenko, da der Nordflügel dem gegnerischen Schwerpunkt näher war und daher schneller wirksam sein würde. Aus alledem geht offenbar hervor, daß Haider eine weiträumige Umfassung ins Auge faßte, über die er allerdings noch nichts Genaueres sagen konnte, weil er nicht wußte, welche Kräfte zur Verfügung standen. Als diese Frage geklärt war, hätte sich eine weite Umfassung Moskaus geradezu aufgedrängt, denn nunmehr konnten 24 schnelle Verbände für eine weiträumige Operation eingesetzt werden (bei Minsk und Smolensk waren es 17 gewesen). Anscheinend sah Haider das genauso. Als Hitler bei einer Besprechung am 5. September eine enge Einschließung anordnete, zeichnete Haider auf: "Eng fassen!" Das Ausrufezeichen kehrte in dieser Aufzeichnung noch öfter wieder und besagte jedesmal, daß Haider mit Hitlers Ansichten nicht einverstanden war. Damit liegt der
30 Hitlers Weisung vom 6. 9. 1941 in Hubatsch, Weisungen, 174ff. Angaben zur sowjetischen Seite in MGFA, Weltkrieg IV, 760 ff. (Beitrag Hoffmann); Reinhardt, Wende, 57 ff. Zur Lage bei Motorfahrzeugen und Flugzeugen auf der deutschen Seite Halder, KTB III, 222, 225, 233, 242, 262, 273. Groehler. Müller-Hillebrand III, 20. Vortragsnotiz über Betriebsstoff- und Kraftfahrzeuglage aus dem OKH, II. 9. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 2/1326. Zur Versorgungslage Halder, KTB III, 222, 242, 252, 257, 259. E. Wagner, Generalquartiermeister, 203.
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Schluß nahe, daß der Generalstabschef auch mit der engen Umfassung bei Wjasma nicht einverstanden war, vielmehr eine weite bei Moskau bevorzugt hätte. Von der Feindlage her bot sich eine weiträumige Umfassung Moskaus ebenfalls an. Die Masse der sowjetischen Kräfte stand verhältnismäßig dicht an der deutschen Front beiderseits der Autobahn Smolensk - Moskau. Schwächere Kräfte befanden sich nördlich davon im Raum von Rschew bis zur Waldai-Höhe sowie südlich im Raum von Brjansk. Ein Vorstoß schneller deutscher Verbände über Rschew und über Brjansk wäre auf schwächere Gegnerkräfte getroffen, hätte sie schnell durchbrochen und wäre anschließend ohne große Hindernisse durch das Hinterland des Gegners gerollt, während die nachfolgende Infanterie die Hauptkräfte des Feindes fesselte. Angesichts der Schwäche des Gegners an Panzern und Kraftfahrzeugen brauchten die vorwärtsstürmenden schnellen Verbände feindliche Gegenangriffe nicht sonderlich zu fürchten. Die sowjetischen Panzer vom Muster T 34 waren zwar recht gut, aber nicht so gut und nicht so zahlreich, daß es keine Abwehrmöglichkeiten gegeben hätte. Eher mußten die schnellen Verbände den Verschleiß des eigenen Materials fürchten, zumal bei der Panzergruppe 2, ·die einem weiten Vorstoß nur noch schlecht gewachsen war. Doch hätte sich dem abhelfen lassen, indem die besser ausgestatteten schnellen Verbände, namentlich die beiden neuen Panzerdivisionen, auf die weit entfernten Ziele angesetzt wurden und die schwächsten unter den schnellen Verbänden weniger verschleißträchtige Aufgaben erhielten. Ebenfalls fürchten mußten die schnellen Divisionen ihre langen Nachschublinien, vor allem wenn die Schlammperiode hereinbrach. Ausschlaggebend für den Erfolg einer weiträumigen Operation bis Moskau war demnach der Zeitbedarf, denn für die motorisierten Nachschubkolonnen würde es schwierig werden, über weite Entfernungen im Schlamm die Versorgung zu gewährleisten, so daß man mit der Operation tunliehst nicht tief in die Schlammperiode hineinkommen durfte. Nun vermochte eine schnelle Division am Tag bis zu 150 km zurückzulegen. Bei den schlechten Wegeverhältnissen in Rußland wären solche Leistungen wohl nicht erreicht worden, aber es spricht eigentlich nichts dagegen, daß die schnellen Verbände in einer Woche, spätestens in zwei, Moskau eingeschlossen hätten. Die Infanterie wäre "'!iicher langsamer herangekommen; bei einer Vormarschgeschwindigkeit von 25 km am Tag konnte die Infanterie innerhalb von zwei Wochen in die Nähe Moskaus nachrücken, die offenen Flanken der Panzergruppen decken und damit deren rückwärtige Verbindungen sichern. Die Masse des Gegners innerhalb des Kessels war bis dahin vielleicht schon zerschlagen; es war ja nicht ausgeschlossen, mit Infanterie und einigen Panzerkorps einen inneren Ring zu bilden, um die feindlichen Kräfte noch vor Moskau einzukesseln, und mit vorgeworfenen schnellen Verbänden einen äußeren Ring, um Moskau abzuschneiden. Der Schlamm mochte dann kommen; er würde zwar anfangs die Versorgung hart strapazieren, aber wenn die Bahnen nachgebaut waren, am Ende bis Moskau selbst, entfielen die Nachschubsorgen. Übrigens wurden die Bahnen im Laufe des
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Oktober tatsächlich nach Rschew, Wjasma und Bijansk/Orel nachgebaut; es spricht nichts dagegen, daß sie bei anderem Verlauf des Feldzugs noch im Oktober Moskau erreicht hätten. Das galt etwa für die Eisenbahnlinie über Rschew nach Moskau, die bei einer weiten Umfassung Moskaus, welche den linken Flügel über Rschew führte, im Rücken dieses linken Flügels nachgebaut werden konnte und fortlaufend dessen Versorgung sicherstellte, auch im Schlamm. Außerdem hätte die Truppe in Moskau wohl manches erbeutet, so daß sich auch von daher ihre Nachschublage gebessert hätte. All dies setzte freilich voraus, daß die Operation von vornherein in einer bestimmten Weise angelegt wurde. Die Kräfte mußten für eine weiträumige Umfassung bereitgestellt werden, mit den Schwerpunkten weit außen auf den Flügeln und mit einer Stoßrichtung, die sofort auf die Umfassung Moskaus zielte. Eben dies wünschte Hitler nicht. Anscheinend haben sich Brauchitsch und Haider dem sofort gebeugt; vielleicht weil sie erfahren hatten, daß der Diktator sowieso nicht nachgab, vielleicht weil ihnen der Spatz in der Hand lieber war als die Taube auf dem Dach. Immerhin gab es jetzt einen klaren Schwerpunkt vor Moskau; bei geschickter Führung und mit etwas Glück ließ sich daraus möglicherweise doch noch Gewinn ziehen. Nach Angriffsbeginn schrieb Haider an seine Frau: "Um diese Operation habe ich gekämpft und gerungen. Ich hänge an ihr wie an einem Kinde, um das man schwer gelitten hat." Freilich ging es hier nicht allein um den Berufsstolz des Fachmanns, sondern um den Verlauf des Feldzugs insgesamt und schließlich um das Schicksal des Vaterlands: Wurde Moskau doch noch erreicht, dann würde es anders aussehen als wenn dies nicht eintrat. So plante Haider die Operation in der Weise, daß zwei Flügel ziemlich dicht nördlich und südlich Smolensk bereitgestellt wurden, um den engen Kessel bei Wjasma zu schließen. Wie es sich für eine enge Einschließung in der Art taktischer Schlachten empfahl, wurden Infanterie und schnelle Truppen zusammengefaßt, die Panzergruppe Hoth nördlich Smolensk wurde der 9. Armee unterstellt, die Panzergruppe Hoepner südlich Smolensk der 4. Armee unter Kluge. Südlich der 4. Armee stand die 2. Armee, südlich davon die Panzergruppe Guderian, die als Flankenstaffel in nordöstlicher Richtung vorzugehen und den Gegner vor der 2. Armee bei Brjansk einzuschließen hatte. Dieser Ansatz, der eine Doppelschlacht zur Folge hatte, wirkt wenig überzeugend, da er unter anderem die Panzer auf drei Schwerpunkte verteilte und den materialmäßig schwächsten Divisionen der Gruppe Guderian den weitesten Weg nach Moskau zumutete. Ferner würde er die schnellen Divisionen einige Zeit bei den Kesselschlachten binden, so daß die anschließende Verfolgung näher an den Beginn der Schlammperiode heranrückte. Derlei Erscheinungen bildeten jedoch die notwendige Folge von Hitlers Vorgaben, denn befohlen war ein enger Kessel mit schnellen Verbänden bei Wjasma, für den ohnedies zwei Panzergruppen bereitstanden, und befohlen war eine Flankenstaffel südlich davon. Zweckmäßiger wäre es gewesen, wie das OKH und die Heeresgruppe Mitte bereits erwogen hatten, die Gruppe Guderian dicht an den rechten Flügel der Heeresgruppe heranzuziehen,
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dort einen einheitlichen Panzerschwerpunkt zu bilden und nicht südlich von Brjansk nach Nordosten anzugreifen, sondern westlich von Brjansk in mehr östlicher Richtung, um zu einer weiten Einschließung Moskaus innerhalb kurzer Zeit zu gelangen. Da dies nunmehr ausschied, sollte erst im Anschluß an die Kesselschlachten die Verfolgung stattfinden, welche wiederum, wie Hitler in seiner Weisung bereits hatte anklingen lassen, zu einer Umfassung führen sollte, diesmal bei Moskau. Dazu würde die Panzergruppe 4 nach der Schlacht von Wjasma ziemlich geradlinig weiter nach Osten vorgehen müssen, während die Panzergruppe 3 erst einmal nach Norden ausholen mußte. Nach Halders früheren Plänen hätte eine Operation gegen Moskau den linken Flügel über Rschew führen sollen. Da nunmehr eine enge Einschließung angeordnet war, blieb Rschew zunächst links liegen, was nicht so bleiben konnte, weil dort einige Feindkräfte standen. Die 9. Armee hatte am linken Flügel ihres Angriffs ein einziges Infanteriekorps mit zwei Divisionen, das niemals imstande war, die lange Flanke eines Angriffs bis Moskau zu decken. Außerdem benötigte man die Eisenbahn, die von Westen über Rschew nach Moskau führte, um den Nachschub heranzubringen. Im Anschluß an die Umfassung bei Wjasma mußten daher die 9. Armee und die Panzergruppe Hoth nach Norden schwenken, um für den späteren Vorstoß nach Osten, nördlich an Moskau vorbei, ihre linke Flanke freizumachen. All dies würde Zeit verschlingen, so daß sich wiederum zeigt, wie das taktische Denken Hitlers operativ unergiebig war, weil es nutzlos Zeit verschenkte. Feldmarschall Bock beschwerte sich am 12. September darüber, daß er unter diesen Umständen am Nordflügel keine Umfassung zustande bringen würde. In Hinblick auf die Umfassung bei Wjasma wirkt das etwas übertrieben, obwohl ein entschlossen zupackender Gegner auch hier Unruhe hätte stiften können. Dagegen traf es sehr wohl auf die anschließende Umfassung von Moskau zu, die in der Tat nicht einfach sein würde, sofern sie überhaupt noch glückte. Hitler hatte sich die Verfolgung ganz leicht vorgestellt, aber so leicht würde sie nicht werden, weil Taktik kein Ersatz für Operation ist. Hitlers militärische Unkenntnis äußerte sich sodann darin, daß er den engen Kessel ausgerechnet bei Wjasma schließen wollte, mitten in einem Stellungssystem, das der Feind in dieser Gegend errichtet hatte. Bock drängte darauf, den Kessel weiter östlich zu schließen, bei Gschatsk, wozu ihm das OKH den Wink gab, seinen Auftrag nicht allzu eng auszulegen, sondern Teile seiner Kräfte auf Gschatsk anzusetzen. Eine offene Frage blieb, in welchem Zusammenhang die Operation Richtung Moskau mit den Operationen der anderen Heeresgruppen stehen solle. Um den 23. Juli hatte Haider einen umfassenden Gesamtplan für die ganze Ostfront vorgelegt, bei welchem alle Heeresgruppen sich gegenseitig unterstützten und entlasteten. Seitdem war das Kampfgeschehen entlang der Ostfront zunehmend in eine Anzahl eher taktischer Einzelhandlungen aufgelöst worden, die nicht mehr gemeinsam auf Ziele in der Tiefe des Raumes ausgerichtet waren. Auch der enge Kessel bei Wjasma bildete im Grunde nur eine taktische Einzelhandlung, die erst im Zuge der angenommenen Verfolgung zu einem operativen Unternehmen werden konnte. Für 29 Rauh, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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die Operation gegen Moskau war von den anderen Heeresgruppen nicht mehr viel Unterstützung zu erwarten, jedenfalls nicht in der Tiefe des Raumes; lediglich mittelbar vermochten sie für Entlastung zu sorgen, indem sie gegnerische Kräfte fesselten. Die Heeresgruppe Süd hatte gemäß Hitlers Anordnungen die Krim einzunehmen, das ostukrainische Industriegebiet zu erobern und in Richtung Stalingrad vorzudringen. Nachdem die Heeresgruppe Süd einen Teil ihrer schnellen Verbände und sonstige Truppen an die Heeresgruppe Mitte abgegeben hatte, war sie für ihre vielfältigen Aufgaben verhältnismäßig schwach. Sie verfügte über ihre drei Infanteriearmeen (die 6., 17. und 11.), dazu Verbündete in größerer Zahl (Rumänen, Italiener, Ungarn), die keinen nennenswerten Zuwachs an Kampfkraft brachten, dafür aber den Nachschub belasteten, sowie die ehemalige Panzergruppe Kleist, die nach Unterstellung eines Infanteriekorps in 1. Panzerarmee umbenannt wurde und ansonsten nur noch drei Panzerdivisionen besaß, dazu drei motorisierte Verbände von Heer und Waffen-SS sowie fallweise Verbündete. Die 11. Armee, nunmehr unter General Manstein, wurde nach Hitlers Willen auf die Krim abgedreht, was zugunsten eines ziemlich belanglosen Nebenzieles die Kräfte zersplitterte. Eine Flankengefahr konnte von der Krim praktisch nicht ausgehen, da sie mit dem Festland nur durch einen schmalen Zugang verbunden war, der sich leicht sperren ließ. Die von Hitler befürchteten Luftangriffe auf das rumänische Ölgebiet waren eher Phantasie; falls sie überhaupt stattfanden, würden sie schwerlich entscheidenden Schaden anrichten; außerdem ließ sich der Schutz der Ölanlagen durch ein paar deutsche Jäger mit geringerem Aufwand bewerkstelligen. Sinnvoll wäre es gewesen, die 11. Armee ganz oder zu großen Teilen in den Angriff nach Osten einzugliedern. Wie die Dinge lagen, kam es dazu nicht, so daß die Heeresgruppe Süd auch insofern für ihre weitgesteckten Ziele zu schwach wurde, zumal sie ab Mitte Oktober unter dem allmählichen Einbruch der Schlammperiode zu leiden hatte. Bis Ende Oktober nahmen die 6. Armee die Industriestadt Charkow und die 17. Armee das südlich anschließende Gebiet in die Hand. Die 1. Panzerarmee drang ganz im Süden, nördlich des Asowschen Meeres, in das Donez-Gebiet ein, blieb dann im Schlamm liegen, erreichte erst am 21. November Rostow und mußte am 28. November, nach einem überlegenen russischen Gegenangriff, die Stadt wieder aufgeben. Die 11. Armee eroberte im November die Krim, vermochte aber Sewastopol nicht zu nehmen, so daß sie auf der Krim gebunden blieb. Eine vernünftige Feldzugsplanung hätte, wie bei Heeresgruppe Mitte, die eigenen Kräfte, die Zeit und das Wetter berücksichtigen müssen. Bei Verzicht auf die Krim hätte sich dann wohl außer Charkow auch das ganze Donez-Gebiet erobern lassen; alle weiter gesteckten Ziele hatten zu entfallen. Zu einer solchen vernünftigen Feldzugsplanung kam es seit dem August 1941 nicht mehr. Hitler nahm im August die Zügel in die Hand und gab sie nicht mehr ab. Eingemischt hatte er sich schon immer; aber jetzt führte er weitgehend selbst, gab die Ziele vor, erteilte operative und taktische Anweisungen. Das OKH plante nicht mehr selber, führte eigentlich auch nicht mehr selber, sondern führte Hitlers Anweisungen aus. Haider
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tat das, was er in jenem Brief an seine Frau vom August beschrieben hatte: Er versuchte nur noch, wenigstens in der Durchführung der Dinge eine leidlich vernünftige Linie zu halten. Was für Dinge das waren, bestimmte Hitler, der Generalstabschef konnte sich nur noch um die Durchführung kümmern, und selbst das gelang häufig nicht. Damit bildete sich ein Zustand heraus, den Haider am 7. Dezember so umschrieb: "Die Erfahrungen dieses Tages sind wieder niederschmetternd und beschämend. ObdH ist kaum mehr Briefträger. Der Führer verkehrt über ihn hinweg mit den OB der Heeresgruppen. Das Schrecklichste aber ist, daß die Oberste Führung den Zustand unserer Truppen nicht begreift und eine kleinliche Flickschusterei betreibt, wo nur große Entschlüsse helfen können." Hitler hatte noch nie etwas Wesentliches begriffen, und eine kleinliche Flickschusterei hatte er seit Juli betrieben. Der Übergang zur taktischen Kriegführung entsprach dem Horizont eines unbegabten Gefreiten aus dem Ersten Weltkrieg. Das OKH hatte anfangs noch Widerstand geleistet, der sich in Operationsvorschlägen, Denkschriften und Eintragungen in Halders Kriegstagebuch niederschlug. Seit dem August werden solche Zeugnisse immer spärlicher. Das darf indes nicht zu dem Schluß verleiten, das OKH sei mit Hitlers wirren Eingebungen einverstanden gewesen, und schon vollends nicht zu dem Schluß, die betreffenden Anordnungen hätten ihren Ursprung im OKH. Vielmehr war das OKH nur noch die Durchlaufstelle für Hitlers Führungsmaßnahmen, eine Durchlaufstelle, wo die untauglichsten Anordnungen vielleicht noch ein wenig abgemildert werden konnten, wo jedoch keine Entscheidungen mehr gefallt wurden, jedenfalls keine wichtigen. Daß Hitler im Dezember den Oberbefehl über das Heer persönlich übernahm, war nur folgerichtig; tatsächlich gebärdete er sich schon Monate vorher wie der Oberbefehlshaber. Im OKH machte sich Resignation breit; dieser Feldzug war sowieso verpfuscht, also konnte Hitler ihn auch selber zu Ende führen. Von den Anordnungen, die formell aus dem OKH kamen, gab ein großer Teil, möglicherweise sogar der größere Teil, gar nicht den Willen des OKH wieder, sondern allein den Willen Hitlers. In manchen Fällen findet sich dann noch eine Eintragung in Halders Kriegstagebuch, aus der man entnehmen kann, daß das OKH dergleichen ablehnte. In anderen Fällen waren die Weisungen so aberwitzig, daß sie niemals dem geschulten Denken der Fachleute entsprungen sein konnten. Man täte dem OKH gewaltig Unrecht, wenn man ihm jede Abwegigkeit anlasten wollte, die damals befohlen wurde; der Ursprung lag durchwegs beim Diktator. Die Heeresgruppe Nord hatte sich im August an Leningrad herangekämpft Am 8. September wurde Schlüsselburg östlich Leningrad am Ladoga-See genommen, so daß Leningrad eingeschlossen war. Da Hitler die Stadt selbst nicht einnehmen, sondern aushungern wollte, sah er nun den Zweck erreicht. Südlich des Ilmen-Sees schob die 16. Armee, unterstützt von der Heeresgruppe Mitte, die Front über den Lowat in Richtung auf die Waldai-Höhe vor. Für den Angriff Richtung Moskau wäre ein Abdecken der linken Flanke der Heeresgruppe Mitte durch ein weiteres Vorgehen der 16. Armee nach Osten zweckmäßig gewesen. Haider und Brauchitsch machten sich anfangs darüber Gedanken, und selbst Hitler erwähnte der29*
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gleichen. Nachdem jedoch die Heeresgruppe Nord einen Teil ihrer Verbände an Mitte abgegeben hatte (statt der ursprünglich verlangten sieben schnellen Divisionen hatte sie nur sechs freimachen können), besaß Nord keine Angriffskraft mehr und konnte nur noch ihre Fronten halten. Damit würde der Angriff auf Moskau doppelt schwierig werden, denn bei Heeresgruppe Mitte mußte der linke Flügel nach der Schlacht von Wjasma erst einmal nach Norden schwenken, um die dortige Flanke zu säubern, und wenn anschließend nicht unverzüglich Moskau eingenommen sowie das Kräfteverhältnis verbessert wurde, blieb am Nordrand der Heeresgruppe Mitte eine lange, gefährdete Front erhalten, die den Gegner zu einem Flankenstoß geradezu einlud. In der Tat fand, nachdem später der deutsche Angriff vor Moskau liegengeblieben war, der tiefste Einbruch des sowjetischen Gegenangriffs genau hier statt. Operation ist nun einmal ein verzweigtes Netzwerk von Beziehungen, das viele verschiedene Dinge berücksichtigen muß, auch die Verteilung der Kräfte im Raum. So, wie Hitler sich den Angriff Richtung Moskau dachte, nämlich mit dem engen Kessel bei Wjasma, war das Unternehmen von vornherein falsch angelegt. Abhilfe hätte sich auf verschiedene Weise schaffen lassen, so insbesondere durch einen Ansatz des Angriffs, der von vornherein auf eine weite Umfassung bei Moskau zielte und die gepanzerten Flügel über Rschew sowie über Brjansk führte. Nördlich von Rschew die Front nach vorne zu reißen, wäre dann einfacher gewesen. Ferner mußte, um die Heeresgruppe Nord am Vorstoß nach Osten zu beteiligen, ihr Kräftehaushalt reguliert werden. Die Heeresgruppe verfügte, nach ihren Abgaben an Mitte, noch über zwei schwächere Infanteriearmeen und fünf schnelle Verbände, wobei letztere großenteils bei Schlüsselburg gebunden waren. Die 16. Armee hielt mittlerweile eine lange und schwach besetzte Front sowohl südlich des Ilmen-Sees als auch nördlich davon am Fluß Wolchow, der in den Ladoga-See mündet. Nach Schlüsselburg westlich der Wolchow-Mündung führte nur ein schmaler deutscher Flaschenhals, den der Gegner dauernd angriff, um die Landverbindung nach Leningrad wieder zu öffnen. Um südlich des llmen-Sees Angriffskraft zu gewinnen und die Heeresgruppe Mitte ~zu unterstützen, hätte die Heeresgruppe Nord ihre schnellen Divisionen bei Leningrad aus der Front ziehen und durch Infanterie ersetzen müssen, was einstweilen ausschied, weil die Infanterie nicht zur Hand war. Die Heeresgruppe Nord war also einfach zu schwach, um sich am Vorstoß nach Moskau zu beteiligen. Abhilfe hätte sich schaffen lassen, indem Hitler der Heeresgruppe Nord mehr Infanterie zugeteilt hätte, was dann auch geschah, aber erst im Oktober wirksam wurde, also nicht mehr rechtzeitig für den Moskau-Angriff. Mehr Infanterie für die Heeresgruppe Nord war umso eher angebracht, als die schnellen Divisionen bei Leningrad und Schlüsselburg sowieso ziemlich fehl am Platze waren. Um Leningrad sicher abzuschließen, mußte der Flaschenhals von Schlüsselburg ausgeweitet werden, wofür sich in dem kleinräumigen und sumpfigen Gelände Infanteriedivisionen besser eigneten als schnelle Verbände. Derartiges rechtzeitig in die Wege zu leiten, hätte freilich eine fachmännische Planung erfordert, nicht die sprunghaften Eingebungen Hitlers.
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Eine dieser Eingebungen hatte Hitler auch hier wieder. Er wollte ein Panzerkorps aus der Front bei Leningrad herausziehen (übrigens dasselbe, das er am 15. August dorthin geschickt hatte) und damit über den Wolchow angreifen. Für die Angriffsrichtung entwickelte er zwei Varianten, nämlich einmal nach Südosten, wobei dieser Angriff pikanterweise direkt in ein Sumpfgelände führte, und zum anderen nach Nordosten, womit Hitler den Gegner bei Schlüsselburg abzuschneiden und den Finnen ostwärts des Ladoga-Sees die Hand zu reichen hoffte. Die erste Variante konnte das OKH ihm ausreden, die zweite nicht, obwohl Haider sie gelegentlich als Phantasie bezeichnete. So begann am 16. Oktober ein Angriff auf Tichwin, der zunächst im Schlamm steckenblieb, am 8. November Tichwin erreichte und Anfang Dezember damit endete, daß vor schweren feindlichen Angriffen der Rückzug angetreten werden mußte. Vier wertvolle schnelle Divisionen waren bei einem unüberlegten Angriff nutzlos verbraucht worden. Bei vernünftiger Planung hätten sie Anfang Oktober vor der Nordflanke der Heeresgruppe Mitte bessere Dienste geleistet. 31 Für den Angriff Richtung Moskau legte Hitler den Decknamen "Taifun" fest. Neben seinen vielen sonstigen fruchtbringenden Tatigkeiten nahm sich der Diktator auch noch die Zeit, klangvolle Namen auszudenken; vielleicht steigerte es ja die Wirksamkeit der mißratenen Operation. Besagter "Taifun" begann am 30. September im Raum südlich Brjansk mit einem Vorstoß von Guderians Panzergruppe 2, die bald darauf in 2. Panzerarmee umbenannt wurde (außer Panzerkorps unterstanden ihr auch Infanteriekorps). Am 3. Oktober erreichte Guderian mit einem Panzerkorps Orel, am 6. Oktober mit einem anderen Panzerkorps Brjansk. Bei Orel, in Richtung Moskau, stieß Guderian sozusagen ins Leere, d. h. er kam ins feindliche Hinterland, wo ihm der Gegner allenfalls noch eilig zusammengeraffte Reserven entgegenwerfen konnte. Dies geschah auch; nördlich Orel tauchte eine sowjetische Panzerbrigade auf, welche einer der geschwächten Panzerdivisionen Guderians ein heftiges Gefecht lieferte. Der Vorfall zeigt, daß ein Durchbruch starker deutscher Panzerverbände ins Hinterland zur weiten Umfassung Moskaus sehr aussichtsreich gewesen wäre. Gut ausgestattete deutsche Panzerdivisionen in größerer Zahl hätten die Gegenangriffe einzelner sowjetischer Brigaden mühelos überstanden, wenn nicht gar sie hinweggefegt Guderian dagegen wurde aufgehalten, nicht wegen dieses vereinzelten Angriffs, sondern aus anderen Gründen. Seine Aufgabe bestand in der Einschließung des Feindes bei Brjansk; das Korps bei Orel hatte die Flanke der Einschließung zu decken, der Vormarsch Richtung Moskau der übrigens trotz des Gegenangriffs weiterging - war zweitrangig. Für die Kesselschlacht bei Brjansk setzte Guderian seine Kräfte ein, und bei dieser Kessel31 Halder, KTB III, 208 f., 211 f., 215, 224, 232, 249, 262, 267 f., 274, 332. Heeresgruppenbefehle der Heeresgruppe Mitte, 26. 9. und 7. 10. 1941, in Reinhardt, Wende, 298 ff. OKH-Weisung an Heeresgruppe Nord, 8. 10. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 211327. Tagebuch Bock, 13., 14., 17. 9. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, N 22/9. Haider an seine Frau, 2. 10. 1941, bei Schall-Riaucour, 172. Allgemein Philippi/Heim; MGFA, Weltkrieg IV, passim.
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schiacht blieben seine Kräfte gebunden bis Mitte Oktober. Unterdessen begann die Schlammperiode, und als Folge trat das ein, was vorherzusehen war: Guderian kam kaum noch voran. Daß er überhaupt noch verhältnismäßig weit vorstieß, nämlich bis in die Gegend von Tula, bildete eine beachtliche Leistung. Wären die deutschen Kräfte für eine weite Umfassung Moskaus angesetzt worden, so hätten sie Mitte Oktober bereits bei Moskau stehen können. Falls das Ziel noch nicht ganz erreicht war, hätte die Truppe die letzten 50 oder 100 km auch im Schlamm zurückgelegt; Guderian kam im Schlamm an die 100 km weit, und die Infanterie der 2. Armee marschierte innerhalb von zwei Wochen im Schlamm 200 km, allerdings weitgehend ohne Kampf. Ein ähnliches Schicksal wie bei Guderian hatte der "Taifun" überall. Am 2. Oktober traten die 4. und die 9. Armee mit den unterstellten Panzergruppen zum Angriff an - bei strahlendem Herbstwetter. Das Wetter blieb, mit Unterbrechungen, bis Mitte Oktober erträglich, danach hemmte der Schlamm alle Bewegungen empfindlich. In der ersten Woche, bei gutem Wetter, wo die schnellen deutschen Verbände das feindliche Hinterland hätten durcheilen und die Infanteriedivisionen die Grundlage für eine weite Umfassung Moskaus hätten legen können- in dieser ersten Woche vollzog sich die enge Einkesselung bei Wjasma. Das Unternehmen lief, wie Haider aufzeichnete, geradezu klassisch; nach fünf Tagen, am 7. Oktober, wurde der Kessel geschlossen. Haider hatte bewiesen, daß er auch eine taktische Vernichtungsschlacht zu organisieren verstand; man hätte ihn besser eine operative organisieren lassen. Die Doppelschlacht von Wjasma und Brjansk brachte der Wehrmacht abermals fast 700 000 Gefangene ein (die sie wiederum nicht ernähren konnte) und trug ansonsten ein Bündel ungelöster Probleme mit sich. Selbstverständlich war der Gegner mit dieser einen Schlacht nicht vernichtend zu schlagen; ein halbwegs befriedigender Abschluß des Feldzugs ließ sich nur erzielen, wenn auch Moskau genommen wurde. Ob das vor Einbruch des Winterwetters noch möglich sein würde, war von vomherein höchst fraglich; bloß mit Glück konnte es gelingen. Haider meinte am 8. Oktober, der Gegner werde versuchen, noch einige Kräfte nach Moskau heranzuziehen. "Ausreichen gegenüber der starken Bedrohung durch uns wird aber diese zusammengeraffte Kraft kaum, so daß bei einigermaßen richtiger Führung und bei einigermaßen gutem Wetter die Einschließung von Moskau gelingen muß." Der ersten Einschließung, der taktischen bei Wjasma, hatte eine zweite zu folgen, die operative bei Moskau, aber sie war an zwei Bedingungen gebunden: einigermaßen gutes Wetter und einigermaßen richtige Führung. Keines von beiden trat ein. Über das Wetter ist hier nicht viel zu sagen; etwa ab Mitte Oktober versank das Land, wie zu befürchten, im Schlamm, so daß weiträumige Bewegungen kaum noch möglich waren. Und die einigermaßen richtige Führung wurde von Hitler verhindert. Alle vorhergehenden und alle weiteren Planungen hätten eigentlich im Schatten der Versorgungs- und Materiallage stehen müssen. Für den Oktober war noch Treibstoff vorhanden - der dann allerdings nicht aufgebraucht wurde, da ab Mitte Oktober die Bewegungen weitgehend zum Erliegen kamen -, dagegen wurde für
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die Folgezeit errechnet, daß der Monatsbedarf für alle Fronten des Heeres 90 000 Tonnen betrug. Dies galt unter der Bedingung, daß keine Operationen und keine Ausbildung mehr stattfanden. Lieferbar waren nach diesen Berechnungen auch nur 87 000 Tonnen. Es durfte sich also ab November so gut wie nichts mehr bewegen, abgesehen von kleineren Verschiebungen, die vielleicht in der Verteidigung erforderlich waren. Die Lage bei Motorfahrzeugen konnte Anfang Oktober noch als befriedigend gelten; dies würde sich jedoch sehr schnell ändern, wenn die Truppe im Schlamm bewegt werden mußte. Durch den erhöhten Verschleiß würden so viele Fahrzeuge ausfallen, daß große Teile der Truppen und ihrer schweren Waffen unbeweglich wurden. Um dies zu vermeiden, hätten die Operationen während der Schlammzeit am besten eingestellt werden müssen, sofern nicht begründete Aussicht bestand, mit letztem Kraftaufwand ein abschließendes Ziel zu erreichen. Sodann war die Truppe auf den Winter vorzubereiten, nicht zuletzt durch das Bereitstellen von Winterbekleidung, denn das Heer würde zum größeren Teil den Winter in Rußland verbringen, sei es vor Moskau oder hinter Moskau. Der Generalstab hatte sich den ganzen Sommer über um die Frage der Winterbekleidung gekümmert, und Haider selber hatte dem Diktator am 23. Juli gesagt, daß selbst bei Erreichen der Wolga mindestens zwei Drittel des ganzen Ostheeres in Rußland bleiben mußten. Wäre der Feldzug nach Halders Plan verlaufen, so wäre die Truppe im Oktober an der Wolga gestanden und hätte ihre Winterbekleidung erhalten. Der Feldzug verlief nicht nach Halders Plan, und die Truppe erhielt ihre Winterausrüstung nicht oder zumindest nicht rechtzeitig. Hitler hatte die Planung für "Taifun" an sich gerissen, und niemand vermochte zu sagen, wie es weiterging. Da die Bekleidung und andere Ausrüstungsgegenstände für den Winter in der Heimat bereitlagen, begann der Generalstab im Oktober, sie in die Nachschubtransporte einzufädeln, was natürlich nur sehr unvollkommen gelang, da Hitler weiterhin angreifen ließ und daher Munition sowie Treibstoff vordringlich waren. Haider hielt am 10. November fest, die besondere Winterausstattung werde bei Heeresgruppe Süd nicht vor Januar, bei manchen Teilen der Heeresgruppe Mitte erst Ende Januar zur Truppe gelangen. All dies ließ sich ohne Mühe rechtzeitig bedenken, d. h. noch vor Beginn des Angriffs Richtung Moskau. Es war ja klar, daß das Wetter sich ändern würde, es war bekannt, daß der Treibstoff zur Neige ging, man wußte, daß die Fahrzeuge nicht mehr lange durchhalten würden, und man wußte, daß die Truppe etwas zum Anziehen brauchte, wenn sie nicht in größeren Mengen durch Erfrierungen ausfallen sollte. Unter diesen Voraussetzungen gab es offenbar mehrere Möglichkeiten: Man konnte erstens den Feldzug zu einem erträglichen Abschluß bringen durch die Einnahme Moskaus. Da die Zeit drängte, war dies am ehesten zu bewerkstelligen durch eine weite Umfassung Moskaus, ohne den Zwischenschritt bei Wjasma, was Hitler nicht wünschte. Man konnte zweitens den Gegner durch die taktische Vernichtungsschlacht bei Wjasma und Brjansk stark schwächen und anschließend zur Verteidigung übergehen, um den Rest an Treibstoff sowie die Fahrzeuge zu schonen und die Truppe auf den Winter vorzubereiten. Das ging schon deswegen
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nicht, weil Hitler die Verfolgung im Anschluß an die Vernichtungsschlacht befohlen hatte. Man konnte schließlich drittens auf gut Glück in die Verfolgung eintreten und hoffen, Moskau auf diese Weise doch noch zu erreichen. Das war der Standpunkt, den Haider und die Truppenführung bezogen, weil sie sehr wohl um die Folgen wußten, welche ein Verfehlen dieses Zieles nach sich ziehen mußte. Wurde Moskau nicht erreicht, so entstand ein langer, kräftezehrender Abnützungskrieg, dem die Wehrmacht nicht gewachsen war und bei dem schließlich, wenn die Westmächte eingriffen, der Zusammenbruch der Verteidigung im Osten zu befürchten stand. Das Verfahren, auf gut Glück in die Verfolgung einzutreten, beinhaltete ein Risiko, welches eine verantwortungsbewußte Heeresführung eigentlich nicht übernehmen dürfte und welches sie unter anderen Umständen auch nicht übernommen hätte. Hier allerdings schien der Preis das Wagnis zu lohnen, denn andernfalls war der ganze Feldzug sinnlos. Unter solchen Voraussetzungen hätte sich allenfalls noch überlegen lassen, ob man nicht bei Einbruch der Schlammperiode die Verfolgung abbrach, weil ein Weiterkämpfen im Schlamm das Material so stark abnützte, daß die ohnedies überanstrengte Truppe ihre Kampfkraft zum großen Teil einbüßte. Derartige Entscheidungen konnten indes von den Verantwortlichen im OKH nicht mehr getroffen werden; Hitler bestimmte den Lauf der Dinge. Moskau blieb daher für das OKH das verbindliche Ziel. Ob Haider darüber hinaus noch andere Ziele hatte, ist kaum erkennbar. Der Betrachter darf aber getrost davon ausgehen, daß Haider andere Ziele nicht hatte, weil jedes weiter gesteckte Ziel angesichts der tatsächlichen Lage einfach abwegig war. Ohne Treibstoff, nur mit einem Restbestand an Fahrzeugen, mit einer erschöpften und halb erfrorenen Truppe ließ sich jenseits von Moskau gar nichts mehr erreichen. 32 Dies wäre eine sachgerechte Lagebeurteilung gewesen. Diejenige Hitlers war es nicht. Das OKH und die Heeresgruppe Mitte taten erst einmal das Nächstliegende. Nachdem der Einkreisungsring bei Wjasma geschlossen war und Brauchitsch sich mit Bock verständigt hatte, erließ die Heeresgruppe noch am seihen Tag, am 7. Oktober, den Befehl für die Fortsetzung der Operationen Richtung Moskau. Der Befehl ging aus von der tinsicht, daß die Masse der eigenen Kräfte zunächst noch bei den Kesseln gebunden war, so daß nur schwächere Teile sofort die Verfolgung aufnehmen konnten, während die übrigen so bald wie möglich freigemacht werden sollten. Im Süden sollte die 2. Panzerarmee auf Tula durchstoßen, um anschließend an die Oka zwischen Serpuchow und Kolomna südlich Moskau vorgehen zu können. In der Mitte hatten einige bald verfügbare Korps der 4. Armee südlich der Autobahn Smolensk - Moskau vorzustoßen; was sich von der Panzergruppe 4 demnächst aus der Einschließungsfront lösen ließ, mußte in den Raum von Mo32 Hitlers Namensgebung "Taifun", 19. 9. 1941, in Hubatsch, Weisungen, 177. Halder, KTB III, 259 ff., 267, 274, 276, 286. Guderian, passim. Zur Frage der Winterausrüstung Müller-Hillebrand III, 30. E. Wagner, Generalquartiermeister, 313 ff. MGFA, Weltkrieg IV, 982 ff. (Beitrag Müller).
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schaisk an der Autobahn vorgehen, um die dortigen Befestigungen schnell wegzunehmen. Im Norden sollten sich alle freiwerdenden Teile der Panzergruppe 3 versammeln, um nach Rschew und Kalinin vorzustoßen. Damit sollte die linke Flanke der Heeresgruppe gedeckt und zu diesem Zweck bei Kalinin die direkte Bahnverbindung von Moskau in den Raum des Ilmen-Sees durchtrennt werden. Dies gelang bis Mitte Oktober, wodurch keine unerträgliche Verzögerung eintrat, da solange auch die Panzergruppe 4 beim Kessel von Wjasma gebunden blieb. Anschließend konnte die Panzergruppe 3, die nunmehr unter dem Kommando von General Reinhardt stand, nördlich der Autobahn auf Moskau vorgehen. So plante es jedenfalls das OKH - nicht jedoch Hitler. Er tat wieder dasselbe, was er schon nach der Schlacht von Smolensk getan hatte: Statt die Kräfte in der entscheidenden Richtung auf Moskau zusammenzuhalten, zerstreute er sie in alle Winde. Im Abschwenken der Panzergruppe 3 nach Norden sah er nicht das, was damit wirklich bezweckt wurde, nämlich die Sicherung der linken Flanke, sondern er erblickte darin die Gelegenheit, nunmehr die gesamte sowjetische Nordfront beiderseits des Ilmen-Sees aufzurollen. Auf Grund eines Führerbefehls mußte das OKH am 8. Oktober anordnen, die Panzergruppe 3 sei so bald wie möglich bei Wjasma und nördlich davon durch Teile der Panzergruppe 4 freizumachen. Die Panzergruppe Reinhardt sei alsdann in allgemein nördlicher Richtung so anzusetzen, daß sie zusammen mit dem Nordflügel der 9. sowie dem Südflügel der 16. Armee den Feind zwischen der Wjasma-Front und der Waldai-Höhe bei Ostaschkow (am Seliger-See) vernichtend schlagen könne. Dagegen war einerseits nichts einzuwenden, denn die Panzergruppe 3 sollte sowieso nach Norden schwenken, um die Flanke zu säubern, und Teile der Panzergruppe Hoepner über die Autobahn nach Norden zu ziehen, brauchte auch nicht verkehrt zu sein, weil sich dadurch der linke Umfassungsflügel für Moskau stärken ließ. Andererseits konnte es zu denken geben, daß Hitler nicht vor Moskau den Gegner vernichtend schlagen wollte, sondern vor der feindlichen Front im Norden. Was wirklich hinter der Sache steckte, wurde in einer Nachricht des OKH an die Heeresgruppe Nord deutlich, die ebenfalls am 8. Oktober abging. Demnach sollte die Heeresgruppe Nord Kräfte an der Wolchow-Front bereitstellen, insbesondere schnelle Divisionen, um entweder nach Nordosten anzugreifen, Richtung Tichwin, oder nach Südosten vorzugehen, in Richtung auf die Waldai-Höhe. Man erkennt unschwer Hitlers früheren Einfall wieder. Von dem Vorstoß nach Südosten versprach sich Hitler, die Front des Gegners in Verbindung mit der Panzergruppe 3 zum Einsturz zu bringen und zu verhindern, daß die betreffenden Feindkräfte in die Weite des russischen Raumes nach Osten entkamen. Sowohl der Gedanke als auch die Wortwahl sind typisch für Hitler, dem wieder einmal nichts anderes einfiel, als dem Gegner einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Im übrigen war die Idee genauso absurd wie seinerzeit das Abdrehen der Panzergruppe 3 von Smolensk nach Leningrad. Bemerkenswert ist sodann, wie geschickt sich das OKH aus der Sache herauszuwinden versuchte. Beide Heeresgruppen erhielten nur Aufträge, die einstweilen unschädlich waren, denn die Panzergruppe Reinhardt mußte ohne-
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dies auf Kalinin vorgehen, und die Heeresgruppe Nord mußte vorderhand nur Kräfte bereitstellen. Theoretisch hätten sogar die schnellen Divisionen bei Heeresgruppe Nord abgezogen werden können, denn diese Heeresgruppe war mittlerweile an Infanterie stärker geworden, so daß sie ihre Aufgaben damit zu lösen vermochte, und mit ihren schnellen Divisionen hätte der Angriff bei Moskau verstärkt werden können. Wenige Tage später ließ Hitler die Katze aus dem Sack. Brauchitsch faßte wiederum, wie schon im Juli, Hitlers Wünsche in Befehlsform, wohl in der Hoffnung, sie später doch noch umgehen zu können. Eine Stellungnahme Halders ist nicht überliefert, da der Generalstabschef wegen eines Unfalls zwar seine Geschäfte weiterführte, aber vom 10. Oktober bis zum 2. November keine Aufzeichnungen machte. So erging am 13. Oktober eine Weisung des OKH über die Fortführung der Operationen der Heeresgruppen Mitte und Nord, welche nicht die wahren Absichten des OKH wiedergab, sondern dem Willen Hitlers Rechnung trug, wobei Brauchitsch möglicherweise versuchte, einige Vorstellungen Hitlers abzumildern. Über die Feindlage hieß es, die Masse der vor Heeresgruppe Mitte stehenden Feindkräfte sei zerschlagen. Der Gegner verfüge um und westlich Moskau über keine nennenswerten Reserven mehr, werde jedoch bestrebt sein, unter Anwendung aller Aushilfen und Einsatz aller nur irgend verwendbaren und heranzubringenden Verbände eine erneute Abwehr vor Moskau aufzubauen. In der Tat besaß die neuorganisierte sowjetische Westfront unter General Schukow, die den Raum um Moskau verteidigte, Mitte Oktober lediglich 12 Schützendivisionen, 16 Panzerbrigaden und 40 Artillerieregimenter mit zusammen etwa 100 000 Mann, wozu freilich weitere Truppen auf den Flügeln im Norden und Süden kamen. Die Abwehr stützte sich auf zwei ausgebaute Verteidigungsstellungen, eine bei Moschaisk, eine weiter rückwärts, wovon allerdings die Moschaisker Befestigungslinie südlich der Autobahn von den deutschen Kräften, die sofort zur Verfolgung übergegangen waren, Mitte Oktober durchbrochen wurde. Vorsichtshalber verlegte die sowjetische Führung am 16. Oktober den größten Teil des Regierungsapparates und des Generalstabs nach Kuibyschew (das Verteidigungskomitee und Stalin blieben in Moskau). In der Folgezeit gelang es, Schukows Westfront über die Verkehrsspinne Moskau erheblich zu verstärken, auch durch frische Divisionen aus Sibirien, so daß Schukow und seine Nachbarbefehlshaber vor Moskau Mitte November über rund 100 Verbände geboten, deren Kampfwert indes höchstens die Hälfte dieser Zahl ausmachte. Immerhin zeigt auch dieser Umstand, daß der Angriff auf Moskau besser von vornherein als weite Einschließung Moskaus angelegt worden wäre. Verstärkungen vor Moskau hätten dann überhaupt nicht mehr herankommen können, und ihr Heranbringen hinter Moskau wäre erschwert worden. Was nun die Weisung des OKH vom 13. Oktober betrifft, so sollte die jetzt angestrebte Umfassung Moskaus eng sein, nach dem Willen Hitlers entlang der Moskauer Ringbahn, die etwa fünf bis zehn Kilometer vom Stadtkern entfernt verlief. Diese enge Einschließung sollte nur noch von der 2. Panzerarmee sowie von der 4. Armee mit der unterstellten Panzergruppe Hoepner vorgenommen werden. Hierzu
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hatte Guderian in den Raum südlich Moskau vorzugehen, um danach die Stadt im Süden, Südosten und Osten abzuschließen - ein reichlich kühnes Vorhaben, wenn man bedenkt, daß die 2. Panzerarmee materialmäßig weitaus am schwächsten war und bis zu ihrem Ziel noch an die 300 km zurücklegen mußte. Die wesentlich stärkere Panzergruppe 4 erhielt dagegen den Auftrag, nach Norden über die Autobahn herauszustaffeln und zusammen mit der 4. Armee die Stadt im Südwesten, Westen und Norden abzuschließen, bei einer Entfernung von 50 bis 100 km. Danach kam ein Vorstoß Richtung Rybinsk in Frage, über eine Strecke von fast 300 km. Die 9. Armee mit der unterstellten Panzergruppe 3 wurde aus der Umfassungsoperation gegen Moskau herausgenommen; sie sollte im Raum Kalinin versammelt werden, um in nordwestlicher Richtung, also eigentlich rückwärts, auf Wyschnij-Wolotschek im Gebiet der Waldai-Höhe vorzugehen und den dortigen Feind zu vernichten. Den früheren Gedanken, durch den Vorstoß eines Panzerkorps über den Wolchow nach Südosten der Panzergruppe 3 entgegenzugehen und damit bei der Waldai-Höhe einen Kessel zu schließen, hatte Hitler mittlerweile aufgegeben. Er fühlte sich jetzt so sicher, daß er meinte, besagtes Panzerkorps solle auf Tichwin angreifen, um den Feind südlich des Ladoga-Sees zu vernichten. Da auf diese Weise der nördliche Zangenarm für den gewünschten Kessel bei der Waldai-Höhe entfiel, mußte die Panzergruppe 3 eine einarmige Umfassung durchführen, welche von der Heeresgruppe Nord bzw. der 16. Armee nur so unterstützt werden konnte, daß sie den Gegner fesselte. Schließlich sollte auf dem Südflügel der Heeresgruppe Mitte die lange Flanke der 2. Panzerarmee durch Infanterie gedeckt werden, wobei in Aussicht genommen wurde, ganz im Süden ein Korps über Kursk auf Woronesch am mittleren Don vorzuführen. Vermutlich hatte Hitler bereits weitergehende Wünsche in Hinblick auf Woronesch geäußert, etwa in der Art, daß zusammen mit der Heeresgruppe Süd der Don in seiner ganzen Länge erreicht werden solle, womöglich auch noch unter Einsatz schneller Verbände. Trifft dies zu, dann hat Brauchitsch wohl versucht, dem die Spitze abzubrechen, indem nur unverbindlich ein Infanterievormarsch in die fragliche Richtung erwähnt wurde. Die Weisung war so abwegig und so bar jeder militärischen Sachkunde, wie man es nur von Hitler erwarten darf. Es wäre deshalb ein übler methodischer Schnitzer, derlei Wirrwarr mit dem geschulten Denken der Fachleute des OKH in Verbindung zu bringen. Als die Weisung erging, stand sichtbar der Beginn der Schlammperiode vor der Tür. Unter diesen Umständen war es grober Unfug, die geschwächte Panzerarmee Guderian zur Umklammerung Moskaus von Osten anzusetzen. Guderian würde im Schlamm nur seine Fahrzeuge verschleißen und vor Erreichen des Zieles steckenbleiben. Es kam hinzu, daß die 2. Panzerarmee seit dem Anmarsch von der Schlacht bei Kiew auf große Entfernungen auseinandergezogen war. Ihre südlichsten Teile, darunter ein Panzerkorps, standen noch westlich Kursk, während der Vorstoß Richtung Tula/Moskau zunächst nur von einem Panzerkorps und nach Abschluß der Kesselschlacht bei Brjansk von zweien getragen wurde. Es hätte sich angeboten, die tiefe Flanke der Heeresgruppe Mitte zwischen Tula und Kursk durch Infanterie decken zu lassen. Das OKH hatte dies vor und
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führte es später durch, indem es die 2. Armee hinter dem Rücken der auf Tula vorgehenden Panzerarmee Guderian nach Osten vorschob. Dabei mußte jedoch ein Panzerkorps bei Kursk bleiben (es wurde der 2. Armee unterstellt), da Hitler gebannt auf Woronesch starrte und für den Angriff dorthin schnelle Verbände einsetzen wollte. Die ohnehin schlecht ausgestattete Panzerarmee Guderian wurde durch das Fehlen eines ihrer Panzerkorps noch mehr geschwächt. Aber selbst wenn sie in voller Stärke hätte angreifen können, wäre sie im Schlamm schwerlich weiter als bis an die Oka (100 km südlich von Moskau) gekommen. Ebenfalls grober Unfug war der einarmige Ansatz der Panzergruppe Reinhardt in das Waldai-Gebiet. Wenn die Panzergruppe im Schlamm 100 km vorankam, hatte sie etwas geleistet, aber dann hatte sie noch lange keinen Kessel gebildet. Einer doppelseitigen Umfassung, bei welcher zugleich ein Angriff über den Wolchow nach Südosten erfolgte, wäre es übrigens genauso ergangen, weil die Entfernungen zu groß waren. An der sowjetischen Nordfront eine Kesselschlacht zu schlagen, bildete von Haus aus eine irrwitzige Idee, zumal der Gegner günstige Verkehrsverbindungen besaß, auf denen er sich der Einkreisung entziehen konnte. Allenfalls hätte sich südlich des Ilmen-Sees ein Angriff auf den Bahnknotenpunkt Bologoje führen lassen, wie Haider früher einmal geplant hatte. Aber dafür wären die schnellen Divisionen der Heeresgruppe Nord nötig gewesen, die Hitler lieber bei Tichwin verheizen wollte. Grober Unfug war schließlich der Auftrag, Moskau im Westen und Norden allein mit der 4. Armee und der Panzergruppe Hoepner einzuschließen. Gewiß befand sich der Gegner im Zustand großer Schwäche, aber er stand noch in ausgebauten Stellungen, konnte aus Moskau mühelos versorgt und verstärkt werden und hatte alle Vorteile des Verteidigers auf seiner Seite. Die Stärken der deutschen Panzerwaffe, Schnelligkeit, Überraschung und Wendigkeit, ließen sich im Schlamm sowie in dem kleinräumigen Kampfgebiet kaum zur Geltung bringen. Der Angriff auf Moskau zu dieser Jahreszeit mußte eher in Form eines Infanteriekampfes mit Panzerunterstützung stattfinden und würde außerordentlich kräftezehrend sein. Von den drei Panzerkorps der Gruppe Hoepner war eines südlich der Autobahn eingesetzt, so daß für die Umfassung im Norden sowie das Durchstoßen einer doppelten Befestigungslinie lediglich noch zwei zur Verfügung standen, was schon unter anderen Bedingungen knapp gewesen wäre, im Schlamm jedoch nicht ausreichen konnte. Überhaupt muß man sich hüten, die Gesamtstärke der Heeresgruppe Mitte mit den bloß noch 100 000 Mann oder rund 30 Verbänden zu vergleichen, welche der Gegner Mitte Oktober in den Verteidigungsstellungen vor Moskau einsetzte. Wegen der Bindungen an die Kesselschlacht und wegen der erschwerten Fortbewegung im Schlamm gelangten die rund zwei Dutzend Divisionen der 4. Armee und der Panzergruppe 4 nur schubweise und mit erheblicher Verzögerung an die Befestigungslinien. Mitte Oktober werden es nicht viel mehr als ein Dutzend gewesen sein, und als die anderen allmählich nachrückten, begann auch der Gegner sich zu verstärken. Insgesamt ist es sehr fraglich, ob der Angriff an den Verteidigungsstellungen jemals eine klare zahlenmäßige Überlegenheit erlangte;
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zumindest erreichte er nie diejenige Stärke, welche für einen erfolgreichen Kampf unter den gegebenen Bedingungen erforderlich war. So kam der Vormarsch gegen Ende Oktober überall zum Stehen - wegen der Verzettelung der Kräfte, wegen des Wetters, wegen der damit einhergehenden Bewegungs- und Nachschubschwierigkeiten, vielleicht auch ein wenig deswegen, weil die Truppenführung keine rechte Lust mehr verspürte, ihre Leute in ein falsch angelegtes Unternehmen hineinzuhetzen. Einer verantwortungsbewußten deutschen Führung standen Mitte Oktober offenbar zwei Möglichkeiten zur Auswahl. Sie konnte entweder, wenn der Beginn der Schlammperiode erkennbar war, den Angriff einstellen, die Truppen rangieren, Fahrzeuge und Treibstoff schonen, den Nachschub sicherstellen und die Soldaten mit Winterausrüstung versehen. Trat dann der Frost ein, so waren die Straßen und das Gelände wieder befahrbar, die Truppen waren ausgeruht und mit dem Nötigsten ausgestattet, der Bestand an Geräten, Waffen und Treibstoff reichte aus, um die letzten 100 oder 200 km bis Moskau zurückzulegen. Zweifellos würde sich der Gegner bis dahin verstärken, doch würde er nicht so stark werden, daß er dem deutschen Angriff wirksam trotzen konnte. Die Heeresgruppe Mitte würde über 70 Divisionen verfügen, die zum Teil sogar wieder aufgefrischt waren, etwa bei Panzern fast wieder ihre ursprüngliche Stärke erreichen würden. Mitte Oktober besaß die Heeresgruppe noch über 1200 Panzer; ohne Kampfverluste und bei Nachschub aus der Heimat konnten es einige Wochen später wieder fast 1500 sein. Demgegenüber vermochte der Gegner bis Mitte November lediglich Truppen im Gefechtswert von höchstens 50 Divisionen zusammenzuziehen, die nicht mehr als 700 Panzer besaßen. Es bestand dann gute Aussicht, die Schlacht um Moskau siegreich zu beenden. Oder, zweite Möglichkeit, die deutsche Führung setzte Mitte Oktober alles auf eine Karte und griff in den Schlamm hinein an. Dies ließ sich höchstens dann verantworten, wenn wirklich alle Kräfte an der entscheidenden Stelle zusammengefaßt und der Angriff zweckdienlich angelegt wurde. Auf eine Umklammerung Moskaus durch die 2. Panzerarmee mußte dann verzichtet werden; sie war zu schwach dazu. Sie konnte lediglich den Hauptangriff an der südlichen Flanke schützen und ihn entlasten, indem sie feindliche Kräfte auf sich zog. Der Hauptangriff selbst war von den Panzergruppen 3 und 4 dicht nördlich und südlich Moskau zu führen. Beide Panzergruppen zusammen verfügten dafür, außer Infanterie, über fünf Panzerkorps mit fast 1000 Panzern, wovon die größere Zahl nördlich oder südlich der Autobahn angreifen mochte, je nachdem, wie der Ansatz gewählt wurde. Die Panzergruppe 3 konnte am Angriff teilnehmen; Rschew und Kalinin wurden Mitte Oktober erobert, die Infanterie rückte nach und die 9. Armee vermochte dort die Verteidigung zu übernehmen. Die Panzergruppe 3 wurde nur deswegen bei Kalinin festgehalten, weil Hitler den Angriff auf die Waldai-Höhe befohlen hatte. Ob ein konzentrierter Angriff der geschilderten Art durchgeschlagen und zur Einschließung Moskaus geführt hätte, bleibt ungewiß; sicher ist nur, daß die Truppe bei einem Angriff im Schlamm, selbst wenn er durchschlug, ihre Kräfte und ihr
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Material so sehr verschliß, daß sie danach bloß noch zur Verteidigung fahig war. Immerhin bestand hier noch eine gewisse Chance, Moskau einzunehmen. In Wahrheit freilich wurde keine der beiden genannten Möglichkeiten gewählt. Vielmehr tat Hitler das Dümmste, was man überhaupt tun konnte, denn er ließ in den Schlamm hinein angreifen, zum Teil in untaugliche Richtungen und überall mit unzureichenden Kräften, so daß am Ende nirgendwo etwas erreicht wurde, aber die Truppe ihre Kampfkraft verschleuderte, ihr Material abnützte und späteren Aufgaben erst recht nicht mehr gewachsen war. Mit der Weisung vom 13. Oktober war der Feldzug endgültig gescheitert, auch wenn die Folgen erst später sichtbar wurden. Der unerschöpfliche Born von Hitlers Eingebungen sprudelte unterdessen munter weiter. Dabei trat ein neuartiges Verfahren auf, welches bei späteren Geschichtsschreibern beträchtliche Verwirrung ausgelöst hat. Früher hatte Hitler Führerweisungen erlassen, welche dann in der einen oder anderen Form Weisungen des OKH nach sich gezogen hatten. In den ersten Monaten des Feldzugs lassen sich daher Willensbekundungen des Diktators und solche des OKH noch einigermaßen säuberlich trennen. Bereits die Führerweisung vom 6. September über den späteren "Taifun" enthielt jedoch eine Anzahl von operativen und taktischen Einzelanordnungen, die an sich Sache des OKH oder sogar der Heeresgruppen waren, beispielsweise über den Ansatz bestimmter Divisionen an bestimmten Stellen. Solche Dinge gingen Hitler im Grunde nichts an; wenn er sich darum auch noch kümmerte, wurde das OKH auf weite Strecken arbeitslos oder überflüssig. Schritt der Diktator auf diesem Weg weiter voran, so folgte daraus die mehr oder weniger vollständige Entmachtung des OKH. Bei Licht betrachtet, war eine solche Entwicklung schon seit längerem im Gange; Haider hatte deshalb in klarer Erkenntnis der Sachlage bei den Auseinandersetzungen um die Schlacht von Kiew den Rücktritt der Häupter des OKH verlangt. Da dies nicht eintrat, konnte Hitler tatsächlich das OKH von da an zunehmend entmachten und sich immer mehr in dessen Aufgabengebiete hineindrängen. Der Feldzug wurde auch in diesem verfahrenstechnischen Sinn ausschließlich Hitlers Feldzug. Haider fand sich mehr und mehr auf die Rolle des unbeteiligten, wenngleich eher verbitterten Zuschauers zurückgedrängt. Hitler machte sich jetzt nicht mehr die Mühe, eigene Führerweisungen zu erlassen, sondern er brachte seinen Willen mündlich oder auf andere Weise dem OKH zur Kenntnis und ließ ihn durch dieses in Schriftform fassen. Weisungen aus dem OKH waren daher etwa ab Oktober meistens verkappte Führerweisungen. Bei einigem militärischen Sachverstand kann man das unschwer erkennen, weil derartige Weisungen wenig anderes enthielten als die dilettantischen Einfälle des Diktators. Wenn allerdings der militärische Sachverstand fehlt, dann entsteht der irrige Eindruck, das OKH habe in dieser Zeit weiterhin die Operationen geführt, nur weil die entsprechenden Befehle aus dem OKH kamen. Richtig ist, daß das OKH im Herbst 1941 weithin bloß noch die Durchlaufstelle für Hitlers Anordnungen bildete. Diesen Zustand mag man nachträglich bedauern oder kritisieren vielleicht hätte Brauchitsch ja doch zurücktreten sollen -, aber dieser Zustand war
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nun einmal gegeben. Im übrigen ist es durchaus zweifelhaft, ob ein Wechsel der Personen eine Änderung erzeugt hätte. Bei den Auseinandersetzungen um die Schlacht von Kiew hatte sogar der Eisenschädel Guderian sich dem Diktator gebeugt; und noch früher hatte man bei Dünkirchen erlebt, wie Hitler über die Köpfe des OKH hinweg das Anhalten befahl, woraufhin selbst ein so erfahrener Soldat wie Rundstedt lieber dem Führer gefolgt war als dem OKH. So mußte das OKH im Herbst 1941 die operative und weithin auch die taktische Führung dem Diktator überlassen. Hitler erzeugte dabei im militärischen Bereich dasselbe Chaos, das er schon im Staat und in der Rüstungswirtschaft angerichtet hatte. Um den 19. Oktober dämmerte ihm, daß eine Einkesselang im Waldai-Gebiet, die er eine Woche vorher befohlen hatte, wohl doch nicht zustande kommen würde. Zum Ausgleich faßte er den Plan, nunmehr einen viel größeren Kessel zu bilden, der bei Tscherepowez, im nordrussischen Wald- und Sumpfgebiet nördlich Rybinsk und westlich Wologda, geschlossen werden sollte. Das war die verblüffende Logik Hitlerscher Art: Wenn das einfachere Ziel schon nicht erreichbar war, suchte er sich ein schwierigeres, in der Hoffnung, dieses dann zu erreichen. Ähnlich verblüffende Einfälle hatte Hitler für den Südflügel der Heeresgruppe Mitte. Nachdem er um den 23. Oktober darauf gedrängt hatte, schnelle Truppen gegen Woronesch anzusetzen, wollte er um den 26. Oktober die ganze 2. Panzerarmee, die eigentlich Moskau umfassen sollte (und nicht konnte), nach Woronesch abdrehen. Wohlgemerkt handelte es sich bei all diesen Eingebungen nicht um unverbindliche Erwägungen im vertrauten Kreis des Hauptquartiers, sondern sie gingen jeweils sofort als Befehle an die Truppenführung hinaus. Bock, der ohnehin seit Wochen das Zerreißen seiner Heeresgruppe beklagte und das Steckenbleiben vor Moskau darauf zurückführte, erfuhr von Halder, das OKH wolle dem Diktator das Abdrehen der 2. Panzerarmee nach Woronesch wieder ausreden. In diesem Fall gelang es, so daß der bereits ergangene Befehl zum Anhalten der 2. Panzerarmee rückgängig gemacht wurde. Mit einer gediegenen, zuverlässigen und vertrauenerweckenden Führungstätigkeit hattealldies nichts mehr gemein. Das OKH hatte fast nichts mehr zu sagen, sondern war vorwiegend damit beschäftigt, Hitlers sprunghafte Anordnungen weiterzugeben; die Truppenführung wurde mit widersprüchlichen und offenkundig sinnlosen Befehlen überschüttet; und niemand wußte, was die oberste Führung nun eigentlich wollte. Schlimm war das in verschiedener Hinsicht. Erstens wurde das OKH weithin entbehrlich, wenn es nur noch den Briefträger für Hitler abgab. Zweitens kam damit jede auch nur halbwegs vernünftige Planung ebenso zum Erliegen wie jede auch nur halbwegs vernünftige Durchführung erteilter Aufträge. Drittens, und das bildete fast das größte Übel, würde die Truppenführung wie die Truppe den Eindruck gewinnen, sie werde an der Nase herumgeführt. Dies würde nicht bloß das Vertrauen erschüttern und den Einsatzwillen lähmen, sondern es würde am Ende dahin führen, daß die Truppenführung um gegebene Befehle sich nicht mehr scherte, weil sie entweder undurchführbar waren oder demnächst sowieso wieder umgestoßen wurden. Gelenkte Operationen würden dann erschwert,
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wenn nicht ganz unm6glich werden. Derartige Befürchtungen waren nur allzu berechtigt. So geschah es beispielsweise am 19. November, daß Haider persönlich der Heeresgruppe Mitte eine Nachricht zukommen ließ, in welcher es lapidar hieß: "Nachstehende Weisung des OKW ging bei OKH ein". Dann folgte der Text (es handelte sich um taktische Ergüsse Hitlers), und am Schluß wurde die Bitte ausgesprochen, alle Maßnahmen zu vermeiden, die den Absichten des OKW entgegenliefen, solange nicht über die Stellungnahme der Heeresgruppe eine Entscheidung herbeigeführt sei. Diese aufschlußreiche Bitte bestätigt das, was zu erwarten war: Die Truppenführung nahm den Unfug, der von Hitler befohlen wurde, nicht mehr ernst, sondern tat das, was sie selber für richtig hielt. Als Brauchitsch die entscheidende Weisung vom 13. Oktober erließ - die in Wahrheit dem Willen Hitlers, nicht demjenigen des OKH entsprach -, da mag er gehofft haben, das OKH könne Hitler doch noch zur Besinnung bringen. Tatsächlich gelang auch noch eine Änderung, nur kam sie, wie das bei Hitler öfters der Fall war, viel zu spät. Ob die Änderung erfolgte, weil Hitler dazugelernt hatte, oder ob das OKH ihn mit List und Tücke dahin brachte, ist unbekannt; das letztere ist wahrscheinlicher. Am 30. Oktober erließ Brauchitsch eine neue Weisung, die sich mit der Fortführung der Operationen gegen die Feindkräfte zwischen der oberen Wolga und dem Ladoga-See beschäftigte. Das klingt ziemlich merkwürdig, denn wenn die Truppe schon die 100 km bis Moskau nicht schaffte, was sollte sie dann im 400 km entfernten Nordrußland? Die Sache wirdjedoch klarer, wenn man bedenkt, daß sich die Panzergruppe 3 immer noch nutzlos bei Kalinin herumschlug und einen Angriff nach Tscherepowez vor Augen hatte. Das OKH gab nun vor, die zwischen Wolga und Ladoga-See stehenden Feindkräfte, die Hitler bei Tscherepowez einkesseln wollte, dadurch zu erledigen, daß es die beiden in das genannte Gebiet führenden Eisenbahnlinien unterbrach. Zu diesem Zweck sollten die beiden Panzergruppen 3 und 4 sowie möglichst starke infanteristische Kräfte in den Bereich nördlich M(')skau vorgeführt werden, um anschließend über Jaroslawl und Rybinsk bis Wologda durchzustoßen, wo zugleich die Eisenbahn nach Archangelsk abgeschnürt werden konnte. All dies war natürlich auf Hitler zugeschnitten und wurde von ihm wahrscheinlich nachdrücklich gebilligt. Als Haider darüber mit Bock sprach, meinte letzterer, er lasse prüfen, ob es möglich sei, zwei Panzergruppen zwischen Moskau und der Wolga hindurchzuzwängen und zu versorgen. Haider erwiderte, er glaube nicht, daß das gin:e. Auf irgendeine Weise aber müsse die Gegend von Rybinsk und Jaroslawl erreicht werden, um den Feind nordostwärts dieser Linie für die Fortsetzung des Krieges im nächsten Jahr auszuschalten. Seltsame Antwort! Haider glaubte nicht, daß es &ing, und wollte es trotzdem machen. Eben darin verbarg sich der Trick. Zweifellos ließen sich nicht,Kräfte in Stärke von zwei Armeen an Moskau vorbeizwängen und der Nachschub~d:Ch die Enge bringen unter der ständigen Gefahr, von Moskau aus in der Flanke oder im Rücken gefaßt zu werden. Also mußte jedenfalls zuerst Moskau genommen werden, allenfalls danach ließ sich ein Stoß nach Rybinsk oder Wologda führen. Im Grunde hätte Haider das nordrussische Gebiet wohl gern in
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die Hand genommen; dies entsprach ja auch seiner ursprünglichen Planung. Im Augenblick jedoch war dies zweitrangig; es kam zuerst darauf an, die Kräfte vor Moskau wieder zusammenzufassen, wo sie bessere Dienste leisteten, und nicht sie wahllos im Raum zu zerstreuen, wo sie sich nur festfressen würden und einzeln aufgerieben werden konnten. Theoretisch ließ sich mit den zusammengefaßten Truppen bei Moskau der entscheidende Schlag führen. Standen dann noch operationsfähige Verbände zur Verfügung - was bezweifelt werden durfte -, so konnte vielleicht das Ziel Rybinsk ins Auge gefaßt werden. Bei der Weisung vom 30. Oktober ging es also dem OKH in erster Linie um Moskau; alles andere war Beiwerk. Hitler wiederum pflichtete dem bei, weil ihm alles zugleich angeboten wurde: zuerst mit gesammelten Kräften Moskau, anschließend Wologda und die sowjetischen Truppen in Nordrußland. Nachdem Hitler Mitte Oktober die Kräfte vor Moskau zersplittert und damit jeden Erfolg unmöglich gemacht hatte, gelang es dem OKH mit der Weisung vom 30. Oktober wenigstens, die Verbände wieder bei Moskau zusammenzuziehen und auf dieses Ziel anzusetzen. 33 Soweit dies einen Erfolg darstellte, kam er entschieden zu spät. Die Truppe hatte ihre Kampfkraft bei nutzlosen Unternehmungen im Schlamm verbraucht und war zur Lösung neuer Aufgaben kaum noch imstande. Eine Beurteilung der Kampfkraft des Ostheeres, welche der Generalstab am 6. November vorlegte, sprach eine deutliche und überaus bittere Sprache. Die Kampfkraft der Infanteriedivisionen betrug demnach im Durchschnitt nur noch 65 % ihrer ursprünglichen Stärke, diejenige der motorisierten Divisionen nur noch 60 % und diejenige der Panzerdivisionen nur noch 35 %. Betrachtet man, bildlich gesprochen, die Panzerdivisionen als das Schwert des Heeres, so war dieses Schwert stumpf geworden. Die 19 vorhandenen Panzerdivisionen hatten nur mehr eine Kampfkraft von acht Divisionen (die 2. und 5. Panzerdivision als vollwertig gerechnet), wovon die Heeresgruppe Mitte sechs besaß, also nur noch ungefähr die Hälfte des Standes von Anfang Oktober. Insgesamt kam das Ostheer, bei 136 vorhandenen Verbänden, auf eine Kampfkraft von 83 Verbänden. Davon entfiel ungefähr die Hälfte auf die Heeresgruppe Mitte, so daß diese gut 40 Divisionen besaß. Verglichen mit der Kampfkraft von rund 40 bis SO Divisionen, welche die sowjetische Verteidigung vor Moskau Mitte November aufwies, war folglich die Heeresgruppe Mitte zahlenmäßig bestenfalls gleichwertig, eher schwächer. Es kam hinzu, daß es sich beim Kampf um Moskau nicht um einen Bewegungskrieg im freien Feld handelte, bei welchem das deutsche Heer von Haus aus überlegen war, sondern um eine Art Stellungskrieg, bei welchem der Verteidiger von vornherein im Vorteil ist. In diesem Fall gilt die alte Rfigel,. daß der Angreifer im Verhältnis 3:1 stärker sein sollte. Nach
33 Sämtliche verwendeten Dokumente, namentlich die OKH-Weisungen vom 13. und 30. Oktober, in Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 2/1327. Ferner Tagebuch Bock, 13. 10., 14. 10., 25. 10., 26. 10. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, N 22/9. Die Stärkeangaben zur russischen und deutschen Seite bei Reinhardt, Wende, 76f., 149; MGFA, Weltkrieg IV, 767 (Beitrag Hoffmann). Zum Angriff auf Moskau auch C. Wagener.
30 Raub, Zweiter Weltkrieg 2. Teil
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den gängigen Regeln der Kriegskunst war daher der deutsche Angriff eigentlich zum Scheitern verurteilt. Hitler hatte das fertiggebracht, was der Gegner wünschte und was Haider hatte verhindem wollen: Der Diktator hatte das deutsche Heer so lange aufgehalten und so lange geschwächt, bis es dem Gegner nicht mehr gewachsen war. Den Angriff einzustellen, wäre daher ratsam gewesen. Der Angriff wurde nicht eingestellt, weil Hitler es nicht zuließ. Das OKH befand sich in einer unglücklichen Lage, weil es mit der Weisung vom 30. Oktober soeben das Fortführen des Angriffs mittelbar eingeräumt und damit die Heeresgruppe Mitte veranlaßt hatte, ihrerseits eine Weisung über das Fortsetzen der Operationen zu erlassen. Daß das Ganze nur einen Trick des OKH darstellte, um Hitler von anderen Zielen abzubringen, konnte man dem Diktator schlecht sagen. Hitler wiederum hielt an seinen Zielen unbeirrt fest. Dazu gehörte Moskau, sodann Tichwin und die Vereinigung mit den Finnen, ferner Wologda, Stalingrad und das nordkaukasische Ölgebiet von Maikop. All dies sollte noch im laufenden Jahr erreicht werden. Bei Wologda war Hitler etwas schwankend; gelegentlich sprach er auch davon, man könne es in das nächste Jahr verschieben, ebenso wie Gorki und die Wolga. Daß sich im laufenden Jahr voraussichtlich keines der genannten Ziele mehr erreichen ließ, hätte Hitler nie zugegeben; für ihn stand völlig außer Frage, daß Moskau unbedingt genommen und alles getan werden mußte, auch die übrigen Punkte zu gewinnen. In dieser Hinsicht blieb Hitler bis zum Schluß uneinsichtig. Bock richtete am 1. Dezember ein geharnischtes Fernschreiben an das OKH, in welchem er ausführte, der gegenwärtige Angriff werde keine operative Auswirkung haben. Der Feind werde nicht zusammenbrechen. Die Kräfte reichten zur Einschließung Moskaus nicht aus. Der Angriff erscheine ohne Sinn und Ziel, zumal der Zeitpunkt sehr nahe rücke, in dem die Kraft der Truppe erschöpft sei. Bock sprach darüber auch mit Halder. Der Generalstabschef war immer die zentrale Anlaufstelle für alle operativen Fragen gewesen. Man hatte ihn um Rat und Hilfe gebeten, gegebenenfalls an die Front geholt, wenn man nicht weiterwußte, und schon am 3. Juli hatte Haider vermerkt, es sei wirklich rührend, mit welcher Bereitwilligkeit die hohen Feldmarschälle und Heeresgruppenführer mit dem Generalstab zusammenarbeiteten und sich auf seine Gedanken einstellten. Bock tat das immer noch, aber Haider konnte ihm nicht mehr helfen. Der Lauf der Dinge wurde jetzt von Hitler bestimmt. Haider vermochte Bock nur zu sagen, die Heeresleitung werde ihren Standpunkt noch einmal dem OKW, also Hitler, schriftlich darlegen. Offenbar hatte sie das schon öfter getan, und offenbar auch in dem Sinn, daß der Angriff wenig Erfolg verspreche. Das wollte Hitler nicht hören. Für diesen Feldzug war er jetzt selbst verantwortlich, nicht das OKH. Als Bock am 8. Dezember, nachdem bereits der Rückzug eingeleitet war, bei Haider um Verstärkungen bat, mußte ihm Haider erwidern, die Heeresleitung habe keinen Einfluß auf Zuführung von Verstärkungen aus dem Westen. Diesen Feldzug führte nicht mehr das OKH, Hitler machte alles selber. 34
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Unter diesem Blickwinkel sind die folgenden Ereignisse zu betrachten. Es ist viel darüber gerätselt worden, was Haider ab dem November 1941 noch erreichen wollte. Die Antwort ist ziemlich einfach: Haider wollte gar nichts mehr erreichen, weil es nichts mehr zu erreichen gab. Am 3. November zeichnete Haider auf: "Der Feind hat, wie erwartet, nach der Kiewer Schlacht die Ukraine nicht mehr in zusammenhängender Front verteidigen können. Er weicht, um Zeit zu gewinnen, kämpfend aus. Ich persönlich glaube, daß er nur in der Lage ist, den Bereich Moskau (Wologda, Moskau, Tambow) und den Bereich Kaukasus zu halten und das zwischenliegende Gelände, das nach Osten hin nur in die Steppen ostwärts der Wolga führt, freizugeben. Das wird er natürlich nicht in Form eines glatten Abmarsches tun, zumal er unter den Bewegungsschwierigkeiten ebenso leidet wie wir. Jedenfalls sind umfassende Räumungsbewegungen aus dem Kaukasus-Bereich zu erkennen. Wie er sich in dem Bereich um Leningrad verhalten wird, ist noch nicht zu erkennen. Ich glaube, daß er auch hier räumt und in Richtung Rybinsk zurückzuführen sucht, um seine Kräfte in dem Brückenkopf Moskau, in den alle von Asien heranführenden Bahnen münden, zusammenzufassen, diese zu halten und sich damit die Möglichkeit wahrt, mit den aus den Hilfsquellen des Urals regenerierten Kräften im Jahre 1942 wieder anzugreifen. Vielleicht auch später. Die Kaukasusfront kann er dabei ihrer natürlichen Stärke und der Hilfe der Engländer und Amerikaner überlassen." In diese Lageeinschätzung flossen gewisse Vermutungen über das Verhalten des Gegners ein, nämlich dergestalt, daß der Gegner manche Gebiete räumen werde. Diese Annahmen konnten sich je nach dem Stand der Aufklärung ändern, beispielsweise meinte Haider am 8. November, neuere Erkenntnisse sprächen dafür, daß der Feind den Raum zwischen dem Bereich Moskau und dem kaukasischen Raum vorerst noch nicht aufgebe. Ansonsten war Halders Aussage völlig eindeutig: Er nahm an, der Gegner werde den Brückenkopf Moskau halten und in Zukunft aus diesem Brückenkopf heraus wieder zum Angriff antreten. Die Wehrmacht würde demnach Moskau nicht einnehmen und entferntere Ziele wie Wologda erst recht nicht. Wenn Haider dies wußte, ist anzunehmen, daß auch Brauchitsch es wußte, und vermutlich ebenso die engsten Mitarbeiter Halders wie der Operationschef Heusinger. Die logische Folge wäre gewesen, umgehend den Angriff einzustellen und in eine geeignete Verteidigungslinie auszuweichen. Daß das OKH mit der Weisung vom 30. Oktober noch den Angriff befohlen hatte - formell Richtung Wologda, tatsächlich Richtung Moskau - widerspricht dem nur scheinbar. 34 Die Beurteilung der Kampfkraft des Ostheeres vom 6. 11. 1941 in KTB OKW 1/2, 1074f. Die Weisung der Heeresgruppe Mitte vom 30. 10. 1941 sowie Hitlers Ziele nach Reinhardt, Wende, 136, 302 f. Dazu Halder, KTB III, 283, 295, 330. Bock und Haider nach Tagebuch Bock, 1. 12. und 8. 12. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, N 2219. Das Fernschreiben Bocks auch bei R. Hofmann, Moskau, 163. Ferner Halder, KTB III, 40, 157.
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III. Der deutsche Rußland-Feldzug 1941
Auf der obersten deutschen Führungsebene herrschten im Herbst 1941 völlig regelwidrige, geradezu krankhafte Zustände. Normal wäre es gewesen, wenn Hitler als Staatsoberhaupt und oberster Befehlshaber der Wehrmacht die strategischen Richtlinien gegeben und den militärischen Fachleuten das Führen des Feldzugs überlassen hätte. In diesem Fall hätten die militärischen Fachleute im Oktober melden können, daß der Auftrag ausgeführt sei, weil die Wehrmacht an der Wolga stehe. Im Rahmen geregelter Befehlsverhältnisse wäre es auch noch normal gewesen, wenn die militärischen Fachleute im November gemeldet hätten, daß sie den Auftrag nicht ausführen könnten und den Rückzug in eine Verteidigungslinie empfehlen müßten. Es hätte sich dann über die Sache beratschlagen lassen; gegebenenfalls waren die für den Fehlschlag Verantwortlichen in die Wüste zu schicken und durch neue Leute ersetzen, die dann ihrerseits den Führer beraten konnten. Im Dritten Reich stellte sich alles ganz anders dar. Hitler hatte das Führen des Feldzugs an sich gerissen, bis herunter auf die taktische Ebene, und hatte jedes normale Beratungsverhältnis ausgeschaltet. Bei einem normalen Beratungsverhältnis schlägt der Beratende vor, was zweckmäßig ist, zeigt gegebenenfalls Wahlmöglichkeiten auf und umschreibt den Rahmen, innerhalb dessen sinnvolle Entscheidungen möglich sind. Ein derartiges Beratungsverhältnis wünschte der hartleibige Selbstherrscher Hitler nicht. Er traf alle Entscheidungen vorweg, einschließlich solcher, für die das Wort kopflos am Platze ist, und verlangte von den Fachleuten, insbesondere denjenigen im OKH, daß sie das ausführten, was er anordnete. Sofern er sich überhaupt beraten ließ, geschah es nur so, daß die Fachleute ihm sagen durften, wie seine vorweg getroffenen Entscheidungen umgesetzt werden könnten. In den ersten Monaten des Feldzugs war dauernd Streit entstanden, weil das Umsetzen von Hitlers Anordnungen militärisch unzweckmäßig war und das strategische Ziel des Feldzugs gefährdete. Die Auseinandersetzungen fanden schließlich damit ein Ende, daß Hitler das OKH seinem Willen unterwarf, so daß die Fachleute entweder Hitlers Anordnungen widerspruchslos umsetzten oder allenfalls versuchten, seine Entschlüsse mittelbar zu beeinflussen, gegebenenfalls durch Tricks. Ein reguläres, rationales Finden von Entscheidungen fand nicht mehr statt, d. h. es wurde nicht durch fachmännische Erörterung der Handlungsspielraum ausgelotet, es wurde nicht über Entscheidungen beratschlagt, sondern Hitler gab die Ziele vor, vielfach auch die Einzelheiten der Durchführung, und faßte seine Entschlüsse weiterhin allein. In diesem Umfeld entstand die OKH-Weisung vom 30. Oktober, die weder mit der Lagebeurteilung noch mit den wahren Absichten des OKH etwas zu tun hatte, sondern lediglich dem Zweck diente, Hitler durch Tricks von den größten Dummheiten wegzubringen. Wäre die Weisung nicht ergangen, so hätte die Gefahr bestanden, daß Hitler die 9. Armee und die Panzergruppe 3 irgendwohin nach Norden jagte, während unterdessen vor Moskau die 4. Armee und die Panzergruppe 4 mit ihren zwei Dutzend geschwächten Divisionen einen doppelt stärkeren Feind schlagen sollten. Es hätte dann gute Aussicht bestanden, daß der Gegner sowohl die Kräfte im Norden als auch diejenigen vor Moskau einzeln aufrieb und die ganze Heeresgruppe Mitte zerschlug. Gegenüber einer solchen Katastrophe war es
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immer noch besser, die Kräfte vor Moskau zusammenzuziehen, dort einen verfehlten Angriff zu führen und anschließend mit gesammelten Kräften den Rückzug anzutreten. Da es kein geregeltes Beratungsverhältnis gab, konnte auch nicht über das Einstellen des Angriffs beratschlagt werden. Ob das OKH dem Diktator das Einstellen des Angriffs vorschlug, ist unbekannt; falls es geschah, hat es jedenfalls nichts genützt. Falls es nicht geschah, hat das OKH trotzdem seine Pflicht erfüllt, indem es den Diktator, der seine Entschlüsse allein und ohne Beratung faßte, mit den notwendigen Entscheidungsunterlagen versah. Die vorhin erwähnte Äußerung Halders aus dem Gespräch mit Bock am 1. Dezember weist darauf hin, daß das OKH dem Diktator im Laufe des November den Ernst der Lage nicht verschwieg. Die Beurteilung der Kampfkraft des Ostheeres vom 6. November wurde dem OKW überreicht, was ja nur heißen kann, daß das OKW und damit Hitler auf die mangelnde Angriffskraft des Ostheeres aufmerksam gemacht wurde. Wenn Hitler die notwendigen Schlüsse daraus nicht ziehen wollte, blieb das OKH machtlos. Anfang Dezember erhielt das OKW und damit Hitler eine Feindlagebeurteilung, was wiederum so zu verstehen ist, daß dem OKW die Stärke und die Möglichkeiten des Gegners vor Augen gerückt werden sollten. Demnach stand die Rote Armee am 1. Dezember vor der deutschen Front mit 200 Schützenverbänden (Divisionen oder Brigaden), 35 Kavalleriedivisionen und 40 Panzerbrigaden, wozu weitere Verbände in der Tiefe des Landes kamen. Umgerechnet auf den Kampfwert waren das über 100 Divisionen, also mehr, als das deutsche Ostheer besaß. Die Voraussagen des Generalstabs über das Mobilisieren der sowjetischen Reserven waren eingetroffen; Hitler hatte dem Gegner dazu verholfen. Besagte Feindbeurteilung verwies darauf, daß die Angriffsfähigkeit der Roten Armee zugenommen habe und in Zukunft die Wucht sowjetischer Angriffe sich verstärken werde. Während des ganzen Winters sei mit russischen Angriffen zu rechnen, wobei Umgehungen und Umfassungen weit in den Rücken der deutschen Truppen angestrebt würden. Der Generalstab wußte sehr wohl, was kommen konnte; Hitler hätte nur seine Schlüsse daraus ziehen müssen. Der Diktator schenkte den Ergebnissen des Generalstabs seine Aufmerksamkeit, aber anläßlich eines Führervortrags am 6. Dezember mußte sich Haider sagen lassen, die Zahlen des Generalstabs bewiesen gar nichts. Das entspricht dem, was in diesen Untersuchungen immer wieder festgestellt wurde: Vorurteile und Unvernunft standen bei Hitler höher im Kurs als sorgfaltige Kenntnis der Tatsachen. Dies war einer der Gründe, warum Hitler nicht beraten werden konnte. Da Hitler sich nicht beraten ließ, nahm Haider davon Abstand und hielt sich eng an Hitlers Vorgaben. Mit den wahren Überzeugungen und Absichten Halders hatte das absolut nichts zu tun; es blieb indes gänzlich belanglos, weil abzusehen war, daß der Diktator mit seinen Zielen demnächst sowieso Schiffbruch erleiden würde. Hitler würde weder Moskau noch Rybinsk, noch sonst irgendetwas erreichen, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit würde das Heer vor Moskau sich demnächst zu-
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rückziehen müssen. Mit Hitler jetzt noch einen Streit anzufangen, war unangebracht, weil ohnedies nichts dabei herauskommen würde, vielmehr empfahl es sich, Einigkeit herzustellen, die bei den kommenden Abwehrkämpfen im Winter noch dringend nötig sein würde: Dieser Feldzug war verpfuscht, daran ließ sich nichts mehr ändern; jetzt kam es nur noch darauf an, größeres Unheil zu verhüten. In seinen öffentlichen Äußerungen hielt sich Haider streng an die von Hitler ausgegebene Sprachregelung. Bei einer Zusammenkunft mit den Oberquartiermeistern der Armeen des Ostheeres am 23. November nannte Haider als Ziele, die in diesem Jahr noch erreicht werden müßten, die Verbindung mit den Finnen, Moskau, Woronesch und Maikop; im nächsten Jahr sollten der Kaukasus, die Wolga und Wologda an die Reihe kommen. Das entsprach genau dem, was er wenige Tage vorher von Hitler erfahren hatte. Bei einem Führervortrag am 19. November fragte Haider den Diktator- man möchte fast sagen: mit scheinheiliger Ergebenheit -, ob Maikop oder Stalingrad wichtiger sei. In Wahrheit wußte er sehr wohl, daß sich in absehbarer Zeit weder das eine noch das andere erreichen ließ, schon weil die Nachschublage es nicht gestattete. Zwar glaubte Haider zeitweise, der Gegner werde den Raum zwischen dem Brückenkopf Moskau und dem Kaukasus räumen. Aber der Gegner würde selbstverständlich das Industriegebiet von Stalingrad mit seinen strategisch wichtigen Bahnen ebenso verteidigen wie den Kaukasus, so daß während des Winters schwerlich Aussicht bestand, dorthin zu gelangen - schon gar nicht, wenn demnächst eine Abwehrschlacht vor Moskau zu schlagen war. Als Beweis für die ausufernden Ziele des OKH gilt gemeinhin eine Generalstabsbesprechung, die Haider am 13. November in Orscha abhielt. Ein ähnliches Ereignis hatte am 25. Juli stattgefunden. Während Haider über die Besprechung vom 25. Juli seitenlange Aufzeichnungen anfertigte, sind die Notizen vom 13. November nichtssagend. Woher das kommt, ist unbekannt; man wird indes den Verdacht nicht los, daß Haider von der Besprechung am 13. November nicht viel erwartete. Warum hielt er sie dann ab? Am 5. November kam er mit Heusinger überein, der Generalstab müsse einen Ausgleich finden zwischen den beiden Polen des Erhaltungsgedankens und des Wirkungsgedankens, oder, frei übersetzt, zwischen Verteidigung und Angriff, um zu einer Vorstellung über den Abschluß des Feldzugs in diesem Jahr zu gelangen. Der Vergleich mit dem 25. Juli ist in verschiedener Hinsicht lehrreich. Damals, im Juli, stand die erste Phase des Feldzugs vor dem erfolgreichen Abschluß; es war eine Verständigung unter den Generalstabsoffizieren (damals nahmen die Stabschefs der Heeresgruppen teil) angebracht über das Fortführen der Operationen. Jetzt, im November, waren letzte Angriffe zu führen; es empfahl sich, eine Verständigung unter den Generalstabsoffizieren (diesmal nahmen auch die Stabschefs der Armeen teil) herbeizuführen über das Ende des Feldzugs. In beiden Fällen, im Juli wie im November, lag eine Führungskrise vor, beide Male ausgelöst durch Hitler. Was der Generalstab im Juli wollte, war völlig klar: Er wollte an die Wolga. Hitler dagegen war mit seinen Ideen aufgetreten, die Panzergruppen der Heeresgruppe Mitte nach außen abzuklappen, womit die strate-
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gisehe Zielsetzung, wie der Generalstab sie entwickelt hatte, zu scheitern drohte. Jetzt, im November, war der Feldzug praktisch bereits gescheitert. Hitler ließ weiter angreifen, obwohl nach generalstabsmäßiger Lagebeurteilung eigentlich der Übergang zur Verteidigung angezeigt war. Im Juli wurden die absonderlichen Wünsche Hitlers bei der Besprechung berücksichtigt, obwohl sie im schärfsten Gegensatz zu den Absichten des Generalstabs standen; es war die Rede von einem Abdrehen der Panzergruppe 3 nach Norden. Jetzt, im November, mußten die Wünsche Hitlers wiederum berücksichtigt werden. Haider legte zur Vorbereitung der Besprechung einen Schriftsatz vor (7. November), in welchem Mindestziele und äußerste Ziele angegeben wurden, also Linien, bis zu denen die Operationen fortgeführt werden sollten. Die Mindestziele urnfaßten den Raum um Moskau bis Rybinsk sowie südlich davon die Gegend um Woronesch und die Ukraine bis Rostow. Die äußersten Ziele urnfaßten zudem Wologda, Gorki, Stalingrad und Maikop. Die Mindestziele sollten unbedingt erreicht werden, das Erreichen der weiteren Ziele war dringend erwünscht, und zwar beides noch vor Einsetzen des Schneewinters mit tiefen Temperaturen und Schneefall, der etwa im Dezember beginnen würde. Die Mindestziele könnte man bei einigem guten Willen noch als notdürftig vertretbar ansehen, dagegen mußten die äußersten Ziele mit Sicherheit entfallen, schon weil der Treibstoff dafür nicht vorhanden war. Trotzdem wird die Ausarbeitung aus dem Generalstab vielfach für bare Münze genommen. Man sollte die Quelle einmal genau lesen; der Generalstab war imstande, seine Gedanken darzulegen. In dem Schriftstück hieß es ausdrücklich, für die Operationen müsse die Truppe ausreichend vorbereitet werden, und zwar durch Auffüllung mit denjenigen Versorgungsgütern, die für das Erreichen der Operationsziele nötig waren, sowie durch frontnahes Sicherstellen des Nachschubs und das Ausstatten der Truppe mit Winterausrüstung. Wie lange das dauern würde, blieb erst einmal offen, doch hatte der Generalstab genau erkannt, daß hier der springende Punkt lag. Es hieß nämlich, den Operationen könne durch die Wetterlage ein vorzeitiges Ende gesetzt werden. Demnach konnte der Fall eintreten, daß die Truppe ausgestattet wurde, einen Tag später brach der Winter herein, und damit fand die Operation ein vorzeitiges Ende. Damit auch jeder verstand, was gemeint war, hieß es weiter, die Truppe müsse nach dem Ende der Operationen die laufende Versorgung erhalten, sie müsse durch geeignete Unterkünfte gegen die Witterung geschützt und im Laufe des Winters aufgefrischt sowie ergänzt werden. Wo sollte das alles stattfinden? Etwa in Gorki und Stalingrad? Halder, Wagner, Heusinger und andere kamen am 10. November zu dem Ergebnis, bei der Heeresgruppe Mitte bestehe vor Ende November/ Anfang Dezember keine ausreichende nachschubtechnische Fundierung des Angriffs. Die nachschubtechnische Fundierung, von der hier die Rede war, beinhaltete noch nicht alles, was der Generalstab in dem Schriftstück für Orscha vom 7. November für erforderlich hielt, z. B. nicht die Winterausrüstung. Wurdeall das erfüllt, was Haider in dem Schriftstück vom 7. November für nötig ansah, so konnte der Angriff auf Moskau frühestens irgendwann im Dezember stattfinden und würde voraussichtlich wegen Einbruch des Winters ein vorzeitiges Ende fin-
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den. Alle anderen Ziele mußten sowieso gestrichen werden, denn der Angriff auf Maikop beispielsweise konnte nicht vor Anfang Januar stattfinden. Bis dahin würde der Winter hoffentlich da sein. Was bezweckte demnach Haider mit der Generalstabsbesprechung von Orscha? Haider zeigte den Generalstäblem, welche Ziele eigentlich erreicht werden müßten und erinnerte sie damit daran, welche Ziele der Generalstab für diesen Feldzug einmal geplant hatte. Zugleich gab er ihnen durch die Blume zu verstehen, daß sich kein einziges dieser Ziele mehr erreichen lasse. Der Generalstab wünschte nunmehr, den Angriff einzustellen und die Truppe zu versorgen. Daß die Truppe für den Angriff ausgestattet werde, war bloß ein Vorwand. In Wahrheit sollte das Versorgen der Truppe so umfangreich sein, daß kein Angriff mehr stattfand. Das Heer mußte erhalten werden, erstens aus der Pflicht zur Fürsorge und zweitens, weil es im nächsten Jahr wieder kampfkräftig sein sollte. Ob dies gelang, war zweifelhaft; wahrscheinlich würde Hitler den Angriff fortsetzen lassen. Aber Haider wollte vor den Offizieren ein Zeichen setzen, wo der Generalstab stand: Der Generalstab hatte den Verlauf dieses Feldzugs nicht zu verantworten; der Generalstab wußte, was nottat; und der Generalstab stand auf der Seite der Truppe, die jetzt Fürsorge brauchte, keine weiteren Angriffe. 35 3S Halders Lageeinschätzung vom 3. November und die sonstigen Fundstellen in Halder, KTB 111, 278f., 281, 283, 286, 288f., 295, 296, 306f., 328f. Die Feindlagebeurteilung von Anfang Dezember in KTB OKW 1/2, I 075 f. Halders Ausarbeitung für Orscha, 7. II. 1941, in Bundesarchiv-Militärarchiv, RH 21-2/879. Dazu Ziemke, Orsha. Die Darstellung der Entscheidungsvorgänge allgemein und namentlich der Planungen im Umkreis der Konferenz von Orscha, wie sie sich bei Reinhardt, Wende, sowie in MGFA, Weltkrieg IV (Beitrag Klink) findet, ist in hohem Maße unzuverlässig. Den Hintergrund für diese Art der Darstellung bildet die Theorie von der fortwährenden Unterschätzung der Sowjetunion durch das OKH, die das Scheitern des Feldzugs in seinen verschiedenen Phasen notwendigerweise nach sich gezogen habe. Mittelbar ist darin die Behauptung enthalten, das OKH sei seiner Aufgabe eigentlich nicht gewachsen gewesen, was für den Herbst 1941 dahingehend zugespitzt wird, das OKH habe gänzlich realitätsferne Ziele verfolgt und entsprechende Weisungen erlassen. Die Grundannahme, nämlich die Unterschätzungstheorie, ist von vornherein falsch. Für den Herbst 1941 muß die methodisch richtige Frage deshalb lauten, wessen Willen diejenigen Anordnungen ausdrückten, die formell aus dem OKH kamen. Die Frage ist zu beantworten, indem dreierlei gezeigt wird: Die Anordnungen widersprachen dem militärischen Sachverstand, die Willensbildung des OKH wurde von Hitler vorherbestimmt und das OKH versuchte gegenzusteuern, soweit dies beim Starrsinn Hitlers möglich war. All dies läßt sich anhand der Quellen zeigen. Der Schriftsatz Halders für die Konferenz von Orscha enthielt nicht etwa die Ziele des OKH, denn die genannten Ziele waren praktisch unerreichbar - was Haider bei anderer Gelegenheit festhielt -, sondern dieser Schriftsatz stellte ein Beispiel für den verdeckten Widerstand des OKH dar. Als eindeutiges Ergebnis schält sich damit heraus: Weder wurden die strategischen und operativen Ziele im Herbst 1941 vom OKH festgelegt noch gap es bei diesen Zielen eine Übereinstimmung zwischen Hitler und dem OKH; weder unterschätzte das OKH in jener Zeit den Gegner noch glaubte es an die Erreichbarkeit der von Hitler vorgegebenen Ziele, ab dem November auch nicht mehr an die Einnahme Moskaus; weder lassen sich aus der Denkschrift des Generalstabs für die Konferenz von Orscha ausufernde Ziele des OKH entnehmen noch mußte Haider in Orscha seine Ziele zurückstecken; weder gab es schwerwiegende Unterschiede in der Lageeinschätzung zwischen dem OKH
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Was Halder in Orscha zu hören bekam, war ihm nicht neu. Wagner drückte es am 27. November so aus: "Wir sind am Ende unserer personellen und materiellen Kraft." Natürlich war das Heer am Ende seiner Kraft; es war seit langen Wochen in operativ nutzlosen Kämpfen verschlissen worden, nur weil Hitler sein Feldherrntalent austoben wollte. Obwohl weiterhin in Richtung auf Moskau und andere Orte angegriffen werden sollte, zog Hitler im Laufe des November große Teile der Luftflotte 2 für eine Verwendung im Mittelmeer ab. Dies war wohl einer der Gründe, warum Bock möglichst früh anzugreifen wünschte. Die Luftflotte 2 konnte dann wenigstens noch für begrenzte Zeit den Angriff mit stärkeren Kräften unterstützen. Sodann versprach längeres Zuwarten keinen Vorteil, da der Gegner sich schneller verstärken würde als die deutsche Seite. Der operative und strategische Sinn des Angriffs blieb unklar. Die Erfolgsaussichten waren gering, und selbst wenn die Truppe an Moskau herankam, konnte der Gegner nur zurückgedrängt, aber nicht entscheidend geschlagen werden. Die deutsche Seite gewann keinen wesentlichen Vorteil, und der Gegner würde den Kampf nicht einstellen. Im Grunde lief die Sache darauf hinaus - ob Bock sich das nun eingestand oder nicht -, daß die Heeresgruppe Mitte so lange weiterkämpfte, bis sie vom Feind zum Rückzug gezwungen wurde. In diesem Fall trat das ein, was Hitler bislang verweigert hatte: Das Heer mußte auf eine Verteidigungslinie zurückgehen. Am 11. November wandten sich Bock und sein Stabschef Greiffenberg an Haider. Am Tag zuvor hattenHalderund seine Mitarbeiter festgestellt, nachschubmäßig sei der Angriff bei Heeresgruppe Mitte frühestens Ende November/ Anfang Dezember ausreichend fundiert. Ein isolierter Angriff der 9. Armee mit der Panzergruppe 3 am Nordflügel der Heeresgruppe bringe mehr Gefahren als Vorteile. Bock und Greiffenberg wollten nun mindestens zwei Wochen früher angreifen, und zwar vorzugsweise am NordflügeL Bock vertrat dabei die Auffassung, man müsse bald antreten, "weil ein weiteres Warten die Gefahr des Schneewinters näher herankommen läßt. Es könnte der Fall eintreten, daß man mit dem Warten auf weiterreichende Stoßkraft vom Wetter überrascht wird und überhaupt liegen bleibt." Das ist auffällig. Bock hatte kurz zuvor den Schriftsatz Halders vom 7. November für die Besprechung in Orscha erhalten. Darin hatte Haider anklingen lassen, der Generalstab wolle durch die Versorgung der Truppe den Angriff so lange verzögern, bis er wegen des Wetters nicht mehr möglich war. Bock hatte das augenscheinlich sehr wohl verstanden. Er wollte zeitlich so angreifen, trotz unzureichender Versorgung, daß der Angriff nicht wegen des Schneewinters abgeblasen werden mußte.
und den Frontbefehlshabern noch stellte sich das OKH auf die Seite Hitlers gegen die Frontbefehlshaber. Allenfalls übte das OKH Zurückhaltung gegenüber der Truppenführung bei seiner Kritik an Hitlers Anordnungen bzw. brachte diese Kritik nur in verdeckter Form vor, um den nachgeordneten Kommandobehörden nicht ein Beispiel für offene Widersetzlichkeit zu geben und so die Disziplin zu zerrütten. All dies läßt sich ohne Mühe aus den Quellen entnehmen, wenn man sie einigermaßen unvoreingenommen liest.
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Damit unterlief Bock die Absichten Halders. Warum er das tat, läßt sich vorläufig nur vermuten. Bekannt als besonders kühner und schneidiger Truppenführer, hoffte Bock vielleicht darauf, wenigstens einen Teilerfolg zu erzielen. Denkbar wäre allerdings auch, daß Bock operativ und strategisch weiter dachte. Halders Plan, durch die Versorgung der Truppe den Angriff zu verzögern und schließlich ganz einschlafen zu lassen, war zwar geschickt eingefädelt, ließ aber die Unberechenbarkeit Hitlers außer acht, denn dem Diktator mochte es jederzeit einfallen, wieder etwas Unsinniges zu befehlen. Sodann durfte die Heeresgruppe Mitte so, wie sie jetzt stand, nicht auf die Dauer stehenbleiben. Bei der 9. Armee im Norden wies sie eine lange, höchst gefährdete Flanke auf, und ob Guderians schwache Panzerarmee die Südflanke wirksam decken konnte, blieb ebenfalls zweifelhaft (nebenbei bemerkt: All dies waren noch Nachwirkungen von Hitlers verfehltem Ansatz für den "Taifun"). Ging Bock auf Moskau vor, so wurde dieser Zustand noch verschlimmert, denn die Nordflanke wurde noch länger und Guderians Panzerarmee wurde noch schwächer. Die Heeresgruppe Mitte durfte überhaupt nicht nach Osten vorgehen, sondern sie mußte ihre Fronten begradigen und sich zur Abwehr einrichten, also Teile der Truppen zurücknehmen und sie umgruppieren. Es ließ sich indes leicht ausrechnen, daß Hitler einer Frontverkürzung, einem Teilrückzug und einer Gliederung der Truppe für die Verteidigung aus freien Stücken niemals zustimmen würde, da er sich weigerte, den Ernst der Lage anzuerkennen. Also mußte Hitler durch die Umstände dazu gebracht werden. Erreichen ließ sich dies vielleicht so, daß man nach Moskau angriff, dort eine Niederlage erlitt und anschließend gezwungen war, die Front zurückzunehmen. Ein begrenztes Absetzen hätte sich mühelos bewerkstelligen lassen, etwa durch ein Zurückgehen in die Linie Ostaschkow- Rusa westlich Moskau, wie Haider am 7. Dezember festhielt Dadurch wären die Nordflanke erheblich verkürzt und zwei Panzergruppen freigemacht worden. Ob Bock tatsächlich derartiges dachte, bleibt vorerst ungewiß. Immerhin fällt auf, daß Haider dem Vorhaben Bocks 'spätestens in Orscha zustimmte, obwohl damit sein ursprünglicher Plan für Orscha hinfällig wurde. Möglicherweise sah Haider ein, daß Bocks Vorhaben gar nicht ungeschickt war, denn wenn der Schlachtengott ein kleines Wunder tat, ließ sich vielleicht doch noch ein Teilerfolg erzielen, und wenn dies nicht eintrat, war nicht viel verloren, sondern dann eröffnete sich die Möglichkeit zum Rückzug auf günstigere Linien. Wie dem auch sei, die Heeresgruppe Mitte setzte jedenfalls ihren Angriff an. Anfangs hatte sie daran gedacht, Moskau in der Linie Kolomna - Orechowo - Sagorsk - Dmitrow einzuschließen, etwa 50 bis 100 km vom Stadtzentrum entfernt. Bock hielt dies nunmehr beim Zustand seiner Truppen für fraglich, denn ebenso wie Haider wußte er, daß Guderian von Süden schwerlich an die Stadt herankommen würde, und mit Kluges 4. Armee stand es ähnlich. Daher steckte sich Bock als vorläufiges Ziel den Lauf der Moskwa sowie den Kanal von der Moskwa zur Wolga im Norden. Das Dreieck, welches dadurch gebildet wurde, reichte nur bis an das eigentliche Stadtgebiet von Moskau heran, umfaßte es jedoch nicht. Damit blieb der Gegner im Besitz der
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Bahnlinien östlich der Stadt und konnte für die Schlacht um Moskau weiterhin Verstärkungen heranbringen. Daraus darf man schließen, daß Bock entweder auf ein Wunder hoffte oder den Rückzug schon einkalkuliert hatte. Das genannte Zwischenziel betrachtete Bock als Spatz in der Hand und wollte es durch einen Schwerpunktangriff der Panzergruppen 3 und 4 nordwestlich der Stadt erreichen. Für einen solchen Angriff mochte der Nachsehub notdürftig ausreichen, falls bereits Mitte November angetreten wurde. Umgekehrt konnten bei diesem frühen Angriffstermin die deutschen Kräfte südwestlich und südlich der Stadt nur wenig Unterstützung leihen, da ihnen der Nachschub fehlte, so daß der Schwerpunktangriff im Nordwesten mittelbar geschwächt und die Aussicht auf ein Wunder noch geringer wurde. Das spricht wiederum dafür, daß Bock schon den Rückzug im Auge hatte. Die Panzergruppe Reinhardt trat am 15. November zum Angriff an; aus Nachschubgründen folgten die Panzergruppe Hoepner und die Panzerarmee Guderian erst am 18., während Kluges 4. Armee großenteils stehenblieb. Wie der Angriff aussehen würde, war den Fachleuten klar und wurde von Bock so umschrieben: "Operative Kunststücke sind nicht mehr zu machen. Truppe nicht verschiebbar. Nur zweckmäßiges taktisches Handeln möglich." Die Stärke des deutschen Heeres lag in operativen Kunststücken. Wenn sie solche nicht mehr machen konnte, hatte sie dem Gegner nicht mehr viel voraus. Den besagten taktischen Kampf führte Bock, unterstützt von Halder, mit einiger Verbissenheit. Am 22. November verglich Bock die Schlacht von Moskau mit der Marne-Schlacht des Ersten Weltkriegs, denn es entscheide das letzte Bataillon, das noch herangeworfen werden könne. Am 29. November meinte er allerdings im Gespräch mit Halder, wenn nicht in wenigen Tagen die Nordwestfront von Moskau zum Einsturz gebracht werden könne, dann müsse der Angriff eingestellt werden; andernfalls entstehe ein seelenloses Abringen. Er - Bock - wolle kein zweites Verdun heraufbeschwören. Haider zeichnete am 19. November auf, Bock sei ebenso wie "wir" durchdrungen von dem Gedanken, daß es bei beiden Gegnern um die letzte Kraftanstrengung gehe und der härtere Wille recht behalte. Der Feind habe auch keine Tiefe mehr und sei sicherlich noch schlechter dran als wir. Am 30. November stellte Haider fest, die oberste Führung, also Hitler, lege Wert darauf, den Angriff fortzusetzen, selbst auf die Gefahr hin, daß die Truppe ausbrenne. Haider bestätigte, daß diese Auffassung sich mit der des OKH deckte. Der Vollständigkeit halber wäre hinzuzufügen, daß das Ausbrennen sich nicht auf die Truppe schlechthin bezog, sondern auf Teile der 4. Armee, die nunmehr auch angreifen sollten. In diesem Zusammenhang meinte Haider am 1. Dezember, man müsse versuchen, den Feind mit dem letzten Kraftaufgebot niederzuringen. Wenn endgültig klar sei, daß das nicht möglich sei, müßten neue Entschlüsse gefaßt werden. Aus solchen Stellen wird öfters der Schluß gezogen, Haider und Bock hätten mit eiserner Entschlossenheit alles auf die eine Karte gesetzt, Moskau doch noch einzunehmen und damit wohl gar den Feldzug zu entscheiden. Es dürfte an der Zeit sein, diese Betrachtungsweise einmal zurechtzurücken. Bocks Angriffsplan war so
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angelegt, mit ein~m Panzerschwerpunkt in dem Dreieck zwischen Moskwa und Kanal zur Wolga nahe an Moskau heranzukommen. Das gelang auch weitgehend; die Panzergruppe Reinhardt erreichte den Kanal, und die 2. Panzerdivision der Gruppe Hoepner kam an Moskauer Vororte heran. Aber damit konnte selbstverständlich Moskau nicht erobert werden. Wie erwartet, entfiel der südliche Umfassungsarm ganz, da Guderian liegenblieb; und die 4. Armee war in so schlechter Verfassung, daß sie sich nur zu einigen eher symbolischen Angriffen aufzuraffen vermochte. Moskau hätte also allein von Norden durch die Panzergruppe Reinhardt umfaßt werden müssen. Das war von vornherein höchst unwahrscheinlich, und es gelang auch nicht. Die 7. Panzerdivision nahm zwar am 28. November eine Brücke über den Kanal zur Wolga, doch fehlten die Kräfte, um den Erfolg auszunützen. Es ließen sich eben keine operativen Kunststücke mehr machen. Bock gewann, wie geplant, den Spatz in der Hand und sonst nichts. Mehr hatte er bei nüchterner Betrachtung der Dinge nicht erwarten dürfen. Es mag sein, daß er versuchte, das Glück herauszufordern. Der Versuch war erlaubt und würde, wenn er fehlschlug, keinen großen Schaden stiften. Haider hat ihn dabei kameradschaftlich unterstützt. Am 1. Dezember meinte Halder, wenn endgültig klar sei, daß der Feind nicht niedergerungen werden könne, müßten neue Entschlüsse gefaßt werden. Am 4. Dezember teilte er Greiffenberg mit, wenn Bock für die verlustreichen Angriffe nordwestlich von Moskau keine Aussicht mehr sehe, habe er die Freiheit, sie einzustellen. Am Tag zuvor, am 3. Dezember, hatte Bock zu Haider gesagt, die Stunde sei vorauszusehen, wo die Kraft der Truppe am Ende sei. Man müsse dann zur Abwehr übergehen. Und er hatte hinzugefügt: "Die Nachteile der Abwehr waren mit ein Grund zum Festhalten am Angriff." Das ist eine rätselhafte Äußerung. Die Nachteile der Abwehr bei Heeresgruppe Mitte bestanden in ihren langen schwachen Flanken. Wenn man nach Moskau angriff, wurden die Flanken noch schwächer. Bock hatte aber angegriffen, weil die Flanken schwach waren. Was sollte das heißen? Bock hatte also angegriffen, damit die Flanken nicht mehr so schwach waren. Die Flanken waren nur dann nicht mehr schwach, wenn man zurückging. Folglich hatte Bock angegriffen, damit er zurückgehen konnte. Bock hatte gewußt, und Haider hatte es auch gewußt, daß man Moskau nicht erobern würde. Bock und Haider ließen nach Moskau angreifen, weil sie dort einen Rückschlag erwarteten. Dann, so hofften sie, konnten sie endlich das tun, was der militärische Sachverstand erforderte: Sie konnten die Front zurücknehmen und vor Moskau zur Verteidigung übergehen. Soweit war es also gekommen: Der Feldmarschall und der Generalstabschef schmiedeten ein fachmilitärisches Komplott gegen Hitler. Der Diktator faselte noch am 30. November von der Fortsetzung des Angriffs bis Jaroslawl und Rybinsk. Notwendig jedoch war schon seit langen Wochen das Begradigen der Front und der Übergang zur Verteidigung. Der Wirrkopf Hitler ließ sich nicht beraten; er hatte diesen Feldzug, einen der aussichtsreichsten in der Kriegsgeschichte, scheitern lassen, und er hatte spätestens im Oktober dafür gesorgt, daß auch Moskau nicht mehr erobert wurde. Den notwendigen Übergang zur Abwehr hatte er verhin-
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dert, so daß Bock, unterstützt von Halder, den Ausweg ersinnen mußte, auf dem Umweg über den Angriff die Verteidigung zu gewinnen. Der Schlußangriff auf Moskau bildete in Wahrheit gar keinen Angriff, der zur Einnahme der Stadt führen sollte, sondern er bildete den Versuch, gegen Hitler das Richtige zu tun. 36
36 Halder, KTB III, 287, 294, 303, 311, 318, 322, 325, 326, 332. Tagebuch Bock, 11. 11., 29. 11., 30. 11. 1941, Bundesarchiv-Militärarchiv, N 22/9.
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- Adolf Hitler. Eine politische Biographie, Göttingen 1989.
Personenregister Abetz, Otto, deutscher Botschafter in Frankreich (1940-44) 239, 241 Antonescu, Ion, rumänischer Offizier und Politiker, Diktator (1940-44), 1941 Marschall 279 Attlee, Clement, britischer Politiker, Vorsitzender der Labour-Party, Lordsiegelbewahrer (1940-42), stellvertretender Premierminister (1942-45) 250, 251 Badoglio, Pietro, italienischer Marschall, Oberbefehlshaber in Abessinien (193536), Chef des Oberkommandos der Streitkräfte (1939-40), Ministerpräsident (1943-44) 232 Baldwin, Stanley, britischer Politiker (Konservative Partei), Premierminister (1923, 1924-29, 1935-37) 36 Balfour, Arthur James, britischer Politiker, Premierminister (1902-05), Außenminister (1916-19) 36 Beck, Josef, polnischer Außenminister (1932- 39) 38 Beck, Ludwig, deutscher General, Chef des Truppenamts bzw. Generalstabs des Heeres (1933-38) 93, 105, 112 Below, Nicolaus von, deutscher Offizier, Luftwaffenadjutant bei Hitler (193745) 270, 349 Benesch, Eduard, tschechoslowakischer Politiker, Staatspräsident ( 1935- 38, 1945- 48), Präsident der Exilregierung (1940-45) 324 Berle, Adolf A., Abteilungsleiter im amerikanischen Außenministerium ( 193844) 10, 52, 323, 329 Bismarck, Otto von, preußischer Ministerpräsident ( 1862- 90), deutscher Reichskanzler (1871-90) 238 Blaskowitz, Johannes, deutscher General, Oberbefehlshaber Ost (1939-40) 388 Blomberg, Werner von, deutscher Generalfeldmarschall, Reichswehrminister
bzw. Reichskriegsminister (1933- 38) 112 Bock, Fedor von, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber von Heeresgruppen ( 1939- 42) 43, 44, 46, 102, 108,161,167,190,346,370,380,418, 425,449,456,463,464,466,469,473, 474, 475, 476, 477 Bonnet, Georges, französischer Außenminister (1938-39) 34, 36 Brauchitsch, Walther von, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber des Heeres (1938-41) 20, 23, 24, 39, 46, 88, 91, 92, 93, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 131, 141, 153, 154, 163, 173, 174, 176, 177, 190, 192, 193, 196,202,253, 259,260,269,271,272,273,274,275, 276,277,278,285,292,295,296,308, 347,349,353,364,367,378,381,386, 388,389,391,393,394,395,396,397, 399,401,402,403,404,413,414,426, 427,429,430,435,441,448,451,456, 458,459,462,464,467 Bürckel, Josef, NSDAP-Politiker, Reichsstatthalter in Österreich (1939), Chef der Zivilverwaltung in Lothringen ( 194044) 245 Bullit, William C., amerikanischer Diplomat, Mitarbeiter Präsident Wilsons, Botschafter in Moskau ( 1933- 36) und Paris (1936-40) 7, 57 Cadogan, Alexander, britischer Unterstaatssekretär im Foreign Office (193846) 331' 333, 334 Canaris, Wilhelm, deutscher Admiral, Chef der Abwehr im Reichskriegsministerium bzw. OKW (1935-44), Widerstandskämpfer 93, 131 Carls, Rolf, deutscher Admiral, Flottenchef ( 1937- 38), Kommandierender Admiral der Ostseestation ( 193 8- 40)
Personenregister 114, 115, 117, 119, 121, 125, 127, 131 Chamberlain, Neville, britischer Politiker, Premierminister (1937- 40) 5, 24, 30, 34, 36, 37, 59, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78,80,82,83,84,86,94, 152,250,251 Churchill, Winston S., britischer Politiker, Marineminister (1911-15, 1939-40), Premierminister (1940-45) 5, 12, 79, 80, 81, 84, 96, 112, 136, 149, 150, 152, 221,248,249,250,251,252,253,254, 255,265,292,319,320,322,324,325, 326,329,330,331,333,334,335,336, 337, 338, 340 Ciano, Galeazzo, italienischer Außenminister (1936-43) 230 Cripps, Stafford, britischer Politiker, Botschafter in Moskau (1940-42) 255, 326 Cunningham, Andrew, britischer Admiral, Oberbefehlshaber der Mittelmeerflotte (1939-42) 320 Curtis, Lionel, britischer Staatsphilosoph 83 Daladier, Edouard, französischer Ministerpräsident und Verteidigungsminister (1938-40) 21, 34, 36, 76, 77, 86, 87 Dalton, Hugh, britischer Politiker, Minister in verschiedenen Ämtern (ab 1940) 80 Darlan, Fran~ois, französischer Admiral, Oberbefehlshaber der Marine ( 193942), stellvertretender Ministerpräsident (1940-42) 246, 311 Dekanosow, Wladimir, sowjetischer Politiker, stellvertretender Außenminister (1939-40), Botschafter in Berlin (194041) 64, 65 Dietl, Eduard, deutscher General, Divisionskommandeur beim Norwegenfeldzug (1940), Armeeoberbefehlshaber (1942-44) 149, 151 Dohnanyi, Hans von, deutscher Beamter, Widerstandskämpfer 93 Dönitz, Karl, deutscher Seeoffizier, Befehlshaber der U-Boote (1939-43), Oberbefehlshaber der Marine ( 1943 45) 119, 128, 287, 288, 290 Doyen, Paul Andre, französischer General, Leiter der französischen Delegation in
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der deutsch-französischen Waffenstillstandskommission ( 1940-41) 238 Eden, Anthony, britischer Politiker, Außenminister (1935-38, 1940-45) 80, 81, 251, 330, 339 Engel, Gerhard, deutscher Offizier, Heeresadjutant bei Hitler (1938-43) 347 Etzdorf, Hasso von, deutscher Diplomat, Verbindungsmann des Auswärtigen Amts zum OKH 235, 346 Falkenhorst, Nikolaus von, deutscher Offizier, Kommandierender General des XXI. Korps (1939- 40), Oberbefehlshaber des Armeeoberkommandos Norwegen (1940-44) 136, 137, 138 Feyerabend, Gerhard, deutscher Offizier, 1940 als Oberstleutnant i. G. im Generalstab des Heeres 271, 367 Franco, Francisco, spanischer General, Führer der Aufständischen im Bürgerkrieg (1936-39), Diktator (1939-75) 257, 258, 259, 310 Freyberg, Bemard, neuseeländischer General, Befehlshaber des britischen Expeditionskorps in Griechenland und Kreta (1941) 319, 320 Fricke, Kurt, deutscher Seeoffizier, Chef der Operationsabteilung in der Seekriegsleitung ( 1937-41 ), Stabschef der Seekriegsleitung (1941-43) 126 Fritsch, Wemer von, deutscher General, Chef der Heeresleitung bzw. Oberbefehlshaber des Heeres (1934-38) 112 Funk, Walther, nationalsozialistischer Politiker, Wirtschaftsminister (1938-45) und Reichsbankpräsident (1939-45) 222, 225, 226 Gailani, Rashid Ali el, irakischer Politiker, Ministerpräsident (1941) 321 Gamelin, Maurice, französischer General, Oberbefehlshaber des Heeres (193540) und Stabschef der nationalen Verteidigung (1938-40) 21, 22, 25, 32, 33, 34, 84, 90, 182, 184, 193 de Gaulle, Charles, französischer Offizier, Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium (1940), Gründer und Ober-
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Personenregister
haupt der freifranzösischen Bewegung (1940-44) 237, 238, 245, 258, 308, 321 Geisler, Hans, deutscher Luftwaffenoffizier, Kornrnandierender General eines Fliegerkorps 137 Georges, Alphonse, französischer General, Oberbefehlshaber der französischen Nordostfront (1939-40) 183 Gisevius, Hans B., deutscher Beamter, Vizekonsul in Zürich (1940-44), Widerstandskämpfer 93, 98, 105 Goerdeler, Karl-F., Oberbürgermeister von Leipzig (1930-37), Widerstandskämpfer 109 Göring, Hermann, NSDAP-Politiker, preußischer Ministerpräsident (193345), Reichsluftfahrtminister (1933- 45), Oberbefehlshaber der Luftwaffe ( 193545), zahlreiche andere Ämter 74, 137, 162,220,222,223,224,225,226,253, 295,298,299,303,345,354,385,386, 405, 406 Gort, John, britischer General, Oberbefehlshaber der Expeditionsstreitkräfte in Frankreich (1939-40) 183 Graziani, Rodolfo, italienischer Marschall, Oberbefehlshaber in Libyen ( 194041) 259, 260 Greenwood, Arthur, britischer Politiker, stellvertretender Vorsitzender der Labour-Party (1935-45), Minister o. P. (1940-42) 250, 251 Greiffenberg, Hans von, deutscher Generalstabsoffizier 141, 270, 271, 273, 274,295,301,367,368,370,446,473, 476 Grew, Joseph C., amerikanischer Diplomat, Botschafter in Tokio (1932-41), Unterstaatssekretär im Außenministerium (1924-27, 1944-45) 48 Groscurth, Helmuth, deutscher Offizier, Verbindungsmann des Amts Ausland/ Abwehr im OKW zum OKH ( 1939- 40), Widerstandskämpfer 97, 107 Guderian, Heinz, deutscher General, Führer von Panzerverbänden, Generalstabschef des Heeres (1944-45) 174, 175, 176, 178, 179, 190, 191, 192, 193, 197, 199,383,419,420,437,441,442,443,
444,446,448,453,454,459,460,463, 474,475,476 Halder, Franz, deutscher General, Chef des Generalstabs des Heeres (193842) 17, 18, 19, 20, 21, 22,23, 24, 25, 27, 32, 34, 36, 41, 43, 44, 45, 73, 74, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 125, 130, 135, 136, 137, 141, 143, 149, 152, 153, 154, 155, 157, 159, 160, 163, 164, 165, 166, 167, 168, 171, 172, 173, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 184, 185, 188, 190, 191, 192, 193, 195, 196, 197, 198, 199,200,202,208,209,210,213,214, 215,218,228,230,235,238,239,241, 253,259,269,270,271,272,273,274, 275,276,277,278,285,291,293,295, 298,299,300,301,308,311,312,316, 317,320,321,345,346,347,348,349, 350,351,352,353,354,355,356,358, 359,360,361,362,363,364,365,366, 367,368,369,370,372,373,374,375, 376,377,378,379,381,382,383,384, 385,387,389,394,395,396,397,398, 399,400,401,404,408,410,411,412, 413,416,417,418,419,420,421,422, 423,424,425,426,427,428,429,430, 431,432,433,434,435,436,438,440, 441,442,444,445,446,448,449,450, 451,453,454,455,456,458,460,462, 463,464,466,467,469,470,471,472, 473,474,475,476,477 Halifax, Edward F. L. Wood, Viscount H., britischer Außenminister ( 1938- 40), Botschafter in Washington ( 1941 46) 5, 34, 35, 50, 59, 76, 80, 82, 83, 86, 94, 250, 251, 252, 325, 326 Harnrnerstein-Equord, Kurt von, deutscher General, Chef der Heeresleitung (193034), Oberbefehlshaber der Armeeabteilung A (1939) 111 Harvey, Oliver, britischer Diplomat, Sekretär des Außenministers Eden ( 1941 43) 335 Heusinger, Adolf, deutscher Offizier, Chef der Operationsabteilung im Generalstab des Heeres ( 1940- 44), Generalinspekteur der Bundeswehr (1957-60) 301, 370, 467, 470, 471
Personenregister Heydrich, Reinhard, SS-Führer, Chef der Sicherheitspolizei, dann des Reichssicherheitshauptamts (1936-42) 393, 402, 405 Himmler, Heinrich, NSDAP-Politiker, Reichsführer SS (1929-45), Chef der deutschen Polizei ( 1936- 45), Reichsinnenrninister (1943 -45) 232, 233, 236, 387, 388 Hitler, Adolf, Vorsitzender der NSDAP (1921-45), deutscher Reichskanzler und Reichspräsident (1933/34- 45), Diktator passim Haare, Samuel, britischer Politiker, Außenrninister (1935), Botschafter in Madrid (1940-44) 250 Hoepner, Erich, deutscher General, Führer von Panzerverbänden, Widerstandskämpfer 383,421,457, 458,460,475, 476 Hopkins, Harry, amerikanischer Handelsminister (1938- 40), Sonderberater und Sonderbotschafter des Präsidenten Roosevelt (1940-45) 331, 375 Hoth, Hermann, deutscher General, Führer von Panzerverbänden 178, 179, 191, 193, 194, 197, 383, 421, 437, 438, 449 Hull, Cordell, amerikanischer Politiker, Außenminister (1933-44) 10, 52, 58, 60 Ickes, Harold, amerikanischer Politiker, Innenminister (1933-46) 255 Ironside, William, britischer General, Ernpire-Generalstabschef (1939- 40) 182 Jeschonnek, Hans, deutscher General, Stabschef der Luftwaffe (1939-43) 296, 304, 396 Jodl, Alfred, deutscher General, Chef des Wehrmachtführungsamtes bzw. Wehrmachtführungsstabes im OKW (193945) 17, 18, 26, 105, 130, 131, 136, 141,149,197,219,241,260,270,273, 274,275,296,300,301,302,305,345, 378,379,380,382,387,403,427,429, 431, 432, 438, 446 Kant, Immanuel, deutscher Philosoph, Professor in Königsberg ( 17701804) 322, 323, 342
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Kasprzycki, Thaddäus, polnischer Kriegsminister 32 Keitel, Wilhelm, deutscher Generalfeldmarschall, Chef des OKW (1938-45) 197,219,224,244,273,274,277,293, 396,403 Kennan, George F., amerikanischer Diplomat, Abteilungsleiter im Außenministerium (1947-49) 8 Kennedy, Joseph P., amerikanischer Industrieller und Politiker, Botschafter in London ( 1937- 40) 8, 52, 57 Kepler, Johannes, deutscher Astronom und Mathematiker, Entdecker von Gesetzen der Planetenbewegung 323 Kesselring, Albert, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber der Luftflotte 2 (1940-43), Oberbefehlshaber Süd (1941-43) 189 Keynes, John M., britischer Wirtschaftswissenschaftler, Tätigkeit im Schatzamt (1940-45) 325, 326 Kinzel, Eberhard, deutscher Offizier, Leiter der Generalstabsabteilung Fremde Heere Ost (bis 1942) 367 Kleist, Ewald von, deutscher Generalfeldmarschall, Führer von Panzerverbänden, Oberbefehlshaber einer Heeresgruppe(1942-44) 178,179,182,190, 191, 192, 193, 194, 197, 199, 316, 317, 383,408,450 Kluge, Hans von, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber von Armeen und Heeresgruppen (193944) 418,419,420,421,422,427,428, 438,439,448,474,475 Körner, Paul, Staatssekretär des Preußischen Staatsministeriums (1933- 45) 385 Köstring, August, deutscher General, Militärattache in der Sowjetunion ( 193541) 358 Konoye, Furnimaro, japanischer Politiker, Ministerpräsident (1937- 39, 1940-41) 48, 261, 262, 263, 267, 268 Kreve-Mickevicius, Vincas, litauischer Außenminister (1940) 64, 65 Kuusinen, Otto, finnisch-sowjetischer Politiker, Korninternsekretär (1921- 39), Haupt einer finnischen Gegenregierung (1939-40) 70
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Personenregister
La Follette, Philip F., amerikanischer Politiker, Isolationist 7 Lammers, Hans Heinrich, deutscher Beamter, Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei (1933-45) 224 Lansing, Robert, Außenminister der USA (1915-20) 9, 11 Lattmann, Erich, deutscher Militärjustizbeamter, Rechtsberater des OKH 396, 397,398,399,400,401 Laval, Pierre, französischer Politiker, Ministerpräsident (1931- 32, 1935- 36), stellvertretender Ministerpräsident (1940) 237, 238, 240, 244, 246, 247, 248, 258, 311 Leeb, Wilhelm Ritter von, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber von Heeresgruppen (1939-42) 20, 21, 91, 102, 103, 108, 161, 346, 381 Lehmann, Rudolf, deutscher Beamter, Leiter der Wehrmachtsrechtsabteilung 396, 398,400 Lenin, Wladimir Iljitsch, Gründer des Sowjetstaates, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare (1917- 24) 64 Leykauf, Hans, deutscher General, Rüstungsinspekteur Ukraine 386 Liss, Ulrich, deutscher Offizier, Leiter der Generalstabsabteilung Fremde Heere West 164, 184 List, Wilhelm, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber von Armeen sowie einer Heeresgruppe (1939-42) 174, 176, 316 Löhr, Alexander, deutscher General, Oberbefehlshaber der Luftflotte 4 ( 193942) 319 Lubienski, Michael Graf, Kabinettschef des polnischen Außenministers Beck 38 Ludendorff, Erich, Generalquartiermeister im deutschen Generalstab (1916-18) 110 Maiskij, Iwan M., sowjetischer Diplomat, Botschafter in London (1932-43) 80, 339, 340 Mannerheim, Carl GustafFrhr. von, finnischer Marschall, Oberbefehlshaber der Streitkräfte (1939-44) 70
Manstein, Erich von, deutscher Generalfeldmarschall, Generalstabsdienst, später Oberbefehlshaber (bis 1944) 45, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 175, 177, 179, 185, 407, 450 Marcks, Erich, deutscher General 274, 363, 364, 368, 369, 384, 418 Matsuoka, Yosuke, japanischer Politiker, Außenminister (1940-41) 262, 263, 264, 265, 266, 267, 279 Matzky, Gerhard, deutscher Offizier, Oberquartiermeister im Generalstab des Heeres (ab 1941) 370 Metaxas, Joannis, griechischer General, Ministerpräsident und Außenminister (1936-41), Diktator 308 Milch, Erhard, deutscher Generalfeldmarschall, Staatssekretär und andere Funktionen im Luftfahrtministerium ( 193345) 295 Moltke, Helmut J ames Graf von, deutscher Widerstandskämpfer 111 Molotow, Wjatscheslaw, sowjetischer Politiker, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare ( 1930- 41 ), Außenminister (1939-49) 64, 65, 66, 67, 255,266,280,281,282,283,284,308, 330, 348 Morgenthau, Henry, amerikanischer Politiker, Finanzminister (1934-45) 7 Müller, Eugen, deutscher General 370, 394,396,397,398,399,400,404 Müller, Josef, deutscher Politiker, Widerstandskämpfer, stellvertretender bayerischer Ministerpräsident ( 1947- 49) 93, 94, 98 Mussolini, Benito, italienischer Faschistenführer, Ministerpräsident ( 192243), Diktator 58, 201, 228, 229, 230, 231,232,234,235,236,243,251,254, 257,258,259,260,261,279,306,307, 308, 313, 315 Newton, Isaac, englischer Naturforscher und Mathematiker, Begründer der klassischen Korpuskelmechanik 323 Nomura, Kichisaburo, japanischer Admiral, Botschafter in Washington (1941) 267 Osbome, D' Arcy, britischer Diplomat, Gesandter beim Vatikan 94
Personenregister
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Quisling, Vidkun, norwegischer Politiker, Ministerpräsident (1942-45) 133, 134, 135, 136, 147
Roosevelt, Franktin Delano, Präsident der USA (1933-45) 6, 7, 8, 9, 11, 12, 13, 14, 15, 49, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 72, 80, 81, 84, 233, 234,249,252,255,256,264,265,267, 268,321,323,325,326,327,328,329, 330,331,332,333,334,335,336,337, 338, 339, 340, 342, 343, 347 Rosenberg, Alfred, NSDAP-Politiker, Minister für die besetzten Ostgebiete (1941-45) 403 Rundstedt, Gerd von, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber von Heeresgruppen 43, 45, 46, 102, 108, 161, 172, 173, 175, 176, 190, 191, 194, 270, 293, 346, 380, 431, 463 Rydz-Smigly, Edward, polnischer Marschall, Oberbefehlshaber der Streitkräfte (1936-39) 37, 43
Raeder, Erich, deutscher Admiral, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine ( 1935 43) 6, 112, 113, 114, 115, 119, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 138, 139, 140, 141, 143, 144, 146, 150, 218, 242,295,296,298,299,301,302,304, 305,306,307,309,310,311,312,345, 347 Reichenau, Walter von, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber von Armeen sowie einer Heeresgruppe (1939-42) 43, 107 Reinhardt, Georg Hans, deutscher General, Führer von Panzerverbänden, Oberbefehlshaber 178, 191,457,460,475, 476 Reynaud, Paul, französischer Politiker, Ministerpräsident ( 1940) 86, 87 Ribbentrop, Joachim von, NSDAP-Politiker, Außenminister (1938-45) 49, 50, 67, 230, 259, 279, 280, 281, 346, 352 Richthofen, Wolfram Frhr. von, deutscher Generalfeldmarschall, Kommandierender General eines Fliegerkorps ( 193942), Oberbefehlshaber von Luftflotten (1942-44) 319 Rommel, Erwin, deutscher Generalfeldmarschall, Führer von Panzerverbänden, Oberbefehlshaber von Heeresgruppen 313, 314, 320, 321
Schacht, Hjalmar, deutscher Wirtschaftsminister (1934-37) 222 Schaposchnikow, Boris M., sowjetischer Marschall, Generalstabschef (1937-40, 1941-42) 360,409 Schdanow, Andrej, sowjetischer Politiker, Parteisekretär von Leningrad 64, 65 Schell, Adolf von, deutscher Offizier, Generalbevollmächtigter für das Kraftfahrwesen 226 Schlabrendorff, Fabian von, deutscher Widerstandskämpfer 349 Schlieffen, Alfred von, deutscher Generalfeldmarschall, Generalstabschef (18911905) 160, 180, 192 Schmundt, Rudolf, deutscher Offizier, Wehrmachtadjutant bei Hitler (193844) 177, 272 Schniewind, Otto, deutscher Admiral, Chef des Stabes der Seekriegsleitung (1938-41), Flottenchef (1941-44) 130, 299, 300 Schukow, Georgij, sowjetischer Marschall, Generalstabschef (1941), Oberbefehlshaber an Frontabschnitten (1941-45) 50, 359, 458 Schulenburg, Friedrich Werner Graf von der, deutscher Diplomat, Botschafter in Moskau (1934-41) 346, 362 Seyß-Inquart, Arthur, NSDAP-Politiker, stellvertretender Generalgouverneur in
Oster, Hans, deutscher General, Widerstandskämpfer 93, 103 Paulus, Friedrich, deutscher Generalfeldmarschall, Oberquartiermeister im Generalstab des Heeres (1940-42), Oberbefehlshaber der 6. Armee (194243) 370, 371, 410 Pavelic, Ante, kroatischer Politiker, Staatschef Kroatiens (1941-45) 318 Petain, Philippe, französischer Marschall, Staatsoberhaupt (1940-44) 236, 237, 238,240,243,244,245,246,247,250, 258, 262, 311, 313 Pius XII., Papst (1939-58) 94
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Personenregister
Polen (1939-40), Reichskommissar für die Niederlande (1940-45) 195 Siebe!, Fritz, deutscher Industrieller 222 Sikorski, Wladislaw, polnischer General und Politiker, Ministerpräsident der Exilregierung (1939-43) 46 Simon, John, britischer Politiker, Außenminister (1931- 35) 250 Simovic, Dusan, jugoslawischer General und serbischer Nationalist, Ministerpräsident (1941, bis 1942 im Exil) 315, 317 Smuts, Jan, südafrikanischer General und Politiker, Ministerpräsident (1919-24, 1939-48) 255 Sodenstern, Georg von, deutscher General, Stabschef von Heeresgruppen (193942) 91, 163, 168, 181, 270, 346 Speer, Albert, Architekt, deutscher Reichsminister für Bewaffnung und Kriegsproduktion (1942-45) 205, 206, 224, 225, 332 Speidel, Hans, deutscher Offizier, Stabstätigkeit (1939-44), Oberbefehlshaber der NATO-Landstreitkräfte Mitteleurapa (1957-63) 349 Sperrle, Hugo, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber der Luftflotte 3 (1938- 44) 189 Stachiewicz, Waclaw, polnischer Generalstabschef 37 Stalin, Jossif W., Generalsekretär der KPdSU (1922-53), sowjetischer Ministerpräsident (1941-53), Diktator 5, 6, 9, 10, 11, 15, 23, 28, 34, 35, 36, 47, 49, 50, 51, 55, 62, 64, 65, 66, 67, 69, 71, 85, 128, 201, 255, 265, 266, 269, 278,282,329,340,353,356,358,360, 361,362,373,374,375,408,409,458 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von, deutscher Offizier, Widerstandskämpfer 389 Strauß, Adolf, deutscher General, Oberbefehlshaber der 9. Armee (194042) 418 Student, Kurt, deutscher General, Kommandeur und Befehlshaber von Fallschürrnverbänden 319 Stülpnagel, Kar! Heinrich von, deutscher General, Oberquartiermeister im Generalstab (1938- 40), Oberbefehlshaber
der 17. Armee ( 1940- 41 ), Militärbefehlshaber in Frankreich (1942-44), Widerstandskämpfer 87, 89, 102, 103, 104, 106, 107, 108, 153, 160, 163, 164, 165, 168, 241, 244, 274 Terboven, Josef, NSDAP-Politiker, Reichskommissar für Norwegen ( 194045) 147 Thomas, Georg, deutscher General, Abteilungschef für Wehrwirtschaft und Rüstung im Wehrmachtamt bzw. OKW (1934-42) 97, 98, 208, 212, 213,215,219,225,226,277,377,385 Thorez, Maurice, französischer Politiker, Korninternfunktionär 70 Timoschenko, Semjon, sowjetischer Marschall, Verteidigungsminister ( 194041), Oberbefehlshaber von Frontabschnitten (1941-42) 361, 442, 443, 446 Tippelskirch, Kurt von, deutscher General, Oberquartiermeister im Generalstab des Heeres (bis 1941) 95, 108, 111, 370, 388 Todt, Fritz, NSDAP-Po1itiker, Reichsminister für Bewaffnung und Munition (1940-42) 222, 225, 226, 276 Togliatti, Palmiro, italienischer Politiker, Exil in der Sowjetunion (1939-44), italienischer Minister ( 1944- 46) 70 Tojo, Hideki, japanischer General, Kriegsminister (ab 1940) und Ministerpräsident (1941-44), Generalstabschef (1944-45) 222, 262, 268 Truman, Harry S., amerikanischer Politiker, Vizepräsident (1944- 45), Präsident (1945- 53) 52 Tschiang Kai-schek, chinesischer Offizier und Politiker, Führer der chinesischen Nationalpartei, Diktator 47, 48, 262, 265 Udet, Ernst, deutscher Offizier, Generalluftzeugmeister im Luftfahrtministerium (1938-41) 222 Ulbricht, Walter, deutscher Politiker, Exil in der Sowjetunion (1938- 45), SEDParteiführer in der DDR (1950-71), Staatsratsvorsitzender (1960- 73) 70
Personenregister Vansittart, Robert, britischer Diplomat, Unterstaatssekretär im Foreign Office (1929-37), diplomatischer Berater der Regierung (1938-41) 60, 81 Wagner, Eduard, deutscher Offizier, Stabschef des Generalquartiermeisters im Generalstab des Heeres (1939-40), Generalquartiermeister (1940-44), Widerstandskämpfer 370, 385, 387, 391, 393,394,396,402,406,422,423,444, 445, 471, 473 Wang Tsching-wei, chinesischer Politiker, Chef einer Regierung in Nanking im japanischen Besatzungsgebiet ( 194044) 49 Warlimont, Walter, deutscher Offizier, Chef der Abteilung Landesverteidigung im Wehrmachtführungsamt bzw. Wehrmachtführungsstab des OKW (193841), stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabs (1942-44) 148, 197,241,295,298,307,394,400,403 Wegener, Wolfgang, deutscher Admiral 123, 124 Weichs, Maximilian Frhr. von, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber von Armeen sowie einer Heeresgruppe (1939-43), Oberbefehlshaber Südost (1943-45) 316, 418
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Weizsäcker, Ernst von, deutscher Diplomat, Staatssekretär im Auswärtigen Amt (1938-43) 24, 235, 239, 292, 346, 351, 352 WeHes, Sumner, amerikanischer Diplomat, Unterstaatssekretär im Außenministerium (1937 -43) 52, 56, 57, 58, 59, 60, 75, 76, 79, 326, 331, 335, 338 Weygand, Maxime, französischer General, Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte (1940), Generaldelegierter in Französisch Nordafrika (194041) 193 Wietersheim, Gustav von, deutscher General, Befehlshaber eines Panzerkorps (1939-42) 108, 174, 176, 179, 182 Wilson, Thomas Woodrow, Präsident der USA (1913-21) 6, 7, 9, 10, 11, 12, 47, 53, 54, 55, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 95, 264, 322, 323, 327, 328, 329, 330, 337, 339, 340, 341, 342, 343 Witzleben, Erwin von, deutscher General, Widerstandskämpfer 91, 101, 108 Wyschinskij, Andrej, sowjetischer Politiker, stellvertretender Außenminister (1939-49) 64, 361 Yonai, Mitsumasa, japanischer Admiral, Ministerpräsident ( 1940) 262