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German Pages 406 Year 1991
MANFRED RAUH
Geschichte des Zweiten Weltkriegs Erster Teil: Die Voraussetzungen
Geschichte des Zweiten Weltkriegs Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Freiburg Erster Teil: Die Voraussetzungen
Geschichte des Zweiten Weltkriegs Erster Teil:
Die Voraussetzungen
Von
Manfred Raub
Duncker & Humblot . Berlin
Berichtigung: Die Angabe auf der hinteren Rückenklappe, die Abbildung des Schutzumschlages zeige eine Grenzmarkierung zwischen dem Deutschen Reich und Polen aufgrund des im Friedensvertrag von Versailles festgelegten Grenzverlaufes, entspricht der Bildunterschrift des Archivs für Kunst und Geschichte, Berlin. Es handelt sich jedoch wohl um einen Grenzstein zwischen dem Freistaat Danzig und Polen.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rauh, Manfred: Geschichte des Zweiten Weltkriegs / von Manfred Rauh. [Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Freiburg]. - Berlin : Duncker und Humblot. ISBN 3-428-07300-2 Teil 1. Die Voraussetzungen. - 1991 ISBN 3-428-07264-2
Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany
© 1991 Duncker &
ISBN 3-428-07300-2 (Gesamtwerk) ISBN 3-428-07264-2 (1. Teil)
Vorwort Dem Zweiten Weltkrieg, der die Welt grundlegend veränderte, widmete das Militärgeschichtliche Forschungsamt sein Reihenwerk "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg". In diesem Werk sollte die zentrale Rolle des Deutschen Reiches dargelegt werden, die es bei der Entstehung und im Verlauf dieses zweiten großen Krieges im 20. Jahrhundert spielte. Mit dem Blick auf die Folgen des Zweiten Weltkrieges für das Europäische und das Weltstaatensystem stand im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses die Frage nach den Ursachen dieses verhängnisvollen Geschehens. Um dem Anliegen gerecht zu werden, das Warum und das Wie dieser Auseinandersetzung zu erklären und damit zum Verstehen unserer jüngsten Vergangenheit beizutragen, wurde dem auf zehn Bände angelegten Reihenwerk ein interdisziplinärer Ansatz zugrunde gelegt, durch den die Interdependenzen und wechselseitigen Korrelationen der Politik und Ökonomie ebenso zur Anschauung gebracht wurden wie die der Sozial- und Militärgeschichte. Dieser Anspruch einer GesamtdarsteIlung des Zweiten Weltkrieges aus deutschlandzentrischer Sicht führte vor dem Hintergrund der großen Aktenbestände und der Vielzahl von bedeutenden Einzeluntersuchungen dazu, daß die einzelnen Bände jeweils zu einem höchst voluminösen wissenschaftlichen Grundlagenwerk gerieten. Die bisher erschienenen sechs Bände haben eine erfreulich positive Resonanz in der Geschichtswissenschaft des In- und Auslandes erfahren; gleichwohl zeigte es sich auch, daß die dickleibigen Bände den historisch Interessierten auch abschreckten. Um vor allem der jüngeren Generation - und insbesondere den Soldaten der Bundeswehr - eine überschaubare Synthese der bisherigen Forschungsergebnisse zu bieten, wurde der Gedanke eines zunächst einbändigen, dann dreibändigen Werkes ins Auge gefaßt. Dem Verfasser kommt es, wie er in seiner Einleitung aufzeigt, darauf an, den Zweiten Weltkrieg - als eines der einschneidendsten Ereignisse der Neueren Geschichte - in einem universal-historischen Zusammenhang einzuordnen: Bei diesem Bemühen geht er davon aus, daß in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die Stelle des alten europäischen Mächtesystems ein Weltstaatensystem trat. Die klassische Staatensouveränität sowie insbesondere die jahrhundertealte europäische Macht- und Gleichgewichtspolitik wurden tiefgreifend verändert. Als Ergebnis ist der Umsturz in den Ordnungsprinzipien und der Staatenvielfalt festzustellen. Im Lichte des ersten totalen Krieges mit seinen bis dahin unvorstellbaren Opfern wurde die Idee einer staatenübergreifenden, weltweiten Rechts-
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Vorwort
und Friedensgemeinschaft geboren, die von einer Völkergemeinschaft gleicher sittlicher Wertevorstellungen getragen wird. Die Rückkehr des Dritten Reiches zur traditionellen Machtpolitik hat die Grundlagen dieser Ordnungsvorstellungen nicht nur zerstört, sondern Europa in eine westlich-demokratische und eine östlich-kommunistische Hemisphäre geteilt. Wenn das Ende des Zweiten Weltkrieges eine Epochengrenze markierte und die nachfolgende zeitgeschichtliche Periode von dem Antagonismus der sich feindlich gegenüberstehenden Machtblöcke in Ost und West gekennzeichnet wurde, so steht Europa gegenwärtig vor einer neuen Zeitwende. Trifft der Satz zu, daß der Besitz der Vergangenheit auch den der Gegenwart verbürgt, kann es für die Gestaltung der Zukunft hilfreich sein, die Wurzeln jener Idee zu suchen, die den europäischen Völkerkrieg als Instrument der Politik für obsolet erklärte. Die im ersten Band versuchte historische Ortsbestimmung des Zweiten Weltkrieges sollte dazu anhalten, von der verhängnisvollen Übersteigerung nationalistischer Vorstellungen endgültig Abschied zu nehmen und die Sicherung des Friedens durch gemeinschaftliches Handeln auf der Basis des internationalen Rechts und einer neuen Verständigungspolitik zu suchen, welche den Völkern weltweite Wohlfahrt in Aussicht stellt. Vor diesem gesamthistorischen Zusammenhang geht der Verfasser über die deutschlandzentrische Sicht hinaus und ist bemüht, das politische Geschehen der Zwischenkriegszeit, an deren Ende die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges stand, in den Zusammenhang und die Entwicklung des Internationalen Staatensystems zu stellen. Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges wird demzufolge nicht auf die Zerstörung der Versailler Friedensordnung durch das nationalsozialistische Deutschland sowie die beiden anderen Achsenmächte, Japan und Italien, beschränkt. Es wird vielmehr dargelegt, daß am Ende des Ersten Weltkrieges eine eigentlich tragfähige Weltfriedensordnung scheiterte und daß daraus ein Zustand des internationalen Systems erwuchs, der selbst eine wesentliche Voraussetzung für den Zweiten Weltkrieg bildete. Durch die Schilderung des Verlaufs des Zweiten Weltkrieges, der Eroberungsfeldzüge der Achsenmächte und der Gegenmaßnahmen der Anti-Hitler-Koalition zieht sich als roter Faden das westalliierte Bemühen um die Errichtung einer umfassenden Weltfriedensordnung. Dieses programmatische Ziel, das hauptsächlich von den Vereinigten Staaten verfolgt wurde, diente zunächst der Brechung des Herrschaftswillens der Achsenmächte, behielt aber seine übergeordnete, weltumspannende Funktion. Wenngleich der Ablauf der Ereignisse es mit sich bringt, daß der Politik und Kriegführung Deutschlands verhältnismäßig breiter Raum gewährt wird, so ist der "heimliche Held" in dem zweiten Band vielmehr Amerika oder genauer: das Streben der Regierungen der USA, während und nach den beiden Weltkriegen eine neue Weltfriedensordnung zu schaffen, deren Fundament das Recht, die Freiheit und die Selbstbestimmung der Völker sein sollte.
Vorwort
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Im dritten Band will der Verfasser versuchen, die politischen Vorgänge innerhalb Deutschlands differenzierter, als bisher oft geschehen, zu analysieren. Im Gegensatz zu der These von einem "Primat der Innenpolitik" wird Manfred Rauh seine These zu beweisen suchen, daß es keine Kontinuität des deutschen Weltmachtstrebens vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg gebe, die von den sogenannten Konservativen Eliten getragen wurde. Im Kontext hierzu wird vor dem Hintergrund der außenpolitischen Lage auch dem Phänomen nachgespürt, warum und inwieweit das deutsche Volk und insbesondere die konservativen Führungsschichten, darunter die Wehrmacht, Hitler überhaupt - und so lange - gefolgt sind. Soweit - dies ist die Arbeitsthese des Verfassers - die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg auf Deutschland fällt, betrifft sie Hitler, bzw. sein Regime des Nationalsozialismus. Bei dem Streben nach Unterscheidung zwischen dem Wirken der nationalsozialistischen Diktatur einerseits und dem Verhalten des deutschen Volkes und der Wehrmacht andererseits will Manfred Rauh nachweisen, daß das deutsche Volk von Hitler und seinem Terrorsystem ebenso mißbraucht worden ist, wie andere Diktatoren der Zeitgeschichte i~ölker mißbraucht haben. Das vorliegende und die beiden folgenden Bücher werden als eine wichtige Ergänzung zu dem zehnbändigen Reihenwerk des MGFA "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" zu betrachten sein. Manche Position des Verfassers mag als Gegensatz zu den Thesen des ersten Bandes "Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik" erscheinen. Im Sinne der im Grundgesetz verbürgten Freiheit der Wissenschaft soll das Gesamtwerk von Manfred Rauh dazu beitragen, das Fortschreiten der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu dokumentieren und neue Einsichten zur wissenschaftlichen Diskussion zu stellen. In diesem Sinne versteht es sich von selbst, daß die wissenschaftlichen Aussagen des Autors auf seinen individuellen Grundauffassungen wie auf seiner selbstverständlichen Quellen und Literaturinterpretation beruhen. Das MFGA legt nämlich Wert darauf, daß keinerlei Reglementierungen den Autor binden. Der dadurch erzielte wissenschaftliche Pluralismus wird als unverzichtbar angesehen, die geistige Auseinandersetzung mit diesem für Deutschland und Europa so folgenschweren Krieg voranzutreiben. Dem kritischen Leser sollen weitere Voraussetzungen zur Förderung eines ausgewogenen Urteils bei der Deutung der Vergangenheit an die Hand gegeben werden, aus dem er mit Augenmaß Schlußfolgerungen für Gegenwart und Zukunft ziehen kann. Dr. Günter Roth
Brigadegeneral und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Die Voraussetzungen Einleitung: Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ...............................
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I. Die Ordnung von Versailles und ihre Schwächen .... .... ... ..................
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1. Vorbemerkung ............ . ...................................................
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2. Das neue Machtgefälle und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ........
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3. Kriegsziele ....................................................................
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4. Die Versailler Ordnung ......................................................
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5. Revisionspolitik ..............................................................
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H. Deutschland unter dem Nationalsozialismus...................................
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1. Vorbemerkung ................................................................
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2. Die nationalsozialistische Weltanschauung .................................
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3. Der Führerstaat ...............................................................
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4. Die Wehrmacht und der Weg in den Krieg ...... ...... .............. ......
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III. Das internationale System vor dem Krieg .....................................
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Literaturverzeichnis
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Personenregister ......................................................................
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Einleitung Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs Eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs hat viele Fragen zu beantworten, vor allem aber diese drei: Warum war der Zweite Weltkrieg möglich, wie verlief er und wie bildeten sich seine Folgen heraus? Damit ist in groben Zügen bereits die Einteilung dieser Arbeit umrissen. Ihr erster Teil beschäftigt sich mit den Voraussetzungen des Zweiten Weltkriegs, also mit der Frage, wie und warum es zum Krieg kam. Die beiden folgenden Teile haben einerseits der Frage nachzugehen, wie der Krieg verlief, wofür sich als naheliegendes Einteilungsprinzip das chronologische anbietet, so daß der zweite Teil dieser Untersuchungen sich mit dem europäischen Krieg von 1939 bis Ende 1941 befaßt, der dritte mit dem eigentlichen Weltkrieg ab Ende 1941. Andererseits erhält diese Einteilung aber auch eine innere Berechtigung, wenn man von der Frage ausgeht, wie sich die Folgen des Zweiten Weltkriegs herausbildeten. Den eigentlichen Wendepunkt des Krieges stellt ohne Zweifel der deutsche Rußlandfeldzug des Jahres 1941 dar. Man kann sich zwar mit einiger Glaubwürdigkeit auf den Standpunkt stellen, daß Deutschland nie eine Chance hatte, einen Weltkrieg zu gewinnen, auch nicht im Verein mit seinen Verbündeten. Der deutsche Generalstab hat das schon im Jahr 1938 so gesehen, und er sollte damit recht behalten. Dennoch liegt es auf der Hand, daß die Frage nach den Folgen des Krieges, oder genauerhin die Frage nach dem zukünftigen Schicksal Deutschlands, Europas und der Welt, bis zum Scheitern des deutschen Rußlandfeldzugs Ende 1941 noch offen war. Es wird später zu zeigen sein, wie die russischen Ereignisse auch in der Kriegszielplanung der Westmächte eine Wende herbeiführten. Die künftigen Folgen des Zweiten Weltkriegs bildeten sich tatsächlich erst seit Ende 1941 heraus, also in der Zeitspanne, welcher der dritte Teil dieser Untersuchungen gewidmet ist. Erst mit den Geschehnissen des Jahres 1941: der Selbstbehauptung Rußlands, die zur Grundlage für seine absehbare Siegerrolle wurde, dem offenkundigen Fehlschlagen von Hitlers Welteroberungsplänen, das Hitler übrigens selbst zugegeben hat, und schließlich der Ausweitung des Krieges zum Weltkrieg - erst mit diesen Dingen wurde der Weg frei für das, was aus dem Zweiten Weltkrieg am Ende hervorging, d. h. die politische Gestalt, welche Deutschland, Europa und die Welt fortan für fast ein halbes Jahrhundert erhalten sollten. Noch vor kurzem hätte man meinen können, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs dürfe schon deswegen besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, weil dort die Fundamente gelegt wurden für die politische Welt, in der wir leben.
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Einleitung
Die Folgen des Zweiten Weltkriegs waren das, was jeden mehr oder weniger unmittelbar betraf. Der Krieg, unstreitig eines der einschneidendsten Ereignisse der Neueren Geschichte, war gewissermaßen allgegenwärtig, seine Auswirkungen überall noch spürbar. Für den deutschen Nationalstaat war er die Katastrophe, und man darf wohl sagen, auch für das deutsche Selbstverständnis; den Völkern Europas und Asiens hat er schwerste Schäden zugefügt, die einst bestimmende Rolle Europas auf der Erde beendet, den alten Kontinent geteilt und eine völlig veränderte politische Ordnung der Welt herbeigeführt - eine Ordnung, in welcher zwei neue Supermächte überragende Bedeutung besaßen und die Herrschaft Europas über weite Teile der Erde, der Kolonialismus, beendet wurde. Gewiß ist in den Jahrzehnten seit dem Krieg die Entwicklung nicht stehengeblieben; manche Wunden vernarbten, die einstigen Verlierer erwiesen sich zumindest wirtschaftlich als überaus erfolgreich, was für die einstigen Sieger nicht im selben Maße zutraf, und mit dem Ende des Kolonialismus verschwand nicht auch schon der Gegensatz zwischen den fortgeschrittenen Ländern des europäischen Kulturkreises und anderen. Aber insgesamt schien es doch eine festgefügte Welt zu sein, eine Welt, die in den Folgen des Zweiten Weltkriegs gleichsam erstarrt war. Eben diese festgefügte Welt ist seit kurzem in Bewegung geraten. Vor den Augen des erstaunten Zeitgenossen vollzieht sich ein Umschwung, der zumindest den Ansatz in sich trägt, an die Stelle der internationalen Ordnung der Nachkriegszeit eine neue und ganz anders geartete zu setzen. Tut sich hier nicht die Hoffnung auf, über das Ende der ebenso widernatürlichen wie gewaltsamen Teilung Deutschlands hinaus auch die nicht minder widernatürliche und gewaltsame Teilung Europas zu überwinden und schließlich zu einem Zusammenleben der Völker zu gelangen, das nicht mehr von der Drohung mit der wechselseitigen Vernichtung geprägt ist? Sollte diese Hoffnung sich erfüllen, so wären die Folgen des Zweiten Weltkriegs allerdings überwunden, er wäre in der Tat "Geschichte", die in mittelbarer Weise natürlich immer noch nachwirkt, aber für die Gegenwart nicht mehr bestimmend ist. Muß eine solche Lage nicht auch Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg haben? Die Antwort wird verschieden ausfallen, je nachdem, unter welchem Gesichtswinkel man die Sache betrachtet. Es ist eine weit verbreitete Vorgehensweise der Geschichtsschreibung, den jeweils letzten Stand der Politik zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu machen. Das war schon früher so, wenn man beispielsweise meinte, die Gründung des kleindeutschen Reiches stelle die Erfüllung der deutschen Geschichte dar; und es war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht anders, als das Fiasko des Nationalsozialismus den Aufhänger abgab, nun auch rückwirkend nach vermeintlichen Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte zu suchen. Es bedarf keiner allzu großen Sehergabe, sich vorzustellen, wohin unter solchen Bedingungen die Geschichtsschreibung in Zukunft gelangen könnte. Falls die Wiedervereinigung Deutschlands den Auftakt bildet zu einer Entwicklung, durch welche auch die Teilung Europas und der Welt in ein feindliches
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Gegeneinander verschwindet, falls mit dieser Entwicklung eine auf Recht und Frieden gegründete Harmonie unter den Staaten und Völkern einkehrt, dann darf man sich getrost darauf einrichten, daß dies allerdings gewaltige Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung haben wird. Was namentlich die deutsche Geschichte betrifft, so wird eine Vielzahl von Deutungen des deutschen Problems hinfallig werden. Die verbreitete Ansicht, der Nationalstaat habe keine Zukunft mehr, schon gar nicht in der Mitte Europas, dürfte dann neu überdacht werden. Die sorgenvolle Frage des Handbuchs der deutschen Geschichte, ob mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht auch die deutsche Geschichte beendet sei, wird dann beantwortet sein: Die deutsche Geschichte geht weiter, sie hat über ein Jahrtausend lang Europa mitgeprägt, sie hat die gerade 12 Jahre des Nationalsozialismus und das knappe halbe Jahrhundert der Nachkriegszeit überstanden, und sie wird auch in Zukunft einen gewichtigen Beitrag zu den Geschicken Europas und der Welt leisten. Sollte sich die deutsche Geschichte in dieser Weise fortsetzen, so wird man vielleicht die Nachkriegsepoche einmal als eine Zeit des Übergangs betrachten, gewissermaßen als Talsohle, auf welche die deutsche Geschichte als Folge des Zweiten Weltkriegs stürzte, die sie aber wieder durchschritt. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs wird dann immer noch wichtig sein, sie wird indes nicht mehr den Dreh- und Angelpunkt des deutschen Selbstverständnisses darstellen. So mag es kommen. Ebensogut kann aber auch das Gegenteil eintreten. Die Nachkriegsordnung war stabil, soweit sie starr und verkrustet war. Ob mit der Aufweichung, am Ende gar Auflösung der Blöcke, mit dem Wiedererstehen Deutschlands als einer bedeutenden Größe wiederum eine stabile Ordnung sich ausbildet, bleibt abzuwarten. Sollte das nicht eintreten, sollte es zu weitreichenden Erschütterungen kommen, so kann man sich unschwer ausmalen, was geschehen wird: Es wird dann erst recht heißen, die deutsche Geschichte stelle seit langem einen Irrweg dar und alles Unheil der jüngeren Vergangenheit lasse sich auf die mißratene deutsche Geschichte zurückführen. Unter dem erkenntnislogischen Blickwinkel ist das augenscheinlich kein befriedigender Zustand. Die Historie sollte nicht wie ein Rohr im Winde schwanken und ihre Maßstäbe von den jeweils letzten Ereignissen herleiten. Wenn die Geschichtsschreibung zu fortwährend wechselnden Auffassungen gelangt, je nach den politischen Tagesereignissen, dann hat sie irgendetwas falsch gemacht; entweder war sie vorher nicht sorgfaltig und nicht unvoreingenommen genug, oder sie ist es danach nicht. Kehren wir von da aus noch einmal zu der vorhin aufgeworfenen Frage zurück, ob die Geschehnisse unserer Tage nicht auch Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg haben müssen, und zwar nunmehr unter dem erkenntnislogischen Gesichtswinkel. Die Frage stellen heißt dann, sie verneinen. Geschichte als Wissenschaft ist der Suche nach der Wahrheit verpflichtet und nur ihr; die Wahrheit bleibt bestehen, wenn auch die Politik sich ändert. Trotzdem läßt sich ein Bezug zu den gegenwärtigen
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Ereignissen herstellen. Man kann zwar darüber streiten, ob aus der Geschichte schon irgendjemand etwas gelernt hat oder auch nur lernen will. (Nebenbei bemerkt: Wenn die Geschichtsschreibung nur politischen Moden folgt, tut jeder gut daran, sie nicht als Lernhilfe zu benützen.) Aber unter der Voraussetzung, daß die Historie zuverlässige Erkenntnisse über die Vergangenheit bereitstellt, wäre durchaus vorstellbar, daß sie einen nützlichen Beitrag zur Bewältigung von Gegenwartsproblemen leistet: sei es, indem sie zeigt, wie die Gegenwartsprobleme entstanden sind und warum sie überhaupt entstehen konnten, oder sei es, indem sie zeigt, ob ähnliche Probleme wie in der Gegenwart schon einmal da waren und wie sie gelöst wurden oder woran ihre Lösung scheiterte. Ein solches Verfahren scheint hier möglich und angebracht zu sein. Dabei sind freilich erst einmal etliche wissenschaftliche Flurbereinigungen vorzunehmen. Wie das gemeint ist, wird man vielleicht am besten erläutern, wenn man wieder mit einem Beispiel aus den gegenwärtigen Ereignissen beginnt. Sofern nicht alles trügt, konnte das Überwinden der deutschen und europäischen Teilung nur deswegen in Gang gesetzt werden, weil es von Rußland zugelassen, möglicherweise sogar eingefädelt und bewußt gefördert wurde. Warum das geschah, wird man wahrscheinlich erst später genau wissen, aber man sollte diese Linie des deutsch-russischen Verhältnisses einmal nach rückwärts verfolgen, um zu sehen, daß Rußland während des 20. Jahrhunderts immer ein Schicksalsland der Deutschen war, weit mehr als Amerika, England oder Frankreich, das aus den Bahnen seiner jahrhundertealten Politik, die europäische Mitte schwach zu halten, kaum je herausgekommen ist. Schicksalsland der Deutschen war Rußland bei allen herausragenden Entscheidungen der deutschen und europäischen Politik im 20. Jahrhundert, von der gegenwärtigen Umwälzung über Stalins Angebot einer deutschen Wiedervereinigung von 1952 - um nach rückwärts voranzuschreiten - , über den deutsch-russischen Krieg 1941 bis 1945, der das künftige Los Ost- und Mitteleuropas entschied, sodann den Hitler-Stalin-Pakt von 1939, der die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges in die Wege leitete, die Auslösung des Ersten Weltkriegs, die von der russischen Haltung in der Juli-Krise 1914 maßgeblich bestimmt wurde, bis schließlich zu den Plänen der kaiserlichen deutschen Regierung vor und nach 1900, zusammen mit Rußland einen Kontinentalblock zu errichten. Schon im Jahr 1909 hat der damalige britische Außenminister Grey vorhergesagt, auf welche Weise der nächste Krieg (das war dann der Erste Weltkrieg) ausbrechen werde: durch einen Balkanstreit, in den Rußland hineingezogen werde, was zugleich verhindern werde, daß Rußland auf die deutsche Seite trete. Und damit war ein Generalthema des 20. Jahrhunderts angesprochen: Rußland und Deutschland zusammen besaßen und besitzen ein Wirtschafts-, Menschen- und Militärpotential, dem in Europa kein anderes gleichkommt und das auch darüber hinaus erhebliches Gewicht aufweist; die Vereinigung beider kann Europa führen oder beherrschen. Selbst ein Hitler hat in seiner abartigen Logik etwas ähnliches gedacht, wenn er meinte, durch die Eroberung
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und Unterjochung Rußlands die Grundlage für die Weltherrschaft zu gewinnen. Versuche, das Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands herbeizuführen oder zu verhindern, durchziehen das gesamte 20. Jahrhundert, von der Politik vor dem Ersten Weltkrieg und im Ersten Weltkrieg über die Versailler Friedensordnung, die Politik der Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg, die deutsche Teilung bis hin zu dem, was sich in der Gegenwart vollzieht: dem Versuch, die Teilung Deutschlands und Europas zu überwinden. Was folgt daraus? Es folgt daraus erstens, daß es an der Zeit ist, den Nebel der Vordergründigkeit, in welchen die Darstellung so vieler Ereignisse des 20. Jahrhunderts gehüllt ist, zu durchdringen. Mehr und mehr hat sich die Neigung herausgebildet, ausgehend von Teilen der Geschichtsschreibung, aber auch gefördert von einer aufgeregten und unkundigen journalistischen Meinungsmache, in Deutschland den Verantwortlichen zu sehen für alle großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Deutschland soll verantwortlich sein für den Ersten Weltkrieg, für die Zerstörung der Friedensordnung von Versailles, für den Zweiten Weltkrieg, letztlich auch für die Folgen des Zweiten Weltkriegs, und es soll schließlich mit der Teilung und territorialen Verstümmelung die verdiente Strafe erlitten haben. Mit einer solchen Betrachtungsweise wird Deutschland in eine Art Christus-Rolle gedrängt: Es nimmt alle Schuld der Welt auf sich, büßt dafür und erlöst so die Welt von dem Übel. Den Tatsachen wird das nirgendwo gerecht, schon deswegen nicht, weil Deutschland unter den anderen Mächten längst nicht so bedeutend war, wie es in seiner überdimensionalen Christus-Rolle erscheint. Um nicht mißverstanden zu werden: Keiner, der seine fünf Sinne beisammen hat, leugnet die Untaten der Nationalsozialisten und Hitlers Willen zum Krieg, aber allein an diesen beiden Sachverhalten läßt sich noch nicht die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 festmachen und schon vollends nicht das gesamte Weltgeschehen des 20. Jahrhunderts. Die Judenverfolgung war nicht bloß der rassische Vernichtungsfe1dzug, als welcher sie von den Nationalsozialisten verstanden wurde, sondern sie war auch eine Art stiller Bürgerkrieg gegen einen Teil des eigenen Volkes, den man übrigens in seinen grausamsten Erscheinungsformen vor dem Rest des Volkes möglichst geheim hielt. Das deutsche Volk war nie identisch mit dem Nationalsozialismus, sondern es wurde von den Nationalsozialisten mißbraucht, ebenso wie andere Diktaturen der Gegenwart ihre Völker mißbraucht haben. Niemand kommt auf die Idee, das russische Volk zu tadeln, weil es unter einer Diktatur litt, die viele Millionen Menschen umbringen und umkommen ließ. Aber auf den Deutschen, denen ähnliches widerfuhr, hackt jeder herum. Man vermißt die Gleichartigkeit der Beurteilungsmaßstäbe, oder man meint die Absicht zu wittern und ist verstimmt. Sodann war die deutsche Politik vor 1933 etwas vollständig anderes als die nationalsozialistische Politik. Die Behauptung, Deutschland habe in zwei Weltkriegen nach der Weltmacht gegriffen, stellt eine Kontinuität her, die es so nicht gegeben hat; das wird im einzelnen noch zu zeigen sein. Es geht nicht an,
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Deutschland in den Mittelpunkt des Weltgeschehens zu rücken und den Rest der Welt nur noch als Objekt deutscher Politik zu betrachten, sondern in seinem außenpolitischen und vielfach auch innenpolitischen Handeln war Deutschland eingebunden in einen internationalen Zusammenhang. Die zwischenstaatlichen Beziehungen gehören selbst zu den Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Politik zwischen 1933 und 1945. Wenn in der Geschichte des 20. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland sowie die Haltung anderer Mächte hierzu stets einen besonderen Stellenwert besaßen, so folgt daraus zweitens, daß es ganz unzureichend ist, bloß die Politik einzelner Staaten, insbesondere diejenige Deutschlands, ins Auge zu fassen. Die einzelnen Akteure auf der Bühne der internationalen Politik sind nie allein, ihr Handeln vollzieht sich stets im Wechselspiel mit dem Handeln anderer. Die Verhältnisse aller Akteure untereinander, namentlich der Großmächte, bilden ein System, in welchem die Aktionen einzelner zu Reaktionen anderer führen, die bis zu einem gewissen Grad berechenbar und vorhersagbar sind. Die Geschichte der Weltkriegsepoche ist deshalb in ihren außenpolitischen Teilen eine Geschichte aller Großmächte, und das waren bis 1945 immerhin sieben. Unter diesen sieben war Deutschland zu keiner Zeit die bedeutendste; die USA waren Deutschland nach ihrem Potential stets weit überlegen, und Rußland sowie Britannien kamen ihm zumindest nahe. Deutschland war bis in die Hitler-Zeit eine Macht unter anderen, vielleicht gelegentlich etwas unruhig, aber schon von seiner begrenzten Bevölkerungszahl und seiner nicht minder begrenzten Wirtschaftskraft her gar nicht in der Lage, unter regulären Bedingungen Europa zu erobern oder zu beherrschen, und die Welt erst recht nicht. Nach seinem tatsächlichen Einfluß auf die Gestalt der internationalen Beziehungen blieb Deutschland meistens hinter anderen Ländern zurück. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist auf weite Strecken gerade nicht von Deutschland geschrieben worden, sondern sie ist ihm von anderen vorgeschrieben worden. Erst Hitler fiel aus dem Rahmen der gängigen außenpolitischen Verhaltensweisen heraus, weil er ihre Voraussetzungen nicht begriffen hat oder nicht anerkannte. Aber auch das geschah geraume Zeit nicht in einem Freiraum einsamer Handlungsfähigkeit, sondern wurde durch das Verhalten anderer Länder ermöglicht und gefördert. Nicht einmal den Zweiten Weltkrieg hat Hitler-Deutschland allein auszulösen vermocht, sondern Rußland gab ihm dabei Hilfestellung. Wie es zum Zweiten Weltkrieg kam und worum es im Zweiten Weltkrieg ging, kann man nicht verstehen, wenn man nur von Deutschland und vom Nationalsozialismus spricht, sondern man muß vom internationalen System sprechen, und das erstreckte sich von Amerika über Europa und Rußland bis Japan. Für die Geschichte des Staatensystems in der Epoche der Weltkriege waren sodann, drittens, dessen innerer Aufbau und seine Wirkungsweise wesentlich. Die internationale Ordnung, welche als Folge des Zweiten Weltkriegs entstand, spiegelte zwar das tatsächlich bestehende Machtgefälle wider und trug insofern
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eine gewisse Folgerichtigkeit in sich, welche für geraume Zeit Stabilität garantierte. Doch waren die Konstruktionsgedanken dieser Ordnung merkwürdig uneinheitlich und widersprüchlich. Was sich während des ganzen 20. Jahrhunderts vollzog und noch vollzieht, ist ja eine epochale Umwandlung des Staatensystems, die in ihrem Endergebnis noch gar nicht völlig absehbar ist. Am Beginn dieses epochalen Umwandlungsvorgangs stand das alte europäische Mächtesystem, das jahrhundertelang Bestand hatte und dessen Ordnungsprinzip das Gleichgewicht war. Der Krieg stellte dort ein gebräuchliches Mittel des zwischenstaatlichen Verkehrs dar. Im 20. Jahrhundert wurde dieses europäische Mächtesystem durch ein Weltstaatensystem ersetzt, was mit der Suche nach einem neuen Ordnungsprinzip einherging. Als Ergebnis dieser Suche entstanden aus dem Ersten Weltkrieg heraus der Völkerbund und aus dem Zweiten die Vereinten Nationen, die beide auf dem Gedanken beruhten, die klassische Gleichgewichtspolitik, die ja im wesentlichen nichts anderes als militärische Machtpolitik ist, abzulösen und durch gemeinschaftliches, einvernehmliches Handeln aller Länder sowohl den Frieden als auch die allgemeine Wohlfahrt zu sichern. Den Krieg, jedenfalls den Angriffskrieg, schlossen der Völkerbund weitgehend und die Vereinten Nationen grundsätzlich aus. Dieser Gedanke der organisierten Völkergemeinschaftjenseits der militärischen Macht- und Gleichgewichtspolitik ist augenscheinlich der revolutionäre und zukunftweisende Ansatz des 20. Jahrhunderts für die Gestalt der Staatenbeziehungen. Folgerichtig durchgeführt wurde er freilich nach dem Zweiten Weltkrieg genauso wenig wie nach dem Ersten. Die organisierte Staatengemeinschaft sollte nach dem Willen der amerikanischen Präsidenten in beiden Weltkriegen unter der Führung und Aufsicht durch die USA stehen, was durchaus als brauchbare Lösung angesehen werden darf, da die USA die weitaus gewichtigste Macht der Erde darstellten und die Vielzahl der Einzelstaaten sicher leichter zu gemeinsamem Handeln zusammengeschlossen werden konnte, wenn eine überlegene Macht sie lenkte, als wenn sie alle kunterbunt wie auf einem Hühnerhof durcheinanderliefen. Nach dem Zweiten Weltkrieg vermochten indes die USA ihre Hegemonie nur über einen Teil der Welt zu errichten, während sie einen anderen Teil der russischen Hegemonie überlassen mußten. Daß dies so kommen werde, hat übrigens Präsident Roosevelt schon im Jahr 1943 vorhergesagt. Damit entstand in der Nachkriegsordnung neben der organisierten Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen, die verhältnismäßig wirkungslos blieb, erneut ein klassisches Gleichgewichtssystem, welches diesmal allerdings nur zwei (Super-)Mächte umfaßte, die ihrerseits wieder über hegemoniale Einflußräume verfügten. Auf der Nahtstelle dieser beiden Hegemonialräume, die man üblicherweise Blöcke nannte, stand Deutschland; das ist der Hintergrund der deutschen Teilung. Innerhalb der Hegemonialräume trat für viele abhängige Länder eine Souveränitätsminderung ein; sie mußten die Stationierung fremder Truppen auf ihrem Gebiet dulden und unterlagen jedenfalls im Ostblock einer Eingriffsgewalt der Führungsrnacht. Die Ordnung des Weltstaatensystems enthielt also zwei
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einander entgegengesetzte Ordnungsprinzipien; außerhalb des unmittelbaren Einzugsbereichs der beiden Blöcke hat sie den Frieden fast gar nicht gesichert, denn dort gab es Dutzende von Kriegen, und soweit sie den Frieden gesichert hat, nämlich in Europa, geschah dies nicht durch gemeinschaftliches Handeln der organisierten Staatengemeinschaft, sondern durch herkömmliche Macht- und Gleichgewichtspolitik, die durch die organisierte Staatengemeinschaft eigentlich überwunden werden sollte. Es liegt nun auf der Hand, daß durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Aufweichung oder Auflösung der Blöcke ein klassisches, auf militärischer Machtpolitik beruhendes Gleichgewichtssystem in Unordnung gerät. Was das bedeutet, versteht man leicht, wenn man sich an die vorhin genannte Äußerung des britischen Außenministers Grey von 1909 erinnert, der nächste Krieg, nämlich der Erste Weltkrieg, werde das Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands verhindern. Derartige Fragen des Gleichgewichts und der Konstellation der Großmächte waren die Ursache des Ersten Weltkriegs, nicht eine von irgendwelchen Schuldzuweisern erfundene Eroberungssucht Deutschlands. Man sieht, daß die Probleme der Gegenwart so neu gar nicht sind. Wie sie gelöst werden könnten, ist hier nicht zu erörtern; vielleicht bietet der Gedanke der organisierten Völkergemeinschaft ja doch einen Ausweg. Die Bemerkung sei aber erlaubt, daß dann auch ehemalige Verlierer wie Deutschland und Japan eine Rolle spielen müßten, die ihrem Potential angemessen ist, und daß man zumal Deutschland nicht in seiner Christus-Rolle belassen sollte. Die angemessene Behandlung Deutschlands ist nach dem Ersten Weltkrieg schon einmal hintertrieben worden und hat keine guten Ergebnisse erbracht. Wie auch immer, es zeigt sich jedenfalls, daß aus der Geschichte möglicherweise doch etwas zu lernen wäre, wenn man nur will. Oder um mit dem Philosophen zu sprechen (bzw. ihn abzuwandeln): Es besteht die Gelegenheit, nicht bloß weise für immer, sondern sogar klug für diesmal zu werden. Berücksichtigt man all dies, so kann man schließlich, viertens, die Folgerungen für die Anlage dieser Arbeit ziehen. Sie beschäftigt sich natürlich, wie eingangs erwähnt, mit den militärischen Abläufen des Zweiten Weltkriegs, die ja für das spätere Ergebnis bestimmend waren, mit einigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergründen der Kriegführung, und nicht zuletzt mit den politischen Entscheidungen, den Kriegszielen und den Auswirkungen auf das Weltstaatensystem. Was den vorliegenden ersten Teil betrifft, so greift er sehr weit zurück, bis in die Politik vor dem Ersten Weltkrieg. Das erklärt sich einmal daraus, daß man die Entwicklung des Weltstaatensystems nur verstehen kann, wenn man ihre Anfange kennt. Daß manches davon, so die Erörterungen über das deutschrussische Verhältnis und die Frage des Gleichgewichts, plötzlich Aktualität erhält, kommt überraschend, darf aber wohl als Beweis für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges gelten. Zum anderen erklärt sich jenes weite Zurückgreifen aus der Erwägung, daß man, um die Voraussetzungen des Zweiten Weltkriegs zu erfassen, nicht bloß auf Hitler und den Nationalsozialismus verweisen darf,
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sondern den Zustand des Mächtesystems und darin den Zustand einzelner Länder betrachten muß. Es wird öfters gesagt, daß die Epoche der Weltkriege etwas ähnliches wie ein neuer Dreißigjähriger Krieg sei, und in der Tat ist der Zweite Weltkrieg ohne den Ersten und seine Folgen schwer vorstellbar. Der Zweite Weltkrieg wäre wohl vermeidbar gewesen, wenn aus dem Ersten eine Friedensordnung hervorgegangen wäre, welche die Beteiligten gern mitgetragen hätten, doch war das eben nicht der Fall. Darüber hinaus ist die Auseinandersetzung über den Frieden während des Ersten Weltkriegs und danach in sich sehr aufschlußreich, weil hier zum ersten Mal das ungetrübte Modell einer Friedensordnung vorlag, die auf einvernehmlichem Handeln aller Länder, gegenseitiger Rücksichtnahme und umfassender Verständigung aufgebaut sein sollte - ein Ziel, das verfehlt wurde, das jedoch in seinem idealistischen Schwung und seiner abgewogenen Vernunft hohe Achtung verdient. Die Welt wird vielleicht darauf zurückkommen, wenn sich herumspricht, daß Egoismus und Gewalt heute kaum noch weiterführen. Das mag auch die Chance der gegenwärtigen Umwälzung sein. Kriege waren bislang immer Knotenpunkte in der Entwicklung der internationalen Beziehungen, die ein neues Ordnungsgefüge schufen. Die gegenwärtige Umwälzung könnte in dieser Hinsicht eine vergleichbare Bedeutung erlangen.
I. Die Ordnung von Versailles und ihre Schwächen 1. Vorbemerkung
Zur fonnellen Beendigung des Ersten Weltkriegs wurde am 18. Januar 1919 in Paris die Friedenskonferenz eröffnet und bis 1920 durch die sog. Pariser Vorortverträge mit den besiegten Kriegsgegnern abgeschlossen. Der wichtigste dieser Vorortverträge war zweifellos der Versailler Vertrag mit Deutschland, schon deswegen, weil er einen Kerngedanken der neuen Friedensregelung enthielt, die Errichtung des Völkerbundes. Die Friedensordnung der Pariser Konferenz kann daher auch als "System von Versailles" oder als Versailler Ordnung bezeichnet werden, ungeachtet der Tatsache, daß es bei ihr um sehr viel mehr ging als nur um den Friedensschluß mit Deutschland. 1 Diese Versailler Ordnung ist nun eine der merkwürdigsten Erscheinungen der Neuesten Geschichte. Als die Friedenskonferenz begann, wurden an sie die unterschiedlichsten Hoffnungen auf Gerechtigkeit, Selbstbestimmung oder bloß Machtgewinn geknüpft; als die Verträge geschlossen waren, stießen sie weithin auf Enttäuschung, Unzufriedenheit und Ablehnung. Rußland wurde in den Friedensschluß überhaupt nicht einbezogen; die USA verwarfen die Vorortverträge insgesamt; in Deutschland sah der sozialdemokratische Ministerpräsident Scheidemann die Hand verdorren, die den Versailler Vertrag unterzeichne; Frankreich begann alsbald mit dem Versuch, die Friedensregelung wiederum zu ändern, zu revidieren; Italien fühlte sich durch die Friedensordnung ebenso übervorteilt wie andere Länder; und der letzte der Pariser Vorortverträge, derjenige von Sevres mit der Türkei, trat gar nie in Kraft, weil er binnen kurzem durch eine Erhebung des türkischen Volkes und einen neuerlichen Krieg hinweggefegt wurde. 2 Daß die Versailler Ordnung weder dauerhaft noch tragfähig war, ist nicht erst eine Erkenntnis späterer Historiker; dasselbe wußten schon die Zeitgenossen. Lenin, der Gründer des Sowjetstaates, bezeichnete den Versailler Vertrag als ein 1 Die Pariser Vorortverträge waren im einzelnen: Versailles 28. Juni 1919 mit Deutschland; St. Germain 10. September 1919 mit Österreich; Neuilly 27. November 1919 mit Bulgarien; Trianon 4. Juni 1920 mit Ungarn; Sevres 10. August 1920 mit der Türkei. Der Versailler Vertrag mit der darin enthaltenen Völkerbundssatzung ist abgedruckt im Reichsgesetzblatt 1919,687 ff. Der Ausdruck "System von Versailles" ist im Schrifttum seit längerem üblich, vgl. Muralt, 19 ff.; G. Schulz, Revolutionen, 265 ff.; Nolte, Bewegungen, 44 ff. 2 Scheidemann vor der Nationalversammlung in Ursachen und Folgen III, 351 (12.5.1919). Allgemein zum Versailler System Th. Schieder, Handbuch VII; Propyläen Geschichte Europas, Bd. 6.
2 Raub, Zweiter Weltlcrieg 1. Teil
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I. Die Ordnung von Versailles und ihre Schwächen
"Musterbeispiel brutaler Gewaltmaßnahmen", mit dem die Alliierten ihr eigenes Verderben vorbereiten würden; er sei weitaus bestialischer und niederträchtiger als der vorhergegangene Friede von Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten und Rußland. Der amerikanische Außenminister Lansing führte im Mai 1919 Gespräche mit britischen Politikern und stellte dabei Einigkeit fest, daß der Versailler Vertrag unklug und undurchführbar sei und eher Kriege hervorrufen als verhindern werde. Lansings eigene Meinung ging dahin, daß in dem Vertrag nur das Recht des Stärkeren zum Ausdruck komme, die Kriegsbeute verteilt werde, und daß der Völkerbund, der ohnedies nicht viel tauge, kein Ausgleich für einen derart ungerechten und unerträglichen Vertrag sei. Die Reparationen bezeichnete er als Plan zur Versklavung eines Volkes und als schlichte Verrücktheit. Ähnlich äußerte sich Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, kurz nach Bekanntwerden der Bedingungen des Versailler Diktatfriedens. Die deutsche Regierung, so sagte er, werde den Vertrag unterschreiben, aber die Unterschrift sei im Grunde wertlos, denn der Vertrag sei unerfüllbar. Deutschland sei in der Lage eines Bankrotteurs, der kein Interesse daran habe, seine Schulden abzutragen; es werde nur einen geringfügigen Betrag zahlen, und seine innere Lage werde es zum Zusammenbruch treiben. Aber nach einer Zeit des Niedergangs werde Deutschland sich wieder erholen und dann den Revanchekrieg führen. Der bekannte britische Wirtschaftswissenschaftler John M. Keynes, Mitglied der britischen Friedensdelegation, griff in einer Schrift von 1919 die Unsinnigkeit der wirtschaftlichen Bestimmungen des Versailler Vertrags an, den er für unmoralisch und undurchführbar erklärte. Der italienische Ministerpräsident Francesco Nitti bezeichnete 1921 den Frieden als eine Täuschung, die neue, noch schlimmere Kriege vorbereite; deswegen sprach Nitti vom "friedlosen Europa" . Der spätere Ministerpräsident von Südafrika, J an Smuts, nannte 1919 den Versailler Vertrag einen Kriegsvertrag, nicht einen Friedensvertrag. Ähnlich sprach sich der niederländische Diplomat van Swinderen aus, der im Versailler Vertrag alle Keime eines "gerechten und dauerhaften Krieges" enthalten sah. Ein Vertrauter des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und Teilnehmer an der Friedenskonferenz, William C. Bullitt, reichte im Mai 1919 seinen Rücktritt ein mit der Begründung, er sei einer der Millionen, die ihre Hoffnung auf einen gerechten und dauerhaften Frieden gesetzt hätten. Die Grundsätze eines solchen Friedens seien jedoch mißachtet worden in Hinblick auf Rußland, Schantung, Südtirol, Thrazien, das Saargebiet, Ungarn, Ostpreußen, Danzig und die Freiheit der Meere. Daraus werde "ein neues Jahrhundert Krieg" folgen, und der Völkerbund sei außerstande, es zu verhindern. Ein britisches Delegationsmitglied, Harold Nicolson, schrieb über sich und seine Gesinnungsgenossen: "Wir kamen nach Paris in der festen Zuversicht, daß eine neue Ordnung im Entstehen sei; wir verließen Paris mit der Überzeugung, daß die neue Ordnung lediglich die alte nur noch mehr verdorben hatte ... Wir kamen mit dem Entschluß, einen Frieden der Gerechtigkeit und Weisheit zustande zu bringen; wir gingen mit dem Bewußtsein, daß die Verträge, die unseren Gegnern aufgezwungen wurden, weder gerecht
1. Vorbemerkung
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noch weise waren. Wer etwa selber die Kluft nachmessen will, die zwischen Absicht und Ergebnis klaffte, dem möchte ich empfehlen, die verschiedenen Noten zu lesen, die die deutsche Delegation in Versailles an den Obersten Rat richtete . . . Man kann die kritischen Darlegungen der Deutschen unmöglich lesen, ohne zu dem Eindruck zu kommen, daß die Pariser Konferenz in voller Absicht unter dem Deckmantel des Wilsonismus einen imperialistischen Frieden in die Welt gesetzt hat und daß sich selten in der Geschichte der Menschheit soviel Rachsucht in soviel salbungsvolle Sophistik gekleidet hat."3 An solche Dinge zu erinnern heißt keineswegs, neuen Wein in alte Schläuche gießen. Europäische Friedensschlüsse waren seit Jahrhunderten die Grundlage der europäischen Staatenordnung, und auf einer untauglichen Grundlage ließ sich schwerlich ein gedeihliches Zusammenleben der Völker organisieren. Als am 16. Juni 1919 der deutschen Delegation in Form eines Ultimatums derendgültige Friedensvertrag zugeleitet wurde, da wurde ihm eine Mantelnote beigegeben, welche in ausgesprochen gehässiger Form dem Deutschen Reich die Kriegsschuld aufbürdete. Ausgearbeitet hatte diese Mantelnote der Sekretär des britischen Premierministers Lloyd George, Philipp Kerr. Derselbe Kerr erklärte 1937 vor dem Royal Institute of International Affairs: "Der Versailler Vertrag gründete sich auf die Theorie von Deutschlands Alleinschuld am Weltkriege. Ich glaube, niemand, der die Vorgeschichte des Krieges ernsthaft studiert hat, kann diese Ansicht sachlich begründet heute aufrechterhalten . . . Am Ende des Krieges jedoch hatten wir uns eingeredet, daß Deutschland allein an dem Unglück schuld sei. Diese Überzeugung war das Ergebnis von Meinungen, die wir uns auf Grund eines sehr unzureichenden Materials, ergänzt durch die Propaganda der Kriegszeit, gebildet hatten. Das Wesen der Kriegspropaganda aber bestand darin, die Einigkeit und Moral der eigenen Landsleute aufrechtzuerhalten durch den Nachweis, daß wir völlig recht, der Feind aber völlig unrecht habe. Auf diesem Grundsatz war der Versailler Vertrag aufgebaut."4 War das notwendig? Die deutsche Delegation in Versailles hatte vorgeschlagen, die Schuldfrage durch eine neutrale Untersuchungskommission klären zu lassen, was jedoch nur zu einer Verschärfung der Vorwürfe geführt hatte. Es ist nicht damit getan, dies auf die erhitzte Stimmung nach dem Krieg zurückzuführen. Präsident Wilson hatte bei einem Gespräch mit einem späteren Mitarbeiter im März 1917, noch vor dem amerikanischen Kriegseintritt, festgestellt, die amerikanische Kriegserklärung würde bedeuten, daß es einen diktierten Frieden der 3 Zu Lenin dessen Werke, Bd.30 (Ostberlin 1961), 269; Bd.28 (Ostberlin 1959), 155; Bd. 22 (Ostberlin 1960), 195. Ferner, in der Reihenfolge der angeführten Äußerungen, Hubrich, 141 ff.; dazu Lansing, 202 ff. Köhler, 106. Keynes, Consequences. Nitti, Europa. Smuts, Papers IV, 186,208. Howard of Penrith, Theatre 11, 375. FRUS, Paris Peace Conference, Bd. 11, 573 f. Nico1son, 181 f. Insgesamt hierzu auch Baumgart, Völkerbund, 110 f., 125 ff., 133. A. J. Mayer, Peacemaking, 753 ff. 4 Die alliierte Mantelnote in Urkunden zum Friedensvertrage I, 555 ff. Kerr zitiert bei Berber, Völkerrecht 11, 20, Anm. 2. Ferner Dickmann, Kriegsschuldfrage. 2·
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Sieger geben würde - genau was die Alliierten wollten und wogegen er, Wilson, angekämpft hätte. Hier eröffnen sich augenscheinlich Tiefendimensionen, die erst noch ausgelotet werden müssen. Worum ging es denn in dem Krieg überhaupt? Gab es denn jemals eine Chance, zu einem Frieden des Ausgleichs und der Mäßigung zu gelangen? Worum bemühte sich Wilson, wenn er wußte, daß seine ursprüngliche Vorstellung eines Friedens ohne Sieger und Besiegte nicht erreichbar war? 5 Man hat gelegentlich gesagt, der Friedensschluß sei im 20. Jahrhundert zur "verlorenen Kunst" geworden. Das galt bereits für die Errichtung des Systems von Versailles, und es setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort, als zunächst mit Deutschland und anschließend in Dutzenden weiterer Fälle gar kein Frieden mehr geschlossen wurde. Mit einem einzigen Land allein kann das nichts zu tun haben. Sondern hier muß sich ein Umsturz in der Ordnung der Staatenwelt selbst vollzogen haben. Der Verdacht drängt sich auf, daß es bei der so nachdrücklich vertretenen Kriegsschuldthese des Ersten Weltkriegs nicht darum ging, den wirklich Schuldigen dingfest zu machen, sondern eine Rechtfertigung zu konstruieren für neuartige Gestaltungsprinzipien des internationalen Systems. Europäische Friedensschlüsse der vergangenen Jahrhunderte waren eine Angelegenheit souveräner Staaten untereinander gewesen, bei denen eine freie Entscheidung zum Krieg als selbstverständlich unterstellt wurde, so daß sich eine Kriegsschuldfrage in dieser verschärften Form gar nicht stellen konnte. Mit dem Völkerbund dagegen trat eine ganz andere Grundlage der Staatenbeziehungen in den Vordergrund. Es wurde damit eine internationale Ordnung nicht mehr im Kreis der souveränen Einzelstaaten errichtet, sondern über ihnen. Der Völkerbund, der wenigstens seiner Idee nach weltumspannend sein sollte, machte den Krieg nicht mehr zu einem Austrag von Gegensätzen souveräner Staaten untereinander, sondern zu einer Angelegenheit der Weltinnenpolitik. In der Innenpolitik aber gibt es keinen Aufeinanderprall von Souveränitäten, sondern allenfalls die Auflehnung gegen die eine Souveränität, die dann auch kriminalisierbar ist. Sollte es Zufall gewesen sein, daß erstmals im amerikanischen Bürgerkrieg sowie in den britischen Kriegen gegen die südafrikanischen Buren 1880/81 und 1899/1902 die siegreiche Partei Kriegsverbrecherprozesse durchführen ließ? Beide Fälle wurden als innere Auseinandersetzungen verstanden, in denen der klassische Souveränitätsbegriff keine Anwendung finden konnte. Die Entwicklung, die nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg weiter fort, als die Satzung der Vereinten Nationen ein allgemeines Gewaltverbot aussprach und damit der Angriffskrieg völkerrechtlich zum Verbrechen wurde. Der klassische Souveränitätsbegriff war auf diese Weise vollständig ausgehöhlt. In einer derart gestalteten internationalen Ordnung findet aber auch der Friedensschluß keinen rechten Platz mehr. Er ist weniger eine verlorene Kunst als vielmehr das Merkmal 5 Wilson 1917 bei A. S. Link, Wilson V, 398 f. Wilsons Formel vom Frieden ohne Sieg in seiner Rede an den amerikanischen Senat vom 22.1.1917; A. S. Link, Wilson
V, 264 ff.
2. Das neue MachtgefäIle und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs
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einer untergegangenen Form der Staatenbeziehungen. Als der Krieg noch ein zulässiges Mittel der Politik bildete, versicherten sich die beteiligten Streitparteien im Friedensschluß ihrer gleichartigen Stellung im Recht. Mit dem allgemeinen Gewaltverbot entfallt diese gleichartige Stellung im Recht; eine von beiden Seiten muß notwendigerweise der Angreifer sein und demzufolge verbrecherisch handeln. Da die Durchsetzung des allgemeinen Gewaltverbots nicht gewährleistet ist, schwindet zwar nicht der Krieg, aber es schwindet der Friedensschluß als diejenige Formalität, mit welcher im alten Staatensystem souveräne Staaten ihre geregelten Beziehungen wiederherstellten. 6 Die Geschichte der Weltkriege wird so unversehens zu einer Verfassungsgeschichte des internationalen Systems. Die Versailler Ordnung war deswegen so unvollkommen, weil in ihr verschiedene Gestaltungsprinzipien miteinander rangen, die auf keinen einheitlichen Nenner gebracht werden konnten. Diese Ordnung suchte den Gedanken der klassischen Souveränität mit dem Gedanken einer internationalen Ordnung jenseits der klassischen Souveränität zu verknüpfen und wurde am Ende keinem von beiden gerecht. Die Verlierer des Ersten Weltkriegs gerieten in die Mühle dieser ungelösten Gegensätze, sie fühlten sich als deren Opfer und fanden sich später mit Siegern des Krieges zusammen in dem Wunsch, die Versailler Ordnung zu überwinden. Da diese Ordnung nur von wenigen gestützt und schließlich von allen verlassen wurde, erfüllten sich die Prophezeiungen aus der Zeit der Pariser Konferenz: Dem Ersten Weltkrieg folgte der Zweite. Man kann das in einem vordergründigen Sinn auf die Schwächen und Unzulänglichkeiten der Versailler Ordnung zurückführen, es steckt aber doch noch mehr dahinter. Die Versailler Ordnung stellte selbst nur einen Zwischenschritt dar in der Umwandlung des internationalen Machtgefüges - einen Zwischenschritt, der diesem Machtgefüge keine angemessene Form gab, sondern ihm eine künstliche Verfassung überzustülpen versuchte. Die Umwandlung dieses Machtgefüges aber hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnen, sie war der eigentliche Grund für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie in eine halbwegs dauerhafte Form gegossen. Die Versailler Ordnung und ihr Schicksal sind deshalb nur dann zu verstehen, wenn man auch ihre Vorgeschichte aufhellt.
2. Das neue Machtgefälle und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs Im Jahr 1790 schrieb der in Paris als Korrespondent für den Zarenhof tätige Deutsche Melchior von Grimm über Perspektiven der zukünftigen Entwicklung: ,,zwei Reiche werden dann alle Vorteile des Geistes, der Wissenschaften, Künste, Waffen und Industrie unter sich teilen: Rußland von der östlichen Seite und Amerika, in unseren Tagen frei geworden, auf der westlichen, und wir anderen 6 Hentig, Friedensschluß. Kimminich, Völkerrecht. Ders., Entwicklungstendenzen. Schwengler, 54 f. Wright, Hostilities.
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Völker des Kerns Europas, wir werden zu degradiert, zu erniedrigt sein, um anderes zu wissen als durch eine vage und stupide Tradition das, was wir gewesen sind". Ein Jahrhundert später begann sich allmählich die Richtigkeit dieser Vorhersage abzuzeichnen. Der Nationalökonom und Historiker Gustav Schmoller brachte im Jahr 1900 eine in einschlägigen Fachkreisen verbreitete Vorstellung auf eine knappe Formel, als er von einem ganz neuen, politisch-wirtschaftlichen Staatensystem sprach, das die drei riesenhaften Weltreiche USA, Rußland und Großbritannien umfasse. Mit seiner expansiven Kraft drohe es alle anderen, kleineren Staaten herabzudrücken, wirtschaftlich einzuschnüren und ihnen das Lebenslicht auszublasen. 7 Schmoller stellte damit fest, daß sich über der Gruppe der Großmächte, die bis dahin das politische Schicksal Europas und weitgehend auch der Erde bestimmt hatten, eine Klasse von einigen wenigen Weltmächten ausformte. Das galt jedenfalls für Amerika und Rußland, und für sie in verschiedener Hinsicht. Den kleinräumigen europäischen Staatsgebilden an Ausdehnung und natürlichen Reichtümern weit überlegen, besaßen die beiden Kolosse USA und Rußland die strategischen Vorteile eines weiträumigen Gebietes in günstiger militärgeographischer Lage. Von daher waren sie auch den europäischen Kolonialmächten überlegen, insbesondere dem britischen Weltreich. Das Empire umfaßte zwar die größte Fläche und Bevölkerungszahl aller Weltreiche, doch zeichnete sich bereits ab, daß die einzelnen Teile dieses über den ganzen Erdball verstreuten Seereiches nicht auf die Dauer zusammengehalten werden konnten. Wie sich früher die amerikanischen Kolonien verselbständigt hatten, so begannen nun die restlichen weißen Siedlungskolonien aus dem Reichsverband herauszuwachsen, und selbst in Indien, dem Juwel in der britischen Krone, machte sich eine Nationalbewegung bemerkbar. Daß das britische Mutterland dem langfristig Einhalt gebieten könne, war umso unwahrscheinlicher, als es bereits Anzeichen eines bedenklichen Kräfteverfalls erkennen ließ. War Großbritannien seit dem 18. Jahrhundert die wirtschaftlich führende Nation gewesen, so zeigte es sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert dem Wettbewerb mit anderen Ländern nicht mehr gewachsen. Die wirtschaftliche Umwälzung, die man gemeinhin Industrialisierung nennt und die regelmäßig ein starkes Anwachsen der Bevölkerung nach sich zieht, hatte unterdessen auch von anderen Ländern Besitz ergriffen und eine Änderung des Machtgefälles herbeigeführt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Wirtschaftsleistung (Sozialprodukt) pro Kopf der Bevölkerung in Großbritannien und Frankreich noch am stärksten gestiegen. In den Jahrzehnten um 1900 dagegen fielen beide Länder zurück; statt dessen schoben sich bei der Zunahme des ProKopf-Produkts nun die USA, Japan und Deutschland an die Spitze. Zur selben Zeit erreichte die russische Industrieerzeugung die höchsten jährlichen Zuwachsraten in der Welt. Ähnlich verlief die Bevölkerungsentwicklung. Die weitaus 7 Melchior von Grimm zit. bei Hölzle, Rußland, 45, 260. Schmoller, Wandlungen, 380. F. Fischer, Krieg, 72 ff. Hillgruber, Bismarck, 165.
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stärkste Vennehrung zeigte sich zwischen 1871 und 1914 in den USA, es folgten Rußland, Japan und Deutschland, während das britische Mutterland und Frankreich weit zurückblieben. g Dies führte zu einer völlig neuen Kräfteverteilung auf der Erde. Britanniens Anteil an der Weltindustrieproduktion, der 1870 ein Drittel und 1900 ein Fünftel betragen hatte, sank bis 1913 auf ein Siebtel. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren die USA bereits die weitaus stärkste Wirtschaftsrnacht der Erde. Amerikas Erzeugung von Kohle, Eisen und Stahl überstieg bei weitem diejenige jedes anderen Landes; es stellte jetzt ein Drittel aller Industriewaren der Welt her. In der Rangfolge der Wirtschaftsrnächte besetzte Deutschland den zweiten Platz, doch betrug sein Sozialprodukt nur ungefähr ein Drittel des amerikanischen. Immerhin hatte das Deutsche Reich mittlerweile Britannien überflügelt, auch wenn dieses noch die bedeutendste Handelsnation blieb. Der britische Anteil am Welthandel betrug 1913 rund 15 %, der deutsche 13 % und der amerikanische 11 %. War unter den Großmächten Amerika wirtschaftlich am stärksten, so war es bei der Bevölkerung Rußland. Mit 165 Millionen Einwohnern stand das Zarenreich weit an der Spitze, gefolgt von den USA mit rund 100 Millionen, während die anderen mehr oder weniger weit dahinter zurückblieben. 9 Diese neue Kräfteverteilung änderte zugleich das Staatensystem. Seit dem Beginn der Ausbreitung Europas über die Erde im 16. Jahrhundert hatte Europa gewissennaßen den Mittelpunkt der Weltpolitik gebildet. Auf den beiden großen Friedenskongressen von Utrecht 1712/13 und Wien 1814/15 war die Ordnung des europäischen Staatensystems festgelegt worden. Sie beruhte in beiden Fällen auf dem Gedanken des Gleichgewichts, d. h. die Ordnung der Staatenwelt sollte in der Weise zur Wirkung kommen, daß Europa nicht von einem einzelnen Staat oder einer Staatengruppe beherrscht werden konnte. Der Besitzstand der Mächte wurde insofern anerkannt, als er diesem Zweck nicht widersprach. Kriege wurden dabei nicht ausgeschlossen und fanden auch immer wieder statt; sie waren mit der europäischen Ordnung verträglich, wenn sie nicht deren Umsturz zum Ziel hatten. Die Gründung des kleindeutschen Reiches durch Bismarck beispielsweise hielt sich in diesem Rahmen trotz dreier Kriege. Dabei war der Umstand nicht bedeutungslos, daß die europäischen Flügelrnächte Rußland, Frankreich und England auch im 19. Jahrhundert wie in früheren Zeiten ihre Ausdehnungs- und Kolonialpolitik weiter fortsetzten, so daß sie gegenüber der mitteleuropäischen Machtverdichtung ihrerseits einen Ausgleich gewannen. Im Zuge dieser Ausdehnungspolitik stieß Rußland um die Jahrhundertwende auf das fernöstliche Kaiserreich Japan, das unter dem Druck der westlichen Kolonialmächte eine stünnische innere Umgestaltung eingeleitet und sich selbst zu einer imperialistischen Macht entwickelt hatte. Durch den Krieg von 1904/05 vertrieb Japan die Russen aus Kuznets, 38 ff. Flora, Indikatoren, 22. Propyläen Europa V, 433. Cipolla / Borchardt IV, 454 f. W. Fischer, Geschichte 11, 12. Ders., Weltwirtschaft, 26 f., 87. Etwas abweichend Bairoch, 296, 304. Ferner Schieder, Handbuch VI, 11. g
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der (chinesischen) Mandschurei; schon 1894/95 hatte Japan durch einen Krieg gegen China dessen Oberhoheit über Korea beseitigt, das dann 1910 annektiert wurde. Der Abschluß eines Bündnisvertrages mit England 1902 war sichtbarer Ausdruck, daß Japan nun den anderen westlichen Großmächten ebenbürtig geworden war. Wiewohl Rußland infolge der Niederlage gegen Japan einen inneren Umsturz erlebte, war doch sein Potential als Weltmacht dadurch nicht geschwächt worden; die außenpolitische Bedeutung dieser Ereignisse lag vielmehr auf anderem Gebiet. Zum einen machte der Aufstieg Japans zu einer Art Vormachtstellung in Ostasien deutlich, daß Europa jetzt nicht mehr den alleinigen Mittelpunkt der Weltpolitik bildete und daß die Formel vom europäischen Gleichgewicht allein nicht mehr ausreichte, als Grundlage der weltweiten internationalen Beziehungen zu dienen. Zum zweiten zeigte sich hier, daß die Ausbreitung Europas über die Erde an ihre Grenzen stieß und daß nun die außereuropäische Welt begann, selbst auf Europa zurückzuwirken. So vollzog Rußland, als seine Ausdehnung in Ostasien blockiert war, eine Rückwendung nach Europa, indem es auf die alte Stoßrichtung seiner Hegemonialpolitik, den Balkan, zurückkam; der Panslawismus des 19. Jahrhunderts erlebte als Neoslawismus eine Neuauflage. Eine ähnliche Rückwendung nach Europa ist auch bei anderen Mächten zu beobachten. Europa war nach der Entstehung des italienischen und des kleindeutschen Nationalstaats zunächst ein verhältnismäßig befriedeter Kontinent gewesen; lediglich der Balkan blieb das herausragende Unruhe zentrum, das die Interessen der Mächte immer wieder aufeinanderprallen ließ. Bismarck, seit den 1870er Jahren gewissermaßen der Regisseur des europäischen Gleichgewichts, verstand es, Frankreich isoliert zu halten und die an sich schon bestehenden Gegensätze zwischen Rußland und Österreich auf dem Balkan zu überbrücken. Das Bündnis mit Österreich 1879, das 1882 zum Dreibund mit Italien erweitert wurde, sollte einerseits das Entstehen einer übermächtigen Koalition gegen das Reich verhindern und andererseits die russische Angriffslust zügeln; auch eine Annäherung Englands an das deutsch-österreichische Bündnis wurde in Rechnung gestellt. Als mit Bismarcks Rücktritt 1890 sein kunstvolles, um nicht zu sagen künstliches Friedenserhaltungssystem hinfallig wurde, schlossen sich zwar Rußland und Frankreich 1892/94 im Zweibund zusammen. Doch bedeutete dies noch keine unmittelbare Bedrohung der Mittelmächte; die weltpolitischen Gegensätze zwischen Rußland und Frankreich einerseits sowie Großbritannien andererseits waren zu dieser Zeit noch stärker. Der russisch-französische Zweibund sollte vielmehr beide Länder aus ihrer Isolierung herausführen und enthielt zugleich eine Spitze gegen England; bei möglichen Auseinandersetzungen mit diesem sollten die militärischen Vereinbarungen gegen die Mittelmächte deren Neutralität sichern. Um die Jahrhundertwende trafen Frankreich und Rußland sogar militärische Abmachungen gegen England. Dahinter standen die kolonialen Streitigkeiten zwischen Großbritannien und Frankreich, die 1898 zu einem Zusammenstoß bei Faschoda in Nordafrika führten, sowie der Gegensatz zwischen Rußland und England in Asien, der dann zum englischen Bündnis mit Japan führte. Nach der
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lahrhundertwende jedoch trat hierin ein grundlegender Wandel ein. Durch die britische Entente mit Frankreich 1904, formell ein Abkommen ohne Bündnischarakter, sowie diejenige mit Rußland 1907 wurden zwar vordergründig nur Vereinbarungen über außereuropäische Gebiete getroffen, teils in Afrika, teils in Asien, doch beinhalteten beide Ententen in Wahrheit ein engeres Zusammenrücken der drei Mächte in Europa. Zumal England leitete nun eine Neuorientierung ein, indem es die bislang beobachtete Politik der "splendid isolation" aufgab. Die beiden Ententen wurden in Deutschland als Beginn der Einkreisung betrachtet; zugleich machten sie Europa wieder zum Spannungsherd der Weltpolitik. Über die Entente mit Frankreich sagte der vormalige britische Außenminister und Premier Lord Rosebery: "Dieser Vertrag bedeutet letzten Endes den Krieg mit Deutschland". Wie konnte es dazu kommen? 10 Die Ursachen sind vielschichtig, liegen aber zum Teil im Aufstieg der neuen Weltmächte USA und Rußland und zum Teil in der Reaktion anderer Länder hierauf. Anders als bei Rußland blieb zwar der unmittelbare Einfluß der USA auf die Weltpolitik zunächst noch gering. Trotzdem war absehbar, daß das nicht dauerhaft so bleiben würde und daß vor allem die wachsende Wirtschaftskraft Amerikas in Rechnung gestellt werden müsse. Eine Grundlage der amerikanischen Außenpolitik war die sog. Monroe-Doktrin von 1823, eine Botschaft des Präsidenten an den Kongreß, die als programmatische Absichtserklärung der Regierung zum Vorbild wurde für zukünftige Festlegungen der amerikanischen Außenpolitik. In der Monroe-Doktrin wurde der prinzipielle Unterschied zwischen der politischen Verfassung europäischer Länder und derjenigen amerikanischer Republiken auf dem Doppelkontinent hervorgehoben und zugleich erklärt, die USA betrachteten jeden Versuch europäischer Mächte, ihre Herrschaftsordnung auf die amerikanische Hemisphäre auszudehnen, als Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit. Damit war die amerikanische Hemisphäre aus den Bereichen europäischer Politik ausgegrenzt, sie war zu einem Gebiet eigener Gestaltung und eigentümlicher Vollkommenheit erhoben worden, über welches zugleich die USA einen Führungsanspruch anmeldeten. In dieser Hemisphäre verhielten sich die USA nicht wesentlich anders als die europäischen Mächte in sonstigen Weltgegenden. Sie dehnten sich, ähnlich wie vordem Rußland in Sibirien, quer über einen Kontinent hinweg aus, kolonisierten und besiedelten unerschlossenes Land, entrissen Mexiko einen Großteil seines Gebietes und entfalteten, nachdem die kontinentale Ausdehnung abgeschlossen war, einen regelrechten Imperialismus außerhalb ihres Staates. Als im Anschluß an einen Aufstand in der spanischen Kolonie Kuba ein Krieg mit Spanien ausbrach, nützten die USA den leicht errungenen Sieg aus, um im Pazifik die ehedem spanischen Philippinen und Guam sowie Hawaii zu erwerben, dazu in der Karibik Puerto Rico, während 10 Zum deutsch-österreichischen Bündnis GP 3, 455 ff., 461 ff., 477 ff. Rosebery bei Lloyd George, Memoirs I, 1. Dazu die deutsche Übersetzung: Lloyd George, Mein Anteil am Weltkrieg, 3 Bde, Berlin 1933-36, Bd. I, 4. Zur Auffassung Roseberys ferner Reifeid, 147. Ansonsten Hölzle, Selbstentmachtung, 91 ff., 121 ff., 130.
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Kuba praktisch zum Protektorat wurde. Dieser offene Kolonialismus bildete indes nicht die Hauptlinie der amerikanischen Außenpolitik. Weit wichtiger war der Gedanke, durch Ausweitung des Handels eine mittelbare Führungsstellung zu gewinnen, die sich auf wirtschaftliche Überlegenheit gründete. Einer der frühesten Vertreter dieser Auffassung war Außenminister Seward in den 1860er Jahren, der sein Augenmerk vor allem auf den Pazifik richtete, wo England durch die USA als führende Handelsnation abgelöst werden sollte. Schon vorher hatte das amerikanische Vordringen in den Pazifik weltgeschichtliche Wirkungen ausgelöst, als 1853 ein amerikanisches Geschwader unter Kommodore Perry den Auftrag erhielt, die seit dem 17. Jahrhundert bestehende strenge Abschließung Japans zu brechen und das Land dem Handel zu öffnen. Dies wurde zum Auslöser für die innere Umgestaltung Japans, die es bald zu einem ernsthaften Wettbewerber Amerikas machte. Naturgemäß richtete sich die japanische Politik vor allem auf China, das für die japanische Wirtschaft nahezu unverzichtbar war, indem es Rohstoffe lieferte und industrielle Fertigwaren abnahm. Als Japan nach dem Krieg gegen China 1895 Formosa und die Halbinsel Liao-tung in der Mandschurei sowie Handelsvorteile gewann, rief dies alsbald die anderen Mächte auf den Plan, die während des 19. Jahrhunderts teils in den Chinahandel eingedrungen waren (so England, Frankreich und die USA), teils chinesische Gebietsteile an sich gebracht hatten (so Rußland). Nach diplomatischem Eingreifen Rußlands, Frankreichs und Deutschlands mußte Japan Liao-tung wieder herausgeben, während umgekehrt Rußland, Deutschland, Frankreich und England chinesische Gebiete pachteten, um strategische oder Handelsstützpunkte zu gewinnen. An diesem ostasiatischen Brennpunkt der Weltpolitik meldeten nun auch die USA ihre Mitsprache an, die über den älteren europäischen Kolonialismus bereits hinauswies. In den Jahren 1899/ 1900 verlangten sie sowohl die Erhaltung der staatlichen Einheit Chinas, d. h. einen Verzicht auf weitergehende Aufteilungspläne, als auch den freien und gleichen Zugang aller Länder zum Handel mit China. II Mit der Forderung nach gleichem und unparteiischem Handelsverkehr war erstmals das Prinzip der "offenen Tür" formell niedergelegt worden, das fortan eine Leitlinie der amerikanischen Außenpolitik bildete. Der Gedanke war an sich nicht neu und war bis dahin fallweise auch von anderen Mächten angewandt worden. Seine besondere Bedeutung erhielt er hier aber dadurch, daß die USA mittels einseitiger Willenserklärung einen Damm gegen die koloniale Landnahme anderer Mächte errichteten, auf diese Weise gewissermaßen die amerikanische Hemisphäre als Geltungsbereich der Monroe-Doktrin erweiterten und an die Stelle unmittelbarer Herrschaft andere Formen der Einflußnahme setzten. Dabei wurde bewußt in Rechnung gestellt, daß bei gleichen Wettbewerbsbedingungen die amerikanische Wirtschaftskraft sich als überlegen erweisen würde. Mit der Ausweitung des Handels würde so zugleich der amerikanische Einfluß wachsen, II Zirkularnoten des amerikanischen Außenministers John Hay, 6.9.1899,3.7.1900, FRUS, 1899, 128 ff.; 1900,299. Dazu Williams, Tragedy, 45 ff. und passim. Die MonroeDoktrin in Strauß, Botschaften, 25 ff.
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auch in Gestalt der Ausbreitung amerikanischer Einrichtungen und Lebensformen. Daß diese Vorstellung ohne weiteres mit Erscheinungsweisen herkömmlicher Machtpolitik einhergehen konnte, zeigte ihre Anwendung auf die übrige amerikanische Hemisphäre. Die Verstärkung des Handels fiel hier zusammen mit dem seit der Monroe-Doktrin gültigen Führungsanspruch der USA. Einen Grenzstreit zwischen England und Venezuela wegen Britisch-Guayana 1895 verschärften die USA bis zur offenen Kriegsdrohung gegen Britannien, um das Einschalten der USA in die Regelung zu erzwingen. Ein Zusatz zur MonroeDoktrin von 1904 ermächtigte die USA, eine internationale Polizeigewalt auszuüben, um in die inneren Verhältnisse lateinamerikanischer Staaten einzugreifen und eine Intervention europäischer Mächte zu verhindern. Auch dies wandte sich nicht zuletzt gegen England, das bis dahin z. B. das Begleichen von Zahlungsverpflichtungen selbst erzwungen hatte. Ebenso brachten die USA den 1904 beginnenden Bau und die anschließende Überwachung des Panama-Kanals unter ihre alleinige Verfügungsgewalt, was zwar aus strategischen Gründen nahelag, aber den USA in diesem Gebiet zu einer ähnlichen imperialistischen Stellung verhalf, wie sie England auf dem Seeweg nach Indien besaß. So konzentrierte sich die amerikanische Großmachtrolle wohl einstweilen noch auf die amerikanische Hemisphäre unter einzelnen Ausgriffen in den Pazifik. Doch konnte die handelspolitische Vormachtstellung im Zeichen der "offenen Tür" grundsätzlich auch weltumspannend gedacht werden. Gegenüber dem älteren, gewissermaßen gröberen Kolonialismus der europäischen Staaten wies sie überdies den Vorzug auf, daß sie auf die unmittelbare Inbesitznahme und herrschaftliche Gestaltung fremder Territorien verzichten konnte. Andere, politische oder militärische Formen der Bevormundung brauchten dabei nicht ausgeschlossen zu sein; sie waren es in der amerikanischen Hemisphäre schon jetzt nicht, und sie waren in anderen Weltgegenden zumindest vorstellbar, wenn sich ein amerikanischer Führungsanspruch außerhalb dieser Hemisphäre entfaltete. Das bedeutete wiederum, daß die alte Vorstellung vom europäischen Gleichgewicht allein nicht mehr tragfähig war und daß die europäischen Länder ihre neue Rolle in dem weltweiten internationalen System klären mußten. Diese Lage wurde nicht zuletzt in Großbritannien durchaus empfunden. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts griff allmählich die Einsicht Platz, daß England wie andere europäische Länder zu einem Zwergendasein gegenüber den aufstrebenden Weltmächten USA und Rußland verurteilt war, wenn es nicht aus seinem Weltreich zusätzliche Kraft schöpfte oder bei anderen Ländern Anlehnung fand. Eine der stärksten politischen Gestalten Englands um die Jahrhundertwende, Kolonialminister Joseph Chamberlain, sah die Lösung einerseits in einer engeren staatsrechtlichen und wirtschaftlichen Vereinigung des Mutterlands mit dem Empire, namentlich den weißen Siedlungskolonien, und andererseits in einem bündnismäßigen Zusammenschluß mit Amerika und Deutschland. Dieser außerordentlich kühne Entwurf scheiterte an der Ablehnung seitens der später Dominions genannten Kolonien mit Selbstverwaltung, am Unwillen gegenüber einem Reichszoll,
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am Mißtrauen Deutschlands und an der Gespaltenheit des englischen Kabinetts selbst. Dennoch bleibt es bemerkenswert, mit welcher Vorstellungskraft und Entschlossenheit hier der Schritt vollzogen wurde: heraus aus der Begrenztheit europäischer Machtverhältnisse, hinein in eine Neuordnung der Staatenbeziehungen im globalen Maßstab. Die Aufwertung Britanniens durch eine engere Verbindung mit seinen Kolonien war erforderlich, um ihm gegenüber seinen vorgesehenen Partnern Deutschland und Amerika mehr Bedeutung zu verleihen. Diese Partnerschaft selbst aber hätte nicht bloß ein überlegenes Gegengewicht zur aufsteigenden Weltmacht Rußland und seinem Verbündeten Frankreich gebildet, sondern damit auch eine Art gemeinsame Welthegemonie Amerikas, Britanniens und Deutschlands herbeigeführt, die zusammen die Staatenordnung der Welt gestaltet hätten. 12 Ähnlich weitreichende Überlegungen wurden sodann in Deutschland angestellt. Kaiser Wilhelm 11. äußerte bereits im Jahr 1892: "Ich hoffe, daß Europa allmählich den Grundgedanken meiner Politik durchschauen wird: die Führung im friedlichen Sinn." Als den auf die Dauer ernstesten Gegner Europas, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, betrachtete der Kaiser die USA; deshalb sprach er verschiedentlich von einem europäischen Zollbund, von den "Vereinigten Staaten von Europa gegen Amerika" oder von einem europäischen Bund unter deutscher Führung. Solche Worte erwuchsen aus der an sich richtigen Erkenntnis, daß einzelne Staaten Westeuropas dem wirtschaftlichen Wettbewerb mit Amerika langfristig nicht gewachsen waren, auch nicht Deutschland. Ein europäischer Zusammenschluß, gegebenenfalls unter deutscher Führung, war deshalb alles andere als abwegig. Fraglich war nur, wer sich zusammenschließen solle und wie es zu bewerkstelligen sei. Eine Denkmöglichkeit war der Mitteleuropa-Plan, d. h. die wirtschaftliche und politische Verbindung des kleindeutschen Raumes mit Österreich, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts zuerst in Österreich vertreten worden war. Bismarck kam bei Abschluß des Bündnisses mit Österreich erneut darauf zurück, doch scheiterte der Plan an der Weigerung Österreichs, in einem Zollbund seine Industrie dem überlegenen Wettbewerb Deutschlands auszusetzen. Obwohl Reichskanzler Caprivi mit seiner Handelspolitik in den frühen 1890er Jahren noch einmal in dieselbe Richtung zielte, war der MitteleuropaGedanke für die deutsche Außenpolitik bis zum Krieg nicht mehr bestimmend. In der Tat stellte er, wie schon sein Ursprung erkennen läßt, eine lediglich auf Europa bezogene Vorstellung dar. Der mitteleuropäische Block hätte allenfalls im Rahmen der europäischen Wirtschaft ein erhebliches Gewicht gewinnen können; dagegen vermochte er mit der Entwicklung der USA nicht Schritt zu halten und langfristig vielleicht noch nicht einmal mit derjenigen Rußlands. In einem bloß europäischen Rahmen bewegten sich aber die Absichten Kaiser Wilhelms 11. ohnedies nicht; er wünschte Weltpolitik zu betreiben, d. h. die Mächtebeziehungen im globalen Maßstab in eine neue Form zu gießen. Auf die Ebene der 12
Zu Chamberlain allgemein Garvin / Amery. Ferner Hollenberg, 37 ff.
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Weltmächte konnte das Deutsche Reich nur gelangen, wenn es sich mit dem Potential wirklich bedeutender Länder verband, und das waren in Europa lediglich Rußland, Britannien und Frankreich. Das Reden des Kaisers von der deutschen Führung in Europa bezog sich eben hierauf; nur die Verbindung mit solchen Mächten erhob das Reich zur Weltmacht. 13 Ein durchdachter und ausgearbeiteter Plan für das Erringen der deutschen Führung über ganz Europa wurde augenscheinlich nie entworfen. Der Kaiser war auf Grund seiner Sprunghaftigkeit und Oberflächlichkeit hierzu ohnehin nicht geeignet, und die wichtigsten Gehilfen bei der Durchführung seiner Absichten, Reichskanzler Bülow (1900 - 1908) und Admiral Tirpitz (1897 - 1916), vertraten nicht durchgängig dieselbe Auffassung. Fest stand allerdings, daß die deutsche WeltmachtsteIlung nicht durch den Krieg, sondern lediglich durch bündnis- und rüstungspolitische Maßnahmen zu ereichen sei. Tirpitz verstand seine Schöpfung, die deutsche Schlachtflotte, stets als politisches Druckmittel, um die Bündnisfahigkeit des Reiches zu verbessern. Die Begründung zum zweiten Flottengesetz von 1900 sprach das öffentlich aus, indem sie den Risikogedanken einführte: d. h. die britische Flotte müsse, obwohl sie insgesamt stärker blieb, im Kriegsfall eine solche Schwächung befürchten, daß sie auch kleineren Seemächten nicht mehr gewachsen sei. Aus dieser Rechnung hätte sich dann ergeben sollen, daß entweder England ein Bündnis mit Deutschland suchte oder die kleineren Flottenmächte, also Rußland und Frankreich. Solange solche Bündnisse nicht zustande kamen, war die deutsche Weltmacht hohl und künstlich; es war im Grunde keine Weltmacht. Ob das Bündnis eher mit Britannien oder eher mit Rußland und Frankreich abgeschlossen werden solle, scheint Tirpitz nicht eindeutig beantwortet zu haben. Ausdrücklich wandte er sich nur gegen voreilige Festlegungen, ehe der Flottenaufbau beendet war. So sollte die Flotte nichts anderes darstellen als den Hebel, um die Mächtebeziehungen umzugestalten; darin liegt ihre Bedeutung. Obwohl die amerikanische Flotte nach 1900 ähnlich schnell wuchs wie die deutsche, erzeugte sie nie dieselbe Aufregung. Der Grund liegt einfach darin, daß man die Gefahr sah, Deutschland könne doch zu einer Neugestaltung der Staatenbeziehungen gelangen und so eine europäische Führungsstellung erreichen. Was für eine Art von Führung wäre das gewesen? Ohne hier in eine ausufernde Begriffsscholastik einzutreten, wird man vielleicht sagen dürfen, daß Führung bzw. Hegemonie in einer schwächeren und einer stärkeren Form auftreten kann. In ihrer schwächeren Form besagt sie nur, daß ein Land gegenüber anderen mehr Gewicht hat und Einfluß ausübt; in diesem Fall kann man von Vormacht sprechen. In ihrer stärkeren Form nähert sich die Hegemonie der Herrschaft; sie beinhaltet alsdann die Fähigkeit, den eigenen Willen zwangsweise durchzusetzen. Von dieser stärkeren Art war z. B. die Hegemonie der USA über die amerikanische Hemisphäre, seit der Zusatz zur Momoe-Doktrin von 1904 13 Quellenbelege zu den Absichten Wilhelms 11. bei Rauh, Deutsche Frage, 128 f., 152. Ferner Pommerin, Amerika, 24 ff. Zum Mitteleuropa-Gedanken Böhme, 587 ff. und passim.
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den USA ein Eingriffsrecht in anderen Ländern gab. Eine Hegemonie derselben Art über ganz Europa wurde in Deutschland weder erstrebt, weswegen der Kaiser von einem europäischen Bund sowie der friedlichen Führung sprach, noch wäre sie erreichbar gewesen, weil Deutschland viel zu schwach war, um ganz Europa zu beherrschen. Als Landmacht war Deutschland zwar jeder anderen europäischen Landmacht überlegen, aber niemals mehreren zusammen. Auch im Verein mit Österreich war Deutschland nicht imstande, Europa gewaltsam zu unterwerfen, da es sich um ein Verteidigungsbündnis handelte und Wien keine Veranlassung hatte, als Handlanger für kriegerische Eroberung herzuhalten. Eine deutsche Führung in Europa konnte demnach lediglich auf freiwilliger Gefolgschaft zum beiderseitigen Nutzen beruhen. Da eine deutsche Hegemonie über Europa in Form der Herrschaft ausgeschlossen war, kam nur eine deutsche Führung im Rahmen neuartiger Bündniskonstellationen in Betracht, wie Tirpitz sie ins Auge faßte. Führungsrnacht in dem genannten schwächeren Sinn wäre das Reich in solchen Fällen geworden, weil es militärisch, durch Landheer und Flotte, am stärksten war und sein ohnedies großes Wirtschaftspotential in derartigen Verbindungen weiter erhöhen konnte. 14 Mit wem Deutschland das Bündnis eingehen solle, wurde dagegen von Bülow klar ausgesprochen. Er zielte auf den europäischen Kontinentalblock ab, also praktisch die Vereinigung des russisch-französischen Zweibunds mit dem deutsch-österreichisch-italienischen Dreibund, ein Gedanke, den auch der Kaiser mindestens zeitweise in den Vordergrund stellte. Selbstverständlich hätte eine solche Verbindung das europäische Gleichgewicht nicht bloß gesprengt, sondern völlig beseitigt. Es ist aber durchaus erwägenswert, ob dadurch nicht ein neues Weltgleichgewicht geschaffen worden wäre. Zumindest von der Wirtschaftskraft her hielten sich die kontinentalen Landmächte und die Seemächte Amerika, England und Japan ungefähr die Waage; auch wäre eine säuberliche Trennung der Festlandsmächte von den insularen Seemächten eingetreten. Reibungsflächen zwischen beiden Gruppen hätte es gewiß weiterhin gegeben, so namentlich in Asien und Afrika; schon die Errichtung des Kontinentalblocks wollte Bülow augenscheinlich an die Auseinandersetzungen anknüpfen, die er an solchen Reibungsstellen erwartete, vor allem zwischen Rußland und Britannien, zudem hätten gerade die Auseinandersetzungen über koloniale Einflußräume, z. B. solche zwischen Frankreich und Britannien, dazu beitragen können, die kontinentalen Staaten zusammenzuschweißen. Doch davon abgesehen würde ein Kontinentalblock mit einiger Sicherheit die Verbindung der Seemächte nach sich gezogen haben, wie es ja in England um 1900 sowieso ins Auge gefaßt wurde. Eine unmittelbare Gefährdung der insularen Seemächte selbst hätte dann so lange nicht bestanden, wie sie gemeinsam ausreichende Flottenstreitkräfte besaßen, was auf Jahrzehnte hinaus gesichert werden konnte. Das Weltstaatensystem wäre auf diese Weise 14 Zu Tirpitz dessen Erinnerungen, 54 ff., 143 ff., 282. Ferner Salewski, Tirpitz, 52, 58. Hubatsch, Ära, 91 ff. und passim.
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zweipolig geworden, mit der Aussicht, einigermaßen stabil zu bleiben. Der Plan Bülows war nicht unvernünftiger als derjenige Chamberlains, der gleichfalls nicht zum Zug kam. Bei Licht betrachtet, war Bülows Plan sogar ausgewogener, sowohl wirtschaftlich: weil bei Chamberlain die Verbindung USA - Britannien - Deutschland stark überlegen erschien, als auch geographisch und strategisch: weil bei einer derartigen Verbindung die Seemächte in Deutschland einen bequemen Prellbock auf dem Kontinent besessen hätten, an dem die Hauptlast militärischer Auseinandersetzungen hängen geblieben wäre. 15 Unter diesem Gesichtspunkt wurde die Sachlage in Deutschland betrachtet. In einer Aufzeichnung für den Kaiser aus dem Jahr 1901 kamen Bülow und der scharfsinnige Analytiker im Auswärtigen Amt, der Vortragende Rat Holstein, zu dem Schluß, die Politik des britischen Ministerpräsidenten Salisbury resümiere sich "in dem einen Wort: Abwarten. Nämlich abwarten, daß die kontinentalen Mächte in Krieg kommen. Bis dahin weicht England jedem Konflikt aus, temporisiert, macht sogar Konzessionen, in der Überzeugung, daß das Aufgegebene leicht zurückzubekommen ist und noch mehr dazu, wenn erst einmal die anderen Mächte sich wirklich gepackt haben. Dann ist England das Zünglein an der Waage, wie vor hundert Jahren, zur Zeit des Ersten Napoleon, und spricht ein entscheidendes Wort bei der Verteilung des Erdballs." Diese Feststellung ist bislang kaum beachtet worden, vielleicht weil sie in das verbreitete Klischee vom deutschen Unruhe stifter auf der internationalen Bühne nicht recht hineinpaßt. Denkbar wäre natürlich, daß es sich ganz einfach um ein Fehlurteil handelte. Sollte dies jedoch nicht zutreffen, so wäre hier womöglich ein Ansatzpunkt zu finden, um die Entwicklung der internationalen Lage bis zum Krieg besser zu verstehen. Betrachten wir deshalb die Tatsachen. 16 Das bestimmende Merkmal der europäischen Mächtebeziehungen war im 19. Jahrhundert stets der englisch-russische Gegensatz, der zunächst hauptsächlich auf dem Balkan zum Tragen kam. Rußland gab seine Ziele, die Zersetzung des türkischen Reiches und maßgeblichen Einfluß an den türkischen Meerengen, nie auf; umgekehrt blieb England fortwährend bestrebt, dem Zarenreich den Weg nach Konstantinopel zu verlegen. Königin Viktoria brachte das im Jahr 1877 auf die Formel, es handle sich nicht um die Erhaltung der Türkei, sondern um die Frage der britischen oder russischen Vorherrschaft in der Welt. Der russische Druck auf die Türkei, diesen natürlichen Sperriegel vor den britischen Verbindungen nach Indien, veranlaßte England noch 1887, mit Österreich und Italien die Mittelmeer-Entente zu schließen, um den bestehenden Zustand im Mittelmeerraum aufrechtzuerhalten. Gegen Ende des Jahrhunderts traten weitere Reibungsflächen hinzu. Rußland hatte sich unterdessen über Zentralasien an Indien herangeschoben, es war auf chinesisches Gebiet vorgedrungen und stand nunmehr im 15 Zu Bülow Winzen, 80 f. und passim. Zu den Flottenstärken Potter / Nimitz / Rohwer, 294, 296, 299, 314. 16 Bericht Bülows an Wilhelm II., 7.9.1901, GP 18/1,20 ff., 24 f.
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Begriff, sich einerseits an den Persischen Golf heranzuarbeiten und andererseits, auf dem Weg über die Mandschurei, in China die Oberhand zu gewinnen. Damit war nicht nur die Verbindung Englands nach Indien bedroht, sondern es zeichnete sich auch eine regelrechte Umklammerung Indiens ab, ein Zustand, der durch das Bündnis Rußlands mit Frankreich noch verschärft wurde. Hier zeigte sich, daß Rußland mit seiner gewaltigen Ausdehnung, seiner geostrategischen Lage und seiner relativen Unverwundbarkeit diejenigen Voraussetzungen für eine WeltmachtsteIlung mitbrachte, die anderen Ländern abgingen, auch Britannien. Wenn schon die Abwehr des russischen Drucks auf die Türkei, um noch einmal Königin Viktoria zu zitieren, über Sein oder Nichtsein der englischen WeltmachtsteIlung entschied, so galt dies erst recht für die Abwehr des russischen Drucks auf Indien und, darin inbegriffen, desjenigen auf China. Das war die Lage, als die Kabinette Salisbury (1895 - 1902) und Balfour (1902 - 1905) eine entscheidende Wende der britischen Politik einleiteten. 17 Man hat sich angewöhnt, den deutsch-britischen Gegensatz als das Kennzeichen der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zu betrachten und ihn mit allerlei Einzelerscheinungen wie der Kolonialpolitik oder dem 1897/98 beginnenden Flottenbau in Verbindung zu bringen. Richtig ist jedoch, daß die deutsche Kolonialpolitik auf der weltpolitischen Ebene weitgehend bedeutungslos blieb, daß die Umwandlung der Mächtebeziehungen zu einem Zeitpunkt einsetzte, wo der Flottenbau noch unerheblich war, und daß die eigentlichen Probleme an ganz anderer Stelle lagen. Der grundlegende Gegensatz, der in allen anderen Erscheinungen des internationalen Mächtespiels zum Vorschein kommt, war und blieb derjenige zwischen Britannien und Rußland. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verwob sich damit die Frage des europäischen Gleichgewichts und seiner Auflösung in ein neues Weltstaatensystem. Solange ein Weltgleichgewicht unter Einbeziehung der USA und Japans sich nicht eingependelt hatte, beruhte das europäische Gleichgewicht nach wie vor auf der Kräfteverteilung zwischen den fünf europäischen Hauptrnächten, der klassischen Pentarchie, also England, Frankreich, Rußland, Preußen bzw. Kleindeutschland und Österreich. Die Aufspaltung in Blöcke, wie sie durch den deutsch-österreichischen und den russischfranzösischen Zweibund eingeleitet worden war, verletzte das Gleichgewicht noch nicht, sie versetzte aber England in die vorteilhafte Lage, es zu seinen Gunsten auszunutzen. Das hatte Salisbury im Sinn, als er den Abschluß des russisch-französischen Bündnisses begrüßte, weil es mit dem Dreikaiserbund Rußland-Deutschland-Österreich endgültig Schluß machte und England in der Kontinentalpolitik mehr Bewegungsfreiheit verschaffte. Worin konnte diese Bewegungsfreiheit bestehen? Jedenfalls nicht darin, daß Britannien nunmehr größere Sicherheit gewann. Das Zarenreich, das auf einer Linie vom Mittelmeer über den Vorderen Orient bis zum Femen Osten schwer auf dem Empire und seinen 17 Königin Viktoria zit. nach Langer, 122, Anm. 1. Zum russisch-englischen Gegensatz ferner Baumgart, Völkerbund, 31 ff., 46. K. Wilson, Entente.
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Verbindungslinien lastete, war durch das Bündnis mit Frankreich nur noch bedrohlicher für die britische WeltmachtsteIlung geworden. Als Landmacht dagegen aufzutreten, war England allein zu schwach, und bloß mit der Flotte war Rußland schwer beizukommen. Deswegen schrieb Zar Nikolaus 11. im Jahr 1899 an seine Schwester, keine noch so gewaltige Flotte der Welt könne Rußland hindern, England an seiner verwundbarsten Stelle zu treffen, nämlich in Richtung auf Indien und den Indischen Ozean vorzustoßen. Auf der anderen Seite konnten zwar Deutschland und Österreich für Britannien kaum gefährlich werden, vor dem Flottenbau sowieso nicht und nach Beginn des Flottenbaus auch nur in Verbindung mit anderen Mächten. Trotzdem zog Salisbury daraus nicht den Schluß, die Sicherheit des Empire zu erhöhen, indem er deutsche Angebote zu einem formellen Bündnis aufgriff, denn ein solches hatte er schon 1889 abgelehnt, und er war auch in Zukunft nicht dazu bereit. Die größere Bewegungsfreiheit Englands ergab sich vielmehr daraus, daß London nunmehr imstande war, die europäischen Mächte gegeneinander auszuspielen. Vorher war das nicht möglich gewesen, weil der Sinn von Bismarcks Bündnispolitik gerade darin bestand, sich nicht in den britisch-russischen Weltgegensatz hineinziehen zu lassen, vielmehr diesen Gegensatz selbst zu benützen, um die möglichen Gegner des Reiches getrennt zu halten. Am deutlichsten war dies beim Dreikaiserbund von 1881 zum Ausdruck gekommen, der Rußland an die Seite des Reiches führte, weil ihm dieses Hilfestellung bei seiner Balkanpolitik verschaffte. Der Dreikaiserbund enthielt - ähnlich wie später noch einmal der deutsch-russische Rückversicherungsvertrag von 1887 - eine deutsche Neutralitätsverpflichtung im Falle eines russisch-türkischen Krieges, gab also Rußland Rückenfreiheit gegen England, während umgekehrt Deutschland durch eine entsprechende russische Verpflichtung gegen Frankreich gedeckt blieb und damit Frankreich isoliert halten konnte. Der springende Punkt dabei war, daß unter diesen Umständen Deutschland im Mittelpunkt der Mächtebeziehungen stand, insbesondere zwischen Britannien und Rußland gewissermaßen die Waage hielt, ohne sich eindeutig für eine Seite zu entscheiden oder ihr als Werkzeug zu dienen. Zumal für England war es ausgeschlossen, die Mittelmächte als Festlandsdegen gegen Rußland zu verwenden, solange dieses im Zusammenwirken mit Deutschland die Grundlage seiner Balkanpolitik sah. Ebenso schlossen die deutschen Verpflichtungen gegenüber Österreich eine bedingungslose Unterstützung Rußlands aus, so daß auf dem Balkan ein Interessenausgleich gefunden werden mußte und tatsächlich für geraume Zeit gefunden wurde. Mit dem russisch-französischen Bündnis jedoch wurde dies anders. Da Rußland nunmehr bei Frankreich Rückendeckung fand, konnte es grundsätzlich auf eine deutsche Hilfestellung auf dem Balkan verzichten. Damit blieben alle Spannungen zwischen Österreich und Rußland an den Mittelmächten hängen und waren nicht mehr mit Hilfe des russisch-englischen Gegensatzes zu überdecken. Zugleich rückte England in den Mittelpunkt der europäischen Staatenbeziehungen und vermochte daraus seinen Vorteil zu schöpfen. So konnte es Spannungen zwischen den Blöcken nach eigenem Gutdünken 3 Rauh. Zweiter Weltkrieg I. Teil
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handhaben, oder es konnte sich daranmachen, einen der beiden Blöcke für seine Ziele einzuspannen, und vor allem konnte es seine eigenen Zwistigkeiten, namentlich diejenigen mit Rußland, auf andere ablenken. Auf diese Weise mochten z. B. die Mittelmächte in die Lage versetzt werden, unversehens und sogar gegen ihren Willen einen russisch-österreichischen Gegensatz zugunsten Britanniens auszutragen, oder anders ausgedrückt: England war imstande, die Mittelmächte zu benützen, um sich gegen Rußland zu schützen. Es handelte sich um das älteste aller politischen Spiele - dasjenige vom tertius gaudens, vom lachenden Dritten. Ein solches Verfahren empfahl sich im übrigen von selbst, weil Britannien gegen Rußland ziemlich hilflos war, während allein Deutschland ein ausreichendes Gegengewicht darstellte. 18 Das Verfahren, britisch-russische Spannungen auf die Mittelmächte abzulenken, begann im Jahr 1895. Rußland hatte seit Beginn der 1890er Jahre das Hauptbetätigungsfeld seiner Ausdehnungspolitik nach Asien verlegt. Hierbei wurde es von Deutschland unterstützt, das darin eine willkommene Gelegenheit sah, den russischen Druck auf Europa zu mindern und die Verständigung mit dem Zarenreich zu fördern; das gemeinsame Auftreten Rußlands, Deutschlands und Frankreichs gegen Japan 1895 war eine Folge davon. Wie Bismarck den russisch-englischen Gegensatz auf dem Balkan zur Absicherung Mitteleuropas verwendet hatte, so wollten seine Nachfolger den russisch-englischen Gegensatz in Asien verwenden, um europäische Spannungen zu entschärfen. Der Angelpunkt des europäischen Mächteverhältnisses lag trotzdem in beiden Fällen auf dem Balkan, weil genau hier die beiden entscheidenden europäischen Gegensätze sich überschnitten: derjenige zwischen Österreich bzw. den Mittelmächten und Rußland einerseits sowie derjenige zwischen Britannien und Rußland andererseits. Die Balkanfrage oder, wie es damals hieß, die orientalische Frage war es gewesen, die Bismarck befähigt hatte, Deutschland in den Mittelpunkt des europäischen Konzerts zu rücken, und von der Balkanfrage mußte es auch in Zukunft abhängen, ob die Mittelmächte sich zwischen dem russisch-französischen Block und England hindurchwinden konnten. Eben dies hatte Salisbury beizeiten begriffen. Bald nachdem Salisbury 1895 die Regierung wieder übernommen hatte, brachte er den Gedanken ins Gespräch, die Türkei aufzuteilen. Gemeint war damit insbesondere, daß die türkischen Meerengen den Russen überlassen werden sollten; gelegentlich war auch davon die Rede, Albanien an Italien zu geben. Beides war für Österreich unerträglich, und ebensowenig konnte Österreich sich darauf einlassen, den Balkan mit Rußland zu teilen, weil dies nur die Sprengkraft der Nationalitätenbewegung gesteigert und zweifellos den Keim zu einem russischösterreichischen Krieg in sich getragen hätte. Bei dem merkwürdigen Vorhaben Salisburys handelte es sich weder um eine auf Mißverständnissen beruhende, diplomatische Intrige der deutschen Seite, wie gelegentlich behauptet wurde, 18 Zu Salisbury Lowe, Salisbury, 76. Gillard, 245. Zu Nikolaus 11. Surnner, 323. Ferner Hölzle, Selbstentmachtung, 85 ff., 89,91 ff., 97.
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noch um einen weisen Plan der Friedenssicherung, sondern um den ersten Versuch, auf dem Kontinent Unfrieden zu stiften, sei es kurzfristig oder langfristig. Die deutsche Seite hat Salisburys Andeutungen von 1895 ganz richtig verstanden, denn im Jahr darauf teilte Salisbury dem russischen Zaren dasselbe mit. Für den Fall eines Zusammenbruches der Türkei, den Salisbury als bevorstehend hinstellte, sollten sich die interessierten Mächte, vorab Rußland und Österreich, darüber verständigen, ob der Erwerb der Meerengen durch Rußland nicht mit entsprechenden Gewinnen für Österreich aufgewogen werden könne. England werde sich dabei heraushalten, denn er, Salisbury, beharre nicht länger darauf, daß die Türkei das britische Bollwerk vor dem Weg nach Indien sei. Das war eine glatte irreführung, da Salisbury gar nicht daran dachte, die Türkei wirklich aufzugeben. Es war ihm vollauf bewußt, daß England im Mittelmeer nichts mehr zu bestellen hatte, wenn erst Konstantinopel gefallen war, von den Fernwirkungen auf Indien ganz zu schweigen; außerdem hätte er es gern gesehen, wenn dem britischen Botschafter in Konstantinopel die Vollmacht erteilt worden wäre, nach eigenem Ermessen über die Mittelmeerflotte zu verfügen, um im Bedarfsfall den Russen bei der Besetzung Konstantinopels zuvorzukommen. Daß England die Meerengen nicht wirklich aufgeben könne, nahm man übrigens auch in Deutschland an. Der Teilungsplan wurde in Berlin als "Balkanbrandprojekt" verstanden, und Salisbury selbst gab im November 1895 gegenüber dem österreichischen Botschafter zu, die Teilung würde das Signal zu einem europäischen Krieg geben. Das hielt ihn freilich nicht ab, dem Zaren gegenüber 1896 den Plan zu wiederholen. Oberflächlich wurde dies verdeckt durch den Vorschlag, die Großmächte sollten gemeinsam vorgehen, um den türkischen Sultan zu Reformen zu zwingen. In Petersburg sah man darin die Gelegenheit, den Bosporus zu besetzen. Als Salisbury vom deutschen Botschafter gefragt wurde, was er gegen derlei Maßnahmen Rußlands zu tun gedenke, gab er zur Antwort, er wolle gar nichts tun, aber Österreich könne die Besetzung der Meerengen nicht hinnehmen und werde sicher von Deutschland unterstützt werden. Das wäre auf einen Krieg hinausgelaufen, wobei vor allem der Mechanismus der Kriegsauslösung bemerkenswert ist: Der Kriegsgrund hätte in Rußlands Streben nach den Meerengen bestanden, und Britannien hätte durch geschickte diplomatische Schachzüge den Weg zum Krieg freigemacht, ohne als Kriegstreiber in Erscheinung zu treten. Dieser Krieg konnte 1896 noch vermieden werden, weil Frankreich andere Interessen hatte und die russische Regierung zum Nachgeben veranlaßte. 19
19 Die deutschen Akten zum Balkanbrandprojekt in GP 10, insbesondere Nr. 2372, 2377, 2468. Über eine Teilung der Balkanhalbinsel zwischen Rußland und Österreich der österreichische Außenminister Goluchowski nach einer Aufzeichnung Bülows, 20.9.1903, GP 18/1, S. 360 ff. Salisburys Unterredung mit dem Zaren 1896 bei Boume, 440 ff. Die Anfrage des deutschen Botschafters Hatzfeldt bei Salisbury 1896 in GP 12, 65 f. (10.12.1896). Zur Deutung des Balkanbrandprojekts Grenville, Salisbury, 24 ff., 43, 50 ff., 78 ff., 86 ff.; Meinecke, Bündnisproblem, 12 f., 23, 32 ff., 55 ff., 59, 72 ff.; auch zum folgenden.
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Die deutsche Einschätzung der britischen Politik war also augenscheinlich zutreffend, wie ja überhaupt - entgegen einer verbreiteten Vermutung - die einzelnen Regierungen im allgemeinen recht gut Bescheid wußten über die Absichten der anderen. Ende 1895 meinte der deutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Marschall, England hoffe, daß im Mittelmeer und auf der BalkanhalbinseI der Kampf ohne England losgehen und England sich den eigenen Aderlaß dann ganz sparen könnte. Dies wurde etwa zur selben Zeit von Reichskanzler Hohenlohe dahingehend ergänzt, daß England, wenn sich die Meerengenfrage ohne Krieg erledige, in Ägypten wie in Ostasien erst recht dem Druck des russisch-französischen Zweibunds ausgesetzt sein würde. Die Vorhersage bewahrheitete sich später durch den britisch-französischen Zusammenstoß bei Faschoda und den russischen Griff nach der Mandschurei, auf den noch zurückzukommen ist. Dennoch war die Sache damit nicht abgetan, denn Salisburys Strategie war langfristig angelegt, unabhängig von der Frage, ob es auf dem Balkan sofort zum Krieg kam. Bereits in den 1870er und 1880er Jahren hatte Salisbury die Vorstellung entwickelt, England könne sich mit Rußland verständigen, indem es sich von der Verteidigung der Türkei zurückziehe. Dies war eine logische Folgerung aus dem Zustand der europäischen Mächtebeziehungen, denn der Dreikaiserbund und das deutsch-russische Zusammenwirken beruhten eben auf der Tatsache, daß sich auf dem Balkan die großen europäischen Gegensätze überschnitten. Aus dieser Lage kam England genau dann heraus, wenn es seinen Gegensatz zu Rußland auf dem Balkan beseitigte; in diesem Fall konnte es die Mittelmächte und Rußland auf dem Balkan gegeneinander ausspielen. Zugleich vermochte es damit den britisch-russischen Gegensatz in anderen Weltgegenden zu überdecken, oder anders ausgedrückt: Britannien vermochte seine Spannungen mit Rußland auf die Mittelmächte abzulenken, weil man auf dem Balkan über einen geradezu idealen Aufhänger verfügte, an dem sich ein Zusammenstoß zwischen Rußland und den Mittelmächten festmachen ließ. Die wahre oder auch nur vorgetäuschte Bereitschaft Britanniens, Konstantinopel fallenzulassen, war der Preis für eine Annäherung an Rußland. Ob man Konstantinopel wirklich aufgeben mußte, war dabei noch lange nicht ausgemacht, denn für Rußland führte der Weg zu den Meerengen nur über einen Krieg mit den Mittelmächten, und im Krieg konnte viel geschehen. Daß Rußland im Krieg an die Meerengen gelangte, war gar nicht sicher, oder England konnte ihm zuvorkommen, oder Rußland wurde im Krieg so geschwächt, daß es den Anspruch auf die Meerengen anschließend wieder aufgeben mußte. Man sollte nicht vergessen, daß Salisbury derartige Überlegungen bereits 1895 anstellte, und daß es im Ersten Weltkrieg in ähnlicher Weise gehandhabt wurde. Doch davon abgesehen lag es auf der Hand, daß eine Verbindung Englands mit dem Zarenreich bzw. dem russischfranzösischen Zweibund nicht nur für das europäische Gleichgewicht, sondern ebenso für die Mittelmächte existenzbedrohend war. Das wußten Bismarck und andere Staatsmänner gleichermaßen. Hohenlohe meinte 1894, jene drei Mächte könnten die übrige Menschheit tyrannisieren, und Salisbury selbst stellte 1901
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fest, England müsse den Ausgleich und die Freundschaft mit Rußland suchen: Die "wahre Sympathie" zwischen beiden würde die anderen Mächte in eine untergeordnete Stellung drängen. Es muß einmal festgehalten werden, daß in dieser Absichtserklärung ein glatter Verstoß gegen die Wirkungsweise des europäischen Gleichgewichts enthalten war. Das europäische Gleichgewicht war nur dann gewahrt, wenn keine Macht oder Mächtegruppe mit Aussicht auf Erfolg daran gehen konnte, den anderen ihren Willen aufzuzwingen oder ihre staatliche Existenz in Frage zu stellen. Unter Bismarck war das Gleichgewicht nicht angetastet worden, denn der Dreikaiserbund hatte nicht etwa die Beherrschung Europas bezweckt, sondern die Bildung einer übermächtigen Koalition gerade verhindert. Bei Salisburys langfristigem Plan, sich mit Rußland zu verständigen, war das Gegenteil der Fall. Entweder führte er, unter Ausnützung balkanischer Streitigkeiten, alsbald zum Krieg, oder er stellte der europäischen Mitte eine Übermacht entgegen und setzte sie der Gefahr aus, ihrer selbständigen Handlungsfahigkeit beraubt zu werden. Wenn ein Teil Europas den anderen zur Unterordnung zwingen konnte, wie Salisbury es mit der "wahren Sympathie" zwischen Britannien und Rußland beabsichtigte, dann übte er die Hegemonie in ihrer starken Form aus, als Herrschaft mit der Möglichkeit beliebiger Eingriffe. Das Aushilfsmittel gegen die Gefahr, in die Abhängigkeit gezwungen oder schließlich zur Willfährigkeit verdammt zu werden, war nach den gängigen Gepflogenheiten der Krieg, solange er noch irgendeine Chance bot, der Unterwerfung und damit der Abdankung als europäische Großmacht zu entgehen. Als am Beginn des 18. Jahrhunderts Frankreich unter Ludwig XIV. nach den Ländern der spanischen Krone gegriffen hatte, womit es zur europäischen Hegemonialmacht aufgestiegen wäre, da war der Krieg die selbstverständliche Folge gewesen. Wenn Britannien im Verein mit dem russisch-französischen Zweibund in die Lage versetzt wurde, die übrige Menschheit zu tyrannisieren, wie Hohenlohe sagte, dann konnte über das Ergebnis eines solchen Unterfangens gleichfalls kein Zweifel bestehen. In England war das ebenso bekannt wie in Deutschland. Der stellvertretende Unterstaatssekretär Bertie vom Foreign Office, der in seiner Gedankenbildung Salisbury nahestand, meinte dazu 1901 : Wenn England nicht an Deutschland gebunden sei und zu einer allgemeinen Verständigung mit Frankreich und Rußland oder einem von ihnen gelange, so werde die Lage Deutschlands in Europa kritisch werden. Zweifellos traf das zu; aber was würde Deutschland dann wohl tun?20 Von daher ist die Feststellung Bülows und Holsteins aus dem Jahr 1901 zu verstehen, Salisbury warte auf den Krieg, und ebenso die Ansicht Roseberys bei Abschluß der britisch-französischen Entente 1904, diese werde zum Krieg mit Deutschland führen. Von daher muß man aber auch Bülows Gedanken eines 20 Zu Marschall und Hohenlohe GP 10, 243 (23.12.1895), 234 (17.12.1895). Zu Salisburys Plänen einer Verständigung mit Rußland G. Cecil, Salisbury 11, 85 f., 122 f., 130, 142, 145. Zu Hohenlohe ("tyrannisieren") GP 9, 178 f. (13.12.1894). Zu Salisbury ("wahre Sympathie") Oncken 11, 518 f. Zu Bertie Britische Dokumente 2/ I, 116 ff. (9.11.1901).
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Kontinentalblocks verstehen. Die britische Politik zielte seit den 1890er Jahren erkennbar auf ein Untergraben des europäischen Gleichgewichts. Dies beruhte einfach auf der Tatsache, daß England außerstande war, sich allein gegen die aufsteigenden Weltmächte, vor allem Rußland, zu behaupten, und daß es, wenn es Anlehnung in Europa suchte, notwendigerweise dem einen der beiden Blöcke zu einem Übergewicht verhalf. Auf der anderen Seite darf man zwar annehmen, daß Bülow den Gedanken, Deutschland und Rußland sollten sich zusammentun, noch vor seiner Berufung zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts (1897) und zum Reichskanzler (1900) gefaßt hatte. Doch hätte die Entwicklung der nächsten Jahre auch schwerlich eine andere Entscheidung zugelassen. Ein erstes bedrohliches Anzeichen war bereits die Frage der Mittelmeerentente, die Salisbury selbst 1887 abgeschlossen hatte. Nachdem er im Sommer 1895 wieder Regierungschef geworden war, hatte er zunächst versichert, er betrachte diese Abmachung, also die Aufrechterhaltung des status quo im Mittelmeer, nach wie vor als bindend. Als im Anschluß an das Balkanbrandprojekt Österreich eine Erneuerung der Mittelmeerentente anregte, um festzustellen, ob England Konstantinopel verteidigen wolle oder nicht, zog Salisbury sich mit allerlei Vorwänden aus der Affäre. Damit war klar, daß Salisbury das Zusammenwirken mit Österreich und Italien, um Rußland von der Türkei fernzuhalten, nicht mehr wünschte. Dies setzte nach mehreren Seiten ein Signal. Einerseits wußten nun Deutschland und Österreich, daß Salisbury sich auf die Seite Rußlands schlagen wollte. Andererseits verstand auch Italien den Wink mit dem Zaunpfahl; es wandte sich, obwohl es formell weiterhin dem Dreibund angehörte, tatsächlich davon ab und vollzog eine Annäherung an Frankreich, da ein Zusammengehen mit den Mittelmächten gegen Frankreich für Italien unergiebig war, wenn im Mittelmeer England nicht mehr dahinter stand. Um nicht zusehends in die Isolation getrieben und von England im Verein mit Frankreich und Rußland umklammert zu werden, gab es für die Mittelmächte kaum eine andere Möglichkeit als die, eine Verbindung mit Rußland und Frankreich zu suchen. So begann im Grunde in den 1890er Jahren ein Wettlauf zwischen Deutschland und Britannien um die Gunst Rußlands, und eben dieser Wettlauf war es, der schließlich in den Ersten Weltkrieg führte. Dabei beinhaltete Bülows Kontinentalblock-Gedanke tatsächlich Weltpolitik, weil er auf die Errichtung eines neuen Weltgleichgewichts zielte, während Salisburys Plan, der ja noch in den letzten Jahrzehnten des klassischen europäischen Mächtesystems entstanden war, sich in einem engeren, mehr auf Europa bezogenen Rahmen bewegte. Die Möglichkeit eines Krieges stellten beide in Rechnung, aber bei Bülow wäre es ein Krieg für die Behauptung und Machtsteigerung des kontinentalen Europa gewesen, während es sich bei Salisbury nur um einen Krieg der europäischen Selbstzerfleischung handeln konnte. In diesen Zusammenhang gehören sodann die deutsch-britischen Bündnisgespräche um die Jahrhundertwende, aus denen bekanntlich nichts wurde. Sie gelten gemeinhin als verpaßte Gelegenheit; richtig ist jedoch, daß sie, wären sie erfolgreich gewesen, wohl schon damals den Krieg ausgelöst hätten. Sie stellten den
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zweiten Anlauf Britanniens dar, die europäischen Mächtebeziehungen umzugestalten, nachdem das Balkanbrandprojekt versandet war. In ihrer mehrfach erwähnten Denkschrift von 1901 knüpften Bülow und Holstein an jene Balkanereignisse an und meinten, die Aufwiegelungstaktik Salisburys sei den anderen Regierungen so sehr zum Bewußtsein gelangt, daß hierdurch die Erhaltung des Friedens gefördert worden sei. Inwieweit das zutrifft, mag auf sich beruhen; immerhin zeigte Rußland auf Jahre hinaus keinerlei Neigung, die asiatischen Schauplätze seiner Ausdehnungspolitik mit dem Balkan zu vertauschen, so daß zwischen Österreich und dem Zarenreich längere Zeit ein gutes Einvernehmen gepflegt wurde. Auch Frankreich, dessen Eingreifen einen Balkanbrand verhindert hatte, stand bis um die Jahrhundertwende in scharfen Spannungen mit England und schien zeitweise im Begriff, seinen Gegensatz zu Deutschland zu vergessen; es gab sogar Fühlungnahmen wegen einer Klärung der Elsaß-Lothringen-Frage. Angesichts der schwindenden Kräfte Britanniens und seiner zunehmenden Überforderung als Großmacht gelangten in London diejenigen Kabinettsmitglieder zum Zug, welche sich nach geeigneten Bündnispartnern umsehen wollten, und für den Augenblick kam dafür hauptsächlich Deutschland in Betracht. Als Chamberlain 1898 die Fühlungnahme eröffnete, war davon die Rede, daß England im Bunde mit Deutschland stärker sein würde als seine Gegner. Das war schon kein gelungener Auftakt. Oder hätte man etwa erwarten sollen, daß Rußland und Frankreich sich von den übrigen Großmächten gutwillig an die Wand drücken ließen? Der deutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Richthofen, war jedenfalls 1901 der Ansicht, das einzige, was man England ohne Bedenken anbieten könne, sei ein Kriegsausschlußvertrag oder Neutralitätsvertrag, der Britannien die Sicherheit gebe, daß Deutschland nicht in den Reihen seiner Gegner stehe. Dagegen enthalte jedes regelrechte Bündnis mit England eine Spitze gegen Rußland und setze Deutschland der Gefahr aus, einen kontinentalen Landkrieg wesentlich allein, und ohne absolute Notwendigkeit dazu, ausfechten zu müssen. Überdies würde ein solcher Krieg die kontinentalen Rivalen Englands, also Deutschland, Frankreich und Rußland, in gewaltigem Kampf ausbluten lassen, bis schließlich Britannien als der in Europa einzig Gebietende dastehen würde. Diese Auffassung war zumindest logisch, wenn man die Wirkungsweise des europäischen Gleichgewichts zugrunde legte. Der Beitritt Englands zu einem der europäischen Blöcke gab diesem zwar eine Überlegenheit, aber keine so große, daß der Krieg der schwächeren Seite von vornherein völlig aussichtslos war. Unter allen Gestaltungsformen eines Machtgefälles ist diese zweifellos die gefährlichste. Denn die stärkere Seite kann im Vertrauen auf ihre Überlegenheit Erpressungspolitik betreiben oder selbst den Krieg ins Auge fassen. Umgekehrt muß die schwächere Seite eben damit rechnen und wird deshalb sofort den Krieg als letzte Zuflucht betrachten; Überraschung, Feldherrnkunst oder andere Umstände können aus dem vermeintlich Unterlegenen einen mindestens Gleichwertigen machen. Das sah auch Richthofen so, wenn er feststellte, ein deutsch-englisches Bündnis werde einen russisch-französischen Angriffskrieg provozieren. Das Spie-
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len mit dem europäischen Gleichgewicht war deshalb zugleich ein Spielen mit dem Krieg. Weiter kompliziert wurde die Sachlage durch das diplomatisch ungewöhnliche Verfahren Chamberlains, seine Angebote verschiedentlich mit der erpresserischen Drohung zu garnieren, wenn Deutschland nicht willig sei, könne England sich auch mit Frankreich und Rußland einigen. Das hieß im Klartext, daß England in den europäischen Beziehungen die Übermacht suche, entweder mit Deutschland oder gegen es. Inwieweit dies der Vertrauensbildung diente, bleibe dahingestellt; aber Vertrauensbildung war gewiß das letzte, worum es bei den Bündnisgesprächen ging. Als die Unterhandlungen 1901 schließlich scheiterten, wurde in London öfters vermerkt, ein Bündnis in der von Deutschland gewünschten Form habe man schon deshalb nicht annehmen können, weil man sich dadurch Rußland und Frankreich entfremdet hätte. Da die Bündnisfühler ursprünglich von London ausgegangen waren, hatte man hier offenbar etwas gewollt, was Deutschland gerade nicht wollte; beide Seiten hatten jahrelang aneinander vorbeigeredet. Denn Britannien suchte ein Bündnis mit Deutschland, das ihm zugleich erlaubte, mit seinen "Gegnern" auf gutem Fuß zu bleiben. Wie dies zu verstehen war, erläuterte Chamberlain in einer Denkschrift von 1900. Es hieß dort: "In China wie anderswo liegt es in unserem Interesse, daß Deutschland sich Rußland in den Weg wirft. Was wir befürchten müssen, ist ein Bündnis zwischen Deutschland und Rußland, das die Mitarbeit Frankreichs zur Folge haben würde. Der Zusammenstoß deutscher und russischer Interessen, ob in China oder in Kleinasien, würde eine Garantie für unsere Sicherheit sein ... Wir sollten von der Gelegenheit Gebrauch machen, den Riß zwischen Rußland und Deutschland und zwischen Rußland und Japan zu vergrößern." Das entsprach nun genau dem, was hier schon öfter festgestellt wurde, und insofern bestand auch keinerlei Unterschied zwischen Salisbury und Chamberlain: Britannien wollte Deutschland benützen, um sich gegen Rußland zu schützen, und zu diesem Zweck sollten die Spannungen zwischen Britannien und Rußland auf die Mittelmächte abgelenkt werden. Nachdem Salisbury auf dem Balkan nicht zum Zug gekommen war, versuchte Chamberlain mit Salisburys Billigung dasselbe jetzt in astasien oder an anderer Stelle. Das Bündnis, welches London vorschwebte, wäre ein höchst ungleiches gewesen; man suchte einen Handlanger auf dem Kontinent, den man gegen Rußland, Britanniens ernstesten Widersacher, vorschieben konnte. 21 Ohne Zweifel hätte Britannien ein Bündnis mit Deutschland nur dann haben können, wenn es bereit gewesen wäre, einigermaßen gleiche Bedingungen zuzugestehen. Das war nie der Fall, auch nicht 1901, als Bülow ungeachtet aller 21 Zur EIsaß-Lothringen-Frage Hohenlohe, 483 ff.; Carroll, 425 f.; Andrew, 49, 255. Richthofen an Bülow in dessen Denkwürdigkeiten I, 51Off. (3./5.2.1901). Britische Stellungnahmen zur Bündnisfrage Ende 1901 in Britische Dokumente 2/ I, 116 ff. (Bertie, 9.11.1901), 122 ff. (Lansdowne, 22.11.1901). Zu Chamberlain Monger, 18 f. Zur Deutung der Bündnisgespräche Meinecke, Bündnisproblem, 85 ff., 177 ff., 213 ff. Grenville, 148 ff., 327 ff., 344 ff. P. M. Kennedy, 223 ff.
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Gefahren, wie sie von Richthofen aufgezeigt wurden, Gespräche über ein derartiges Bündnis führen ließ. Die Fühlungnahrnen wurden jedoch von Berlin bewußt unverbindlich gehalten und suchten der britischen Seite die Verantwortung zuzuschieben, so daß der Verdacht naheliegt, Bülow habe sich die Rückzugsmöglichkeit offenhalten wollen, um nicht in die aufgestellten Fallen hineinzutappen. An einem Bündnis, wie die deutsche Seite es allenfalls in Erwägung gezogen hätte, war freilich Salisbury und der Mehrheit des britischen Kabinetts nicht gelegen. Schon im Anschluß an die ersten Bündnisfühler 1898 entwickelte Chamberlain den Plan, einen weltweiten Interessenausgleich mit Deutschland herbeizuführen und auf dieser Grundlage ein Verteidigungsbündnis abzuschließen, das sich gegen den Angriff von zwei europäischen Mächten (Rußland und Frankreich) richtete. Der Plan war in Berlin augenscheinlich nicht vollständig bekannt, man wußte aber, daß Chamberlain China in Einflußgebiete aufteilen wollte, wobei das deutsche zwischen dem englischen und dem russischen gelegen wäre und als Puffer gewirkt hätte. Da man in Deutschland keine Veranlassung sah, für England in Asien den Kopf hinzuhalten, wimmelte Bülow die Vorschläge Chamberlains erst einmal ab. Der Weg zu Einzelabmachungen wurde jedoch offengehalten, schon deswegen, um England nicht vorzeitig in die Arme Rußlands zu treiben. Bemerkenswert an dem Bündnisplan Chamberlains war nun vor allem dies, daß Deutschland das Vorfeld Indiens, nämlich Afghanistan, sowie Ägypten für Britannien garantieren sollte. Dagegen bestand keine britische Beistandspflicht, wenn Rußland die Türkei angriff. Man erkennt sofort die Hintertür, die hier offenblieb; bestätigt wird es überdies von Chamberlain selbst in der vorhin genannten Denkschrift von 1900: Deutsche und russische Interessen sollten in China oder Kleinasien aufeinanderprallen. Deutschland hätte zwar Indien verteidigen müssen, dagegen konnte Britannien unbeteiligter Zuschauer bleiben, wenn in China Deutschland und Rußland oder auf dem Balkan die Mittelmächte und Rußland zusammenstießen. Beispielsweise konnte Rußland in China das deutsche Einflußgebiet angreifen oder in ähnlicher Weise auf dem Balkan gegen die Türkei bzw. gegen Österreich vorgehen. Wenn Deutschland darauf mit der Kriegserklärung antwortete, so war für Britannien der Bündnisfall nicht gegeben, weil kein Angriff von zwei Mächten auf Deutschland vorlag. Eine Entfremdung zwischen Britannien und dem russisch-französischen Zweibund wäre so allerdings vermieden worden; der eigentliche Gegner Rußlands wäre immer Deutschland geblieben. Dabei müssen auch die Stärkeverhältnisse berücksichtigt werden. Jeder Gegensatz zwischen Deutschland und dem russisch-französischen Zweibund in irgendeiner Weltgegend würde auf Europa zurückschlagen; er konnte zum europäischen Krieg führen, in den voraussichtlich alle kontinentalen Staaten, die durch Bündnisverflechtungen aneinander gebunden waren, hineingezogen würden. Chamberlains Andeutung, ein britisch-deutscher Bund würde ein Übergewicht erlangen, galt nicht überall in derselben Weise. Mit Sicherheit traf dies für einen Streit über Indien zu, und ähnliches galt für Ostasien, wo man voraussichtlich auf Japan zählen durfte. Auf dem Balkan dagegen blieben die kontinentalen Mächte
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gewissennaßen unter sich. Wenn ein russischer Angriff auf die Türkei den europäischen Krieg auslöste, weil Österreich nicht stillhielt und von Deutschland unterstützt wurde, dann war England zum Eingreifen nicht verpflichtet. Das war sorgfältig ausgedacht, denn Rußland erhielt damit einen deutlichen Hinweis: Bei seiner Ausdehnungspolitik konnte es in China und Indien auf eine Übennacht stoßen, auf dem Balkan aber nicht. Dahinter verbarg sich natürlich nichts anderes als der alte Gedanke Salisburys, Rußland auf den Balkan abzulenken und den europäischen Gegensatz dort festzumachen. Um diese Dinge ging es, als die Bündnisverhandlungen 1901 in ihr entscheidendes Stadium traten. Gegen die russische Besetzung der Mandschurei (19001905) versuchte der neue britische Außenminister Lansdowne 1901 ein gemeinsames Vorgehen Britanniens mit Deutschland und Japan zustande zu bringen. Der Plan war aus verschiedenen Gründen untauglich und wurde von Lansdowne wohl nur als Verlegenheitslösung angesehen. Erstens lag es auf der Hand, daß Deutschland dem Zarenreich nicht in den Weg treten würde, was Bülow kurz darauf auch bekräftigte. Zweitens handelte es sich wieder einmal um nichts anderes als den Versuch, Deutschland und Rußland gegeneinander zu treiben. Für den Fall eines Krieges zwischen Japan und Rußland sollten sich Britannien und Deutschland vorbehalten, zugunsten Japans einzugreifen; bei einem Kriegseintritt Frankreichs sollten sie Japan mit Flottenstreitkräften unterstützen. Dies ließ zwei Folgerungen zu: Entweder beugte Rußland sich der Übennacht, die gegen sein Vordringen in Ostasien aufgebaut wurde, dann konnte es sich anschließend, im Sinne Salisburys und Chamberlains, wieder dem Balkan zuwenden. Oder es kam zu einem allgemeinen Krieg, denn Japan war bei ausreichender Rückendeckung unbedingt kriegs willig, und Lansdowne gründete das Unternehmen selbst auf die Voraussetzung, daß Deutschland kriegsbereit sei. Für die Reichsleitung war jedoch beides gleich unerwünscht. Drittens schließlich war Lansdownes Plan auch untauglich, weil er nur ein geheimes Regierungsabkommen vorsah. Auf derlei wollte man sich in Deutschland keinesfalls einlassen, seitdem man erfahren hatte, wie großzügig Salisbury mit der Mittelmeerentente umgesprungen war; zudem hob man hervor, daß Regierungsabkommen durch einen Kabinettswechsel leicht außer Kraft gesetzt werden könnten. Bei anderer Gelegenheit wurde dem in England Rechnung getragen, denn Chamberlain sah einen fonnellen, öffentlichen und vom Parlament gebilligten Vertrag mit Deutschland vor, was anscheinend sogar von Salisbury unterstützt oder zumindest hingenommen wurde. Worauf sich ein solcher Vertrag beziehen solle, war der springende Punkt bei den Unterhandlungen des Jahres 1901. Der deutschen Seite ging es - entsprechend dem früheren Vorschlag Chamberlains - um ein Verteidigungsbündnis gegen den Angriff von zwei Mächten, aber dieses Bündnis sollte zwischen England einerseits und dem deutsch-österreichisch-italienischen Dreibund andererseits geschlossen werden. Dabei hätte man sich in Berlin auch damit zufriedengegeben, wenn Deutschland gleichsam das Scharnier gewesen wäre. In diesem Sinn ließ Lansdowne einen Entwurf ausarbeiten, wonach ein entsprechendes Bündnis zwi-
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sehen Deutschland und Britannien auch dann gelten sollte, wenn ein Vertragsteil in einen Krieg mit zwei Mächten verwickelt wurde, und zwar "zur Verteidigung seiner rechtmäßigen Interessen oder infolge eines von ihm abgeschlossenen und der anderen Hohen Vertrag schließenden Partei mitgeteilten VerteidigungsbÜlldnisses" . Daraus durfte man berechtigterweise den Schluß ziehen, daß der Bündnisfall gegeben war, wenn Österreich wegen balkanischer Streitigkeiten mit Rußland in Krieg geriet und anschließend die anderen kontinentalen Mächte eingriffen. Salisbury war derjenige, welcher die fast erreichte Einigung unterband. Von den Argumenten, die er dagegen vorbrachte, waren nicht alle stichhaltig manche wurden von Lansdowne selbst widerlegt - , aber etliche verdienen doch Aufmerksamkeit. Vielleicht der durchschlagendste Einwand gegen das Bündnis hätte sein können, daß es mit einiger Sicherheit zum Krieg führen werde. Einem der wenigen britischen Minister, die nach Salisburys Entscheidung das Bündnis mit dem Dreibund noch unterstützten, Salisburys späterem Nachfolger Balfour, erklärte Lansdowne im Herbst 1901, das Eintreten des Bündnisfalles sei bei einem deutsch-britischen Vertrag viel wahrscheinlicher als bei dem britischjapanischen Bündnis, das dann 1902 geschlossen wurde. Damit bestätigte er das, was in Deutschland schon immer festgestellt worden war: Ein Bündnis Englands mit einem der kontinentalen Blöcke mußte das Gleichgewicht gefährden und zog früher oder später voraussichtlich den Krieg nach sich. Salisbury wußte das ebenso. Er wies darauf hin, die britische Regierung könne keine Versprechen für den Eintritt in einen furchtbaren Kampf geben, wenn die Haltung des Parlaments nicht gesichert sei und ein Regierungssturz befürchtet werden müsse. Dasselbe hatte Bülow schon drei Jahre vorher gesagt. Deswegen legte die deutsche Seite Wert auf ein unmißverständliches und genau umrissenes Bündnis, bei welchem Britannien zu seinen Verpflichtungen stand und sich nicht aus seiner Verantwortung wieder herausstehlen konnte. In Deutschland kannte man das Kriegsrisiko und wäre höchstens dann bereit gewesen, es auf sich zu nehmen, wenn es einen erkennbaren Vorteil geboten hätte; aber man war mit Sicherheit nicht bereit, sich in China oder auf dem Balkan gegen Rußland vorschieben zu lassen, um anschließend im Stich gelassen zu werden. Salisbury sagte nun nicht etwa, daß er das Bündnis ablehne, weil es vermutlich den Krieg nach sich ziehe, sondern er sagte etwas ganz anderes. Er meinte, die britische Verpflichtung, Deutschland und Österreich gegen Rußland zu verteidigen, wiege schwerer als die deutsche Verpflichtung, England gegen Frankreich zu verteidigen. Diese rätselhafte Äußerung scheint zunächst keinen Sinn zu ergeben, denn die Hauptlast eines Krieges wäre allemal an den Mittelmächten hängengeblieben, während das britische Mutterland unter diesen Umständen überhaupt nicht ernsthaft bedroht werden konnte. Sie ergibt jedoch sehr wohl einen Sinn, wenn man bedenkt, daß Salisbury sich vom Balkan zurückziehen und Rußland dort nicht mehr entgegentreten wollte; daher verbot sich ein Verteidigungsbündnis, das Österreich miteinbezog, von selbst. Was Salisbury, ebenso wie Chamberlain, anstrebte, war ein Bündnis, bei welchem er die Mittelmächte und den russisch-französischen Zwei-
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bund gegeneinander ausspielen konnte. Kam es dann zum Krieg, so war dieser für Deutschland schlimmstenfalls immer ein Zweifrontenkrieg; insofern wog die deutsche Verpflichtung immer gleich. Für England machte es aber einen großen Unterschied, ob es zur Verteidigung des Balkans verpflichtet war oder sich seine Entscheidung vorbehalten konnte; insofern wog seine Belastung, wenn es auf den deutschen Bündnisplan einging, schwerer. 22 Die verbreitete Neigung, der deutschen Seite eine tiefreichende Fehleinschätzung der britischen Absichten zu unterschieben und dies mit dem Analytiker des Auswärtigen Amtes, Holstein, in Verbindung zu bringen, erweist sich im Licht der Tatsachen als unhaltbar. Die deutschen Reichskanzler und Außenminister (Staatssekretäre) waren über Jahrzehnte hinweg in der Lage, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Wenn es mit demjenigen Holsteins übereinstimmte, so zeigt dies nur, daß die Verhältnisse richtig erfaßt wurden; auf der englischen Seite wurde dies in der Regel bestätigt. Noch im Ausklang der Bündnisgespräche teilte Holstein mit Billigung Bülows einem britischen Zeitungsmann die deutschen Ansichten über die Politik Salisburys mit, wonach diese seit Jahren auf den Krieg hinarbeite, wohl in der Hoffnung, dadurch Druck auf die britische Regierung ausüben zu können, den bisherigen Weg zu verlassen. Daß Holsteins Feststellungen von einzelnen Regierungsmitgliedern in London bestritten wurden, zumal gegenüber dem Journalisten, versteht sich eigentlich von selbst; auf die Gültigkeit oder Ungültigkeit der deutschen Meinung läßt sich daraus nicht schließen. Trotzdem gibt es einige interne Äußerungen, die Beachtung verdienen. Salisbury selbst wies nicht etwa entrüstet Holsteins Beschuldigungen zurück, sondern er verschanzte sich wieder hinter der Unwägbarkeit parlamentarischer Entscheidungen. Anders als Holstein, der Außenpolitik als berechenbare Veranstaltung in der Art eines Schachspiels ansehe, könne er, Salisbury, verbindliche Aussagen über die britische Politik nur machen, wenn der Kriegsgrund angebbar sei. Das hieß nicht, daß die britische Politik unberechenbar war; Salisbury spielte nur - um in seinem eigenen Bild zu bleiben - ein anderes Spiel als die Reichsleitung. Gemeint war offenbar, daß Britannien bloß für britische Interessen in einen Krieg eintreten und die Entscheidung hierüber sich vorbehalten wolle. Zugunsten Österreichs einen Krieg auf sich zu nehmen, entsprach diesem Interesse nicht, also mußte es unterbleiben. Worin bestand dann das britische Interesse? Unterstaatssekretär Sanderson vom Foreign Office schrieb in derselben Angelegenheit, Salisbury habe in Gesprächen mit ihm nie angedeutet, daß er einen europäischen Krieg als unmittelbar bevorstehend ansehe. Wenn das wahr wäre, müßte Salisbury einem seiner engsten Mitarbeiter weniger anvertraut haben als ausländischen Diplomaten, denn gegenüber dem österreichischen Botschafter hatte er früher 22 Chamberlains Bündnisplan 1898 nach Hollenberg, 43 ff., 47 f. Die deutschen Akten dazu in GP 14/ I, insbesondere Nr.3783, 3778 (Bülow, 30.3.1898, 14.3.1899). Zu Lansdowne Grenville, 340 f. Monger, 32, 38, 44, 82. Lansdownes Bündnisentwurf und Salisburys Stellungnahme in Britische Dokumente 2/1, 105 ff. (27./29.5.1901). Ferner Grenville, 353 ff.
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zugegeben, daß die Aufteilung der Türkei den Krieg nach sich ziehe. Dennoch wäre es vorstellbar, daß Sandersons Äußerung nicht bloß der Beschwichtigung des genannten Journalisten dienen sollte, sondern auch einen richtigen Kern enthielt. Man wird diesen Dingen am ehesten auf die Spur kommen, wenn man sich über den Inhalt der britischen Interessen vergewissert. In Deutschland nahm manja stets an, Britannien wolle bei einem europäischen Krieg wegen Balkanfragen nicht gegen Rußland auftreten. Warum hätte es diesen Wunsch hegen sollen? Die Antwort ist ziemlich einfach: wegen Indien. Es war aller Welt bekannt und wurde von Salisbury selbst am schärfsten ausgesprochen, daß ganz Indien im Aufruhr sich erheben werde, wenn ein russisches Heer auch nur an den Grenzen Indiens erscheine. Indien war derjenige Punkt, an welchem das britische Weltreich wirklich schwer verwundbar war oder sogar aus den Angeln gehoben werden konnte; und dies vermochte Rußland mit verhältnismäßig geringem Kraftaufwand zu bewirken. Im 19. Jahrhundert hatte England es sich leisten können, den Balkan zu verteidigen und dort mit Rußland zusammenzustoßen, weil Indien noch nicht in dieser Weise bedroht war. Seit der Jahrhundertwende konnte England sich das nicht mehr leisten, wenn es nicht Gefahr laufen wollte, Indien abschreiben zu müssen. Das war der Grund, weshalb Salisbury die "wahre Sympathie" mit Rußland suchen wollte. Das war aber auch der Grund, weshalb Britannien mit Deutschland kein Bündnis der Gleichberechtigung eingehen konnte und wollte, denn es durfte Rußland nirgendwo selbst entgegentreten, in China nicht und auf dem Balkan erst recht nicht. Wenn Sanderson von Salisbury nie ein Wort über die drohende Kriegsgefahr gehört haben will, so kann das wahr sein oder auch nicht; sollte es zutreffen, so erhöbe sich zumindest die Frage, was Salisbury mit seinen Manövern sonst bezweckte. Immerhin ist nicht auszuschließen, daß Salisbury den baldigen Ausbruch eines Krieges - jedenfalls in Europa - nicht ernsthaft erwartet hat. Beim Balkanbrandprojekt hatte ja auch Reichskanzler Hohenlohe einen friedlichen Ausgang in Rechnung gestellt. Ebenso war bei Chamberlains Bündnisplänen nicht ohne weiteres anzunehmen, die deutsche Seite würde in die aufgestellten Fallen hineintappen, und sie hat es nicht getan. Man wird der Wahrheit näher kommen, wenn man das Balkanbrandprojekt und den Bündnisplan nur als Zwischengeplänkel in einer langfristigen Strategie ansieht. Falls beide scheiterten, was zwar nicht sicher, aber doch zu vermuten war, dann gab es zunächst eben keinen Krieg. Was blieb, war die Möglichkeit, mit dem russisch-französischen Zweibund zu einer Einigung zu gelangen. Was konnte die "wahre Sympathie" mit Rußland dann besagen? In Ostasien hat sie London jedenfalls nicht abgehalten, gegen das Zarenreich Japan ins Feuer zu schicken. Schwieriger standen die Dinge in Indien. Die Bemerkung Salisburys, die britische Pflicht zur Verteidigung der Mittelmächte wiege zu schwer, erhält ihre volle Bedeutung erst im Hinblick auf Indien. Bei einem Krieg der Mittelmächte an der Seite Englands war Indien aufs äußerste gefährdet, weil Rußland nur hier Großbritannien zu treffen vermochte. Es empfahl sich deshalb für London, jede Bündnispolitik zu vermeiden, die
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Indien gefährden konnte, d. h. es mußte entweder neutral bleiben, sei es langfristig oder sei es im Krieg, oder es mußte sich auf die Seite Rußlands stellen. Damit entstand für die britische Politik ein mehrfacher Zwiespalt. Erstens war Britannien um die Jahrhundertwende einfach nicht mehr in der Lage, sich aus allen Bündnisverflechtungen herauszuhalten, wovon die vielfach bekundete Bereitschaft britischer Staatsmänner, sich bei irgendwem anzulehnen, Zeugnis gibt. Zweitens lag es auf der Hand, daß Britannien durch die Mittelmächte kaum ernsthaft bedroht werden konnte, auf seiner Insel nicht und in Indien ebensowenig. Dagegen war Britannien allein und ohne Verbündete nur mit größter Mühe oder vielleicht gar nicht imstande, sich in Asien und besonders in Indien gegen Rußland zu behaupten. Dies galt nicht nur für den Kriegsfal!, sondern in gleicher Weise für den Frieden. Die grundlegende Schwierigkeit lag darin, daß Britannien in Indien erpreßbar war, und zwar durch Rußland. Ähnlich wie früher Salisbury stellte Balfour 1903 fest: "Obgleich Indien ein zu großer Happen für seinen Schlund ist, glauben doch die russischen Staatsmänner, daß, wenn Rußland sich eine strategisch überlegene Position an unserer indischen Grenze sichern könnte, wir dann in Asien so große Angst vor ihm bekämen, daß wir auch in Europa ihr untertänigster Diener wären." Drittens konnte Britannien zwar darangehen, sich mit anderen Ländern zu verbinden, doch gab ein Bündnis mit den Mittelmächten keine vollkommene Sicherheit für Indien, weder im Frieden gegen russische Erpressungen noch im Krieg gegen einen russischen Vorstoß. Was blieb also? Daß London seit den Zeiten Salisburys die Verständigung mit dem Zarenreich suchte, ist noch keine ausreichende Antwort; die "wahre Sympathie" mit Rußland änderte an der britischen Erpressbarkeit wegen Indien überhaupt nichts. Balfour deutete das an, wenn er davon sprach, Rußland könne Britannien zu seinem untertänigsten Diener machen, und er gab darüber hinaus unverhohlen zu, für ein wirklich zufriedenstellendes, dauerhaftes Arrangement mit Rußland bestehe keine Hoffnung. Die "wahre Sympathie" mit Rußland war deshalb nichts anderes als ein Scheinmanöver; das beste Mittel gegen russische Erpressungen stellte in Wahrheit der Krieg dar. Ein vereinzelter britisch-russischer Krieg verbot sich von selbst, um nicht Rußland in die Arme der Mittelmächte zu treiben. Sondern England brauchte andere Mächte, die mittelbar für Britannien den Krieg führten und tunlichst Rußland so schwächten, daß es in Asien auf absehbare Zeit nicht mehr gefährlich werden konnte. Ein begrenzter Krieg, wie Japan ihn dann tatsächlich führte, reichte hierfür noch nicht aus. Eine entscheidende Schwächung Rußlands war vielmehr am ehesten von einem europäischen Krieg zu erwarten, doch mußte England dabei auf der richtigen Seite stehen, nämlich auf derjenigen Rußlands, um Indien nicht zu gefährden. Ein Krieg in Europa war nur dann in Sicht, wenn es dort erhebliche Streitpunkte gab, und die ließen sich am ehesten auf dem Balkan finden. Seit dem Balkanbrandprojekt war ohnedies klar, daß Salisbury die Halbinsel dem russischen Machtstreben preisgeben wollte. Selbst Balfour, der 1901 noch das Bündnis mit den Mittelmächten befürwortet hatte, wandte sich später nicht mehr dagegen, auf die Erhaltung Konstantinopels zu verzichten. 23
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War es dann so verkehrt, wenn Bülow und Holstein meinten, England warte auf den Krieg? Der bestechende Schachzug dabei war, daß London die Entscheidung anderen Mächten zuschob, während England in der Hinterhand blieb und die Entwicklung der Dinge abwarten konnte. Die britische Politik war so von vornherein von dem Vorwurf befreit, einen Krieg absichtlich ausgelöst zu haben; dies konnte sie von anderen besorgen lassen. Sogar im eigenen Selbstverständnis brauchte England nur zum Krieg bereit zu sein, was mehr oder weniger auch für andere Mächte zutraf, während es nicht schlechterdings als ausgemacht gelten mußte, daß der Krieg überhaupt ausbrach. Unzweideutig ausgesprochen wurden nur Salisburys Absichten, sich mit Rußland zu verständigen und das Zarenreich auf den Balkan zu lenken. Wenn dabei Spannungen auftraten, womit man vernünftigerweise rechnen mußte, so konnte Britannien auch hier den Schein des Außenstehenden wahren; es war ja nicht zwingend notwendig, daß Rußland auf dem Balkan Hegemonialpolitik trieb, und Britannien war dafür auch nicht verantwortlich. Trotzdem waren damit die Weichen gestellt, und es darf vorab bemerkt werden, daß sich die Dinge längerfristig in den von Salisbury vorgezeichneten Bahnen entwickelten. Das Bündnis, welches Britannien Anfang 1902 mit Japan schloß, gab diesem Rückenfreiheit gegen Rußland, indem es eine britische Beistandspflicht beim Eingreifen einer weiteren Macht, d. h. Frankreichs, vorsah. Zur See waren England und Japan dem russisch-französischen Zweibund überlegen, dennoch durfte Britannien es nicht auf einen Krieg mit Frankreich ankommen lassen, um Rußland und Frankreich nicht an die Seite Deutschlands zu führen. Die folgenden Jahre wurden so zu den entscheidenden in der Gestaltung des europäischen Mächteverhältnisses. England betrieb alsbald die Annäherung an Frankreich, um dieses neutral zu halten. Zum Handelsobjekt wurde Marokko, das in der britisch-französischen Entente von 1904 als Interessengebiet Frankreichs anerkannt wurde, während Frankreich auf seine wirtschaftlichen Einflußmöglichkeiten in dem seit 1882 von England besetzten Ägypten verzichtete. Zudem enthielt diese ,,Entente cordiale" einen weltweiten Ausgleich zwischen beiden Ländern, namentlich Vereinbarungen über Neufundland, Westafrika, Thailand, Madagaskar, die Hebriden sowie über Handelsfragen und diplomatische Unterstützung. Den Brückenschlag zu Frankreich verstand man in London und Paris als Vorstufe eines Brückenschlages zu Rußland; Chamberlain sprach sich jetzt, unter Berufung auf Salisbury, für eine Entente zu dritt aus (Tripel-Entente), die eines Tages die Geschicke der Welt bestimmen könne. Ähnlich wurde die Sachlage in Deutschland betrachtet. Der Kaiser und der Generalstabschef Schlieffen fanden 1904 / 1905 dieselben Worte, als sie die Lage Deutschlands mit derjenigen Preußens vor dem Siebenjährigen Krieg verglichen; damals hatte Friedrich der Große sich gegen eine erdrükkende Übermacht behaupten müssen. Der entsprechende Gegenzug konnte nur 23 Zu Salisbury, Sanderson und der Indien-Frage Grenville, 25, 295 f., 359 f., 362 ff. Balfour über Indien bei Hölz!e, Quellen, 17 ff. (21.12.1903). Ferner Monger, 144 f., 369.
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in dem deutschen Versuch bestehen, den übennächtigen Ring wieder aufzubrechen. 24 Damit trat der Gedanke des Kontinentalblocks in den Vordergrund. Der russische Außenminister Lamsdorffhatte 1902, nach dem britisch-japanischen Bündnis, eine gemeinsame Ostasien-Erklärung Rußlands, Frankreichs und Deutschlands angeregt und durchblicken lassen, dies könne zu einem Zusammenschluß aller kontinentalen Mächte führen. Bülow war darauf nicht eingegangen; statt dessen hatte er zu verstehen gegeben, er sei zur Zusammenarbeit mit Rußland durchaus bereit, aber nicht im Wege von Erklärungen, die Deutschland nur außenpolitische Lasten aufbürdeten, sondern lediglich im Wege eines regelrechten Bündnisses, das die Pflichten gleichmäßig verteilte und zugleich den Gegensatz der beiden Blöcke aufhob. Für ein solches Bündnis kam freilich Frankreich immer weniger in Betracht. Paris wäre wohl um die Jahrhundertwende dem Gedanken an eine Einigung mit Deutschland und gegebenenfalls einen Kontinentalblock am ehesten zugänglich gewesen; zumindest deuten die Erwägungen des Außenministers Delcasse, in der Elsaß-Lothringen-Frage gegen koloniale Entschädigungen zu einem Ausgleich zu gelangen, darauf hin. Man mag darin mit größerer Berechtigung eine verpaßte Gelegenheit sehen als in den unnützen deutsch-britischen Bündnisgesprächen. Nachdem eine Bewegung in dieser Angelegenheit nicht erzielt werden konnte, wandte Frankreich sich Britannien zu und begann Salisburys Vorhersage von 1899 zu erfüllen: In Frankreich erkenne man, daß das russische Bündnis nur gegen Deutschland von Wert sei, nicht aber gegen England, und werde deshalb geneigt sein, die Feindschaft gegenüber Britannien abzubauen. Damit setzten zwei gegenläufige Entwicklungen ein. Auf der einen Seite hatte Bülow stets darauf spekuliert, der britisch-russische Gegensatz werde einmal zu einem Zusammenstoß führen und dann das kontinentale Bündnis in erreichbare Nähe TÜcken. In Ostasien schien sich eine solche Lage nunmehr abzuzeichnen. Auf der anderen Seite machte die britisch-französische Annäherung es jedoch fraglich, ob der russisch-französische Zweibund auf die deutsche Seite gezogen werden könne; es mußte sich erst erweisen, ob Berlin die Bindung Rußlands an Frankreich überspielen oder die Bindung Frankreichs an England wieder zerreißen konnte. Wie auch immer die Chancen des Gelingens einzuschätzen sind, richtig bleibt jedenfalls, daß der Versuch unternommen werden mußte. Denn eines haben Bülow und andere in den Jahren 1904/05 sicher zutreffend erkannt: Ein Bündnis der Kontinentalmächte, zumindest aber eines zwischen Deutschland und Rußland, war die einzige Möglichkeit, eine englisch-französisch-russische Gruppierung zu verhindern. 25 24 Lowe / Dockrill, Power I, 5 ff. Hölzle, Selbstentmachtung, 121 ff. Monger, 165, 180 f. und passim. Andrew, De1casse. Die Äußerung des Kaisers in GP 19/1, 317 (23.11.1904). Zu Schlieffen F. Fischer, Krieg, 94 ff., 98. 25 Zu Lamsdorff GP 17, 156 ff. Vogel, 109 ff. Salisbury bei Monger, 19 f. Die deutschen Akten zu den Bündniserwägungen 1904/05 (siehe auch den nächsten Abschnitt) in GP 19/1, vor allem Nr. 6120 (Entwurf eines Bündnisvertrags mit Rußland,
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Immerhin schienen die Dinge seit 1902 sich zunächst im Sinne Bülows zu entwickeln. Der Kanzler nahm die Annäherung zwischen England und Frankreich gelassen hin, da er sich ausrechnete, Rußland werde, wenn Frankreich sich als unzuverlässig erweise, zu einem Bündnis mit Deutschland am ehesten bereit sein. So war denn in der Tat die britisch-französische Verständigung anfangs nicht unbedingt ein Nachteil für Deutschland. Die französische Neutralität begrenzte für Japan und England das Risiko, machte also den Krieg leichter führbar, und als der Krieg 1904 ausbrach, bot er Berlin eine Handhabe, bei dem von Frankreich allein gelassenen Rußland um ein Bündnis zu werben. Es lag auf der Hand, daß Frankreich nach Abschluß der Entente kaum noch Neigung hatte, an einer kontinentalen Verbindung teilzunehmen, da seine Belange im Zusammenwirken mit Britannien mittlerweile besser gewahrt wurden. Dem trugen die beiden deutschen Bündnisangebote an Rußland vom Herbst 1904 und Sommer 1905 Rechnung, denn beide ließen Frankreich einstweilen außer Betracht; erst später sollte es zum Beitritt veraniaßt werden. Zar Nikolaus 11. war mit beiden zunächst einverstanden, ließ sich aber jeweils von Lamsdorff wieder dahingehend umstimmen, ohne Kenntnis oder Beitritt Frankreichs könne das Bündnis nicht zustande kommen. Die deutsche Politik mußte nun selbst darangehen, Frankreich in das Bündnis hineinzubringen. Den Hebel stellte wiederum Marokko dar. Durch eine internationale Übereinkunft von 1880 waren Marokkos Unabhängigkeit und die wirtschaftliche Gleichberechtigung aller Länder verbürgt worden. Als sich im Gefolge der britisch-französischen Entente das Bestreben Frankreichs abzeichnete, ein Protektorat über Marokko zu errichten, griff im Frühjahr 1905 Berlin ein. Es verlangte die Einhaltung der völkerrechtlichen Abmachungen, ließ sich auch nicht auf das Angebot eines zweiseitigen kolonialen Ausgleichs mit Paris ein und forderte Klärung der Angelegenheit durch eine internationale Konferenz. Von einer solchen war vorherzusehen, daß sie in etwa den Zustand von 1880 bestätigen und damit Frankreich daran hindern würde, auf der Grundlage der Entente Marokko völlig zu vereinnahmen. Dadurch sollte Frankreich vor Augen geführt werden, daß die Entente ihm bei Erreichung seiner Ziele nicht viel nützte und daß es besser beraten war, wenn es sich von England wieder löste, um sich auf Deutschland zu stützen. Das kontinentale Bündnis wäre dann vielleicht doch noch erreichbar gewesen. Auf der Konferenz, die 1906 in Algeciras stattfand, wurde in der Tat die Souveränität Marokkos formell aufrechterhalten, Frankreich sah sich jedoch von den meisten anderen Ländern unterstützt, insbesondere natürlich von England, aber auch von Rußland, so daß der Versuch, Paris aus der Entente zu lösen, als gescheitert betrachtet werden mußte. Bülow sprach nun 30.10.1904), Nr. 6139, 6140 (Gedankenaustausch zwischen Bülow und dem Londoner Botschafter Mettemich, 16. / 18. 12. 1904). Dazu eine Aufzeichnung von Generalstabschef Schlieffen über die militärische Lage, 16.11.1904, bei Behnen, Quellen, S. 298 ff. Ferner GP 19/11, vor allem Nr. 6220 (2. Entwurf für einen deutsch-russischen Bündnisvertrag, 24.7.1905). Bülow im Reichstag über Einkreisung (siehe nächster Abschnitt) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 14. 1l. 1906, 3623 ff. Zur Deutung der Vorgänge Winzen, 404 ff. Rich, Holstein 11. Monger, 224 ff. 4 Rauh, Zweiter Weltkrieg I. Teil
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vor dem Reichstag erstmals öffentlich von den Gefahren, die eine Einkreisung Deutschlands für den europäischen Frieden mit sich bringen müsse, was wohl als Warnung an die Adresse Petersburgs zu verstehen ist, sich an einem solchen Unternehmen zu beteiligen. Trotzdem schloß Rußland 1907 mit Britannien eine Entente ab, in welcher die beiderseitigen Interessen in Persien, Afghanistan und Tibet miteinander abgestimmt wurden; das Vorfeld Indiens konnte damit einstweilen als gesichert gelten. Die Schwenkung Petersburgs wird verständlich, wenn man sich vor Augen hält, daß Rußland das alte Ziel seiner Ausdehnungspolitik, den Balkan, nie vollständig aus dem Blick verloren, sondern nur zeitweilig zugunsten Asiens zurückgestellt hatte. Im Verlauf des Krieges gegen Japan war deutlich geworden, daß Rußland in Ostasien auf unüberwindliche Hindernisse stoßen würde, da außer Japan und England schließlich auch die USA bereit waren, dem Zarenreich entgegenzutreten. Ein Kontinentalblock war demnach für Petersburg kein erstrebenswertes Ziel mehr, da er Rußland allenfalls die Gegnerschaft der vereinigten Seemächte aufbürden konnte. Auf dem Balkan dagegen blieb der Weg frei, den Salisbury schon 1895 aufgewiesen hatte: Das Hindernis, welches die Mittelmächte hier darstellten, durfte Rußland im Verein mit Frankreich und England eher zu überwinden hoffen. Es ist eine müßige Frage, ob es sich bei der Bildung der Tripel-Entente um eine Einkreisung oder eine Auskreisung Deutschlands gehandelt habe. Richtig ist vielmehr, daß die Bildung eines Ringes um die Mittelmächte das europäische Gleichgewicht empfindlich in Mitleidenschaft zog, auch wenn sie es vorderhand noch nicht gänzlich zerstörte. Der neue britische Außenminister nach dem Regierungswechsel von 1905, Edward Grey, schrieb Anfang 1908 an seinen späteren Unterstaatssekretär Nicolson, die Vereinigung von Britannien, Rußland und Frankreich sei im Konzert der Mächte wohl vorläufig schwach, aber in zehn Jahren sei sie imstande, die Politik in den Balkan- und Türkeifragen zu beherrschen. Man sollte diese zeitliche Vorhersage im Auge behalten. Sie kehrte bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder, als die deutsche Reichsleitung 1914 feststellte, sie könne nicht noch ein paar Jahre warten, bis die Tripel-Entente militärisch überlegen sei. Rußland war 1905, nach dem verlorenen Krieg und der Revolution, erst einmal geschwächt, aber es erholte sich im Laufe der Jahre und wurde dabei sorgfältig von der britischen Regierung beobachtet. Auch Greys Hinweis auf den Balkan ist ja nicht zufällig. Eben dort wollte Salisbury die kontinentalen Mächte aufeinanderprallen lassen, und eben dort sind sie 1914 aufeinandergeprallt. Wenn die Tripel-Entente dort die Politik beherrschen konnte, wie Grey sagte, zwang sie die Mittelmächte insoweit in die Abhängigkeit und beschwor damit die Gefahr herauf, daß die Mittelmächte im Krieg den einzigen Ausweg sahen. Wie man solches mit einiger Sicherheit bewerkstelligen könne, war ebenfalls klar. Greys damaliger Unterstaatssekretär Hardinge stellte im Jahr 1909 fest, engere Beziehungen zwischen den Mächten der Tripel-Entente würden genau das hervorrufen, was man gegenwärtig zu vermeiden wünsche, und das sei ein allgemeiner Krieg. Ähnlich hatte sich Grey schon 1906 ausgesprochen.
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In diesem Jahr begannen die geheimen Verhandlungen zwischen dem französischen und dem britischen Generalstab, die im Laufe der Jahre zwar nicht formell, aber tatsächlich zu einem militärisch vorbereiteten und untermauerten Bündnis führten. Im Jahr 1906 stellte Grey fest: "Die Schwierigkeit, jetzt ein Bündnis mit Frankreich zu schließen, besteht darin, daß Deutschland, solange Rußland hilflos ist, Frankreich sofort angreifen könnte aus Furcht, daß, wenn Rußland sich wieder erholte, es (Deutschland) von einem neuen gegnerischen Dreibund zermalmt werden würde. Es könnte ein Bündnis zwischen uns und Frankreich zum Vorwand nehmen, dies zu tun, und zwar als das Einzige, was ihm die Möglichkeit böte, seine Zukunft zu sichern." Die Überlegung, die darin enthalten war, besagte, daß die britischen Ententen das europäische Gleichgewicht noch nicht beseitigten, weil sie keine formellen, auf Europa bezogenen Bündnisse darstellten, die Britannien im Kriegsfall zwingend an die Seite des russischfranzösischen Zweibunds führten. England war also vorläufig neutral und hielt dadurch das europäische Gleichgewicht aufrecht. Aber England hatte es zugleich in der Hand, durch bindende Abmachungen (engere Beziehungen im Sinne Hardinges) mit Frankreich oder Rußland der Tripel-Entente später ein Übergewicht zu verschaffen und damit den Krieg auszulösen. Das war der Mechanismus, der hier schon öfter in Rede stand; diesen Mechanismus kannten die außenpolitisch Handelnden, und an ihm richteten sie ihr Verhalten aus. 26 Daß Europa seit dem Abschluß der Tripel-Entente auf einem schmalen Grat zwischen Krieg und Frieden wandelte, war unter den Verantwortlichen jedem bewußt. Die entscheidende Frage war, ob der Krieg auf die Dauer verhindert werden könne. Der damalige deutsche Außenminister Tschirschky hielt dies schon 1907 für ausgeschlossen, der österreichische Außenminister Aehrenthal jedenfalls 1911, und die beiderseitigen Generalstabschefs Moltke bzw. Conrad von Hötzendorf glaubten je länger desto weniger daran. In London meinten Grey und Nicolson, der 1910 Unterstaatssekretär wurde, der Krieg sei auf die. Dauer unvermeidlich und England könne nicht umhin, sich daran zu beteiligen. Ebenso wahrscheinlich war es, daß der Krieg von Balkanstreitigkeiten mit Rußland seinen Ausgang nehmen würde. Ob der russische Außenminister Iswolski wirklich schon 1907 einen zukünftigen Krieg mit Österreich ins Auge faßte, wie er privat gesagt haben soll, bleibe dahingestellt. Jedenfalls leitete er die Rückwendung Rußlands zu einer ausgreifenden Balkanpolitik ein, von der man in England erwartete, daß sie zu Reibungen mit den Mittelmächten führen werde. Als Österreich 1908 übrigens durch vorherige Absprache mit Iswolski gedeckt - Bosnien und die Herzegowina annektierte, die es ohnedies seit 1878 besetzt hielt, vermerkte Hardinge in London befriedigt, daß der Streit auf dem Balkan zwischen Österreich und Rußland jetzt beginne und infolgedessen England in Asien durch Rußland nicht belästigt werde. Der Streit begann, weil Iswolski ungeachtet der urspTÜngli26 Grey 1908 in Britische Dokumente 4, 1012 f. (24.2.1908). Hardinge 1909 bei K. Wilson, 45. Grey 1906 in Britische Dokumente 3, 629 f. (18.9.1906).
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chen Abmachungen nunmehr Serbien gegen die Donaumonarchie unterstützte, was wiederum die Mittelmächte nicht hinnehmen wollten. Grey umriß 1909 die Lage mit den Worten, einer der wichtigsten Faktoren in der zukünftigen Politik Europas sei der Kampf auf dem Balkan, und zwar nicht, wie früher, der Kampf zwischen Rußland und Britannien, sondern der Kampf zwischen Slawen und Deutschen; wenn es zum Krieg komme, werde Rußland hineingezogen, und dies werde verhindern, daß Rußland sich aus der Entente löse und auf die deutsche Seite trete. Es bleibt festzuhalten, daß genau nach diesem Muster der Erste Weltkrieg ausbrach, und daß Grey den Ablauf schon 1909 vorhersagte. Eine unmittelbare Kriegsgefahr beinhaltete dies freilich im Augenblick nicht; der Zar selbst meinte noch 1911, er könne erst in einigen Jahren in den Krieg gehen, und Grey bemerkte Anfang 1913 gegenüber den Botschaftern Rußlands und Frankreichs, wenn auf dem Balkan ein Krieg drohe, so möge er lieber später als früher kommen, denn die Zeit arbeite für die Slawen. Doch änderte dies nichts an der Tatsache, daß in absehbarer Zeit Rußland wieder stark genug sein würde, um es in Gemeinschaft mit Frankreich auf einen Krieg gegen die Mittelmächte ankommen zu lassen, und daß Britannien imstande war, die beiden kontinentalen Blöcke ganz nach Belieben gegeneinander auszuspielen. Bülow und sein Nachfolger Bethrnann Hollweg (1909 - 1917) zogen daraus freilich nicht den Schluß, den Ring möglicher Gegner sofort und mit Waffengewalt zu sprengen, sondern sie suchten ihn diplomatisch aufzulösen oder wenigstens seine Verfestigung zu verhindern. Beides blieb ohne Erfolg. Nach ähnlichem Muster wie bei der MarokkoKrise von 1905 sollten in derbosnischen Annexionskrise 1908/09 das Zarenreich sowie in der zweiten Marokko-Krise 1911 Frankreich gezwungen werden, sich mit dem Deutschen Reich zu einigen, ohne daß ihre Ententepartner ihnen dabei von Nutzen sein konnten; doch führten beide Unternehmungen nicht zur Erschütterung der Entente. Ebensowenig ließ Britannien sich auf verschiedene deutsche Versuche ein, durch ein Neutralitätsabkommen die Gefahr zu bannen, daß der russisch-französische Zweibund eines Tages durch England verstärkt werden könnte. Ein erster deutscher Vorstoß dieser Art im Jahr 1909 wurde von Grey zurückgewiesen mit dem Argument, die britische Neutralität würde dazu dienen, die deutsche Hegemonie in Europa zu errichten. Dem konnte insofern eine gewisse Berechtigung beigemessen werden, als die Mittelmächte zu der Zeit dem russisch-französischen Zweibund überlegen waren, so daß ein Gleichgewicht der Kräfte nur gegeben war, wenn Britannien sich die Möglichkeit offen hielt, den russisch-französischen Zweibund zu unterstützen. Falls Britannien durch ein Neutralitätsabkommen sich dieser Möglichkeit begab, war immerhin vorstellbar, daß Deutschland durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt andere Länder unterwarf, sofern nicht - und dies war wohl die eigentliche Gefahr - Rußland und Frankreich dann freiwillig Anschluß bei den Mittelmächten suchten und so doch den Kontinentalblock herstellten. Das Argument von der Überlegenheit der Mittelmächte wurde jedoch im Laufe der Jahre immer fadenscheiniger. Die britisch-französischen Militärabsprachen gelangten bis zum Jahr 1912 zu einem
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gewissen Abschluß, so daß Frankreich, auch wenn kein förmliches Bündnis bestand, als ausreichend gesichert angesehen werden durfte. Ähnliche Verpflichtungen gegenüber Rußland waren praktisch überflüssig, da vorherzusehen war, daß ein Angriffskrieg der Mittelmächte gegen das Zarenreich sich in den russischen Weiten totlaufen würde. Deswegen hielt Deutschland fortwährend am Schlieffen-Plan fest, der einen durchschlagenden militärischen Erfolg nur von einem Angriff im Westen erhoffte; und Grey selbst gab Anfang 1914 zu, Deutschland werde Rußland wahrscheinlich nicht angreifen, andernfalls aber werde es sich dort erschöpfen, auch ohne englisches Eingreifen. Vor diesem Hintergrund fanden die entscheidenden Verhandlungen über ein britisch-deutsches Neutralitätsabkommen im Jahr 1912 statt. Die Entsendung des britischen Kriegsministers Haldane nach Berlin sollte augenscheinlich nur der innenpolitischen Beschwichtigung dienen, da es in der britischen Öffentlichkeit erheblichen Widerstand gegen die deutschfeindliche Außenpolitik gab; zu einem wirklichen Ausgleich war Grey nicht bereit. In Anknüpfung an die Gespräche mit Haldane schlug Bethmann Hollweg eine Formel vor, nach welcher beide Seiten, Britannien und Deutschland, zur Neutralität verpflichtet waren, wenn die andere in einen Krieg verwickelt wurde, ohne als Angreifer gelten zu können. Darin enthalten war insbesondere der altbekannte Fall, daß Rußland auf dem Balkan angriff und Deutschland dann in den Krieg eintrat. Bemerkenswerterweise wünschte die Reichsleitung hierfür jetzt nur noch die britische Neutralität, während es früher immerhin um den britischen Beistand gegangen war. Aber Grey wollte nicht einmal diese Neutralität zugestehen. Er bot lediglich die Verpflichtung an, nicht an einem unprovozierten Angriff auf Deutschland teilzunehmen. Ein russischer Angriff auf dem Balkan wäre davon nicht erfaßt worden, so daß Britannien, wenn in einem solchen Fall Deutschland den Krieg erklärte, sich sogar gegen das Reich stellen konnte. Bei einiger Gutwilligkeit mochte man dies als das Bestreben Greys auslegen, sich nicht von Rußland trennen zu lassen; schlimmstenfalls konnte es aber auch als böse Absicht gedeutet werden. 27 Die Ereignisse der beiden folgenden Jahre gaben hierüber näheren Aufschluß. Das alte europäische Konzert, d. h. die diplomatische Verständigung unter den Großmächten zur Beilegung von Streitfragen, erlebte 1912/13 noch einmal eine Blüte, als die Balkanländer den Rest der türkischen Herrschaft auf der Halbinsel beseitigten und eine Londoner Botschafterkonferenz dazu diente, den Balkankrieg einzudämmen. Wie andere Verständigungen über Einzelfragen, die es zwischen 27 Tschirschky nach Bemhardi, 324 ff. Aerenthal nach Redlich I, 114 f. Moltke und Conrad nach F. Fischer, Krieg, 105 f., 232 ff. und passim. Grey und Nicolson nach Wormer, 65, 76, 85 und passim; Z. Steiner, Foreign Office, 43. Iswolski 1907 nach Ssuworin, 274. Hardinge nach Dakin, 76. Die Bosnien-Krise und Grey 1909 nach Lowe / Dockrill, Power 1,81 ff.; III, 467. Der Zar 1911 nach Hölzle, Selbstentmachtung, 176. Grey 1913 in Britische Dokumente 9/2/1, 634 ff. Zur Frage des britisch-deutschen Neutralitätsabkommens Britische Dokumente 5/2,1373 ff.; 6/1,445 f.; 10/2/2,1277 ff. Hollenberg, 110f. GP 31, 117ff., 167ff., 181 ff. Ferner Hölzle, Selbstentrnachtung, 138 ff., 164 ff.
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den verschiedenen Ländern immer wieder gab, besagte jedoch auch diese nichts Abschließendes über die Grundfragen des europäischen Mächteverhältnisses. Daß Rußland zum Krieg noch nicht vollauf bereit war, wußte man überall, und der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg sah seine Aufgabe ohnedies darin, den Gegensatz zu England abzubauen, um einen allgemeinen Krieg möglichst ganz zu vermeiden. In diesem Sinn warnte er den österreichischen Außenminister Berchtold Anfang 1913 vor einem militärischen Vorgehen gegen Serbien, dessen Machterweiterung den Zusammenhalt der Donaumonarchie gefährdete und das von Petersburg gestützt wurde. Statt kriegerischer Abenteuer suchte der Kanzler die Zusammenarbeit mit London, denn sie war in seinen Augen ein Mittel, hemmenden Einfluß auf Rußland auszuüben und einen Krieg der Tripel-Entente gegen die Mittelmächte wegen Balkanfragen zu verhindern. Diese zeitweilige Zusammenarbeit war freilich doppelbödig. Die britische Regierung wurde ähnlich wie die französische - beständig von der Angst heimgesucht, es könnte der Reichsleitung schließlich doch gelingen, Rußland auf die Seite der Mittelmächte zu ziehen. Diese Gefahr schien mit dem Wiedererstarken Rußlands nicht geringer zu werden, da das Zaremeich nun umso nachdrücklicher seine politischen Ziele verfolgen und hierfür die Unterstützung seiner Bundesgenossen und Ententepartner einfordern konnte. Wurde die Hilfe nicht in ausreichendem Maße gewährt, so mochte Petersburg sich vom Zusammenwirken mit Berlin mehr versprechen. Poincare, ab Anfang 1912 französischer Außenminister und Ministerpräsident, ab Anfang 1913 Staatspräsident mit entscheidendem Einfluß auf die auswärtigen Angelegenheiten, nahm jene Erkenntnis zum Anlaß, die Bündnisverflechtung mit Rußland enger zu knüpfen. Er schloß 1912 zusätzlich eine Marinekonvention mit Petersburg ab und dehnte die französische Beistandspflicht auf den Fall aus, daß Rußland Österreich angriff und Deutschland daraufhin in den Krieg eintrat. Der Zweibund war damit zu einem Angriffsbündnis geworden. Auf die Amegung Poincares, es solle obendrein eine britisch-russische Marinekonvention abgeschlossen werden, ging Grey jedoch nicht ein. Dem russischen Außenminister Sasonow erklärte er 1912 unmißverständlich, Britannien wünsche keinen Angriffskrieg. 28 Diese Feststellung beinhaltete jedoch zweierlei: Erstens wünschte die britische Regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Krieg, und zweitens mußte sie auf das Parlament und die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen, so daß der Krieg, wenn er je kam, nicht als offenkundiger Angriff der Tripel-Entente beginnen sollte. Als Sasonow Ende 1912 die russische Kriegsbereitschaft durchblicken ließ, wies ihn sein Botschafter in London, Benckendorff, auf diese Haltung der britischen Öffentlichkeit hin; er meinte allerdings, Außenminister Grey und Ministerpräsident Asquith, Lansdowne mit einbegriffen, würden nicht so viel verlan28 Hierzu und zum folgenden Rauh, Marinekonvention, mit weiteren Einzelheiten und Belegen. Zur Ausgestaltung des russisch-französischen Bündnisses 1912 Iswolski 11, 219 ff. (Bericht Sasonows, 17.8.1912), 249 ff. (Bericht Iswolskis, 12.9.1912). Die Unterredung Greys mit Sasonow in Britische Dokumente 9/1 /2, 1217 f. (24.9.1912).
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gen. Die russische Regierung faßte bereits zu dieser Zeit das alte Ziel der zaristischen Politik, die Besetzung der türkischen Meerengen, ins Auge; sie mußte sich freilich eingestehen, daß das Unternehmen nicht als Überraschungsschlag durchgeführt werden könne und daher praktisch auszuschließen sei. Die Meerengenfrage verschwand jedoch von da an nicht mehr aus den Überlegungen in Petersburg. In einem Bericht an den Zaren von Ende 1913 erklärte Sasonow unumwunden, die Meerengenfrage könne schwerlich anders als auf dem Weg über europäische Verwicklungen einen Schritt vorwärts kommen. Mit diesen Verwicklungen brauchte nicht gemeint zu sein, daß Rußland einen Angriffskrieg vom Zaun brach, schon deswegen nicht, weil dann die Haltung Britanniens sehr unsicher wurde. Aber Petersburg konnte es darauf anlegen, auf dem Balkan Unruhe zu erzeugen, z. B. indem es die Balkanländer gegen Österreich unterstützte. Um an die Meerengen zu gelangen, mußte Rußland jedenfalls zuerst den Widerstand Österreichs brechen; dies konnte, sofern es auf dem Weg des politischen Druckes nicht möglich war, entweder durch einen Stellvertreterkrieg der Balkanländer gegen die Donaumonarchie oder, wenn andere Mächte eingriffen, auf dem Weg eines allgemeinen europäischen Krieges geschehen. Wie Petersburg die Meerengen unter seine Botmäßigkeit brachte, war je nach den Umständen zu entscheiden. Rußland mochte auf dem Landweg zu den Meerengen vorstoßen, wie es bereits 1878 im Krieg bis unmittelbar vor Konstantinopel vorgedrungen war; oder es führte eine Landungsoperation auf dem Seeweg durch; oder es erlangte auf dem Balkan ein solches Gewicht, daß ihm der beherrschende politische Einfluß an den Meerengen von selbst zufiel. Eine militärische Besetzung der Meerengen wurde jedenfalls in Petersburg seit Ende 1913 geplant. Für diese russischen Pläne gab es indes zwei Hindernisse. Das eine erwuchs aus dem Umstand, daß gegen Ende 1913 der deutsche General Liman von Sanders mit der Reorganisation des türkischen Heeres beauftragt wurde und gleichzeitig den Befehl über ein türkisches Korps an den Meerengen übernahm. Der russische Marineattache in Konstantinopel stellte dazu fest, dies bedeute, daß Rußland im Falle seiner Landungsoperationen im Gebiet des Bosporus in Zukunft dort auf ein deutsches Korps stoßen werde. Obwohl die daraus entstehende diplomatische Krise durch deutsches Nachgeben beigelegt wurde und Liman von Sanders nur die Inspektion des türkischen Heeres erhielt, lag hier der Ausgangspunkt für eine verschärfte Gangart der russischen Politik. 29 Das andere Hindernis ergab sich daraus, daß Petersburg für seine offensive Politik vorderhand nicht auf britische Unterstützung zählen durfte. Grey hatte zwar im Oktober 1912 gegenüber dem russischen Botschafter Benckendorff durchblicken lassen, er wolle zum Nachteil der Türkei Opfer bringen, und damit erneut, wie früher Salisbury, den Köder der türkischen Meerengen für Rußland ausgelegt; Sasonow bezog sich übrigens später ebenfalls auf jene Ereignisse von 29 Zu Benckendorff Internationale Beziehungen III/4/l, 297 ff. (20. 1l. 1912). Zu Sasonow und der russischen Meerengenpolitik Hölzle, Quellen, 164 ff. (6.12.1913). Die Äußerung des russischen Marineattaches nach F. Fischer, Krieg, 49l.
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1895. Aber wie jedermann wußte und Sasonow selbst feststellte, würde Britannien sich im Kriegsfall vorerst darauf beschränken, Frankreich zu verteidigen. Woran es Rußland fehlte, das war eine unzweideutige, bindende Abmachung zwischen dem Zarenreich und Britannien, ein Bündnis oder eine bündnisähnliche Abmachung, die England an die Seite Rußlands zwang und Petersburg die Sicherheit gab, im Kriegsfall unverbrüchlich auf Englands Hilfe zählen zu dürfen. Das wäre dann das Instrument gewesen, das Petersburg eines Tages instand setzen sollte, unter Verweis auf die Überlegenheit der Tripel-Entente die Mittelmächte zu erpressen oder auf dem Balkan einen Krieg anzuzetteln, den es mit französischer und britischer Hilfe leichter für sich entscheiden konnte. In der Tat hat Sasonow Anfang 1914 ein solches Bündnis angeregt. Hierzu war London allerdings nicht bereit - es besaß ja nicht einmal mit Paris ein formelles Bündnis - , statt dessen einigte man sich darauf, eine britisch-russische Marinekonvention abzuschließen, wie Poincare schon 1912 vorgeschlagen hatte. Der Beweggrund war für die britische Regierung derselbe wie für die französische: Rußland sollte an die Entente gebunden und an einem Abschwenken auf die deutsche Seite gehindert werden. Dabei trat wieder genau das auf, was Salisbury und Balfour Jahre früher erkannt hatten: Britannien war in Asien durch Rußland erpreßbar. Unterstaatssekretär Nicolson beschrieb den Sachverhalt 1912 und 1914 mit ähnlichen Worten. Ein britisch-russisches Einvernehmen sei für England von vitalerem Interesse als für Rußland. Komme man den Russen nicht entgegen, so könnten sie der Briten überdrüssig werden und sie "über Bord werfen". In solchem Fall könnte Rußland den Briten in Asien unendlich viel Verdruß bereiten, ohne daß sie sich zu wehren vermöchten. Sasonow hat denn auch nicht gezögert, diese Waffe zu benützen. Als die Verhandlungen über die Marinekonvention nicht zügig genug vorangingen, richtete er unverhüllte Drohungen an die britische Adresse. Er sprach davon, die Briten sollten den ganzen Persischen Golf, Afghanistan und Beludschistan nicht vergessen, und ließ durchblicken, Rußland könne leicht in diese Gebiete vorstoßen, Britannien aber sie nur schwer behaupten. Balfour hatte eine derartige Situation mit den Worten umschrieben, die Russen glaubten den Briten in Asien solche Angst einjagen zu können, daß sie auch in Europa ihr untertänigster Diener wären. Steuerte Britannien wirklich auf die Knechtschaft ZU?30
Auf friedlichem Weg konnte England sich gegen russische Erpressungen in Asien sicher nicht schützen. Aber es konnte die kontinentalen Mächte wegen Balkanstreitigkeiten zusammenprallen lassen und darauf bauen, sie würden sich im Krieg so sehr schwächen, daß Rußland auch in Asien geraume Zeit Ruhe geben mußte. Der Sonderbeauftragte des amerikanischen Präsidenten Wilson, Oberst House, der sich zum Zweck der Friedenssicherung von Mai bis Juli 1914 30 Zu Grey Internationale Beziehungen III/4/l, 25 f. (Bericht Benckendorffs, 8.10.1912). Sasonow nach Stieve, 234 ff. (13.1.1914). Nicolson in Britische Dokumente 9/2/1,72 ff. (22.10.1912), Brit. Dok. 10/2/2, 1275 ff. (27.4.1914). Sasonows Drohung in Internationale Beziehungen 1/3, 301 ff. (24.6.1914).
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in Europa aufhielt, stellte bei dieser Gelegenheit Kaiser Wilhelm 11. gegenüber fest, Rußland bilde für England die größte Gefahr, und es diene Britannien zum Vorteil, wenn Deutschland das Zarenreich in Schach halte. Auf den Wunsch von Wilson und House, durch ein Zusammenwirken der USA, Englands und Deutschlands den Frieden zu erhalten, ging Grey jedoch nicht ein. Bei Kriegsausbruch schrieb House, wenn England ein wenig entschlossener vorgegangen wäre und ihn nach Deutschland hätte zurückkehren lassen, wäre möglicherweise die Katastrophe verhindert worden. Poincare hatte schon Anfang 1914, noch vor Beginn der Gespräche über ein Bündnis bzw. eine Marinekonvention, in Hinblick auf Rußlands Balkanpläne davon gesprochen, daß es in zwei Jahren Krieg geben werde und daß er, Poincare, Frankreich darauf vorbereiten wolle. Dies stützte sich auf Berechnungen, die zu jener Zeit überall angestellt wurden. Man erwartete, daß Rußland bis etwa 1916/17 so weit erstarkt sein werde, daß der russischfranzösische Zweibund den Mittelmächten mindestens gewachsen war; Grey hatte eine ähnliche Vorhersage bereits 1908 gemacht. Rußland wäre dann von Britannien so unabhängig geworden, daß es in Asien erst recht Druck auszuüben vermochte. Wollte London das europäische Gleichgewicht aufrechterhalten, so mußte es dies abwarten; wollte es dies nicht abwarten, so mußte es das europäische Gleichgewicht zerstören. Wenn England, wie Petersburg wünschte, jetzt eine feste Verbindung mit Rußland einging, dann ergab sich aus den eben erwähnten Berechnungen für die Mittelmächte, daß 1914 ungefahr der letzte Zeitpunkt war, zu welchem sie mit einigen Erfolgsaussichten einen Krieg wagen durften. Ob es dazu kam, hing unstreitig von der Haltung Englands ab. Soweit eine Unterlegenheit des russisch-französischen Zweibunds 1914 noch bestand, glaubte man sie in Petersburg durch den Hinzutritt Britanniens wettzumachen. Wenn aber England durch bündnisähnliche Abmachungen mit Rußland die Tripel-Entente verfestigte, dann gab es einerseits dem Zarenreich den erwünschten Rückhalt für dessen offensive oder angriffslustige Balkanpolitik. Andererseits konnte jene Verfestigung zwar in Form eines Geheimabkommens vorgenommen werden, doch pflegten auch Geheimabmachungen anderen Regierungen nicht verborgen zu bleiben, so daß die Mittelmächte, wenn sie davon erfuhren, die Gewißheit besaßen, binnen kurzem in äußerste Bedrängnis zu geraten und sowohl ihre politische Handlungsfreiheit als auch ihre Fähigkeit zur Selbstbehauptung zu verlieren. Die Folgen konnten nicht zweifelhaft sein. Daß engere, bündnismäßige oder bündnisähnliche Beziehungen zwischen Britannien und einem der europäischen Blöcke das Gleichgewicht zerstören und den Krieg heraufbeschwören würden, war schon häufig festgestellt worden, von Bülow, Richthofen, Bertie, Lansdowne, Rosebery, Grey und Hardinge. Andere wußten es ebenso. Nicolson behauptete zwar einmal, ein britisch-französisch-russisches Bündnis würde den Frieden sichern, aber das kann kaum anders verstanden werden denn als diplomatische Augenwischerei. Benckendorff war ehrlicher. An Sasonow schrieb er, gegen eine feste Verbindung der Entente könne man einwenden, dies sei ein Feuerkreis, der die Bombe platzen lassen werde. In der Hoffnung, seine Ziele
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in Richtung auf die türkischen Meerengen zu erreichen, wollte Petersburg sich dennoch dazu bekennen, während es für England gerade darum ging, das Zarenreich mit balkanischen Streitigkeiten zu beschäftigen. Daß die Marinekonvention eine sehr heikle Angelegenheit sei, gab Grey selbst zu, und er war willens, sie gemächlich zu behandeln. Dies dürfte indes schwerlich aus dem Wissen um ihre Gefahren zu erklären sein, denn dann hätte sie ganz verhindert werden müssen. Sondern es ist anzunehmen, daß Grey auf Grund der genannten Zeitberechnungen zögerte: 1914 hatten die Mittelmächte noch eine gewisse Siegeschance, während es im englischen Interesse lag, bei einem kontinentalen Krieg weder Deutschland noch Rußland ein Übergewicht gewinnen zu lassen. 31 Aber mußte denn die Marinekonvention zum Krieg führen? Obwohl sie kein regelrechtes Bündnis darstellte, ist die Frage zu bejahen, zwar nicht im Sinne der logischen Notwendigkeit, aber im Sinne der großen Wahrscheinlichkeit. Gemäß den russischen Vorstellungen sollte in der Marinekonvention ein gemeinsames, britisch-russisches Landungsunternehmen in Pommern vereinbart werden, gewissermaßen vor der Haustür von Berlin. Angesichts der strategischen Lage im Nord- und Ostseeraum hätte eine solche Operation allerdings eine gewaltige militärische Anstrengung Britanniens vorausgesetzt, so daß möglicherweise nur beabsichtigt war, die Landung erst am Schluß des Krieges, als Gnadenstoß zur Vollendung des Sieges durchzuführen. Jedenfalls hätte eine derartige Konvention eine politische und militärische Bindung Britanniens an Rußland herbeigeführt, wie sie enger kaum denkbar war; es hätte sich überdies um ein regelrechtes Angriffsabkommen gehandelt. Die Verhandlungen über diese Dinge kamen nicht mehr zum Abschluß, da sie vom weiteren Gang der Ereignisse überrollt wurden. Immerhin war man in Petersburg zuversichtlich, daß zumindest eine enge, bündnisähnliche Verbindung erreichbar sei. Die Verfestigung der Entente wurde nicht bezweifelt, und London gab auch keinen Anlaß zum Zweifel: Es hielt, trotz deutscher Warnungen, unbeirrt an der Absicht fest, eine Marinekonvention abzuschließen. Das europäische Gleichgewicht wäre gesprengt worden. Als die Reichsleitung davon Kenntnis erhielt, tat sie das, was man befürchten mußte - sie brachte, in Benckendorffs Worten, die Bombe zum Platzen. Bethmann Hollweg bezeichnete die britisch-russischen Verhandlungen über die Konvention als das letzte Glied in der Kette, welche die Mittelmächte einschnürte und zur Bewegungsunfahigkeit verdammte. Nachdem der Mord am österreichischen TIrronfolger in Sarajewo (28. Juni 1914) eine neuerliche Balkankrise ausgelöst hatte, stachelte die Reichsleitung die österreichische Regierung zu unnachsichtigem Vorgehen gegen Serbien an. Da Serbien voraussichtlich von Rußland unterstützt werden würde, führte die Reichsleitung damit eine Lage herbei, die mit einiger Wahrscheinlichkeit den allgemeinen Krieg auslösen mußte. Die ver31 Zu House dessen Papers I, 262, 284. Zu Poincare G. Louis, 140 f. (12.1.1914). Nicolson in Britische Dokumente 10/2/2, 1275 ff. (27.4.1914). Zu Benckendorff Internationale Beziehungen I/l, 328 ff. (25.2.1914). Grey in Britische Dokumente 10/2/2, 1271 (16.4.1914), 1275 (17.4.1914).
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bleibende geringe Friedenschance beruhte auf der Hoffnung, daß Rußland den Krieg nicht wagen würde. In diesem Fall konnte die Entente erschüttert und Rußland auf die deutsche Seite gezogen werden. Eine andere Möglichkeit als den - für die Mittelmächte eben noch rechtzeitigen - Krieg oder die Sprengung der Entente mit ihrem zukünftigen Übergewicht gab es nicht. Der britische Premier Asquith faßte in einem Bericht an den König von Ende Juli, wenige Tage vor Kriegsausbruch, die deutsche Haltung so zusammen: Wenn London jede Hilfe für Rußland ablehne, werde dieses sich zurückziehen, und von Krieg könne keine Rede sein. Über die russische Haltung hieß es, wenn Britannien dem Zarenreich jetzt nicht beistehe, so sei die englische Freundschaft wertlos und Petersburg werde sein zukünftiges Verhalten danach einrichten. Damit wurde unumwunden zugestanden, daß die deutsche Rechnung richtig war. Selbstverständlich wäre der Krieg zu verhindern gewesen, wenn London unmißverständlich erklärt hätte, wegen der Balkanangelegenheit den russisch-französischen Zweibund nicht zu unterstützen. Nur hätte dies zugleich bedeutet, daß Rußland, da es von Britannien im Stich gelassen worden war, die Entente aufgeben und die Verständigung mit Deutschland hätte suchen können - der Weg zum Kontinentalblock wäre dann wieder offen gewesen. So hat es London sorgfältig vermieden, Rußland zurückzuhalten. Im Vertrauen auf die französische und britische Unterstützung konnte Petersburg, nach einigem Schwanken, am 30. Juli die allgemeine Mobilmachung auslösen, von der jeder Kundige wußte, daß sie den europäischen Zusammenstoß bedeutete. Am 1. August 1914 erklärte Deutschland an Rußland, am 3. August an Frankreich den Krieg. Die Verletzung der belgischen Neutralität durch deutsche Truppen, die in London und Paris erwartet worden war, gab der britischen Regierung den willkommenen Vorwand, ihrerseits am 4./5. August in den Krieg einzutreten. Die Selbstzerfleischung und Selbstzerstörung Europas hatte begonnen. 32
3. Kriegsziele Worum ging es im Ersten Weltkrieg überhaupt? Der ehemalige britische Kriegspremier Lloyd George hat in der Zwischenkriegszeit, wohl aus bestimmten politischen Gründen, die Behauptung aufgestellt, die europäischen Regierungen seien eigentlich gegen ihren Willen in den Krieg hineingestolpert. Daß die verantwortlichen Leiter der Politik in den europäischen Hauptstädten nicht gewußt haben sollten, was sie taten, ist an sich schon eine haarsträubende Vorstellung; sie entspricht aber auch nicht den Tatsachen. Wenn niemand den Krieg wirklich gewollt hätte, dann möchte man wohl annehmen, er hätte alsbald wieder beendet werden können; an einer Anzahl von Friedensversuchen hat es ja nicht gefehlt. Von solchen Möglichkeiten wurde indes keinerlei Gebrauch gemacht; im Gegenteil haben sich die Mächte der Tripel-Entente schon bald nach Kriegsausbruch, 32 Bethmann nach Riezler, 181 ff. (7.7.1914). Zu Asquith bereits Spender / Asquith 11, 80 f. Der vollständige Text jetzt in Lowe / Dockrill, Power II1, 489.
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am 5. September 1914 verpflichtet, keinen Sonderfrieden zu schließen und die Friedensbedingungen untereinander abzustimmen. Diese Maßnahme bestätigte noch einmal die Richtigkeit der deutschen Annahme vor Kriegsausbruch, daß Britannien seine schiedsrichterliche Rolle zwischen den Blöcken aufgegeben und sich der offensiven Politik Rußlands zur Verfügung gestellt habe. Nocp. um die Jahreswende 1913/14 hatte Sasonow festgestellt, Britannien besitze die Handlungsfreiheit, im Falle eines europäischen Krieges selbständig auf dessen Beendigung hinzuwirken, und dies hindere Petersburg an der nachdrücklichen Verfolgung seiner Ziele. Seit dem 5. September 1914 konnte Britannien nicht mehr selbständig Friedenspolitik betreiben - aber es vermochte den Kampf bis zur Erschöpfung der kontinentalen Mächte hinzuziehen. 33 Ebenso unhaltbar wie die Behauptung von Lloyd George ist der Vorwurf des Versailler Diktatfriedens, Deutschland trage die Alleinschuld am Krieg. Formal trifft lediglich dies zu, daß Deutschland zuerst den Krieg erklärte, abgesehen von der vorausgegangenen Kriegserklärung Österreichs an Serbien (28. Juli 1914). Die Donaumonarchie wird man allerdings aus einer solchen Erörterung füglich ganz ausklammern dürfen, da es mehr als zweifelhaft ist, ob Wien ohne nachdrückliche deutsche Rückendeckung einen Angriff auf dem Balkan hätte wagen können. Der tiefere Grund für die europäische Krise im Juli 1914, dem Monat vor Kriegsausbruch, war nicht der Gegensatz zwischen Österreich und Rußland und schon gar nicht derjenige zwischen Österreich und Serbien, sondern der Zustand des europäischen Mächtesystems. Der unzweideutig bekundete Wille der Tripel-Entente, durch militärische Abmachungen zwischen Rußland und Britannien die Einkreisung zu vollenden, untergrub das europäische Gleichgewicht, gab Rußland freie Hand auf dem Balkan und stellte die Mittelmächte vor die Aussicht, demnächst im Frieden oder Krieg dem Willen einer Übermacht sich unterwerfen zu müssen. Die Juli-Krise war der letzte deutsche Versuch, die Tripel-Entente und mit ihr die Einkreisung zu sprengen. Wenn es mißlang, war der Krieg die notwendige Folge, und dies durfte zugleich als Beweis gelten, daß die Entente, da sie schon jetzt zum Krieg willens war, in einigen Jahren erst recht dazu willens war. An diesem Befund ändern die gegen Ende Juli von Grey und Sasonow eilfertig in Szene gesetzten Vermittlungsversuche gar nichts. Bethmann Hollweg, dem ohnedies allzu große Vertrauensseligkeit gegenüber der britischen und russischen Politik nachgesagt wurde, stellte hierzu am 30. Juli fest, Deutschland und England hätten alle Schritte getan, um einen europäischen Krieg zu vermeiden, aber die nach Wien gerichteten Vorschläge für die Behandlung der serbischen Angelegenheit seien durch die russische Mobilmachung hinfällig geworden. Über England meinte der Kanzler, es habe sich um den Frieden bemüht, aber wohl hauptsächlich deshalb, weil es diesmal nicht wie sonst wohl als tertius gaudens der gegenseitigen Schwächung der Kontinental33 Lloyd George, Memoirs I, 52 ff. Hölzle, Selbstentmachtung, 399 ff. Zu Sasonow Stieve, 234 ff. (13.1. 1914).
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mächte würde zusehen können, sondern sich, mehr als es ihm jetzt lieb sei, Frankreich und Rußland gegenüber gebunden habe. Diese Überlegung mag durchaus zutreffen, wenn man bedenkt, daß Grey allem Anschein nach den europäischen Zusammenstoß gern noch etwas verzögert hätte, bis - entsprechend den gängigen Berechnungen - die kontinentalen Mächte in ihrem Kräftezustand ausgeglichener waren. Britannien hätte sich dann, wie Marschall schon 1895 angenommen hatte, den eigenen Aderlaß ganz sparen können. Das russische Verfahren, noch vor allen Verhandlungen über die serbische Sache die Mobilmachung und damit den Krieg auszulösen, hat dies unterbunden. Daß England in den Krieg eintreten müsse, stand dabei außer Frage, und Benckendorff hat nicht gezögert, es den Briten unter die Nase zu reiben. 34 So konnte Bethmann Hollweg später mit Recht sagen, der Krieg sei in gewissem Sinn ein deutscher Präventivkrieg. Er entstand, weil die Sprengung der Entente mißglückte und die russische Mobilmachung bewies, daß die Entente schon jetzt kriegsbereit und kriegswillig war. Das Deutsche Reich hat formell den Krieg erklärt, aber es tat dies, weil es mit Vorsatz in den Krieg hineingetrieben wurde. Es wurde mittelbar in den Krieg getrieben durch die Verfestigung der Entente, die es dieser erlaubt hätte, demnächst die Mittelmächte auszuhebein; und es wurde unmittelbar in den Krieg getrieben durch die russische Mobilmachung, die alle Aussichten auf eine friedliche Streitschlichtung unter den Großmächten vereitelte. Die Mobilmachung war zu dieser Zeit absolut unnötig, sofern Rußland zum Verhandeln bereit war. Rußland wurde durch niemanden bedroht und hätte wochenlang Zeit gehabt, einen österreichischen Einmarsch in Serbien abzuwarten; noch am 24. Juli hatte Petersburg der serbischen Regierung empfohlen, ihre Truppen ins Landesinnere zurückzuziehen und die europäischen Mächte um Beistand anzurufen. Am 25. Juli hatte sogar der britische Botschafter gegenüber Sasonow die ernstliche Hoffnung ausgedrückt, Rußland werde den Krieg durch die Mobilisierung nicht übereilt herbeiführen. Aber das focht Petersburg nicht an; man rechnete dort auf die britische Unterstützung und wollte gar nicht wirklich verhandeln. Die Auslösung des Krieges verhinderte zugleich den Zerfall der Entente, denn die deutsche Risikostrategie in der Julikrise beruhte ja auf dem Gedanken, entweder den Krieg sofort beginnen oder die Entente zerbrechen zu lassen. Alle diese Dinge hat Bethmann Hollweg auf den Punkt genau beschrieben und vorhergesagt. Er wußte, daß der Krieg, wenn er kam, durch eine russische Mobilmachung vor irgendwelchen Verhandlungen ausgelöst werden würde; er wußte, daß Rußland nur dann nicht zum Krieg schreiten würde, wenn es von 34 Über Bethmanns Vertrauensseligkeit Bericht des bayerischen Gesandten Lerchenfeld an Ministerpräsident Hertling, 4. 6. 1914; Briefwechsel I, 295 ff. Zu Bethmann dessen Vortrag im preußischen Staatsministerium, 30.7.1914; Deutsche Dokumente 11, 162 ff. Ferner Bethmanns Gespräch mit bundesstaatlichen Gesandten, 30.7.1914; Deutsche Gesandtschaftsberichte, 110 ff. Zur Notwendigkeit des britischen Kriegseintritts entsprechende Äußerungen Sasonows und Benckendorffs; Britische Dokumente 11/1, 133 ff. (Bericht des Botschafters Buchanan aus Petersburg, 24.7. 1914); Internationale Beziehungen 1/5, 256 (1.8.1914).
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Frankreich und Britannien tatkräftig zurückgehalten wurde; und er wußte, daß ungenügende Unterstützung Rußlands durch seine Ententegenossen nicht bloß den Krieg verhindern, sondern auch die Möglichkeit einer deutsch-russischen Verständigung eröffnen würde. All dies wußten die Regierungen der Entente ebenso, und deswegen haben sie die in der deutschen Risikostrategie enthaltene Friedenschance durchkreuzt. London und Paris wollten die Entente nicht gefahrden und haben deshalb Rußland nicht zurückgehalten, wie Paris es in ähnlicher Lage 1896 noch getan hatte; Petersburg glaubte auf seine Balkanziele nicht verzichten zu sollen, zum Teil wohl auch wegen der panslawistischen Strömung in der öffentlichen Meinung, so daß es die Gelegenheit ergriff, den Balkanstreit sofort zum allgemeinen Krieg werden zu lassen. Den Mittelmächten blieb damit nur noch die Möglichkeit, den Einkreisungsring mit Waffengewalt zu sprengen. 35 Diese Kriegsursachen muß man in den Blick nehmen, um die Frage nach den Kriegszielen beantworten zu können bzw. die Frage, worum es im Ersten Weltkrieg eigentlich ging. Für Rußland ging es um die Erweiterung seiner Macht und das Vorschieben seines Einflußbereichs, vor allem in Richtung auf den Balkan; für die Mittelmächte ging es um ihre Selbstbehauptung als Großmächte sowie um Sicherheit gegen die Drohung, von einem Ring übermächtiger Gegner erdrückt zu werden; für Britannien und Frankreich schließlich ging es darum, die Gefahr einer deutsch-russischen Verständigung zu bannen und den Austrag der Gegensätze im Krieg für die Festigung ihrer eigenen Machtstellung zu benützen. Die beiden kontinentalen Blöcke gegeneinander zu treiben, war seit J ahrzehnten das Bestreben der britischen Politik gewesen; im Ersten Weltkrieg gelang es. Daß sich die Dinge so verhielten, wurde im Krieg noch einmal bestätigt. Der amerikanische Präsident Wilson hatte unmittelbar nach Kriegsausbruch seine Dienste zur Vermittlung eines Friedens angeboten. Daran war der Entente jedoch nicht gelegen; Bethmann Hollweg stellte anläßlich einer ersten amerikanischen Friedenssondierung im September 1914 fest, England ziele auf einen langen Krieg ab. Als die Reichsleitung im Dezember 1914 die amerikanische Regierung unmißverständlich zur Einleitung von Friedensgesprächen aufforderte und Wilson daraufhin seinen Sonderberater Oberst House nach Europa sandte, war diese Aktion von vornherein zum Scheitern verurteilt. London hatte bereits erklären lassen, es betrachte einen amerikanischen Friedensschritt als unfreundlichen Akt. Daß die Mittelmächte zu einem Verständigungsfrieden bereit waren, unterliegt keinem Zweifel, zumal nach dem Scheitern des Schlieffenplans ein Sieg kaum noch möglich zu sein schien. Aber die Entente war dazu nicht bereit, und speziell für England erfüllte der Krieg nur dann seinen Zweck, wenn die kontinentalen Hauptrivalen Britanniens sich gegenseitig erschöpften. London wünschte deshalb auch keinen russischen Sieg, zumindest keinen schnellen und keinen entscheiden35 Bethmann über deutschen Präventivkrieg: Steglieh, Friedenspolitik I, 418, Anm. 3 (gegenüber C. Haußmann Anfang 1918). Zur russischen Mobilmachung Bericht des britischen Botschafters Buchanan; Britische Dokumente 11/1, 152 ff. (25.7.1914). Zu Bethmanns Lageeinschätzung Riezler, 181 ff.
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den. Lloyd George, der damalige Finanzminister und ab Dezember 1916 Premierminister, hatte schon gegen den britischen Kriegseintritt Bedenken geäußert, weil er eine künftige Übermacht Rußlands fürchtete sowie die Schwierigkeiten, die sich aus einem russisch-französischen Sieg ergeben würden. Balfour, der erst 1915 wieder ein Regierungsamt übernahm, drückte im August 1914 seine alte Sorge um Indien aus, das er bei einem russischen Sieg bedroht sah. Nicolson beklagte sich Anfang 1915 über die Ansicht, man werde vielleicht in ein paar Jahren Krieg gegen Rußland führen müssen, um das Gleichgewicht Europas aufrechtzuerhalten. Bertie, mittlerweile Botschafter in Paris und als solcher stets besonders gut unterrichtet, faßte 1916 die in Regierungskreisen verbreitete Meinung dahingehend zusammen, man werde auch in Zukunft Deutschland brauchen, um einer russischen Hegemonie entgegenzuwirken. Deutschland zu benützen, um sich gegen die russische Gefahr zu sichern, Deutschland und Rußland einander gegenseitig aufreiben zu lassen, um die Drohung ihres Zusammenwirkens zu bannen, beide auch in Zukunft gegeneinander ausspielen zu können - das war der Sinn des Krieges in britischen Augen, und deswegen durfte der Krieg nicht vorzeitig durch einen Verständigungsfrieden enden, weil dann alsbald die Lage vor Kriegsausbruch von neuem heraufziehen konnte. 36 Nachdem die Regierungen der Entente bis 1916 mehrere Friedensschritte torpediert hatten, ließ der britische Premierminister Asquith im August 1916 wenigstens die offizielle Debatte innerhalb des Kabinetts über die Kriegsziele anlaufen. Stellungnahmen wurden vorgelegt vom Generalstabschef Robertson, von Balfour, mittlerweile Marineminister und bald darauf Außenminister, sowie vom Foreign Office, vertreten durch dessen hohe Beamte Paget und Tyrrell, der lange Zeit Greys Sekretär gewesen war. Paget und Tyrrell schlugen vor, die europäische Staatenwelt in der Weise neu zu organisieren, daß die Donaumonarchie zerschlagen und die deutsch-österreichischen Bestandteile vom Deutschen Reich aufgenommen werden sollten. Außer der Errichtung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan war vor allem an die Gründung eines unabhängigen großpolnischen Staates gedacht, der aus ehedem russischen, österreichischen und deutschen Gebietsteilen zusammengesetzt sein sollte, darunter auch Böhmen mit seiner tschechischen Bevölkerung. Diese Pläne zeigen dreierlei. Erstens wurde in London mindestens erwogen, vom Foreign Office sogar ausdrücklich empfohlen, die alte europäische Pentarchie aufzulösen und eines ihrer Mitglieder, die Donaumonarchie, schlicht zu vernichten. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß Britannien den Krieg nicht für die Erhaltung des alten europäischen Gleichgewichts führte, so wäre er hier erbracht worden. Die Vernichtung einer europäischen Großmacht war ein äußerst ungewöhnlicher Akt, für den es kaum Vorbilder 36 Zu Bethmann und der Haltung der Mittelmächte 1914 Scherer / Grunewald I, 5 (12.9.1914),7 ff. (österreichischer Außenminister Berchtold an Bethmann, 10.11.1914), 15 ff. (Bethmann an Unterstaatssekretär Zimmermann über die Kriegslage, 19.11.1914), 23 f. (Bethmann an Berchtold, 23.11.1914). Ferner A. S. Link, Wilson III, 206 ff. Hölzle, Selbstentmachtung, 468 ff. Zur britischen Einstellung Jaffe, 46 ff.
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gab; allenfalls ließe sich auf die Teilung der spanischen Monarchie am Beginn des 18. Jahrhunderts verweisen, die aber die Masse des spanischen Besitzes nicht angetastet und nur Teile dem Haus Habsburg zugewiesen hatte. Wenn das alte europäische Mächtesystem auch nicht geradezu eine Bestandsgarantie der Großmächte enthalten hatte, so war es doch auf der Existenz der herkömmlichen Großmächte aufgebaut gewesen, die unter sich das Gleichgewicht herstellten und wahrten. Dieses alte europäische Gleichgewicht, zu welchem die Donaumonarchie stets gehört hatte, stellte Britannien nun in Frage und suchte an seine Stelle ein neues zu setzen. Daß London an der seit Jahrhunderten gepflegten Idee des Gleichgewichts dennoch festhielt, zeigte die geplante Behandlung Deutschlands. Das Reich sollte zwar gewisse Gebietsverluste erleiden, aber natürlich nicht ebenso wie die Donaumonarchie vernichtet werden. Wenn schon Österreich als machtpolitisches Gewicht entfiel, so mußte Deutschland in seinem Kernbestand zumindest erhalten, gegebenenfalls sogar gestärkt werden, um ein Gegengewicht zu Rußland zu bilden. Paget und Tyrrell brachten damit Greys Gedanken zum Ausdruck; der Außenminister hatte sich schon früher für einen Anschluß Deutsch-Österreichs an das Reich erklärt. Das europäische Gleichgewicht stellten auch Robertson und Balfour in den Vordergrund, die gleichfalls den Anschluß Österreichs, also eigentlich die Bildung Großdeutschlands, ins Auge faßten. Zweitens erwiesen die Absichten gegenüber Polen von neuern, daß der Krieg ein wechselseitiges Mattsetzen der Mittelmächte und Rußlands herbeiführen sollte. Die polnischen Pläne konnten nur verwirklicht werden, wenn im Krieg sowohl Rußland als auch die Mittelmächte geschlagen wurden. Deswegen forderte Lloyd George, noch bevor er Ende 1916 selbst Ministerpräsident wurde, daß der Sieg über die Mittelmächte durch die Westalliierten und nicht durch Rußland errungen werde, damit die Westmächte die Friedensbedingungen festsetzen könnten. Polen gehörte ja in seinem Kerngebiet bis zum Krieg staatsrechtlich zu Rußland. Eine russische Erklärung vom 14. August 1914 hatte zwar den Polen Selbstverwaltung im Rahmen des russischen Staates zugesichert, doch blieb offen, ob dies mehr als bloß propagandistischen Wert besaß. Paget und Tyrrell sahen nun einen weitgehend unabhängigen polnischen Staat vor, der allenfalls eine dynastische Verbindung mit Rußland haben sollte, in Gestalt eines Monarchen aus dem russischen Herrscherhaus. Dies beinhaltete einen klaren Eingriff in russische Souveränitätsrechte, denn Paget und Tyrrell maßten sich an, über russisches Staatsgebiet und dessen politische Organisation zu befinden, ohne Rücksicht darauf, daß die verbündete zaristische Regierung dem voraussichtlich gar nicht zustimmen würde, zumindest nicht freiwillig. Sasonow war kurz zuvor gestürzt worden, weil er es gewagt hatte, die polnische Autonomie wirklich zu empfehlen. Noch an der Jahreswende 1916/17, nachdem die Mittelmächte am 5. November 1916 ihrerseits ein selbständiges Polen ausgerufen hatten, behielt sich die zaristische Regierung das Ausarbeiten der zukünftigen polnischen Verfassung selbst vor und wollte sie nicht zum Gegenstand internationaler Diskussion
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werden lassen. Der Polenplan des Foreign Office nahm also etwas vorweg, das Rußland tatsächlich erst auf Grund seiner Niederlagen von den Mittelmächten aufgezwungen wurde. Darüber hinaus nahm der Polenplan des Foreign Office auch die Absicht vorweg, russische Ansprüche auf Polen bei Kriegsende nicht mehr anzuerkennen, sondern Rußland wie einen Besiegten zu behandeln, indem es Gebietsteile verlieren sollte, auf die es freiwillig nicht verzichtet hatte. Paget und Tyrrell bemerkten dazu, der russische Widerstand hiergegen könne wohl nur dann überwunden werden, wenn Rußland gezwungen sei, die Hilfe der Westmächte in Anspruch zu nehmen für die Räumung seines Gebiets, das von den Mittelmächten besetzt war. Dies schloß eine zweifache Voraussetzung in sich: Zum einen mußte der Sieg, wie Lloyd George in jener Zeit ebenfalls verlangte, von den Westmächten und nicht von Rußland errungen werden. Zum anderen sollte Rußland in ein geradezu erpresserisches Tauschgeschäft einbezogen werden, bei welchem es seine übrigen Gebiete nur dann zurückerhielt, wenn es Polen herausgab. Die Erklärung für dieses aummige Verhalten liegt offenbar darin, daß man im Foreign Office erwartete, Rußland werde bei Kriegsende zu schwach sein, um eigene Forderungen geltend zu machen. Balfour wurde in dieser Hinsicht noch deutlicher. Er wollte zwar keinen polnischen Pufferstaat zwischen Deutschland und Rußland errichten, sondern ein vergrößertes Polen bei Rußland belassen, weil er befürchtete, ein selbständiges Polen werde keine Festigung des europäischen Gleichgewichts bewirken. Aber Balfour sprach deutlich aus, daß Rußland nach Ansicht der meisten Beobachter wohl das Opfer revolutionärer Kämpfe sein werde, sobald der Druck des Krieges weiche. Balfour - und andere mit ihm - erwartete also eine Revolution in Rußland, obwohl er einen Sieg der Alliierten unterstellte. Das konnte wiederum nur heißen, daß Rußland an diesem Sieg keinen Anteil hatte; andernfalls wäre das Erwägen verschiedener Lösungen für Polen überflüssig gewesen, weil Rußland es auf jeden Fall behalten hätte. Vielmehr war zu erwarten, daß Rußland - ähnlich wie beim Krieg gegen Japan 1904/05, nur in größerem Maßstab - sich militärisch verausgabte, trotzdem erfolglos blieb und durch die Auflösung der staatlichen Ordnung zusätzlich geschwächt wurde. Es konnte dann kein gewichtiger Partner bei den Friedensverhandlungen sein und würde geraume Zeit für seine Erholung benötigen, so daß Britannien des russischen Druckes auf sein Empire erst einmal ledig war. Drittens schließlich warf die innerbritische Diskussion auch Licht auf die Kriegsursachen und das grundlegende Kriegsziel jenseits aller territorialen Verschiebungen. In einer neuerlichen Ausarbeitung des Foreign Office vom Januar 1917 hieß es, Deutschland müsse so geschlagen werden, daß es die Politik aufgebe, die zum gegenwärtigen Krieg geführt habe. Deutschland dürfe nicht zu einer Politik der Freundschaft und des Bündnisses mit Rußland zurückkehren, die ihm eine Vormachtstellung auf dem Kontinent verschaffen würde. Man wußte in London ganz genau, daß Deutschland unter normalen Umständen weder willens noch fähig war, Europa zu unterwerfen. Die eigentliche Gefahr hatte schon immer 5 Rauh, Zweiter Weltkrieg I. Teil
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die deutsch-russische Verständigung dargestellt, und um sie zu verhindern, war der Krieg ausgelöst worden. Deswegen forderte die Denkschrift einen Frieden, der die konservativen, d. h. einer Verständigung zuneigenden Kräfte in beiden Ländern schwäche, und zugleich einen Sieg, der Deutschlands Macht verringere und seinen Wert als Bundesgenosse (für Rußland) mindere. Die Deutschen müßten gezwungen werden, zu einer Politik der Selbstbescheidung zurückzukehren. Dies beinhalte die Zerstörung der Weltpolitik des Kaisers, die Wegnahme der deutschen Kolonien und die Auflösung der deutschen Flotte, denn gerade die Flotte hatte ja ein Mittel sein sollen, dem Bündnis mit Rußland näher zu kommen. Wenn Deutschland dergestalt entscheidend getroffen werde, so meinte die Denkschrift, dann könne eine Wiederkehr der gegenwärtigen Übelstände vermieden und ein harter Schlag gegen den "preußischen Militarismus" geführt werden. 37 Das Reden vom "preußischen Militarismus" und seiner Zerstörung war seit Kriegsausbruch weit verbreitet als griffige Floskel zur propagandistischen Kriegsbegründung. Man muß die Formel aber richtig verstehen. Wie viele andere politische Schlagworte hat sie sich später von ihrer Entstehungsgrundlage gelöst und ist zu einem Versatzstück für beliebige Anwendungen geworden. Daß die bewaffnete Macht im preußischen Staat einen herausgehobenen Stellenwert genoß, war seit dem 18. Jahrhundert bekannt, ohne daß man dies als besonderes Problem der europäischen Staatenordnung betrachtet hätte, auch nicht in der Zeit der deutschen Reichseinigung, als das preußische Heer drei erfolgreiche Kriege durchgefochten hatte. Jetzt plötzlich wurde der "preußische Militarismus" zu einem außergewöhnlichen Problem erklärt. Wiederum gibt die genannte Denkschrift näheren Aufschluß. Es hieß dort, wenn Deutschland sich auf seine 1870 gewonnene Stellung beschränken wolle, so könnten Britannien und Deutschland friedlich nebeneinander leben. Das Reden vom "preußischen Militarismus" bezog sich ursprünglich keineswegs auf die Wehrfähigkeit Preußen-Deutschlands als Landmacht, denn diese sollte nach britischer Meinung gerade erhalten werden, um ein Gegengewicht zu Rußland zu bilden. Sondern das Wort "preußischer Militarismus" war eine Umschreibung für die kaiserliche Weltpolitik und den Flottenbau, die bei einer Verständigung mit Rußland und gegebenenfalls der Bildung des Kontinentalblocks in der Tat das europäische Gleichgewicht beseitigt hätten. Dieser "preußische Militarismus" sollte zerschmettert werden, dann konnten Britannien und Deutschland friedlich nebeneinander leben. Die propagandistische Formel von der Zerstörung des "preußischen Militarismus" beinhaltete als ihren harten Kern den Willen der Westrnächte, Deutschland im Krieg so zuzurichten, daß es die Bahn der Weltpolitik und der Einigung mit Rußland nicht mehr beschritt. Ein Verständigungsfriede war daher von vornherein ausgeschlossen, 37 Zur britischen Kriegszieldebatte Lloyd George, Memoirs 11, 833 ff. (Robertson), 877 ff. (Balfour). Lloyd George, Truth I, 31 ff. (paget und Tyrrell). Ferner Rothwell, Aims, 42 ff., 78. Nelson, 7 ff. G. Ritter, Staatskunst III, 307 ff. Lowe / Dockrill, Power III, 562 ff. (Grey und andere). Hölzle, Selbstentmachtung, 531 ff., 570. Zu Lloyd George D. R. Woodward, Peace, 86, Anm. 26 (5.10.1916).
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weil bei einer Rückkehr zum Vorkriegszustand das Grundübel nicht beseitigt worden wäre: die "preußische" Neigung zu Rußland. Das hatte Wilson im Sinn, wenn er 1917 die früher erwähnte Äußerung tat, die Alliierten wünschten einen diktierten Frieden. Einen solchen wünschte zunächst auch Rußland. Mit Frankreich traf es sich dabei in dem Bestreben, die Mittelmächte so zu schwächen, daß sie im europäischen Mächtesystem nur noch eine wesentlich verminderte Bedeutung besaßen, etwa in der Art wie Preußen während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine völlige Zerschlagung der Donaumonarchie haben beide Regierungen, die russische und die französische, vielleicht nicht durchwegs in Rechnung gestellt, aber jedenfalls eine beträchtliche Verkleinerung. Ebenso sollte Deutschland starke Einbußen erleiden, wobei sich nach ersten, noch ziemlich unverbindlichen Andeutungen in der Anfangszeit des Krieges allmählich die Meinung herausbildete, Deutschland solle das ganze linke Rheinufer verlieren. Im Anschluß an entsprechende Vorarbeiten unter dem französischen Ministerpräsidenten und Außenminister Briand schlossen Paris und Petersburg im Februar und März 1917 ein Geheimabkommen, wonach Rußland im freien Belieben seine Westgrenze festsetzen konnte, während Frankreich außer Elsaß-Lothringen auch das Saarland erhalten und überdies einen neutralen Staat auf dem linken Rheinufer errichten sollte. Auffallig an diesem Abkommen ist seine Einseitigkeit: Während Frankreich seine Ziele ziemlich genau umriß, war Rußland so gut wie ungebunden; es hätte sich theoretisch halb Deutschland und Österreich einverleiben können. Daß Paris dieses diplomatisch recht ungewöhnliche Verfahren über sich ergehen ließ, findet eine einfache Erklärung. Zu jener Zeit war absehbar, daß Rußland nicht mehr lange durchhalten würde; große Versprechungen mochten ihm dann ein wenig den Rücken steifen. Ansonsten war gar nicht mehr zu erwarten, daß Rußland noch irgendwelche Ansprüche würde durchdrücken können. Wenn die gegenwärtige Regierung überhaupt noch das Kriegsende erlebte, so war sie jedenfalls kein vollwertiger Verhandlungspartner auf der Friedenskonferenz mehr. Die gegenseitige Schwächung Deutschlands und Rußlands war damals bereits Wirklichkeit geworden; den Frieden würde Rußland sicher nicht mehr gestalten. Etwa zur selben Zeit wurde in London und Paris die Möglichkeit eines Sonderfriedens mit Österreich erwogen, was an sich den Abmachungen mit Rußland noch nicht widersprach, aber insofern merkwürdig war, als die Entente sich verpflichtet hatte, nur gemeinsam einen Frieden zu schließen und die Bedingungen abzuklären. Das Foreign Office kam dabei auf eine ähnliche Idee wie die französische Regierung bei dem genannten Abkommen. Im Fall eines Sonderfriedens hielt das Foreign Office es für denkbar, die Donaumonarchie mit einigen Einbußen zu erhalten, insbesondere keines ihrer Gebiete an Rumänien abzutreten, sondern Rumänien mit dem russischen Bessarabien abzufinden; Rußland sollte dafür wiederum die Freiheit erhalten, seine Grenzen zu Deutschland und der Türkei nach Belieben festzusetzen. Da Rußland dieser Kehrtwendung hätte zustimmen müssen, suchte man es durch gleißende Zugeständnisse zu ködern. In 5"
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Wahrheit handelte es sich jedoch um nichts anderes als eine schlecht getarnte Falle. London hatte nicht die geringste Neigung, Rußland seine Grenzen etwa bis ins Herz Deutschlands vorschieben zu lassen oder auf dem Weg über die Türkei bis ans Mittelmeer. Aber dazu würde es sowieso nicht kommen, weil Rußland bei Kriegsende voraussichtlich überhaupt keine Gewinne machen würde; stattdessen konnte es sich darauf einrichten, Verluste zu erleiden, z. B. das genannte Bessarabien. In ähnlicher Weise entwickelten französische Stellen im August 1917 den Plan, im Falle eines Separatfriedens mit Österreich einen polnischen Staat in den Grenzen von 1772 wiederherzustellen und ihn mit der Donaumonarchie zu verbinden. Da in den Grenzen von 1772, vor den polnischen Teilungen, weite Gebiete enthalten waren, die später an Preußen bzw. Deutschland sowie an Rußland gefallen waren, bezweckte der Vorschlag zugleich einen Bruch zwischen Österreich und Deutschland. In Hinblick auf Rußland beinhaltete er jedoch außerordentlich große Verluste, die weit über das eigentlich polnische Siedlungsgebiet hinaus gegangen wären. Solche Winkelzüge setzten natürlich voraus, daß Rußland beim Friedensschluß weitgehend handlungs unfähig war. Es wurde nun deutlich, daß sich die zaristische Regierung mit der Entfesselung des Krieges verspekuliert hatte. Anders als Frankreich, dessen Hauptziel die Schwächung Deutschlands war, um selbst zu einer Vormachtstellung in Europa aufzusteigen, hatte Rußland mit Hilfe seiner Entente-Genossen vor allem die Führungsrolle auf dem Balkan und die türkischen Meerengen erringen wollen; die Schwächung der Mittelmächte war gleichsam die notwendige Begleiterscheinung hierfür. Was man in Petersburg zuwenig bedacht hatte, war der Umstand, daß ein Krieg gegen die Mittelmächte das Zarenreich selbst so sehr schwächen könnte, daß es am Ende gar nichts erreichte. 38 Dabei wäre noch in den ersten Kriegsjahren eine Verständigung mit den Mittelmächten nicht ausgeschlossen gewesen, wenn Petersburg sich hätte bereit finden können, seine Ziele zurückzuschrauben. Zwischen Deutschland und Rußland bestand an sich keinerlei unmittelbarer Gegensatz außer dem, daß das Reich die Donaumonarchie stützte und diese das Haupthindernis für Rußlands Balkanziele darstellte. Bereits Bismarck hatte einmal erwogen, die Donaumonarchie fallenzulassen und den Balkan an Rußland auszuliefern. 1899 schlug der damalige russische Außenminister Murawjew ein Abkommen vor, wonach Deutschland das russische Interesse an den Meerengen, Rußland das deutsche Wirtschaftsinteresse in der Türkei anerkennen solle. Der Hintergedanke war augenscheinlich der, daß Deutschland auf die Unterstützung Österreichs verzichte, wenn Rußland den Erwerb der Meerengen betrieb, und damit Österreich praktisch preisgebe. 1913 sprach Zar Nikolaus 11. selbst davon, daß Österreich eines Tages zerfallen 38 Linke, Rußland, passim. Renouvin, Kriegsziele. D. Stevenson, Aims. Hölzle, Selbstentmachtung, 446 ff., 539 ff., 588 ff. Rothwell, Aims, 81. W. Fest, Partition, 54 ff. Mamatey, 142 f. Steglich, Friedenspolitik, 158.
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und sein deutscher Bestandteil dann von Deutschland aufgenommen werde. Dies komme dem Frieden zugute, weil Deutschland in diesem Fall nicht mehr wegen österreichiseher Balkanstreitigkeiten in einen Krieg verwickelt werden könne. Noch in der Julikrise 1914 ließ Sasonow offenbar gezielt die Bemerkung fallen, wenn Deutschland Österreich aufgebe, dann gebe er sofort Frankreich auf. Diese Sachverhalte deuten darauf hin, daß die Möglichkeit eines deutsch-russischen Ausgleichs vor dem Krieg jederzeit gegeben war; Grundlage hätte die Aufteilung Österreichs gebildet, durch welche, zumindest nach der Äußerung des Zaren, auch die Bildung eines großdeutschen Nationalstaats erreichbar gewesen wäre. Auf solche Überlegungen wollten sich allerdings die Reichsleitungen nie einlassen, teils weil sie das außenpolitische Risiko scheuten, teils aber auch aus innenpolitischen Gründen: Weil die Verstärkung des süddeutsch-katholischen Elements unerwünscht war und die Umgestaltung der Verfassung nicht durchführbar zu sein schien. Immerhin zeigt dies auch, daß man in Petersburg seit langem mit dem Gedanken umging, über Österreich hinweg den russischen Einfluß auf dem Balkan auszudehnen. Deutschland wurde, wie ein französischer Diplomat es noch vor Kriegsausbruch ausdrückte, für Rußland zum Feind: Weil das Reich die Donaumonarchie schützte und die alte europäische Pentarchie zu erhalten suchte, schließlich auch, weil es ein Hindernis bildete für das unstreitige russische Angriffsziel, die Besetzung der Meerengen und die alleinige Verfügungsgewalt über sie. Als Bethmann Hollweg 1915 auf dem Weg über Rußland den Frieden herbeizuführen versuchte und dabei eine gemeinsame, türkisch-russisch-deutsche Aufsicht über die Meerengen vorschlug, wurde dies von Petersburg abgelehnt - Rußland fühlte sich an die Entente gebunden und glaubte mit ihrer Hilfe weit mehr erreichen zu können. 39 Im Februar 1915 begannen Britannien und Frankreich ein Unternehmen gegen die Dardanellen, den südlichen Teil der türkischen Meerengen, zunächst mit Flottenstreitkräften, später auch mit Landungstruppen, um nach Konstantinopel durchzustoßen und auf diese Weise sowohl die türkischen Meerengen selbst in Besitz zu nehmen als auch eine Verbindung zu Rußland herzustellen. Petersburg, das an sich eine Besetzung der Meerengen durch eigene Streitkräfte geplant hatte, verlangte daraufhin, daß die Meerengen mit Konstantinopel dem Zarenreich überlassen werden müßten, was die Westmächte im März 1915 zugestanden, trotz erheblicher Bedenken sogar bei Frankreich, das Rußland höchst ungern ins Mittelmeer vordringen sah. Obwohl das Dardanellen-Unternehmen bis zum Jahresende scheiterte, stand für Petersburg nun fest, daß es nur dann Aussicht auf 39 Zu Bismarck GP 9, 353 (Hatzfeldt an Holstein, 18.6.1895). Zu Murawjew GP 14, 533 ff. Zu Zar Nikolaus 11. Britische Dokumente 9/2/2, 1077 ff. (Bericht des Botschafters Buchanan, 14.4.1913). Zu Sasonow Riezler, 188 ff. (23.7.1914). Ferner Rauh, Deutsche Frage, 146 ff. Rauh, Nazionalismo, passim. Zur Verfeindung Deutschlands mit Rußland Documents diplomatiques francais III/9, 591 ff. (Bericht des französischen Geschäftsträgers in Petersburg, Doulcet, 14.3.1914). Zu Bethmanns Sonderfriedensversuch Europäische Mächte und Türkei IV, 296 ff. (Berichte des russischen Gesandten Nekljudow, 20.7.1915 ff.).
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den Gewinn der Meerengen hatte, wenn es den Krieg an der Seite der Westmächte bis zum Sieg durchstand. Dies war, wie die britische Regierung ausdrücklich festgestellt hatte, die Geschäftsgrundlage für den Handel über Konstantinopel; London und Paris hatten das Zugeständnis gemacht, um Rußland im Krieg zu halten. Ob Rußland jenes Ziel wirklich erreichte, war freilich eine andere Frage. Bei einer britischen Kabinettsbesprechung über dieses Thema im März 1915 gab Lansdowne, damals Führer der Konservativen im Oberhaus, zu bedenken, ob man sich zu einer Herausgabe Konstantinopels auch dann verpflichten solle, wenn die Westmächte den Sieg hauptsächlich selbst errangen, während Rußland erfolglos blieb. Hier lag in der Tat das eigentliche Problem, ein Problem, das in vergleichbarer Weise schon zu Zeiten Salisburys aufgetaucht war. Die Abmachung über Konstantinopel band zwar zunächst die beteiligten Regierungen, aber bis die Sache durch einen Friedensvertrag abschließend zu regeln war, konnte sich gar vieles ändern. Regierungen konnten wechseln, das britische Parlament den Handel über Konstantinopel ablehnen, Verbündete Einspruch erheben oder Rußland im Krieg solche Niederlagen erleiden, daß es schließlich noch froh sein mußte, wenn es bloß auf Konstantinopel zu verzichten brauchte. Ähnlich wie ein Jahr später Balfour stellte der deutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Jagow, im September 1915 fest, Rußland werde spätestens nach dem Krieg eine Revolution erleben. Nachdem Rußland 1915 von den Mittelmächten schwer geschlagen worden war, durfte ein innerer Umsturz in Rußland mit Recht erwartet werden; je länger das Zarenreich im Krieg blieb, umso wahrscheinlicher wurde die Revolution. Diese würde voraussichtlich Rußland nicht noch einmal militärisch Atem schöpfen lassen, sondern sie würde selbst das Ergebnis des inneren Kräftezerfalls sein und diesen noch fördern. Unter solchen Umständen konnten aber die Zusagen der Westalliierten an das Zarenreich leicht unwirksam oder hinfällig werden. Eine derartige Lage trat ein, als im März 1917 mit dem Sturz des Zarentums die russische Revolution ihre erste Phase durchlief. Im Mai 1917 ließ die neue, provisorische Regierung ihren Verbündeten mitteilen, sie wünsche einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen, und regte eine gemeinsame Konferenz zur Neufestsetzung der Kriegsziele an. Diesen Vorschlag vereitelten die Westalliierten ebenso wie alle Friedens- und Verständigungsversuche von anderer Seite. Die Westalliierten verharrten bei der Hoffnung auf einen diktierten Frieden; der britische Generalstabschef Robertson stellte im Mai 1917 fest, der Krieg könne auch bei einem Ausscheiden Rußlands noch gewonnen werden. Zumindest die britische Regierung war sich vollauf bewußt, daß die russische Revolutionsregierung, die ja bekanntlich noch keine bolschewistische war, großen Wert auf die Neufestsetzung der Kriegsziele legte, um ihre eigene Stellung zu festigen. Trotzdem wurde die vorgeschlagene Konferenz durch London systematisch verschleppt, und als man sie schließlich - für den November 1917 - doch zugestand, sollte sie lediglich zur Erörterung der Kriegführung dienen. Die Westalliierten wollten mit Rußland gar keine Kriegsziele mehr vereinbaren. Rußland hatte seine Schuldigkeit getan;
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es hatte zur militärischen Abnützung der Mittelmächte beigetragen, und wenn es jetzt selbst zusammenbrach, so konnte es wenigstens keine Forderungen mehr stellen und die Westalliierten nicht mehr daran hindern, den Frieden nach ihrem Gutdünken einzurichten. Die russische provisorische Regierung wurde so nicht nur diplomatisch geschwächt, sie wurde auch auf anderem Gebiet im Stich gelassen. Im Sommer 1917 ließ Britannien die Lieferungen von Kriegsmaterial und anderen Gütern an Rußland radikal kürzen, die französischen und amerikanischen noch stärker als die britischen, und stellte sie im Herbst 1917 ganz ein. Im November brach die bolschewistische Revolution aus, die alsbald zum Sonderfrieden mit den Mittelmächten führte. Seit dem Frühjahr 1918 entsandten die Westmächte Streitkräfte nach Rußland, zunächst weniger gegen die Revolution als vielmehr um die deutsche Durchdringung Rußlands aufzuhalten. 40 Vor dem Hintergrund der alliierten Kriegsziele muß man diejenigen der Mittelmächte betrachten. Die deutsche und die österreichische Regierung gingen stets davon aus, daß ihren Ländern der Krieg aufgezwungen worden sei und sie für die Sicherung ihrer Existenz als Großmächte kämpften. Bereits ein Blick auf die zwischenstaatlichen Abkommen über Kriegsziele macht einen Unterschied zwischen beiden feindlichen Lagern deutlich. Auf seiten der Mittelmächte gab es solche bindenden Abmachungen fast gar nicht; der Türkei, seit dem 2. August 1914 mit Deutschland verbündet, wurde in einem Ergänzungsvertrag vom 28. September 1916 allein die Wiederherstellung ihres Gebietsstandes zugesagt; und lediglich das deutsch-bulgarische Abkommen vom 6. September 1915 enthielt Zusicherungen für bulgarische Gewinne zu Lasten Rumäniens und Serbiens. Demgegenüber machten die Entente-Länder schon im Krieg eine weitgehende Verstümmelung der Kriegsgegner unter sich aus. Die Donaumonarchie sollte nach dem Londoner Vertrag vom 26. April 1915 zwischen der Entente und Italien starke Gebietsteile an dieses verlieren, womit zugleich das bislang neutrale Italien in den Krieg gelockt wurde; Rumänien erhielt gemäß Vertrag vom 4. August 1916 ebenfalls Anteil an der österreichischen Beute zugesagt; und gemäß dem erwähnten Abkommen zwischen Frankreich und Rußland vom Frühjahr 1917 hätten sich beide Länder sowohl an Österreich als auch an Deutschland gütlich tun können. Die Türkei wurde praktisch aufgeteilt, teils durch die Abmachungen mit Rußland vom März 1915 über Konstantinopel, teils durch das sog. SykesPicot-Abkommen vom 16. Mai 1916, durch welches sich England und Frankreich die arabischen Gebiete der Türkei zusprachen. Selbstverständlich hatten auch die Mittelmächte ihre Kriegsziele, aber sie wiesen einen weit geringeren Grad an Bestimmtheit und Verbindlichkeit auf. Belgien z. B., über das man sich immer wieder die Köpfe heiß redete, betrachtete Bethmann Hollweg seit dem November 1914 als Faustpfand für die Wiedergewinnung der Kolonien, die andernfalls wohl als verloren zu betrachten waren. Wenngleich die Kriegführung der Mittel40 Zur Konstantinopel-Frage Lowe / Dockrill, Power III, 501 ff. Jagow in Scherer / Grunewald I, 174 ff. (2.9.1915). Ferner Hölzle, Selbstentmachtung, 457 ff., 436. G. A. Ritter, Regierung, 186, 188 f., 208 ff. Neilson, 268 ff.
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mächte durch manche Mißgriffe oder Entartungserscheinungen belastet war, so die Verletzung der belgischen Neutralität und die türkischen Greuel gegen die armenische Bevölkerung 1915, war doch das Pochen der Entente auf die Vertretung von Recht und Freiheit ein reines Propagandamanöver; in Wahrheit gaben ihre Absichten dem Krieg auf weite Strecken den Charakter eines Beutezugs. Das wird öfters geflissentlich unterschlagen; richtig ist jedoch, daß Präsident Wilson schon das Kriegszielprogramm der Entente, das ihm Anfang 1917 mitgeteilt wurde und das noch längst nicht alles enthielt, als unmöglich bezeichnete. 41 Ebenso wie in der öffentlichen Meinung Deutschlands bewegten sich auch bei der Reichsleitung die Vorstellungen über etwaige Kriegsziele zwischen den beiden Polen einer bloßen Erhaltung des Vorkriegszustands und einer namhaften Machtsteigerung des Reiches. Bethmann Hollweg hat seit dem Herbst 1914 wiederholt festgestellt, selbst wenn Deutschland bloß erreichen sollte, sich gegenüber der feindlichen Koalition zu behaupten, so könnte dies für einen erträglichen Frieden ausreichen. Die Frage war nur, ob derartiges möglich war. Von der Entente wurden die Vermittlungsversuche neutraler Staaten bis zur Jahreswende 1916/17 verschleppt oder abgelehnt, ein Friedensangebot der Mittelmächte vom Dezember 1916 in geradezu beleidigender Form zurückgewiesen, ein Vermittlungsangebot des Papstes vom August 1917 gar nicht erst beantwortet. Die Dinge lagen einfach so, daß die Alliierten von vornherein nicht verhandeln, sondern den Frieden diktieren wollten. Dies war seit Kriegsbeginn erkennbar, denn ein Friede, bei welchem die Entente gar nichts erreichte, war für sie im Grunde eine Niederlage. In England wurde das oft genug ausgesprochen, und die bei der Entente häufig auftretende Formel, Deutschland bzw. den "preußischen Militarismus" zu zerschmettern, erwuchs aus dieser Einsicht. Wenn der Entente eine einschneidende und dauerhafte Beeinträchtigung der Mittelmächte nicht glückte, wenn die zaristische Regierung sich umsonst auf das Kriegsabenteuer eingelassen hatte, dann konnte sich auch die Einkreisungspolitik der Entente als Irrweg erweisen. Wenn die Entente selbst mit vereinten Kräften die Mittelmächte ihrem Willen nicht zu unterwerfen vermochte, so tauchte letztlich die Gefahr der Vorkriegszeit und der Julikrise von 1914 wieder auf: daß die Entente zerfiel und Deutschland auf die eine oder andere Weise doch die Führung auf dem Kontinent erreichte - nicht weil es diesen eroberte, sondern weil die Mächtekonstellation sich änderte. Lloyd George zog deswegen, jedenfalls vom englischen Standpunkt aus, eine schlüssige Folgerung, wenn er einen durch die Westmächte diktierten Frieden verlangte: Nachdem das europäische Gleichgewicht der Vorkriegszeit durch die Entente zerstört worden war, konnte es eigentlich keine Rückkehr zu 41 Zur Einschätzung der Kriegsursachen im internen Schriftverkehr der Mittelmächte z. B. österreichischer Außenminister Berchtold an Bethmann, 10.11.1914, oder Denkschrift Jagows, 2.9.1915; Scherer / Grunewald I, 7 ff., 174 ff. Zu den zwischenstaatlichen Abkommen Schieder, Handbuch VI, 172 f. Zu Belgien Scherer / Grunewald I, 15 ff. (19.11. 1914),550 f. (6.11.1916); II, 32 ff. (16.3.1917). Zu Wilson A. S. Link, Wilson V, 254. Scherer / Grunewald I, 684 f. (27. 1. 1917).
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diesem Gleichgewicht mehr geben, sondern allenfalls die Errichtung eines neuen Gleichgewichts, das auf der Schwächung der Mittelmächte und Rußlands beruhte. 42 Die Formulierung tragfähiger Kriegsziele wurde so für die Mittelmächte zu einer äußerst schwierigen Aufgabe, was die scharfen inneren Auseinandersetzungen über diesen Gegenstand mindestens zum Teil erklärt. Daß die Mittelmächte, wenn sie den Krieg verloren, auf einen glimpflichen Frieden nicht hoffen durften, stand nie außer Frage: Deutschland hatte mit erheblichen Gebietsverlusten im Westen und Osten zu rechnen, die Donaumonarchie und die Türkei mußten die völlige Zerschlagung befürchten. Die Entente als Ganzes hat während des Krieges kein einziges Mal die Erhaltung des Vorkriegszustands in Erwägung gezogen, geschweige denn angeboten. Wie die Entente die Mittelmächte in den Krieg getrieben hatte, um das europäische Kräfteverhältnis umzustürzen, so führte sie auch den Krieg selbst für dieses Ziel. Die Mittelmächte hatten deshalb im Grunde nur zwei Auswege: Entweder gelang es ihnen, so lange standzuhalten, bis der Krieg in allgemeiner Erschöpfung endete und die Entente sich schließlich doch dazu bequemen mußte, den Vorkriegszustand wiederherzustellen. Oder die Mittelmächte errangen die Oberhand und konnten dann ihrerseits daran gehen, eigene Kriegsziele zu verwirklichen, die Entente zu sprengen und durch Waffengewalt eine Änderung der europäischen Kräfteverhältnisse herbeizuführen. In dieser Rechnung war allerdings ein Faktor nicht enthalten, der schließlich den Ausschlag geben sollte: die USA unter Präsident Wilson. Ein Friede auf Grund allgemeiner Erschöpfung hätte noch eine Angelegenheit der europäischen Staaten unter sich sein können, doch wäre er angesichts der fortwährend bekundeten Anteilnahme Wilsons an den europäischen wie weltpolitischen Vorgängen auch als ein von den USA vermittelter oder sogar durch sie maßgeblich bestimmter vorstellbar gewesen. Vollends eine wesentliche Verschiebung der europäischen Machtverhältnisse war ein Ereignis, das Amerika nicht unberührt lassen konnte. Dies war der Punkt, an welchem die europäischen Vorgänge im allgemeinen und die deutschen Kriegsziele im besonderen in eine weltpolitische Größenordnung hineinwuchsen. Erst vor diesem Hintergrund sind sie voll zu verstehen, und ebenso die Geschehnisse seit dem Schicksalsjahr 1917, seit dem amerikanischen Kriegseintritt und der russischen Revolution. Was wollte nun zunächst Wilson? Im August 1914 vertraute er seinem Schwager an, wie er sich die zukünftige Weltfriedensordnung dachte. Es sei völlig klar, so meinte er, daß dieser Krieg die Beziehungen der Staaten grundlegend ändern werde. Vier Dinge würden wesentlich sein für den Neuaufbau in der Welt, nachdem der Frieden erreicht sei. Erstens sollte es zukünftig keinem Land mehr erlaubt sein, einen Fußbreit 42 Bethmann in Militär und Innenpolitik I, 208, Anm. 5 (Bethmann im preußischen Staatsministerium, 28.11.1914), 274 (Bethmann an den Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts, 9.12.1915). Briefwechsel 11, 791 (Bericht des bayerischen Gesandten Lerchenfeld, 11. 1.1917). Ferner P. Kielmansegg, Weltkrieg, 229, 260 f., 414, 436, 439. Zur britischen Haltung Rothwell, Aims, 33 ff. Hölzle, Selbstentmachtung, 492 f. und passim.
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Boden durch Eroberung zu erwerben. Zweitens sollte kleinen Völkern dasselbe Recht zugestanden werden wie großen. Drittens dürfe Kriegsmaterial (munitions) fortan nur noch von Staats wegen und nicht durch private Unternehmen hergestellt werden. Viertens müsse es eine Vereinigung der Länder geben, die sie alle untereinander verbinde zum Schutz ihrer Unversehrtheit, so daß jedes einzelne Land, das diesen Bund breche, den Krieg auf sich ziehe, d. h. die automatische Bestrafung. Dieses Programm beinhaltete nicht weniger als eine Revolution der gesamten, in Jahrhunderten entstandenen Staatenbeziehungen und des bisherigen Völkerrechts. Es stellte einen unwiderruflichen Bruch dar mit den Ordnungsvorstellungen, wie sie bis dahin im Schoß der europäischen Staatenwelt entwickelt worden waren und in Geltung standen. Klassischer Ausdruck der alten Staatensouveränität war das freie Recht zu Krieg und Frieden gewesen; die Eroberung fremden Gebietes hatte einen zulässigen Bestandteil der Staatenbeziehungen ausgemacht. Das klassische europäische Völkerrecht hatte den Krieg nicht verhindern, sondern ihn "hegen", d. h. in rechtliche Begrenzungen einbinden wollen. Einen ungerechten Krieg und einen ungerechten Kriegsgegner hatte es demnach nicht geben können; jeder Kriegsgegner war per definitionem ein "iustus hostis" gewesen. Um die Ausartung in die bloße Anarchie der Staatenbeziehungen zu verhindern, hatte das europäische Staatensystem den Gedanken des Gleichgewichts entwickelt. Träger und Erhalter des Gleichgewichts waren im wesentlichen die großen Staaten gewesen, später die bekannte europäische Pentarchie. Indem die Großmächte sich selbst im Gleichgewicht hielten, schützten sie zugleich die Existenz der Kleinstaaten. Doch waren die Kleinstaaten bis zu einem gewissen Grad immer eine Art Verfügungsrnasse für die großen gewesen - eine Erscheinung, die noch im Ersten Weltkrieg eine Rolle spielte, als in der britischen Regierung erwogen wurde, zugunsten Belgiens etliche Gebiete von den nicht im Krieg befindlichen Niederlanden abzutrennen und die Niederlande durch deutsche Gebietsteile zu entschädigen. 43 All dies sollte nach den Absichten Wilsons jetzt anders werden. An die Stelle des überkommenen Gleichgewichts und des freien Spiels der Macht, das zur Entfesselung des Krieges mißbraucht worden war, sollte eine organisierte Gemeinschaft der Staaten treten, die fortan den Frieden zu wahren hatte. Die Ordnung der Staatenwelt sollte ein für allemal befestigt werden; mit dem freien Recht zum Eroberungskrieg fiel im Grunde das freie Recht zum Krieg überhaupt. Der Staatenvereinigung oblag es, den Friedensbrecher gemeinschaftlich zu bestrafen. Unter der Voraussetzung, daß eine solche Ordnung von der stärkeren Mehrheit der Staaten unterstützt und getragen wurde, konnte es den Krieg praktisch nicht mehr geben, weil etwaige Störenfriede die gesammelte Vergeltung aller übrigen zu gewärtigen hatten und sich deshalb einer friedlichen Streitschlichtung unterwerfen würden. Ob all dies verwirklicht werden könne, war freilich eine 43 Zu Wilson A. S. Link, Wilson III, 56. Wimer, Wilson. Vgl. C. Schmitt, Nomos. Zu den britischen Plänen Nelson, 12. Rothwell, Aims, 52.
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andere Frage, und wie man weiß, ist es bis heute nicht verwirklicht worden. Das sollte indes nicht zu dem Schluß verleiten, in Wilson einen weltfremden Schwärmer und dogmatischen Idealisten zu sehen. Angemessener wird es sein, ihn als kühnen Visionär und als einen der bedeutenden Gestalter der Geschichte zu betrachten, auch wenn er sich schließlich in den Niederungen der Machtpolitik verfing und mit seinen Gedanken wenigstens zum Teil Schiffbruch erlitt. Der Welt den dauernden Frieden zu schaffen, war ein bewundernswertes Ziel, und allen Völkern, ob groß oder klein, das gleiche Recht zu gewährleisten, war es nicht minder. Zugleich jedoch bezweckte Wilson das Überwinden der alten Mächteordnung, die ihren Kern und Mittelpunkt in Europa gefunden hatte. Wilson erkannte den Ersten Weltkrieg als das, was er tatsächlich war: der Abgesang des alten europäischen Staatensystems. Auf dessen Ruinen suchte er eine bessere und friedvollere Ordnung zu errichten. Das ideale Ziel des Weltfriedens, verbunden mit einem Völkerbund zu seiner Sicherung und allgemeiner Abrüstung, war freilich nicht der alleinige Beweggrund für Wilsons Handeln. Gesichtspunkte der amerikanischen Interessenpolitik sowie der weltweiten Machtverhältnisse kamen hinzu und verschlangen sich mit jenem auf eigenartige Weise. In dem eben erwähnten Friedensprogramm war nicht davon die Rede, daß die USA zu seiner Verwirklichung selbst in den Krieg eintreten müßten, es sollte vielmehr erst nach dem Friedensschluß durchgeführt werden. Andererseits lag es auf der Hand, daß hierfür günstige Voraussetzungen vorhanden sein mußten. Die eine dieser Voraussetzungen bestand darin, daß die USA beim Friedensschluß hinreichend stark zu sein hatten, um ihren Einfluß entsprechend zur Geltung zu bringen. Dies bezog sich weniger auf militärische Stärke, wenngleich auch sie in der Aufrüstung seit 1915 eine Rolle spielte, als vielmehr auf die wirtschaftliche, die als Grundlage des politischen Auftretens dienen sollte. Unter den amerikanischen Präsidenten war Wilson derjenige, welcher seit seinem Amtsantritt 1913 den mittelbaren Führungsanspruch der USA, der sich aus wirtschaftlicher Überlegenheit ergab, auf die ganze Welt ausdehnte. Noch vor Beginn seiner politischen Laufbahn hatte er die Aufgabe Amerikas darin erblickt, dereinst über das "wirtschaftliche Schicksal der Welt entscheiden" zu können; der Krieg gab ihm Gelegenheit, auch über ihr politisches zu entscheiden. Daraus erklärt sich Wilsons Haltung zum U-Boot-Krieg der Mittelmächte, der sich hauptsächlich gegen die Zivilschiffahrt richtete und in seiner schärfsten Form, dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg, die warnungslose Versenkung auch neutraler Handelsschiffe beinhaltete. Selbst in seinen schwächeren Formen betraf der U-Boot-Krieg Neutrale insoweit, als sie ihren Verkehr auf Schiffen oder zugunsten einer der Kriegsparteien abwickelten. Bethmann Hollweg erkannte schon Ende 1914, eine Schädigung des amerikanischen Handels werde die USA an die Seite der Entente treiben. Das in der innerdeutschen Diskussion oft gebrauchte Argument, die britische Hungerblockade sei ebenso völkerrechtswidrig wie der U-Boot-Krieg, traf nicht den Kern der Sache. Zur Erhaltung ihrer wirtschaftlichen Stärke benötigten die USA auch ihren Handel, namentlich denjenigen
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mit der Entente, der sich während des Krieges bedeutend ausweitete. Und vor allem durften die USA sich nicht auf die Rolle einer zweitrangigen Macht zurückdrängen lassen, indem sie sich vor der Drohung des U-Boot-Kriegs auf ihre eigene Hemisphäre zurückzogen. Wie House dem deutschen Botschafter 1916 richtig auseinandersetzte: Wenn Wilson gegenüber dem U-Boot-Krieg keine harte Haltung einnehme, dann habe er nicht den leisesten Einfluß auf die Herbeiführung des Friedens. Die Alliierten würden dann die USA als unfähig ansehen, entweder sie zu unterstützen oder ihnen zu schaden, und sie würden auf die USA herabblicken, wie sie auf südamerikanische Republiken herabblickten. So wich die Reichsleitung zweimal, 1915 und 1916, dem amerikanischen Druck und grenzte den U-Boot-Krieg ein. Als sie ihn Anfang 1917 in unbeschränkter Weise eröffnete, nahm sie zugleich in Kauf, daß Amerika die Neutralität aufgab und als unparteiischer Friedensvermittler ausfiel. Wilson beantwortete dies, zwar nach einigem Zögern, aber doch erwartungsgemäß, mit dem amerikanischen Kriegseintritt (6. April 1917). Einen weiteren Beweggrund für diesen Schritt nannte Wilson im Februar 1917. Als Haupt einer kriegführenden Nation würde der Präsident einen Sitz auf der Friedenskonferenz haben, aber wenn die USA neutral blieben, könnte er höchstens durch den Türspalt rufen. 44 Mit diesem letzteren Argument wurde indes nur der Umstand bemäntelt, daß Wilson auf einen Weg gedrängt worden war, den er ursprünglich gerade nicht hatte beschreiten wollen. In der öfters erwähnten Unterredung vom März 1917 erklärte er, infolge des amerikanischen Kriegseintritts werde Deutschland so fürchterlich geschlagen werden, daß es einen diktierten Frieden gebe. Dies bedeute zugleich den Versuch, die Lebensform des Friedens (a peace-time civilization) mit kriegerischen Maßstäben herzustellen, und da es keine hinreichend starken Neutralen mehr gebe, würden auch die friedlichen Maßstäbe fehlen. Damit wurde nun zugleich dasjenige hinfällig, was Wilson ursprünglich als die zweite Voraussetzung für seinen Plan einer neuen Weltfriedensordnung angesehen hatte. Seine Ansichten hierüber standen seit langem fest. Im Dezember 1914 sprach er davon, daß zwar ein Sieg der Entente die Interessen der USA nicht schwerwiegend verletzen würde. Aber, so strich er heraus, der Friede werde am ehesten dauerhaft und gerecht sein, wenn kein Land einen entscheidenden Sieg erringe. Wenn dagegen eine Seite der anderen ihren Willen aufzwinge, so entstehe die Gefahr eines ungerechten Friedens, der mit Sicherheit weitere Verwicklungen nach sich ziehen werde. In diesem Sinn befürwortete er einen Frieden ohne einschneidende Gebietsabtretungen, die neue Revanchegelüste zeitigen müßten, ferner die gegenseitige Garantie des territorialen Besitzstandes aller Länder, eine allgemeine Abrüstung, die Verstaatlichung aller Rüstungsbetriebe und eine zwischenstaatliche Organisation zur Friedenssicherung, die anfangs noch unbestimmt als Kom44 Wilsons Auffassung über die künftige Stellung der USA in Bd. V seiner Geschichte des amerikanischen Volkes von 1902. Vgl. Williams, Tragedy, 71 f. Zu Bethmann Tirpitz, Dokumente II, 292 ff. (27.12.1914). Zu House May, 157. Zu Wilson A. S. Link, Wilson V, 414.
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mission umschrieben wurde, während Wilson erstmals in einer Rede vom Mai 1916 öffentlich den Gedanken einer Völkervereinigung vortrug. Beispielhaft für die Einstellung der Entente zu solchen Vorhaben war Grey, der im März 1916 feststellte, solange die Entente die Friedensbedingungen diktieren könne, brauche sie Amerika nicht; erst wenn der Krieg in einem Patt ende, könne man überlegen, ob die amerikanische Vermittlung der Entente bessere Bedingungen bringe. 45 Nachdem Wilson im November 1916 wiedergewählt worden war, konnte er darangehen, solche Widerstände zu überwinden. Ebenso wie sein Außenminister Lansing (1915-1920) wußte er, daß Amerika, wenn nicht bald etwas geschah, allmählich in den Krieg an der Seite der Entente hineingleiten würde, die es ohnedies in großem Maßstab durch kriegswichtige Lieferungen und Kredite unterstützte. Ende 1916 war Wilson offenbar entschlossen, die Entente an den Verhandlungstisch zu zwingen, notfalls sogar um den Preis eines Krieges mit der Entente und Japan, den er allerdings nicht für wahrscheinlich hielt. Im Januar 1917 stellte der Präsident fest, wenn Deutschland den Frieden wirklich wolle, könne es ihn bald bekommen, es müsse nur auf ihn - Wilson - vertrauen und ihm die Gelegenheit dazu geben. Er wolle wirklich helfen und habe sich selbst in die Lage versetzt, Hilfe zu leisten, ohne eine Seite zu bevorzugen. Das geforderte Vertrauen brachte die deutsche Seite indes nicht auf. Das Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 enthielt keine konkreten Kriegsziele, weil Bethmann Hollweg sich nicht vorzeitig die Hände binden wollte. Die Reichsleitung und hier vor allem der neue Staatssekretär des Auswärtigen Amts Zimmermann stellte sich allerdings auch auf den Standpunkt, daß das Aushandeln der Friedensbedingungen eine Angelegenheit der Kriegführenden unter sich sein müsse, weil sie befürchtete, wenn die Neutralen darauf Einfluß nähmen, werde dies zum Nachteil der Mittelmächte ausschlagen. Ansonsten war sie vollauf bereit, den amerikanischen Vorstellungen entgegenzukommen; nach den eigentlichen Friedensverhandlungen sollte ein internationaler Kongress über Wilsons Plan einer neuen Weltfriedensordnung stattfinden. Wilson rückte in seine eigene Friedensnote vom 18. Dezember 1916 den Appell ein, die beiden kriegführenden Parteien verfolgten im Grunde dieselben Ziele, und diese seien verträglich mit dem Wunsch, eine neue Weltfriedensordnung auf den Grundsätzen der Gleichberechtigung, der territorialen Unversehrtheit und der Errichtung eines Völkerbundes zu schaffen. Die Aktion Wilsons wurde alsbald durch seinen eigenen Außenminister Lansing hintertrieben, der einen Kriegseintritt an der Seite der Entente für unvermeidlich hielt und dies die Entente auch wissen ließ. Wenngleich es solcher Winkelzüge wahrscheinlich nicht bedurft hätte, um die Entente in ihrem Siegeswillen zu bestärken, so wurde hier doch die ebenso grundlegende wie berechtigte Frage aufgeworfen, ob es denn für die USA ratsam 45 Wilson im März 1917 bei A. S. Link, Wilson V, 398 f. Zu Dezember 1914 Link, Wilson III, 53. Entsprechend ein Bericht des österreichischen Botschafters in Washington, 7.10.1914; Scherer / Grunewald I, 9 f. Wilson im Mai 1916 Link, Wilson V, 25 f. Zu Grey Pommerin, Amerika, 360.
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und für Wilson durchführbar war, sich gegen die Entente zu stellen. Ungeachtet der barschen Zurückweisung des Friedensangebots der Mittelmächte und der Friedensnote des Präsidenten durch die Entente (30.12.1916 bzw. 10.1.1917) scheint Wilson dies weiterhin für möglich gehalten zu haben. In der berühmten Rede vor dem amerikanischen Senat am 22. Januar 1917 sprach er vom Frieden ohne Sieg und wollte den zukünftigen Frieden Europas nicht auf ein Gleichgewicht der Mächte gründen, sondern auf eine Gemeinschaft der Mächte. Im Anschluß daran ließ er die Reichsleitung wissen, er sei bereit, den deutschen Wünschen entgegenzukommen, d. h. den Frieden zu vermitteln, ohne sich in die Friedensbedingungen einzumischen, und anschließend eine Konferenz über den zukünftigen Weltfrieden (Völkerbund etc.) abzuhalten. Einer Einigung auf dieser Grundlage, der Bethmann Hollweg mit Sicherheit zugestimmt hätte, war jedoch der Boden bereits entzogen. Unter dem Eindruck der Zurückweisung des deutschen Friedensangebots hatte der Kaiser, unterstützt von der Heeres- und Marineführung, den Entschluß zum unbeschränkten U-Boot-Krieg gefaßt, der am 1. Februar 1917 beginnen sollte. Weiteren Einwänden des Kanzlers, zuletzt noch einmal Ende Januar, war er nicht mehr zugänglich. 46 Daraus könnte man auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, für das Scheitern des Friedens sei in erster Linie die deutsche Seite verantwortlich zu machen und hier vor allem der Kaiser im Verein mit seinen militärischen Beratern. Ganz so einfach liegen die Dinge freilich nicht. Die neue deutsche Heeresführung, die sog. dritte Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff, die seit August 1916 amtierte, hielt sich anfangs an die politische Linie des Kanzlers. Daß sie im Laufe der Zeit einen nicht durchwegs heilsamen Einfluß auf die deutsche Innen- und Außenpolitik gewann, gilt als ausgemacht. Aber die Meinung Ludendorffs im Dezember 1916, Amerika werde über kurz oder lang ja doch in den Krieg eintreten, kann nicht rundweg als falsch betrachtet werden; immerhin entsprach sie ziemlich genau der Auffassung des amerikanischen Außenministers Lansing. Gewiß fällte Wilson die wesentlichen Entscheidungen selbst; es war indes sehr fraglich, ob sein idealistisches Friedensziel der Wirklichkeit unbedingt gerecht wurde. Vorausschauende Politik besteht nicht bloß darin, ausgreifende Programme aufzustellen, sondern auch darin, denkbare Anwendungsfälle durchzuspielen, und das scheint Wilson in seinem Drang, die Ordnung des internationalen Systems umzuwälzen, nicht immer ausreichend getan zu haben. Voraussetzung seines Weltfriedensplans war zunächst einmal, daß die USA gar nicht in den Krieg eintraten. Sie sollten vielmehr mit friedlichen Mitteln das Ende des Krieges herbeiführen, und dieses mußte wiederum so beschaffen sein, daß alle sich damit abfinden konnten und anschließend auf den herkömmlichen Stil der Machtpolitik verzichteten, um im Rahmen des Völkerbunds Vernunft und Einsicht walten zu lassen. Den Völkerbund auf Unterwerfung und Gewalt zu gründen, schloß Wilson anfangs gerade aus, teils in der richtigen Erkenntnis, daß die 46 Zu Wilsons Friedenspolitik A. S. Link, Wilson V, 187 ff., 199 f., 217 ff., 239 ff., 277 f. Ferner Scherer / Grunewald I, 640 f. (26.12.1916), 684 f. (27.1.1917).
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unerträgliche Verstümmelung einzelner Kriegsparteien diese kaum zu bereitwilligen Trägem der neuen Friedensordnung machen und den Völkerbund am Ende zum Zwangsinstrument erniedrigen würde. Teils ließ er sich auch von dem Bewußtsein leiten, daß die angestrebte Weltführungsrolle der USA im Rahmen des Völkerbunds einen Bruch mit der herkömmlichen amerikanischen Politik darstellte, sich von jeder Verstrickung in die Händel der alten Welt freizuhalten. Diesen Weltführungsanspruch kündigte Wilson in seiner Senatsbotschaft vom 22. Januar 1917 unverhohlen vor der Öffentlichkeit an, indem er die MonroeDoktrin auf die ganze Welt ausdehnte. Aber wie sich hiergegen sofort innerer Widerstand regte, der die herkömmliche Deutung der Monroe-Doktrin mit ihrer Beschränkung auf die westliche Hemisphäre aufrechterhalten wollte, so war vorherzusehen, daß derartiger Widerstand nur dann überwunden werden konnte, wenn die amerikanische Führungsrolle weithin eine mittelbare blieb, d. h. sich im wesentlichen auf wirtschaftliche und diplomatische Einflußnahme beschränkte. Wurde in Europa kein gerechter und ausgleichender Friede erreicht, so mußte die neue Ordnung mit Gewalt aufrechterhalten werden. Amerika als militärischer Zuchtmeister des Völkerbunds war jedoch eine Erscheinung, die sich gegen den Widerstand im eigenen Land kaum würde durchsetzen lassen. Auch von daher war Wilson darauf angewiesen, Europa in einen ausgeglichenen Zustand zu versetzen, um den Völkerbund aus befriedeten und befriedigten Mitgliedern zusammenzufügen, nicht aus solchen, die nur der Knute gehorchten oder sich dagegen auflehnten. 47 Dem Ziel, einen derart ausgeglichenen Zustand zu schaffen, schien Wilson an der Jahreswende 1916/17 nahe zu sein. Was konnte nun geschehen? Setzt man einmal den hypothetischen Fall, die Mittelmächte hätten auf den unbeschränkten U-Boot-Krieg verzichtet, so lassen sich mehrere Denkmöglichkeiten unterscheiden. Zweifellos war Wilson imstande, die Entente bis zu einem gewissen Grad unter Druck zu setzen, insbesondere durch die Verweigerung von Krediten und Kriegslieferungen. Diese Waffe war nur so lange sinnvoll, wie sie sehr vorsichtig und zurückhaltend eingesetzt wurde, gerade so weit, um die Entente Friedensverhandlungen zugänglich zu machen und die USA in der Rolle des überlegenen und unverzichtbaren Vermittlers zu erhalten. Wurde die Schraube überdreht und die Entente wirklich schwerwiegend geschädigt, so half Wilson den Mittelmächten, den Sieg zu erringen. Auf die amerikanische Friedensstiftung und eine Beschränkung ihrer Ziele konnten sie dann leichten Herzens verzichten. Aus ähnlichen Gründen durfte Wilson auch nicht mit einem Krieg Amerikas gegen die Entente rechnen; der Sieg wäre den Mittelmächten dann sicher gewesen, teils wegen des Wegfalls der amerikanischen Wirtschaftsunterstützung für die Entente und teils wegen der Lockerung der Blockade. Wenngleich Wilson über ein Instrumentarium wirtschaftlicher Druckmittel verfügte, war es doch keine 47 Ludendorffin WUA II, 221 (22.12.1916). Allgemein zur Frage des U-Boot-Krieges G. Ritter, Staatskunst III, 349 ff.; Birnbaum; Stegemann, Marinepolitik. Zu Wilsons Senatsbotschaft A. S. Link, Wilson V, 265 ff. Hölzle, Selbstentmachtung, 577 ff.
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sehr scharfe Waffe, zumindest nicht scharf genug, um einen baldigen Erfolg sicherzustellen. Das deutsche Mißtrauen gegen Wilsons Vermittlertätigkeit war deshalb aus mehreren Gründen angebracht. Erstens stellte Zimmermann Anfang Januar 1917 die berechtigte Frage, wie man sich wohl den starken Druck vorzustellen habe, den der Präsident auf die Entente ausüben könnte, um sie Friedensverhandlungen geneigt zu machen. Nach den bisherigen Erfahrungen scheine ein Ausfuhrverbot für Kriegsgerät und Lebensmittel, das wohl in erster Linie die Entente zum Einlenken nötigen würde und auch den Mittelmächten am erwünschtesten wäre, leider wenig wahrscheinlich zu sein. Nur ein wirkungsvoller Druck in dieser Richtung könnte die Mittelmächte der zwingenden Notwendigkeit zum unbeschränkten U-Boot-Krieg entheben. Zweitens stand zu befürchten, daß Wilson sich trotz seiner anderslautenden Versicherungen gegenüber der Reichsleitung doch in die konkreten Einzelheiten der Friedensverhandlungen einmischen würde. In seiner Rede vor dem Senat am 22. Januar 1917 sprach er von einem vereinigten, unabhängigen Polen sowie von der freien Entwicklung der Völker unter fremder Herrschaft. Das konnte gar vieles heißen. Ähnlich wie die europäischen Westmächte setzte Wilson schon voraus, daß Rußland beim Friedensschluß wie ein Besiegter zu behandeln sei, indem es Polen verlieren sollte; ob die russische Regierung unter solchen Voraussetzungen dem Frieden und dem Völkerbund gern zustimmen würde, stand gar nicht mehr zur Debatte. Ein vereinigtes und unabhängiges Polen mußte jedenfalls österreichische und vermutlich auch deutsche Gebiete umfassen. Die freie Entfaltung von Völkern unter fremder Herrschaft beinhaltete zunächst nur Selbstverwaltung. Doch entstand hier die große Gefahr, daß die Entente die Friedensverhandlungen systematisch verschleppte und Wilson, um zu einem Ergebnis zu gelangen, ihr immer mehr nachgab. Dann mochte unversehens für Teile der Donaumonarchie und Deutschlands das Selbstbestimmungsrecht gefordert werden, was zum Verlust weiter Gebiete führen konnte. Drittens gab die beschränkte Fähigkeit Wilsons, die Entente schnell und wirksam zu zwingen, dieser einen Hebel in die Hand, um aus der Verzögerung von Verhandlungen Kapital zu schlagen. Die Antwort der Entente auf Wilsons Friedensnote am 10.1.1917 forderte die weitgehende Verkrüppelung Österreichs, andeutungsweise auch diejenige der Türkei, Entschädigungszahlungen und für Deutschland den Verlust Elsaß-Lothringens sowie östlicher Gebiete (an Polen). Wilson war im Irrtum, wenn er diese erstmalige Bekanntgabe von Kriegszielen für Bluff erklärte; hinter den wahren Absichten blieben sie noch zurück. Damit stand zu erwarten, daß Verhandlungen, falls sie überhaupt begannen, äußerst zäh und langwierig sein würden. Da allgemein bekannt war, daß Deutschland, sofern keine Friedensaussicht bestand, zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg übergehen würde, mag die Entente an der Jahreswende 1916/17 darauf spekuliert haben, durch ihre schroffe Haltung die Mittelmächte zu eben diesem Schritt zu veranlassen, um auf diese Weise auch die USA in den Krieg zu ziehen. Selbst wenn es zu Verhandlungen kam, brauchte der Entente an einem verwertbaren Ergebnis
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nicht gelegen zu sein. Aus militärischen Gründen mußte Wilson sie jedenfalls so weit unterstützen, daß sie verhandlungsfähig blieb und nicht zusammenbrach; so konnte die Entente das Unternehmen fast nach Belieben hinziehen. Spätestens wenn sich dies herausstellte, würde die deutsche Seite den unbeschränkten UBoot-Krieg anfangen, weil die Mittelmächte wegen ihrer angespannten Versorgungslage zu unbegrenztem Durchhalten außerstande waren. In Deutschland wurde seit 1916 der durchschnittliche Kalorienbedarfbei der Nahrungsaufnahme nur noch zur Hälfte und weniger gedeckt; während des Krieges starben über 700 000 Menschen infolge der Hungerblockade, die Kindersterblichkeit stieg um 50 %. Die Mittelmächte würden den unbeschränkten U-Boot-Krieg aber auch anfangen, wenn Wilson, um der Entente entgegenzukommen, auf die Friedensbedingungen Einfluß nahm und beispielsweise Elsaß-Lothringen den Franzosen, Posen und Galizien den Polen, Bosnien den Serben und Südtirol den Italienern zusprach. Zimmermann rechtfertigte im Februar 1917 den Bruch mit den USA durch die vielleicht überspitzten, aber nicht ganz unzutreffenden Worte, nun sei man endlich Wilson als Friedensvermittler losgeworden. Vor einem Frieden, wie er ihn den Mittelmächten beschert haben würde, schaudere er. Es wäre ein Frieden der Entente gewesen, wie die Entente ihn nicht schlimmer hätte diktieren können, meinte Zimmermann. Wenn ein solcher Friede den Mittelmächten sowieso nur Verluste brachte, dann lag es nahe, daß sie vorher noch versuchten, mit Hilfe des U-Boot-Kriegs weiterzukommen. Dasselbe mußten sie versuchen, wenn die Verhandlungen über Gebühr verschleppt wurden. Denn die Mittelmächte konnten durch bloßes Zuwarten ihre wirtschaftliche und militärische Lage nur noch verschlechtern und schließlich der Aushungerung durch die Blockade entgegensehen, während die Entente sich zumindest zu halten vermochte, jedenfalls die Westmächte. Auf einen vollständigen Bruch mit der Entente würde Wilson es nie ankommen lassen; deswegen hatte Grey im Oktober 1916 empfohlen, der amerikanischen Regierung in Grundsatzfragen keinerlei Zugeständnisse zu machen. Der Zusatz, bei einer Verschlechterung der Lage könne man diese Haltung überdenken, bezog sich auf seine schon früher geäußerte Ansicht, bei einem militärischen Patt könne man überlegen, ob die amerikanische Vermittlung der Entente bessere Bedingungen bringe. Mehr als ein militärisches Patt durfte Wilson durch wirtschaftliche Druckausübung nicht herbeiführen, und dann konnte die Entente damit beginnen, Amerika ihren Wünschen anzunähern. 48 Schließlich ein letzter Punkt. In der amerikanischen Regierung war man daran gewöhnt, den Blick auf weltpolitische Größenverhältnisse zu richten, nicht nur auf das überständig gewordene europäische Gleichgewicht. Für Amerika waren nicht allein die europäischen Zustände maßgeblich, sondern ebenso die asiati48 Zimmermann Januar 1917 in Scherer / Grunewald 1,668 f. (7.1.1917). Zur Antwort der Entente auf Wilsons Friedensnote Hölzle, Selbstentmachtung, 565 ff., 574. Zur Versorgungslage der Mittelmächte P. Kielmansegg, Weltkrieg, 181 f. Mai, Kaiserreich, 112 f. Zimmermann Februar 1917 in Hauptausschuß III, 1110 (Zimmermann im Hauptausschuß des Reichstags, 21.2.1917). Zu Grey A. S. Link, Wilson V, 180 ff.
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schen sowie die Wechselbeziehungen zwischen beiden. Die Furcht vor einem Zusammengehen Deutschlands mit Rußland war bereits unter Präsident Roosevelt nach der Jahrhundertwende aufgetaucht; daß Amerika in der Marokko-Angelegenheit 1905/06 für Frankreich Partei ergriff, hängt wohl auch mit dem Wunsch zusammen, die von der Reichsleitung erstrebte Annäherung zwischen Deutschland und dem russisch-französischen Zweibund zu verhindern. Noch davor, im Jahr 1903, hatte Holstein die USA zusammen mit den übrigen Seemächten als denkbare Gegner in einem Weltkrieg angesehen, sofern Rußland bei seiner damaligen ostasiatischen Ausdehnungspolitik von Deutschland unterstützt würde. Deutschland bzw. die Mittelmächte allein galten der amerikanischen Regierung höchstens als Handelsrivalen, aber nicht als gefährliche weltpolitische Gegner. Wilson und House hielten Rußland, neben den USA, für eine der großen Weltmächte der Zukunft; Deutschland zählten sie bei einem Gespräch über diese Dinge kurz nach Kriegsausbruch bezeichnenderweise nicht dazu. Wovor sich Wilson und House, ebenso wie andere amerikanische Regierungsmitglieder, wirklich ängstigten, war nicht ein begrenzter Sieg der Mittelmächte in Europa, sondern eine Umwälzung der weltweiten Mächtekonstellation, insbesondere eine Verbindung Deutschlands mit Rußland, der sich am Ende auch noch Japan anschließen mochte. Wilson betrachtete deshalb die Mittelmächte anfangs weniger unter dem Gesichtspunkt, daß sie eine Gefahr für den Weltfrieden und das weltweite Mächtegleichgewicht darstellten, als vielmehr unter dem Blickwinkel, daß sie ein Gegengewicht zu Rußland bildeten. Der Entsendung des Obersten House nach Europa vor Kriegsausbruch lag noch der Gedanke zugrunde, durch gemeinsames Bemühen der westlichen Mächte und Deutschlands den Frieden zu sichern; von der Einbeziehung Rußlands in ein solches Geschäft war auffälligerweise nie die Rede. House bezeichnete bei dieser Gelegenheit in Berlin das Deutsche Reich als eine Art Bollwerk gegen Rußland. Ende Mai 1914 berichtete House an Wilson, wenn England jemals damit einverstanden sei, würden Rußland und Frankreich sich auf Deutschland stürzen - was eine bemerkenswerte Unvoreingenommenheit verriet und im übrigen der deutschen Lagebeurteilung nicht allzu fern stand. Nach Kriegsausbruch machten sich Wilson und House alsbald für die Erhaltung Deutschlands stark. An die britische Adresse richteten sie die Mahnung, es sei nicht im Interesse Englands und Europas, wenn Rußland die beherrschende militärische Macht auf dem Kontinent werde. Eine völlige Niederwerfung Rußlands durch die Mittelmächte allein mit militärischen Mitteln hielten sie, im Einklang mit der allgemeinen Auffassung, nicht für erreichbar. Selbst Grey räumte im September 1914 noch ein, falls Deutschland den Krieg gewinne, werde es zwar das mittlere und westliche Europa beherrschen; Rußland aber werde eine Macht im Osten Europas und in Asien bleiben. Die Möglichkeit eines deutschen Sieges über Frankreich scheint Wilson nicht sonderlich beunruhigt zu haben. Etwa Anfang September 1914, als die deutschen Armeen noch zügig in Richtung Paris vorstießen, machte der amerikanische Botschafter in Berlin einen Friedensvorschlag, angeblich zwar ohne amtlichen Auftrag, aber schwerlich im
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Widerspruch zur Auffassung seiner Regierung. Den Zeitpunkt zum Friedensschluß hielt er für gekommen, sobald Paris gefallen sei; Deutschland könne dann Frankreich eine beliebig hohe Kriegsentschädigung auferlegen und von seinen Kolonien nehmen, soviel es wolle. Im November 1914 sagte Wilson mehrfach zu House, selbst wenn Deutschland den Sieg erringe, stelle es keine unmittelbare Gefahr für die USA dar, weil es durch den Krieg zu sehr erschöpft sein werde. 49 Andere Dinge betrachtete Wilson mit größerer Sorge. Im November 1914 tat er den Ausspruch, der Krieg sei vielleicht eine Gottesgabe, denn wenn er nicht gekommen wäre, würden die USA selbst wohl in Krieg verwickelt worden sein. Diese rätselhafte Äußerung ergibt offenbar nur dann einen Sinn, wenn man sie auf die Juli-Krise von 1914 bezieht: Wäre der Krieg nicht ausgebrochen, so hätten sich Deutschland und Rußland verständigt, und diese Sprengung des europäischen Gleichgewichts hätte früher oder später auch die USA zum Eingreifen veranlaßt. Vor allem Außenminister Lansing stellte die Gefahr heraus, daß eines Tages Deutschland, Rußland und Japan eine gewaltige Koalition bilden und die übrige Welt bedrohen würden. Er brachte dies auf die Formel, der Absolutismus wende sich gegen die Demokratie, und zog daraus die Folgerung, Amerika müsse zugunsten der Demokratie in den Krieg eingreifen, um Deutschland niederzuwerfen. Damit folgte er ähnlichen Gedanken bei den Westalliierten; auch diese wollten ja den "preußischen Militarismus" zerschmettern, um in Zukunft ein deutsch-russisches Zusammengehen zu verhindern. Die Möglichkeit eines eurasischen Blockes war keineswegs von der Hand zu weisen. Seit Kriegsbeginn war vorherzusehen, daß Japan die europäische Auseinandersetzung benützen würde, um seine Machtstellung in Ostasien auszubauen, teils durch die Besetzung der strategisch wichtigen deutschen PazifIk-Inseln, hauptsächlich aber durch die Ausweitung seines Einflusses in China, wofür der Gewinn des deutschen Schutzgebietes Kiautschou einen Ansatzpunkt bot. Die Reichsleitung begrüßte kurz nach Kriegsausbruch eine amerikanische Anregung, das pazifIsch-ostasiatische Gebiet zu neutralisieren, doch gab Wilson das Unternehmen bald wieder auf, so daß Japan am 23. August 1914 in den Krieg eintrat. Hätte Wilson sich anders verhalten, so hätte er für die Mittelmächte Partei ergriffen, was die weltpolitische Lage schwerwiegend verändert und mindestens zu erheblichen Spannungen mit Japan geführt hätte. Umgekehrt gab die amerikanische Entscheidung Japan weithin freie Bahn in China, was Tokio veranlaßte, Anfang 1915 an China die sog. ,,21 Forderungen" zu stellen, ein Bündel wirt49 Zu Th. Roosevelt Hölzle, Zweigeteilte Welt, 136. Pommerin, Amerika, 131 ff. Zu Holstein GP 18/1,68 ff. (16.4.1903). Wilsons Ansicht über die zukünftigen Weltmächte bei Walworth, Moment, 196. Zu der Friedensaktion von House vor Kriegsausbruch Papers I, 255 (29.5.1914),262 und passim. Wilsons Mahnung an England nach Kriegsausbruch bei A. S. Link, Wilson III, 205 f. (September / Oktober 1914). Zu Grey dessen Memoiren 11,127 (10.9.1914). Der Friedensvorschlag des amerikanischen Botschafters Gerard in Scherer / Grunewald I, 4 f. (9.9.1914). Wilson Ende 1914 über möglichen deutschen Sieg House, Papers 1,304 f. Ferner May, 169,427. D. M. Smith, Departure, 26.
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schaftlicher und politischer Maßnahmen, die China fast zum japanischen Vasallen gemacht hätten. Wiewohl China nach amerikanisehern Einspruch nur einen Teil dieser Forderungen annahm, konnte Japan seine Stellung bald noch weiter verbessern, als es am 3. Juli 1916 mit Rußland ein Militärbündnis schloß, um China gegen die Bevormundung durch eine feindliche dritte Macht zu schützen. Formell war dies auf Deutschland gemünzt; tatsächlich aber richtete es sich eher gegen die Einmischung der bislang neutralen USA. Die Grundsätze der amerikanischen Ostasienpolitik, wie sie seit den Erklärungen von 1899/1900 über die "offene Tür" und die territoriale Unversehrtheit Chinas gültig waren, standen damit auf dem Spiel. Noch vorher hatten verschiedentlich diplomatische Fühlungnahmen zwischen Vertretern Deutschlands und Japans stattgefunden, bei welchen die deutsche Seite die Möglichkeit eines Sonderfriedens ausloten wollte, während Tokio dies sicher nicht bezweckte, zumal es am 19. Oktober 1915 dem Ententevertrag vom 5. September 1914 über den Ausschluß eines Sonderfriedens beigetreten war, aber sich immerhin die Möglichkeit offenhielt, nach dem Friedensschluß näher an Deutschland heranzurücken. Die europäischen Verhältnisse beachtete zwar Tokio nur insoweit, als sie für seine ostasiatischen Ziele von Belang waren, doch lag es auf der Hand, daß Japan, um seine Chinapolitik gegen den Widerstand der USA und zum Teil auch denjenigen der europäischen Westmächte durchzusetzen, bei anderen europäischen Ländern Anlehnung suchen konnte. In Hinblick auf Rußland hatte es dies bereits getan, und die Mittelmächte kamen hierfür durchaus in Frage, jedenfalls dann, wenn sie sich im Krieg einigermaßen behaupteten. Im Juni 1917, als der Zusammenbruch Rußlands im Gang war, stellte Zimmermann in Übereinstimmung mit dem Kaiser fest, "sollte es zu einem Einvernehmen zwischen uns und Rußland kommen, so würde unsere Politik darauf ausgehen, Japan in die Kombination mit einzubeziehen." Solche Dinge hatten auch die USA in Rechnung zu stellen. Auf einer amerikanischen Kabinettsitzung am 2. Februar 1917, nach Beginn des unbeschränkten UBoot-Kriegs, verlangte Lansing wieder einmal die Unterstützung der Alliierten, um den Absolutismus zu beseitigen. Kabinettsmitglieder, zu denen wahrscheinlich auch der Außenminister gehörte, strichen heraus, Rußland könne demnächst die Entente verlassen und einen Sonderfrieden schließen. Ein Bündnis zwischen Deutschland, Rußland und Japan sei wahrscheinlich und entspreche den natürlichen Gegebenheiten. Unter solchen Bedingungen mußte in der Tat der amerikanische Kriegseintritt fast zwingend werden, nur geriet damit Wilsons Weltfriedensplan in Gefahr. Wilson war denn auch sichtlich bemüht, an seinem Entwurf festzuhalten, ohne daß man mit letzter Sicherheit sagen könnte, ob er wirklich alle denkbaren Fälle und Folgen in seinen Überlegungen berücksichtigt hatte. Der Präsident verwies darauf, daß bei einem unentschiedenen Kriegsausgang die Gerechtigkeit sich eher durchsetzen werde. Aber wie sollte ein unentschiedener Kriegsausgang erreicht werden, wenn die Alliierten an ihrem unbedingten Siegeswillen festhielten? Gegen die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Deutschland, Rußland und Japan wandte der Präsident ein, vielleicht werde der russische
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Bauer der Welt dieses Unglück ersparen. Das beweist jedenfalls, daß Wilson mit einer Revolution in Rußland rechnete; aber seine Hoffnung, das befürchtete Bündnis werde dann ausbleiben, verkannte die Tatsache, daß die Mittelmächte, wenn keine Friedensaussicht bestand, gar nicht anders konnten, als Rußland in Abhängigkeit zu bringen. Oder zumindest hat Wilson, wenn er dies einsah, die nachteiligen Folgen für seinen Weltfriedensplan nicht eingestehen wollen. Eine Niederwerfung der Mittelmächte, wie die Alliierten sie beabsichtigten - und Lansing in ähnlicher Weise - , war mit dem Weltfriedensplan sicher unverträglich; darum suchte Wilson sie immer noch zu venneiden. Der Präsident meinte, wenn es nützlich sei, die weiße Rasse oder Teile davon stark zu erhalten, um Japan im Verein mit Rußland an der Beherrschung Chinas zu hindern, dann werde er nichts tun. Diese rätselhafte Äußerung stellte also einen Zusammenhang her zwischen dem amerikanischen Nichtstun, d. h. der Neutralität, und der Stärkung westlicher Länder gegen eine japanische Vorherrschaft in China. Wer sollte hier stark erhalten werden? Die Äußerung ergibt anscheinend am ehesten einen Sinn, wenn man sie im Zusammenhang sieht mit anderen Gedankengängen des Präsidenten. Einen gerechten Frieden versprach sich Wilson nur von einem Nichteingreifen der USA; in diesem Fall wäre Amerika stark geblieben für die Errichtung einer funktionsfahigen neuen Weltfriedensordnung. Zugleich wären dann aber auch die Mittelmächte stark geblieben, was ohnedies nötig war, um einen diktierten Frieden zu verhindern, und was dazu beitragen konnte, in Ostasien den Einfluß Japans und Rußlands einzudämmen. Immerhin hatte Wilsonja früher schon Deutschland als Gegengewicht zu Rußland betrachtet, und bereits Präsident Taft hatte 1910 ein enges Zusammenwirken Deutschlands und Amerikas vorgeschlagen, um Japan in China nicht übennächtig werden zu lassen. Die politische Stärke der USA, ihre angestrebte Rolle als Führungsrnacht in einem befriedeten Weltstaatensystem, hing tatsächlich, wie Wilson immer wieder betonte, davon ab, daß keine Seite einen entscheidenden Sieg errang. Gelang jedoch den Alliierten das Niederwerfen der Mittelmächte, so würden sie anschließend ihren Preis verlangen, sowohl in Europa als auch in Asien, und die USA würden zu schwach sein, um dies zu verhindern. 50 Kommen wir nach diesen Zwischenüberlegungen wieder auf unseren Ausgangspunkt zurück! Am Anfang stand ja die hypothetische Annahme, Deutschland hätte an der Jahreswende 1916/17 auf den unbeschränkten U-Boot-Krieg verzichtet, was Wilsons Absichten sicher am meisten entsprochen hätte. Wäre die von Wilson erstrebte neue Friedensordnung dann erreichbar gewesen? Es spricht alles dafür, daß das nicht der Fall ist. Vielleicht hätte Wilson die Entente zur Aufnahme von Friedensgesprächen veranlassen können, aber er hätte sie nicht zwingen können, sie in absehbarer Zeit zu einem Ende zu bringen, das 50 Wilson im November 1914 bei May, 78. Lansing nach Hubrich, 136. Zu Japan Hayashima. Zimmermann in Scherer / Grunewald II, 223 f. (31.5. 1917), 246 f. (27.6.1917). Zur amerikanischen Kabinettsitzung vom 2.2.1917 A. S. Link, Wilson V, 296 f. Zum Vorschlag von Präsident Taft 1910 Pommerin, Amerika, 190 f.
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auch die Mittelmächte hinzunehmen vennochten. Daß die Entente imstande war, die Friedensverhandlungen zu verschleppen und damit sowohl den unbeschränkten U-Boot-Krieg als auch den amerikanischen Kriegseintritt heraufzubeschwören, wurde bereits erwähnt. Ein Fall war darin allerdings noch nicht enthalten, und er verdient gesonderte Beachtung. Was geschah denn, wenn Rußland zusammenbrach? Niemand konnte an der Jahreswende 1916/17 mit Bestimmtheit vorhersagen, wann dies eintreten würde. Aber die europäischen Westmächte konnten es darauf anlegen, dieses Ereignis abzuwarten und auch dann noch einen brauchbaren Frieden zu verweigern. Bethmann Hollweg meinte zwar im Juni 1917, wegen der mittlerweile eingetretenen Revolution in Rußland wäre man wahrscheinlich dem Frieden jetzt näher, wenn man auf den unbeschränkten UBoot-Krieg verzichtet hätte. Doch traf dies bestenfalls einen Teil der Wahrheit. Lloyd George trug sich im Herbst 1917 und im folgenden Winter mit dem Gedanken, einen Frieden abzuschließen, bei welchem Deutschland auf seine Kolonien verzichtete, vielleicht auch in Elsaß-Lothringen Zugeständnisse machte, und dafür im Osten zu Lasten Rußlands Gewinne erzielte. Dieses Vorhaben, das die Mittelmächte wahrscheinlich aufgegriffen hätten, war insofern folgerichtig, als die Schwächung Rußlands ohnedies eines der britischen Kriegsziele darstellte und die Mittelmächte beim Ausbleiben eines allgemeinen Friedens nicht daran zu hindern waren, im Osten nach eigenem Gutdünken vorzugehen. Trotzdem scheiterte der Plan am Widerstand des Außenministers Balfour und des übrigen Kabinetts, unter anderem wegen der Überlegung, die Westmächte dürften Rußland nicht fonnell preisgeben und so einer künftigen deutsch-russischen Verbindung den Weg ebnen. Als die Mittelmächte den Beginn der Sonderfriedensverhandlungen mit Rußland zum Anlaß nahmen, am 25. Dezember 1917 einen allgemeinen Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen vorzuschlagen, gingen die Westalliierten erwartungsgemäß nicht darauf ein. Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt für die Annahme, sie hätten sich unter anderen Umständen nicht so verhalten. Das heißt, daß die Westalliierten selbst dann keinen erträglichen Frieden mit den Mittelmächten geschlossen hätten, wenn der UBoot-Krieg unterblieben wäre, schon gar nicht bei einem Zusammenbruch Rußlands. Im Gegenteil hätte gerade der Zusammenbruch Rußlands und gegebenenfalls dessen Sonderfriede mit den Mittelmächten die besten Aussichten eröffnet, die USA nun doch noch in den Krieg hineinzuziehen. Einen Ausfall Rußlands mußte Wilson wettmachen, indem er die Westmächte soweit unterstützte, daß sie widerstandsfähig blieben; andernfalls hätten die Mittelmächte den Sieg errungen und auf dem ganzen eurasischen Kontinent keinen Gegner mehr besessen. Das war es, was Wilson nicht ausreichend bedacht hatte: Er konnte in Wahrheit die Entente nicht zum Frieden zwingen, vielmehr konnten die Westalliierten es so einrichten, daß er sich auf ihre Seite stellen mußte. Dies trat insbesondere dann ein, wenn Rußland ausschied und die Westmächte noch immer einen ausgleichenden Frieden verweigerten. Da die Mittelmächte nicht endlos den Abnützungskrieg weiterführen und die Aushungerung abwarten konnten, blieb ihnen gar
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keine andere Wahl als Rußland unter ihre Botmäßigkeit zu bringen, um den Krieg, gestützt auf die russischen Hilfsquellen, überhaupt noch durchhalten zu können. Wilsons Hoffnung, der russische Bauer, also die Revolution, werde kein Bündnis mit Deutschland zulassen, war dann belanglos; die Mittelmächte würden, ob mit oder ohne Bündnis, Rußland in Abhängigkeit bringen und zu ihrem wirtschaftlichen Hinterland machen. Der Kern eines Kontinentalblocks war dann geschaffen; Deutschland konnte überdies auf ein Bündnis mit Japan lossteuern, und wenn sogar im Westen noch ein Sieg glückte, trat für die Westmächte der schlimmste aller denkbaren Fälle ein. Aber - die USA würden das selbstverständlich nicht zulassen. Spätestens dann, wenn sich eine Beherrschung Rußlands durch die Mittelmächte abzeichnete und vielleicht Japan Anstalten machte, sich anzuschließen, mußten die USA in den Krieg eintreten, sofern sie die Bildung des Kontinentalblocks verhindern wollten, und das wollte auch Wilson. Eben dies konnten die europäischen Westalliierten abwarten, und deshalb brauchten sie auf deutsche Friedensversuche nicht einzugehen. Von daher war auch Wilsons Wunsch, die USA ebenso wie die Mittelmächte politisch kraftvoll in seine neue Weltfriedensordnung einzubringen, zum Scheitern verurteilt. 51 Lansing hatte schon recht mit seiner Ansicht, den USA bleibe gar nichts anderes übrig, als an der Seite Englands und Frankreichs den "Absolutismus" zu zerschlagen. Wenn dem so war, dann ist aber auch der deutsche Entschluß zum unbeschränkten U-Boot-Krieg nicht dafür verantwortlich zu machen, daß das ,,Experiment des Friedens" im allgemeinen und Wilsons Weltfriedensidee im besonderen Schiffbruch erlitten. Sondern der Frieden scheiterte aus denselben Gründen, warum der Krieg entfesselt worden war: um die Bildung einer kontinentalen Machtzusammenballung zu vereiteln sowie Deutschland und Rußland gemeinsam auszuschalten. Auf einen Verständigungsfrieden bestand im Grunde seit Kriegsausbruch keinerlei Aussicht; der Krieg konnte nur durch Waffengewalt entschieden werden. Für die Frage des Verständigungsfriedens sind die Kriegsziele der Mittelmächte ohne Belang. Der Verständigungsfriede scheiterte nicht daran, daß die Mittelmächte ihn nicht wollten, sondern daran, daß sie ihn nicht bekommen konnten. So liefen die Kriegsziele der Mittelmächte gewissermaßen der politischen und militärischen Entwicklung immer hinterher: zunächst der Tatsache, daß die Mittelmächte in den allgemeinen Krieg getrieben worden waren, dann dem Umstand, daß die ursprünglichen Siegeshoffnungen sich zerschlagen hatten, und schließlich, nach dem Ausfall Rußlands und dem Kriegseintritt Amerikas, der Notwendigkeit, einen Existenzkampf nicht mehr bloß auf der europäischen, sondern auf der weltweiten Ebene durchzufechten. Bethmann Hollwegs Ansicht brachte sein Vertrauter Kurt Riezler, zwar bei nicht ganz passender Gelegenheit und etwas dramatisierend, aber im Kern nicht falsch, 1915 auf die 51 Zu Bethmann Briefwechsel H, 850 f. (Bericht Lerchenfelds, 9.6.1917). Zu Lloyd George Rothwell, Aims, 108 ff., 190 ff. Jaffe, 56 f. L. Maier, Kompromißfrieden. Zum Vorschlag der Mittelmächte vom 25. Dezember 1917 Friede von Brest Litowsk, 137, 143 ff., 154 ff.
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Formel: "Der tragische Irrtum Englands bestünde darin, daß sie uns zur Anspannung aller Kräfte, zur Ausnützung aller Möglichkeiten zwingen, in weltweite Probleme hineintreiben - gegen unseren Willen uns das Verlangen nach Weltherrschaft aufnötigen." 52 Von einem Drang nach Weltherrschaft kann ursprünglich keine Rede sein. Das einzige deutsche Ziel, das während des ganzen Krieges gleich blieb, bestand darin, das Bündnis mit der Donaumonarchie zu einer engen wirtschaftlichen und politischen Verbindung umzugestalten. Dies bedeutete die Verwirklichung des alten Mitteleuropagedankens, doch wären dadurch die europäischen Kräfteverhältnisse nicht wesentlich geändert worden. Weiter führte eine Überlegung Bethmann Hollwegs, die er kurz nach Kriegsausbruch in die Worte kleidete, daß ein außenpolitischer Kulturblock, eine deutsch-englisch-französische Gruppierung gegen den russischen Koloß wünschbar sei. Die Äußerung ist umso auffälliger, als sie gegenüber Bülow fiel, der ja lange Zeit das Bündnis mit Rußland gegen den Westen angestrebt hatte. Möglicherweise geht der Gedanke auf Bethmanns Staatssekretär im Auswärtigen Amt Jagow (1913-1916) zurück, der schon vor dem Krieg den Ausgleich mit Britannien suchte, während der Kanzler noch in der Julikrise von 1914 an eine Verständigung mit Rußland dachte und sie auch im Krieg nie ganz aus seinen Erwägungen ausschloß. Jagow wünschte die Zurückdrängung des russischen Albs nach Osten und die Abtrennung russischer Randgebiete, insbesondere Polens, wovon er eine dauernde Verschärfung des Gegensatzes zwischen Rußland und den Mittelmächten erwartete, die wiederum Rückwirkungen auf das Verhältnis der Mittelmächte zu den Westmächten haben mußte. Jagow hatte augenscheinlich begriffen, daß eine Ursache des Krieges in der Angst der Westmächte vor der deutsch-russischen Einigung lag, und suchte diese Angst auszuräumen, indem er die Mittelmächte von Rußland trennte, um sich mit dem Westen aussöhnen zu können. Als im Frühjahr 1916 bei den deutsch-japanischen Fühlungnahmen der Gedanke eines Bündnisses zwischen Deutschland, Rußland und Japan auftauchte, lehnte Jagow dies rundweg ab, weil er das Unternehmen sowieso für ziemlich windig hielt und weil er nicht in einen grundsätzlichen Gegensatz zum Westen geraten wollte. Davon abgesehen konnte allerdings der Plan Bethmanns und Jagows aus der ersten Kriegszeit, mit dem Westen zu einem Ausgleich zu kommen, nur bei einem Sieg verwirklicht werden. Einen solchen hielt man anfangs für möglich, wenn auch nicht so schnell, wie oft angenommen wird. Der Kanzler meinte schon Anfang Juni 1914, so rasch wie der Krieg von 1870 werde bei der Verwendung der Millionenheere der künftige Kampf sich nicht abspielen. Riezler drückte Ende August/ Anfang September 1914, noch während des Vormarsches, Bethmanns Ansicht dahingehend aus, daß ein baldiger Friede mit Frankreich unwahrscheinlich sei und augenblicklich keine Aussicht auf einen entscheidenden Sieg bestehe. Für den Fall, daß ein solcher unverhofft doch eintrat, nahmen der 52
Riezler, 302 f. (4.10.1915).
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Kanzler und der Kaiser ein Bündnis mit Frankreich in Aussicht. Bethmann Hollweg trug sich, wie es 1916 einmal ausgedrückt wurde, lange Zeit mit der Hoffnung, nach dem Krieg zu einem Arrangement mit England und Frankreich zu gelangen, in welchem Falle Rußland die Zeche zu bezahlen gehabt hätte. Im September 1914 ließ der Kanzler durch Riezler den Entwurf eines Kriegszielprogramms erstellen, der einstweilen noch unausgereift war und lediglich als Grundlage für weitere Erörterungen dienen sollte. Der Entwurf bezog sich ausdrücklich nur auf die hypothetische Möglichkeit eines schnellen Sieges über Frankreich, auf welche die Reichsleitung vorbereitet sein wollte, wenngleich sie sie nicht unbedingt erwartete. Die deutschen Absichten wurden darin mit den Worten umrissen, das Deutsche Reich solle nach West und Ost auf erdenkliche Zeit gesichert werden. Zu diesem Zweck müsse Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen könne, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden. Auch dieser Entwurf sah vor, Frankreich auf die deutsche Seite zu ziehen; es sollte ein erweiterter mitteleuropäischer Wirtschaftsverband errichtet werden, der unter deutscher Führung stand und außer der Donaumonarchie noch Frankreich sowie etliche kleinere Staaten umfaßte, namentlich Belgien, Hollahd, Polen, Dänemark und gegebenenfalls einige sonstige. Wiewohl an dem Plan sicher noch manches zu ändern und zu verbessern gewesen wäre, ließ er doch in etwa die Richtlinien dessen erkennen, was der Kanzler und sein Staatssekretär Jagow anstrebten. Es sollte zuvörderst die Entente aufgebrochen werden. Dasselbe war in der Juli-Krise von 1914 versucht worden, da die Reichsleitung voraussah, in einigen Jahren dem vereinigten Gewicht der Ententemächte nicht mehr gewachsen zu sein und von ihm erdrückt zu werden. Das Hauptziel der Reichsleitung bildeten nunmehr, im Krieg, nicht irgendwelche kleinen Gebietsgewinne und strategischen Grenzberichtigungen, denn sie hätten an dem eigentlichen Problem, nämlich der Konstellation der Großmächte, gar nichts geändert. Sondern die Einkreisung war zu sprengen, damit die Entente nicht alsbald von neuem die Mittelmächte in den Krieg treiben konnte. Zu diesem Zweck sollte Frankreich, langfristig der schwächste Teil der Entente, aus dieser herausgelöst und den Mittelmächten angeschlossen werden. Die Art der Behandlung Frankreichs blieb dabei in der Schwebe, doch wäre Frankreich nach der Stimmungslage Bethmann Hollwegs und seines Stellvertreters Delbrück vermutlich recht glimpflich davongekommen. An eine anschließende Wiederaufnahme der Politik des Kontinentalblocks war gerade nicht gedacht, sondern an eine Trennung der Mittelmächte von Rußland, die zu erreichen war, indem man Rußland zurückdrängte und in dem Zwischenfeld auf Kosten Rußlands eine Anzahl von Pufferstaaten errichtete, darunter namentlich ein an die Mittelmächte angelehntes Polen. Nach einer Niederlage Frankreichs wäre ein begrenzter Sieg der Mittelmächte im Osten allemal erreichbar gewesen, und mehr als das hätte die Reichsleitung nicht gebraucht. Damit hätte sich zugleich eine neue Ordnung des Staatensystems und ein neues Gleichgewicht im Weltrnaßstab ausbilden
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können: mit einem zwar zunächst geschwächten, aber nach wie vor ungeheuer entwicklungsfähigen Koloß Rußland auf der einen Seite, dahinter auch noch Japan, mit den anglo-amerikanischen Seemächten auf der anderen Seite sowie den Zentralmächten in Verbindung mit Frankreich in der Mitte - gewissermaßen eine neue Pentarchie auf der Weltebene. Die deutsche Weltmachtstellung wäre damit wohl gesichert worden, aber zweifellos keine deutsche Weltherrschaft und noch nicht einmal eine unbeschränkte deutsche Führungsrolle in Europa. Die russische Weltmachtstellung im Osten wäre, wie Grey zur selben Zeit richtig feststellte, nicht endgültig gebrochen worden. Ein solches Ergebnis hätten wohl auch die USA hingenommen, deren Wirtschaftspotential immer noch überlegen geblieben wäre. Eine ernsthafte Bedrohung der USA sah Wilson von einem begrenzten Sieg der Mittelmächte ja nicht ausgehen; im übrigen hätte die britische Flotte nach wie vor den Atlantik gedeckt. Lediglich Britannien wäre nicht auf seine Rechnung gekommen, sofern nicht die Mittelmächte in Kolonialfragen Entgegenkommen hätten zeigen müssen. Immerhin hätte Britannien in dem erweiterten mitteleuropäischen Block ein Gegengewicht zu Rußland besessen, so daß der Gedanke der Reichsleitung, auch England zu versöhnen, nicht ganz abwegig war. 53 Nachdem ein schneller Sieg im Westen nicht zustande gekommen war, traten allmählich andere Überlegungen an die Stelle des ursprünglichen Entwurfes der Reichsleitung. Sowohl GeneralstabschefFalkenhayn als auch Bethmann Hollweg hielten im November 1914 einen Sieg über die gesamte Entente für zweifelhaft, wenn nicht ausgeschlossen, so daß von da an immer häufiger der U-Boot-Krieg als dasjenige Mittel angesehen wurde, welches allein noch Siegesaussichten verbürge. Zwar hielt die Reichsleitung weiter an ihrer ursprünglichen Absicht fest, einen mitteleuropäischen Wirtschaftsblock zu errichten, doch wurde zusehends fraglicher, ob ihm außer Deutschland und Österreich auch noch andere Länder angeschlossen werden könnten. Der Kanzler begann sich nun auf die Möglichkeit eines unentschiedenen Kriegsausgangs einzustellen, bei welchem die Mittelmächte ohne jeden Gewinn abschließen mußten. Zur Zeit der verstärkten Friedensbemühungen an der Jahreswende 1916/17 entwarf die Reichsleitung ein Kriegszielprogramm, das dann zur vertraulichen Unterrichtung Wilsons diente. Es sah Gebietsverluste für Rußland vor, neben Polen auch strategische Grenzverbesserungen in Litauen und Kurland, auf dem Balkan kleinere Gebietsgewinne zugunsten Österreichs und Bulgariens sowie im Westen die Abtrennung des 53 Zum außenpolitischen Kulturblock Bülow, Denkwürdigkeiten III, 148 f. Ferner F. Fischer, Krieg, 758 ff. Riezler, 56 ff., 198 ff. Zu Jagow Hölzle, Quellen, 317 ff. (6.7.1914). Scherer / Grunewald I, 174 ff. (2.9.1915), 211 ff. (13.11.1915), 325 f. (8.5.1916). Dazu Hölzle, Selbstentmachtung, 502 ff. Zu Bethmanns Ansicht über die Kriegsdauer Briefwechsel I, 296 (Bericht Lerchenfelds, 4.6.1914). F. Fischer, Krieg, 762 f. Zu Bethmanns Absicht eines Arrangements mit England und Frankreich Briefwechsel 11, 627 (Bericht des bayerischen Geschäftsträgers in Berlin, Schoen, 6.6.1916). Das Septemberprogramm von 1914 bei Basler, 381 ff. Ferner P. Kielmansegg, Weltkrieg, 219 ff. Zur Behandlung Frankreichs Zechlin, Kabinettskrieg, 376 ff. Ders., Friedensbestrebungen, B 20/61, 284 ff.; B 20/63, 23 ff.
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belgischen Gebietes um Lüttich und des französischen Erzreviers in Lothringen. Bezweckt wurde damit offenbar nur der Aufbau einer Verhandlungsposition, von der dann die unumgänglichen Abstriche gemacht werden konnten. Sowohl Zimmermann als auch der Kanzler stellten zur selben Zeit bzw. etwas später fest, daß man gegenüber Rußland auf den Vorkriegsstand zurückgehen und Polen wieder herausgeben könne. In Hinblick auf das lothringische Erzgebiet meinte der Kanzler, falls Deutschland es erwerbe, solle Luxemburg dem Deutschen Reich eingegliedert werden. Ob beides erreichbar war, blieb offen, und mit anderen Punkten wird es ähnlich gewesen sein. Den Gewinn von Lüttich z. B. sah die Reichsleitung an sich nur für den Fall vor, daß Garantien für die deutsche Sicherheit nicht durch unmittelbare Verhandlungen mit der belgischen Regierung zu erreichen seien. Da andererseits Belgien ein Handelsobjekt für die Kolonien darstellte, ist leicht vorstellbar, daß man gegenüber Belgien schließlich auf alle Forderungen verzichtet hätte. Jedenfalls bemerkte Riezler, der über die Ansichten des Kanzlers meistens recht gut unterrichtet war, Ende November 1916: Wenn Deutschland im Westen mit plus / minus Null abschließe, Polen frei werde und Deutschland bloß im Osten einen litauischen Gebietszipfel sowie ein paar Kolonien bekomme, dann sei der Friede noch mehr als glänzend. Für die anderen Mittelmächte galt ähnliches. Österreich z. B. legte Wert auf die ungeschmälerte Erhaltung seines Staatsgebiets, wovon gewisse Teile in russischer und italienischer Hand waren. Wollte es diese zurückerhalten, so mußte es an anderer Stelle Zugeständnisse machen. Noch im März 1917 kamen Bethmann Hollweg und der österreichische Außenminister Czernin überein, bei etwaigen Gebietsgewinnen müßten beide Länder berücksichtigt werden. Werde aber der Friede derart geschlossen, daß sich Deutschland mit dem status quo begnügen müßte, dann würde sich auch die Donaumonarchie mit der vollen Integrität zufriedengeben. 54 Die Entente nahm die Chance nicht wahr, die Nachgiebigkeit der Mittelmächte auszuloten. Wenngleich die Bemühungen um einen allgemeinen Frieden in Berlin und Wien nicht völlig erloschen, schoben sich nunmehr doch andere Absichten in den Vordergrund. Die Entente aufzulösen, blieb das übergeordnete Ziel; noch im April 1917 bezeichnete Bethmann es als leitenden Gedanken, die jetzige Koalition der Gegner zu sprengen und einen oder mehrere derselben für die Zukunft auf unsere Seite zu bringen. Was sich änderte, war die Zielrichtung dieses Vorhabens. Während zu Kriegsbeginn Frankreich auf die Seite der Mittelmächte gezogen und ein Ausgleich mit dem Westen gesucht werden sollte, kehrte der Kanzler später allmählich zu der Auffassung zurück, den Ausgleich mit Rußland anzustreben. Dies beinhaltete letztlich den Umschwung von einer Westo54 Zu Bethmann und Falkenhayn im Herbst 1914 Scherer / Grunewald I, 15 ff. (19.11. 1914). Zu den Kriegszielvorstellungen Ende 1916/ Anfang 1917 Scherer / Grunewald I, 510 ff. (10.10.1916),517 ff. (18. 10.1916), 542 f. (4.11. 1916), 552 (7. 11. 1916), 558 f., 573 f. (21. 11.1916),659 f. (4.1. 1917), 685 ff. (29.1.1917). Ferner Riezler, 384 (22. 11. 1916). Zur Rückgabe Polens und der Wiederherstellung des Vorkriegszustands Scherer / Grunewald I, 663 ff., 666 (6.1.1917); 11, 32ff., 37, 39 (16.3.1917).
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rientierung zu einer Ostorientierung, was sich aus der Kriegslage und der Unnachgiebigkeit der Entente erklärt. Frankreich brach weder 1914 noch bei der neuerlichen Offensive des Jahres 1916 zusammen; dagegen begann sich seit 1915 abzuzeichnen, daß Rußland in absehbarer Zeit weich werden mußte. Generalstabschef Falkenhayn faßte dies an Weihnachten 1915 dahingehend zusammen, Rußland werde durch seine inneren Nöte voraussichtlich in verhältnismäßig kurzer Frist zum Einlenken genötigt sein. Ein erneuter russischer Angriff werde vermutlich mit seinen Verlusten die innere Auflösung nur beschleunigen, wie es dann 1916 und 1917 tatsächlich eintrat. Die Reichsleitung hatte ohnedies seit dem Winter 1914/15 nach Friedensmöglichkeiten im Osten Ausschau gehalten, teils gegenüber Japan, teils gegenüber Rußland, wobei man sowohl einen regelrechten Sonderfrieden mit dem Zarenreich ins Auge faßte als auch den Fall, der Zar werde eines Tages seinen Verbündeten erklären, Rußland könne den Krieg nicht mehr fortsetzen, woraufhin es zum allgemeinen Frieden kommen werde. Bethmann Hollweg hatte dabei schon im Juni 1915 den Gedanken geäußert, nach erfolgtem Friedensschluß Rußland von unseren Gegnern zu trennen. Diese Möglichkeit wurde auch nicht verschüttet, als die Mittelmächte am 5. November 1916 ein selbständiges Königreich Polen ausriefen. Einerseits erblickte der Kanzler im Herbst 1916 in der Abtrennung Polens kein absolutes Hindernis gegen eine Verständigung mit Rußland, er fürchtete nur eine Verzögerung der russischen Friedensbereitschaft. Andererseits brachte Riezler im Februar 1917 die in jenen Wochen auch von Bethmann und Zimmermann geäußerte Ansicht auf die Formel, eine Rückgabe Polens an Rußland müsse im Notfall natürlich hingenommen werden; dies könne bei einem deutsch-russischen Bündnis auch ganz gut gehen und helfe, mit Klugheit behandelt, die alte deutsch-russische Konstellation heraufführen und erhalten. Gebietsgewinne der Mittelmächte im Osten waren also eigentlich ein Faustpfand, um einen Keil in die Entente zu treiben. 55 Dies war der Stand der Dinge, als die Entente an der Jahreswende 1916/17 alle Friedensversuche ablehnte. Bei Licht betrachtet konnten zumindest die Westalliierten sich kaum anders verhalten, weil die Mittelmächte bei Verhandlungen der Kriegsparteien untereinander mit Sicherheit versucht hätten, Rußland auf ihre Seite zu ziehen. Dabei hätte dann genau das entstehen können, was der Krieg gerade verhindern sollte, nämlich eine deutsch-russische Verständigung. Solche Gedankengänge waren allerdings nur dann zwingend, wenn man von dem überständigen europäischen Gleichgewicht ausging. Einen Ausweg hätte 55 Bethmann im April 1917 Scherer / Grunewald 11, 114 f. (16.4. 1917). Zur Lagebeurteilung Falkenhayns dessen Weihnachtsdenkschrift von 1915; Falkenhayn, 176 ff. Zu den Friedensbemühungen gegenüber Japan und Rußland Hayashima. Briefwechsel I, 455 f. (Bericht des bayerischen Geschäftsträgers Schoen, 7.6.1915), 473 (Aufzeichnung Hertlings über ein Gespräch mit Bethrnann, 6.7.1915). Ferner Hauptausschuß 11, 1019 (Bethmann im Hauptausschuß des Reichstags, 9.11.1916). Zu Bethrnann im Juni 1915 Scherer / Grunewald I, 124 f. (14.6.1915). Bethmann über Abtrennung Polens Herbst 1916 a.a.O., 510 ff. (10.10.1916). Riezler im Februar 1917 dessen Tagebücher, 406 f. (18.2.1917).
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Wilsons Vorstellung geboten, die Sicherheit der Einzelstaaten nicht mehr auf ein Gleichgewicht der Mächte und entsprechende Bündnisverflechtungen zu gründen, sondern auf eine Gemeinschaft der Mächte und ihr organisiertes Zusammenwirken in einer überstaatlichen Vereinigung. Insofern war Wilsons Entwurf tatsächlich der ausgewogenste und einsichtigste Versuch, aus dem nachgerade unhaltbar gewordenen Zustand der weltweiten Mächtebeziehungen herauszukom men und eine tragfahige Ordnung des internationalen Systems zu errichten. Ohne einen Frieden des Ausgleichs war dies freilich unerreichbar; und da die Westalliierten ihre Sicherheit nicht hierauf, sondern auf die Niederwerfung der Gegner gründen wollten, blieb Wilsons Plan chancenlos. Für die Mittelmächte trat nun die Frage hervor, wie der Krieg weitergehen sollte. Bethmann Hollweg war an sich kein bedingungsloser Gegner des unbeschränkten U-Boot-Kriegs; er empfand nur schärfer als manche anderen, daß dieses Kriegsmittel die allerletzte Trumpfkarte war, die, wenn sie nicht stach, die Mittelmächte unentrinnbar in den Abgrund reißen mußte. Ob die Mittelmächte eine andere Wahl hatten, ist allerdings zweifelhaft, und so hat denn der Kanzler jenem Kriegsmittel keinen ganz entschiedenen Widerstand entgegengesetzt. Für die Reichsleitung wie für die militärische Führung des Reiches verschlangen sich dabei zwei Probleme. Einerseits war über kurz oder lang mit dem Zusammenbruch Rußlands zu rechnen; andererseits vermochten die Westmächte Friedensverhandlungen zu verschleppen, auch wenn der Anstoß dazu von den USA ausging. Riezler meinte deswegen Ende Dezember 1916, es komme jetzt darauf an, keine langen Verhandlungen zu führen, bei denen man nur Vorteile verschenke und die eigenen Bundesgenossen eher von Deutschland abbrechen würden als Rußland von der Entente. Ähnlich sprach sich zur selben Zeit Zimmermann aus, der von internationalen Verhandlungen ein bloßes Hinausschleppen der Entscheidung befürchtete, bis die Mittelmächte alle militärischen Aussichten aus der Hand gegeben hatten. Beide deuteten damit an, daß es letztlich nur noch zwei Möglichkeiten gab: Entweder brach Rußland nicht bald zusammen, dann gewannen die Westmächte einen Vorsprung und konnten durch militärische Erfolge Rußland so weit entlasten, daß es sich wenigstens zeitweise noch einmal fing. Nach der Lagebeurteilung der Obersten Heeresleitung war für 1917 nur mehr Verteidigung möglich, langfristiges Durchhalten ausgeschlossen und schon ein Abwehrerfolg von der spürbaren Verminderung des Nachschubs bei den Alliierten abhängig. Oder Rußland trieb rasch der inneren Zersetzung entgegen, dann fiel es als brauchbarer Verbündeter für die Westrnächte demnächst aus und fand sich wohl gar zu einem Sonderfrieden bereit. Verweigerten die Westmächte in diesem Fall nach wie vor den allgemeinen Frieden, so stand der amerikanische Kriegseintriu vor der Tür. Denn ein völliger russischer Zusammenbruch gab den Mittelmächten Rückenfreiheit und erneute Siegeschancen im Westen, zumindest aber die Gelegenheit, Rußland in Abhängigkeit zu bringen und am Ende doch einen kontinentalen Block zu errichten. Das Eingreifen der USA war dann so gut wie sicher, selbst ohne unbeschränkten U-Boot-Krieg. Unter diesen Umstän-
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den konnten die Mittelmächte mit dem unbeschränkten U-Boot-Krieg auch gleich beginnen; dann vennochten sie wenigstens ihre Verteidigung zu stärken. 56 Der unbeschränkte U-Boot-Krieg allein war noch kein zwingender Grund für den amerikanischen Kriegseintritt; er wurde dies erst in Verbindung mit dem vorhersehbaren Zusammenbruch Rußlands. Das hat wieder einmal Lansing klar ausgesprochen, der kurz nach der amerikanischen Kriegserklärung an Deutschland feststellte, die USA hätten auch bei einem deutschen Verzicht auf den UBoot-Krieg den Alliierten zu Hilfe kommen müssen, weil sie niemals zulassen dürften, daß der Kaiser zum Herren Europas werde, sonst könne er die Welt beherrschen. Ein deutscher Sieg im Westen stand damals gar nicht zur Debatte, sehr wohl jedoch ein Abfall Rußlands von der Entente, und dagegen mußten die USA den Westen schützen. Wäre es nur darum gegangen, die USA stark zu erhalten für ihre Rolle als Friedensstifter und als zukünftige Weltführungsrnacht, so hätte Wilson noch andere Wahlmöglichkeiten besessen als den amerikanischen Kriegseintritt. Er hätte z. B., wie die Mittelmächte vorgeschlagen hatten, auf die Entente einwirken können zur Herbeiführung des Friedens, in welchem Fall die Mittelmächte den unbeschränkten U-Boot-Krieg wieder einstellen wollten. Oder die USA hätten sich auf die bewaffnete Neutralität und den militärischen Schutz ihrer Schiffahrt ohne fonnelle Kriegserklärung beschränken können, was dann etwa den Verzicht auf den Einsatz eigener Bodenstreitkräfte nach sich gezogen hätte. All dies geschah jedoch nicht, wiewohl sich Wilson noch eine Zeitlang die Entscheidung offenhielt, insbesondere zunächst nur die diplomatischen Beziehungen abbrach und auch dies lediglich gegenüber Deutschland, obgleich Österreich am U-Boot-Krieg in gleicher Weise teilnahm. Auch das sog. ZimmennannTelegramm kann auf die Kriegsentscheidung keinen wesentlichen Einfluß ausgeübt haben. Der deutsche Staatssekretär schlug im Januar 1917 der mexikanischen Regierung ein Bündnis vor, zu welchem diese auch Japan einladen sollte. Es handelte sich um den Versuch, Japan als Gegner der USA aufzubauen und insoweit auf das mit Japan verbündete Rußland einzuwirken, um es aus der Entente zu lösen. Darin deutete sich zwar die befürchtete Ostorientierung der deutschen Politik an, doch galt der Vorschlag ausdrücklich nur für den Fall eines amerikanischen Kriegseintritts. Er enthielt also eine Bedrohung Amerikas bloß dann - sofern er überhaupt eine enthielt - , wenn die USA von sich aus den Krieg erklärten. So wird es schließlich nicht ganz zufällig gewesen sein, daß Wilson, nachdem er zunächst fast zwei Monate gewartet hatte, im unmittelbaren Anschluß an die (erste) russische Revolution sein Land in den Krieg eintreten ließ. Denn mit dem Umsturz wurde es fast zur Gewißheit, daß Rußland den Krieg nicht an der Seite der Entente beenden, sondern auf die eine oder andere Weise in den Einzugsbereich der Mittelmächte gelangen würde. Jedenfalls zeigte 56 Zu Bethmanns Haltung gegenüber dem U-Boot-Krieg Hauptausschuß II, 375 ff. (28.3.1916),755 ff. (30.9.1916). Zu Riezler dessen Tagebücher, 388 (23.12.1916). Zu Zimmermann und zur Lagebeurteilung der OHL G. Ritter, Staatskunst III, 351, 368, 380, 395 f.
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Wilson sich von da an immer wieder besorgt über den Stärkezuwachs, den Deutschland in Rußland gewinnen könnte. 57 Mit dem amerikanischen Kriegseintritt vollzogen die Mittelmächte endgültig die Wendung von der Westorientierung zur Ostorientierung und traten tatsächlich, mehr getrieben als freiwillig, in den Kampf um Selbstbehauptung oder sogar Herrschaft auf der Weltebene ein. In Deutschland schob sich dabei die Oberste Heeresleitung immer stärker in den Vordergrund, die mit allem Nachdruck einen Siegfrieden verlangte und im Juli 1917 am Sturz Bethmann Hollwegs beteiligt war. Die Möglichkeit eines Verständigungsfriedens ist dadurch nicht verschüttet worden, weil es sie nie gegeben hatte und jetzt erst recht nicht mehr gab. Der österreichische Außenminister Czernin, der einem Frieden auf der Grundlage des Vorkriegszustands mit Freuden zugestimmt hätte, wenn er ihn nur hätte bekommen können, begrüßte im Juli 1917 die Friedensresolution des deutschen Reichstags, die sich für einen derartigen Abschluß aussprach; er fügte indes hinzu, "die Feinde würden ja doch nicht darauf eingehen". Der alte Gedanke, mit Rußland zu einem Ausgleich oder sogar zu einem Bündnis zu gelangen, wie Zimmermann im Juni 1917 meinte, blieb zwar weiterhin lebendig; im Herbst 1917 bekannten sich sowohl der Kaiser als auch Ludendorff zu ihm, und die Reichskanzler Michaelis und Hertling standen ihm zumindest nicht fern. Doch wurde er nun zusehends überlagert von der Notwendigkeit, Rußland überhaupt erst einmal aus dem Ring der Gegner herauszubrechen und die Voraussetzungen für die Weiterführung des Krieges nach Westen zu schaffen. Die provisorische Regierung Rußlands, die aus der Frühjahrsrevolution hervorgegangen war, fand sich zu einem Sonderfrieden nicht bereit; dies galt nur für den Bolschewistenführer Lenin, der mit deutscher Hilfe im April 1917 nach Rußland geschleust wurde und im November die erfolgreiche Revolution auslöste. Der neue Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt, Kühlmann, erwähnte Anfang Oktober 1917 noch einmal die Ostorientierung der deutschen Politik, die auf der Rückgabe Polens an Rußland aufgebaut werden könnte, verwarf aber diese Möglichkeit. Unterdessen hatte man nämlich in Wien erkannt, daß eine Rückgabe Polens an Rußland für Österreich höchst nachteilig sein würde, zumal nach der russischen Frühjahrsrevolution, da nun doch mit der Errichtung eines weitgehend autonomen Polen gerechnet werden mußte, das eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf das österreichische Galizien ausüben würde. Wien verlangte deshalb die austropoinische Lösung, also die Angliederung ganz Polens an die Donaumonarchie, was die Reichsleitung seit dem Herbst 1917 zugestehen wollte. Da eine Rückkehr zum Vorkriegszustand nun ohnedies nicht mehr möglich war, griff man die frühere Überlegung wieder auf, zur Gewinnung einer strategisch günstigeren 57 Zu Lansing Hubrich, 137 (7.4.1917). Zu den Möglichkeiten der amerikanischen Politik im Frühjahr 1917 May, 426 ff. Scherer / Grunewald I, 686 f. (29.1.1917). Zum Zimmermann-Telegramm Hauptausschuß III, 1149 f. (3.3.1917), 1152 ff. (5.3.1917). Zur Sorge Wilsons über einen deutschen Machtzuwachs in Rußland Levin, 83. Rothwell, Aims, 190.
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Grenze auch noch Litauen und Kurland von Rußland abzutrennen. Ansonsten sollte der Friede vor allem geregelte Handelsbeziehungen zwischen Rußland und den Mittelmächten wiederherstellen, damit diese auf die Rohstoffe und N ahrungsmittel des Ostens zurückgreifen konnten; Rußland sollte als Ergänzungsraum für die wirtschaftliche Kriegführung dienen. Für ein Bündnis glaubte Kühlmann die Zeit nicht reif, da an der Festigkeit des bolschewistischen Staates erhebliche Zweifel angebracht zu sein schienen. In der Tat hatten die Bolschewisten an der Jahreswende 1917/18 nur Großrußland einigermaßen im Griff, während in einem riesigen Bogen von Finnland über das Baltikum und die Ukraine bis zum Kaukasus die verschiedenen Völkerschaften ihre Unabhängigkeit erklärten oder anstrebten. Als die im Dezember 1917 begonnenen Friedensverhandlungen von der russischen Seite verzögert wurden, nahmen die Mittelmächte dies zum Anlaß, mit der bereits selbständig gewordenen, übrigens auch von den Westalliierten anerkannten Ukraine am 9. Februar 1918 einen Sonderfrieden zu schließen und ab dem 18. Februar 1918 ganz Westrußland vom Baltikum bis zur Ukraine zu besetzen. Der Diktatfriede von BrestLitowsk am 3. März 1918 trennte Finnland, das gesamte Baltikum, Polen und die Ukraine von Rußland ab (Estland und Livland endgültig im August 1918), wobei die baltischen Länder später an Deutschland angelehnt werden sollten. Im Mai 1918 besetzte Deutschland auch noch Georgien im Kaukasus, um mit dem Schutz der Selbständigkeit dieses Landes zugleich Wirtschaftsvorteile zu gewinnen. Über die anfänglichen Absichten ging dies weit hinaus und entsprach im wesentlichen dem Willen des Kaisers und der OHL. Immerhin muß man sehen, daß ohne die russische Halsstarrigkeit der Friede unvergleichlich milder ausgefallen wäre und daß ohne Erzwingung des Friedens der angestrebte baldige Gewinn von Wirtschaftsvorteilen nicht erreichbar war. Die Schätze der Ukraine etwa konnten nur gesichert werden durch eine Besetzung des Landes, das im Begriff stand, von bolschewistischen Truppen überrollt zu werden. Durch den Sonderfrieden war die Ukraine ohnedies als selbständiges Staatswesen bereits anerkannt, so daß ihre Abtrennung von Rußland im Friedensvertrag insofern keinen neuen rechtlichen Zustand schuf. Die Ostorientierung der deutschen Kriegspolitik drückte sich nun in der Zerschlagung des russischen Staatswesens und seiner weitgehenden wirtschaftlichen Beherrschung durch die Mittelmächte aus; es war sozusagen eine negative Ostorientierung. Die Einsicht, daß damit kein Dauerzustand geschaffen werden könne, war sowohl bei der Reichsleitung als auch bei der Mehrheit der Reichstagsparteien vorhanden. Im übrigen hätte eine andere Gestaltung des Ostfriedens am schließlichen Schicksal der Mittelmächte nicht das geringste geändert. Die diktierte Ordnung von Versailles hob zwar den Diktatfrieden von Brest-Litowsk formell wieder auf, behielt aber die meisten seiner territorialen Ergebnisse bei; ansonsten war die Härte des Brester Vertrags kein Vorbild für die Härte des Versailler. Brest-Litowsk erwuchs aus den Zwängen der Kriegslage; Versailles erwuchs aus dem seit Kriegsbeginn festgehaltenen Sieges- und Vernichtungs willen der Alliierten. 58
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Dieser unbedingte Siegeswille galt nunmehr auch für die USA. Noch im Herbst 1914 hatte Präsident Wilson mehrfach festgestellt, Deutschland sei nicht allein verantwortlich für den Krieg, sondern etliche andere hätten ebenso ihren Teil an der Schuld zu tragen. Der Krieg solle am besten ohne Entscheidung durch die Waffen enden, ohne beispielhaften Sieg und Bestrafung. In späteren Jahren hörte sich alles ganz anders an. Die päpstliche Friedensvermittlung vom August 1917 wurde von Wilson abgeschmettert, noch bevor die Mittelmächte dazu Stellung genommen hatten. Vergessen war nun die Formel vom Frieden ohne Sieger und Besiegte, die Wilson vor dem amerikanischen Kriegseintritt gebraucht hatte. Statt dessen hieß es jetzt, mit der unverantwortlichen deutschen Regierung, der grausamen Beherrscherin des deutschen Volkes, der rasenden, brutalen Macht seien keine Friedensverhandlungen möglich, sie gebe keine Gewähr für einen dauernden Frieden. In einer Rede vom 4. Juli 1918 sprach Wilson von der Vernichtung jeder willkürlichen Macht, die für sich allein, heimlich und nach eigener Wabl den Frieden der Welt stören könne, und wenn ihre Vernichtung jetzt nicht möglich sei, wenigstens ihrer Herabdrückung zu tatsächlicher Machtlosigkeit. Da bei den deutsch-amerikanischen Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Oktober 1918 ähnliche Worte in Bezug auf die kaiserliche Regierung fielen, war offenbar sie damit gemeint. Der kaiserlichen Regierung, die derselbe Wilson nach Kriegsbeginn noch von der alleinigen Verantwortung freigesprochen und die er bis Anfang 1917 eines Verständigungsfriedens für würdig befunden hatte, widerfuhr nun die unverdiente Ehre, zum weltpolitischen Bösewicht erhoben zu werden. Es ist nicht damit getan, dies bloß auf die Verärgerung des Präsidenten zurückzuführen, daß der U-Boot-Krieg der Mittelmächte die neutrale, wenngleich nicht notwendigerweise unparteiische Friedensvermittlung der USA behinderte oder vereitelte, obwohl auch solche Beweggründe eine Rolle gespielt haben mögen. Sondern hinter jenen Auslassungen müssen sich bestimmte, wohlerwogene Zielsetzungen verbergen. Man wird ihnen am ehesten auf die Spur kommen, wenn man bedenkt, daß Wilson genau wußte, der amerikanische Kriegseintritt werde das herbeiführen, was er ursprünglich hatte vermeiden wollen, nämlich einen ungerechten Diktatfrieden der Sieger. Amerika konnte zwar den Westalliierten helfen, den Sieg über die Mittelmächte zu erringen, aber es konnte sie anschließend nur schwer oder gar nicht davon abhalten, ihre Kriegsziele zu verwirklichen - Ziele, die mit den amerikanischen nicht ohne weiteres im Einklang standen. Amerika war noch nicht stark genug, zumindest militärisch nicht stark genug, um wirklich seinen Willen in europäischen Angelegenheiten durchsetzen zu können. Da es das nicht konnte, mußte Wilson nach Wegen suchen, um trotzdem den amerikanischen Einfluß in erheblichem Maße zur Geltung zu bringen. Wie sollte dies bewerkstelligt werden? 59 58 Zu ezemin Scherer/Grunewaid II, 268 (16.7.1917). Zum Bündnis bzw. zur Freundschaft mit Rußland im Herbst 1917 Scherer I Grunewald II, 487 ff., 490 (Kühlmann, Michaelis, 7.10.1917), 523 ff. (Kühlmann, 3.11.1917). Zeman, 93f. (Wilhelm II., 29.11.1917). Friede von Brest-Litowsk, 38ff., 118 (Ludendorff, 3.12.1917, 16.12.1917). Zur deutschen Ostpolitik 1918 Baumgart, Ostpolitik; ders., Brest-Litowsk.
7 Rauh. Zweiter Weltkrieg I. Teil
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Den europäischen Kontinent sich selbst zu überlassen vermochte Wilson nicht; der amerikanische Weltführungsanspruch ließ es nicht zu, und die Fähigkeit der Mittelmächte, Rußland in Abhängigkeit zu bringen, verbot es erst recht. Auf der anderen Seite wollte Wilson ein neues internationales Gefüge, eine neue weltweite Friedensordnung auf den Gedanken des Völkerbunds und der mittelbaren amerikanischen Führung in ihm gründen. Wieder und wieder hatte er während des Krieges festgestellt, daß ein ungerechter und unerträglicher Frieden die neue Ordnung nur gefährden und den Völkerbund wahrscheinlich zum Scheitern verurteilen würde. Ein solcher Frieden stand nun in Aussicht. Ob die wirtschaftliche Überlegenheit der USA daran viel ändern würde, war mehr als zweifelhaft. Wenn die Westalliierten den Krieg erst einmal gewonnen hatten, waren sie auf die Unterstützung durch die USA kaum noch angewiesen. So blieb Wilson letztlich nur ein Ausweg: Er konnte versuchen, propagandistisch auf die Weltmeinung einzuwirken, um gewissermaßen die Schar der Gutgesinnten zu vermehren und hinter sich zu scharen, um seine Ziele zu überhöhen und ihnen mehr Durchschlagskraft zu verleihen. Als im Anschluß an die russische Frühjahrsrevolution das amerikanische Kabinett am 20. März 1917 über die Lage beriet - wobei übrigens Wilson diese Revolution an erster Stelle unter den neuerdings eingetretenen, bedeutsamen Ereignissen nannte - , da bezeichnete Lansing dies als die Gelegenheit, den amerikanischen Kriegseintritt zu rechtfertigen als Kampf für die Demokratie. Wilson griff, nach anfänglichen Zweifeln, darauf zurück, indem er bei der Ankündigung des amerikanischen Kriegseintritts vor dem Kongreß am 2. April 1917 den Ausspruch prägte, die Welt müsse sicher gemacht werden für die Demokratie. Amerika und sein Präsident wurden so zu Vorkämpfern für Freiheit und Fortschritt erklärt, zu Heilsbringern in einer dunklen Welt, die anderen Völkern den Weg in eine lichtere und bessere Zukunft wiesen. Bezweckt wurde damit eine Verklärung der neuen Weltfriedensordnung, wie Wilson sie anstrebte, eine propagandistische Verstärkung derjenigen Rolle, die Amerika beim Erringen des Sieges und der Gestaltung des Friedens zu spielen hatte. Das Gegenbild zur Lichtgestalt des demokratischen Friedensbringers waren zunächst nicht die Völker der Kriegsgegner, denn auch sie verdienten es, frei zu werden. Sondern es handelte sich um ihre Regierungen oder, in einem weiteren Sinn, um die Tatsache, daß sie nicht demokratisch verfaßt waren. Deshalb sagte Wilson, nicht die "deutschen Völker" seien verantwortlich für den Krieg, sondern ihre Beherrscher. Damit war der Schuldige nun dingfest gemacht; ähnlich wie in der alliierten Kriegspropaganda und später in der Mantelnote zum Versailler Diktat handelte es sich um jene fremdartige Wesenheit des Preußenturns, des preußischen Militarismus und der preußischen Autokratie. Auf diesen künstlich aufgebauten Popanz ließ sich 59 Wilson im Herbst 1914 A. S. Link, Wilson III, 52 f. Wilsons Antwort auf die päpstliche Friedensvermittlung in Ursachen und Folgen 11, 76 ff. (27.8.1917). Die Rede vom 4.7.1918 in Ursachen und Folgen 11, 377. Die 2. Waffenstillstandsnote Wilsons vom 14.10.1918 in Ursachen und Folgen 11,393 f. Ferner Hölzle, Weltrevolution, 178, 181.
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fortan trefflich eindreschen. Die Entstehungsgeschichte der Demokratieformel und der plötzliche Wechsel im Tonfall von einem Verständigungsfrieden zu einer Niederwerfung der Autokratie zeigen indes schon, daß es sich hier um einen propagandistischen Überbau handelte, dem andere Erwägungen zugrunde lagen. Solche Wendungen gaben Wilsons Politik natürlich einen Zug von Unehrlichkeit, aber der Präsident war nicht der glatte Opportunist und klägliche Betrüger, als welcher er von da an oft erschien. Hinter der Demokratieformel verbarg sich vielmehr ein Bündel anderer Zielsetzungen, die es ermöglichen sollten, dem Ideal eines haltbaren Friedens doch noch näher zu kommen. Dazu gehörte erstens, daß Wilson, indem er die alliierte Propagandaformel vom Kampf gegen den Militarismus übernahm, den europäischen Westmächten gleichsam den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Der Hintergrund jenes angeblichen Kampfes gegen den Militarismus war ja die Angst vor einem deutsch-russischen Zusammenwirken, das im Jahr 1917, angesichts des bevorstehenden russischen Zusammenbruchs, wieder besonders bedrohlich erschien. Als Wilson 1917 die päpstliche Friedensvermittlung zurückwies, sprach er davon, Verhandlungen mit der unverantwortlichen deutschen Regierung würden zu einer Erneuerung ihrer Politik führen und würden damit enden, das neugeborene Rußland den Ränken, den mannigfaltigen feinen Einmischungen und der sicheren Gegenrevolution auszuliefern, welche durch die unheilvollen Einflüsse der deutschen Regierung versucht würden. Hier wurde also ein Zusammenhang hergestellt zwischen der deutschen Autokratie und der deutsch-russischen Verständigung; wie die Denkschrift des britischen Foreign Office von Anfang 1917 die konservativen Kräfte in beiden Ländern schwächen wollte, um ihre Annäherung zu verhindern, so suchte nun auch Wilson in beiden Ländern die Demokratie zu sichern, um den "preußischen" Weg nach Rußland zu verbauen. Trotzdem gab es schwerwiegende Unterschiede zwischen beiden Entwürfen. Während London vom europäischen Gleichgewicht ausging, dachte Wilson an seine zukünftige Weltfriedensordnung, in welche auch Deutschland nicht in einem Zustand der Entmündigung eingegliedert werden sollte. Der so feierlich verkündete Kampf gegen die Autokratie war nur ein Mittel zum Zweck und hatte keine tiefreichenden, weltanschaulichen Wurzeln. Wilson wäre mit der Umwandlung des deutschen Kaisertums zu einer parlamentarischen Monarchie vollauf zufrieden gewesen, um vor aller Welt deutlich zu machen, daß nun auch Deutschland sich dem Gedanken der neuen Weltfriedens ordnung und der amerikanischen Führung in ihr unterworfen hatte. Die angebliche deutsche Autokratie war nicht der weltanschauliche Gegner von Wilsons Demokratie, sondern sie war ein Symbol, man könnte auch sagen ein Prügelknabe. Sie bildete ein Symbol für die alte europäische Machtpolitik, die in Zukunft zu überwinden war. Indem die deutsche Autokratie beseitigt wurde, sollte zugleich den europäischen Alliierten ein Zeichen gegeben werden, daß sie das deutsch-russische Zusammenwirken nicht mehr zu fürchten hatten. Wenn sie das einsahen, konnten sie vielleicht dazu bewogen werden, ihre Sicherheit nicht mehr auf die Verstümmelung der Kriegsgegner zu gründen. 7"
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Daraus folgt zweitens, daß sich das Eindreschen auf den Prügelknaben der preußischen Autokratie in übertragener Weise auch gegen Erscheinungsweisen der herkömmlichen Machtpolitik richtete, die Wilson bei den Westalliierten erwarten durfte. Im Anschluß an die Empfehlungen einer amerikanischen Studienkommission für Kriegsziele, der sog. Inquiry, suchte Wilson moralische und politische Unterstützung für seine Absichten bei den demokratischen und fortschrittlichen Kräften Europas, bei den Parteien und Organisationen der sog. Linken, die ihm einen Vertrauensvorschuß gewähren und Druck auf ihre eigenen Regierungen ausüben sollten. Es war dies gewissermaßen ein Appell an die Völker, eine plebiszitäre Aktion im Rahmen der Weltinnenpolitik. In diesem Sinn unternahm Wilson an der Jahreswende 1918/19, noch vor Beginn der Friedensverhandlungen, Reisen durch die Hauptstädte der Westalliierten. Dies brachte ihm zwar den Jubel der Massen ein, zeigte aber zugleich, daß die Regierungen die jeweiligen nationalen Interessen vertreten würden. Ernüchtert stellte Wilson am 28. Dezember 1918 fest, er sei nach Europa gekommen, um das Wenige zu tun, das er vermöge, aber er gebe sich keinen täuschungen hin. 60 Dasselbe hatte er im Grunde schon vor dem amerikanischen Kriegseintritt gewußt. Der Ausweg, welcher ihm blieb, war die zeitige Anpassung an die harte Wirklichkeit. Die neue Weltfriedensordnung mußte auf der Niederlage der Mittelmächte und einem diktierten Frieden aufgebaut werden; Wilson konnte nur noch versuchen, das Schlimmste zu verhüten. Der Eckstein des neuen internationalen Systems, der Völkerbund, würde nicht aus der freien Vereinbarung unbesiegter Kriegsparteien hervorgehen, sondern er mußte zu einem Handelsobjekt innerhalb der Siegerstaaten werden. Für die Besiegten würde er Teil einer aufgezwungenen Friedensordnung sein und umso mehr mit diesem Makel behaftet bleiben, je härter die Friedensbedingungen ausfielen. Wenn die Mittelmächte bzw. ihre Regierungen nun mit dem Vorwurf der Kriegsschuld beladen wurden, so sollte dies, drittens, eine propagandistische Handhabe schaffen, um ihre Unterwerfung zu rechtfertigen. Sie wurden zu Vertretern der alten, "undemokratischen" Machtpolitik gestempelt und hatten die schweren Folgen ihres unlöblichen Beginnens zu erdulden, ungeachtet der Tatsache, daß die demokratischen Länder Europas dieselbe Art von Machtpolitik betrieben hatten. Wenn die Völker der Mittelmächte sich "demokratisch" läuterten, mochten sie der Ehre teilhaftig werden, in den Kreis der Gerechten aufgenommen zu werden. Sie mußten aber zu der Einsicht gebracht werden, daß ihr Los ein verdientes war, dann konnten sie vielleicht wieder in den Stand der Gnade treten. Sicher hatte Wilson anfangs die Hoffnung, nach der Beseitigung der Autokratie die Völker der Mittelmächte gerecht und milde behandeln zu können. Doch von der Beschuldigung der Regierungen war es nur ein kleiner Schritt zur Beschuldigung der Völker selbst. Am Ende der 60 Zur propagandistischen Begründung des amerikanischen Kriegseintritts A. S. Link, Wilson V, 401 ff., 423 ff. Ferner Hubrich, 137. Zu Wilsons Versuch, sich auf die europäische Linke zu stützen, Schwabe, Wilson-Frieden, 46 ff. A. J. Mayer, Peacemaking, 33 ff., 167 ff. Wilson Ende 1918 a.a.O., 192.
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Versailler Verhandlungen, arn 3. Juni 1919, meinte Wilson, die Bedingungen des Vertrags seien hart, "aber die Deutschen verdienen diese Härte. Ich denke, es ist für ein Volk von Vorteil, wenn es ein für allemal lernt, was ein ungerechter Krieg bedeutet." Ob er das selbst geglaubt hat, bleibe dahingestellt; früher hatte er es anders gesehen. Eine auf Gewalt und Unterdrückung aufgebaute Friedensregelung mochte indes an Festigkeit gewinnen, wenn man den Besiegten einzureden verstand, sie seien selber schuld. So wurde die Versailler Ordnung zu dem, was der früher erwähnte Diplomat Nicolson mit den Worten umschrieb, selten in der Geschichte der Menschheit habe sich soviel Rachsucht in soviel salbungsvolle Sophistik gekleidet. 61
4. Die Versailler Ordnung Man könnte versucht sein, das Kennzeichen der Pariser Friedenskonferenz von 1919/1920 darin zu sehen, daß dort zwei grundverschiedene Gestaltungsprinzipien der internationalen Ordnung miteinander rangen. Auf der einen Seite wäre demnach das herkömmliche Machtstaatsdenken gestanden, verkörpert in den europäischen Siegerländern und Japan, ein Machtstaatsdenken, das danach trachtete, aus der Niederlage des Gegners seinen Vorteil zu ziehen, sei es zur Erhöhung der eigenen Sicherheit oder sei es einfach zur Beteiligung an der Siegesbeute. Auf der anderen Seite wäre der revolutionäre und im Grunde großartige Gedanke Wilsons zu verorten, jenseits aller Machtpolitik und jenseits aller Gleichgewichtserwägungen die Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben der Völker zu schaffen und es in institutionellen Formen dauerhaft zu sichern. Eine solche Deutung enthielte einen richtigen Kern, träfe aber die Wahrheit nicht voll. Wilson hatte beizeiten erkannt, daß der eine Teil seines Planes, der organisierte Zusammenschluß der Länder im Völkerbund, nur dann die Gewähr für eine dauerhafte Erhaltung des Weltfriedens in sich trug, wenn er auf einer tragfähigen Grundlage ruhte. Das Herstellen einer solchen Grundlage bildete den anderen Teil seines Plans, und dies beinhaltete die Absicht, die einzelnen Länder oder Völker, auch sein eigenes, zu willigen Trägern des Bundes und entschlossenen Verfechtern der neuen Friedensordnung zu machen. Es war dem Präsidenten nie zweifelhaft erschienen, daß eine haltbare Grundlage des Völkerbunds nicht anders geschaffen werden könne als durch eine weitgehende Schonung der Lebensbedürfnisse und Empfindlichkeiten bei den vorhandenen Staaten und Staatsvölkern. Eine völlige Neugestaltung der Staatenwelt durch eine gleichmäßige Verwirklichung der nationalen Selbstbestimmung hatte Wilson nicht im Sinn; darin traf er sich mit seinem Außenminister Lansing, der in der uferlosen Anwendung des Selbstbestimmungsgedankens nur die Gefahr einer Aufsplitterung bestehender staatlicher Einheiten erblickte und mit Recht darauf verwies, die USA hätten in ihrem Bürgerkrieg den abgefallenen Südstaaten das Recht auf Selbstbestimmung eben61 Wilsons Äußerung vom 3. Juni 1919 bei R. S. Baker, Settlement III, 498. Zu Nicolson dessen Friedensrnacher, 181 f.
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falls verweigert. Folgerichtig zu Ende gedacht besagte dies, an den vorhandenen staatlichen Einheiten möglichst wenig zu verschieben, allenfalls nationalen Gruppen in ihrem Innern eine freiere Entfaltung zu gewähren, und die vorhandene Staatengliederung weitgehend unverändert zur Grundlage des Völkerbunds und der neuen Weltfriedensordnung zu machen. Vor allem aber erkannte Wilson, daß die Verstümmelung und Demütigung einzelner Länder, aus Erwägungen der Machtpolitik geboren, nur Unruhe und Unzufriedenheit in die neue Staatengemeinschaft tragen werde, indem die Betroffenen ihr Los nicht geduldig hinnehmen und die Gewinner mit dem Errungenen sich vielleicht nicht begnügen würden. Die einfachste und glatteste Lösung wäre deshalb eigentlich die gewesen, ohne schwerwiegende Abweichungen zum Vorkriegszustand zurückzukehren. Wilson hatte anfangs in diese Richtung gezielt, wenn er dem Wunsch Ausdruck gab, der Krieg möge in einem allgemeinen Stillstand enden, oder einen Frieden ohne einschneidende Gebietsabtretungen befürwortete, da diese nur neue Revanchegelüste zeitigen würden. Die Formel vom Frieden ohne Sieger und Besiegte hätte gegebenenfalls den Rahmen bilden können, in welchem eine tragfähige Grundlage für eine neue Weltfriedensordnung zu errichten war. Diese Formel zu verwirklichen, war aber schon nicht mehr das Anliegen der Pariser Friedenskonferenz. 62 Soweit es ein Ringen zwischen zwei säuberlich zu trennenden Gestaltungsprinzipien - hie altes Machtstaatsdenken, hie neue Friedensordnung - jemals gegeben hat, fand es allenfalls bis zur Jahreswende 1916/ 17 statt, als der Unwille der Entente zu einem Verständigungsfrieden zusammenstieß mit Wilsons Absicht, einen solchen zu bewerkstelligen. Seit dem Kriegseintritt der USA war dagegen abzusehen, daß ein von den Westmächten herbeigeführter Friede nicht bloß Wilsons Ideen, sondern ebenso Machterwägungen der europäischen Alliierten und Japans enthalten würde. Worum bemühte sich also Wilson, wenn er wußte, daß seine ursprüngliche Vorstellung eines Friedens ohne Sieger und Besiegte nicht erreichbar war? Er bemühte sich um einen Ausgleich zwischen zwei letztlich unvereinbaren Dingen: Zwischen einer Friedensregelung, die von allen Beteiligten freiwillig mitgetragen wurde, und einer Behandlung einzelner Staaten, insbesondere der Verlierer, welche ihnen die Zustimmung erschweren oder unmöglich machen würde. Lansing bemerkte dazu, wenn ein Friede ohne Sieg die Art von Frieden sei, die Wilson ausgehandelt wünsche, dann könne er jeden Gedanken an eine Friedenskonferenz und seine Teilnahme daran aufgeben. Indem Wilson gleichwohl daran teilnahm, ließ er sich auf das undankbare Geschäft ein, gegen seine Überzeugung dem Vernichtungs- und Eroberungswillen der Alliierten Eingang zu gewähren in seine Friedensordnung, die ihre Lebensfähigkeit nur aus dem Bewußtsein der gerechten Gleichbehandlung und der unterdrückungsfreien Verständigung ziehen konnte. Die moralische Herabwürdigung der Mittelmächte als undemokratisch und verantwortlich für den Krieg sollte hierbei ein zusätzli62 Zur Selbstbestimmung bei Wilson und Lansing FRUS, Lansing Papers 11, 346 ff. (Lansing an Wilson, 2.1.1918). Lansing, 72 ff. Kennan, Amerika 1,245 ff. Zu Wilsons anfänglichen Absichten oben bei Anm. 45.
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ches, propagandistisches Mittel darstellen, um die Verlierer in die Friedensregelung hineinzunötigen. Daß die Mantelnote zum Versailler Ultimatum den preußisch-deutschen Machthabern die Kriegsschuld aufbürdete, war ja nichts Neues; dasselbe hatte die alliierte Kriegspropaganda seit jeher getan, und Wilson hatte sich 1917 angeschlossen. Vielleicht wäre jener von Wilson erstrebte Ausgleich dennoch möglich gewesen, wenn die Vorstellung eines gerechten Friedens, die auch Wilson vertrat, stärker zum Tragen gekommen wäre. Wie die Dinge lagen, sah sich jedoch der Präsident seit 1917, und dann vollends auf der Pariser Friedenskonferenz, zur fortschreitenden Anpassung an das Machtstaatsdenken seiner Assoziierten veraniaßt, freilich ohne ihm jemals völlig nachzugeben. Was dabei entstand, war ein höchst unseliger Zwitter, der von Geburt her an seinen Gebrechen zu ersticken drohte, nie richtig lebensfähig war und von seinen inneren Spannungen schließlich so sehr zerfressen wurde, daß er sich in Feuer und Rauch wieder auflöste. 63 Diese Entwicklung fand einen Auftakt in der wohl bekanntesten programmatischen Kundgebung Wilsons, seiner Kongreßbotschaft vom 8. Januar 1918 mit den berühmten 14 Punkten. Das darin niedergelegte Programm eines "WilsonFriedens" blieb zwar durchaus gemäßigt, erteilte aber doch dem Gedanken eines Friedens ohne Sieger und Besiegte eine Absage. Ausgelöst wurde es von der bolschewistischen Revolution sowie der dadurch herbeigeführten politischen und militärischen Lage. Die Mittelmächte besaßen selbst nach dem Zusammenbruch Rußlands keineswegs eine eindeutige Siegeschance. Eine solche hätte ohnedies nur in einem Erfolg der Frühjahrsoffensive des Jahres 1918 liegen können, doch vertraute man bei den Westmächten im allgemeinen auf einen Abwehrerfolg, und auch bei den Mittelmächten wich die Lagebeurteilung ziviler und militärischer Stellen nicht allzu weit davon ab. Der deutsche Generalstabschef Hindenburg räumte vor dem Hauptangriff im Frühjahr 1918 ein, daß dieser keine Gewähr für einen endgültigen Sieg biete, so daß man eine Anzahl weiterer Teilangriffe, sog. Hammerschläge, plante, um die Gegner mürbe zu machen. Der österreichische Außenminister Czernin setzte Ende 1917 seine Hoffnung nur noch darauf, den Vernichtungswillen der Entente zu brechen und anschließend einen Frieden sogar mit Verlusten zu schließen. Reichskanzler Hertling und sein Außenminister Kühlmann hielten ein militärisches Niederringen der Gegner nicht für möglich, erhofften aber nach erfolgreicher Demonstration der Stärke einen Ausgleich. Unterschiede gab es lediglich in den Schlußfolgerungen: Die OHL und andere militärische Stellen verlangten alle Anstrengungen für einen Sieg, weil sie in schlichter Geradlinigkeit vorhersahen, daß die Mittelmächte andernfalls niedergetrampelt würden. Dagegen wollten die politischen Stellen nichts unversucht lassen, dieser bitteren Alternative auszuweichen. Einen Ansatzpunkt bot die Bereitschaft von Lenins Sowjetregierung zum Frieden. Dieser sollte ein Frieden ohne gewaltsamen Gebietserwerb und ohne Entschädigungen sein, doch fühlte auch die neue russische Revolutionsregierung sich noch durch die Verträge mit den 63
Lansing nach Hubrich, 132 (aus dem Lansing-Nachlaß).
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Ententepartnern behindert, die einen Sonderfrieden ausschlossen. Wie Kühlmann es Anfang 1918 ausdrückte: "Erst wenn durch offensichtlichen Widerstand der Westmächte gegen einen auch nach Ansicht der Petersburger Regierung annehmbaren Frieden die fundamentale Abneigung der Westmächte gegen jeden Friedensschluß der ganzen Welt in der offensichtlichsten Weise kundgegeben wäre, erst dann wollten die russischen Vertreter sich entschließen, in ausgesprochene Separatfriedensverhandlungen mit Deutschland einzutreten . . . An die Wahrscheinlichkeit' daß die Westmächte beitreten würden, haben weder wir noch haben die Russen geglaubt ... " So machten die Mittelmächte am 25. Dezember 1917 das Angebot, in allgemeine Friedensverhandlungen mit sämtlichen Kriegsgegnern einzutreten, und zwar auf der Grundlage des Vorschlags der Sowjetregierung, weder Annexionen noch Reparationen anzustreben. Hier hätte theoretisch noch einmal die Gelegenheit bestanden, zu einem Frieden des Ausgleichs und der Gerechtigkeit zu gelangen, der ein ungestörtes Zusammenleben der Völker ermöglichte. Doch behielt man in Petersburg, Berlin und Wien recht mit der Annahme, die Westmächte würden darauf sowieso nicht eingehen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die Westalliierten einen Verständigungsfrieden ablehnten, so wäre er hier geliefert worden. Die Antwort, welche Präsident Wilson auf das Angebot der Mittelmächte gab, war eben die 14-Punkte-Erklärung. An ihr interessieren nicht nur ihr Inhalt, sondern ebenso ihre Gründe. 64 Der bolschewistische Kommissar für Auswärtiges, Trotzki, war Anfang 1918 der Ansicht, es sei den Westmächten um einen harten deutschen Diktatfrieden für Rußland zu tun, weil sie dann freie Hand hätten, einen Frieden mit Deutschland auf Kosten Rußlands zu erzielen. Zumindest für Britannien ist der Gedanke nicht ganz von der Hand zu weisen; Lloyd George ging in jenen Tagen tatsächlich mit der Absicht um, einen Frieden zu Lasten Rußlands zu schließen, und die Versailler Ordnung hat die Abdrängung Rußlands von Europa, wie sie der Vertrag von Brest-Litowsk begründete, weithin beibehalten. Trotzdem liegen die Dinge nicht so einfach. Richtig ist vielmehr, daß auch Rußland in die Mühle des Gegensatzes zwischen einem Frieden ohne Sieger sowie einem diktierten Frieden geriet und deren erstes Opfer wurde. Wilson vertraute zunächst darauf, Rußland ohne größere SChwierigkeiten als gleichberechtigtes Mitglied in seine neue, friedliche Gemeinschaft der Staaten aufnehmen zu können, zumal die Gefahr einer russischen Hegemonie über Europa, die er zu Beginn des Krieges noch gesehen hatte, mittlerweile gebrochen war. Die Eingliederung Rußlands schien umso eher möglich zu sein, als die aus der russischen Frühjahrsrevolution hervorgegangene provisorische Regierung unter dem Druck sozialistischer Kreise sich zu einem Frieden ohne Gebietserwerb und Entschädigungen bekannte sowie zum Selbstbestimmungsrecht, was als Anknüpfungspunkt für die Verselbständigung Polens 64 Zur Lageeinschätzung bei den Mittelmächten Hindenburg, 298 f. Czernin, 301. P. Kielmansegg, Weltkrieg, 591. Zu Kühlmann und der bolschewistischen Friedensbereitschaft Interfraktioneller Ausschuß 11, 6 f. (Parteiführerbesprechung im Auswärtigen Amt, 1.1.1918).
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dienen mochte. Die provisorische Regierung, zuletzt unter dem Ministerpräsidenten Kerenskij, stand jedoch in einem Dilemma: Sie war einerseits auf den Frieden angewiesen, um sich gegenüber der unwiderstehlichen Kriegsmüdigkeit des Volkes und der Stimmungsmache der Bolschewisten am Ruder zu halten; Lenin hatte bereits 1915, noch im Exil, amtlichen deutschen Stellen im Falle seiner Machtübernahme die Bereitschaft zum Sonderfrieden mitgeteilt und wurde bis nach seiner Rückkehr durch deutsche Gelder unterstützt. Andererseits wagte es die provisorische Regierung nicht, einen Sonderfrieden ohne ihre Verbündeten zu schließen. Sie durfte dabei von der zutreffenden Erwägung ausgehen, daß Rußland im Konzert der Mächte nur dann eine halbwegs vernehmliche Stimme behielt, wenn es den Krieg im Rahmen der Entente bis zum Schluß durchstand. Schied Rußland vorzeitig aus dem Bündnis aus, so sprengte es den Einkreisungsring um die Mittelmächte, der nicht zuletzt auf russisches Betreiben hin geschlossen worden war, und ließ seine Verbündeten allein in einem Krieg zurück, den im wesentlichen das russische Verhalten entfesselt hatte. Infolge der russischen Niederlagen war ohnedies absehbar, daß Rußland mit erheblich gemindertem Gewicht aus dem Krieg hervorgehen würde. Doch hätte Rußland, solange es auf seiten der Entente verharrte, sich immerhin an die außenpolitischen und diplomatischen Spielregeln gehalten; es wäre der Bündniskonstellation treu geblieben, welche die Westalliierten als wünschenswert für ihre Sicherheit empfanden. Ließ Rußland sich aber auf einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten ein, so beging es nicht nur gleichsam Verrat an seinen Verbündeten und gab den Mittelmächten Gelegenheit, ihre strategische und wirtschaftliche Lage in dem schon fast verlorenen Krieg noch einmal zu verbessern. Sondern Rußland tat in diesem Fall etwas viel Schlimmeres: Es rückte genau die Lage in greifbare Nähe, welche die diplomatischen Bemühungen der Entente vor dem Krieg hatten verhindern sollen und welche ja auch der tiefere Grund für die Auslösung des Krieges gewesen war - nämlich die Gefahr ein~r Vereinigung des deutschen und des russischen Potentials, die Gefahr eines Zusammenwirkens zwischen den Mittelmächten und Rußland sowie die Gefahr eines Kontinentalblocks. Ließ Rußland seine Verbündeten im Stich, so erwies es sich nicht nur im höchsten Maße als unzuverlässig, sondern es wurde geradezu ein Außenseiter in den weltweiten Mächtebeziehungen. Rußland bot dann das Bild, daß es zunächst die Westmächte in den Krieg gelockt hatte, um die deutsch-russische Verbindung zu verhindern, und anschließend eine Kehrtwendung vollzog, die eben diese Verbindung wieder möglich machte. In solchem Fall stellte Rußland sich selbst außerhalb der geltenden diplomatischen Regeln; es machte sich wenigstens teilweise bündnisunfähig und lief Gefahr, von internationalen Vereinbarungen, z. B. einem Friedenskongreß, ausgeschlossen zu werden. Deswegen sagte der britische Blockademinister Cecil, Mitglied des Kriegskabinetts und zeitweise Balfours Vertreter als Außenminister, am 23. November 1917 über einen Vorschlag Trotzkis vom 21.11., einen allgemeinen Waffenstillstand herbeizuführen: Wenn dies die wirkliche Meinung des russischen Volkes darstelle, so würde es ein klarer Bruch der vertraglichen
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Verpflichtungen und des Bündnisses sein, das Rußland eingegangen war. Ein solcher Akt würde die russische Nation, wenn sie ihn billigte und bestätigte, außerhalb des zivilisierten Europa stellen. Darin war zugleich die Drohung enthalten, Rußland in den üblichen diplomatischen Verkehr nicht mehr einzubeziehen. Cecil bestätigte dies in Hinblick auf die kürzlich errichtete Sowjetregierung, indem er ihre Anerkennung praktisch ausschloß. Der französische Ministerpräsident Clemenceau beharrte am 30. November 1917 darauf, daß ein russischer Sonderfriede Verrat sei und daß er es ablehne, Rußland sein Wort zurückzugeben, selbst wenn alle himmlischen Mächte ihn darum bäten. 65 Die provisorische Regierung in Petersburg hatte es noch vermieden, aus der Entente auszubrechen und sich damit politisch ins Abseits zu stellen. Was die provisorische Regierung benötigt hätte, wäre eine Neufestsetzung der Kriegsziele gewesen, weniger um dieser Ziele selbst willen, als vielmehr um bald einen allgemeinen Verständigungsfrieden zu schließen. Ein solcher Wunsch war indes von vornherein hoffnungslos, weil dies sicher das letzte war, was die Alliierten wünschten. Weder Britannien noch Frankreich, noch Italien noch all die anderen gedachten auf die Beute zu verzichten, die sie auf Kosten Deutschlands, der Donaumonarchie und der Türkei machen konnten; auf den russischen Bundesgenossen brauchte dabei keine Rücksicht genommen zu werden. Gewiß gingen nicht alle so weit wie Austen Chamberlain, damals Indienminister und nach dem Krieg britischer Außenminister, der 1917 meinte, Deutschland seine Kolonien zu nehmen, sei schon deswegen nützlich, weil Deutschland dann veranlaßt werde, sich durch Ausdehnung nach Osten einen Ersatz zu verschaffen - die Aufrechterhaltung eines Gegensatzes zwischen Rußland und Deutschland sowie die zukünftige Schädigung Rußlands durch Deutschland wurde hier geradezu zum Programm erhoben. Aber wer immer in Rußland und anderswo seine Hoffnungen auf einen Verständigungsfrieden setzte, der machte sich nicht hinreichend klar, daß die Westalliierten den Krieg nicht führten, um den Vorkriegszustand wiederherzustellen, auch nicht im Hinblick auf Rußland. Sondern die Westalliierten führten den Krieg, um Rußland und die Mittelmächte sich gegenseitig aufreiben zu lassen und so ihre Annäherung zu verhindern. Je mehr die Mittelmächte und Rußland einander schädigten, umso besser war das; die Westmächte wünschten von der russischen Regierung nur, sie möge im Krieg verbleiben. Daß damit Wasser auf die Mühlen der Bolschewisten gegossen wurde, hat man im Laufe der Zeit in den westlichen Hauptstädten durchaus erkennen können, aber keine Folgerungen daraus gezogen. In Deutschland wartete man ohnedies auf einen Erfolg Lenins, und die Bolschewisten konnten nicht ohne eine gewisse Berechtigung das Schlagwort verbreiten, die russischen Soldaten würden für die imperialistischen Ziele der Alliierten zur Schlachtbank getrieben. 65 Zu Trotzki FRUS, 1918, Russia I, 425 (Bericht des amerikanischen Botschafters, 6. l. 1918). Zu Cecil New York Times, 24. 11. 1917. Clemenceau nach Lloyd George, Memoirs V, 2571. Allgemein hierzu Kennan, Amerika 1,32 ff., 97, 134 ff., 258 f.
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Selbstverständlich hätten die Westmächte die provisorische Regierung stützen, möglicherweise auch erhalten können, wenn sie der gewünschten Neufestsetzung der Kriegsziele und auf dieser Grundlage dem Beginn von Friedensverhandlungen zugestimmt hätten. Die Anhänger Kerenskijs waren noch im Herbst 1917 und sogar nach der bolschewistischen Revolution der Ansicht, bei einer Neufestsetzung der Kriegsziele bestehe Aussicht, die Lage zu retten. Indem die Alliierten einen Verständigungsfrieden verweigerten, trieben sie Rußland in die Arme der Bolschewisten, vielleicht nicht mit Absicht, aber auch nicht ganz blind. Das hat kein anderer als Wilson selbst bestätigt. In einer Kongreßbotschaft vom 4. Dezember 1917 kam er nach den üblichen Ausfällen gegen die deutsche Autokratie darauf zu sprechen, daß der endgültige Friede auf Großmut und Gerechtigkeit gegründet werden solle. Dies sei dem russischen Volk nicht hinreichend klar gemacht worden. Hätte das russische Volk daran glauben können und wäre es seit der Frühjahrsrevolution in diesem Glauben bestärkt worden, dann hätten die bösen Rückschläge vermieden werden können, die es neuerdings - nämlich durch die bolschewistische Revolution - erlitten habe. Mit der schlimmen deutschen Autokratie hatte dies augenscheinlich nichts zu tun, denn es ging ja um den endgültigen Frieden, der nach einem Sieg über Deutschland herbeigeführt werden sollte. Also hatte, so muß man aus Wilsons Worten schließen, das russische Volk nicht geglaubt, daß die Westmächte einen gerechten Frieden herbeiführen würden. Das traf ja auch zu, und deswegen waren die Bolschewisten erfolgreich. Das heißt, daß in Wilsons Augen die Alliierten für die bolschewistische Revolution verantwortlich waren, weil sie am Siegfrieden festhielten und sich weigerten, Wilsons Führung in der Frage eines gerechten Friedens anzuerkennen. 66 Wilson war praktisch außerstande, etwas Wirkungsvolles dagegen zu unternehmen. Seit dem amerikanischen Kriegseintritt konnte er hinter einen klaren Sieg der Westmächte nicht mehr zurückgehen. Er vermochte allenfalls die amerikanische Unterstützung etwas zu drosseln, um den Vernichtungswillen der Alliierten nicht allzu üppig ins Kraut schießen zu lassen, und scheint dies gelegentlich getan zu haben. Aber er durfte es nicht darauf ankommen lassen, die amerikanische Hilfe so zu verschleppen, daß der Krieg militärisch unentschieden endete. In diesem Fall hätten die Mittelmächte erheblich mehr gewonnen als verloren, zumal nach dem Zusammenbruch Rußlands, so daß ein Wilson-Friede ebenso unmöglich geworden wäre. Der Präsident sah sich zunehmend in die unerfreuliche Lage versetzt, weniger die Führungsgestalt des Westens als vielmehr ein unfreiwilliger Gehilfe der Westalliierten zu sein. Darunter hatten Rußland und die Mittelmächte gleichermaßen zu leiden. Der britische Botschafter in Petersburg, Buchanan, der seit jeher großen Einfluß auf die Meinungsbildung seiner Regierung hatte, schlug Ende November 1917, kurz nach der bolschewistischen Revolu66 Austen Chamberlain nach Galbraith, 30. Zur Ansicht des Kerenskij-Kreises über die Kriegsziele PRUS, 1918, Russia I, 238. Buchanan II, 221. Wilsons Kongreßbotschaft vom 4.12.1917 in PRUS, 1917, S. IX ff. Ferner Kennan, Amerika I, 137 f., 147 ff.
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tion, eine Entbindung Rußlands von seinen Bündnisverpflichtungen vor. Wenn erst offenkundig werde, daß Deutschland ein Protektorat über Rußland errichten wolle, dann werde sich die Verbitterung des russischen Volkes gegen Deutschland wenden und nicht mehr gegen die Westmächte. Buchanan unterstrich seinen Vorschlag durch den Verweis auf das, was für die britische Politik schon immer maßgebend war: Rußland und Deutschland müßten einander entfremdet werden, denn ein Bündnis beider Länder nach dem Krieg würde eine beständige Gefahr für Europa und besonders für Britannien bedeuten. Während Lloyd George den Vorschlag aufgriff, lehnten Frankreich und Italien ihn ab. Trotzdem lief das französische und das italienische Verhalten auf dasselbe hinaus wie das britische. Clemenceau wußte zu jener Zeit, daß Rußland auf keinen Fall im Krieg bleiben würde und daß dies für den Kriegsausgang weithin belanglos war; den Endsieg der Westmächte erwartete er spätestens für 1919. Dem deutschen Protektorat über Rußland, von welchem Buchanan sprach, hätte sich durch einen Verständigungsfrieden lange genug vorbeugen lassen, zuletzt noch einmal an der Jahreswende 1917/18. Daß der Friede ohne Gebietserwerb und Entschädigungen an der Jahreswende 1917/18 von irgendwelchen kriegslüsternen Kreisen in Deutschland hätte verhindert werden können, ist angesichts der Lage der Donaumonarchie, die den Frieden aufs bitterste benötigte, und angesichts der Haltung bei der Reichsleitung mehr als unwahrscheinlich - sofern ein solcher Friede von den Westmächten in Betracht gezogen worden wäre. Da die Westalliierten dies weit von sich wiesen, liegt der Schluß auf der Hand, die Erhaltung Rußlands habe ihnen so wenig bedeutet, daß sie lieber ein deutsches Protektorat über Rußland zuließen als einen Verständigungsfrieden. Auf der Linie der britischen Politik lag dies ohnehin: Es sollte zwar kein allgemeiner Friede auf Kosten Rußlands geschlossen werden, wie Lloyd George erwog, um nicht in den Geruch der Komplizenschaft mit Deutschland zu geraten und Rußland nicht formell dem Westen zu entfremden. Aber Rußland sollte den Mittelmächten preisgegeben werden, damit eine Spannung zwischen beiden Seiten dauerhaft erhalten blieb und in Zukunft wieder ausgebeutet werden konnte. Ebenso bedenkenlos wurde Rußland von den anderen Alliierten fallengelassen. Japan hatte seit längerem darauf spekuliert, bei einem russischen Sonderfrieden in Sibirien einzumarschieren, und Frankreich setzte darauf, durch Unterstützung nichtbolschewistischer Kreise, zeitweise auch der Ukraine, einen Rest an russischem Widerstand gegen die Mittelmächte aufrechtzuerhalten. 67 Wilson konnte nicht umhin, gute Miene zu diesem bösen Spiel zu machen. Es ist nicht so, daß das bolschewistische Rußland einen Außenseiter der Staatenwelt darstellte, weil es eben bolschewistisch war. Sondern die außenpolitischen Maßnahmen der Regierung Lenins und die Reaktionen der Westalliierten hierauf machten es dazu. Dies begann mit der seit längerem geplanten Veröffentlichung 67 Zur amerikanischen Militärhilfe für die Alliierten Parsons, Diplomacy. Zu Buchanan dessen Memories H, 225 f. (Bericht vom 27.11.1917). Zu Clemenceau Renouvin, Kriegsziele, 465 f. Ferner Kennan, Amerika I, 135 f., 170, 189,272 ff.
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der Geheimverträge der zaristischen Regierung durch Trotzki ab November 1917, welche die Eroberungsziele der Entente bloßstellte und schon zu Zeiten der provisorischen Regierung als Schritt zur Isolierung Rußlands verstanden worden war. Es setzte sich fort im russischen Sonderfrieden, der den Bruch mit den Westmächten besiegelte, und wurde noch verschärft durch die Annullierung aller Staatsschulden der Zarenregierung am 10. Februar 1918, was Frankreich als Finanzier der russischen Industrialisierung und Rüstung vor dem Krieg schwer traf. Als diese Entwicklung sich Ende 1917 abzeichnete, wurde es für Wilson unübersehbar, daß die Grundlagen seiner Friedensordnung wegzubrechen begannen. Wenn Rußland seine Ententegenossen im Stich ließ, würde es von diesen nicht mehr als gleichberechtigter Partner bei den Friedensverhandlungen betrachtet werden und vielleicht als Gründungsmitglied des Völkerbunds ganz ausfallen. Eine Staatenvereinigung zum Schutz des Weltfriedens, in welcher das größte Land der Erde fehlte, war aber von vornherein eine merkwürdige Veranstaltung. Es kam hinzu, daß die Westalliierten, wenn sie schon bedenkenlos Rußland opferten, um einen Verständigungsfrieden zu vermeiden, gegenüber den Mittelmächten sich nur schwer würden zügeln lassen. Damit war dann auch die Einpassung der geschlagenen Kriegsgegner in die neue Friedensordnun& bedroht. Schließlich wurde es fraglich, ob die politischen Institutionen der USA selbst ihrem Präsidenten folgen würden, wenn die Gegensätze zwischen den verschiedenen Ländern sich nicht entschärfen ließen und Amerika die Last aufgebürdet wurde, in einer heillos zerstrittenen Welt für Ruhe zu sorgen. Dies machte es für Wilson umso dringlicher, noch einmal den amerikanischen Führungsanspruch in der Frage der Kriegsziele herauszustreichen. Er tat dies in der 14-PunkteErklärung, die eine dreifache Absicht verfolgte: Erstens sollte der Versuch unternommen werden, Rußland vielleicht doch noch im Krieg zu halten. Rein militärische Erwägungen waren hierfür nicht ausschlaggebend; der Krieg konnte auch ohne Rußland gewonnen werden, außerdem wurden deutsche Truppen aus dem Osten lange vor dem Sonderfrieden für die Westoffensive abgezogen, weil Rußland ohnedies nicht mehr kampffähig war. Rußland sollte also in erster Linie aus politischen Gründen im Krieg gehalten werden, d. h. um es nicht zu isolieren. Zweitens sollte der Raffgier der Westalliierten ein gemäßigtes Kriegszielprogramm entgegengestellt werden, das nur einige Ziele der Westalliierten übernahm, um auch ihnen entgegenzukommen, ansonsten jedoch am Vorkriegszustand nicht allzu viel änderte. Und drittens sollte die 14-Punkte-Erklärung propagandistisch auf die Völker der Mittelmächte einwirken. Wenngleich die Erklärung seit längerem geplant war, erhielt sie doch besondere Dringlichkeit, als die Mittelmächte am 25. Dezember 1917 noch einmal einen Verständigungsfrieden vorschlugen. Es entstand nun das verwirrende Schauspiel, daß die Autokratie der Mittelmächte, die angebliche Wurzel allen Übels, wesentlich friedfertiger erschien als die demokratischen Verschleierungskünstler des Westens. So bezog sich Wilson in seiner Erklärung auf jenes Angebot der Mittelmächte und stellte fest, in Wahrheit wollten die Mittelmächte alle bis dahin besetzten Gebiete
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Rußlands behalten. Das traf durchaus zu, nur wurde dabei unterschlagen, daß sie dies erst dann tun wollten, wenn der angebotene Verständigungsfriede verweigert wurde. Auf solche Feinheiten ging Wilson allerdings nicht ein; statt dessen riß er wieder einmal die Kluft auf zwischen dem friedliebenden deutschen Volk und dessen eroberungssüchtigen Beherrschern. Wenn er andeutete, Friedensverhandlungen seien nur mit den Vertretern einer demokratischen Regierung möglich, so wurde in diesem Zusammenhang bereits erkennbar, daß auch eine demokratische Regierung nicht mit einer Rückkehr zum Vorkriegszustand rechnen durfte. Das lief darauf hinaus, Wilsons Friedensvorstellungen dem Volk schmackhaft erscheinen zu lassen und die Verantwortung für etwaige Verluste den autokratischen Beherrschern anzulasten. Die Hohlheit derartiger Propagandakonstruktionen offenbarte sich dann beim Versailler Diktat, als dessen ganze Last dem Volk aufgebürdet wurde. 68 Was nun den Inhalt der 14 Punkte betrifft, so läßt er sich in zwei Gruppen teilen, wovon sich die eine mit den Grundlagen der neuen Friedensordnung befaßte, die andere mit deren organisatorischer Ausgestaltung und anhängenden Fragen. Zu den Grundlagen gehörte es, daß der Bestand aller kriegführenden Staaten, auch der voraussichtlichen Verlierer, in der Hauptsache unangetastet bleiben sollte. Dies galt insbesondere für die Donaumonarchie und die Türkei, von deren Zerschlagung nicht die Rede war; Österreich würde allerdings (West-) Galizien an einen unabhängigen polnischen Staat verlieren. Den einzelnen Völkerschaften der Donaumonarchie und der Türkei sollte lediglich die freieste Möglichkeit zur autonomen Entwicklung geboten werden; doch ist es zumindest in Hinblick auf die Doppelmonarchie unbezweifelbar, daß Wilson über ihre innere Föderalisierung nicht hinauszugehen und dem gesamten Staatswesen einen gesicherten Platz unter den Ländern zu geben wünschte. Der Präsident hatte richtig erkannt, daß das Habsburgerreich einen erstrangigen OrdnungsfaktOT im Donauraum darstellte, dessen Beseitigung mehr neue Probleme schaffen als alte lösen würde. Der neue polnische Staat sollte nur Gebiete mit unstreitig polnischer Bevölkerung umfassen. Hierbei war augenscheinlich an eine strenge Auslegung des Wortes unstreitig (indisputably) gedacht, was in Bezug auf Deutschland eigentlich bloß ein Gebiet um Posen betraf. Jedenfalls verfocht Wilson weder die Abtretung Danzigs noch diejenige Oberschlesiens, sondern er wollte Polen den Zugang zum Meer durch einen Freihafen verschaffen. In anderen Punkten machte Wilson den Westalliierten Zugeständnisse und wich von einem Frieden ohne Annexionen und Reparationen ab. Leicht verständlich war dies in Hinblick auf Belgien, das völlig wiederherzustellen und für die Kriegsfolgen zu entschädi68 Über die Folgen einer Veröffentlichung der russischen Geheimverträge Äußerung des russischen Außenministers Tjereschtschenko im Mai 1917 bei Francis, Russia, 121. Wilsons 14-Punkte-Erklärung in FRUS, 1918, Supplement I: The World War, Bd. I, 12 ff. Dazu Kennan, Amerika I, 145, 240 ff. A. J. Mayer, Origins, 329 ff., 353 ff. Schwabe, Wilson-Frieden, 44 ff. Zum Abzug deutscher Truppen aus dem Osten M. Hoffmann, Aufzeichnungen I, 178; 11, 192.
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gen war. Wenn die neue Weltfriedensordnung auf Recht und Gerechtigkeit beruhen sollte, empfahl sich dies von selbst. Die Verletzung der belgisehen Neutralität war eine Völkerrechtswidrigkeit gewesen, und Bethmann Hollweg hatte zu Kriegsbeginn von Schadenersatz für Belgien gesprochen. Schwieriger lagen die Dinge in anderen Fällen. Italien sollte Grenzen gemäß der Nationalität erhalten, also österreichische Gebiete, was in den adriatischen Gegenden gemischter Siedlung nicht einfach war. In Bezug auf Frankreich sollte das bei der Abtrennung Elsaß-Lothringens 1871 begangene Unrecht wiedergutgemacht werden. Worin das Unrecht bestand, wurde nicht gesagt. Denkbar wäre, daß Wilson die damals unterlassene Volksabstimmung nachholen wollte, die keineswegs gegen Deutschland ausfallen mußte, jedenfalls nicht überall. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Wilson die Abtretung bevorzugte, wobei er möglicherweise noch einen Gedanken hegte, der bereits 1916 einmal aufgetaucht war, nämlich Deutschland für den Verlust durch Kolonialgewinne zu entschädigen. Bloße politische Konzessionen waren es, wenn Frankreich und etliche Balkanländer Kriegsentschädigungen für die besetzten Gebiete erhalten sollten. Welcher Logik dies folgte, blieb undurchsichtig. Alle Siegerstaaten, die eine Besetzung von Gebieten erlebt hatten, sollten offenbar nicht entschädigt werden, sonst hätte es auch für Italien gelten müssen. Ebensowenig sollten alle die entschädigt werden, denen der Krieg erklärt worden war, sonst hätte auch Rußland darunter fallen müssen. Vielleicht wollte Wilson durch die Entschädigungen einen Ausgleich schaffen für den Verzicht aufterritoriale Wünsche, etwa in der Weise, daß Frankreich keine weiteren Erwerbungen auf dem linken Rheinufer machte und die Balkanländer keine auf Kosten der Donaumonarchie. Wie auch immer, Wilson ließ sich hier auf das höchst gefährliche Wagnis ein, die Schleuse für Kriegsentschädigungen zu öffnen, die später eines der übelsten Ergebnisse des Versailler Diktats wurden. Eine zweite Gruppe innerhalb der 14 Punkte befaßte sich mit der Errichtung eines Völkerbundes, der allgemeinen Abrüstung, der Freiheit des Handels und der Meere sowie dem Verbot geheimer Abmachungen unter den Regierungen. Alle diese Dinge hingen miteinander zusammen. Wenn der Völkerbund die eine, umfassende Organisation zur Wahrung des Weltfriedens sein sollte, dann durfte es in seinem Schoß keine Sonderbündeleien geben, keine geheimen Zusammenschlüsse einzelner Staaten zum Zweck der Verteidigung, Angriffsvorbereitung oder ähnlichem, denn dies hätte den Völkerbund entwertet und wieder die Zustände der Vorkriegszeit herbeigeführt. Geheime Abmachungen waren ein Mittel der klassischen Gleichgewichtspolitik, ebenso ein Mittel, das Gleichgewicht aus den Angeln zu heben und dadurch den Krieg heraufzubeschwören, wie es vor Kriegsausbruch geschehen war. Die Freiheit der Meere beinhaltete das Verbot völkerrechtswidriger Blockademaßnahmen; die Freiheit des Handels sollte das wirtschaftliche Gedeihen aller Mitglieder der Staatengemeinschaft sicherstellen, wobei der stärksten Wirtschaftsmacht, den USA, die Führungsstellung von selbst zufallen mußte.
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Die 14 Punkte waren kein Programm für einen Verständigungsfrieden auf der Grundlage des status quo. Sie setzten vielmehr den Sieg der Westmächte schon voraus und konnten von den Mittelmächten nicht anders als im Falle ihrer Niederlage hingenommen werden. Immerhin mochten sie bei einiger Gutwilligkeit als das Äußerste betrachtet werden, was den Betroffenen noch zugemutet werden durfte, ohne sie in unerträglicher Weise zu demütigen. Daß alle Beteiligten, auch die Verlierer, nach dem Ende des Krieges als Gleichberechtigte in die neue Weltfriedensgemeinschaft eintreten und sie mit aufbauen sollten, stand dabei nicht im Zweifel; dies mochte dazu beitragen, sie mit dem Ergebnis des Krieges zu versöhnen. Bis die Versailler Ordnung errichtet war, blieb freilich von diesem Programm kaum noch etwas übrig. Als grundlegende Schwierigkeit erwies sich bald der Abfall des bolschewistischen Rußland von seinen Ententegenossen. In einem neuen Weltfriedenssystem, wie es Wilson vor Augen stand, wäre dies an sich belanglos gewesen. Wovor sich die Westalliierten stets ängstigten, war ja die Verbindung Deutschlands mit Rußland und die Bedrohung ihrer Sicherheit durch das Militärpotential beider. Dies entsprach dem herkömmlichen Gleichgewichtsdenken, das Wilson - offenbar von den wenigsten ernstgenommen - zu überwinden suchte. Gemäß den 14 Punkten sollten nicht bloß durch gesicherte Übereinkunft die Rüstung auf ein Mindestmaß verringert und Geheimabkommen zur Errichtung gesonderter Bündniskonstellationen untersagt sein, vielmehr sollten alle Länder darüber hinaus sich gegenseitig ihre politische Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit garantieren. Unter solchen Umständen hätten Rußland und Deutschland niemanden bedrohen können; allenfalls hätten sie sich dem vereinten Widerstand der übrigen ausgesetzt gesehen. Den Sprung zu diesem ebenso kühnen wie visionären Gedanken, der Einsicht und guten Willen bei allen voraussetzte, haben andere Staatsmänner nicht nachvollzogen; er wäre wohl auch zu groß gewesen. Statt dessen strichen westliche Staatsmänner unablässig die Gefahren eines deutsch-russischen Zusammenwirkens heraus. Balfour warnte Ende 1917 davor, Rußland in die Arme Deutschlands zu treiben, andernfalls werde man die Organisation des Landes nach deutschen Richtlinien durch deutsche Beamte beschleunigen. Nichts wäre katastrophaler, sowohl für die Weiterführung des Krieges wie für Britanniens auswärtige Beziehungen nach dem Krieg. Bei den Pariser Friedensverhandlungen nannte Lloyd George es im März 1919 die größte Gefahr, daß Deutschland bolschewistisch werden und seine Hilfsmittel, seinen Verstand, seine breite Organisationskraft in den Dienst der revolutionären Fanatiker stellen könnte. Man werde dann binnen kurzem erleben, daß dreihundert Millionen Menschen, zu einer riesigen Armee unter deutscher Führung organisiert, den Westen angreifen könnten. Lansing stieß ins gleiche Horn, als er im April 1919 seine alte Befürchtung mit den Worten umschrieb, Deutschland könne, mit seiner Begabung für wirkungsvolle Organisation und gleichzeitig gestützt auf die unerschöpflichen Hilfsquellen Rußlands, ganz Europa beherrschen, und wenn es sich mit Japan zusammentue, werde es Asien seinem Willen unterwerfen. Bei einer
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solchen Dreierallianz werde Amerika alle Hände voll zu tun haben, um seine Küsten vor den Invasoren zu schützen. Bemerkenswert an dieser Neuauflage von Lansings alten Überlegungen war es, daß ihr machtpolitischer Kern stets derselbe blieb: Es war die Verbindung des deutschen mit dem russischen Potential und gegebenenfalls der Anschluß des japanischen. Für solche Dinge hatte Lansing früher die Formel Absolutismus verwendet, doch liegt es auf der Hand, daß in Wahrheit etwas ganz anderes gemeint war. In staatsrechtlicher Hinsicht war diese Formel ohnedies unsinnig, weil es weder in Deutschland noch in Japan den Absolutismus gab, sondern eine verfassungsmäßige, konstitutionelle Regierungsform, der sich seit der Revolution von 1905 auch Rußland annäherte. Im Jahr 1919, nachdem sowohl in Rußland als auch in Deutschland Revolutionen ausgebrochen waren, konnte es sich schon vollends nicht mehr um Absolutismus handeln, es sei denn, man hätte dann von einem bolschewistischen Absolutismus sprechen wollen. Aber um solche staatsrechtlichen Feinheiten war es ja nie gegangen, sondern wenn die Westmächte für die Demokratie, gegen Autokratie und preußischen Militarismus kämpfen wollten, dann meinten sie damit in Wirklichkeit, Deutschland und Rußland sollten in eine Friedensordnung eingegliedert werden, die sie nicht durch ihr Zusammenwirken wieder sprengen könnten. Das galt auch für Wilson. Der Präsident hat nie einen Kreuzzug für die Demokratie geführt, sondern er hat versucht, unter dem schillernden und inhaltlich kaum faßbaren Propagandaschlagwort Demokratie einen Kreuzzug für seine neue Weltfriedensordnung zu führen. Welche Regierungsform und welches Gesellschaftssystem Rußland und Deutschland aufwiesen, war allenfalls insofern bedeutsam, als es ihre Eingliederung in die Friedensordnung erleichtern konnte. Doch war für die Festigkeit der Friedensordnung in erster Linie nicht die Frage wesentlich, wie demokratisch Deutschland und Rußland waren, sondern wie sie sich mit dem Ergebnis des Krieges abzufinden vermochten - deswegen erstrebte Wilson wenn schon keinen gerechten, so wenigstens einen halbwegs erträglichen Frieden. Im übrigen war ein Zusammenwirken Rußlands und Deutschlands unter allen Regierungsformen denkbar, auch den unterschiedlichsten. Schon die deutsche "Autokratie" hatte die Bolschewisten gefördert und eine Zusammenarbeit mit ihnen, sogar ein Bündnis, wenigstens erwogen; der sowjetische Außenkommissar Tschitscherin war im Sommer 1918 zum gemeinsamen Kampf mit Deutschland gegen alliierte Interventionstruppen sowie die Gegenrevolution bereit; und noch der Außenminister der demokratischen deutschen Regierung in der Zeit der Pariser Verhandlungen, Brockdorff-Rantzau, meinte im Februar 1919, "die ganz großzügige Politik für Deutschland wäre zweifellos die, mit Sowjetrußland zusammen gegen die Entente."69 Solche Dinge wollte Wilson hinter sich lassen, wie er die ältere Macht- und Gleichgewichtspolitik überhaupt hinter sich lassen wollte. Für andere Staatsmän69 Balfour nach Lloyd George, Memoirs V, 2573 ff. Dasselbe bei Lowe / Dockrill, Power III, 669. Lloyd George nach A. J. Mayer, Peacemaking, 582. Lansing nach Schwabe, Wilson-Frieden, 450. Brockdorff-Rantzau nach Kessler, 135 f. 8 Raub, Zweiter Weltkrieg I. Teil
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ner dagegen, insbesondere bei den Westalliierten, bildeten sie die Grundlage ihrer außenpolitischen Vorstellungswelt. Der Ausbruch Rußlands aus seinen Verpflichtungen gegenüber den Alliierten brachte auch den Sowjetstaat in die Mühle des Gleiohgewichtsdenkens. Man kann ja ein einfaches Gedankenexperiment anstellen: Wäre das bolschewistische Rußland dem Bündnis treu geblieben und wäre aus irgendwelchen Gründen in Deutschland ebenfalls eine bolschewistische Revolution ausgebrochen, so hätten sich ein bolschewistisches Rußland und ein bolschewistisches Deutschland gegenübergestanden, wie sich vorher ein monarchisches Rußland und ein monarchisches Deutschland entgegengetreten waren; an den europäischen Mächtebeziehungen hätte sich gar nichts geändert. Erst mit dem Bruch des Bündnisses trat jene Verwirrung der Kräfteverhältnisse ein, die von da an alles überschattete. Der Generalsekretär des französischen Außenministeriums, Jules Cambon, kleidete in der Zeit des russischen Sonderfriedens von Brest-Litowsk die Stimmung seiner Regierung in die Worte, dies werde Frankreich für immer von einem Bündnis mit Rußland heilen. Frankreich wurde nun zum härtesten Verfechter einer Ausgrenzung Rußlands, die seinen ehemaligen Verbündeten von jeder Verständigung über Krieg und Frieden absonderte. Mit seinem Austritt aus der Entente entwickelte sich Rußland zu einem Außenseiter der Staatenwelt, der seine Existenz außerhalb der neuen Friedensordnung würde fristen müssen. Den Absichten Wilsons entsprach dies keineswegs. In den 14 Punkten hieß es, Rußland solle die beste und freieste Zusammenarbeit mit den anderen Nationen gesichert werden, damit es seine eigene politische Entwicklung unabhängig selbst bestimmen könne, und es solle in der Gemeinschaft freier Völker willkommen geheißen werden unter Institutionen seiner eigenen Wahl - also auch unter bolschewistischen. Anders als Lansing, der in Übereinstimmung mit den Alliierten die Sowjetregierung weder de jure noch de facto anerkennen wollte, drängte Wilson Anfang 1918 auf das Beibehalten inoffizieller Beziehungen zur Sowjetregierung und ließ die Bereitschaft erkennen, sie als tatsächliche Machthaberin anzusehen. Den entgegengesetzten Kurs schlugen die Alliierten ein, allen voran Frankreich. Das Schicksal Rußlands und der Mittelmächte verschlang sich dabei auf eigenartige Weise. In ihrem gemeinsamen Kriegszielprogramm von Anfang 1917 hatte die Entente noch die Verkrüppelung der Donaumonarchie verlangt, um den Ansprüchen aller Alliierten gerecht zu werden; auch war eine Lösung der polnischen Frage zugunsten Rußlands damals noch offen geblieben. Als im Laufe des Jahres 1917 der Zusammenbruch Rußlands näherrückte, gewannen jedoch bei den Westalliierten andere Gedanken die Oberhand. Seit dem Thronwechsel in der Donaumonarchie, wo im November 1916 der alte Kaiser Franz J oseph gestorben war, schien sich ohnedies die Möglichkeit anzubahnen, Österreich von Deutschland zu trennen, zumal der neue Monarch, Karl L, über seinen Schwager Prinz Sixtus von Bourbon-Parma Friedensfühler zu Frankreich ausstreckte und im März 1917 in einem Brief an den französischen Staatspräsidenten Poincare den Anspruch Frankreichs auf Elsaß-Lothringen zu unterstützen versprach. Die
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wachsende Wahrscheinlichkeit eines russischen Sonderfriedens veranlaßte französische und britische Staatsmänner, die Frage der europäischen Mächtekonstellation neu zu überdenken, denn wenn es den Mittelmächten gelang, Rußland von der Entente abzusprengen, dann konnte sich nach dem Krieg eben jene deutschrussische Verbindung ergeben, die der Krieg eigentlich hatte verhindern sollen. Für die europäischen Westmächte, vor allem Frankreich, entstand damit die Notwendigkeit, Deutschland und Rußland auf andere Weise getrennt zu halten und, da Rußland als Gegengewicht zu Deutschland voraussichtlich ausfiel, nach einem anderen Widerlager für ihre Ostpolitik Ausschau zu halten. Hierfür gab es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Den einen Weg beschritt Frankreich im Sommer 1917 und Britannien an der Jahreswende 1917/18. Er bestand in dem Versuch, den deutsch-österreichischen Zweibund aufzubrechen, um an Stelle Rußlands die Donaumonarchie als Gegengewicht zu Deutschland aufzubauen. Zu diesem Zweck sollte die Donaumonarchie nicht bloß erhalten werden, wie Wilson wünschte, sondern wesentlich vergrößert, insbesondere durch den Anschluß Polens, allerdings bei innerer Föderalisierung. Der Bruch zwischen Deutschland und Österreich konnte durch einen österreichischen Sonderfrieden erfolgen, doch hat man zumindest in London erwogen, den Bruch erst später eintreten zu lassen, vielleicht am Kriegsende, zumal Österreich bei einschlägigen Gesprächen einen Sonderfrieden stets ablehnte. Österreich den Absprung von Deutschland offenzuhalten, wurde auch in den USA gutgeheißen. Alle diese Überlegungen fanden jedoch ein jähes Ende, als der französische Ministerpräsident Clemenceau im April 1918 den Brief Kaiser Karls vom Vorjahr veröffentlichen ließ. Nach den diplomatischen Gepflogenheiten bedeutete dies nicht bloß das Unterbinden aller Sonderverhandlungen mit Österreich, wie in London und Washington übereinstimmend festgestellt wurde, sondern es beinhaltete weit mehr: Es zielte auf den bedingungslosen Sieg ab, auf die Förderung der Nationalitäten und damit auf das Zerschlagen der Donaumonarchie. Wilson, Lansing und Balfour zogen daraus die Folgerung, wenn Österreich nicht mehr von Deutschland getrennt und als Gegengewicht aufgebaut werden könne, dann müsse es zerstükkelt werden. 70 Clemenceau bewies mit seinem Schritt, daß die französische Regierung nunmehr entschlossen war, den zweiten Weg zu gehen, um ein Gegengewicht zu Deutschland im Osten zu gewinnen. Weder Rußland sollte es sein noch Österreich, sondern neue Staaten, die in dem ostmitteleuropäischen Zwischenfeld zu errichten waren. Einer davon war Polen, das die Regierung Ribot schon im August 1917, anscheinend mit britischer Billigung, in den Grenzen von 1772 hatte wiedererrichten wollen, damals freilich noch im Anschluß an Österreich. Ein Polen in diesen Grenzen wäre zugleich ein natürlicher Sperrriegel zwischen Deutschland und Rußland gewesen und hätte letzteres weit nach Osten abge70 Cambon nach Laroche, 46. Zu Wilson Miller Unterberger, 55 f. Zur französischen und britischen Österreich-Politik 1917/18 Mamatey, 141 ff., 150 ff., 236 ff., 256 ff., 266 f. W. Fest, Partition, 134, 156 ff., 223. Nelson, 42 ff.
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drängt. An dieser Vorstellung hielt die französische Regierung weiterhin fest; unter anderen sprach Außenminister Pichon im November 1918 erneut von den Grenzen des Jahres 1772, nur bezog sich dies jetzt auf ein selbständiges Polen. Die Abkehr von dem Plan einer Verbindung Polens mit der Donaumonarchie vollzog die Regierung Clemenceau im Winter 1917/18, augenscheinlich im Zusammenhang mit dem Abfall Rußlands. Wie Frankreich die britisch-österreichischen Fühlungnahmen an der Jahreswende 1917/18 mit Unlust beobachtete, so setzte es im Dezember 1917 ein gegenläufiges Signal, als es dem 1916 gegründeten tschechoslowakischen Nationalrat in Paris, der Keimzelle einer künftigen Regierung, eigene nationale Streitkräfte unterstellte. Dahinter verbarg sich der Umstand, daß der Vorsitzende des Nationalrats, Masaryk, in Rußland eine sog. tschechische Legion aus Kriegsgefangenen und Überläufern aufstellte, die bis auf Korpsstärke anwuchs und welche die französische Regierung zum Kampf gegen die Mittelmächte und die Bolschewisten benützen wollte; in der Tat unterstanden die nationalen Streitkräfte dem tschechoslowakischen Nationalrat nur politisch, militärisch dagegen dem französischen Oberkommando. Immerhin war der Nationalrat damit praktisch zur kriegführenden Macht geworden, und da seine Streitkräfte gegen die Mittelmächte kämpfen sollten, stand eine Verselbständigung der Tschechoslowakei vor der Tür, d. h. die Zerschlagung Österreichs. Etwa zur selben Zeit, als Clemenceau mit der Affäre um den Brief Kaiser Karls alle Brücken zur Donaumonarchie abbrach, nämlich im April 1918, wurde in Paris auch die Anerkennung des Nationalrats als künftiger Regierung im Grundsatz entschieden. Britannien und Amerika schlossen sich in der Folgezeit an, wenngleich die förmliche Anerkennung erst im September erfolgte, verknüpft mit einer Verpflichtung Frankreichs auf die späteren Grenzen der Tschechoslowakei. Den Nationalbewegungen gaben jene Vorgänge natürlich gewaltigen Auftrieb; die Zerstückelung der Donaumonarchie war in die Wege geleitet, bevor diese infolge der Niederlage selbst zerfiel. 71 Wie Wilsons Programm gegenüber Österreich unterlaufen wurde, so wurde es gegenüber Rußland unterlaufen. Wenn Frankreich sich in Zukunft ohnedies auf die ostmiueleuropäischen Staaten stützen wollte, dann brauchte es Rußland auf der Friedenskonferenz nicht mehr. Darüber hinaus konnte es Rußland auf der Friedenskonferenz umso weniger brauchen, als der Frieden gerade nicht nach den Vorstellungen Wilsons geschlossen werden sollte. Wilson wollte bis in die Zeit der Pariser Verhandlungen Rußland in seinem territorialen Bestand erhalten, abgesehen von Polen in seinen volksmäßigen Grenzen und dazu später Finnland. Dagegen wollte Frankreich in mehrfacher Hinsicht gegen Wilsons Programm verstoßen: Deutschland sollte erheblich größere Einbußen erleiden, die Donaumonarchie ganz beseitigt werden und auch Rußland zusätzliche Verluste hinnehmen, namentlich durch Polen, das sich weit nach Osten ausdehnen sollte. Rußland 71 Zu Pichon und anderen französischen Stimmen Wandycz, France, 17. Ferner Hovi, 55 ff., 71 ff., 94 ff. W. Fest, Partition, 176. Mamatey, 170,275 ff., 292 ff., 299 f. Wandycz, France, 14 f., 20 f.
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hätte auf einem allgemeinen Friedenskongreß ein natürlicher Verbündeter Wilsons werden können, indem es für den Erhalt seines eigenen Gebietes stritt, und es hätte zugleich die Mittelmächte unterstützen können, mit denen es im selben Boot saß. Daran war Frankreich nicht gelegen und etlichen anderen voraussichtlichen Siegerstaaten ebensowenig. Wilson hielt auch nach dem russischen Sonderfrieden von Brest-Litowsk daran fest, sich in die inneren Angelegenheiten des Sowjetstaats nicht einzumischen und die Sowjetregierung als möglichen Verhandlungspartner zu betrachten. Auf eine entsprechende Anfrage Japans, wie Rußland in Zukunft zu behandeln sei, antwortete Wilson im März 1918, die Russen sollten als Freunde und Alliierte gegen den gemeinsamen Feind betrachtet werden. Der Präsident sprach sich deshalb mit Nachdruck gegen ein bewaffnetes Eingreifen der Alliierten in Rußland aus, da es dessen innere Verhältnisse nur verwirren, der abschließenden, umfassenden Friedensregelung vorgreifen und einen Bruch zwischen den Westmächten und der Sowjetregierung herbeiführen würde. Ein solches bewaffnetes Eingreifen war nun freilich das, worauf sich die französische und die britische Regierung bereits Ende 1917/ Anfang 1918 geeinigt hatten. Abgesehen von der Unterstützung gegenrevolutionärer Kräfte in Südrußland bezog sich dies vor allem auf die Absicht, Japan im Auftrag der Alliierten auf der Transsibirischen Eisenbahn vorrücken zu lassen, nach Möglichkeit bis zum Ural, um so erneut eine Ostfront gegen die Mittelmächte zu errichten. Die Frage nach dem militärischen Wert eines solchen Unternehmens mag auf sich beruhen; die Entscheidung mußte sowieso an der Westfront fallen, und ob die geplante Ostfront hierauf noch irgendwelchen Einfluß ausüben konnte, blieb offen. Es wurde dabei aber jedenfalls in Kauf genommen - vielleicht sogar gewünscht - , daß Japan sich in Sibirien festsetzte und zur Verwässerung von Wilsons Friedensplan beitrug, daß Rußland erneut Kriegsschauplatz wurde und eine weitere Schwächung erlebte, daß gegenrevolutionäre Kräfte Auftrieb erhielten oder eine antibolschewistische Regierung entstand, schließlich daß die Sowjetregierung in offenen Gegensatz zu den Westmächten geriet oder gar in den Krieg, so daß sie umso leichter vom diplomatischen Verkehr ausgeschlossen werden konnte. Balfour stellte im Februar 1918 fest, Wilson werde einem bewaffneten Eingreifen der Alliierten in Rußland nur unter deren schärfstem Druck nachgeben, und in der Tat hat der Präsident sich ein halbes Jahr lang geweigert, solchen Unternehmungen seine Zustimmung zu erteilen. Erst als die tschechische Legion in Rußland - wohl nicht ganz zuflillig - mit den Bolschewisten in Streit geriet und den Kampf gegen sie aufnahm, fand sich Wilson im Juli 1918 mit der Entsendung von Truppen ab, um, wie es hieß, den Tschechen zu helfen, in Wahrheit aber, um Japan und die Westalliierten, die bereits von sich aus tätig geworden waren, nicht ohne Aufsicht zu lassen. Im August schwante ihm, daß er den Alliierten auf den Leim gegangen war, denn diese versuchten tatsächlich, eine neue Ostfront zu errichten, indem alliierte Truppen aus nordrussischen Häfen den Tschechen im Ural- und Wolgagebiet die Hand reichen sollten. Außerdem bildeten sich im
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Windschatten dieser Vorgänge mehrere gegenrevolutionäre Regierungen, wovon die sibirische unter Admiral Koltschak im Mai 1919 von den Westmächten anerkannt wurde. Infolge des militärischen Eingreifens der Westmächte, das Wilson anfangs nicht als Intervention ansehen wollte, verschärften sich im Sommer 1918 die Spannungen derart, daß die bislang noch aufrechterhaltenen diplomatischen Beziehungen zu Rußland abbrachen. Die Sowjetregierung (seit 1918 in Moskau) war isoliert und befand sich in einer Art von unerklärtem Kriegszustand mit den Westmächten. Da zudem neben der bolschewistischen etliche gegenrevolutionäre ("weiße") Regierungen existierten, vermochte niemand anzugeben, wer denn verbindlich für Rußland sprechen sollte. Nichtsdestoweniger war Wilson Ende 1918 bereit, auf die von der bolschewistischen Regierung ausgestreckten Friedensfühler einzugehen und mit ihr zu verhandeln, ob sie nun förmlich anerkannt war oder nicht. In England entstand zur selben Zeit der Plan, Vertreter der verschiedenen Regierungen in Rußland am Rande der Friedenskonferenz anzuhören, was allerdings insofern ziemlich wenig bedeutete, als Rußland unter diesen Umständen mit den anderen Mächten nicht auf eine Stufe gestellt worden wäre und nicht mit einer Stimme hätte sprechen können. Frankreich wußte freilich auch dies noch zu verhindern. Clemenceau drohte mit seinem Rücktritt, falls Bolschewisten bei den Friedensverhandlungen in Paris erschienen. Wilson versuchte daraufhin im Januar 1919, die russischen Bürgerkriegsparteien an einem neutralen Ort zusammenzubringen, was von den "Weißen", angestachelt durch Frankreich, zu Fall gebracht wurde. So blieb Rußland sich selbst überlassen; es war ein Fremdling in der Gemeinschaft der Staaten, der unter die anderen nicht aufgenommen wurde und mit der neuen Friedensordnung nichts zu schaffen hatte. 72 Den Mittelmächten erging es nicht besser. Nach dem Scheitern der letzten deutschen Offensiven war an ihrer Niederlage nicht mehr zu zweifeln; im September und Oktober 1918 baten sie alle um einen Waffenstillstand, wobei Österreich sich Deutschland anschloß, das am 3. Oktober Präsident Wilson um die Herbeiführung des Waffenstillstands und die Vermittlung des Friedens auf der Grundlage der 14 Punkte ersuchte. Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober, das den Umbau der Donaumonarchie zu einem Bundesstaat ausrief, vermochte die Verselbständigung der einzelnen Teile nicht mehr zu verhindern; die provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs erklärte sich am 12. November 1918 einstimmig für einen Anschluß an Deutschland. Mit dem Zerfall der Donaumonarchie war sofort wieder die Frage aufgeworfen, auf welche Weise die Mittelmächte in die Friedensordnung einzugliedern waren. Die ursprüngliche Absicht Wilsons, auf einem allgemeinen Friedenskongreß unter Beteiligung sämtlicher kriegführenden Länder die Friedensbedingungen auszuhandeln und den 72 Balfour nach G. A. Ritter, Regierung, 225, Anm. 93 (Memorandum vom 14.2.1918). Ferner Miller Unterberger, 57 ff. Kennan, Amerika I, 295 ff.; 11, 374 ff., 457 ff. A. J. Mayer, Peacemaking, 319,413,418 ff., 427 ff. Thompson, 79. Walworth, Peacemakers, 125 ff.
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Völkerbund zu errichten, hatte durch den Ausfall Rußlands und die unvermeidliche Zerstückelung der Donaumonarchie bereits schwere Schläge erlitten. Wer sollte nun noch den Friedenskongreß beschicken? Wer würde zu den Gründungsmitgliedern des Völkerbunds gehören? In Deutschland und Österreich führten Revolutionen im Laufe des November zum Sturz der Monarchien. Die jahrelang verkündete Propagandafloskel vom Kampf gegen die Autokratie war damit gegenstandslos geworden; in beiden Ländern gab es demokratische Regierungen, und beide Völker wünschten auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts die Vereinigung. Balfour hatte sich im August 1918 noch einmal für den Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland ausgesprochen, selbst Lansing hatte im September dasselbe getan, und in Deutschland behandelte zwar die Revolutionsregierung die Anschlußfrage behutsam, um die Alliierten nicht zu reizen, aber die Verfassung der deutschen Republik vom August 1919 sah den Anschluß Österreichs vor. Wilson gab bei den Pariser Verhandlungen zu, daß auf der Grundlage seines Friedensprogramms der Anschluß nicht verhindert werden dürfe. Mußte daraus in Hinblick auf den Friedenskongreß nicht folgen, daß ein vereinigtes Großdeutschland entweder gleich daran teilnahm oder jedenfalls daraus hervorging, um anschließend in den Völkerbund einzutreten? Der bekannte Soziologe Max Weber warnte in einem Zeitungsartikel von Ende 1918, die Verhinderung des deutsch-österreichischen Zusammenschlusses und die territoriale Verstümmelung Deutschlands würden eine friedliche Entwicklung abtöten, an die Stelle der Friedensliebe den deutschen Wunsch nach nationaler Zusammengehörigkeit setzen. All dies war sonnenklar, nur kam es nicht zum Tragen, weil der endlich errungene Sieg den Westalliierten Gelegenheit gab, das zu tun, was sie schon während des Krieges angestrebt hatten: den Frieden zu diktieren und ihre eigene Machtstellung auf Kosten Rußlands und der Mittelmächte auszubauen. 73 Es begann mit den Waffenstillstandsverhandlungen. Bulgarien hatte sein Waffenstillstandsgesuch vom 25. September 1918 an die britische Regierung gerichtet, allerdings über amerikanische diplomatische Kanäle. Wilson griff sofort ein und legte der bulgarischen Regierung nahe, nur solche Bedingungen anzunehmen, die er selbst vermittelte. Wegen des schnellen Zusammenbruchs der bulgarischen Streitkräfte blieb dies freilich erfolglos; die Waffenstillstandsbedingungen wurden auf Anweisung Clemenceaus vom französischen Oberbefehlshaber der alliierten Balkanstreitkräfte auferlegt. Immerhin gab dies einen Vorgeschmack auf die Spannungen unter den Siegern und auf den Umstand, daß die Westalliierten alles daran setzen würden, Wilson zu überspielen. Als Deutschland und Österreich in der Hoffnung, ihr Schicksal liege bei den USA noch in den besten Händen, ihr Friedens- und Waffenstillstandsgesuch an Wilson richteten, erhob sich umgehend der Argwohn der Alliierten, die sich bereits Anfang Oktober 1918, wenige Tage 73 Balfour nach Nelson, 43. Zu Lansing dessen Erinnerungen, 146. Der Anschluß Österreichs in der Weimarer Verfassung, Art. 61. Wilson nach Mantoux I, 68, 461 f. Zu Max Weber Frankfurter Zeitung, 24.11.1918, erste Morgenausgabe (Artikel "Demokratische Weltpolitik"). Ferner Preradovich, Anschluß. Low, Anschlußbewegung.
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nach dem deutschen Gesuch, darüber einig wurden, die Waffenstillstandsbedingungen müßten ihnen volle Freiheit für die Auferlegung des Friedens lassen. Dies kam einer Kapitulation nahe; Deutschland sollte so wehrlos gemacht werden, daß die Sieger uneingeschränkt über sein Schicksal verfügen konnten. Durch den Waffenstillstand vom 11. Dezember wurde dies erreicht; die deutschen Truppen mußten hinter den Rhein zurückgezogen werden, umfangreiches Kriegs- und Transportmaterial war abzuliefern, die Hochseeflotte zu internieren. Davor hatte jener deutsch-amerikanische Notenwechsel über die Friedensvermittlung stattgefunden, der die bekannten Anklagen gegen Militarismus und Autokratie wieder aufgriff und in amerikanischen Augen dazu dienen sollte, die Demokratisierung Deutschlands zu fördern, um es leichter in die Friedensordnung eingliedern zu können. Dies geschah weniger in der Überzeugung, daß demokratische Regierungen prinzipiell friedliebender seien - die demokratischen Regierungen der Westalliierten konnten jedermann eines Besseren belehren - , als vielmehr in der Absicht, das Volk propagandistisch auf die Folgen der Niederlage und den möglicherweise harten Frieden einzustimmen. Dieser Notenwechsel wurde beendet durch die sog. Lansing-Note vom 5. November 1918, welche die Bereitschaft der Westmächte zu Friedensverhandlungen auf der Grundlage der 14 Punkte mitteilte und auf deutscher Seite als Vorfriedensvertrag, pactum de contrahendo, verstanden wurde. Die Alliierten hatten allerdings zwei Ausnahmen gemacht, wovon sich eine auf die Freiheit der Meere und die andere auf Entschädigungen für die Zivilbevölkerung bezog. Die wichtigsten Probleme waren damit bereits angerissen. 74 Obwohl die Sicherung des Friedens durch eine organisierte Staatengemeinschaft seit langem erörtert worden war, wurde sie doch erst von Wilson zu einem nachdrücklich verfolgten politischen Ziel erhoben. Seit 1916 fand der Gedanke in breiten Kreisen Zustimmung und wurde gleichermaßen von den Regierungen der kriegführenden Staaten aufgegriffen. Während im Schoß der britischen und französischen Regierung in den letzten Kriegsjahren bereits Pläne für einen Völkerbund ausgearbeitet wurden, suchte Wilsonjede vorzeitige Festlegung hintanzuhalten. Er fürchtete erstens, in den politischen Institutionen seines Landes Widerstand gegen die Einbindung der USA in außeramerikanische Angelegenheiten wachzurufen; er fürchtete zweitens, die Westalliierten könnten ihm in dieser hochwichtigen Angelegenheit die Führung aus der Hand nehmen; und er wollte drittens die Möglichkeit offenhalten, den Völkerbund auf einem allgemeinen Friedenskongreß aus den Verhandlungen Gleichberechtigter, ob Sieger oder Besiegte, herauswachsen zu lassen. Der letzte Punkt verdient Hervorhebung: Es war ein wesentlicher Unterschied, ob die Siegerstaaten den Völkerbund unter sich errichteten oder in Gemeinschaft mit den Besiegten. Im ersteren Fall standen sowohl die Friedensbedingungen als auch die Zulassung oder Nichtzulassung 74 Zu Bulgarien Parsons, 151. Zu den Waffenstillstandsverhandlungen mit Deutschland Rudin, Armistice. Schwabe, Wilson-Frieden, 88 ff., 128 ff., 176 ff. Die LansingNote in Ursachen und Folgen 11, 467 f.
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der Besiegten zum Völkerbund im freien Ermessen der Sieger; im zweiten Fall dagegen wurden die Besiegten von vornherein als Mitglieder einer Verständigungsgemeinschaft angesehen, sie wurden in die gewaltige Aufgabe der einvernehmlichen Friedenssicherung miteinbezogen und mußten eben deswegen eine ganz andere Behandlung erfahren, als wenn sie wie Ausgeschlossene der Willkür der Sieger unterworfen waren. Oder mit anderen Worten: Die Teilnahme der Besiegten an einem allgemeinen Friedenskongreß sowie an der Errichtung des Völkerbunds war eine Vorentscheidung über die Friedensbedingungen. Wurden die Besiegten zugelassen, so konnten sie mit Wilson für die 14 Punkte kämpfen, wurden sie ausgeschlossen, so stand ein Diktat ins Haus. Daraus folgt zugleich, daß Völkerbund nicht gleich Völkerbund war. Der Völkerbund bildete ein taugliches Werkzeug der Friedenssicherung nur dann, wenn er auf einer tragfähigen Grundlage beruhte, das heißt auf Friedensbedingungen, die für alle einigermaßen erträglich waren. Andernfalls stellte der Völkerbund, zumal wenn er bloß eine Veranstaltung der Sieger bildete, ein reines Willkür- und Unterdrückungsinstrument dar, von dem vorherzusehen war, daß es demnächst würde hinweggefegt werden. Wilson selbst war darüber nie im Zweifel. Noch auf der Überfahrt zu den Pariser Verhandlungen, im Dezember 1918, stellte er fest, wenn der Friede nicht auf den höchsten Grundsätzen der Gerechtigkeit aufgebaut sei, werde er in weniger als einer Generation von den Völkern der Welt hinweggefegt werden; nicht bloß Zusammenstöße würden folgen, sondern die Vernichtung. Die zukünftigen Ereignisse des 20. Jahrhunderts dürfte kaum jemand genauer vorhergesagt haben. Es war kein Zufall, daß Wilson im April 1919 auf der Friedenskonferenz körperlich und seelisch zusammenbrach. Zu dieser Zeit wurde unwiderruflich klar, daß der Friede seinen Vorstellungen in keiner Weise entsprechen würde. Wilson mußte am eigenen Leib erfahren, was es heißt, auf dem richtigen Weg zu sein und dennoch den Widerstand eingefahrener Denkgewohnheiten nicht überwinden zu können. Einer von Wilsons Mitarbeitern, R. S. Baker, schrieb zu jener Zeit in sein Tagebuch, ein Völkerbund, dessen einziger Zweck darin bestehe, die Grapscherei (grabs) Frankreichs, Italiens, Polens usf. zu sichern, sei zum schnellen Fehlschlag verurteilt. Es sei jetzt schon gleichgültig, was für ein Friede unterschrieben werde, denn nichts Wesentliches (d. h. keine tragfähige Weltfriedensordnung) werde geregelt. 75 All dies zeichnete sich seit dem Herbst 1918 immer deutlicher ab. Lloyd George hatte schon im August im britischen Kriegskabinett einen diktierten Straffrieden verlangt, weil Deutschland ein Verbrechen gegen die Menschheit (humanity) begangen habe und für die Zukunft ein abschreckendes Exempel statuiert werden müsse. Das war nun das glatte Gegenteil von dem, was Wilson wünschte, und von daher wird es auch verständlich. Lloyd George meinte, ein 75 Wilson im Dezember 1918 nach A. J. Mayer, Peacemaking, 21 (aus den BullittPapieren). Zu R. S. Baker a.a.O., 573. Zum Völkerbund allgemein Lloyd George, Memoirs IV, 1750 ff., 1792 ff. Ders., Truth I, 604 ff. Egerton; Fortuna; Walworth, Moment, 11 ff.
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diktierter Straffriede könne die einzige Grundlage für den Völkerbund sein. Dies bedeutete nicht weniger als die Zurückweisung des amerikanischen Führungsanspruchs sowohl auf der Friedenskonferenz als auch im Völkerbund. Ob diese Haltung bereits mit der französischen Regierung abgesprochen war, bleibe dahingestellt; jedenfalls bewegte sich die französische Politik (und ähnlich die italienische) später genau auf dieser Linie. Bei Verhandlungen zwischen Oberst House und den Alliierten über die Frage des deutschen Waffenstillstands Ende Oktober 1918 verlangten die Europäer die beiden vorhin genannten Einschränkungen der 14 Punkte hinsichtlich der Freiheit der Meere und der Reparationen. Wie bedeutend diese Dinge waren, ergibt sich aus dem Umstand, daß House und Wilson deswegen mit einem amerikanischen Sonderfrieden drohten. Lloyd George konnte das gelassen zurückweisen, denn wenn die USA sich von ihren Assoziierten trennten und diese den Krieg allein weiterführten, gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder vermochte Deutschland sich zu behaupten, dann blieb Rußland unter deutschem Einfluß, was Wilson nicht wünschte; oder die Alliierten errangen den Sieg und konnten dann erst recht tun, was sie wollten, und das wünschte Wilson ebensowenig. So versuchte Wilson, die ärgsten Auswüchse zu verhindern und wenigstens den Völkerbund unter Dach und Fach zu bringen, auch wenn sich mehr und mehr herausstellte, daß er an der Nase herumgeführt wurde. Was die Freiheit der Meere betrifft, so hing sie aufs engste mit der Wirkungsweise des Völkerbunds zusammen. Wilson dachte zwar nicht daran, im Anschluß an den Waffenstillstand auch die Blockade aufzuheben, da er den Mittelmächten keine Gelegenheit geben wollte, sich noch einmal zu erholen und am Ende den Krieg bis zu einem Unentschieden hinzuziehen. Dennoch sollte zumindest Deutschland in einem Zustand erhalten werden, der es zu einem wertvollen Mitglied des Völkerbunds machte und diesen instand setzte, seine vorgesehenen Aufgaben zu erfüllen. Eine organisierte Staatengemeinschaft zur Sicherung des Weltfriedens konnte vollständig nur sein, wenn sie weltweit war, und in diesem Fall gehörten Fragen des Seeverkehrs zu ihren wichtigsten Angelegenheiten. Dies bezog sich nicht nur darauf, daß in einem Zeitalter weltweiter Wirtschafts verflechtungen kaum ein Land ohne nennenswerten Seehandel auskam, sondern es bezog sich vor allem auch darauf, daß militärische Seemacht ein herausragendes Mittel zur Ausübung von politischem Einfluß, zur Erhaltung oder Geflihrdung des Friedens darstellte. Hier lag eine Schwachstelle in Wilsons Völkerbundsplan, denn die USA beanspruchten eine Führungsrolle in der neuen Weltfriedensordnung, obwohl Britannien die stärkste Seemacht war. Nach der Grundidee des Völkerbunds sollten ja künftige Kriege verhindert werden, indem Friedensbrecher sich dem vereinten Widerstand aller übrigen ausgesetzt sahen. Dazu gehörte insbesondere, daß sie von ihren Seeverbindungen abgeschnitten, also blockiert wurden. Eine solche Aufgabe oblag den Seemächten, so daß diese gewissermaßen die Seepolizei des Völkerbunds geworden wären. Was geschah indes, wenn Britannien den Frieden gefährdete, z. B. wegen Kolonial- und Wirtschaftsfragen mit anderen Ländern in Streit geriet? Gestützt auf seine Flottenmacht konnte
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Britannien dann nach eigenem Ermessen Blockaden verhängen, Protektorate errichten, Stützpunkte besetzen und jeden zur See unterlegenen Gegner zum Nachgeben zwingen. Wilson hatte solche Dinge bedacht, denn im Zuge der Waffenstillstandsverhandlungen mit Deutschland wollte er die deutsche Flotte, sogar die U-Boote, vor dem britischen Zugriff bewahren, um mit Hilfe der deutschen Seemacht ein ausreichendes Gegengewicht zur britischen zu schaffen. Bei zukünftigen Streitigkeiten im Rahmen des Völkerbunds hätte dann die amerikanische Flotte im Verein mit der deutschen, gegebenenfalls unter Hinzutritt einer weiteren, dasjenige Machtmittel dargestellt, welches auch Britannien zur Räson bringen und es nachdrücklich an seine Friedenspflichten erinnern konnte. Das hieß nicht, daß Wilson wieder zum alten Gleichgewichtsdenken zurückkehren wollte. Selbstverständlich wünschte er nach wie vor die allgemeine Abrüstung, nur sollte sie eben allgemein und gleichmäßig sein. Wurde dagegen Britannien der deutschen Flotte habhaft, so wurde gewissermaßen eine einseitige Abrüstung vollzogen, die Britanniens Seeüberlegenheit umso unanfechtbarer machte und England den Führungsrang im Völkerbund verschaffte, jedenfalls in allen maritimen Angelegenheiten. Wenn Wilson von Britannien die Anerkennung der Freiheit der Meere verlangte, so wollte er die britische Seemacht in das gemeinsame Handeln des Völkerbunds einschließen, sie auf die Beschlüsse des Völkerbunds verpflichten und zu deren Werkzeug machen. Eine solche Lösung lehnte Lloyd George rundweg ab; die Alliierten teilten Wilson ausdrücklich mit, daß sie sich auf der Friedenskonferenz völlige Ungebundenheit in Hinblick auf die Freiheit der Meere vorbehielten. Da bis dahin die deutsche Flotte bereits in den Händen der Alliierten war, ließ sich leicht ausrechnen, wie Britannien die Freiheit der Meere auslegen würde. House und Wilson drohten zur Zeit der Waffenstillstandsverhandlungen, Amerika werde sich der britischen Seeherrschaft nicht unterwerfen, es werde eine größere Flotte bauen und größere Landstreitkräfte unterhalten als Britannien. In der Tat ließ Wilson seit Ende 1918 eine gewaltige Aufrüstung der amerikanischen Flotte anlaufen, die dann allerdings wieder versandete, weil sein Weltfriedensplan sowieso zusammenbrach. Diese Auseinandersetzungen machten aber jedenfalls deutlich, daß die britische Regierung nicht willens war, auf den amerikanischen Weltfriedensplan einzugehen. Britannien wünschte einen anderen Völkerbund als Wilson; es sollte ein Völkerbund sein, dem Deutschland höchstens in einem Zustand der Schwäche angehörte, ein Völkerbund, in welchem Britannien sich die Entscheidung über Seekriegsmaßnahmen selbst vorbehielt, ein Völkerbund, der von den europäischen Alliierten geprägt und geführt wurde - eigentlich ein Zerrbild von Wilsons Völkerbund. 76 Die andere Einschränkung der 14 Punkte bezog sich auf die Reparationen. Diese Frage muß in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Kriegsent76 Lloyd George im Kriegskabinett August 1918 nach Nelson, 47 f. (aus den Papieren des kanadischen Ministerpräsidenten Borden). Vgl. Lowe / Dockrill, Power III, 629 f. Zu den Waffenstillstandsverhandlungen House, Papers IV, 160, 178 ff. Lloyd George, Truth I, 74 ff. Parsons, 153 ff. Schwabe, Wilson-Frieden, 188, Anm. 57. Tillman, 67.
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schädigungen waren nach dem klassischen Völkerrecht und den herkömmlichen Gebräuchen durchaus üblich gewesen; auch Wilson hatte sie zugestehen wollen, allerdings für genau umrissene Zwecke und in begrenztem Umfang. Eine höchst einfache und elegante Lösung hätte es sein können, im Zuge der allgemeinen Abrüstung auf den Unterhalt kostspieliger Streitkräfte zu verzichten und die freiwerdenden Gelder teils zum Abtragen der Kriegsschulden und teils zum Wiederaufbau zerstörter Gebiete zu verwenden. Das hätte vorausgesetzt, daß die Alliierten auf Wilsons Weltfriedensplan eingegangen wären; doch eben dies wollten sie nicht. Mangelndes Vertrauen in die Wirksamkeit der allgemeinen Abrüstung und des Völkerbunds hat dabei sicher eine Rolle gespielt. Ob solches Mißtrauen berechtigt war, hätte man freilich nur wissen können, wenn man die Probe aufs Exempel gewagt hätte, und das ist nie geschehen. Statt dessen waren die Alliierten stets eifrig bemüht, die Grundlagen von Wilsons Weltfriedensgebäude zu unterhöhlen. Lloyd George hatte mit seiner Ankündigung eines diktierten Straffriedens den Weg gewiesen. Diese Absicht konnte an Wilsons Weltfriedensplan anknüpfen und wich doch in entscheidender Weise davon ab. Im herkömmlichen Völkerrecht bestand ein Spannungsverhältnis zwischen der Zulässigkeit des Krieges, auch des Angriffskrieges, und dem Geltungsanspruch dieses Rechts selbst, insbesondere der zwischenstaatlichen Verträge. Nach herkömmlicher Auffassung war das Völkerrecht nicht erzwingbar oder allenfalls durch den Krieg erzwingbar. Inwieweit das Völkerrecht zu tatsächlicher Wirksamkeit gelangte, hing demnach teils von politischen Zweckmäßigkeitserwägungen ab und teils von der wechselnden Überzeugungskraft der Waffen. Der völkerrechtswidrige Bruch der belgischen Neutralität beispielsweise konnte durch einen alliierten Sieg geheilt werden; dagegen blieb der ebenso völkerrechtswidrige Bruch ihrer Bündnisverträge durch Italien und Rußland weithin unvergolten. Die Welt der klassischen Gleichgewichtspolitik und der klassischen Souveränität war keine rechtlose Welt, aber ihre Grundlage bildete die einzelstaatliche Macht. Dieses Verhältnis suchte Wilson umzukehren. Es ging zuvörderst um die Frage, wie das Lebensrecht aller, jenseits ihrer tatsächlichen Macht, gesichert werden könne, und wie das Völkerrecht, namentlich internationale Verträge, haltbar und verläßlich zu machen waren. Sollte das Völkerrecht in jedem Fall durchsetzbar sein, auch für den Schwachen gegen den Starken, so mußte es über die Einzelstaaten hinaus eine mächtigere Gewalt geben, die jeden zur Einhaltung des Rechts zwingen konnte. Wilson sah die Lösung in der Errichtung eines Bundes der Völker, welcher alle Staaten, also alle Völkerrechtssubjekte, zusammenschloß zu dem Zweck, ihre vereinigte Gewalt, d. h. ihre vereinigte Kriegsfähigkeit, für den Schutz des Rechtes aller einzusetzen. Die Grundlage einer solchen Welt wäre das Recht gewesen; die noch vorhandene Macht - durch Abrüstung im übrigen stark vermindert - hätte bloß das Mittel zur Erhaltung des Rechts dargestellt. Mit dem Schutz des weltweiten Rechtsfriedens hätte zugleich die Existenz aller Völker, auch der schwachen, gesichert und ein weltweiter Friedenszustand errichtet werden können. Deshalb hielt Wilson seit dem Jahr 1914 bis
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zur Völkerbundssatzung von 1919 unbeirrbar an dem Gedanken fest, zum Kern des Völkerbunds eine positive Garantieklausel zu machen, wodurch sich alle Bundesmitglieder verpflichteten, die territoriale Unversehrtheit und die bestehende politische Unabhängigkeit der anderen zu achten und gegen jeden äußeren Angriff aufrechtzuerhalten. Der Bund wäre so zu einer Art Überstaat geworden, der gewisse Dinge allgemeinverbindlich regelte, insofern also wie ein Gesetzgeber wirkte, und die Durchsetzung solcher Regeln, hauptsächlich über Gestalt und Erhaltung des Friedens, notfalls durch die Anwendung von Gewalt erzwang. Das Verfahren des Bundes wäre dasjenige einer Genossenschaft gewesen, die ihre Maßnahmen zu gesamter Hand ergreift; so wäre der Friedensbrecher, wie Wilson schon früh gesagt hatte, gemeinschaftlich bestraft worden. Dies sollte freilich ein Zustand sein, der erst nach Errichtung des Völkerbunds eintrat. 77 Den umgekehrten Weg gingen die Alliierten. Zur Grundlage der neuen Friedensordnung wollten sie nicht das Recht machen, sondern die Macht, und zwar ihre eigene. Wenn Lloyd George davon sprach, Deutschland habe durch die Entfesselung eines Angriffskriegs ein Verbrechen begangen und müsse dafür bestraft werden, so wollte er den Zustand nach Errichtung des Völkerbunds auf die Verhältnisse davor übertragen. Abgesehen davon, daß eine Bestrafung nach rückwirkenden Normen schlechterdings rechtswidrig ist, wurde hier in Wahrheit natürlich etwas ganz anderes beabsichtigt. Unter dem fadenscheinigen Deckmäntelchen eines angeblichen Rechtsfriedens sollten die Mittelmächte gedemütigt werden. Deswegen meinte Lloyd George bei derselben Gelegenheit, die Friedensbedingungen müßten gleichbedeutend sein mit einer Strafe. Wie dies zu verstehen war, deutete sich erstmals bei den Waffenstillstandsverhandlungen an, als die von den Alliierten verlangten, erhöhten Reparationspflichten Deutschlands mit dessen "aggression" begründet wurden. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem berüchtigten Artikel 231 des Versailler Diktats, Deutschland und seine Verbündeten seien verantwortlich für alle Schäden, welche den KriegS'gegnern entstanden seien aus dem durch eine "aggression" aufgezwungenen Krieg. Wilson blieb erfolglos mit seinem Versuch, diesen Kriegsschuldartikel wegzulassen. Er wußte ganz genau, daß die Mittelmächte jedenfalls nicht allein an dem Krieg schuld waren, und hatte das früher auch ausgesprochen. Aber darum ging es mittlerweile nicht mehr. Sondern die Alliierten wünschten eine Verknüpfung herzustellen zwischen der nachhaltigen Schwächung der Mittelmächte und ihrer unterstellten Schuld am Krieg; die Behandlung der Mittelmächte sollte als Strafe ausgegeben werden, um sie moralisch und rechtlich abzuwerten und so von vornherein in eine dienende Existenz am Rande der neuen Friedensordnung zu drängen. Als Schuldige am Krieg sollten sie behandelt werden wie Ausgestoßene, Geächtete, denen beim Aufbau der neuen Friedensordnung jedenfalls nicht die Rolle zugebilligt wurde, die Wilson ihnen einräumen wollte. 77 Die positive Garantieklausel in Art. 10 der Völkerbundssatzung, die dem Versailler Vertrag angeschlossen war. Reichsgesetzblatt 1919, 687 ff. Ferner Pfeil, Völkerbund. Northedge, League.
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Diesen Braten hat man in Deutschland bald gerochen. Nachdem das Auswärtige Amt schon Anfang November 1918 festgestellt hatte, die Kriegsschuldfrage werde bei den Friedensverhandlungen eine besondere Rolle spielen, schlug die Reichsregierung Ende November den Siegern die Einsetzung einer neutralen Untersuchungskommission vor, was jedoch von den Siegern sofort abgelehnt wurde mit der Begründung, die deutsche Verantwortung sei längst erwiesen. Außenminister Brockdorff-Rantzau meinte in einer Aufzeichnung vom 14. Januar 1919, noch vor Beginn der Friedenskonferenz, man müsse darauf vorbereitet sein, daß es zu Verhandlungen im eigentlichen Sinne überhaupt nicht komme, d. h. daß Deutschland kein gleichberechtigter Teilnehmer an einem allgemeinen Friedenskongreß sein werde, vielmehr die Sieger die Friedensbedingungen unter sich aushandeln würden. Eben dies war zu der Zeit schon so gut wie entschieden. Obwohl die Alliierten sich vor kurzem noch zu den 14 Punkten als Grundlage des Friedens bekannt hatten, ließ die französische Regierung am 29. November 1918 dem amerikanischen Präsidenten mitteilen, die f4 Vorschläge könnten keine Grundlage für die Arbeit der Friedenskonferenz und für die konkreten Regelungen abgeben. Außerdem wünschte Frankreich eine förmliche Vorkonferenz (Präliminärkonferenz) unter den Siegern, um die Hauptzüge des Friedens festzulegen; erst im Anschluß daran sollte ein allgemeiner Kongreß unter Teilnahme der Verlierer stattfinden, um ihnen die Bedingungen vorzulegen. Von allen Schlägen gegen Wilsons Weltfriedensplan war dieser wohl der härteste. Hier wurde unzweideutig erklärt, daß Frankreich auf die Besiegten keinerlei Rücksicht zu nehmen wünschte, daß es seine zukünftige Sicherheit nicht auf die Zusammenarbeit aller in einer Weltorganisation gründen wollte, sondern auf bloßen Machtgewinn, daß es ebenso wie Britannien die amerikanische Führung bei den Friedensverhandlungen und in der neuen Friedensordnung zurückwies, um statt dessen, ähnlich wie Britannien seine Seehegemonie behielt, auf dem europäischen Kontinent eine Landhegemonie zu errichten. Damit war der Wendepunkt erreicht. Hatte Wilson ursprünglich geplant, den Völkerbund aus einem allgemeinen Friedenskongreß hervorgehen zu lassen, so fand er sich ab Dezember 1918 bereit, die Mittelmächte zunächst weder zur Friedenskonferenz noch zum Völkerbund zuzulassen. Daß Frankreich den gemeinsamen Kampf Wilsons und der Mittelmächte um die 14 Punkte auf einem allgemeinen Kongreß nicht wünschen konnte, lag auf der Hand; deswegen verlangte es eine Vorkonferenz. Wenn Wilson auf einem allgemeinen Kongreß bestand, mußte er befürchten, daß die Alliierten notfalls ohne ihn handelten. Anfang Dezember hielten sie in der Tat bereits ein Treffen ihrer Regierungschefs zur Vorberatung des Friedens ab. So ließ Wilson eine Präliminarkonferenz ohne die Besiegten zu, welche die Völkerbundssatzung und die Friedensbedingungen ausarbeitete. Vom allgemeinen Kongreß blieb nur der klägliche Rest übrig, daß die Besiegten sich anschließend schriftlich zu den Bedingungen äußern durften, die im Falle Deutschlands noch ein wenig gemildert und ansonsten in ultimativer Form zwangsweise zur Anerkennung gebracht wurden. 78
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Das Verfahren, die Vorkonferenz zur eigentlichen Friedenskonferenz zu machen, wäre immer noch erträglich gewesen, wenn der Wille zur Errichtung einer dauerhaften Ordnung die allgemeine Richtschnur gebildet hätte. Das war nicht der Fall. Clemenceau war seit 1919 davon überzeugt, daß Deutschland sich wieder erheben werde. Er zog daraus nicht den Schluß, sich mit dem geschlagenen Gegner zu versöhnen, sondern rief seine Landsleute zu dauernder Wachsamkeit auf, um Deutschland niederzuhalten, denn das Leben sei ein beständiger Kampf. Man dürfe Deutschland nicht zeigen, daß man es fürchte. In der französischen Abgeordnetenkammer gab er zu, der Vertrag bringe Frankreich Bürden, Kümmernisse, Not, Schwierigkeiten, und dies werde lange Jahre dauern. Auf den Gedanken, daß man solche Unerfreulichkeiten auch vermeiden könne, scheint er nicht gekommen zu sein. Dies war die kurzsichtige Politik eines Landes, das sich aus eigener Kraft nur noch mühsam unter den Großmächten behaupten konnte und die Gunst der Stunde nutzte, um sich auf Kosten des geschlagenen Gegners noch einmal den Anschein der Großartigkeit zu erschleichen. Die überlegene Bevölkerungszahl Deutschlands und seine stärkere Wirtschaftskraft sollten vermindert und zum Teil in den Dienst Frankreichs gestellt werden, indem das ganze linke Rheinufer abgetrennt, eine gewaltige Kriegsentschädigung verlangt, die deutsche Wehrfahigkeit schwerwiegend beschnitten, der Anschluß Österreichs untersagt und schließlich den neuen ostmitteleuropäischen ~taaten zu Lasten deutscher Bevölkerungsteile ein Stärkezuwachs verschafft '" urde. Gewiß vermochte man sich darauf hinauszureden, dies sei erforderlich, um die Sicherheit Frankreichs zu gewährleisten. Aber wäre diese Sicherheit auf anderem Weg nicht viel nachhaltiger und dauerhafter zu erreichen gewesen? Gemäß der Völkerbundssatzung hätte für andere Länder, insbesondere England und Amerika, die Verpflichtung bestanden, Frankreich bei einem Angriff zu Hilfe zu kommen. Zu der Auffassung, daß der Völkerbund die bisherige Sicherheits- und Bündnispolitik ersetzen könne, mochte man sich in Paris offenbar nie durchringen. Als im März 1919 Lloyd George und Wilson versuchten, Clemenceau von der Errichtung eines linksrheinischen Pufferstaates abzubringen, machte der britische Premier den Vorschlag, Frankreich zur Befriedigung seines Sicherheitsbedürfnisses Beistandsverträge mit den USA und England abschließen zu lassen, was Clemenceau schließlich annahm. Die vorgesehenen Beistandsverträge enthielten zwar nicht genau dasselbe wie die Völkerbundssatzung, weil letztere lediglich den territorialen Bestand Frankreichs - wie aller anderen Bundesmitglieder - garantierte, während die Beistandsverträge sich darauf bezogen, daß Deutschland die geplante Entmilitarisierung des Rheinlands verletzte. Trotzdem fällt es schwer, der Logik solcher Überlegungen zu folgen. Soweit der Völkerbund ebenso wie die Beistandsverträge zugunsten Frankreichs eine vertragliche Unter78 Zur Entstehung des Kriegsschuldartikels Schwengler, 71 ff., 116 ff., 138 f. Lentin, Guilt. Dickmann. Schwabe, Wilson-Frieden, 505. Brockdorff-Rantzau in ADAP, Sero A, Bd. 1, 184 f. Die Note der französischen Regierung vom 29.11.1918 in FRUS, Paris Peace Conference 1919, Bd. I, 365 ff. Zu Wilson Schwabe, Wilson-Frieden, 176,312 ff.
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stützungspflicht durch andere Mächte gegen einen deutschen Angriff vorsahen, war offenbar eines von beiden überflüssig. Soweit Frankreich durch die Beistandsverträge über den Schutz seines Gebiets hinaus noch mehr erreichen wollte, erhöhte es seine Sicherheit nicht, sondern verminderte sie in Wahrheit. Gewiß konnte man sich zu jener Zeit bereits auf den Standpunkt stellen, daß der Völkerbund sowieso nicht viel tauge. Lansing umschrieb dies mit den Worten, der Bund, der ursprünglich den einen großen Zweck hatte, künftige Kriege zu verhindern, sei schon jetzt nahe an der Bedeutungslosigkeit angelangt. Nur befand man sich mit der Geringschätzung des Völkerbunds in zweierlei Hinsicht auf dem Holzweg. Erstens war der Bund deswegen von seiner stolzen Höhe herabgesunken, weil die Alliierten seit langem jede tragfähige Friedensregelung hintertrieben hatten. Lansing meinte dazu im Mai 1919, durch den Einfluß und die Intrigen ehrgeiziger Staatsmänner der alten Welt sei an die Stelle des Idealismus die offene Anerkennung des Grundsatzes getreten, daß Gewalt und Selbstsucht die maßgebenden Faktoren der internationalen Zusammenarbeit seien. Diesem Rückfall in den zynischen Materialismus sei der Völkerbund erlegen. Zweitens enthielt die Rechnung mit den Beistandsverträgen, abgesehen von ihren taktischen Hintergründen, schwerwiegende Denkfehler. Wenn der Völkerbund nichts taugte, dann war nicht einzusehen, wieso die Beistandsverträge mehr taugen sollten. Zweifellos gab es in den USA Widerstände gegen die Verwicklung des Landes in außeramerikanische Streitigkeiten. Solche Widerstände waren noch angewachsen, seitdem Wilsons Demokratische Partei im November 1918 die Kongreßwahlen verloren hatte und der Senat, welcher auswärtigen Verträgen mit 2/3 Mehrheit zustimmen mußte, einen schwer zu kalkulierenden Unsicherheitsfaktor darstellte. Dies galt indes für den Beistandsvertrag nicht weniger, sondern eher mehr als für den Völkerbund. Der Völkerbund im Sinne Wilsons hätte die USA immerhin zur Weltführungsmacht aufsteigen lassen und bei einem erträglichen Frieden die Gefahr späterer Zusammenstöße, damit auch der Verwicklung Amerikas in europäische Angelegenheiten, erheblich vermindert. Dagegen sollte der Garantievertrag nur dazu dienen, Amerika für die Sicherung von Frankreichs Großmachtehrgeiz einzuspannen und so erst recht in europäische Streitigkeiten einzubeziehen. Welchem von beiden würde der amerikanische Senat lieber zustimmen? Wie die Dinge lagen, hat er dann sowohl den Beistandsvertrag als auch den verwässerten Völkerbund verworfen, und den rheinischen Pufferstaat bekam Frankreich ebenfalls nicht. Für seine Sicherheit hätte Frankreich wohl erheblich mehr gewinnen können, wenn es Wilsons Ringen um eine tragfähige Weltfriedensordnung unterstützt hätte. 79 Dieser Weg wurde nicht beschritten, sondern die Alliierten behandelten die Mittelmächte wie Geächtete, über die man zu Gericht saß. Anfang Dezember 79 Zu Clemenceau dessen Reden: Discours de Paix, 1938,207 f., 216 f. Vgl. Watson, 360 ff. Ferner Rößler, 241 f. und passim. Zu den französischen Beistandsverträgen Nelson, 219 ff. Walworth, Peacemakers, 321 ff. Hierzu und über den Völkerbund ferner Lansing, 108 f., 110, 133 ff.
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1918 kamen die Ministerpräsidenten der Alliierten überein, sowohl Kriegsentschädigungen in großem Umfang zu verlangen als auch den ehemaligen deutschen Kaiser Wilhelm 11., der damals bereits in Holland im Exil lebte, sowie seine Hauptmittäter wegen der Entfesselung des Krieges und wegen wirklicher oder angeblicher Kriegsverbrechen gerichtlich abzuurteilen. Obwohl zwischen beiden Dingen sachlich und rechtlich keine zwingende Verbindung bestand, war das Zusammentreffen nicht zufällig. Beides zielte darauf ab, die geschlagenen Kriegsgegner nicht in eine neue Friedens- und Verständigungsgemeinschaft aufzunehmen, vielmehr sie, wie Lloyd George angekündigt hatte, zu bestrafen, teils materiell durch Zahlungen (und andere harte Bedingungen), teils ideell durch ihre moralische und rechtliche Verurteilung. Beides richtete sich ebensosehr gegen Wilsons Weltfriedensplan wie gegen die Mittelmächte. Bei einer Verwirklichung von Wilsons Plan wäre den USA die wirtschaftliche Führung der Welt im Zeichen der "offenen Tür" von selbst zugefallen, und nicht minder die geistige, moralische und diplomatische. Die USA wären es dann gewesen, die den Krieg entschieden, einen haltbaren Frieden errichtet, allen Völkern ihr Lebensrecht gesichert und das gemeinsame Wohlergehen gefördert hätten. In einer solchen Friedensordnung hätte Deutschland alsbald einen Platz eingenommen, der denjenigen vor dem Krieg leicht noch übertreffen konnte: als zweitstärkste Wirtschaftsrnacht der Welt, stärkste in Europa, den USA eng verbunden, die es vor dem Vernichtungswillen seiner Gegner gerettet und seinem Wirtschaftswachstum die Reichtümer und Märkte der Welt geöffnet hätten, Britannien wie Frankreich überlegen, zudem stets geneigt, im wohlverstandenen Eigeninteresse der amerikanischen Vormacht zu folgen und sie zu unterstützen. Auf alle wilhelminischen Pläne, in Europa die Führung zu gewinnen oder einen Kontinentalblock zu errichten, konnte man dann leichten Herzens verzichten. Erstens wären sie durch das Verbot von Sonderbündeleien und wirtschaftlichen Sonderzusammenschlüssen sowieso unmöglich gewesen, zweitens wäre im Zeichen der allgemeinen Abrüstung und der wechselseitigen Garantie durch den Völkerbund jede äußere Bedrohung, insbesondere durch überlegene Gegnerkoalitionen, weggefallen, also die Sicherung hiergegen überflüssig geworden, und drittens hätten einer wirtschaftlichen Durchdringung Osteuropas ohnehin alle Türen offengestanden. Im Windschatten Amerikas konnte Deutschland so von selbst zu einer hervorragenden Stellung gelangen, sozusagen die Vizehegemonialmacht für Europa werden. Dafür hatten nun freilich die europäischen Alliierten den Krieg nicht geführt. Wenn Frankreich schon im Krieg das linke Rheinufer, Britannien die deutschen Kolonien gewinnen wollte, wenn beide die asiatische Türkei mit ihren Bodenschätzen unter sich aufteilten, wenn sie auf der Pariser Wirtschaftskonferenz des Jahres 1916 eine Beschneidung des deutschen Handels auch nach dem Krieg in Aussicht nahmen, dann war es für sie schwer vorstellbar, sich einer Friedensordnung zu beugen, die sie wirtschaftlich wie politisch ins zweite Glied verwies. Bei einem Wilson-Frieden wären nicht sie, sondern die USA der eigentliche Gewinner gewesen, und auch in Europa hätten sie angesichts des amerikanischen 9 Rauh, Zweiter Weltkrieg I. Teil
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und deutschen Übergewichts nicht mehr viel zu melden gehabt. Der australische Ministerpräsident Hughes sprach dem britischen Kriegskabinett aus der Seele, wenn er dort Ende 1918 sagte, es sei unerträglich, daß Wilson dem britischen Empire diktieren wolle, wie die Welt regiert werden müsse. Es kam hinzu, daß bei einem Wilson-Frieden, trotz aller propagandistischen Beteuerungen über die Kriegsschuld der preußischen Autokratie, weniger diese als vielmehr die alte Macht- und Gleichgewichtspolitik auf der Strecke geblieben wäre, für welche die Alliierten solch ungeheure Opfer auf sich genommen hatten. Die Alliierten hätten dann um so mehr ihren Vorrang in den europäischen Angelegenheiten eingebüßt, als sie für eine untaugliche, mittlerweile überwundene Vorstellung gekämpft hatten, während die USA als der strahlende Vertreter eines besseren Prinzips dastanden. Ein Wilson-Friede untergrub nicht nur die herkömmliche Großmachtstellung der europäischen Alliierten, indem er sie der amerikanischen Führung unterwarf, sondern er stellte sie auch moralisch ins Zwielicht, indem er ihren Anspruch bestritt, für eine tragfähige Grundlage der internationalen Beziehungen gekämpft zu haben. 80 Der Ausweg, den die Alliierten fanden, war die Bestrafung der Mittelmächte. Durch die Bestrafung setzten sie sich selbst ins Recht, behaupteten die Vorhand in den europäischen Angelegenheiten, befriedigten ihr Machtstreben und liefen Wilson den Rang ab als Gestalter der Staatenverhältnisse. Voraussetzung für die Bestrafung war eine Schuld, und wo sie nicht vorhanden war, mußte sie konstruiert werden. Diese Schuld sollte in dreierlei bestehen: der Entfesselung eines Angriffskriegs durch Deutschland, der Verletzung der belgischen Neutralität und den Verstößen gegen das geltende Kriegsrecht, also den Kriegsverbrechen im eigentlichen Sinn. Als Verantwortliche sollten gemäß den britischen und französischen Absichten der Kaiser sowie die politische und militärische Führung vor einem Gericht der Sieger angeklagt werden. Hierzu läßt sich mehreres bemerken. Erstens stellte nach geltendem Völkerrecht weder der Angriffskrieg noch der Bruch von Verträgen einen Straftatbestand dar, konnte also auch nicht abgeurteilt werden. Das Verbot rückwirkender Strafgesetze gehört zu den Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtskultur überhaupt, andernfalls schwände jede Rechtssicherheit. Die Alliierten stellten sich demgegenüber auf den Standpunkt, das Rechtsempfinden verlange eine Bestrafung und sie seien, als Sieger, zur Setzung neuen Rechts befugt. Läßt man sich auf diese höchst windige Begründung einmal ein, so könnte daraus nur folgen, daß rückwirkend jeder Angriffskrieg zu verurteilen war, andernfalls liefe die Sache darauf hinaus, daß derselbe Sachverhalt nur bei manchen Ländern rechtswidrig war, bei anderen aber nicht. Wenn Italien und Rumänien unter Bruch bestehender Verträge, ohne bedroht oder herausgefordert zu sein und nur zum Zweck des Gebietserwerbs den Krieg eröffneten, so stellte auch das einen Angriff dar, der ebenso strafbar war; und 80 Zur interalliierten Konferenz Anfang Dezember 1918 Lloyd George, Truth I, 131 ff., 483 ff. Zu Hughes a. a. O. 194 ff.
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selbst in anderen Fällen konnte eine entsprechende Überlegung zumindest angestellt werden. An eine Bestrafung von Alliierten dachte man natürlich nicht, und damit entpuppt sich das Unternehmen als das, was es war: ein Versuch zur vorsätzlichen, böswilligen Rechtsbeugung, der manche Länder unter Sonderbestimmungen stellte. Zweitens wurde hier die schwierige Frage nach der Ahndung von Kriegsverbrechen aufgeworfen. Nach klassischem Brauch ging jeder Friedensschluß zwischen souveränen Staaten mit einer Amnestie einher, die das strafrechtliche Verfolgen von Rechtswidrigkeiten im Krieg ausschloß. Lediglich eigene Staatsangehörige und Kriegsgefangene konnten wegen Kriegsverbrechen belangt werden. Im Ersten Weltkrieg waren zweifellos Rechtswidrigkeiten vorgekommen, wie das im Krieg auf allen Seiten häufig zu geschehen pflegt. Eine Möglichkeit bestand darin, im Zuge des herkömmlichen "friedewirkenden Vergessens" (Oblivion) auf ihre Verfolgung zu verzichten. Eine andere Möglichkeit war immerhin erwägenswert, wenn mit dem Völkerbund eine weltweite Rechts- und Friedensgemeinschaft geschaffen werden sollte: nämlich eine an gemeinsamen Richtlinien orientierte Bestrafung von Kriegsverbrechen in allen Ländern. Eben dies geschah natürlich nicht, denn andernfalls hätte z. B. die Frage aufgeworfen werden können, wie völkerrechtswidrig die britische Blockade war. Vielmehr sollte die Verfolgung nur gegenüber den Verlierern, speziell gegenüber Deutschland, stattfinden, und auch dies nur vor einem Gericht der Sieger. Wiederum war es nicht um die Herstellung und Sicherung eines allgemein verbindlichen Rechts zu tun, sondern um Ausnahmebestimmungen. Drittens gingen alle Vorwürfe über die Kriegsschuld von der simplen und unstrittigen Tatsache aus, daß die Mittelmächte die ersten Kriegserklärungen ausgesprochen hatten. Warum sie das getan hatten, wurde geflissentlich unterschlagen und jede sorgfältige Erörterung unterbunden, obwohl die deutsche Delegation in Versailles im Mai 1919 entscheidende Punkte hervorhob, die bei den Verhandlungen der Sieger bis dahin verschwiegen worden waren, nämlich die russische Mobilmachung und das Fehlen einer hemmenden Einwirkung auf Petersburg durch England und Frankreich. Die Sieger wünschten keine sorgfältige ErgTÜndung der Wahrheit, sondern eine auf Halbwahrheiten und bloße Unterstellungen gegründete Verurteilung der Besiegten. Man gewinnt den Verdacht, daß dies nicht nur geschah, um einen Rechtfertigungsgrund für die Unterwerfung der Besiegten zu schaffen, sondern auch, um den eigenen Anteil am Kriegsausbruch zu verschleiern. Jedenfalls verlangte Frankreich schon im November 1918, lange vor dem Versailler Kriegsschuldartikel, daß Deutschland in förmlicher Weise die Verantwortung seiner Regierung für den Kriegsausbruch anerkenne. Das war sozusagen ein erzwungenes Geständnis - ein Hohn auf jede geregelte Rechtsprechung. Mit solcherlei Verfahrensweisen ließ sich jedoch das erreichen, was die Alliierten anstrebten. Wenn Deutschland eine Art gemeingefährlicher Verbrecher war, dann mußte man sich vor ihm schützen, namentlich durch harte Friedensbedingungen, dann stand die moralische und diplomatische Führung in 9*
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der neuen Friedensordnung den Alliierten zu, nicht Wilson mit seinem weichlichen Verständigungskurs, und dann konnte man Wilsons Friedensplan mit seinen Gedanken über Abrüstung, gleiche Handelsbedingungen, Freiheit der Meere, offene Diplomatie usf. weitgehend zuschanden machen. 81 Kampflos hat Wilson all dies nicht hingenommen, aber damit die Friedenskonferenz nicht platzte und Europa nicht vollends in seinen Zwistigkeiten versank, hat er sich doch zusehends auf den Weg drängen lassen, die Forderungen und Beschuldigungen der Alliierten gegenüber den Mittelmächten zu übernehmen und diesen die Rolle des Sündenbocks aufzunötigen. Hatten die Amerikaner sich anfangs standhaft geweigert, eine gerichtliche Abstrafung deutscher Führungspersönlichkeiten durch die Sieger gutzuheißen, weil dies dem geltenden Recht zuwiderlaufe, so fanden sie sich schließlich damit ab, den Kaiser wegen eines Anschlags auf das internationale Sittengesetz und andere Personen wegen ihrer Verantwortung für Kriegsrechtsverletzungen vor Siegergerichten anklagen zu lassen. Beides kam später nicht zustande, weil Holland und Deutschland die Auslieferung der Beschuldigten verweigerten. Trotzdem war der Bruch mit dem klassischen Souveränitätsbegriff und dem herkömmlichen Völkerrecht nun vollzogen, und zwar in einer Weise, die über die ursprünglichen Absichten Wilsons noch hinausging. Die Völkerbundssatzung sah, neben der positiven Garantieklausel für die Sicherheit der Mitglieder, obligatorische Schiedsgerichts- und Schlichtungsverfahren in allen rechtlichen und sonstigen Streitfragen vor. Der Krieg war nicht schlechterdings verboten, aber die zulässigen Möglichkeiten so eng begrenzt, daß sie praktisch kaum noch zu entdecken waren, zumal jeder Krieg und jede Kriegsdrohung zur Angelegenheit des ganzen Bundes erklärt wurde. Hatte es früher in der freien Entscheidung jedes Landes gelegen, ob und wann es Krieg führen wollte, so wurde dieses Merkmal der klassischen Souveränität nun so gut wie beseitigt; der Völkerbund wäre, wenn er denn funktioniert hätte, tatsächlich eine Einrichtung zur Verhinderung des Krieges geworden. Die Alliierten überboten dieses Ziel noch, indem sie den Mittelmächten, speziell Deutschland, gleichsam rückwirkend die Souveränität absprachen. Der freie Entschluß zum Krieg sollte schon 1914 nicht mehr gegolten haben, weswegen der Kaiser für einen juristisch nicht definierten Sachverhalt ("Sittengesetz") einseitig anzuklagen und parteilich, vor einem Siegergericht, abzuurteilen war. In ähnlicher Weise wurde die klassische Souveränität durch das Verlangen der Sieger unterlaufen, die für die Kriegführung sowie die unterstellte Rechtswidrigkeit der Kriegführung Verantwortlichen den Siegern zur Aburteilung auszuliefern. Der Vatikan, der sich schon 1917 um einen Verständigungsfrieden bemüht hatte, bezeichnete dies als ein gehässiges, unmenschliches Ansinnen, dem Jede Berechtigung fehle, solange nicht Kriegsrechtsverstöße aller Kriegführenden verfolgt würden. Unerhört war vor allem der Eingriff des Auslands in die deutsche Gerichtshoheit, 81 Zu den Schuldfragen Schwengler, 80 ff., 186 f. und passim. Zu Frankreichs Verlangen einer Schuldanerkenntnis die Note vom 29.11.1918, FRUS, Paris Peace Conference 1919, Bd. I, 369.
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welcher die herkömmliche Zuständigkeit der Staatsgewalt zur Ahndung von Rechtswidrigkeiten eigener Staatsangehöriger vor eigenen Gerichten durchbrach. Daß die einschlägigen Strafverfahren vor Siegergerichten dann gar nicht zustande kamen, ist dabei unerheblich; wichtig ist vielmehr der Umstand, daß das, was hier entstand, die Pervertierung einer an sich richtigen Idee darstellte, daß ein Recht der Ehrabschneidung, der Einseitigkeit und Vergewaltigung geschaffen wurde, welches die Mittelmächte unter die Vorherrschaft der Alliierten zwingen und diese Vorherrschaft durch Einschüchterung oder Abschreckung befestigen sollte. Den Alliierten ging es in Wahrheit nicht darum, die allgemeine Einschränkung der alten Souveränität, wie sie der Völkerbund nach sich ziehen konnte, zu verwirklichen, sondern eine einseitige Souveränitätsverkürzung der Mittelmächte. Dabei kam noch einmal das alte Trauma der europäischen Westmächte vor einem Umsturz des europäischen Gleichgewichts durch eine deutsch-russische Verbindung zum Tragen. Als im Frühjahr 1919 darüber debattiert wurde, wie Deutschland gegen eine Verbrüderung mit dem Bolschewismus gefeit werden könne, schlug der Sekretär des britischen Kriegskabinetts, Hankey, unter anderem vor, das deutsche Volk mit der Ungeheuerlichkeit seiner Verbrechen zu beeindrucken. Der ebenso propagandistische wie unwahrhaftige Charakter aller Schuldvorwürfe wurde hier offenkundig. Nicht die Schaffung einer allgemein verbindlichen Rechtsgrundlage für das friedliche Zusammenleben der Völker war das Ziel, sondern eine "Bestrafung" Deutschlands für die kaiserliche Weltpolitik und die Statuierung eines Exempels, daß Deutschland ja nicht noch einmal versuche, mit Rußland anzubändeln. So sollte der Friede auf der Schwäche der Mittelmächte und Rußlands aufgebaut werden, auf der Errichtung eines Sperriegels neuer Staaten zwischen Rußland und Deutschland, auf einem künstlich verzerrten Gleichgewicht in Europa, das den Mittelmächten, namentlich Deutschland, besondere Opfer und Souveränitätseinbußen auferlegte, um die Überlegenheit der Alliierten unanfechtbar zu machen und den Geschlagenen den Rückweg zu ihrem früheren politischen Verhalten zu verlegen. 82 Von den Souveränitätseinbußen wurden alle Besiegten in der Weise betroffen, daß in ihre Wehrhoheit eingegriffen und ihre Wehrfähigkeit einschneidend vermindert wurde. Deutschland, die Türkei, Bulgarien sowie die aus der Erbmasse der Donaumonarchie hervorgegangenen Staaten Deutschösterreich und Ungarn, die gleichsam stellvertretend für die Donaumonarchie die Folgen der Niederlage zu erdulden hatten - sie alle mußten sich eine schwerwiegende Verringerung ihrer Streitkräfte gefallen lassen, teils auf etliche zehntausend Mann, teils auf ein Heer von 100000 Berufssoldaten ohne schwere Waffen in Deutschland; allenfalls eine Art Grenzschutz. Die Entwaffnung der Mittelmächte wurde, um Wilson entgegenzukommen, als Beginn einer allgemeinen Abrüstung ausgege82 Die Strafbestimmungen des Versailler Vertrags in Art. 227 ff. Zur Haltung des Vatikan Schwengler, 284. Hankey nach Jaffe, 199.
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ben, die dann freilich, wenn überhaupt, nur höchst unvollkommen stattfand. Als Souveränitätseinbuße wären die Entwaffnung und ihre Folgewirkungen unbeachtlieh gewesen, wenn sie auf Grund freier Vereinbarung alle in derselben Weise getroffen hätten; als einseitige Wehrlosmachung lieferte sie indes die Betroffenen der Übermacht ihrer Nachbarn aus und stellte sie damit im außenpolitischen Geschäft auf eine Stufe der Erpressbarkeit. Eine weitere Beschneidung der Souveränität war, jedenfalls bei Deutschland, mit den Reparationen verbunden, die ansonsten alle Verlierer zu tragen hatten. Die erzwungene Anerkenntnis der deutschen Kriegsschuld, von Frankreich bereits im Herbst 1918 gefordert, leitete im Versailler Vertrag nun die Reparationsbestimmungen ein und gab ihnen damit ihr besonderes Gewicht. Wie hoch die Reparationen sein sollten, wurde auf der Pariser Konferenz gar nicht festgelegt; dies oblag vielmehr einer eigenen, nur von den Siegern beschickten Reparationskommission, die den technischen Ablauf der Reparationen zu steuern hatte. Gemäß der Lansing-Note wären die Zahlungen in der Hauptsache auf den Ersatz von Kriegsschäden, also Reparationen im eigentlichen Sinn, beschränkt gewesen; doch erfolgte auf der Konferenz eine Ausweitung des Reparationsbegriffs in das Gebiet der Kriegskosten hinein, indem auch staatliche Leistungen an Kriegsopfer (Pensionen, Familienunterstützungen) zu erstatten waren. Um die Durchführung der Vertragsbestimmungen, insbesondere der Reparationen, zu sichern, trat das linke Rheinufer in drei Zonen für fünf bis fünfzehn Jahre unter alliierte Besatzung; außerdem besaßen die Sieger das Recht, bei Nichterfüllen des Vertrags Maßnahmen zu ergreifen, welche sie für geboten erachteten. Angesichts der unbestimmten Höhe der Reparationen barg dies vielerlei Knebelungsmöglichkeiten in sich; wurden die Reparationen in unerträglicher Höhe angesetzt und stellte die Reparationskommission Nichterfüllung fest, so konnte beispielsweise zur Besetzung deutscher Gebietsteile geschritten werden. Der englische Wirtschaftssachverständige Keynes bezifferte die mögliche Reparationssumme, sofern nur Kriegsschäden etwa im Sinn der Lansing-Note vergütet wurden, auf ungefahr 40 Milliarden Mark. Da auf der Konferenz bereits mit wesentlich höheren Zahlen gearbeitet wurde, bot die deutsche Friedensdelegation 100 Milliarden Mark an in der Hoffnung, daß wirtschaftlich wichtige Gebiete wie Oberschlesien, das Saarland und Danzig beim Reich blieben und die wirtschaftliche Entfaltung Deutschlands nicht behindert werde. All dies geschah nicht, vielmehr traten Danzig sowie - für fünfzehn Jahre das Saargebiet unter Völkerbundsaufsicht, von Oberschlesien mußte trotz günstiger Volksabstimmung das südliche Industrierevier an Polen abgetreten werden, Elsaß-Lothringen fiel ohnedies unter Verzicht auf eine Volksabstimmung an Frankreich. Die deutsche Wirtschaft wurde weiter geschädigt durch die Abtretung der Handelsflotte und die schon im Waffenstillstand verfügte Ablieferung von Transportmaterial, durch die Enteignung des deutschen Auslandsvermögens, durch handelspolitische Beschränkungen wie die auf fünf Jahre befristete einseitige Meistbegünstigung, d. h. die Erleichterung der Einfuhr aus den Siegerstaaten. 83
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Die anderen Verlierer trafen ähnlich drückende Bestimmungen. Deutschösterreich und Ungarn, aus dem wirtschaftlichen Zusammenhang der Donaumonarchie herausgerissen, verloren erhebliche Bevölkerungsbestandteile an ihre Nachbarn, so Österreich das deutschsprachige Südtirol an Italien. Das Verbot eines Anschlusses Österreichs an Deutschland wurde in den betreffenden Friedensverträgen festgehalten. Bulgarien büßte den Zugang zur Agäis ein und verschmerzte die Trennung von starken bulgarischen Minderheiten in Mazedonien, Rumänien und Griechenland nur schwer. Die Türkei wurde völlig amputiert; außer den arabischen Gebieten, die als Völkerbundsmandate an England und Frankreich gingen, verlor sie kleinasiatische Küstenstriche an Griechenland und die Meerengen mit der alten Hauptstadt Konstantinopel an eine alliierte Aufsicht. Eine nationaltürkische Revolution und ein Befreiungskrieg gegen Griechenland machten den ursprünglichen Friedensvertrag unwirksam und zogen übrigens auch den Sturz Lloyd Georges nach sich. Mit dem Frieden von Lausanne (24.7.1923) konnte sich eine erneuerte Türkei als unabhängiger und gefestigter Nationalstaat den Pariser Beschlüssen wieder entziehen. Die Brüchigkeit der neuen Friedensordnung wurde hier bereits deutlich. Wilsons Prophezeiung, ein Frieden der Siegerwillkür werde bald hinweggefegt werden, begann sich schon jetzt zu erfüllen. Sie erfüllte sich auch in seinem eigenen Land. Daß es im amerikanischen Senat Widerstand gegen weitgehende außenpolitische Verpflichtungen der USA geben würde, war von vornherein klar gewesen. Wilson hatte ihn zu unterlaufen getrachtet, indem er den Völkerbund möglichst schnell auf die Beine stellte und seine Satzung mit dem Friedensvertrag verkoppelte, um dem Senat die Ablehnung zu erschweren. Das Verfahren hätte funktionieren können, wenn auf der Friedenskonferenz wirklich eine brauchbare Lösung der weltweiten Probleme gefunden worden wäre. Führende Vertreter der innenpolitischen Widersacher Wilsons, der Republikaner, standen dem Gedanken des Völkerbunds aufgeschlossen gegenüber. Einer von ihnen, der frühere Außenminister und Friedensnobelpreisträger Root, war noch im März 1919 bereit, dem Völkerbund unter bestimmten Voraussetzungen zuzustimmen, wozu insbesondere eine wirksame Überwachung der allgemeinen Abrüstung gehörte sowie das Inkraftsetzen des Herzstücks des Völkerbunds, der positiven Garantieklausel, für eine Probezeit von fünf Jahren. Wenn der Völkerbund etwas taugte, konnte er dies innerhalb der fünf Jahre beweisen. Dazu kam es aber nicht; schon im Juni 1919 sprach Root sich für eine Ablehnung der positiven Garantieklausel aus. Für diese Schwenkung wird der Umstand nicht belanglos gewesen sein, daß unterdessen der Versailler Vertrag bekannt geworden war, welcher - wie Lansing gesagt hatte - den Sieg der alten europäischen Machtpolitik anzeigte und den Völkerbund entwertete. Root, der bei seinen Parteigenossen hohes Ansehen genoß, hatte maßgeblichen Einfluß auf die Entscheidung vieler von ihnen. 83 Zu den Versailler Bestimmungen Krüger, Reparationen. Haupts, Friedenspolitik. Steinmeyer, Deutschlandpolitik. Rößler, Versailles.
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Warum der amerikanische Senat den Versailler Vertrag und den Völkerbund schließlich verwarf, ist zwar bis heute umstritten. Man muß sich indes davor hüten, die Erklärung allzu vordergründig in inneramerikanischen Streitigkeiten oder in den Eigenschaften einzelner Personen zu suchen. Es ging um die Lösung von Sachfragen, und diese Sachfragen waren den Handelnden besser bewußt, als man später oft wahrhaben wollte. Beispielsweise lehnte Wilson es rundweg ab, die positive Garantieklausel dadurch verwässern zu lassen, daß ein amerikanisches Eingreifen nur mit Zustimmung des Kongresses möglich sei. Und dies mit gutem Grund, denn hier ging es um die entscheidende Frage, ob sich die USA der automatischen Beistandspflicht unterwarfen oder nicht. Wenn die automatische Beistandspflicht gültig sein sollte, dann mußte der Kongreß sich dem beugen und seine Zustimmung konnte allenfalls eine belanglose Formalität sein. Behielt jedoch der Kongreß seine Entscheidungsfreiheit, so war das Herzstück des Völkerbunds weitgehend zur Wirkungslosigkeit verdammt. Eine Souveränitätseinbuße wäre selbstverständlich auch von den USA verlangt worden; sie hätten sich aus internationalen Streitigkeiten nicht nach Belieben heraushalten können, sondern sie wären verpflichtet gewesen, wenn die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs auf ein Völkerbundsmitglied dies erforderlich machte, in den Krieg einzutreten. Genau hier lag der Haken. Ein Friede des Ausgleichs und der Versöhnung hätte spätere Kriege vielleicht nicht ganz unmöglich gemacht, aber ihre Wahrscheinlichkeit sehr vermindert. Ein Friede der Raffgier und Gewalt dagegen erzeugte nur zusätzliche Spannungen und machte die USA am Ende zum allgegenwärtigen Weltpolizisten, der fortwährend damit beschäftigt war, Unruhen niederzuschlagen. Der wohl entschiedenste Gegner des Völkerbunds, Senator Borah, der übrigens dem Präsidenten hohe Wertschätzung entgegenbrachte, zählte fast alles auf, was man gegen die Versailler Ordnung vorbringen konnte. Borah hielt die Formel vom Kampf der Alliierten gegen den preußischen Militarismus für bloßes Propagandagerede, hinter dem sich der Wunsch nach Machterweiterung verbarg. Borah meinte, die Errichtung eines sozialistischen Staates in Rußland gehe andere Länder nichts an; er beklagte den Ausschluß Deutschlands und Rußlands vom Völkerbund, hielt das Versailler Diktat für ein Musterbeispiel der Rachsucht, das nur die Verachtung der Alliierten für eine neue Form des Zusammenlebens bezeuge, und erwartete als Ergebnis des Vertrags nicht den Frieden, sondern den Krieg. Die Staatsmänner der Alliierten schätzte Borah so gering, daß er sich noch 1922 weigerte, an einem Empfang für Clemenceau teilzunehmen; statt dessen geißelte er die französische Reparationspolitik. Den Völkerbund erachtete Borah als Werkzeug der Sieger zur Niederhaltung der Besiegten. Von einer Teilnahme der USA am Völkerbund erwartete er nichts anderes, als daß Amerika für die Ziele der europäischen Alliierten eingespannt würde und fortwährend irgendwo militärisch einzugreifen habe, wie es in Rußland bereits geschehen war. Borah war sicher eine besonders kompromißlose Natur, aber viele seiner Ansichten wurden von anderen geteilt. Wie der amerikanische Senat entschieden hätte, wenn ein weniger belasteter und belastender Friede erreicht worden wäre,
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kann man nicht mit letzter Bestimmtheit sagen. Gewiß ist jedoch, daß die Gestalt des Friedens Wasser auf die Mühlen all derjenigen leitete, welche keine Veranlassung der USA sahen, sich für die Verderbtheit Europas in die Bresche zu werfen und zugunsten anderer zum Büttel der Weltpolitik zu machen. So verwarf der Senat im März 1920 den Versailler Vertrag einschließlich der Völkerbundssatzung, zwar nur knapp, doch endgültig. Wilson war nun wirklich gescheitert und eine tragfähige Weltfriedensordnung mit ihm. 84
5. Revisionspolitik Die Geschichte der Versailler Friedensordnung ist die Geschichte ihrer Unzulänglichkeit und ihres Zerfalls. Die Revolution der internationalen Beziehungen, wie Wilson sie erstrebt hatte, kam über schwache Anfänge nicht hinaus; der Völkerbund wurde nicht ein Bund zur Erzwingung des Friedens, sondern eine Art Dekorationsstück, welches der Fortdauer der alten Machtpolitik nur übergestülpt wurde. Mit den USA und Rußland waren die beiden potentiell stärksten Weltmächte im Bund nicht vertreten, und damit konnte er naturgemäß keine besondere Bedeutung gewinnen. Das eigentliche Problem der mißglückten Versailler Ordnung ist zunächst nicht die Tatsache, daß die Verlierer ungerecht behandelt wurden und manche anderen sich ungerecht behandelt fühlten. Sondern die Versailler Ordnung siechte von Geburt an dahin, weil sie keinen folgerichtig durchgehaltenen Konstruktionsgedanken aufwies. Wenn die Zeit des klassischen europäischen Gleichgewichts vorüber war, wie man angesichts des Aufstiegs neuer, nichteuropäischer Großmächte und angesichts der überragenden Stärke der USA billigerweise unterstellen durfte, dann gab es nur zwei Möglichkeiten, die weltweiten Staatenbeziehungen neu zu regeln: entweder gemäß dem alten Gleichgewichtsdenken als Weltgleichgewicht, oder gemäß einem neuen Ordnungsdenken als organisierte Staatengemeinschaft, gegebenenfalls unter der Führung der stärksten Weltmacht, wie Wilson es versucht hatte. Keines von beiden fand statt. Für ein Weltgleichgewicht blieben die Mächtebeziehungen viel zu ungefüge und gestaltlos; das bolschewistische Rußland war ein Außenseiter der Völkerfamilie, Deutschland wurde dazu gestempelt, die USA zogen sich zwar nicht eigentlich in die Isolation, aber doch in die Rolle des unparteiischen Außenstehenden zurück, und die absteigenden Großmächte England und Frankreich benützten die machtpolitischen Leerräume, die aus der Niederwerfung der Kriegsgegner und dem Ausfall Rußlands entstanden, um noch einmal ein Gewicht zu erlangen, das ihnen auf Grund ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit an sich nicht mehr zukam. Auf der anderen Seite war die organisierte Staatengemeinschaft mit dem Völkerbund zur Wirkungslosigkeit verdammt, wenn sie so unvollständig und unzureichend aufgebaut wurde, wie das im Versailler System der Fall war. 84 Maddox, 23, 60 ff., 126 und passim. Stone, Irreconcilables, 87, 113 und passim. Stone, Wilson, passim. Ambrosius. Angermann, 48 ff. Lansing, 105, 154 f.
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Eine handlungsfähige Weltfriedensgemeinschaft kam nicht zustande, weil es nicht gelang, ein freundschaftliches Zusammenwirken der Völker auf der Grundlage der Verständigung und Versöhnung herbeizuführen. Man macht es sich zu einfach, wenn man die Zerstörung der Versailler Ordnung nur von einzelnen Ländern ausgehen sieht, etwa von Deutschland oder Japan und Italien. Die Unzufriedenheit der Verlierer mit der Versailler Ordnung war nicht der Hauptgrund für deren Auflösung, schon deswegen nicht, weil an dieser Auflösung auch ehemalige Sieger beteiligt waren. Sondern der Fehler lag im Versailler System selbst, das vom Beginn an falsch konstruiert war. Das Scheitern der Versailler Ordnung begann nicht erst in den 1930er Jahren, sondern im Grunde schon 1919. Die Behandlung der Verlierer war nur ein Symptom, daß die Alliierten das geschlossene System von Wilsons Friedensregelung ganz oder in Teilen ablehnten, handle es sich nun um den amerikanischen Führungsanspruch, die gleichberechtigte Beteiligung Rußlands und der Mittelmächte an der Friedensregelung, die Schonung ihrer Bedürfnisse und Empfindlichkeiten oder anderes mehr. Was so entstand, war jener beschnittene und kraftlose Völkerbund, der von Haus aus nicht imstande sein konnte, weltweit für Ruhe und Frieden zu sorgen. Wenn von sieben Groß- oder Weltmächten die wichtigste, die USA, dem Völkerbund überhaupt nie angehörte, wenn vier weitere, nämlich Rußland, Deutschland, Japan und Italien bloß zeitweise in den Völkerbund einbezogen waren und sich bei Bedarf über seine Spielregeln hinwegsetzten, wenn schließlich die beiden einzigen, die dem Völkerbund ständig angehörten, England und Frankreich, für eine weltweite Sicherung und Erzwingung des Friedens viel zu schwach waren - wie hätte da eine dauerhafte Ordnung in den Staatenbeziehungen entstehen sollen? Man braucht seine Zuflucht nicht bei der Vermutung zu suchen, falls nur Deutschland in der Friedensregelung anders behandelt worden wäre, hätte es vielleicht den Aufstieg des Nationalsozialismus nicht erlebt und das Versailler System nicht zerstört. Das mag wahrscheinlich sein oder auch nicht; wesentlich ist etwas anderes. Gemäß Wilsons Plan sollte die Gewähr des Friedens darin bestehen, daß die meisten Großmächte für den Erhalt der Ordnung eintreten und etwaige Störenfriede zur Räson bringen konnten. Einzelne Länder, selbst ein nationalsozialistisches Deutschland, wären dann auf den vereinten Widerstand der stärkeren Mehrheit gestoßen und hätten sich fügen müssen. Vereinzelte Quertreiber hätten einen wirkungsvollen Völkerbund niemals erschüttern können; die Schwäche des Versailler Systems bestand darin, daß es zu viele Quertreiber erzeugte und kaum einen bedingungslosen Verteidiger dieser Ordnung. Tatsächlich fand sich im Völkerbund jene stärkere Mehrheit der Großmächte zur Erhaltung der Friedensregelung nie zusammen, und damit war deren Schicksal besiegelt. Der Wille zur Änderung der Versailler Ordnung, zu ihrer Revision, war ein Kennzeichen der Politik bei den meisten Großmächten, nicht nur den Verliererstaaten. Daß die Neuregelung der Verhältnisse nach einem Krieg nicht alle Beteiligten in derselben Weise zufriedenstellt, ist eine Erscheinung, die man
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füglieh erwarten darf. Überlegene Staatskunst besteht aber augenscheinlich darin, das Maß der unvermeidlichen Unzufriedenheit möglichst gering zu halten. Eben dies hatte Wilson mit seiner Vorstellung eines Friedens ohne Sieger und Besiegte, dann eines Wilson-Friedens gemäß den 14 Punkten ursprünglich angestrebt. Nachdem es mißlungen war, trat der bemerkenswerte Zustand ein, daß von den ehemaligen Kriegsparteien kaum eine mit der neuen Ordnung einverstanden war, abgesehen von den erfolgreichen Kleinstaaten Zwischeneuropas. Die USA verfolgten unter der neuen republikanischen Regierung des Präsidenten Harding seit 1921 zunächst das Ziel, den Versailler Vertrag zu ändern und an Stelle des mißratenen Völkerbunds eine neue Liga zur Errichtung einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung zu schaffen. Als dies auf Abneigung im Senat stieß, schlossen die USA 1921 Sonderfriedensverträge mit Deutschland, Österreich und Ungarn, in denen weder von der Kriegsschuld noch vom Völkerbund die Rede war. Zur Ablehnung des Versailler Diktats im Senat hatte auch der Umstand beigetragen, daß bei der Pariser Konferenz gegen amerikanischen Widerstand die deutschen Rechte im ehemaligen Schutzgebiet Kiautschou sowie das Mandat über einen Teil der deutschen Pazifik-Inseln an Japan gegeben worden waren. Um das japanische Fußfassen in China einzudämmen und zugleich die vom Völkerbund vernachlässigte allgemeine Abrüstung zu fördern, wurde 1921/22 in Washington eine Konferenz abgehalten, die zu verschiedenen Verträgen führte, teils über eine Begrenzung des Schlachtflottenbaus der Großmächte, teils über die gegenseitige Respektierung von Rechten der im Pazifik vertretenen Mächte, wodurch der alte, britisch-japanische Bündnisvertrag ersetzt wurde, und teils über das Verhältnis der See- und Kolonialmächte zu China. Japan zog sich infolgedessen aus Kiautschou (bzw. Schantung) zurück, behielt aber starken Einfluß in der Mandschurei; im Anschluß daran räumte Japan auch die früher besetzten Gebiete in Sibirien. Alle diese Vorgänge hätten eigentlich, wenn der Völkerbund eine taugliche Einrichtung gewesen wäre, dessen Angelegenheit sein sollen. Wegen des Beiseitestehens der USA mußten indes weltpolitische Entscheidungen solcher Größenordnung außerhalb des Völkerbunds gefällt werden; eine weitere ostasiatische Macht, nämlich Rußland, wurde in die Verträge gar nicht einbezogen. Wie wenig haltbar die Versailler Ordnung war, zeigt überdies die Tatsache, daß hier nun schon der zweite Fall vorlag - neben der Türkei - , wo binnen kurzem eine Änderung des ursprünglichen Zustands herbeigeführt werden mußte. 85 In Europa verhielt es sich nicht viel anders. Als typische Vertreter der Revisionspolitik gelten gemeinhin Deutschland sowie Ungarn, das noch im Frühsommer 1919, unter der kurzlebigen Diktatur des Kommunisten Bela Kun, einen nationalen Befreiungskampf für die Erhaltung seines Staatsgebiets versucht hatte. Der Verweis auf Deutschland und Ungarn darf jedoch nicht außer acht lassen, daß 85 Zum Bemühen um Revision der Versailler Ordnung in den USA eine zusammenfassende Aufzeichnung aus dem Auswärtigen Amt, August 1921, ADAP, Sero A, Bd. V, 210 ff. Ferner Ellis, 61. Angennann, 67 ff.
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Frankreich die erste europäische Macht war, die nach Inkrafttreten der Versailler Ordnung entschlossene Schritte zu deren Änderung unternahm, und daß Rußland sowie Italien die Ergebnisse des Friedens ebenfalls ablehnten. Der russische Sowjetstaat konnte zwar bis 1920 den Bürgerkrieg für sich entscheiden sowie die abgesprengten Gebiete im Süden und Osten zurückgewinnen, doch verlor er im Westen einen breiten Landstreifen von Finnland über das Baltikum und Polen bis Bessarabien. Der Verlust Bessarabiens an Rumänien, von den Alliierten bestätigt, wurde von Rußland nie anerkannt. Mit Finnland, Estland, Lettland und Litauen, die seit dem Zerfall des Zarenreichs die Unabhängigkeit angestrebt hatten, hierin teils von deutscher Seite und teils von den Alliierten unterstützt worden waren und bolschewistische Einmischungen abgewehrt hatten, schloß der Sowjetstaat im Laufe des Jahres 1920 Friedensverträge. Damit waren sie formell in die Selbständigkeit entlassen, doch setzte dies die Einsicht Wilsons nicht außer Kraft, daß Rußland auf den Zugang zur Ostsee über das Baltikum nur notgedrungen verzichten würde, und daß ein Belassen des Baltikums bei Rußland in der Form des Föderalismus und der Autonomie zumindest erwägenswert war. Polen, nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte selbständig geworden, schritt alsbald zur Verwirklichung großpolnischer Träume, wobei zwei Vorstellungen miteinander wetteiferten, nämlich zum einen die Wiederherstellung der Grenzen von 1772 und zum anderen die noch weiter ausgreifende Errichtung einer Föderation unter Einschluß Litauens, Weißrußlands und der Ukraine bei polnischer Führung. Letzterem Ziel suchte der Staatschef Pilsudski durch militärische Ausdehnung seit 1919 nahezukommen, was 1920 zu einem sowjetischen Gegenstoß führte, der mit französischer Hilfe vor Warschau aufgefangen und zurückgeschlagen werden konnte. Der Friede von Riga (18.3.1921) legte dann die polnisch-russische Grenze fest, die bis zum Zweiten Weltkrieg bestand und Millionen von Ukrainern sowie Weißrussen unter polnische Hoheit gab - mit der Folge erheblicher nationaler Spannungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Für Polen galt in besonderem Maße das, was ansonsten auch für die anderen neuerrichteten oder umgeformten Staaten in dem Gürtel zwischen Rußland und Deutschland bis hinunter zum Balkan zutraf, darunter das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, seit 1929 Jugoslawien. In vielen Fällen waren diese Länder mit außerordentlich starken nationalen Minderheiten belastet, deren vertraglich zugesicherter Minderheitenschutz wenig wirksam war und die immer einen Ansatzpunkt für Vergrößerungs- und Vereinigungsbestrebungen ihrer Nachbarn darstellten. Wie diese Länder aus dem Zerfall des alten Gleichgewichts der europäischen Pentarchie hervorgegangen waren, so stellten sie nun Lückenbüßer dar für ein künstlich verzerrtes europäisches Gleichgewicht, das auf dem französischen Vormachtanspruch beruhte, auf der Abdrängung Rußlands von Europa, der Niederhaltung Deutschlands und der zeitweiligen Schwäche beider. Es entstand ein auf Frankreich ausgerichtetes und von ihm gestütztes Bündnissystem, das den schwachen Staaten Zwischeneuropas Rückhalt verleihen sollte in ihrer doppelten Aufgabe, Deutschland und Rußland getrennt
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zu halten sowie den Revisionswünschen der Kriegsverlierer Einhalt zu gebieten. Dazu gehörten die Bündnisverträge Frankreichs mit Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien (1921, 1924, 1927), die sog. Kleine Entente zwischen Rumänien, der Tschechoslowakei und Jugoslawien (1921) und der Beistandspakt zwischen Polen und Rumänien gegen Rußland (1921). Ob solche Bündnisverflechtungen ausreichen würden, die Versailler Ordnung aufrechtzuerhalten, blieb mehr als fraglich. Daß die Länder Zwischeneuropas bei einem Wiedererstarken Deutschlands und Rußlands in deren wirtschaftlichen oder politischen Einzugsbereich geraten könnten, war eine Möglichkeit; daß Deutschland und Rußland sich zu Lasten jener Länder verständigen könnten, war eine andere und weit bedrohlichere. Diese Gefahr bestand von Anfang an, und der Hinweis ist bereits hier am Platz, daß der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde, als Rußland und Deutschland sich über die Aufteilung Polens sowie die Errichtung von Einflußgebieten in Zwischeneuropa einigten. Die Möglichkeit einer solchen Einigung ist von Rußland schon früh und wiederholt angeboten worden. Mit Billigung Lenins suchte Trotzki 1919 eine rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland, was in den 1920er Jahren zur Errichtung deutscher Industriewerke in Rußland sowie zur Unterstützung der beiderseitigen Streitkräfte in Ausbildungs- und Erprobungsangelegenheiten führte. Während des russisch-polnischen Krieges bot die Sowjetregierung 1920 der deutschen Seite die Respektierung der Grenzen von 1914 an und wollte sich für eine Rückgabe verlorener Gebiete an Deutschland einsetzen, insbesondere im sog. Korridor zwischen Ostpreußen und dem Reichsgebiet. Bei Besprechungen über die militärische Zusammenarbeit 1921 ließ die russische Seite Neigung zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen Polen erkennen. Solche Dinge fanden ein offenes Ohr beim Chef der Heeresleitung in der neuen, republikanischen Reichswehr, General Seeckt, der auf lange Sicht einen Krieg gegen Polen und Frankreich für wahrscheinlich hielt und Rußland als den geeigneten Bundesgenossen betrachtete. Angesichts der deutschen Schwäche waren derartige Überlegungen vorderhand unverbindlich, was freilich die Sowjetregierung nicht abhielt, im Dezember 1924 die Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen vorzuschlagen und im Februar 1925 ein Militärbündnis gegen Polen. 86 Das alte Zentralproblem der europäischen und weltweiten Mächtebeziehungen war damit erneut angerissen: die Frage der deutsch-russischen Verständigung. Den Westmächten war dies stets gegenwärtig. Als im Frühjahr 1922 eine Wirtschaftskonferenz in Genua stattfand, um die infolge des Kriegs aus den Fugen geratenen Handelsbeziehungen wieder ins Lot zu bringen, schlossen Rußland und Deutschland den berühmten Vertrag von Rapallo ab, der ungeheures Aufsehen erregte. Der Vertrag enthielt zwar nicht mehr als eine Normalisierung des 86 Zu den russischen Verständigungsversuchen mit Deutschland Erickson, High Command, 153,265. D. Geyer, Osteuropa-Handbuch, 118 und passim. Walsdorff, 63. Hildebrand, Sowjetunion, 47, 52 und passim. Zu Seeckt dessen Denkschrift vom 11.9.1922, Ursachen und Folgen 6, 606 ff. Ferner Meier-Welcker, Seeckt, 341 ff. und passim.
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deutsch-russischen Verhältnisses, indem die vollen diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen, der Handel verstärkt und auf alle Entschädigungen wegen des Krieges oder wegen Verstaatlichungsmaßnahmen verzichtet wurde. Dennoch sahen die Westeuropäer darin einen Schlag gegen die Grundlagen ihrer Politik, der zum Scheitern der Konferenz beitrug. Verständlich wird dies, wenn man berücksichtigt, daß es ein Hauptgedanke der Versailler Ordnung war, Rußland von Deutschland zu trennen und letzteres an den Westen anzubinden - nicht im Wege der gleichberechtigten Partnerschaft, sondern durch das Mittel der Beaufsichtigung seitens der Sieger. In diesem Sinn sollte die Konferenz von Genua, an welcher die USA übrigens nicht teilnahmen, eine Einheitsfront der außerrussischen Mächte Europas herstellen, um durch ein Konsortium unter Führung Britanniens und bei deutscher Beteiligung Rußland wirtschaftlich zu erschließen und Deutschland zu Reparationszahlungen zu befähigen. Für den Sowjetstaat auf der anderen Seite war jede Einheitsfrontbildung der kapitalistischen Länder ein Albtraum; das Konsortium verstand man als Versuch zur Ausbeutung, und aus dem wirtschaftlichen Zusammenschluß der kapitalistischen Länder gegen Rußland mochte leicht der politische erwachsen, der den Sowjetstaat, seine Unabhängigkeit und Gesellschaftsordnung unter schwersten Druck setzen konnte. So war die sowjetische Außenpolitik stets bestrebt, jede kapitalistische Blockbildung zu vermeiden bis hin zu dem Gedanken, einen Ausgleich zwischen Rußland, Deutschland und Frankreich herbeizuführen. Anders denn als Gedankenexperiment war diese Idee, die an Bülows Kontinentalliga gemahnt, freilich kaum zu verstehen; für Frankreich war sie unannehmbar, wenn sie das Außerkraftsetzen der Versailler Regelungen nach sich zog, und für Deutschland, wenn daraus deren Festschreibung folgte. Was der russischen Politik tatsächlich blieb, war ein Herauslösen Deutschlands aus dem Einvernehmen der kapitalistischen Länder, ein Herauslösen, das in seiner schwächeren Form lediglich eine neutrale Stellung Deutschlands zwischen Ost und West besagte, während es in seiner stärkeren Form den offenen Gegensatz zwischen Deutschland und dem Westen beinhaltete. Mit dem Rapallo-Vertrag entschied sich Deutschland für die schwächere Lösung; es entzog sich der bedingungslosen Anbindung an den Westen und behielt sich die Handlungsfreiheit nach Osten vor. Ein gemeinsames Vorgehen mit Rußland gegen Polen war damit einstweilen nicht beabsichtigt, auch wenn der Reichskanzler der Rapallo-Zeit, Wirth, einmal bemerkte, er sei mit dem General Seeckt darin einig, daß die Möglichkeit eines Krieges gegen Polen nicht für alle Zeiten ausgeschlossen werden könne. Das abgerüstete Deutschland war zu derlei Experimenten gar nicht in der Lage; außerdem besaß die Unterstützung Deutschlands durch Rußland bei einem gemeinsamen Krieg gegen Frankreich und Polen den Pferdefuß, daß der Nutzen für Rußland weit größer sein konnte als für Deutschland, solange dieses nicht wirklich verteidigungsfahig war. Der herausragende Staatsmann der Weimarer Republik, Außenminister . Stresemann (1923 - 1929), meinte dazu, ein gemeinsamer Krieg mit Rußland berge die Gefahr in sich, daß Deutschland geteilt und zur Hälfte bolsche-
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wisiert werde. Trotzdem leitete Deutschland mit dem Rapallo-Vertrag etwas ein, das man als Schaukelpolitik bezeichnen könnte; die Frage, ob sich Deutschland letztlich für den Westen oder gegen ihn entschied, blieb offen. Selbst Stresemann, als Verständigungspolitiker bekannt geworden, stellte dazu richtig fest, Deutschland besitze keine Wahlmöglichkeit zwischen Ost und West, solange es machtlos sei. Erst müsse man den Würger vom Hals haben. Ob Stresemann eine spätere Entscheidung für ein Zusammengehen mit Rußland zu Lasten Zwischeneuropas ins Auge faßte, kann auf sich beruhen und ist vielleicht auch gar nicht feststellbar. Die Möglichkeit blieb jedenfalls offen, was Stresemann in zweifacher Hinsicht bestätigte: einmal durch seine Feststellung, man verkaufe sich durchaus nicht an den Westen, und zum anderen durch seine Außenpolitik, die in der Tat jede einseitige Bindung an den Westen vermied. 87 Für Rußland war auch diese schwächere Lösung ein Gewinn, weil es durch die deutsche Neutralität gegen einen übermächtigen Westblock abgeschirmt wurde. Noch günstiger war für den Sowjetstaat die stärkere Lösung, die er bis zur Mitte der 1920er Jahre mehrfach vorschlug, also das gemeinsame Aufrollen der polnischen Frage im besonderen und der Versailler Ordnung im allgemeinen durch Deutschland und Rußland. In solchem Fall durfte der Sowjetstaat nicht nur auf beträchtlichen Gewinn hoffen, sondern es bestand darüber hinaus die Aussicht, daß die kapitalistischen Länder im Krieg sich gegenseitig schwächten. Rußland vermochte dann gewissermaßen den Spieß umzudrehen: Hatten im Ersten Weltkrieg die Alliierten dafür gesorgt, daß Rußland und Deutschland sich aufrieben, so konnte Rußland in Zukunft darauf hinarbeiten, daß Deutschland und die Westeuropäer sich aufrieben. An dieser Stelle wird erneut deutlich, wie sehr sich die Westmächte mit der Errichtung der Versailler Ordnung einen Bärendienst erwiesen hatten. Mit der Isolierung des Sowjetstaates veranlaßten sie diesen, die kapitalistischen Länder gegeneinander auszuspielen, und mit der Gestaltung der zwischeneuropäischen Staatenwelt gaben sie Deutschland und Rußland auch noch den Aufhänger für ihre Revisionswünsche. Daß all dies unabwendbar gewesen sei, trifft nicht zu. Eine umfassende Friedensordnung nach den Grundsätzen Wilsons hätte weder Rußland noch Deutschland isoliert, sie hätte beiden nicht solch schmerzliche Verluste zugemutet, sie hätte durch die Erhaltung der Donaumonarchie die gefährdete Kleinstaatenwelt Zwischeneuropas verhindert, sie hätte für Polen eine angemessenere Lösung gefunden, und sie hätte vielleicht auch die bolschewistische Herrschaft im Innern entschärfen können, wenn Rußland in eine offene und gewaltfreie Weltzivilisation einbezogen worden wäre. All dies geschah nicht, weil eine tragfähige Weltfriedensordnung seit den letzten Kriegsjahren systematisch hintertrieben worden war. 87 Zu Genua und Rapallo Fink. Bournazel. Krüger, Außenpolitik. Ders., Versailles. W. Link, Stabilisierungspolitik, 106 ff. Reichskanzler Wirth über Krieg bei Helbig, 306. Zu Stresemann dessen Brief an den Kronprinzen, 7.9.1925, in Stresemann, Vermächtnis 11, 553 ff. Auch in Ursachen und Folgen 6, 487 ff. Ferner die Aufsätze in dem Sammelband Michalka / Lee.
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Eine weitere revisionistische Macht war sodann Italien, das sich durch die Friedensregelung hintergangen fühlte. Formal war das nicht unrichtig, denn der Londoner Vertrag von 1915 mit der Entente hatte Italien die Brennergrenze, Triest, Dalmatien, Teile von Albanien sowie ein Protektorat über Albanien zugesichert, wovon Italien auf der Pariser Konferenz dann tatsächlich nur die Brennergrenze und Triest erhielt; auch die versprochenen Kolonialgewinne und Erwerbungen auf türkischem Gebiet fanden nicht statt. Es kam das Schlagwort vom verlorenen Sieg auf, und die eher geringschätzige Behandlung Italiens auf der Friedenskonferenz steigerte die Erbitterung noch. Italien mußte erleben, daß sich die Sieger England und Frankreich fast alles nahmen, was sie in ihren Kriegszielen vorgesehen hatten, während Italien, das als Vertragsbrüchiger in den Krieg gelockt worden war, nunmehr die Nichterfüllung von Verträgen selbst verspüren durfte. Die innenpolitischen Gegensätze der Kriegszeit rissen jetzt erst recht wieder auf. Der Kriegseintritt war ursprünglich nur von einer äußerst gemischten Minderheit befürwortet worden, zu welcher auch der aus der sozialistischen Bewegung stammende Benito Mussolini gehörte. Zusammen mit anderen erzeugte Mussolini jene Erregung der Öffentlichkeit und jenen Druck der Straße, welcher die parlamentarische Mehrheit für die italienische Neutralität schließlich zurückdrängte und den Kriegseintritt möglich machte. Der Krieg, der Italien kaum militärische Erfolge brachte und nur mit Hilfe der Alliierten durchgestanden werden konnte, zerrüttete die italienische Wirtschaft und verschärfte die gesellschaftlichen Spannungen. Die Kriegstreiber von 1915 entrüsteten sich nun lauthals über die Beschlüsse der Friedenskonferenz und den verlorenen Sieg; aus der Enttäuschung entstand eine neue politische Bewegung, welche die innere Unrast für ihre Ziele ausschlachten und die Ereignisse von 1915 als Vorbild für den außerparlamentarischen Kampf betrachten konnte. 1919 gründete Mussolini die sog. Kampfbünde, Fasci di combattimento, die sich aus ehemaligen Frontsoldaten und anderen Unzufriedenen zusammensetzten, anfangs ziemlich unbedeutend waren, seit 1920 aber mit Gewaltmaßnahmen gegen die sozialistische Arbeiterschaft auf sich aufmerksam machten und starken Zulauf erhielten. Die faschistische Bewegung, seit 1921 im Parlament vertreten und in eine regelrechte Partei umgewandelt (Partito Nazionale Fascista), ließ dennoch von den Formen des außerparlamentarischen Kampfes nicht ab; im Oktober 1922 führte sie jenen Marsch auf Rom durch, der die Bildung einer Regierung Mussolini erzwang. Man kann begründeterweise sagen, daß der Faschismus aus dem Krieg hervorging, wobei zum Krieg auch dessen Ergebnis auf der Friedenskonferenz zu zählen ist. Der Krieg war nicht die einzige Ursache des Faschismus, aber jedenfalls sein entscheidender Geburtshelfer. Und wie die Enttäuschung über die Versailler Ordnung die Bewegung des Faschismus ins Leben gerufen hatte, so blieb die Revision der Friedensregelung das dauernd festgehaltene Ziel Mussolinis. Ein ungeklärter Mordfalllieferte ihm 1923 den Vorwand, die griechische Insel Korfu zu besetzen, was er mit der Drohung verband, den Völkerbund zu verlassen, falls dieser sich einmische. Es ist auch nicht ganz zufällig, daß die Aktion gerade
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zur Zeit verschärfter deutsch-französischer Spannungen während der Ruhr-Besetzung stattfand. Hier deutete sich an, daß Mussolini bereit war, die Gegensätze zwischen anderen Mächten auszunutzen, um selbst Gewinne zu machen, und dabei auf den Völkerbund keine Rücksicht zu nehmen. Dies war dann das Muster der italienischen Ausdehnungspolitik in den 1930er Jahren. Wenn der KorfuZwischenfall durch einen italienischen Rückzug beigelegt werden konnte, so erklärt sich das daraus, daß das Übergewicht Britanniens und Frankreichs einstweilen noch zu groß war, um Italien wirklich im Spannungsfeld anderer Mächte erfolgreich handeln zu lassen. Solche Spannungen wachzuhalten, namentlich diejenigen zwischen Deutschland und Frankreich, gereichte Italien zum Vorteil. Mussolini beteiligte sich deshalb nur widerwillig an den Locarno-Verträgen, dem Wahrzeichen von Stresemanns Verständigungspolitik mit Frankreich. Über die scheinbare Aussöhnung zwischen Paris und Berlin tröstete er sich hinweg mit der Feststellung, dies bezeichne nur einen Waffenstillstand, keine endgültige Beseitigung der Gegensätze. Mussolini durfte mit Recht davon ausgehen, die Dinge würden eines Tages wieder in Bewegung geraten, und dafür müsse Italien sich kriegs bereit machen. 88 Am Beginn aller europäischen Revisionspolitik stand freilich Frankreich. Anders als Britannien, das schon auf der Friedenskonferenz manche übergroße Härte vermeiden und auch in Zukunft den Weg zu einem neuen europäischen Gleichgewicht offenhalten wollte, scheint Frankreich über die bloße Ausnützung und Sicherung des Sieges hinaus keine weiterführenden Gedanken zur Ordnung der Mächtebeziehungen in großem Maßstab entwickelt zu haben. Da Paris auf die kollektive Sicherheit durch den Völkerbund und die allgemeine Abrüstung sich nicht verlassen wollte, betrieb es weiterhin die herkömmliche Machtpolitik, die mit einer eigentümlichen Blickverengung auf das mittlere Europa einherging. Des Rückhalts an seinem ehemaligen Bundesgenossen Rußland beraubt, der Unterstützung durch die anglo-amerikanischen Mächte bedürftig, suchte Frankreich seine Zuflucht in der Errichtung einer Vormachtstellung gegenüber dem mittleren Europa, deren Dauerhaftigkeit indes von vornherein im Zweifel stand. Wie eine Denkschrift der französischen Regierung vom Februar 1919 ausführte, stellte sich nach dem Ausfall Rußlands die Sicherheitsfrage für Frankreich mit verdoppelter Schärfe. Frankreich müsse militärisch die Rheingrenze erreichen, einerseits um sich selbst zu schützen, andererseits um den Staaten Zwischeneuropas unverzüglich zu Hilfe eilen zu können, wenn sie von Deutschland bedroht oder angegriffen würden. Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Beistandspakte mit den USA und Britannien, die aneinander gekoppelt waren und deshalb nach der Ablehnung durch den amerikanischen Senat beide entfielen, vermochte Frankreich die militärische Rheingrenze nicht zu erreichen, wenigstens nicht ständig (abgesehen von der befristeten Rheinlandbesetzung). Was Paris blieb, war der Hebel der Reparationsbestimmungen. Clemenceau, der ebenso wie andere 88 Zu Mussolinis Außenpolitik di Nolfo, 79 ff., 134 ff. Torunsky, 27 ff., 89 ff. Ferner Nolte, Bewegungen, 13, 49 ff.
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Beteiligte wußte, daß Reparationen in unbemessenem Umfang gar nicht bezahlt werden konnten, hat ein solches Verfahren möglicherweise vom Beginn an in Rechnung gestellt. Jedenfalls gaben die Sanktionsbestimmungen des Versailler Vertrags das Mittel an die Hand, bei Nichterbringen der Reparationen deutsche Gebiete zu besetzen, sei es im Rheinland nach Ablauf der Besatzungsfrist, sei es jenseits des Rheins. Die Höhe der Reparationen, die gemäß Versailler Vertrag bis zum 1. Mai 1921 endgültig festzusetzen war, konnte so zum Zweck der territorialen Erpressung benützt werden. Als die Reichsregierung im März 1921 einen Reparationsvorschlag der Alliierten zurückwies, der die absurde Summe von 226 Milliarden Mark beinhaltete, führte dies umgehend zur Besetzung rechtsrheinischer Gebiete (Düsseldorf, Duisburg). Zwar verminderte die Reparationskommission den Gesamtbetrag dann auf 132 Milliarden, was der deutschen Seite ultimativ aufgezwungen wurde, doch hing weiterhin das Damoklesschwert möglicher Besetzung über dem Reichsgebiet. Poincare, 1922 - 24 Ministerpräsident, machte sich dies zunutze, indem er einen geringfügigen Rückstand deutscher Reparationslieferungen zum Anlaß nahm, Anfang 1923 mit belgischer und italienischer Unterstützung das Ruhrgebiet zu besetzen. Beabsichtigt war damit eine Ausrichtung der Ruhrwirtschaft auf Frankreich und vor allem die auf der Pariser Konferenz verfehlte Abtrennung des Rheinlands vom Reich. Mit diesem nachdrücklichen Revisionsversuch hatte Poincare die französischen Karten allerdings überreizt. England und Amerika, die den französischen Rheinplänen schon früher entgegengetreten waren, lehnten sie auch diesmal ab, so daß Frankreich schließlich die Segel streichen und 1924 einer von den Amerikanern vermittelten, neuen Reparationsregelung zustimmen mußte, welche die Ruhrbesetzung und andere Eingriffsmöglichkeiten beseitigte. Gemäß dem neuen Reparationsplan (Dawes-Plan) waren Sanktionen bei deutschen Versäumnissen sehr erschwert; sie konnten nur noch mit Einverständnis der USA und nach Anrufung eines Schiedsgerichts verhängt werden. Amerika wurde nun über die Hintertür doch wieder in die Regelung der europäischen Angelegenheiten einbezogen und machte sich für eine einsichtsvollere Behandlung Deutschlands stark. Der zweimalige Versuch der Pariser Regierung, nach der Ablehnung von Wilsons Weltfriedensplan und Weltführungsanspruch eine übergewichtige Stellung in Europa zu erlangen, war beide Male an seine Grenzen gestoßen, aber dadurch noch nicht gescheitert. Deutschland stellte ja, solange es einseitig abgerüstet war, überhaupt kein selbständiges Mitglied des europäischen Gleichgewichts der Großmächte dar, sondern es bildete ein Objekt für die Machtpolitik anderer, wie die Ruhr-Angelegenheit bewies, die ohne das Eingreifen der Angelsachsen Frankreich als Sieger gesehen hätte. Dadurch entstand eigentlich ein dreipoliges Kräfteverhältnis in Europa (wenn man von Italien einmal absieht): Auf dem westlichen und mittleren Kontinent vermochte Frankreich eine Vormacht- und Führungsstellung auszuüben, die sich auf das von ihm gelenkte Bündnissystem der zwischeneuropäischen Länder stützte sowie auf die Tatsache, daß die Verliererstaaten nicht widerstandsfähig waren; eine Erpressung und Be-
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drohung der Verlierer durch die Sieger hatte zwar im Falle der Ruhrbesetzung tatsächlich nichts eingebracht und wäre vielleicht auch in Zukunft unergiebig gewesen, aber ausgeschlossen war sie deswegen noch nicht. Außer diesem eigenen französischen Hegemonialsystem gehörten zu den Polen der europäischen Ordnung noch Britannien, das eine lose Verbindung zu Frankreich aufrechterhielt, sowie Rußland (seit 1922 Sowjetunion), das erst allmählich in die internationalen Beziehungen wieder eintrat, seitdem die Sowjetregierung in den früheren 1920er Jahren von den meisten Ländern anerkannt wurde. Dieses System stellte, wenn überhaupt ein Gleichgewicht, so höchstens ein verzerrtes dar. Zwar vermochte keine Macht ganz Europa zu beherrschen, aber die für die europäische Stabilität lebenswichtige Frage, in welchem Verhältnis Deutschland und Rußland zueinander sowie zum übrigen Europa stehen sollten, war nicht gelöst, sondern seit der Friedenskonferenz nur unter den Teppich gekehrt worden. Nun war es aber ein Kerngedanke der Versailler Ordnung, Deutschland und Rußland getrennt zu halten sowie Deutschland an den Westen anzubinden, um so einen Zustand des europäischen Gleichgewichts zu erzeugen, der nicht durch Deutschland und Rußland gemeinsam aus den Angeln gehoben werden konnte. Der entscheidende Punkt war nach wie vor die Konstellation der großen Mächte oder der potentiell großen, wie Deutschland. Frankreich hatte auf der Friedenskonferenz und bis hin zu Poincares Ruhr-Unternehmen nicht über den Tellerrand einer bloßen Niederhaltung Deutschlands hinauszublicken vermocht, und selbst danach behielt Frankreich noch ein Übergewicht, wenn auch kein so großes, wie Poincare gern gesehen hätte. Ob und wie lange Deutschland diese Unterwerfung hinnehmen würde, war die Frage, und es war erst recht die Frage, ob es unter solchen Voraussetzungen an den Westen gebunden werden könne. Mit Hilfe Rußlands den Aufstand zu proben, war ein gängiger Gedanke, auch wenn es vorderhand nur eine Verzweiflungstat gebildet hätte. Wollte der Westen sich nicht allein auf Gewalt und Unterdrückung verlassen - weder die USA noch Britannien taten dies - , dann mußte versucht werden, Deutschland entgegenzukommen, um es an einem Abschwenken auf die russische Seite zu hindern. Das hieß zugleich, vor allem für Frankreich, den deutschen Revisionswünschen Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn sie die französische Gefolgschaft in Zwischeneuropa betrafen und die französische Übermacht untergruben. Konnte dies gelingen?89 Das Problem wäre gar nicht erst aufgetaucht, wenn ein vernünftiger Friede geschlossen worden wäre. Wie man weiß, waren in der Weimarer Republik Bevölkerung, Parteien und Regierungen einmütig in der Ablehnung des Versailler Vertrags und in dem Wunsch, ihn zu ändern. Diese Unzufriedenheit konnte sich darauf berufen, daß die Sieger unter dem Vorwand, Deutschland sei der Alleinschuldige am Krieg, dem Reich schwere finanzielle Belastungen, territoriale 89 Die französische Denkschrift von 1919 bei Bourgeois, 272 ff. Zu Clemenceau Watson. Ferner Soutou, System. Bariety, Relations, passim. Krüger, Außenpolitik, 116 ff., 183 ff., 218 ff., 243 ff. W. Link, Stabilisierungspolitik. Zu England Kaiser, D'Abernon. 10"
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Einbußen und Souveränitätsbeschränkungen auferlegt hatten. Der Schuldvorwurf wurde in Deutschland als Kriegsschuldlüge verstanden, als Versuch, eine ungerechtfertigte Behandlung der Verlierer zu bemänteln. Jene Unzufriedenheit konnte sodann darauf verweisen, daß Deutschland hintergangen worden war. Denn die Lansing-Note vom November 1918 hatte dem Reich einen Frieden auf der Grundlage der 14 Punkte versprochen, wovon aber, abgesehen von den Einschränkungen der Alliierten, das meiste nicht eingehalten worden war, z. B. keine offenen Friedensverhandlungen unter Teilnahme der Besiegten, keine gleichen Handelsbedingungen, kein Ausgleich von Kolonialansprüchen, keine Grenze Polens gemäß eindeutiger Nationalität. Schließlich konnte jene Unzufriedenheit mit Recht bemängeln, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker, unter den Siedlungsbedingungen Europas ohnedies eine schwierige Materie, regelmäßig zu Lasten der Besiegten verletzt worden war, ohne auch nur den Schein des gerechten Ausgleichs zu wahren. Außer den starken deutschsprachigen Minderheiten in praktisch allen angrenzenden Ländern bezog sich dies vor allem aufDeutschösterreich, dem die Friedenskonferenz sogar die Führung dieses Namens verboten hatte; statt dessen mußte es Republik Österreich heißen. Die Verfassung der heutigen Bundesrepublik Deutschland enthält bekanntlich ein Wiedervereinigungsgebot, das den bestehenden Zustand der deutschen Spaltung überwinden soll; die Bundesrepublik ist insofern kraft Verfassung ein revisionistisches Land. In ähnlicher Weise enthielt die Weimarer Verfassung einen Anschlußartikel, der allerdings unter dem Druck der Sieger für ungültig erklärt werden mußte. Der Versailler Vertrag ließ, auf Betreiben Wilsons, lediglich die Möglichkeit offen, daß der Völkerbundsrat einer Änderung des Zustands Österreichs zustimmte, was indes von Frankreich als ständigem Mitglied des Rats jederzeit verhindert werden konnte. Mit anderen Territorialfragen verhielt es sich ähnlich. Zwar sah die Völkerbundssatzung vor, daß unanwendbar gewordene Verträge von Zeit zu Zeit überprüft werden könnten. Das schloß die Ausübung von politischem Druck nicht aus; fraglich war nur, ob eine betroffene Streitpartei sich dem Druck beugte. Bei deutsch-polnischen Zwistigkeiten über Grenzfragen beispielsweise vermochte die polnische Seite sich Änderungen beharrlich zu widersetzen. Die Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit war Polen kraft Völkerbunds satzung jedenfalls garantiert, so daß es zur Nachgiebigkeit in der Regel keinen Anlaß hatte, schon vollends nicht, solange Frankreich hinter ihm stand. 90 All dies klaglos hinzunehmen waren die Deutschen nicht gesonnen. Sie fühlten, daß sie in den Krieg getrieben worden waren, sie spürten, daß es den Alliierten im Krieg wie auf der Friedenskonferenz nur darum gegangen war, die Mittelmächte zu schädigen, sie erkannten, daß sie getäuscht und mit Propagandalügen überzogen worden waren, und sie zeigten sich nicht gewillt, für einen Krieg zu bezahlen, der für die Stärkung der niedergehenden Großmächte England und 90 Zu Österreich Schwabe, Wilson-Frieden, 427. Nelson, 310. Low, 158. Huber, Dokumente III, 156 f.
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Frankreich geführt worden war. Die Deutschen verlangten das, was Wilson jahrelang gepredigt hatte, nämlich Gerechtigkeit, und sie verstanden das, was ihnen schließlich auferlegt wurde, als unerträgliche Zumutung. Die in der Geschichte Bewanderten konnten darauf verweisen, daß Frankreich, nachdem es um 1800 jahrzehntelang Europa verheert und zu beherrschen versucht hatte wobei es übrigens auch damals die Rheingrenze angestrebt hatte - , beim Frieden von 1814/15 in seinem vormaligen Besitzstand wiedererrichtet worden war. Wenn dies ein Beispiel weiser Staatskunst war, welches das europäische Gleichgewicht für ein Jahrhundert gesichert hatte, als was durfte dann die Versailler Ordnung gelten? Welchem Ziel konnte sie sonst dienen als dem, durch die Zerschlagung und Verstümmelung der Mittelmächte noch einmal den Großmachtehrgeiz der Westalliierten zu befriedigen? Warum war es nicht möglich, Deutschland und die anderen Verlierer als gleichberechtigte Mitglieder der europäischen und weltweiten Völkerfamilie zu behandeln? Sicher werden die meisten Deutschen ihr Augenmerk in erster Linie auf die Unzulänglichkeiten des Versailler Vertrags gelenkt haben, auf die moralische, territoriale und finanzielle Vergewaltigung, und werden kaum bedacht haben, daß dem noch tiefere Beweggründe zugrunde lagen. Sie werden nicht beachtet haben, daß die Westalliierten den weltweiten amerikanischen Führungsanspruch abgelehnt hatten, daß sie ein deutsches Übergewicht fürchteten und eine Verbindung Deutschlands mit Rußland verhindern wollten. Aber wenn sie ihren Blick auf diese Dinge gelenkt hätten, wäre ihr Widerwille gegen die Versailler Ordnung nur umso berechtigter gewesen. Die Versailler Ordnung stellte in den Fragen der europäischen und weltweiten Mächtebeziehungen in jeder Hinsicht eine Scheinlösung dar, eine Scheinlösung, die darauf beruhte, nicht die drei potentiell stärksten Mächte USA, Rußland und Deutschland zu Angelpunkten der Weltpolitik zu machen, sondern die schwächeren: Britannien und Frankreich. Wenn in den späteren 1920er Jahren die USA und Deutschland zusammen mehr als die Hälfte der Weltindustrieerzeugung hervorbrachten (USA 42,2 %, Deutschland 11,6 %), dann ist nicht recht erkennbar, worauf Frankreich mit einem Anteil von gerade 6,6 % an der Weltindustrieproduktion seinen europäischen Hegemonialanspruch eigentlich stützen wollte. Die künstliche Verzerrung des europäischen Gleichgewichts ließ sich vielleicht für einige Zeit aufrechterhalten, aber was sollte geschehen, wenn Rußland seine Verwüstung durch Krieg und Bürgerkrieg wieder überwand und eine Wirtschaftsleistung erreichte, die der deutschen oder britischen vergleichbar war? Wie sollte eine internationale Ordnung gestaltet sein, in der Amerika, Deutschland und Rußland für nahezu zwei Drittel der Weltindustrieerzeugung gut waren, Britannien und Frankreich dagegen für höchstens ein Fünftel, von den Bevölkerungszahlen ganz zu schweigen? Wollte man ein geläufiges sprachliches Bild verwenden, so könnte man sagen, daß in der Versailler Ordnung der Schwanz mit dem Hund wedeln sollte - ein Unterfangen, das in den internationalen Beziehungen ebenso ungewöhnlich ist wie anderswo und jedenfalls keine Aussicht auf Dauer verspricht. Die USA und die Sowjetunion fortwährend von der Teilnahme an den
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europäischen Angelegenheiten fernzuhalten, war weder möglich noch wünschenswert, und beide Länder gaben dem Reich Hilfestellung bei seinem Bemühen, die Rolle einer gleichberechtigten Großmacht zurückzugewinnen. Wiewohl Amerika nach der Ablehnung des Völkerbunds aus der gemeinschaftlichen Regelung weltweiter Fragen weitgehend ausschied und insbesondere alle festen, bündnismäßigen Verpflichtungen vermied, machte es doch keine nennenswerten Abstriche an Wilsons ursprünglichem Programm, über das wirtschaftliche Schicksal der Welt zu entscheiden. In diesem Sinn betrieben die USA eine Politik der wirtschaftlichen Festigung und Unterstützung Deutschlands, um den wichtigsten Industriestaat Europas nicht zu einem beständigen Unruheherd werden zu lassen, und sie waren bereit, Deutschland die Fesseln des Versailler Vertrags, auch gegen den Widerstand Frankreichs, allmählich abstreifen zu lassen. Die Sowjetunion auf der anderen Seite sah in einem gekräftigten und selbständig handlungsfähigen Deutschland eine Möglichkeit, ihr westliches Vorfeld abzuschirmen, so daß die Regierung in Moskau durch Rüstungs- und Handelszusammenarbeit, durch die gemeinsame Ablehnung der Versailler Ordnung und zeitweise auch durch eine Ermunterung der deutsch-amerikanischen Gemeinsamkeiten Deutschland zu unterstützen suchte. Den aufmerksamen britischen Augen entging dies nicht. 1928 stellte das Foreign Office fest, Deutschland zähle auf Amerika als seinen Beschützer, und London müsse darauf achten, daß nicht ein deutsch-russisches Einvernehmen entstehe, das durch amerikanisches Geld und amerikanisches Wohlwollen gestützt werde. Diese klarsichtige Äußerung bestätigte noch einmal, was Clemenceau schon Jahre früher gewußt hatte: Der krampfhafte Versuch Frankreichs, Deutschland niederzuhalten, brachte nur Schwierigkeiten und Ärger, überforderte eigentlich die französischen Kräfte und war langfristig ja doch nicht durchzuhalten. Wenn die Deutschen Sturm liefen gegen den Versailler Vertrag, dann liefen sie zugleich Sturm gegen eine unhaltbare Regelung des weltweiten Mächteverhältnisses, gegen eine Ordnung, die den Interessen Amerikas und Rußlands nicht entsprach, Deutschland verbitterte und Frankreich den Mantel einer Hegemonialmacht umlegte, der ihm viel zu groß war. Die Versailler Ordnung war errichtet worden gegen jedes natürliche Stärkeverhältnis, gegen jede politische Weitsicht, sie erzeugte bloß neue Reibungsflächen, war vom Beginn an änderungsbedürftig und wurde von den meisten Großmächten als änderungsbedürftig empfunden. Die Frage war letztlich nur, ob die Revision auf friedlichem Weg vonstatten gehen konnte oder ob die Prophezeiungen Wilsons und anderer eintrafen: Ein untauglicher Friede werde erneut in den Krieg führen. 91 Die friedliche Revision war das beherrschende Ziel der Weimarer Außenpolitik. Dabei fügten sich die einzelnen Änderungswünsche zusammen zu der umfassenden Absicht, Deutschland wieder einen Platz im weltweiten Gefüge der Mächte einnehmen zu lassen, der seinem tatsächlichen Potential entsprach, also eine 91 Zur Industrieerzeugung W. Fischer, Weltwirtschaft, 87. Bairoch, 296, 304. Die Denkschrift des Foreign Office von 1928 bei W. Link, Beziehungen, 74 (12.11.1928). Vgl. Hildebrand, Sowjetunion, 56 und passim.
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Großmachtrolle zu besetzen, wie es sie in vergleichbarer Weise bis 1914 besessen hatte. Im einzelnen hieß das: Lösung der Reparationsfrage, nach Möglichkeit durch Beseitigung der Reparationen; Wiederherstellung der Souveränität auf dem Reichsgebiet, wozu der Abzug der Besatzungstruppen aus dem Rheinland gehörte, die Wiederangliederung des Saarlands und langfristig auch das Aufheben der Entmilitarisierung des Rheinlands; ferner Grenzberichtigungen gegenüber Polen, die eine Landverbindung zwischen dem Reichsgebiet und Ostpreußen sowie das oberschlesische Industriegebiet beinhalteten, jedoch nicht unbedingt den Rückgewinn des weithin polnischen Posen; sodann der Anschluß Österreichs; ein verbesserter Schutz für die über 10 Millionen sonstigen Auslandsdeutschen in Europa; und endlich eine deutsche Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage, worunter man bis in die letzten Jahre der Weimarer Republik weniger eine deutsche Aufrüstung verstand als vielmehr eine Abrüstung der übrigen. Betrachtet man dieses Programm etwas genauer, so sieht man, daß es in etwa dem entspricht, was die amerikanische Regierung bis zur Pariser Friedenskonferenz ins Auge gefaßt hatte, wenigstens hinsichtlich der Behandlung Deutschlands. Man könnte geradezu sagen, daß die deutsche Revisionspolitik nichts anderes beinhaltete als eine Rückkehr zu den 14 Punkten in der Gestalt vom Herbst 1918. Von einer Maßlosigkeit der deutschen Ansprüche kann nicht im geringsten die Rede sein, zumal schon die 14 Punkte hart an der Grenze dessen gestanden waren, was man noch als halbwegs erträglichen Frieden hatte ansehen können. Wenn man das Selbstbestimmungsrecht zugrunde legte, das auf der Pariser Konferenz so ausgiebig im Munde geführt worden war, durfte man auch darüber hinausblicken, wie es Stresemann in einer Denkschrift von Anfang 1925 tat, wo es hieß: "Die Schaffung eines Staates, dessen politische Grenzen alle deutschen Volksteile umfassen, die innerhalb des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa leben und den Anschluß an das Deutsche Reich wünschen, ist das Ziel deutschen Hoffens, die schrittweise Revision der politisch und wirtschaftlich unhaltbaren Grenzbestimmungen der Friedensdiktate (polnischer Korridor, Oberschlesien) das nächstliegende Ziel der deutschen Außenpolitik." Die Eingliederung aller geschlossen siedelnden Deutschen in Ost und West in einen einheitlichen Nationalstaat, im Zeitalter der Nationalstaaten doch wohl eine verständliche Vorstellung, wurde hier also lediglich als Ziel des Hoffens hingestellt, während ansonsten die Weimarer Revisionspolitik sich auf der Linie der 14 Punkte hielt, die bereits anderen Ländern zu Lasten Deutschlands entgegengekommen waren. Nun hatten freilich die 14 Punkte insgesamt eine andere Friedensordnung vorgesehen, als sie durch Versailles dann zustande kam. Die USA hatten den Völkerbund mittlerweile aufgegeben, die Sowjetunion stellte eine schwer auszurechnende, möglicherweise bedrohliche und jedenfalls revisionistische Größe dar, und wenn Deutschland wieder in den gebührenden Platz einer europäischen Großmacht einrückte, mochte leicht das ganze Versailler System ins Rutschen geraten. Die europäischen Alliierten hatten sich mit der Versailler Ordnung in Sachzwänge hineinmanövriert, die ihnen binnen kurzem über den Kopf wachsen
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konnten. Wenn Frankreich seine Sicherheit gegenüber Deutschland nicht mehr auf militärische Überlegenheit zu gründen vermochte, mußte es sich etwas Neues einfallen lassen, und den Weg zu etwas Neuem hatte es sich unterdessen weitgehend verbaut. Ein Bündnis mit Rußland war im Prinzip zwar möglich, doch hätte Rußland, wenn es gegen Deutschland eingreifen wollte, durch das Gebiet der zwischeneuropäischen Staaten marschieren müssen, und das wünschten diese ganz gewiß nicht. Wären die USA im Völkerbund geblieben, so hätten sie den Bestand Frankreichs garantiert; da sie dort nicht vertreten waren, durfte Frankreich auf amerikanische Unterstützung nicht mit Sicherheit zählen. Eine Lösung dieses Dilemmas war nicht in Sicht. Nachdem Frankreich auf der Friedenskonferenz die amerikanische Führung und die deutsche Überlegenheit auf einen Schlag verhindert hatte, war nicht erkennbar, wie es nun anstandslos zu solchen Gegebenheiten zurückkehren sollte. Die deutsche Außenpolitik unter Stresemann war zwar vollauf bereit, dem französischen Sicherheitsverlangen entgegenzukommen. In den Locarno-Verträgen von 1925 wurde die deutsche Westgrenze sowie die Entmilitarisierung des Rheinlands anerkannt und unter Einbeziehung Englands und Italiens garantiert; überdies wurden Schiedsverträge zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten zwischen Deutschland einerseits, Frankreich, Belgien, Polen und der Tschechoslowakei andererseits geschlossen. Doch die stillschweigende Geschäftsgrundlage, daß Deutschland nun an die einvernehmliche Revision des Versailler Diktats gehen könne, ließ sich kaum mit Leben erfüllen. Die Locamo-Verträge waren an sich schon eine ungewöhnliche Erscheinung, da sie praktisch nichts anderes enthielten, als was sowieso im Versailler Vertrag und in der Völkerbundssatzung niedergelegt war, denn auch die Völkerbundssatzung sah die Achtung der Grenzen, den gegenseitigen Beistand sowie Schiedsverfahren vor. Wäre der Völkerbund das gewesen, was er ursprünglich hatte sein sollen, so hätte sich Deutschland durch den bloßen Eintritt in den Völkerbund von selbst zu all diesen Dingen verpflichtet. Aber so war es gerade nicht; vielmehr war Deutschland im Versailler Diktat eine Regelung aufgezwungen worden, die es von vornherein ablehnte und die im Widerspruch stand zu der ursprünglichen Konstruktionsidee des Völkerbunds, nämlich im gemeinsamen Handeln eine Ordnung zu schaffen, die von allen mitgetragen wurde. In den Völkerbund, wie er aus der Friedenskonferenz tatsächlich hervorgegangen war, paßte Deutschland eigentlich gar nicht hinein, es sei denn, es hätte sich vollständig unterworfen. Eine Teilunterwerfung nahm Deutschland, nunmehr aus freien Stücken, mit den Locamo-Verträgen allerdings vor, so daß es anschließend, 1926, in den Völkerbund eintreten konnte. Unverrückbar blieb jedoch, sowohl in den Locamo-Verträgen als auch bei der Mitgliedschaft im Völkerbund, ein ganz klarer Vorbehalt: Die Regelung im östlichen Europa erkannte Deutschland nicht an. Das zeigte sich vor allem daran, daß Deutschland einen Teil der Völkerbundsverpflichtungen nicht übernahm. Der Berliner Neutralitätsvertrag mit Rußland von 1926 enthielt eine deutsche Neutralitätszusage zwar nur für den Fall, daß Rußland bei einem Krieg gegen dritte Mächte, also insbesondere Polen, nicht der Angreifer sei;
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doch mußte dann erst einmal festgestellt werden, wer der Angreifer war. Stresemann bezog jedenfalls den Standpunkt, Deutschland werde unter keinen Umständen Maßnahmen gegen Rußland ergreifen. Die Sanktionsmöglichkeiten des Völkerbunds waren damit durchlöchert; Deutschland war sozusagen nur Teilmitglied, was von den Locarno-Mächten auch anerkannt wurde, die Deutschland zubilligten, an Maßnahmen gegen Rußland bloß insoweit teilzunehmen, als es mit seiner militärischen und geographischen Lage vereinbar war. Als Entwertung des Völkerbunds kann dies nicht betrachtet werden, da ein Völkerbund, der die USA und die Sowjetunion nicht enthielt, ohnedies eine krüppelhafte Erscheinung war. Aber hier trat erneut das Problem hervor, daß die europäischen Westmächte den Zustand Zwischeneuropas nicht zuverlässig sichern konnten, weil diese Länder gewissermaßen zwischen zwei Feuern lagen. Britannien und Frankreich hatten augenscheinlich nur zwei Möglichkeiten: Sie konnten entweder versuchen, die Entscheidung über diese Fragen, die eines Tages ja doch aufbrechen würden, möglichst lange hinauszuzögern, oder sie konnten beizeiten auf den durch Stresemanns Verständigungspolitik geebneten Weg treten, die vertragliche Sicherung Frankreichs als genügend anerkennen und im friedlichen Zusammenwirken dem deutschen Revisionsbegehren die Bahn öffnen. Risiken bargen beide Lösungen in sich, weil nicht sicher war, ob sich Deutschland an den Westen binden ließ. Längeres Hinauszögern enthielt indes das zusätzliche Risiko, daß Deutschland immer ungeduldiger wurde. So hoffte Stresemann auf baldige Erfolge seiner Revisionspolitik, auch in territorialer Hinsicht, denn friedliche Grenzveränderungen waren durch die Locarno-Verträge und die Völkerbunds satzung weder nach Westen noch nach Osten ausgeschlossen. Irgendwelche Vorteile vermochte Deutschland daraus freilich nicht zu ziehen. 1926 scheiterte die Absicht, das auf Grund einer irregulären Volksabstimmung an Belgien abgetretene Gebiet von Eupen-Malmedy zurückzukaufen, nicht zuletzt am Widerstand des französischen Ministerpräsidenten Poincare; und Versuche in den Jahren 1926/27, Polen zu einem Entgegenkommen in der Korridor- und Oberschlesienfrage zu veranlassen, blieben ebenfalls erfolglos. Das Verfahren, Wandel durch Annäherung bzw. Revision durch Verständigung zu erzielen, stellte sich mehr und mehr als unergiebig heraus. Kurz vor seinem Tod 1929 klagte Stresemann: "Ich habe gegeben, gegeben und immer gegeben, bis sich meine Landsleute gegen mich gewandt haben. Hätte ich nach Locarno ein einziges Zugeständnis erhalten, so würde ich mein Volk überzeugt haben". Das Ausbleiben sichtbarer Erfolge enttäuschte das Volk; es sah nicht ein, warum man von den Siegermächten mühsam dasjenige zurückerbetteln sollte, was vorher gewaltsam abgepreßt worden war. Und vor allem: Die Enttäuschung betraf nicht bloß die nationalistischen und radikalen Kreise, sondern weiteste Teile des ganzen Volkes, aber sie würde am Ende den Radikalen zugute kommen. Für die katholische Zentrumspartei, eine der wenigen verläßlichen Stützen der Weimarer Republik, die früher zu den glühendsten Anhängern der LocarnoPolitik gehört hatte, stellte der Vorsitzende Kaas 1928 fest, es gebe "unleugbare
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Mißerfolge der deutschen Außenpolitik", die eine ,,Änderung der außenpolitischen Dynamik" erforderlich machten. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratie von 1931 meinte der Abgeordnete Hoegner, unter dem Nationalsozialismus im Exil und nach dem Zweiten Weltkrieg bayerischer Ministerpräsident, die Regierung habe sich zu sehr auf die Erfüllungspolitik verlassen und die starke nationale Welle nicht genutzt; daraus zögen jetzt die Nationalsozialisten ihren Vorteil. Stresemanns Verständigungspolitik endete als Mißerfolg; Revision war auf diesem Weg nicht zu erreichen, sie bedurfte anderer Umstände. 92 Das galt wie für sonstige Sachverhalte so auch für die Reparationen. Die vieldiskutierte Frage, wieviel Deutschland hätte bezahlen können, wenn es nur gewollt hätte, kann dabei ebenso unerörtert bleiben wie die Frage, wieviel es wirklich an Geld- und Sachleistungen aufgebracht hat (vermutlich um die 36 Milliarden Goldmark). Im Rahmen einer tragfähigen Weltfriedens ordnung, die auf dem Gedanken der Versöhnung beruht und günstige Wirtschaftsbedingungen für alle geschaffen hätte, wäre das Problem wahrscheinlich ohne weiteres zu lösen gewesen. Zu einem kaum überwindlichen Hindernis des Ausgleichs wurden die Reparationen, weil sie vom Beginn an als Bestrafungs- und Erpressungsmittel eingesetzt worden waren und in Deutschland als herausragendes Merkmal der alliierten Niedertracht empfunden wurden. Die Deutschen vermochten sich im übrigen darauf zu berufen, daß der wirtschaftliche Sachverstand eines Keynes die tragbare Höhe der Reparationen auf ca. 40 Milliarden Mark veranschlagt hatte, was den tatsächlich erbrachten Leistungen wahrscheinlich ziemlich nahe kam. Selbst der Franzose Loucheur, ursprünglich Kommissar für die zerstörten Gebiete und später Finanzminister, schlug Reparationen in Höhe von gut 50 Milliarden vor. Über die Stimmung in der französischen Abgeordnetenkammer meinte er allerdings, er sei nicht in der Lage, die Wahrheit zu sagen, sie würden ihn umbringen. Unter den wirtschaftlichen Bedingungen der 1920er Jahre waren jedenfalls die jährlichen Leistungen im Wert von mehreren Milliarden Mark, wie sie das Reparationsultimatum von 1921 vorsah, nicht zu erbringen. Dem trug an sich der Dawes-Plan von 1924 Rechnung, der lediglich eine Übergangslösung darstellte, weil vollständig klar war, daß Deutschland vorerst nur in geringem Umfang zahlen konnte. Über den im Dawes-Plan vorgesehenen Anstieg der jährlichen Leistungen auf 2,5 Milliarden waren sich deutsche und amerikanische Sachkenner einig, daß dies unausführbar sei. Es war schon deswegen unausführbar, weil zur Transferierung der entsprechenden Summen Devisen benötigt wurden, die nur durch deutsche Ausfuhrüberschüsse erwirtschaftet werden konnten. Da es solche Ausfuhrüberschüsse in der Regel nicht gab, mußten die Devisen 92 Stresemanns Denkschrift von 1925 nach W. Ruge, Stresemann, 76 f. Die LocarnoVerträge in Ursachen und Folgen 6, 379 ff. Dazu J. Jacobson, Locarno, sowie die Aufsätze in dem Sammelband von Michalka / Lee. Stresemanns Klage von 1929 nach Weidenfeld, 750. Zum Zentrumsvorsitzenden Kaas 1928 Stresemann, Vermächtnis III, 386. Zu Hoegner Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD zu Leipzig 31.5.-5.6.1931, Berlin 1931, 133. Vgl. Krüger, Außenpolitik, 553 und passim.
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durch ausländische, vor allem amerikanische Kredite beschafft werden, so daß ein höchst merkwürdiger Geldkreislauf einsetzte, bei welchem Deutschland mit Hilfe arnerikanischer Kredite Zahlungen an die Alliierten leistete, die ihrerseits wiederum ihre hohen Kriegsschulden gegenüber den USA bedienten. Einen Ausweg aus diesem widersinnigen Verfahren fand man lange nicht, offenbar auch deswegen, weil die USA auf der Rückzahlung der Kriegsschulden bestanden, um einen Hebel gegen die herkömmliche Rüstungs- und Machtpolitik Europas in der Hand zu behalten. Als der vorläufige Dawes-Plan 1929 durch den abschließenden Young-Plan ersetzt wurde, der Jahreszahlungen von rund zwei Milliarden (für 59 Jahre) vorsah, bestand Einigkeit darüber, daß Deutschland auch in Zukunft auf Kredite angewiesen sein würde, um seine Verpflichtungen zu erfüllen. Aber was sollte geschehen, wenn solche Kredite nicht mehr in ausreichendem Maß zur Verfügung standen? Abgesehen davon, daß jährliche Reparationen von zwei Milliarden Mark um 1930 rund ein Drittel des Reichshaushalts ausmachten, lag in dieser Kreditfrage der Kern aller Schwierigkeiten. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre lebte Deutschland sozusagen auf Pump; im Sommer 1930 betrugen seine Auslandsverpflichtungen 28 Milliarden Mark, davon über die Hälfte kurzfristig. Diese Kredite benötigte Deutschland nicht bloß für die Reparationen, sondern vor allem auch für die Erholung seiner Wirtschaft nach der verheerenden Inflation im Gefolge der Ruhrbesetzung von 1923 sowie für die Finanzierung seiner Einfuhren. Als sich Ende der 1920er Jahre die Weltwirtschaftskrise anbahnte, deren Ursachen nach wie vor umstritten sind, gingen auch die ausländischen Anleihen zurück; bereits zwischen 1928 und 1929 erlebte Deutschland einen Rückgang des Kapitalzuflusses um 50 %, und bis 1931 wurde daraus sogar ein Abfluß. Nun ging freilich die Wirtschaftskrise mit einer Verbesserung der Handelsbilanz einher; es entstand ein Ausfuhrüberschuß, der wiederum Devisen einbrachte, allerdings nicht so viel, um dauerhaft sowohl Reparationen bezahlen als auch die ausländischen Schulden bedienen zu können, denn beides zusammen hätte jährlich über 3,5 Milliarden Mark ausgemacht. Als diese Lage sich um 1930 abzeichnete, entstand augenscheinlich ein Handlungsbedarf. Heinrich Brüning, von 1930 bis 1932 Reichskanzler und erbitterter Gegner der Reparationen, schrieb darüber später: " ... es gab eine klare Alternative: Entweder mußte die deutsche Regierung fortfahren, Reparationen zu zahlen und zu transferieren, um dann ein Moratorium für unsere lang- und kurzfristigen Auslandsschulden zu erbitten; oder, was für den dauernden Kredit Deutschlands in der Welt und für die Lösung der verwickelten internationalen Zahlungs- und Handelsprobleme viel günstiger wäre, versuchen, durch die Erreichung eines Moratoriums für die Reparationen mit nachfolgender Streichung pünktlich und peinlich die Schuldverpflichtungen dem Auslande gegenüber zu erfüllen ... Denn nur durch die langund kurzfristigen Auslandsanleihen war bislang eine Transferierung der deutschen Reparationszahlungen möglich gewesen. Karn das Einströmen der Darlehen zum Stillstand und wurden sie zurückgezogen, so wurde die Transferierung der
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Reparationen unmöglich." Dieser Logik folgten schließlich auch die Amerikaner; der Schutz ihrer Investitionen in Deutschland war ihnen wichtiger als das künstliche Aufrechterhalten widersinniger Geldkreisläufe. Präsident Hoover setzte sich über alle französischen Widerstände hinweg und schlug im Juni 1931 ein allgemeines Schuldenfeierjahr vor, wobei sowohl die Reparationszahlungen als auch der Schuldendienst für die alliierten Kriegsanleihen ausgesetzt werden sollten. Da mittlerweile unzweifelhaft feststand, daß Deutschland nicht zugleich Reparationen transferieren und seine Schulden bezahlen konnte, beschloß eine Konferenz in Lausanne im Sommer 1932 ein Ende der Reparationen und der alliierten Schulden gegenüber Amerika. Ein Sieg der Verständigungspolitik war dies freilich nicht; es war durch die Sachzwänge der Weltwirtschaftskrise, durch das Eingreifen der USA und durch die unnachgiebigere Haltung der deutschen Regierung herbeigeführt worden. 93 Überhaupt war mit dem Tod Stresemanns ein Wandel der deutschen Außenpolitik eingetreten, weniger in ihren Zielen als vielmehr in ihren Mitteln. Hatte sie vorher versucht, Revision durch Verständigung zu erreichen, so wurde, nachdem dies fruchtlos geblieben war, ein härterer Kurs eingeschlagen, den man auch so umschreiben könnte, daß die Revision durch eine Politik der Stärke erreicht werden sollte. Mit kriegerischen Absichten hatte das noch nichts zu tun. Frankreichs Außenminister Briand hatte 1927 die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit zu unterlaufen und eine französische Annäherung an die USA herbeizuführen gesucht, indem er einen Nichtangriffsvertrag vorschlug. Der amerikanische Außenminister Kellogg bog dies jedoch um und machte daraus, mit deutscher Unterstützung, ein internationales Abkommen, den sog. Briand-Kellogg-Pakt von 1928, der den Verzicht auf Krieg als Mittel der Politik enthielt und in der Folgezeit von den großen und anderen Mächten unterzeichnet wurde, öfters allerdings mit Vorbehalten. Dieser Vertrag band aber, zumindest rechtlich, Deutschland noch stärker an den Kriegsverzicht als die Locamo-Verträge und die Satzung des Völkerbunds, dem Deutschland 1926 beigetreten war. Anders als der Völkerbund, der mittlerweile, genau wie seine Kritiker vorhergesagt hatten, von Frankreich zur Aufrechterhaltung des status quo in Europa mißbraucht wurde, stellte der Kellogg-Pakt eine Rückkehr zu den ursprünglichen amerikanischen Vorstellungen einer weltweiten Friedenssicherung dar und enthielt zugleich das stillschweigende Eingeständnis, daß die Versailler Ordnung hierfür nicht tauglich sei. In Deutschland verstand man deshalb den Pakt richtigerweise als eine Möglichkeit, der Revision näher zu kommen und mit amerikanischer Hilfe das Zementieren der europäischen Verhältnisse durch Frankreich aufzubrechen. Ein solcher friedlicher Wandel wurde unter Präsident Hoover (1929-1933) und seinem Außenmini93 Die deutschen Reparationsleistungen nach Backer, 56 f. Loucheur nach Sauvy I, 144, 148. Allgemein zur Reparationsfrage W. Link, Stabilisierungspolitik, 254, 382 ff., 478 ff., 489 ff., 525 ff. Zur deutschen Verschuldung W. Fischer, Geschichte III, 291 ff. Brüning über die Reparationen in seinen Memoiren I, 244. Ferner zu Brünings Reparationspolitik Helbich; Glashagen; Borchardt; Knipping, Frankreich, 162 ff.
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ster Stimson mehr denn je als dringlich empfunden. Der amerikanische Botschafter in Berlin, Houghton, hatte schon 1925 vorhergesagt, der Locarno-Pakt werde zwar wahrscheinlich den Frieden für eine gewisse Zeit sichern, er bezeichne aber zugleich den Ort, nämlich die deutsch-polnische Grenze, wo als Folge der französischen Politik der nächste große Krieg ausbrechen werde. Hoover, der von Anfang an den Versailler Vertrag als Fehlkonstruktion kritisiert hatte und eine lebhafte Abneigung gegen die französische Politik empfand, näherte sich immer mehr der Auffassung, daß die europäischen Reibungsflächen beseitigt werden müßten, darunter insbesondere das deutsch-polnische Grenzproblem, um endlich eine gefestigte Friedensordnung errichten zu können. Stimson legte 1931 bei internen Besprechungen fest, die USA könnten den Franzosen nicht folgen, wenn diese den status quo mit seinen ungerechten Bestimmungen einfrieren und zu diesem Zweck ihre militärische Überlegenheit aufrechterhalten wollten. Die amerikanische Sicherheitsidee beziehe sich auf ein beruhigtes Europa, was die schrittweise Lösung der Probleme beinhalte, die eine Beruhigung verhinderten. In den deutschen Wünschen sah Stimson kein uferloses Ausdehnungsstreben am Werk, sondern Ziele, die den amerikanischen verwandt waren, also das Herstellen einer haltbaren Friedensordnung - was zugleich bedeutete, daß Stimson von einer Erfüllung der deutschen Wünsche keine weitere Gefährdung Frankreichs und Europas ausgehen sah. Den Franzosen gegenüber scheute sich Stimson 1931 nicht, das Abwehren aller Revisionswünsche als unmöglich, ungerecht und unmoralisch zu brandmarken. 94 In Deutschland sah man das ähnlich. Ein erstes Warnzeichen war bereits das Aufheizen der Revisionsstimmung seit etwa 1928. Nach dem Wahlsieg der gemäßigten Parteien wurde 1928 eine Regierung der großen Koalition von der SPD bis zu Stresemanns Rechtsliberalen gebildet, deren sozialdemokratischer Kanzler Hermann Müller eine energischere deutsche Außenpolitik ankündigte und die volle Verantwortung für alle Rüstungsmaßnahmen der Reichswehr übernahm. Politiker wie der sozialdemokratische Reichstagspräsident Löbe hielten 1928 Reden über den Anschluß Österreichs, und 1929 veranstalteten die konservative Deutschnationale Volkspartei, der Bund der Frontsoldaten "Stahlhelm" sowie die damals noch unbedeutende Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Hitlers ein Volksbegehren gegen den Young-Plan, das sich gegen die "Versklavung" des deutschen Volkes richtete. Wiewohl das Volksbegehren scheiterte, gelang den Nationalsozialisten nun der Durchbruch in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und in der Gunst der Wähler. Nachdem die NSDAP 1928 erst 2,6 % der Stimmen erreicht hatte, gewann sie bei den Reichstagswahlen von 1930 schon 18,3 % und wurde damit zur zweitstärksten Partei nach der SPD. Der Reichsregierung war dieses Ergebnis alles andere als willkommen, aber amtliche Stellen wie das Auswärtige Amt konnten nun darauf verweisen, daß 94 Zum Kellogg-Pakt Krüger, Außenpolitik, 407 ff. Houghton, Hoover und Stimson nach W. Link, Stabilisierungspolitik, 345, 504 ff. Leffler, Quest. 261 ff. Wandycz, Twilight, 216 ff.
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auch die innenpolitische Lage baldige Erfolge in der Revisionspolitik notwendig mache. Solche waren bislang weithin ausgeblieben. Nach Abschluß der deutschen Entwaffnung war zwar 1927 die zur Überwachung eingesetzte interalliierte Militärkommission zurückgezogen worden, doch blieben die anderen Mächte durch die gängigen Nachrichtenmittel über die deutschen Verhältnisse stets gut unterrichtet. Im Zusammenhang mit dem Young-Plan wurde zwar das gesamte Rheinland geräumt, doch stellte dies nur in Bezug auf die dritte der drei rheinischen Besatzungszonen ein Entgegenkommen dar und auch hier bloß ein geringes, denn in Abständen von fünf Jahren hätten bis 1935 ohnedies alle drei Zonen frei werden müssen. Sämtliche wesentlichen Dinge blieben dagegen offen, so die Frage der deutschen Ostgrenze, der militärischen Gleichberechtigung Deutschlands und zunächst auch die Frage der Reparationen. Brüning, der im Frühjahr 1930 Kanzler wurde, zog daraus die Folgerung, daß die Locamo-Politik gescheitert sei und daß die Westmächte, vor allem Frankreich, zu einem schnellen Nachgeben in den Revisionsangelegenheiten veraniaßt werden müßten, damit Deutschland politisch und wirtschaftlich gefestigt werden könne. Ob eine solche Festigung durch schnelle außenpolitische Erfolge im Bereich des Möglichen lag, kann einstweilen dahingestellt bleiben. Soweit außenpolitische Erfolge überhaupt eintraten, kamen sie jedenfalls nicht schnell genug. Frankreich hielt unbeirrt daran fest, den bestehenden Zustand in Europa einzufrieren, höchstens kosmetische Verbesserungen zuzulassen und vor allem zu verhindern, daß Deutschland die Stellung einer Großmacht zurückgewann, die seinem wirklichen Potential entsprach. Außenminister Briand, der Partner Stresemanns in der Verständigungspolitik, regte 1929 erstmals eine engere Verbindung der Staaten Europas an, eine Art europäische Föderation, die zunächst vor allem die wirtschaftliche Zusammenarbeit fördern sollte. Verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit, auch mit Frankreich, entsprach den deutschen Vorstellungen durchaus und war in den vergangenen Jahren auf verschiedene Weise bewerkstelligt worden. Was den deutschen Vorstellungen aber nicht entsprach, war die zugrunde liegende Absicht Frankreichs, die Briand selbst 1930 mit den Worten umschrieb, die europäische Union sei auf dem politischen status quo aufzubauen. Eine französische Europa-Denkschrift vom Mai 1930 strich dies noch stärker heraus, indem sie der Politik einen Vorrang vor der Wirtschaft einräumen und in der losen Form eines europäischen Staatenbundes mit gemeinsamen Einrichtungen die Sicherheit der europäischen Staaten gewährleisten wollte. Den deutschen Standpunkt faßte Bernhard von Bülow, ein Neffe des früheren Reichskanzlers und bald darauf Staatssekretär im Auswärtigen Amt, dahingehend zusammen, der französische Plan solle Deutschland neue Fesseln anlegen, indem der status quo festgeschrieben werde, und zwar nicht nur der territoriale, sondern auch die anderen Auflagen der Friedensverträge. Der status quo solle in einem engeren Rahmen als demjenigen des Völkerbunds verankert werden, weil in einem solchen engeren Rahmen Frankreichs Einfluß noch stärker wäre. Zugleich sollten Deutschlands Beziehungen
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zu Amerika und Rußland abgeschnürt werden, die Deutschland bisher eine gewisse Rückendeckung gewährten. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Frankreich hielt an seiner Machtpolitik und seiner Blickverengung auf das mittlere Europa fest; nachdem Paris den ursprünglichen Völkerbundsgedanken mit seiner weltweiten Friedensordnung abgewürgt hatte, suchte es jetzt den Überresten des Völkerbunds noch ein Konkurrenzunternehmen an die Seite zu stellen, um eine europäische Vormachtstellung zu behaupten. Grundsätzlich war ein engerer Zusammenschluß des westlichen und mittleren Europa natürlich erwägenswert, um zwischen den beiden Kolossen USA und Sowjetunion einen festeren Standort zu gewinnen. Aber es muß wohl das Geheimnis der französischen Regierung bleiben, wie sie hoffen konnte, Deutschland in eine solche Konstellation hineinzubringen, ohne ihm nennenswertes Entgegenkommen in Hinblick auf seine Revisionsziele zu erweisen, die es im Zusammenwirken mit den USA und der Sowjetunion eher zu erreichen vermochte. Frankreich war schlicht in der Sackgasse gelandet; ohne einen brauchbaren neuen Gedanken beschränkte es sich darauf, mit Zähnen und Klauen die Versailler Ordnung zu verteidigen. Der Europa-Plan Briands wurde bald zu Grabe getragen: Die Briten hatten sofort erkannt, daß Deutschland nicht zustimmen würde, überdies bemängelten sie das Schaffen einer neuen Organisation außerhalb des Völkerbunds und trafen sich darin mit anderen Ländern, so daß nur ein Europa-Ausschuß des Völkerbunds gebildet wurde, der wieder auf den Vorrang wirtschaftlicher Fragen zurückkam und zu einschlägigen Beratungen - gegen die Wünsche Frankreichs - auch die nicht im Völkerbund vertretenen Länder Rußland und Türkei beiziehen sollte. 95 Zu einem Einschwenken auf die amerikanische Linie der friedlichen Veränderung (peaceful change), um damit die europäischen Spannungen abzubauen, war Frankreich nicht bereit. Das betraf auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich. Briand hatte 1928 seinen Landsleuten versichert, der Anschluß bedeute den Krieg. Hierfür war nicht allein die Verstärkung maßgeblich, die Deutschland durch Österreich allenfalls hätte gewinnen können, denn die österreichische Bevölkerung mit rund 6,5 Millionen machte nur gut ein Zehntel derjenigen des Reiches aus, und die Wirtschaftskraft war verhältnismäßig noch schwächer. Sondern durch den Anschluß hätte Deutschland erstens die Fühlung mit Italien gewonnen, wo Mussolini verschiedentlich, so 1928 und 1931, eine Gesamtrevision der Friedensverträge forderte. Deutschland hätte zweitens die Brücke zu den Ländern Südosteuropas geschlagen, die seit dem Ausgang der 1920er Jahre ihre Augen auf Deutschland als Absatzmarkt für Agrarerzeugnisse und als Lieferant für Industriegüter richteten; es hätte drittens die Tschechoslowakei umklammert und sie wahrscheinlich in engere Beziehungen zum Reich gebracht, und damit hätte es viertens auch eine verbesserte Position gegenüber Polen errungen und dieses stärker unter Druck setzen können. Der Anschluß mochte 95 Zur Revisionsstimmung seit 1928 Knipping, Frankreich, 36 f. Kabinett Müller II, Bd. 1, 153. Lee, Völkerbundspolitik 356 ff. Zu BTÜning Krüger, Außenpolitik, 519 f. Zu Briands Europaplan Knipping, Frankreich, 84 ff., 155 ff., 205 ff.
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demnach leicht eine Kettenreaktion auslösen, die Deutschland eine Vormachtstellung in Mitteleuropa einbrachte und die französische Hegemonie beseitigte. In Britannien hatte man eine derartige Stellung Deutschlands bereits während des Krieges erwogen, als man, um in Deutschland ein zukünftiges Gegengewicht zu Rußland zu besitzen, ein Ausgreifen Deutschlands in den Donauraum, gegebenenfalls in Form eines Anschlusses Deutschösterreichs, bedacht oder befürwortet hatte. Selbst in Frankreich schwelte der Funke, Deutschland und Rußland gegeneinander auszuspielen, noch fort; eine Aufzeichnung aus dem Umkreis des mehrmaligen Ministerpräsidenten Tardieu glaubte im Jahr 1931, die deutsch-französischen Spannungen lösen zu können, indem die Stoßrichtung der deutschen Politik nach Osten gelenkt würde, während Frankreich sich dem kolonialen Bereich zuwandte. Im Interesse des europäischen Gleichgewichts, wie Britannien es wünschte, und im Interesse einer Verhinderung des deutsch-russischen Zusammenwirkens war in der Tat das Einrücken Deutschlands in eine mitteleuropäische Vormachtstellung schwer zu umgehen, und so ist es denn kein Wunder, daß die spätere Appeasement-Politik genau dieses zuließ. Solches geschah indes bereits zu Zeiten des Diktators Hitler und schlug als Strategie der Kriegsverhütung fehl. Da andererseits die Außenpolitik der Weimarer Republik sich zur friedlichen Veränderung des bestehenden Zustands bekannte und den Willen zur Achtung der französischen Sicherheit stets bekundete, hätte hier eine Möglichkeit bestanden, die Anbindung Deutschlands an den Westen zu bewerkstelligen. Diese Gelegenheit hat Frankreich versäumt. Dabei ging es zunächst gar nicht um den Anschluß, sondern lediglich um eine Zollunion. Österreich, wirtschaftlich ohnedies anfallig und durch die Weltwirtschaftskrise besonders getroffen, suchte seit 1930 eine stärkere Öffnung nach Deutschland, um im Rahmen eines größeren Wirtschaftsraums seine Schwierigkeiten leichter zu überwinden. In Berlin griff man dies bereitwillig auf, weil dadurch, wie Staatssekretär Bülow vom Auswärtigen Amt meinte, auch der Zollanschluß der Tschechoslowakei und Ungarns in greifbare Nähe rücke, Jugoslawien und Rumänien in ihrem Handel auf das Reich ausgerichtet werden könnten und schließlich Polen so in den wirtschaftlichen Einflußbereich Deutschlands gerate, daß es vielleicht zu Grenzveränderungen bereit sei. So vereinbarten der österreichische Außenminister Schober und sein deutscher Kollege Curtius im März 1931 den Entwurf für eine Zollunion, die rechtlich nicht ganz unbedenklich war, weil Österreich im Jahr 1922 eine Anleihe der Alliierten nur unter der Bedingung erhalten hatte, daß es für 20 Jahre in keinerlei Beschneidung seiner Unabhängigkeit einwillige (sog. Genfer Protokolle). Bei einem Stillhalten der Westmächte wäre dies freilich belanglos geblieben, und Britannien entsprach zunächst den deutsch-österreichischen Hoffnungen, da die Zollunion den britischen Absichten entgegenkam, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Abbau von Handelshemmnissen die Entspannung zu fördern. Nicht so Frankreich. Die Zollunion hätte Frankreich weder gefährdet noch wirtschaftlich nennenswert benachteiligt, da die Länder Zwischeneuropas sowieso, auch ohne Zollunion,
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ihre natürliche wirtschaftliche Ergänzung bei Deutschland fanden und mit diesem in weit stärkeren Handelsbeziehungen standen als mit Frankreich. Im Jahr 1929 bezogen die Länder Zwischeneuropas nur jeweils einige Prozent ihrer Einfuhren aus Frankreich, und als Absatzmarkt für ihre Agrarerzeugnisse kam Frankreich kaum in Betracht. Aber hier ging es nicht um wirtschaftliche Sachfragen, sondern um französische Hegemonialpolitik, so daß Paris mit allen Mitteln die Zollunion hintertrieb. Aus Rücksicht auf Frankreich machte London den Vermittlungsvorschlag, die Sache vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen. Unter französischem Druck traten Österreich und Deutschland von dem Zollunionsplan zurück, noch bevor der internationale Gerichtshof mit der denkbar knappen Mehrheit von einer Stimme den Plan gleichfalls verwarf. Ob die Zollunion die Wirtschaftskrise hätte lindern können, wenigstens in Österreich, bleibe dahingestellt. Mit Sicherheit jedoch hätte sie einen bedeutenden außenpolitischen Erfolg dargestellt, der die Regierung gestützt und der nationalistischen Opposition viel Wind aus den Segeln genommen hätte. In welchem Maße das Ausbleiben außenpolitischer Erfolge, darunter das Scheitern der Zollunion, dem radikalen Nationalismus Auftrieb gegeben hat, ist schwer zu sagen. Jedenfalls erzielten die Nationalsozialisten, nachdem sie sich im Oktober 1931 mit den Deutschnationalen und dem Stahlhelm zur sog. "Harzburger Front" zusammengeschlossen hatten, bei der nächsten Reichstagswahl im Juli 1932 über 37 % der Stimmen und wurden zur stärksten Partei. Die gängige Vermutung, dies hänge hauptsächlich mit der Weltwirtschaftskrise und dem Heer der Arbeitslosen zusammen, trifft nur teilweise zu. Arbeitslose Arbeiter pflegten eher kommunistisch zu wählen; lediglich arbeitslose Angestellte fielen häufig dem Nationalsozialismus anheim. Das schließt nicht aus, daß die Wirtschaftskrise das allgemeine Unbehagen gewaltig steigerte und viele mittelbar in die Arme der NSDAP trieb. Aber einer der Gründe für dieses allgemeine Unbehagen war eben die außenpolitische Lage, und die Annahme dürfte schwer zu widerlegen sein, daß deutliche außenpolitische Erfolge dieses Unbehagen wenn auch nicht beseitigt, so doch gemindert hätten. Der Nationalsozialismus war in gewisser Weise eine Protestbewegung; er protestierte gegen vieles, darunter auch die verfehlte Friedensregelung, und das leuchtete praktisch jedem ein. Hätte er dagegen nicht mehr protestieren können, so würde er wohl manches von seiner Anziehungskraft verloren haben. 96 Schließlich ein letzter Punkt. Zu den vielen Ungereimtheiten der Versailler Ordnung gehörte auch die einseitige Entwaffnung Deutschlands und der anderen Verlierer. Dies war ein klarer Verstoß gegen die 14 Punkte, denn dort hatte es geheißen, die einzelnen Länder sollten sich gegenseitig ein Maß der Abrüstung 96 Briand 1928 nach Siebert, 581. Zu Mussolinis Revisionismus Benito Mussolini, Opera Omnia, Florenz 1951 ff., Bd. 25 (1958),49 f. Tardieu nach Knipping, Frankreich, 182, Anm. 4. Zur Zollunion Krüger, Außenpolitik, 531 ff. Niedhart, Gleichgewicht, 123. Knipping, Frankreich, 205 ff. Zu den Wahlerfolgen der Nationalsozialisten Falter, Wahlen; Jasper, 42 ff.
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gewährleisten, das mit ihrer Sicherheit vereinbar sei. Die einseitige Entwaffnung war mit der Sicherheit der Betroffenen zweifellos nicht vereinbar, weil sie diese Länder ungeschützt der Möglichkeit des Einmarsches überlegener Nachbarn aussetzte. Wenn in den wirren ersten Jahren der Weimarer Republik polnische Freischaren 1921 in Oberschlesien eindrangen, Litauen 1923 das Memelgebiet und Frankreich das Ruhrgebiet besetzte, so hatte das zwar mit der deutschen Entwaffnung keinen unmittelbaren Zusammenhang, weil das Reich im Memelland und in Oberschlesien die Souveränität nicht ausübte (beide waren von den Alliierten besetzt) und Frankreich bei der Ruhr-Angelegenheit sich auf den Versailler Vertrag zu berufen vermochte. Trotzdem verstand man in Deutschland diese Fälle als Beispiel, welche Folgen die Wehrlosigkeit haben konnte, und wollte sich mit dem bestehenden Zustand nicht abfinden. Wenn das Reich seine volle Souveränität und Gleichberechtigung zurückgewinnen wollte, mußte es auch im Wehrwesen mit anderen Ländern auf eine Stufe gestellt werden. Der Versailler Vertrag hatte dem 100 OOO-Mann-Heer die Aufgaben eines Grenzschutzes und einer inneren Polizeitruppe zugesprochen, also gewissermaßen einer Bürgerkriegsarmee. Demgegenüber suchte der Chef der Heeresleitung Seeckt, der 1920 bis 1926 das Heer aufbaute und formte, die Reichswehr aus dem politischen Betrieb möglichst herauszuhalten und ihr eine überparteiliche Stellung zu geben, in welcher sie nur dem Wohl der Nation und des Staates diente. Seeckt betrachtete die Reichswehr als den Kern einer künftigen, größeren Streitmacht, die der Stellung Deutschlands angemessen war, wenn es erst wieder den Rang einer europäischen Großmacht erreicht hatte. Eine derartige Stellung zurückzugewinnen, war für die Reichswehr ebenso verbindliches Ziel wie für die Reichsregierungen. Vorerst allerdings wäre die Reichswehr noch nicht einmal imstande gewesen, einem Angriff des polnischen Heeres mit Aussicht auf Erfolg Widerstand zu leisten. Nach dem Sinn des Versailler Vertrags sollte sie das auch gar nicht, da sie nur eine Polizei truppe darstellte und keine regelrechte Streitmacht für einen potentiellen Kriegseinsatz. Reichsregierung und Reichswehrführung, seit 1928 unter dem sozialdemokratischen Kanzler Hermann Müller und dem parteilosen General Groener als Minister, gaben sich damit jedoch nicht zufrieden, sondern suchten das Prinzip aufrechtzuerhalten, daß die Reichswehr, nach Maßgabe der AufgabensteIlung durch die politische Leitung, auch einen regulären Verteidigungsauftrag oberhalb der Ebene des Bandenkrieges müsse wahrnehmen können, soweit die Stärkeverhältnisse es gestatteten. Das hieß konkret, Mobilmachungspläne auszuarbeiten, die nach dem Versailler Vertrag an sich nicht zulässig waren, Reserven bereitzuhalten, über welche die Reichswehr als Berufsarmee an sich nicht verfügte, und Vorbereitungen für die Ausrüstung eines solchen Mobilmachungs- oder Kriegsheeres zu treffen. Ein erster derartiger AufstellungsPlan (A-Plan) wurde seit 1926/27 bearbeitet und 1928 genehmigt; er führte erstmals nach dem Krieg wieder eine moderne, bürokratisierte und zentralisierte Rüstungsplanung ein. Ein zweiter Plan dieser Art, 1930 begonnen und Anfang 1932 verabschiedet, galt für die Jahre 1933-38; er sah die Aufstellung von 21
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Divisionen im Kriegsfall vor, was ungefähr einer Verdreifachung des personellen Umfangs der Reichswehr gleichkam, sowie deren notdürftige Ausstattung. Mit einem solchen Heer hätte Deutschland kaum jemandem gefahriich werden können, da es nur über wenige schwere Waffen verfügte - das zweite Rüstungsprogramm sah lediglich die Beschaffung von knapp 100 Geschützen mit 15 cm Kaliber sowie eines Bataillons Kampfwagen mit 55 Panzern vor - und da überdies die Vorräte nur für eine etwa sechswöchige Kampfführung ausreichten. Immerhin wurden die Grenzen des Versailler Vertrags damit bereits übersprungen, auch in Hinblick auf die vorgesehenen schweren Waffen. Es entstand nun die Notwendigkeit, diese insgeheim anlaufende Aufrüstung außenpolitisch abzuschirmen. Reichsregierung und Reichswehrführung wollten sich internationalen Verpflichtungen und Vereinbarungen keineswegs entziehen, freilich nicht auf der Grundlage des Versailler Vertrags, sondern auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Das hieß einerseits, daß die übrigen Länder abrüsteten, und es hieß andererseits, daß Deutschland Streitkräfte zugestanden wurden, welche die Durchführung eines regulären Verteidigungsauftrags zuließen, d. h. die Mobilisierung eines Heeres für den Kriegsfall. Seitdem Deutschland Mitglied des Völkerbunds war und dort einen Ratssitz innehatte, also formell als Großmacht anerkannt war, konnte es sich mit Recht auf die Völkerbundssatzung berufen, deren Abrüstungsartikel dasjenige Mindestmaß an Rüstung vorsah, welches mit der nationalen Sicherheit vereinbar war. Für die allgemeine Abrüstung setzte der Völkerbund 1926 eine vorbereitende Kommission ein, an welcher auch die USA teilnahmen. Deutschland verlangte dort, daß die anderen Mächte Abrüstungsschritte unternähmen, damit die Gleichberechtigung Deutschlands erreicht werden könne. Wie nicht anders zu erwarten, wurde das erst einmal abgelehnt, und schon vollends die Wiederherstellung eines militärischen Kräfteverhältnisses, das die Verteidigungsfähigkeit des Reiches gewährleistete. Noch 1930 beharrte Frankreich darauf, soweit die anderen Mächte überhaupt abrüsteten, müsse jedenfalls der Versailler Vertrag in Geltung bleiben. Dabei war man sich in Paris durchaus der Tatsache bewußt, daß man in absehbarer Zeit entweder nachgeben und durch internationale Übereinkunft einen Zustand herbeiführen mußte, der Deutschland Gleichberechtigung in der Sicherheit gab, oder man nahm die Verantwortung für ein Scheitern der Abrüstungsbemühungen auf sich und durfte dann darauf gefaßt sein, daß Deutschland sich zurückzog sowie - wahrscheinlich mit dem Einverständnis anderer Länder - die völlige Rüstungsfreiheit in Anspruch nahm. Nachdem Anfang 1932 die Abrüstungskonferenz in Genf zusammengetreten war, schlug Brüning ein unterdessen in der Reichswehrführung entwickeltes Konzept vor, wonach das Reichsheer umorganisiert werden sollte durch die Einführung kürzerer Dienstzeiten, eine Verstärkung der stehenden Truppe sowie ihre Ergänzung durch eine kurzausgebildete Miliz, ferner die Ausrüstung mit modemen Waffen sowie die Ersetzung der entsprechenden Teile des Versailler Vertrags durch eine neue internationale Übereinkunft. Über dieses Programm, 11'
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1. Die Ordnung von Versailles und ihre Schwächen
mit dem Amerikaner, Briten und Italiener im April 1932 einverstanden waren, schrieb Stimson in der Rückschau, wenn es verwirklicht worden wäre, dann könnte es wohl den Zweiten Weltkrieg verhindert haben. Vielleicht war das eine allzu optimistische Einschätzung. Aber wenn hier tatsächlich eine Chance bestand, so ist sie jedenfalls nicht genutzt worden. Frankreich zeigte kein nennenswertes Entgegenkommen, und BTÜning wurde bald darauf gestürzt. Der neuen Regierung trat das Ausland zunächst mit Mißtrauen gegenüber, so daß Frankreich im Juli 1932 das Beharren der AbTÜstungskonferenz auf dem Versailler Vertrag durchsetzen konnte, was zum Austritt Deutschlands aus der Konferenz führte. Reichsregierung und Reichswehrführung hielten dennoch am bisherigen Kurs fest; sie verlangten Gleichberechtigung in der Sicherheit und leiteten den Umbau des Heeres in der von BTÜning umrissenen Form ein. Die Westmächte veranlaßte dies noch einmal zum Nachgeben: Am 11. Dezember 1932 stellten sie in einer Fünf-Mächte-Erklärung fest, die deutsche militärische Gleichberechtigung werde grundsätzlich anerkannt. Doch es war zu spät. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. 97
97 MGFA, Militärgeschichte, Bd. III, Abschnitt 6, 134 ff., 194 ff., 207 ff., 228 ff.; Bd. IV, 86 ff., 104 ff., 290 ff. Knipping, Frankreich, 51 ff., 182 ff. Stimson nach W. Link, Stabilisierungspolitik, 520 (Stimson-Tagebuch von 1947). Dazu BTÜning, Memoiren 11, 588 ff.
11. Deutschland unter dem Nationalsozialismus 1. Vorbemerkung Zwischen der Außenpolitik der rechtsstaatlichen und demokratischen Weimarer Republik sowie der Außenpolitik der nationalsozialistischen Diktatur besteht ein grundlegender Unterschied. Die Weimarer Außenpolitik war darauf gerichtet, Deutschland wieder die Stellung einer europäischen Großmacht zu geben oder, soweit sie als Revisions- und Außenhandelspolitik nach Zwischeneuropa ausgriff, die Stellung einer mitteleuropäischen Vormacht. Zwar tauchte auch in der Weimarer Zeit gelegentlich der Gedanke auf, zur Erreichung jenes Zieles militärische Mittel einzusetzen. Reichskanzler Wirth und General Seeckt sprachen davon, und Oberst Joachim von Stülpnagel aus dem Truppenamt, der Weimarer Tarnform des Generalstabs, meinte in einer Denkschrift von 1926, das Verfolgen der Revisionsabsichten werde wahrscheinlich zu Auseinandersetzungen mit Frankreich führen, was die Möglichkeit des Krieges in sich schließe. Reichswehrminister Groener stellte in einer Weisung über die Aufgaben der Wehrmacht von 1930 fest, unter günstigen internationalen Umständen komme auch ein Einsatz der Reichswehr nicht bloß zu Verteidigungszwecken in Betracht, also z. B. zur Besetzung von Gebieten jenseits vertraglicher Grenzen, sofern andere Mächte nicht eingriffen. Doch die verbindliche Hauptlinie der Weimarer Außenpolitik blieb stets die friedliche Revision, d. h. die Veränderung des bestehenden Zustands unter Billigung oder Duldung anderer Großmächte und ohne europäischen Krieg. Eine erfolgreiche deutsche Revisionspolitik hätte das europäische Mächtesystem zwar verändert und insbesondere die Versailler Ordnung aufgelöst, aber sie hätte das europäische System, jedenfalls in seinen Grundzügen, nicht gesprengt. Soweit es nach der Zerschlagung der alten europäischen Pentarchie und dem Ausfall der Donaumonarchie als fünfter Großmacht eine Rückkehr zum klassischen europäischen Mächtesystem noch geben konnte, hätte es sich um ein Kräfteverhältnis gehandelt, das sich zwischen den vier Hauptmächten Rußland, Deutschland, Britannien und Frankreich einpendeln mußte, allenfalls noch unter Hinzutritt Italiens. Es ist völlig falsch, daß Deutschland, wenn es durch die Revision der Versailler Ordnung zur mitteleuropäischen Vormacht aufgestiegen wäre, damit zugleich Hegemonialmacht in ganz Europa geworden wäre. Der begriffliche Gegensatz von Gleichgewicht und Hegemonie besagt, daß eine Macht oder Mächtegruppe, welche die anderen zur Unterordnung zwingen kann, das Gleichgewicht verletzt oder zerstört. Innerhalb einer solchen übermächtigen Gruppe mag dann wiederum die stärkste Macht die Führung ausüben, wie es beim Kontinentalblock der Fall gewesen wäre, in welchem Deutschland ein
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11. Deutschland unter dem Nationalsozialismus
Übergewicht besessen hätte. Allein durch eine Vonnachtstellung in Mitteleuropa hätte indes Deutschland das europäische Gleichgewicht noch nicht gefährdet und insoweit auch keine gesamteuropäische Hegemonialstellung erlangt. Man darf sich nicht von der Tatsache irremachen lassen, daß Deutschland in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges den größten Teil Europas niederwarf. Dies war doch nur deswegen möglich, weil Rußland zunächst untätig zusah, wie Polen und die Westmächte besiegt wurden, um anschließend, nunmehr ohne nennenswerte Unterstützung, selbst an die Reihe zu kommen. Nach realistischer Lageeinschätzung wäre Deutschland außerstande gewesen, den Rest Europas auf einen Schlag zur Unterordnung zu zwingen oder gar zu beherrschen, sofern dieser Rest sich so verhalten hätte, wie die Bewahrung des Gleichgewichts es gebot. Das war ja auch der Grund, weswegen Stimson in den letzten Jahren der Weimarer Republik von einer Erfüllung der deutschen Revisionswünsche keine Gefahr ausgehen sah. Eine einzelne Großmacht in Europa war allein von sich aus überhaupt nicht imstande, die Hegemonie über den ganzen Erdteil auszuüben, weder Frankreich, als es seine Vonnacht gegenüber Mitteleuropa besaß, noch Deutschland, wenn es eine Vonnacht gegenüber Zwischeneuropa erlangen sollte. Sondern das europäische Gleichgewicht konnte nur durch mehrere Großmächte gemeinsam aus den Angeln gehoben werden, so insbesondere durch Deutschland und Rußland. Die Weimarer Revisionspolitik gefährdete also weder das europäische Gleichgewicht noch steuerte sie auf eine gesamteuropäische Hegemonie Deutschlands zu; sie hätte vielmehr zur Festigung des europäischen Gleichgewichts beitragen können, indem Deutschland darauf verzichtete, mit russischer Rükkendeckung Europa in Unruhe zu stürzen. I Demgegenüber war die Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland, soweit sie von Hitler und etlichen seiner Gefolgsleute bestimmt wurde, von gänzlich anderer Art. Sie zielte - wie noch zu zeigen sein wird - tatsächlich auf die Hegemonie über Gesamteuropa oder sogar noch mehr, und zwar in der härtesten und rücksichtslosesten Weise als reine Gewaltherrschaft. Da solches mit friedlichen Mitteln selbstverständlich nicht zu erreichen war, erstrebte die Außenpolitik Hitlers von vornherein nichts anderes als den Krieg, und zwar nicht einen begrenzten Krieg um begrenzter Ziele willen, sondern einen gegebenenfalls stufenweise aufzubauenden, umfassenden Krieg zum Zweck der umfassenden Unterwerfung. Das Fatale daran war, daß diese Zielsetzungen, oftmals bewußt verschleiert, nicht vom Beginn an klar zutage lagen und für die meisten Beteiligten nie ganz deutlich wurden; selbst nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Forschung diese Zusammenhänge erst allmählich aufgedeckt. Fatal war ferner, daß die Erfolge der Hitlerschen Politik sich lange mit dem einhelligen Revisionsbegehren zu decken schienen und daß der Krieg, als er dann kam, eine eigene Schwerkraft entfaltete, die ein Zurück kaum noch möglich machte. Deutschland ist nicht in I Stülpnagel in ADAP, Sero B, Bd. 1/1,341 ff. (6.3.1926). Zu Groener MGFA, Weltkrieg I, 383 ff. Der unzutreffende Gebrauch des Wortes Hegemonie etwa bei Wendt, Großdeutschland.
1. Vorbemerkung
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den Zweiten Weltkrieg hineingestolpert, ebensowenig wie Europa in den Ersten. Aber das deutsche Volk ist gewissennaßen in die Herrschaft des N ationalsozialismus hineingestolpert und blieb dann darin gefangen, bis der Zusammenbruch dem Spuk ein Ende machte. Dieses Hineinstolpern in die Herrschaft des Nationalsozialismus war nicht allein und vielleicht nicht einmal in erster Linie eine Folge der außenpolitischen Lage, also des Versailler Diktats und der geringen oder zu späten Erfolge bei seiner Revision. Der bekannte Historiker Friedrich Meinecke hat zwar 1930 einmal gesagt: "Der Versailler Friede ist die letzte und stärkste Ursache des Nationalsozialismus." Ernst von Weizsäcker, der später Staatssekretär im Auswärtigen Amt wurde und am Widerstand beteiligt war, vertrat als Gesandter in Oslo kurz nach der Machtergreifung die Ansicht: "Den Nazismus verdankten wir zur Hälfte Frankreich." Aber diese Frage ist ungeklärt, und sie wird ungeklärt bleiben, solange es nicht möglich ist, den außenpolitischen Anteil sowohl bei den Wahlerfolgen der Nationalsozialisten als auch bei den Vorgängen der Regierungsbildung, die in der späten Weimarer Republik immer mehr zerfaserten, so genau zu gewichten, daß er mit anderen Einflüssen, etwa der Wirtschaftskrise, verrechnet werden kann. Immerhin ist nicht zu leugnen, daß sowohl der Aufstieg des Nationalsozialismus als auch das Hineingleiten der Republik in die Diktatur immer eng mit außenpolitischen Dingen verknüpft waren; die Außenpolitik bildete wenn schon nicht die einzige, so doch eine der wichtigsten Brücken zu Hitler. 2 Der allmähliche Wandel von der Weimarer Politik friedlicher Revision zur nationalsozialistischen Kriegspolitik Hitlers vollzog sich in einem stufenweisen Vorgang der Überlagerung oder Überschichtung. Für die Verständigungspolitik Stresemanns war die Verständigung, vor allem mit Frankreich, nie Selbstzweck gewesen, sie hatte vielmehr den Grund legen sollen für die Änderung des Versailler Zustands. In dieser friedlichen Revisionspolitik bahnte sich bereits in den späteren 1920er Jahren, noch zu Lebzeiten Stresemanns, ein Umschwung an, der dasjenige schärfer ans Licht hob, was mit der Verständigungspolitik eigentlich bezweckt wurde, nämlich die Abstreifung der Versailler Fesseln. Es kündigte sich diejenige Fonn der Politik an, die hier als Politik der Stärke bezeichnet wurde - zunächst nicht als Politik militärischer Stärke, die Deutschland gar nicht besaß und kurzfristig auch nicht erringen konnte, sondern als Politik des Pochens auf die deutschen Ansprüche, der härteren und unnachgiebigeren Verfechtung der Revisionsziele. Der Beginn der geheimen Rüstungsplanung, welche den Versailler Vertrag bereits durchbrach; die Unzufriedenheit der Parteipolitiker mit den geringen Fortschritten der Locarno-Politik; die scharfen Angriffe, welche Reichskanzler Müller und Stresemann gegen die Unfähigkeit des Völkerbunds sowohl in der Frage der allgemeinen Abrüstung als auch in Minderheitenangelegenheiten richteten; der Kellogg-Pakt zur Kriegsächtung, mit welchem Deutschland die Revision an der Seite der USA gegen Frankreich zu fördern hoffte 2 Zu Meinecke dessen Polit. Schriften, 441. Zu Weizsäcker HilI, 61 (3.3.1933). Ferner Jung, Durchbruch.
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11. Deutschland unter dem Nationalsozialismus
all dies deutete schon 1928 darauf hin, daß Berlin im Begriff war, eine schärfere Gangart einzuschlagen., um sich über den französischen Widerstand hinwegzusetzen und dem Reich wieder die Rolle einer wirklichen Großmacht zu verschaffen. Seit 1930 war dann die Verständigungspolitik endgültig abgeschrieben; das Ringen um die Zollunion mit Österreich 1931 war letztlich ein politischer Machtkampf zwischen Deutschland und Frankreich. Wenngleich die Politik der Stärke hier noch fehlschlug, konnte sie doch 1932 mit dem Ende der Reparationen und dem prinzipiellen Zugeständnis deutscher Gleichberechtigung in der Sicherheit ihre ersten Erfolge verbuchen. Diese Politik der Stärke, die immer noch friedliche Revisionspolitik war, wurde seit der Bildung der Regierung Hitler ihrerseits wieder überlagert von der nationalsozialistischen Politik, die anfangs nur eine neuerliche Verschärfung der Revisionspolitik zu sein schien, vor allem dadurch, daß sie den Weg zur ungebundenen deutschen Aufrüstung frei machte. Hatten die Kabinette der späten Weimarer Republik noch die Gleichberechtigung in der Sicherheit durch internationale Übereinkunft gesucht, so verließ das Reich, als es im Oktober 1933 aus dem Völkerbund sowie der Abrüstungskonferenz austrat, den Boden der einvernehmlichen und vertraglich abgestützten Sicherheitspolitik. In den Augen der sog. konservativen Führungsschichten, also derjenigen Gruppen, welche in der Regierung Hitler mit den Nationalsozialisten zusammenarbeiteten, namentlich das Auswärtige Amt und die Reichswehrführung, bedeutete dies jedoch nicht den Übergang zu einer Kriegs- oder Eroberungspolitik. Vielmehr stellte es die Rückkehr zu einem Zustand der freien Souveränität und selbstbestimmten Machtpolitik dar, wie sie für die klassische Zeit des europäischen Staatensystems kennzeichnend gewesen war und durch den mißratenen Völkerbund nicht dauerhaft hatte abgelöst werden können. Schon die Gleichberechtigung in der Sicherheit hätte, wenn sie durchgeführt worden wäre, die deutsche Politik auch militärisch zu einer Politik der Stärke gemacht, da Deutschland, sofern es tatsächlich verteidigungsfähig war, in ganz anderer Weise und viel selbstbewußter zu handeln vermochte, um seine territorialen Revisionsziele zu erreichen. Die Entwaffnung des Reiches und das französische Streben nach der militärischen Rheingrenze hatten ja auch dem Zweck dienen sollen, unverzüglich zugunsten der zwischeneuropäischen Staaten einzugreifen, falls ihre Unabhängigkeit und ihr territorialer Bestand in Frage gestellt wurden. Wenn aber Deutschland tatsächlich verteidigungsfähig war, auch durch international abgestützte Gleichberechtigung in der Sicherheit, dann konnte Frankreich nicht mehr jede Änderung der Verhältnisse an der deutschen Ostgrenze im Keim ersticken, weil Deutschland den französischen Einmarsch erst einmal aufzuhalten vermochte. Es bestand dann z. B. die Aussicht, daß Frankreich eine von Österreich und Deutschland gemeinsam gewünschte Zolleinigung, vielleicht sogar den Anschluß, nicht mehr verhindern konnte - ein Vorgang, der mit deutschem Kriegs- oder Eroberungswillen nicht das geringste zu tun hatte, denn wenn Frankreich nicht eingriff, kam es gar nicht zum Krieg. Ebenso wäre unter diesen Umständen denkbar gewesen, daß Deutsch-
1. Vorbemerkung
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land und Rußland gemeinsam Druck auf Polen ausübten, um es, wie schon die Formel der 1920er Jahre gelautet hatte, auf seine ethnographischen Grenzen zurückzudrängen - was zwar die Versailler Ordnung verletzt hätte, aber gleichfalls nicht notwendigerweise den Krieg nach sich ziehen mußte und im übrigen einer dauerhaften Nationalitätenregelung sowie den 14 Punkten weit besser entsprochen hätte als die unnatürliche Ausdehnung Polens zugunsten seines Großmachtehrgeizes. An solchen Gegebenheiten brauchte der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und der Abrüstungskonferenz an sich nichts zu ändern. Der Unterschied bestand zunächst lediglich darin, daß durch die deutsche Rüstungsfreiheit das Spiel der ungehinderten Machtentfaltung und Machtpolitik früherer Zeiten wieder einsetzte, also eine Rückkehr zu derjenigen Gleichgewichtspolitik stattfand, welche ein Völkerbund nach Wilsons Vorstellungen hatte verhindern sollen, welche der wirkliche Völkerbund aber nicht verhindern konnte, weil er nichts taugte. Die deutsche Rüstungsfreiheit stellte in den Beziehungen der Völker wohl insofern einen Rückschritt dar, als sie nunmehr auch andere Länder zur Aufrüstung veranlaßte, aber Rüstungspolitik ist nicht schon von sich aus Kriegspolitik. Sie war es in den langen Jahrhunderten europäischer Gleichgewichtspolitik nicht gewesen und brauchte es in den 1930er Jahren ebensowenig zu sein, solange der Wille vorherrschte, Frieden und Gleichgewicht zu erhalten. Für die sog. konservativen Führungsschichten in Deutschland stellte die Rüstungspolitik den Hebel dar, um die Starrheit der Versailler Ordnung aufzubrechen und diejenigen Änderungen zu erreichen, die bislang verfehlt worden waren. Für diese Gruppen waren Außen- und Rüstungspolitik nach wie vor eine Politik der Stärke zum Zweck der Revision. Ihre Zielvorstellung war letztlich dieselbe wie diejenige Stresemanns: eine wiedererrichtete Großmacht in der Mitte Europas, die von niemandem gegängelt wurde, in den europäischen Angelegenheiten ein starkes oder sogar das entscheidende Gewicht auf die Waagschale brachte und in weltpolitischen Dingen wenigstens mitspracheberechtigt war. Das hätte in etwa der Bedeutung Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg entsprochen, und darauf konnte Deutschland wegen seiner Leistungsfähigkeit einen begründeten Anspruch erheben - jedenfalls einen besser begründeten Anspruch als Frankreich. 3 Diese Revisionspolitik als Politik der Stärke lief eine Zeitlang gleichsam neben den eigentlichen Absichten Hitlers her und schien sich mit der nationalsozialistischen Außenpolitik weitgehend zu decken, ohne daß der grundlegende Unterschied schon deutlich ans Licht getreten wäre. Der Bruch zwischen beiden erfolgte 1937/38, als für die sog. konservativen Führungsschichten klar wurde, daß Hitler nicht Stärke zum Zweck der Revision erstrebte, sondern Stärke zum Zweck des Krieges, und zwar eines Krieges, der die deutsche Großmachtstellung nicht sicherte, sondern gefährdete, sofern er sie nicht ganz vernichtete. Dies führte zu einem der großen Zusammenstöße zwischen Hitler und den sog. konservativen 3 Zur Revisionspolitik allgemein Hillgruber, Revisionismus. Zum Wandel der Revisionspolitik seit 1928 oben, Anm. 92, 95. Zum Übergang in den Nationalsozialismus und Völkerbundsaustritt MGFA, Weltkrieg I, 547 ff., 571 ff.
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11. Deutschland unter dem Nationalsozialismus
Führungsschichten, wahrscheinlich sogar dem größten. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen bereitete der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, 1938 den Staatsstreich vor - wohl der aussichtsreichste Versuch, der je zur Entfernung Hitlers und zur Abwendung des Unheils unternommen wurde. Und wieder spielte die Außenpolitik eine maßgebliche Rolle. Das Unternehmen Halders war an die Voraussetzung geknüpft, daß auch das Ausland Hitler entgegentrat; in diesem Fall sollte der sorgfältig geplante Umsturz anlaufen. Das Ausland trat Hitler nicht entgegen, und der Staatsstreich unterblieb. Es ist mit Recht festgestellt worden, daß der deutsche Widerstand sich von diesem Schlag nie mehr richtig erholt hat. Diese Tatsache bleibt festzuhalten, auch wenn sie heute nicht immer die gebührende Würdigung findet. Das deutsche Volk und die Wehrmacht sind ganz allmählich in die Kriegspolitik Hitlers hineingeglitten. Als die wirklichen Absichten Hitlers offenkundig wurden, hat die Wehrmacht, wenigstens zum Teil, sich auf ihre Verantwortung gegenüber Volk und Reich besonnen und hat versucht, der Diktatur Einhalt zu gebieten. Mit dem Mißlingen dieses Versuches war der Weg in den Krieg frei. Nicht mehr Revision stand auf dem Programm, sondern Unterwerfung. Die nationalsozialistische Außenpolitik, welche die ältere Revisionspolitik zunächst nur überlagert hatte, verdrängte sie jetzt vollständig. Diese nationalsozialistische Außenpolitik kann jedoch mit der herkömmlichen Außenpolitik nicht mehr auf eine Stufe gestellt werden. Sie war weder eine Kunst des Möglichen noch ein nüchternes Kalkulieren mit Sachzwängen, sondern sie war ein entwurf über die Grenzen des Vernünftigen und Berechenbaren hinaus. Sie diente der Verwirklichung einer Weltanschauung - einer Weltanschauung, die im Grad ihrer Radikalität in der Geschichte vielleicht nicht ganz ohne Beispiel ist, die aber in dem Willen, die Wirklichkeit zu gestalten, der ansonsten jeder Politik zu eigen ist, den Boden unter den Füßen so sehr verlor, daß sie am Ende nichts anderes zu bewirken vermochte als Zerstörung. 4
2. Die nationalsozialistische Weltanschauung Wie Hitler die unumschränkte und unbestrittene Führungsgestalt der nationalsozialistischen Bewegung und später des Dritten Reiches war, so war er auch der maßgebliche Urheber dessen, was man als nationalsozialistische Weltanschauung bezeichnen kann. Adolf Hitler, 1889 im österreichisch-bayerischen Grenzgebiet geboren und gemäß seinem Lebenslauf bis zum Ersten Weltkrieg ein gescheiterter Künstler, trat 1919 in die "Deutsche Arbeiterpartei" ein, die damals nur eine kleine, völkische Splittergruppe in München war, 1920 in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei umbenannt wurde und unter Hitlers Mitwirkung ein Parteiprogramm erhielt. 1921 erzwang Hitler die Übertragung des Parteivorsitzes sowie die Befugnis, die Partei "diktatorisch", d. h. unabhängig von Beschlüssen des Parteivorstands zu leiten. Durch einen mißglückten Putsch4
Zu Halder P. Hoffmann, Widerstand, 109 ff., 125, 130.
2. Die nationalsozialistische Weltanschauung
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versuch 1923 in München sowie durch den anschließenden Prozeß überall bekannt geworden, gründete Hitler die zwischenzeitlich verbotene Partei 1925 neu und baute sie in der Folgezeit reichsweit aus. War die NSDAP vorher eher eine Putschorganisation gewesen, so wurde sie nun zu einem Werkzeug der Legalitätstaktik, d. h. des Kampfes um Wählerstimmen. Durch eine Anzahl angeschlossener Organisationen sollten die verschiedenen Gesellschaftsgruppen gewonnen werden, so daß die nationalsozialistische Bewegung bis zur Machtergreifung tatsächlich so etwas wie eine Integrationspartei oder Volkspartei wurde, sowohl nach ihrer Zusammensetzung als auch nach ihrer Wählerschaft. In den Führungskreisen der Bewegung, bei den Gauleitern und anderen "alten Kämpfern", hielt sich jedoch der Typ des Entwurzelten, Unzufriedenen, Verbitterten und Radikalen, wie Hitler selber einer war, ein Typ, der Schwierigkeiten hatte, in der Gesellschaft Fuß zu fassen, und in der Partei ein geeignetes Betätigungsfeld fand. Diese Führungskräfte der Partei besetzten nach der Machtübernahme hohe Stellen des Staatsapparats; Hitler, seit 1933 Reichskanzler, übernahm 1934 zusätzlich das Amt des verstorbenen Reichspräsidenten Hindenburg und nannte sich fortan "Führer und Reichskanzler", 1938 kam noch das Amt des Oberbefehlshabers der Wehrmacht dazu, d. h. praktisch des Reichskriegsministers. 5 Eine völlig einheitliche nationalsozialistische Weltanschauung hat es an sich nie gegeben. Selbst in dem engeren Kreis der Rassentheoretiker und Rassenfanatiker um Hitler, Himmler, Rosenberg, Goebbels und Darre gab es Meinungsunterschiede, und manchem anderen, wie dem Glücksritter und Lebemann Hermann Göring, war die nationalsozialistische Weltanschauung ziemlich gleichgültig. Trotzdem gelang es Hitler, für das politische Handeln der Bewegung und des Dritten Reiches seine eigene Weltanschauung verbindlich zu machen; die nationalsozialistische Ideologie war in der Hauptsache Hitlers Weltanschauung, neben welcher abweichende Meinungen kein erhebliches Gewicht erlangten. Manche Wurzeln der Weltanschauung Hitlers und verwandter gedanklicher Entwürfe reichen in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Dennoch sprach Hitler etwas Richtiges aus, wenn er bald nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in einer Rede sagte: "Aus dem Krieg sind wir Nationalsozialisten einst gekommen, aus dem Erlebnis des Krieges ist unsere Gedankenwelt entstanden, und im Krieg wird sie sich, wenn nötig, jetzt bewähren." Ähnlich wie beim italienischen Faschismus waren der Krieg und seine Folge, die Friedensregelung, zwar nicht der einzige Entstehungsgrund der nationalsozialistischen Bewegung, aber jedenfalls ihr entscheidender Geburtshelfer. Ebenso bildeten der Krieg, die Niederlage und die demütigenden Erfahrungen von Versailles den Auslöser für die Entstehung der nationalsozialistischen Gedankenwelt, wenngleich in dieser Weltanschauung schließlich sehr viel mehr enthalten war als nur die Auseinandersetzung mit dem Erlebnis des Krieges und seiner Folgen. Ihre endgültige Ausformung erhielt die Weltanschauung Hitlers tatsächlich erst in den Jahren 1919 bis 1924, wo er mit 5
Bracher, Diktatur. Tyrell, Aufstieg. Kater, Party. Thamer.
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11. Deutschland unter dem Nationalsozialismus
der Niederschrift von "Mein Kampf' begann, das dann zusammen mit einem zweiten, nicht veröffentlichten Buch von 1928 sein politisches Programm in etwa umriß.6 Der Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung wird öfters als antimodeme Utopie umschrieben, die aus der modemen industriellen Massenzivilisation ausbrechen wollte und an deren Stelle ein Bild von Gesellschaft und Staat stellte, das hinter die Entwicklungen der modemen Welt zurückfiel. Dagegen wird neuerdings eingewandt, Hitlers Weltbild sei keineswegs antimodem gewesen, vielmehr habe er die Industrie und den technischen Fortschritt begrüßt, er habe Klassenschranken beseitigen und den sozialen Aufstieg fördern wollen, und der Krieg sei für Hitler nicht Endzweck gewesen, sondern ein Durchgangsstadium in der Neugestaltung der Gesellschaft. Solche Einwände sind nützlich, um den Blick zu schärfen, sie treffen in vielem das Richtige, und trotzdem ändern sie an dem Befund, Hitlers Weltanschauung und seine Ziele seien antimodernistisch gewesen, nicht das geringste. Um das zu verstehen, muß man etwas weiter ausholen. Hierzu zwei Beispiele. In einer Rede von 1920 führte Hitler aus, es gebe einen Unterschied zwischen dem Industrie- und Betriebskapital sowie dem Börsen- und Leihkapital. Das erstere sei nützlich und unvermeidlich, das zweite sei schädlich und müsse bekämpft werden. Das Börsen- und Leihkapital diene nicht der Erzeugung von Werten durch Arbeit, sondern der Ausbeutung. Wörtlich meinte er: "Während der kleinste Handwerksmeister abhängig ist von den Schicksalen, die ihn tagsüber betreffen können, von der allgemeinen Lage, im Mittelalter vielleicht von der Größe seiner Stadt und ihrem Gedeihen, von der Sicherheit in dieser Stadt, ist auch heute dieses Kapital, d. h. das Industriekapital, gebunden an den Staat, an das Volk, abhängig vom Willen des Volkes zu arbeiten, abhängig aber auch von der Möglichkeit, Rohstoffe zu beschaffen und Arbeit bieten zu können, Abnehmer zu finden, die die Arbeit wirklich kaufen, und wir wissen genau, daß ein Zusammenbruch des Staates unter Umständen die größten Werte wertlos macht, sie entwertet, zum Unterschiede vom andern Kapital, dem Börsen- und Leihkapital, das ganz gleichmäßig verzinst wird ohne jede Rücksicht darauf, ob nun der Besitzer, auf dessen Anwesen z. B. diese 10 000 Mark liegen, selber auch zugrunde geht oder nicht. Die Schulden bleiben auf dem Anwesen liegen ... Hier sehen wir schon die erste Möglichkeit, nämlich, daß diese Form von Geldvermehrung, die unabhängig ist von all den Ereignissen und Zwischenfällen des gewöhnlichen Lebens, notwendigerweise, weil sie nie behindert wird und stets gleichmäßig fortläuft, allmählich zu Riesenkapitalien führen muß, die so gewaltig werden, daß sie letzten Endes nur mehr eine Krankheit besitzen, nämlich die Schwierigkeit ihrer weiteren Unterbringung. Um diese Kapitalien unterzubringen, muß man dazu übergehen, ganze Staaten zu zerstören, ganze Kulturen zu vernichten, nationale Industrien aufzuheben, nicht um zu sozialisieren, sondern um all das in den Rachen dieses internationalen Kapitals hineinzu6
Hitler 1939 in Domarus III, 1367 (10.10.1939).
2. Die nationalsozialistische Weltanschauung
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werfen; denn dieses Kapital ist international; als einziges auf dieser Erde, das überhaupt international ist, ist es international deshalb, weil seine Träger, die Juden, international sind durch ihre Verbreitung über die ganze Welt. Und schon hier müßte sich doch jeder an den Kopf greifen und sich sagen: Wenn dieses Kapital international ist deshalb, weil seine Träger, die Juden, verbreitet sind international über die ganze Welt, so muß es doch ein Wahnsinn sein zu denken, daß man dieses Kapital von den gleichen Angehörigen dieser Rasse wird international bekämpfen können ... So ist dieses Kapital gewachsen und beherrscht heute praktisch die ganze Erde, unermeßlich an Summen, unfaßbar in seinen großen Verhältnissen, unheimlich wachsend und - das Schlimmste! - alle redliche Arbeit vollständig korrumpierend, denn darin liegt das Grauenhafte, daß der gewöhnliche Mensch, der heute die Lasten zu tragen hat zur Verzinsung dieser Kapitalien, sehen muß, wie ihm trotz Reiß, Emsigkeit, Sparsamkeit, trotz wirklicher Arbeit kaum das bleibt, um sich nur nähren zu können und noch weniger, um sich kleiden zu können in der gleichen Zeit, in der dieses internationale Kapital Milliarden verschlingt nur an Zinsen, die er mit aufbringen muß, in der gleichen Zeit, in der sich eine Rassenschichte breit macht im Staate, die keine andere Arbeit tut als für sich selber Zinsen eintreiben und Coupons abschneiden. Es ist dies die Degradierung jeder ehrlichen Arbeit; denn jeder ehrlich tätige Mensch muß sich heute fragen: Hat es einen Zweck, wenn ich überhaupt schaffe? Ich bringe es doch nie zu etwas, und dort sind Menschen, die ohne jede Tätigkeit - praktisch - nicht nur leben können, sondern praktisch sogar uns noch beherrschen, und das ist ja das Ziel. Es soll ja eine der Grundfesten unserer Kraft zerstört werden, nämlich die sittliche Auffassung der Arbeit, und das war auch der geniale Gedanke von Karl Marx, daß er den sittlichen Gedanken der Arbeit umfalschte, daß er die ganze Masse der Menschen, die unter dem Kapital seufzten, organisiert zur Zerstörung der nationalen Wirtschaft und zum Schutze des internationalen Börsen- und Leihkapitals."7 Das ist so wirr und abwegig, daß man sich fast scheut, derlei Ungereimtheiten überhaupt wiederzugeben. Man kann es sich ersparen, diese Ansichten im einzelnen aufzugliedern und zu zeigen, wo sie überall auf schlichter Kenntnislosigkeit, auf Widersprüchen und abenteuerlichen Verfalschungen beruhten; schon der Augenschein spricht für sich. Es ist völlig richtig, daß die nationalsozialistische Weltanschauung auch, in gewisser Hinsicht sogar vorrangig, eine Gesellschaftsund Wirtschaftstheorie war, aber was für eine! Der Gedanke, das Betriebskapital vom Börsen- und Leihkapital zu unterscheiden und das letztere mit dem Judentum in Verbindung zu bringen, war an sich nicht neu. Er ging auf antisemitische Spekulationen des frühen Kaiserreichs zurück und wurde nach dem Ersten Welt7 Zum antimodernen Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung bereits Nolte, Faschismus, VII, 486 ff., 507. Ausdrücklich sodann Turner, Anti-Modernismus. Rauh, Anti-Modernismus. Dagegen Zitelmann, Hitler. Ders., Biographie. Hitlers Rede von 1920 in Hitler, Aufzeichnungen, 193 ff. ("Warum sind wir Antisemiten?", 13.8.1920).
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11. Deutschland unter dem Nationalsozialismus
krieg von dem Ingenieur und Amateur-Ökonomen Gottfried Feder zur Lehre von der ,,zinsknechtschaft" verdichtet. Durch Feder kam Hitler zu einer Art Erwekkungserlebnis; er glaubte nun über das theoretische Rüstzeug für seinen politischen Handlungswillen zu verfügen. Man muß sich aber immer wieder vor Augen halten, um welche Art von "Theorie" es sich dabei handelte. Hatten antisemitische Sektierer schon in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg das Judentum teils als Träger des ausbeuterischen Kapitalismus, teils als Träger des internationalen Sozialismus und teils als Organisator einer Verschwörung zum Zweck der Weltherrschaft angesehen, so brachte Hitler nun das Kunststück fertig, das Judentum, den Bolschewismus und das internationale Finanzkapital in einen Topf zu werfen. Darüber hinaus brachte er auch noch das Kunststück fertig, die Außenpolitik damit zu verknüpfen, denn diese verstand er in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Rassenkampf und in diesem Zusammenhang zugleich als Kampf um die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Zwar lernte Hitler in seiner weiteren Entwicklung noch manches dazu; seine Reden waren später geschmeidiger, nicht mehr ganz so hölzern, er nahm zusätzliche Gedanken auf und baute sie in seine Lehre ein. Doch das "granitene Fundament" seiner Weltanschauung, wie es sich bis in die frühen 1920er Jahre ausgeformt hatte, blieb tatsächlich stets dasselbe. Der Bogen dieses Gedankengebäudes spannte sich von der angeblichen Zerstörung der nationalen Arbeit durch das internationale Judentum bis zur Wiederherstellung der nationalen Arbeit durch die Eroberung von Lebensraum und bis zur Beseitigung aller schädlichen Einflüsse des Judentums durch dessen physische Vernichtung. Diesen Zusammenhang muß man sehen, sonst versteht man die nationalsozialistische Weltanschauung nicht. Sodann muß man sich Klarheit verschaffen über den "theoretischen" Charakter und logischen Aufbau dieser Weltanschauung. Nicht jeder willkürlich zusammengekochte Gedankenbrei erfüllt schon die formalen Bedingungen, die an rationale und tragfähige Formen der Welterklärung zu stellen sind. Der Gefahr des Irrtums unterliegt bekanntlich jede Theorie, aber wenn sie nicht von vornherein bloß belangloses Gerede sein will, muß sie gewissen methodischen Mindestanforderungen genügen. Verwendbare Theorien haben im Zeitalter der Moderne regelmäßig wissenschaftlichen Charakter, und über das erforderliche Rüstzeug hierzu verfügt nicht jeder hergelaufene Ignorant, schon vollends nicht, wenn er der geistigen Redlichkeit und des Willens zur mühsamen Gedankenarbeit ermangelt. Eine verwendbare Theorie muß die erkennbaren Tatsachen zutreffend beschreiben, in logisch zulässiger Weise miteinander verknüpfen und Schlüsse daraus ziehen, die sich nicht schon durch ihre innere Widersprüchlichkeit selbst widerlegen. Nichts von alledem war in Hitlers Weltanschauung verwirklicht. Die Tatsachen wurden verfälscht, Zusammenhänge hergestellt, wo keine waren, und Folgerungen gezogen, die mit der Logik nichts zu tun hatten. Die nationalsozialistische Weltanschauung war nach ihrem inneren Aufbau und ihrer Struktur selbst schon eine Revolte gegen die Modernität, denn diese gründet die Welterklärung auf die Methode sowie auf das mittels der Methode zu gewinnende Wissen. Wer
2. Die nationalsozialistische Weltanschauung
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weder die Methode noch das Wissen beherrscht oder auf beides verzichtet, kann zur Welterklärung nichts Vernünftiges beitragen. Im Hinblick auf Hitler war das nicht zufällig. Ohne abgeschlossene Schulbildung, ohne erlernten Beruf war er zum sorgfältigen, gründlichen und gewissenhaften Erwerb von Sachkunde weder willens noch fähig und zur mühsamen Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Gedankengebäuden erst recht nicht. Statt dessen begnügte er sich damit, Afterweisheiten aufzugreifen, die seinen Vorurteilen entsprachen, und beides zu einer Gedankenkette zu verknüpfen, die den Bezug zur Wirklichkeit durch Radikalität und Gewaltsarnkeit ersetzte. In "Mein Kampf' hat er das zutreffend beschrieben. Er habe, wie er ausführte, in seiner Wiener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in wenigen Jahren die Grundlagen seines Wissens geschaffen, und zwar nebenbei, und habe dabei erkannt, welch entsetzliche Bedeutung Marxismus und Judentum für die Existenz des deutschen Volkes hätten. Über die Art seines "Lesens" meinte er, sie unterscheide sich von dem, was die sog. Intelligenz darunter verstehe. Für ihn bestehe die Kunst des richtigen Lesens darin, durch das Gefühl dasjenige zu finden, was entweder zweckmäßig oder allgemein wissenswert sei. Dies werde dann eingegliedert in das immer schon irgendwie vorhandene Bild, das sich die Vorstellung von dieser oder jener Sache geschaffen habe, und erhöhe entweder die Richtigkeit oder die Deutlichkeit desselben. Am Ende des Ersten Weltkrieges, beim deutschen Zusammenbruch, sei ihm klar geworden, daß Judentum und Marxismus hierfür die Verantwortung trügen, und er habe daraus seine Folgerungen gezogen. Darin sei er bestärkt worden, als er bald darauf eine Anregung erhielt, die ihm bislang noch fehlte. Durch Gottfried Feder habe er den Unterschied zwischen dem Industriekapital und dem Börsen- bzw. Leihkapital kennengelernt und sofort gewußt, daß es sich hier um eine theoretische Wahrheit handle, die von immenser Bedeutung für die Zukunft des deutschen Volkes werden müßte. "Die scharfe Scheidung des Börsenkapitals von der nationalen Wirtschaft bot die Möglichkeit, der Verinternationalisierung der deutschen Wirtschaft entgegenzutreten, ohne zugleich mit dem Kampf gegen das Kapital überhaupt die Grundlage einer unabhängigen völkischen Selbsterhaltung zu bedrohen. Mir stand die Entwicklung Deutschlands schon viel zu klar vor Augen, als daß ich nicht gewußt hätte, daß der schwerste Kampf nicht mehr gegen die feindlichen Völker, sondern gegen das internationale Kapital ausgefochten werden mußte." Das internationale Kapital war gleichbedeutend mit dem Judentum, und dieses wiederum gleichbedeutend mit dem Marxismus. Gegen das Judentum richtete sich also der schwerste Kampf, und dieser Kampf war im Innern ebenso zu führen wie auf dem Feld der Außenpolitik. Denn das internationale Kapital war, wie Hitler weiter ausführte, nicht nur der größte Hetzer zum Ersten Weltkrieg, sondern es unterließ auch nichts, den Frieden zur Hölle zu verwandeln, womit die weitere Auslieferung Deutschlands an das jüdische Finanzkapital gemeint war, etwa durch die Reparationen. Auch hier schlug Hitler wieder einen gewaltigen gedanklichen Bogen. Er beklagte, daß vor dem Ersten Weltkrieg die ebenso schrankenlose wie schädliche Industrialisierung zu
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einer Schwächung des Bauernstandes geführt habe. Die Nation sei verwirtschaftlicht worden, und zu den wirtschaftlichen Verfallserscheinungen habe das langsame Ausscheiden des persönlichen Besitzrechtes sowie das allmähliche Übergehen der gesamten Wirtschaft in das Eigentum von Aktiengesellschaften gehört. Auf dem Umweg über die Aktie sei die Internationalisierung der deutschen Wirtschaft in die Wege geleitet worden. Das gierige Finanzkapital (sprich: das Judentum) habe den Kampf mit Hilfe seines treuesten Genossen, der marxistischen Bewegung, geführt. Durch den Sieg des Marxismus in der deutschen Revolution von 1918/19 sei die Internationalisierung der deutschen Wirtschaft ganz zu Ende gebracht worden. So sei schließlich auch die deutsche Reichsbahn zu Händen des internationalen Finanzkapitals überwiesen worden. Gemeint war damit, daß im Zuge des Dawes-Plans von 1924 die Reichsbahn in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, in deren Aufsichtsrat Ausländer saßen. Außerdem wurde die Reichsbahn mit Obligationen belastet, auf welche sie zugunsten der Reparationen Zinsen zahlen mußte. Hitler gab dies als Ziel der "internationalen" Sozialdemokratie aus, die also nach seiner Meinung das Geschäft des Judentums, des internationalen Finanzkapitals, des Marxismus sowie der Verinternationalisierung der deutschen Wirtschaft betrieb. Wahrlich, der Jude war bei Hitler allgegenwärtig, und die nationale Wirtschaft zerstörte er auch. Was darf man von solchen Weisheiten halten?8 Ein zweites Beispiel. In einer Rede von 1928 wandte sich Hitler gegen das demokratische Mehrheitsprinzip und gegen die Rückbindung politischer Entscheidungen an Wahlen. Er meinte, "es kann sein, daß z. B. eine Abstimmung kommt, ob Deutschland den Weg der Außenpolitik einschlagen soll oder den anderen, und da wird abgestimmt und endlich hängt es von einem Mann ab und das ist sagen wir der Hieronimus Oberhuber, der die deutsche Außenpolitik so oder so entscheiden wird. Der Mann gibt seine Stimme ab. Nun müssen sie sich aber vorstellen, wie der gewählt wurde! Der ist nämlich auch selbst wieder nur mit einer Stimme Majorität gewählt worden, und diese Stimme ist ein Kuhfräulein. Dieses Fräulein Zenzi soll zur Wahl. Sie wäre eigentlich nicht gegangen. Aber durch geistlichen Zuspruch und Rat hat sie sich bewogen gefunden. Man hat ihr gesagt, auf die Nummer 7 kommt das Kreuz hin. Diesem Zettel verdankt der Oberhuber seine Wahl. Denken Sie, dieser guten Dame verdankt die deutsche Nation ihre außenpolitische Leistung. Diese Fräuleins laufen genug herum. Bis in die feinsten Familien hinein findet man sie." Diese Auslassungen waren natürlich polemisch gemeint und zeigten einen gewissen scharfzüngigen Witz. Doch kommt es darauf an, was kritisiert wurde und wie dies geschah. Daß die modeme Parteiendemokratie manche Schwächen aufweist, ist eine unbestreitbare Tatsache, und zumal in der Weimarer Republik hat der Parlamentarismus mehr schlecht als recht funktioniert. Die sog. "Weimarer Koalition" der republiktreuen 8 Hitler, Mein Kampf, 21 ("granitenes Fundament"), 36 ff. (Lesen), 228 ff., 232 f. (G. Feder), 255 ff. (Wirtschaftsentwicklung und Reichsbahn). Femer Nolte, Faschismus, 398 ff. Bracher, Diktatur, 35 ff., 40, 96.
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Parteien, der Sozialdemokratie, des katholischen Zentrums und der linksliberalen Demokratischen Partei, war seit 1920 stets in der Minderheit; wegen des fortwährenden Regierungswechsels kam eine stetige und gleichmäßige Gestaltung der Politik kaum zustande; zwischen Anfang 1919 und Anfang 1933 amtierten nur 71 Monate Mehrheitsregierungen, aber 97 Monate Minderheitskabinette. Gegen Ende der Weimarer Republik wurde die Kritik am Parlamentarismus und am Parteienstaat allgemein. Daß die parlamentarische Demokratie in einer Krise stecke, war keine Erfindung ihrer Gegner, sondern die Feststellung eines gegebenen Sachverhalts. Stresemann sagte in einer Rede von 1929: "Diese Krise hat zwei Ursachen: Einmal das Zerrbild, das aus dem parlamentarischen System in Deutschland geworden ist, zweitens die völlig falsche Einstellung des Parlaments in bezug auf seine Verantwortlichkeit gegenüber der Nation." Der linksliberale Politiker und zeitweilige bayerische lustizminister Müller-Meiningen schrieb 1926: "Die gefahrlichsten Feinde des Parlaments systems sind die Parlamente selbst: Ihre Zuchtlosigkeit, ihre Kleinlichkeit, Engherzigkeit, ihr Partei- und Kantönligeist, ihre Überhebung, das Übermaß der Rederei, der Mangel an Taten! Streitsucht und Parteienzwietracht sind die gefahrlichsten Feinde des Parlaments: Schlechte Sitten bis zur völligen Verrohung des Tons sind an der Tagesordnung. Der Deutsche Reichstag hat in der Zeit vom Ausbruch der Revolution bis heute das allerschlechteste Beispiel den Staatsbürgern an staatspolitischer Würde und Verständnis trotz großen fleißes der Ausschüsse gegeben. Seine Verhandlungen muten bisweilen mehr als die Äußerungen eines Tollhauses wie die eines Volkshauses an." Mit seinen Angriffen auf das Treiben in der Weimarer Parteiendemokratie befand Hitler sich scheinbar im Einklang mit einem verbreiteten und nicht ganz unberechtigten Mißbehagen. In Wahrheit jedoch meinte er etwas anderes. Man kann davon absehen, daß das in seiner vorhin genannten Rede vorgeführte Beispiel ziemlich konstruiert war, denn die Außenpolitik eines Landes pflegt kaum durch die Ansicht eines einzelnen Volksvertreters ihre Richtung zu erhalten, und für die Wahl des einzelnen Volksvertreters werden die Stimmen unkundiger Kuhfräulein nur selten den Ausschlag geben. So einseitig hat Hitler aber die Sache wahrscheinlich nicht aufgefaßt, sondern er wollte an dieser Stelle wie an vielen anderen darauf hinaus, daß das Wahlvolk in seiner Masse verantwortungsloses Stimmvieh sei und im gestuften Vorgang demokratischer Willens bildung nicht die Fähigsten ausgewählt würden, sondern diejenigen, welche den Eigenschaften der Masse am meisten entsprächen, d. h. der Dummheit, Feigheit und Schwäche. Hitler hatte zwar eine Vorstellung vom Staatsbetrieb und vom politischen Prozeß, aber sie war von derselben Art wie seine Vorstellungen über die Wirtschaft: ohne gründlich erarbeitete Sachkunde, ohne tiefere gedankliche Durchdringung, auf Vorurteilen, Halbwahrheiten und einseitigen Verzerrungen aufgebaut. 9 9 Die Hitler-Rede von 1928 bei Zitelmann, Hitler, 383 (30.11.1928). Zu Weimar Conze, 17 ff. Grosser, 217. Rauh, Parlamentarisierung. 470 ff. Stresemann und MüllerMeiningen zit. bei Sontheimer. 151.
12 Raub, Zweiter Weltkrieg 1. Teil
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Mit dem bekannten Soziologen Max Weber kann man die Wirkungsweise der parlamentarischen Regierungsform so verstehen, daß durch die Parteien und durch die Arbeit im Parlament eine Auslese von geeigneten politischen Führungspersönlichkeiten erfolgt, die dann im Zuge der parlamentarischen Regierungsbildung die leitenden Stellen des staatlichen Verwaltungsapparats besetzen. Das ist der Unterschied zur Regierungsform des konstitutionellen Rechtsstaats, wie er in Deutschland bis in den Ersten Weltkrieg hinein bestand, denn die leitenden Stellen der Verwaltung wurden dort nicht mit parlamentarischen Parteipolitikern besetzt, sondern regelmäßig mit Beamten, die vom Vertrauen der Krone abhingen. Die Beamtenregierungen des deutschen Konstitutionalismus zeichneten sich durch ein hohes Maß an Sachkunde und gediegene Bildung aus; wer bis zu höchsten Staatsstellungen aufstieg, hatte in der Regel ein sehr erfolgreiches Studium absolviert und durch langjährige Tätigkeit in einem Zweig der Verwaltung umfassende Geschäftskenntnis erworben. Im parlamentarischen Regierungssystem kann es davon Abweichungen geben. Der Parteipolitiker wird zwar häufig ebenfalls eine höhere Bildung genossen haben, aber er muß es nicht unbedingt. Eingehendes Wissen über den Staatsbetrieb und die Sacherfordernisse der Verwaltung kann der Parteipolitiker durch die Arbeit im Parlament erwerben; im Parlament findet er den Ort, wo er mit dem Fachbeamtenturn zusammentrifft und sich in der Regierungs- wie obersten Verwaltungstätigkeit schulen kann. All dies traf bei Hitler nicht zu. Über höhere Bildung verfügte er nicht, Arbeit in einem Parlament hat er nie geleistet, vom Staatsbetrieb und der Verwaltung hatte er schlicht keine Ahnung, und bis zur Machtergreifung war er nichts anderes als die Billigausgabe des Parteipolitikers: ein bloßer Demagoge. Hatte er in Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen auf so abstruse "Theorien" wie diejenige von der Zinsknechtschaft zurückgegriffen, so begnügte er sich im Hinblick auf den Staat mit Gedanken, die aus seiner Rassenvorstellung abgeleitet waren. Daß der Staat einen Mechanismus planmäßiger Organisation und rechtlich geregelter Verhaltensweisen darstellt, hat er teils nie begriffen und teils, soweit er es begriff, abgelehnt. Eine Elitenauslese, wie sie im Konstitutionalismus und im parlamentarischen Parteienstaat stattfindet, sah Hitler ebenfalls vor. Nur sollte es eine Auslese nach den Merkmalen rassischer Befähigung sein, und das war eine gänzlich andere Art von Befähigung, als sie im herkömmlichen Staat verlangt wurde. Auf dem Reichsparteitag von 1938 erklärte er, "daß auch für den politischen Führer und damit für die gesamte politische Führung einer Nation charakterliche Festigkeit, das starke Herz, der kühne Mut, die höchste Verantwortungsfreudigkeit, rücksichtslose Entschlußkraft und zäheste Beharrlichkeit wichtiger sind als ein vermeintliches abstraktes Wissen." Es soll gar nicht bestritten werden, daß Standhaftigkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Überzeugungskraft nützliche Eigenschaften für das politische Führungspersonal auch in der modemen Parteiendemokratie darstellen. Aber die Behauptung, daß dies wichtiger sei als abstraktes Wissen, ist eine schlichte Verkehrung der Tatsachen. Wer gar nicht weiß, wie ein moderner Verwaltungsapparat arbeitet, kann ihn auch nicht leiten; wer die
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Sachprobleme, die in einer modemen Industriegesellschaft anfallen, geistig nicht durchdrungen hat, kann auch keine vernünftigen Lösungen zu ihrer Bewältigung anbieten. Das heißt nicht, daß der modeme politische Führer auf sämtlichen Sachgebieten des Staatsbetriebs gleich gut Bescheid weiß; aber er muß dann jedenfalls fähig und willens sein, sich von Fachleuten beraten zu lassen, die Sachprobleme wirklich kennenzulernen und zu verstehen, und dort, wo er selbst nicht ausreichend kompetent ist, das Urteil des Kenners zur Grundlage der Entscheidung zu machen. Welche Sachfragen der modemen Industriegesellschaft und des modemen Staates hat Hitler verstanden? Wo wäre er jemals bereit gewesen, das "granitene Fundament" seiner Weltanschauung zu verlassen, ein Fundament, das auf den oberflächlichen Lesefrüchten eines ungeschulten Schwadroneurs beruhte? Bei welcher Gelegenheit hätte Hitler bis zur Machtergreifung all die verzweigten Schwierigkeiten der Außen- und Innenpolitik, der Wirtschaft, der Finanzen, des Verwaltungsrechts und der militärischen Stabs arbeit kennenlernen sollen? Alles, was er wußte, stammte aus zweiter und dritter Hand, wurde durch seine Vorurteile zusätzlich verfälscht und konnte schon deswegen nicht mehr nennenswert verbessert werden, weil er jede ernsthafte Anstrengung außer derjenigen der politischen Propaganda scheute. In der vorhin genannten Rede machte Hitler sich über die fiktiven Gestalten des Kuhfräuleins Zenzi und des Volksboten Hieronimus überhuber lustig. Das Kuhfräulein Zenzi stand für die Dummheit der Massen, und der Volksbote überhuber stand für die Unfähigkeit gewählter Vertreter des Volkes. Und wo gehörte Hitler hin? Er war doch die typische Erscheinungsform des Zerrbildes, das er beschrieb: Er war der ungebildete, kenntnislose Mann aus dem Volk, der nichts gelernt hatte, von keiner Sachangelegenheit etwas Rechtes verstand und nicht müde wurde, über Dinge zu reden, die seinen Horizont überstiegen. Von daher war es ja auch kein Zufall, daß er von der politischen Führung nicht abstraktes Wissen verlangte, denn dieses besaß er selbst nicht. Sondern ihm genügte der harte Charakter, und darauf wollte er den Staat aufbauen. Käme es beim Staat tatsächlich nur auf den harten Charakter an, so stünde man wohl heute noch in der Steinzeit. 10 Wie stellt sich nun die Weltanschauung Hitlers bzw. des Nationalsozialismus im Zusammenhang dar? Wäre sie eine regelrechte Theorie, so müßte es möglich sein, ihre Leitgedanken und zentralen Begriffe anzugeben, denen sich die Einzelheiten eines verzweigten Denkgebäudes unterordnen. Da sie indes nur ein wirres Gemenge halbverdauter Ideen darstellte, hält es schwer, ihre obersten Axiome namhaft zu machen. Eine wichtige Rolle spielte jedenfalls der Antisemitismus, der zu der Auffassung von zwei in der gesamten Geschichte einander gegenüberstehenden Hauptrassen weiterentwickelt wurde, nämlich den Ariern, gewissermaßen die Verkörperung des Guten und Edlen, sowie den Juden, das Prinzip des Bösen und Gemeinen. Wichtig war sodann die Anschauung vorn Lebenskampf, die zwar stark biologisch angehaucht war, aber darüber hinaus, vor allem in 10 M. Weber, Wirtschaft, 167 ff., 851 ff. Hitlers Rede von 1938 bei Zitelmann, Hitler, 160 (6.9.1938).
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Hinblick auf die Gegenwartsgeschichte, zusätzlich Vorstellungen über die Ordnung von Staat und Gesellschaft enthielt. Damit überschnitt sich der Gedanke des Lebensraums, der durch Kampf zu erringen war, jedoch auch die Möglichkeit bot, Wirtschaft und Gesellschaft in bestimmter Weise zu organisieren. Eng verknüpft mit der Lehre von den Rassen und vom Lebenskampf war ferner die Vorstellung vom Persönlichkeitswert, der vor allem in der arischen Rasse zu finden war und seinerseits wieder in der Organisation staatlicher Herrschaft zum Tragen kommen sollte. In den Anschauungen über Rasse und Persönlichkeitswert mischten sich freilich, zumindest bei Hitler, biologische und soziale Gesichtspunkte in merkwürdiger Weise. Der Persönlichkeitswert als Rassenmerkmal war wohl zunächst eine biologische Erscheinung, doch konnte er im Zuge der Rassenmischung gleichsam zerstreut werden und mußte dann erst durch soziale Auslese wieder zutage gefördert werden. Das Reden vom Herrenmenschen war deshalb eine sehr zwielichtige Angelegenheit. Nicht die Deutschen schlechthin waren Herrenmenschen, da sie selbst ein vielfältiges Rassengemisch darstellten, sondern unter den Deutschen gab es Herrenmenschen. Welche Eigenschaften den rassisch überlegenen Menschen kennzeichneten, hat Hitler weder systematisch noch widerspruchsfrei beantwortet. Da die Arier die Schöpfer aller wahren Kultur bildeten, konnten zu den rassisch hochwertigen Menschen auch Erfinder, Künstler und Denker gehören. Doch scheint Hitler den wichtigsten Ausweis rassischer Überlegenheit in den Charaktereigenschaften gesehen zu haben, im Mut, in der Standhaftigkeit und Einsatzbereitschaft, im Willen zu kämpfen und sich für eine Sache einzusetzen. Solche Eigenschaften verortete Hitler weniger beim sog. Bürgertum, das er der Feigheit bezichtigte und dem er zersetzenden Intellektualismus vorwarf, als vielmehr beim einfachen Volk der Arbeiter und Bauern. Vor allem die Bauern waren in Hitlers Augen schon auf Grund ihrer Lebensweise dazu prädestiniert, hochwertige Rasseneigenschaften zu pflegen und zu erhalten. "Der Mensch, der zerrissen ist an Körper und Geist, entwickelt keine Kraft. Sie wird immer nur der von sich geben, der äußerlich und innerlich vollkommen eins ist, der in seiner Scholle wurzelt, der Bauer, dauernd der Bauer. Und noch aus dem Grund, weil er durch die Art seiner Wirtschaft ... gezwungen ist, eine Unzahl von Entschlüssen zu treffen. Er mäht, er weiß nicht, ob nicht schon am nächsten Tag Regenwetter kommt und seine ganze Ernte ersäuft wird. Er sät und weiß nicht, ob nicht am nächsten Tag Frost kommt. Seine ganze Arbeit ist dauernd Zufälligkeiten ausgesetzt und doch muß er immer wieder zu einem Entschluß kommen ... Wenn ein Volk gesund organisiert ist, so daß immer Blut von unten nach oben nachströmt, kann ein solches Volk aus der tiefsten Quelle seiner Kraft ununterbrochen Kräfte neu schöpfen. Es wird dann auch in seiner Führung immer Männer besitzen, die auch die brutale Kraft des Menschen ihrer Scholle haben, die Kraft, die Entschlüsse trifft. Es ist kein Zufall, daß der größte Staat der antiken Welt im tiefsten Grunde ein Bauernstaat gewesen ist." Man könnte hier einwenden, daß ein Bauer, dessen einzige Fähigkeit im Fassen von Entschlüssen besteht, wohl bald verhungern dürfte. Der Bauer lebt nicht von
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seiner Entschlußkraft, sondern davon, daß er etwas von der Landwirtschaft versteht. Doch wie dem auch sei, für Hitler war das Bauerntum von hoher Bedeutung sowohl im Kampf um den Lebensraum als auch im Kampf gegen die jüdische Entartung der Wirtschaft. ,,Raumpolitische Nationen sind", wie Hitler meinte, "zu allen Zeiten Bauern- und Soldatenvölker gewesen. Das Schwert schützte den Pflug, und der Pflug ernährte das Schwert." 11 Wie alle Weltanschauungen oder Ideologien diente auch die nationalsozialistische dazu, ihren Bekennern einen festen Standort in der Welt, einen Erklärungsrahmen für die Vielfalt der Erscheinungen und einen normativen Halt für ihr Handeln zu geben. Die Lehre von den Rassen und vom Lebenskampf mag man als ihren eigentlichen Kern ansehen, doch hatte diese Lehre nur instrumentalen Charakter: Sie sollte Sachverhalte der modernen Industriegesellschaft deuten und ein Richtungsweiser sein für die Überwindung dessen, was als Brüche und Verwerfungen der modernen Industriegesellschaft aufgefaßt wurde. In ihrer Radikalität war die nationalsozialistische Weltanschauung eine revolutionäre Lehre, und Hitler selbst hielt sich für einen der größten Revolutionäre der Geschichte. Die Revolution des Nationalsozialismus, die 1933 erst begann, sollte Wirtschaft, Gesellschaft und Staat grundlegend umgestalten, und sie sollte zugleich das internationale Machtgefüge umstürzen. Als Lehre von der revolutionären Umgestaltung der Welt war die nationalsozialistische Weltanschauung zugleich eine Heilslehre; sie zielte auf die Rettung und Heilung der Welt von den Gebrechen der modernen Zivilisation. Dieses Ineinander verschiedener Beweggründe macht es so schwierig, die obersten Axiome der nationalsozialistischen Weltanschauung in eine logische Ordnung zu bringen. Der Kampf um den Lebensraum, also der außenpolitische Teil dieser Lehre, wurde zugleich als Werkzeug der Gesellschaftspolitik verstanden, die Gesellschaftspolitik zugleich als Werkzeug der Rassenpolitik, und die gleichsam überwölbende Rassenlehre war nicht bloß metaphysisches Beiwerk, sondern sollte in konkretes Handeln umgesetzt werden, das wiederum, gemäß der Lehre, innen- und außenpolitische Wirkungen nach sich ziehen mußte. Man könnte an die nationalsozialistische Weltanschauung von verschiedenen Seiten herangehen und käme doch, wenn man sie im Ganzen überblickt, immer zu denselben Zusammenhängen. An dieser Stelle soll der Weg beschritten werden, sie von ihren gesellschaftlichen Vorstellungen her aufzuspulen. Den Charakter des Nationalsozialismus und seiner Ziele brachte der damalige Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Gregor Straßer, in einer Rede von 1932 auf die knappe und durchaus zutreffende Formel: "Nationalsozialismus ist das Gegenteil von dem, was heute ist." In der Tat war der Nationalsozialismus als gesellschaftliche und politische Erscheinung eine Gegenbewegung zu dem gesamtkulturellen Vorgang, den man mit Max Weber als abendländische Rationali11 Hitler über die Bauern bei Zitelmann, Hitler, 203 f. (30. 11. 1928). Über raumpolitische Nationen Preiß, 96 (8.12.1928). Ferner Zitelmann, Hitler, 159 ff., 179 ff. (Bürgertum und Arbeiter). Hitler, Mein Kampf, 317 ff. (Arier und Kultur).
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sierung oder nach heutigem Sprachgebrauch als Modernisierung zu bezeichnen pflegt. Als Sammelbecken von Enttäuschten, Verbitterten und Orientierungs losen entfaltete sich diese Gegenbewegung vor dem Hintergrund der vielfältigen Erschütterungen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg erlebte. Unter der Führung Hitlers, der ihre gesinnungsmäßigen und sozialen Antriebe wie kein zweiter in sich verkörperte, strebte sie nach dem Überstieg in eine neue Lebensordnung jenseits der Sachzwänge einer verhaßten Gegenwart. Rosenberg, der spätere Parteiideologe, sagte in einer der frühen Weltanschauungs schriften des Nationalsozialismus von 1924 ausdrücklich, "wir hassen die Gegenwart."12 Anknüpfungspunkt für die nationalsozialistische Weltdeutung war eine vulgarisierte Zivilisationskritik, die mit den Folgen der Modernisierung auf wirtschaftlichem, geistigem und politischem Gebiet nur so fertig zu werden glaubte, daß sie sie gewaltsam rückgängig machte. Das galt vor allem für die Hochindustrialisierung, denn diese hatte nicht bloß das Volk in eine Vielzahl von Gruppen- und Klassengegensätzen aufgespalten und das Gespenst des Kommunismus erzeugt, sondern sie drohte in der gesichtslosen Massenzivilisation auch die Persönlichkeitswerte des freien, schöpferischen Individuums zu ersticken. Hitler meinte deshalb im Jahr 1931, durch die Industrialisierung sei das Individuum völlig unfrei geworden, hörig dem Kapital und der Maschine. Erst der Nationalsozialismus führe zur Individualität zurück durch die radikale Beseitigung aller falschen Ergebnisse der Industrialisierung. Falsch war nach Hitlers Auffassung nicht, daß es überhaupt eine starke Industrie gab, denn auch ihm war bewußt, daß ohne solche Deutschland außerstande war, Krieg zu führen, insbesondere zur Eroberung des Lebensraums. Darüber hinaus hatte Hitler eine naive Freude an der Technik; er liebte Autos, Flugzeuge, modeme Waffen und wollte sein Volk an den Segnungen der Technik teilhaben lassen, nicht zuletzt durch die Verbreitung des Autos als Massenartikel. Falsch waren nach Hitlers Meinung vielmehr Art und Ausmaß der Industrialisierung. Ein erster Stein des Anstoßes war ihm die "Internationalisierung" der Wirtschaft, d. h. ihre Verjudung, die sich über die Aktie und das internationale Finanzkapital vollzog. In unnachahmlicher Ausdrucksweise hatte bereits das Parteiprogramm der NSDAP von 1920 die Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens verlangt sowie die Brechung der Zinsknechtschaft, ferner die "Verstaatlichung aller (bisher) bereits vergesellschafteten (Trusts) Betriebe", womit offenbar Kapitalgesellschaften gemeint waren. 1942 sprach sich Hitler dann für die Verstaatlichung der anonymen Kapitalgesellschaften, der Energiewirtschaft sowie der Grundstofferzeugung aus, ein Vorhaben, das augenscheinlich erst nach dem Krieg verwirklicht werden sollte. Der Nationalsozialismus trug demnach seinen Namen zu Recht; es war ein nationaler Sozialismus, der große Teile der Wirtschaft verstaatlichen wollte, um sie aus den Fängen des "internationalen" Kapitals zu reißen. Dem lag die Unterscheidung zugrunde zwischen dem schädlichen "jüdischen" Börsen- und Leihkapital sowie 12 G. Straßer, Aufbauprogramm, 7. Rosenberg, Staatsgedanke, 3. Allgemein hierzu und zum folgenden Rauh, Anti-Modernismus.
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dem nützlichen Betriebs- und Industriekapital. Das letztere wollten die Nationalsozialisten im Privatbesitz lassen, soweit es nicht in der Form anonymer Kapitalgesellschaften verfaßt war. Den privaten Einzel- und Familienbesitz schätzte Hitler sehr hoch ein; private Industriefirmen, die Einzelunternehmen waren, nicht Kapitalgesellschaften, sollten keineswegs verstaatlicht werden, da sie als erwünschte Form wirtschaftlicher Betätigung galten. Damit kommt man zum zweiten Punkt, den Hitler in der Industrialisierung als Stein des Anstoßes empfand. Er beklagte, daß Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg nicht den richtigen Weg der Boden- und Raumpolitik beschritten, sondern statt dessen versucht habe, durch eine ungesunde Industrialisierung die Weltmärkte zu erobern. Dies erst habe zur Verwirtschaftlichung der Nation, zum Überhandnehmen des Börsen- und Leihkapitals, zum Ausscheiden des persönlichen Besitzrechtes, zur Herrschaft des Geldes, zum Anwachsen des Proletariats und zur politischen Klassenspaltung geführt. Was dabei in Hitlers Augen auf der Strecke blieb, war eine gesunde, nationale Wirtschaft mit einem starken Bauerntum, einem starken gewerblichen Mittelstand, wozu die privaten Besitzer industrieller Einzelunternehmen gehörten, und es war darüber hinaus auch die richtige Art der Außenpolitik, denn diese hätte nach Hitlers Meinung darin bestehen müssen, Britannien nicht auf den Weltmärkten Konkurrenz zu machen, sondern mit ihm ein Bündnis zu schließen, um den Rücken frei zu haben für den Lebensraumkrieg nach Osten. Die Vorzüge einer solchen Politik hat Hitler in "Mein Kampf' ausgemalt: "Die Erwerbung von neuem Grund und Boden zur Ansiedelung der überlaufenden Volkszahl besitzt unendlich viele Vorzüge, besonders wenn man nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft ins Auge faßt. Schon die Möglichkeit der Erhaltung eines gesunden Bauernstandes als Fundament der gesamten Nation kann niemals hoch genug eingeschätzt werden. Viele unserer heutigen Leiden sind nur die Folge des ungesunden Verhältnisses zwischen Landund Stadtvolk. Ein fester Stock kleiner und mittlerer Bauern war noch zu allen Zeiten der beste Schutz gegen soziale Erkrankungen, wie wir sie heute besitzen. Dies ist aber auch die einzige Lösung, die eine Nation das tägliche Brot im inneren Kreislauf einer Wirtschaft finden läßt. Industrie und Handel treten von ihrer ungesunden führenden Stellung zurück und gliedern sich in den allgemeinen Rahmen einer nationalen Bedarfs- und Ausgleichswirtschaft ein. Beide sind damit nicht mehr die Grundlage der Ernährung der Nation, sondern ein Hilfsmittel derselben. Indem sie nur mehr den Ausgleich zwischen eigener Produktion und Bedarf auf allen Gebieten zur Aufgabe haben, machen sie die gesamte Volksernährung mehr oder weniger unabhängig vom Auslande, helfen also mit, die Freiheit des Staates und die Unabhängigkeit der Nation, besonders in schweren Tagen, sicherzustellen." 13 13 Hitler 1931 nach Wagener, 267 f. Das Parteiprogramm der NSDAP bei Hofer, Dokumente, 28 ff. (Punkt 13). Hitler 1942 bei Picker, Tischgespräche, 136 ff. (24.3. 1942). Dazu Zitelmann, Hitler, 297. Zu Hitlers Wirtschaftsauffassung Mein Kampf, 151 ff., 255 ff.
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Was wollte demnach Hitler? Er wollte die Entfremdung, Ausbeutung, Proletarisierung der modemen, industriellen Massengesellschaft in Deutschland zurückschrauben, die Auswüchse der Industrialisierung beseitigen, um der Entfaltung der Individualität wieder Bahn zu brechen. Auf wirtschaftlichem Gebiet konnte sich die Individualität im persönlichen Besitz entfalten, vor allem beim Bauerntum, das aus seiner eigenen Scholle Kraft zog, sodann im Gewerbe mit eigenem Besitz, als selbständiges Unternehmertum in Handwerk, Handel und mittelständischer Industrie. 1931 kritisierte Hitler als Schattenseite der Industrialisierung das Zusammenballen großer Menschenmassen in den Städten, das den Eigentumsbegriff verneine, denn "man kann nicht gut den Eigentumsbegriff als die Basis einer Wirtschaftsordnung auffassen, wenn von vornherein es ungezählten Menschen unmöglich ist, jemals zu einem Eigentum zu gelangen." In ähnlicher Weise sprach sich der hohe SS-Führer und stellvertretende Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Otto Ohlendorf, während der letzten Kriegsjahre aus. Er wollte die deutschen Artwerte erhalten und die Würde des Menschen bewahren, indem die deutsche Wirtschaftsordnung, im Gegensatz zur kapitalistischen und bolschewistischen, eine Vielzahl selbständiger, mittlerer und kleiner Existenzen schuf und nicht versuchte, mit der industriellen Massenfertigung der hochentwikkelten Länder auf gleicher Ebene zu konkurrieren. 14 Darin waren zwei Kemgedanken enthalten: Rettung des Persönlichkeitswertes und Rückkehr zu einem stark bäuerlich-mittelständisch geprägten Gesellschaftsaufbau. Ihre besondere politische Stoßkraft erhielten sie freilich erst durch die Verbindung mit anderen Vorstellungen. Daß das Maschinenzeitalter von Überindustrialisierung, organisierter Ausbeutung und Materialismus gekennzeichnet sei, hatte bereits Rosenberg in den ersten Kampfjahren der Bewegung festgestellt. Ähnlich wie Gottfried Feder und der Dichter Dietrich Eckart, den Hitler als väterlichen Freund bezeichnete, hatte er das internationale Finanzjudentum als den eigentlichen Herrscher des Zeitalters zu erkennen geglaubt, einen Herrscher, der die Völker sowie ihre bodenständige Wirtschaft durch das Börsenkapital und durch den Marxismus gleichermaßen bedrohe. Zur selben Zeit hatten die Mitglieder des Artamanen-Bundes, darunter die später führenden Nationalsozialisten Himmler und Darre, die Vorstellung entwickelt, eine Gesundung des Deutschen Volkes von den Folgen der Industrialisierung könne durch eine bäuerliche deutsche Ostsiedlung erfolgen und dies bedeute zugleich eine Rückkehr zu den geschichtlichen Kraftquellen der nordischen Rasse. Es blieb jedoch Hitler vorbehalten, aus diesen verschiedenen Strömungen ein geschlossenes politisches Programm zu formen, ein Programm, das sich vor allem durch sein ungeheuerliches Maß an Gewalttätigkeit auszeichnete. In Hitlers Gedankenwelt war das Judentum verantwortlich für alles, was er als Zerfallsund ZeITÜttungserscheinungen der modemen, industriellen Massenzivilisation 14 Hitler 1931 nach Zitelmann, Hitler, 321. Ohlendorf aus den Akten zit. bei Speer, Sklavenstaat, 122 ff.
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ansah, vom internationalen Finanzkapital und der Zinsknechtschaft über die gelenkte Presse und die entartete Kunst bis zur Parteiendemokratie, der Gewerkschaftsbewegung und dem Bolschewismus - durchwegs Dinge, die er in "Mein Kampf' ausführlich als jüdisch beschrieb. Um das deutsche Volk aus diesen jüdischen Verstrickungen zu lösen, mußte zweierlei gechehen. Erstens mußte im Gemeinschaftsleben der Persönlichkeits wert des freien, schöpferischen Individuums zur obersten Geltung gebracht werden. Der höchste Persönlichkeitswert lag aber nach Hitlers Auffassung in der arischen Rasse, die in der Geschichte von jeher als der wahre Kulturstifter aufgetreten war und die sich im Gegensatz zum Materialismus des Judentums durch ihren Idealismus auszeichnete. Der Persönlichkeitswert konnte nur so zum Tragen kommen, daß die schöpferischen Köpfe über die Masse emporgehoben wurden. Im politischen Bereich bedeutete dies, daß alle jüdischen Verirrungen, namentlich jede Form demokratischer Mehrheitsbestimmung und marxistischer Massenherrschaft, abgestreift werden mußten zugunsten der persönlichen Verantwortung in einem gestuften System von Führern. Die zweite Aufgabe, die zu lösen war, bestand darin, daß der nationalsozialistische Staat Lebensraum im Osten erobern mußte, nicht allein deshalb, weil der jüdische Bolschewismus nach Hitlers Meinung ohnedies die Weltherrschaft anstrebte, sondern weil das deutsche Volk zu seiner Gesundung Grund und Boden brauchte. Gemäß dieser Auffassung gesundete das deutsche Volk von den Übeln der Zivilisation und der Überindustrialisierung, wenn es sich auf einem festen Stock kleiner und mittlerer Bauern aufbaute, die den Osten besiedelten; es gesundete, wenn Industrie und Handel in eine dienende Rolle gegenüber der nationalen Bedarfswirtschaft zurücktraten; und es gesundete schließlich, wenn es auf diese Weise die Gefahren des internationalen jüdischen Kapitalismus und Marxismus gleichermaßen überwand. Das beinhaltete zwar keine Verminderung der vorhandenen Industrie, jedenfalls nicht in Deutschland, aber eine Verschiebung der Bevölkerungsanteile zugunsten der Landwirtschaft in dem neu zu errichtenden großgermanischen Wirtschaftsraum und damit indirekt doch eine Art De-Industrialisierung. Zugleich sollte dadurch eine Sicherung der nationalen Ernährungsgrundlage erreicht werden sowie ein Herauslösen der deutschen Industrie aus dem Zwang, für den Weltmarkt zu produzieren. 1943 erläuterte der Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Robert Ley, dieses Ziel dahingehend, daß man den Anteil des Landvolkes von 18 % auf ungefähr ein Drittel der Gesamtbevölkerung erhöhen müsse, und zwar eben durch die bäuerliche Ostsiedlung. Die Ostsiedler sollten jedoch nicht aus den Städten und der Industrie kommen, sondern vorwiegend aus dem Bauerntum. Nach Ausführungen Hitlers vom Jahr 1942 sollte die bäuerliche Unterschicht, d. h. Zwergbesitzer und arme Bergbauern, in den Osten umgesiedelt und der zurückgelassene Grundbesitz nach dem Krieg zusammengelegt oder aufgeforstet werden. Die Wichtigkeit dieser "ungeheuren Aufgabe" unterstrich Hitler durch die Feststellung, die überragende Bedeutung des Reichsführers SS Himmler liege nicht bei der Waffen-SS oder den Polizeiverbänden, sondern in seiner Stellung als Reichskommissar und Beauftragter der NSDAP
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für die Festigung des deutschen Volkstums, der die Umsiedlungs aktion durchzuführen hatte. 15 Soweit der Befund, wie er sich schon bislang aus den Quellen gewinnen ließ. Dagegen wird neuerdings eingewandt, es habe sich nicht um Vorstellungen über eine Re-Agrarisierung gehandelt, die aus anti-moderner Gesinnung erwuchsen, da in Deutschland die Industrie ja erhalten bleiben sollte, auch sei der zu erobernde Lebensraum im Osten nicht bloß als Siedlungsgebiet, sondern ebenso als Lieferant unverzichtbarer Rohstoffe sowie als Absatzmarkt für industrielle Fertigwaren betrachtet worden. Man kann vorläufig davon absehen, daß Hitler den Lebensraum mit seinen Nahrungsmitteln, seinen Rohstoffen und seinem strategischen Wert nicht zuletzt deshalb erobern wollte, damit Deutschland dem Kampf um die Weltherrschaft gewachsen war, wie Hitler immer wieder, so etwa 1941, ausführte. "Der Kampf um die Hegemonie in der Welt wird für Europa durch den Besitz des russischen Raumes entschieden; er macht Europa zum blockadefestesten Ort der Welt." Zunächst ist etwas anderes wichtig. Etwa ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ergänzte Hitler seine bisherigen Vorstellungen über die Wirtschaft durch einen Gedanken, der ihm anscheinend bis dahin nicht geläufig gewesen war. Er meinte nun, das Ringen der deutschen Industrie um die Absatzmärkte in der Welt sei nicht bloß unerwünscht, weil es zu einer ungesunden Überindustrialisierung führe, sondern es sei auch fehlgeleitet, wenn nicht sogar unmöglich. Denn einerseits kämpften mittlerweile alle industrialisierten Länder um den Weltmarkt, und andererseits werde dieser dauernd verkleinert, weil bislang unterentwickelte Länder sich ebenfalls industrialisierten und ihre Güter in den Markt zu drücken versuchten. Richtig ist daran, daß der wertmäßige Umfang des deutschen Außenhandels nach dem Ersten Weltkrieg erst gegen Ende der 1920er Jahre sich wieder den Vorkriegsziffern annäherte, um dann in der Weltwirtschaftskrise erneut stark einzubrechen. Der deutsche Anteil am Welthandel ging nach dem Krieg ähnlich wie der britische - tatsächlich zurück. Ebenso sank der Anteil des Außenhandels am deutschen Volkseinkommen. Derartige Erscheinungen wurden unter den Zeitgenossen lebhaft diskutiert und schienen der Hypothese des Nationalökonomen Sombart, daß beim Ausbreiten der Industralisierung die Exportquote sinke, eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen. Wie man heute weiß, ist das langfristig falsch, denn der Anteil des Exports am Sozialprodukt, also die Exportquote, hat nach dem Zweiten Weltkrieg die frühere Höhe wieder erreicht und überschritten. Nun mag man den Zeitgenossen zugute halten, daß sie das nicht wissen konnten. In Hinblick auf Hitler ändert das aber nichts an dem Umstand, daß er alles durcheinanderwarf. Das vermeintliche Gesetz der fallenden Exportquote besagt zwar, daß die Auslandsmärkte schrumpfen, es besagt jedoch 15 Nolte, Faschismus, 398 ff. Auerbach, Lehrjahre. Michalka, Utopie. R. Cecil, Rosenberg. Ackermann, Himmler. Hitler, Mein Kampf, 338 ff. (zum Judentum) und passim. Robert Ley 1943 aus den Akten zit. bei Bollmus, 248. Hitler 1942 nach Picker, 470 f.
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zugleich, daß die Inlandsmärkte bei zunehmender Industrialisierung sich ausweiten. Genau dies geschah in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Die Industrieerzeugung erreichte in den 1920er Jahren wieder den Vorkriegsstand und überschritt ihn leicht. Da zugleich der Export, der im wesentlichen ja Industrieexport war, langsamer wuchs als die Industrieerzeugung, muß ein größerer Teil der Industriegüter im Inland untergebracht worden sein. In der Tat war die Exportabhängigkeit der Industrie bis zur Weltwirtschaftskrise geringer als vor dem Krieg. Das entsprach an sich dem, was Hitler wünschte, nur war sein Ausgangspunkt ein gänzlich anderer. Er bildete sich ein, die angebliche Überindustrialisierung gehe davon aus, daß Deutschland für den Weltmarkt produziere, und wollte das zurückschrauben. Der Industrialisierungsgrad blieb aber in Wahrheit derselbe, wenn das Inland aufnahmefähiger wurde, und je mehr es diese Aufnahmefähigkeit steigerte, umso stärker wuchs der Industrialisierungsgrad. Solche Dinge bis zum Ende zu durchdenken, waren Hitler und seine Gefolgsleute allerdings nicht bereit. Auch das Argument von der Schrumpfung der (Auslands-) Märkte war an den Haaren herbeigezogen, um die ohnedies feststehende Überzeugung, die Industrialisierung müsse gebremst werden, zusätzlich zu untermauern. Die Industrialisierung sollte gebremst werden, um das Bauerntum und den Mittelstand zu erhalten und die nationale Arbeit nicht dem zersetzenden Einfluß des Judentums auszuliefern, sei es durch das Finanzkapital, sei es durch den Bolschewismus. Was dieses Bremsen der Industrialisierung betrifft, so sollte es sich zwar nicht auf Deutschland selbst beziehen. Doch muß man berücksichtigen, daß Hitler und seine Gefolgsleute weit über das alte Deutschland hinausdachten: Durch die Eroberung des Ostens sollte ein großgermanisches Reich geschaffen werden, das einen zusammenhängenden Wirtschaftsraum bildete und als einheitlicher, "staatlicher" Herrschaftsverband organisiert war. Wiewohl Hitler von Rußland gelegentlich als dem deutschen "Indien" sprach, sollte es in Wahrheit eine ganz andere Gestalt erhalten. Es sollte eine Siedlungskolonie für Germanen werden, in welcher die Ureinwohner teils germanisiert, teils vertrieben oder unterdrückt wurden und wo sich das Hitlersche Gesellschaftsideal entfalten konnte - die Siedlung freier und waffenfähiger Bauern. Hitler hat oft genug festgestellt, daß er den Osten entindustrialisieren wolle. Unter den damaligen Verhältnissen hätte das bedeutet, etwa fünf bis zehn Prozent der Weltindustrieerzeugung aufzulassen, eine reichlich großzügige Maßnahme, und zwar umso großzügiger, als Hitler einen Kampf zwischen dem großgermanischen Reich und den USA ins Auge faßte, den USA, die über mehr als 40 % der Weltindustrieerzeugung verfügten. 1942 meinte Hitler, langfristig sei es das Ziel seiner Ostpolitik, etwa 100 Millionen germanischen Menschen in diesem Raum ein Siedlungsgebiet zu erschließen. Schätzt man einmal überschlägig, daß im deutschen Altreich ungefähr ebenso viele Menschen lebten, dann hätte sich die deutsche Bevölkerung des germanischen Großreiches etwa verdoppelt. Die Industrie wäre aber im Altreich konzentriert geblieben, so daß der gesamte Industriebesatz des großgermanischen Reiches sich erheblich vermindert, vielleicht sogar, bezogen auf die Bevölkerung,
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halbiert hätte. Das war doch wohl eine De-Industrialisierung. Und wenn das Kennzeichen der modemen Wirtschaft die Industrie ist, dann war eine EntIndustrialisierung gleichbedeutend mit Anti-Modernismus. Genau dasselbe meinte ja auch Robert Ley mit der vorhin genannten Äußerung, wenn er den Anteil des Landvolkes fast verdoppeln wollte. Denn das war ein Grundgedanke der Nationalsozialisten: die Bauern nicht in die Industrie abwandern zu lassen, sondern sie als selbständige Eigentümer zu erhalten. Über die Grundlage ihrer Berechnungen haben sich die Nationalsozialisten offenbar nie Klarheit verschafft. Es ist ein überall anzutreffendes Merkmal der Industrialisierung in ihrer mittlerweile bald 200-jährigen Geschichte, daß der Anteil der Landwirtschaft bzw. der landwirtschaftlich Beschäftigten an der Gesamtwirtschaft abnimmt. Diesen Vorgang suchten die Nationalsozialisten nicht bloß aufzuhalten, sondern umzukehren. Sie wollten also in Hinblick auf die Wirtschaft das Rad der Geschichte zurückdrehen oder den Weg der wirtschaftlichen Modernisierung nach rückwärts beschreiten. Das war ebenso unsinnig wie das meiste, was die Nationalsozialisten vorhatten. Der Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtwirtschaft nimmt in der Hauptsache deswegen ab, weil die Produktivität der Landwirtschaft steigt und deshalb weniger Bauern benötigt werden, um den Rest der Bevölkerung zu ernähren. Ein Land, das Nahrungsmittel einführt, kann den Anteil der Bauern zusätzlich verringern, aber das ist nur eine Nebenerscheinung. Am Beispiel der USA, die dem Ideal der Nationalsozialisten von der Selbstversorgung am nächsten kamen, zeigt sich das deutlich. AufN ahrungsmitteleinfuhren sind die USA praktisch nicht angewiesen, und dennoch geht der Anteil der Landwirtschaft wegen ihrer hohen Produktivität bis auf einen geringen Prozentsatz der Beschäftigten zurück. Der Plan der Nationalsozialisten, in dem großgermanischen Wirtschaftsraum den Anteil der Bauern drastisch zu erhöhen, vielleicht auf ein Drittel der Bevölkerung, war in jeder Hinsicht ökonomisch widersinnig und undurchführbar. Dieser Anteil wäre schon nach damaligen Verhältnissen zu hoch gewesen, und nach heutigen Verhältnissen wäre er um ein Vielfaches zu hoch. Hätte diese großgermanische Landwirtschaft rationell erzeugt, so wäre eine ungeheure Überproduktion entstanden, die nirgendwo absetzbar gewesen wäre und den größeren Teil der Bauern in den Ruin getrieben hätte. Wenn dagegen diese großgermanische Landwirtschaft unrationell erzeugt hätte, so wäre sie nicht konkurrenzfähig gewesen und zum größeren Teil ebenfalls im Bankrott gelandet. Hitler konnte mit seinen Absichten nicht etwa ein freies und wehrhaftes Bauerntum erzeugen, sondern nur ein ländliches Proletariat. Um das zu verhindern, hätte manja doch wieder industrialisieren müssen und die nationalsozialistische Weltanschauung insoweit als abenteuerliche Unvernunft entlarvt. 16 16 Zu den Einwänden gegen die Anti-Modernismus-These Zitelmann, Hitler, 306 ff. Zum Kampf um die Weltherrschaft Hitler, Monologe, 62 (17./18.9.1941). Zum Schrumpfen der Märkte Hitlers Zweites Buch, 60 f., 122. Ähnlich Hitlers geheime Broschüre für Industrielle von 1927: Der Weg zum Wiederaufstieg, abgedruckt bei Turner, Faschismus, 41 ff. Zu den wirtschaftlichen Tatsachen W. G. Hoffmann, Wachs-
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Was für Wirtschaft und Gesellschaft gilt, das gilt für die anderen Teile der nationalsozialistischen Weltanschauung in ähnlicher Weise. Sie ersetzte Sachkunde, Wirklichkeitsbezug und Augenmaß durch Irrationalität, Gewalt und Fanatismus. Der nationalsozialistische Staat, der sowohl den Persönlichkeitsgedanken verwirklichen als auch den Kampf um den Lebensraum ins Werk setzen sollte, war nach Hitlers Worten kein volksfremder (sprich: jüdischer) Mechanismus wirtschaftlicher Belange und Interessen, sondern ein völkischer Organismus, ein germanischer Staat deutscher Nation. Seine Aufgabe war eine rassische: Er beseitigte alle Fehlentwicklungen der modemen Welt, die von der jüdischen Gegenrasse verursacht waren; er führte zurück zur wahren Kulturschöpfung der Arier, die auf der nationalen Arbeit im Rahmen einer bodenständigen Wirtschaft beruhte; und er brachte auf diese Weise nicht bloß die Erlösung, sondern versprach auch unermeßlichen Gewinn. Die Eroberung des Ostens, an sich schon ein Rassenkampf, war nur ein erster Schritt, um Deutschland zur Weltmacht aufsteigen zu lassen und ein völkisches Gemeinschaftsleben auf fester bäuerlicher Grundlage zu errichten. Darüber hinaus stand für Hitler sodann auch fest: "Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden." Damit allein war es freilich noch nicht getan, denn wie der jüdische Weltverderber seit Jahrhunderten die arischen Kulturbringer unterwandert hatte, so vermochte er dasselbe auch weiterhin zu tun, wenn er nicht daran gehindert wurde. In einer unwiderruflichen Weise konnte das Judentum daran gehindert werden, indem man es gänzlich beseitigte und so den Übeln der modemen Zivilisation ihre biologische Grundlage entzog. Wiewohl Hitlers Äußerungen hierzu nicht immer eindeutig sind, läßt sich doch erkennen, daß er seit der Kampfzeit die Ausrottung ins Auge faßte. Eine Formulierung in "Mein Kampf' weist darauf hin, daß er dieser Frage eine geradezu pseudo-religiöse Heilsbedeutung beimaß. Der nationalsozialistischen Bewegung wies er dort ihre gewaltigste Aufgabe zu, den bösen Feind der Menschheit, als den wirklichen Urheber allen Leids, dem allgemeinen Zorn zu weihen. Sie müsse dafür sorgen, daß wenigstens in Deutschland der tödlichste Gegner erkannt werde und der Kampf gegen ihn als leuchtendes Zeichen einer lichteren Zeit auch den anderen Völkern den Weg weisen möge zum Heil einer ringenden arischen Menschheit. So zu handeln sei heilige Pflicht, und der nationalsozialistische Glaube möge dabei höchster Schirmherr bleiben. Derart bedeutungsschwangere Worte waren wohl nur dann am Platz, wenn ganz Außerordentliches geplant war. Nicht zufällig standen diese Sätze am Schluß außenpolitischer Erörterungen. Deutschlands Niedergang beruhte nach Hitlers Meinung nicht bloß auf seiner inneren jüdischen Zersetzung, sondern ebenso auf turn, 149 ff., 158 f. Petzina / Abelshauser, 64, 66, 70 ff. Zu Hitlers Entindustrialisierungsabsichten Speer, Erinnerungen, 322. Hitler, Monologe, 69 f. (25.9.1941). Zur Ostsiedlung Picker, 284 (12.5.1942).
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dem Umstand, daß der internationale (Finanz-) Jude die restlose Zerstörung Deutschlands erstrebte, und zwar durch dessen Bolschewisierung, die zum Errichten der jüdischen Weltherrschaft führen sollte. Deutschland war so der Angelpunkt eines gewaltigen Kampfes; bereits die gegnerische Koalition des Ersten Weltkrieges war von der jüdischen Weltfinanz zusammengeschmiedet worden, um Deutschland zu vernichten. Es war deshalb nur eine unvollkommene Umschreibung der künftigen Aufgaben des Nationalsozialismus, wenn Hitler der kaiserlichen Regierung im Ersten Weltkrieg das Versäumnis anlastete, nicht rechtzeitig zwölf- oder fünfzehntausend jüdische Volksverderber unter Giftgas gehalten zu haben; dies allein genügte noch keineswegs, um der jüdischen Schlange den Kopf zu zertreten. Wenn man nur 5000 Juden nach Schweden setze, so meinte Hitler einmal, würden sie in kurzer Frist alle führenden Positionen erobert haben. Dasselbe vermochten die Juden überall zu tun und so ihre finsteren Absichten zu fördern. Gegen Ende der 1930er Jahre begann allmählich der russische Diktator Stalin in Hitlers Wertschätzung zu steigen, weil Hitler glaubte, Stalin betreibe eine kraftvolle nationale Politik, die sich eines Tages auch gegen die Juden richten könnte. 1942 behauptete Hitler, gegenüber seinem Außenminister Ribbentrop habe Stalin ,,keinen Hehl daraus gemacht, daß er nur auf den Augenblick des Heranreifens genügend eigener Intelligenz in der UdSSR warte, um mit dem heute noch von ihm benötigten Judentum als Führungsschicht Schluß zu machen." In Hitlers Augen näherte sich damit Stalin seinem eigenen Format, das in der Ausschaltung der Juden den Boden für nationale Größe bereitete. Das Auswärtige Amt, ansonsten keine Hochburg nationalsozialistischen Denkens, gab im Jahr 1937 Hitlers Ansichten zutreffend wieder, als es feststellte, die Judenfrage werde für Deutschland nicht gelöst sein, wenn kein Angehöriger der jüdischen Rasse mehr auf deutschem Boden seßhaft sei. Vielmehr habe die Entwicklung der letzten Jahre gelehrt, daß das internationale Judentum zwangsläufig stets der weltanschauliche und damit politische Gegner des nationalsozialistischen Deutschland sein werde. Wie der internationale Jude die Vernichtung Deutschlands suchte und bereits im Ersten Weltkrieg gesucht hatte, so konnte umgekehrt der Wiederaufstieg Deutschlands und die Heilung der Welt nur gelingen, wenn der jüdischen Gefahr mit letzter Entschiedenheit entgegengetreten wurde. Die jüdische Krankheit mußte bis auf den letzten Bazillenherd unschädlich gemacht werden. So erklärte Hitler im Januar 1939 vor dem Reichstag - und wiederholte es in den folgenden Jahren - , daß ein erneuter Weltkrieg die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa nach sich ziehen werde. Da Hitler keinen Zweifel daran ließ, daß wegen der Lebensraumpolitik der Krieg kommen mußte, so liegt der Schluß auf der Hand, daß auch die Judenvernichtung kommen mußte. Augenscheinlich wurde diese Folgerung für die nationalsozialistische Führungsspitze und für das spätere Werkzeug der Rassenpolitik, die SS, gleichermaßen verbindlich, denn im Jahr 1938 kündigte Göring für den Kriegsfall eine große Abrechnung mit den Juden an, während die SS-Zeitschrift "Das Schwarze Korps" zur selben Zeit von einer
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"totalen Lösung" der Judenfrage sprach und in diesem Zusammenhang ganz offen die ,,restlose Vernichtung" erwähnte. 17
3. Der Führerstaat Die revolutionären, anti-modemen und gewalttätigen Ziele der nationalsozialistischen Rassenfanatiker waren für den politischen Normalverbraucher kaum vollständig durchschaubar, vor der Machtergreifung ohnedies nicht und danach allenfalls schrittweise. Goebbels, seit 1933 Propagandaminister, sagte dazu 1940: "Der Nationalsozialismus hat niemals eine Lehre gehabt in dem Sinne, daß er Einzelheiten oder Probleme erörterte. Er wollte an die Macht. Danach erst war ein Programm zu erfüllen oder auch aufzubauen. Wenn uns einer fragte, wie wir uns denn die Lösung dieser oder jener Frage dächten, so haben wir geantwortet, das wüßten wir noch nicht. Wir hatten schon unsere Pläne, aber wir unterbreiteten sie nicht der öffentlichen Kritik. Wenn heute einer fragt, wie denkt ihr euch das neue Europa, so müssen wir sagen, wir wissen es nicht. Gewiß haben wir eine Vorstellung. Aber wenn wir sie in Worte kleiden, bringt uns das sofort Feinde und vermehrt die Widerstände ... Heute sagen wir: ,Lebensraum' . Jeder kann sich vorstellen, was er will. Was wir wollen, werden wir zur rechten Zeit schon wissen." Dies muß man berücksichtigen, wenn man die Frage stellt, wie Hitler möglich war, wie es geschehen konnte, daß sich der Nationalsozialismus in Deutschland durchsetzte, einem Land mit hoher Kultur und langer rechtsstaatlicher Tradition. Daß Hitler seit den 1920er Jahren die Judenvernichtung anstrebte, kann man rückblickend erschließen, aber mehr als ein Indizienbeweis ist bis heute nicht möglich. Daß Hitler den Lebensraumkrieg gegen Rußland wünschte, konnte man in "Mein Kampf' nachlesen, aber diese Offenherzigkeit hat Hitler später selbst bereut, so daß er sein zweites Buch, in dem seine außenpolitischen Ziele noch einmal herausgearbeitet wurden, nicht mehr veröffentlichen ließ. Daß Hitler sein eigenes Volk, das deutsche, nicht etwa für ein Herrenvolk hielt, sondern für ein heruntergekommenes Rassengemisch, aus welchem die wirklichen Herrenmenschen erst wieder herausgesiebt werden mußten, hat er dem Volk in der Regel nicht gesagt. Auf dem Reichsparteitag von 1927 meinte er, "was heute vor uns ist, sind marxistische Menschenrnassen, aber kein deutsches Volk mehr." Dies war jedoch eine Äußerung gegenüber der Bewegung, die den rassischen Wiederaufstieg erst bewerkstelligen sollte. Zu seinem Wirtschaftsberater Wagener sagte Hitler 1930, das deutsche Volk würde durch die Aufführung der Rassenprobleme nur noch weiter zerspalten, gegeneinandergehetzt, atomisiert 17 Hitler, Mein Kampf, 362, 782, 724 f., 702 f., 771 f. und passim. Hitler über Juden in Schweden Trevor-Roper, 260 (27.1.1942). Hitler über Stalin bei Picker, 457 (24.7.1942). Vgl. Zitelmann, Hitler, 476 ff. Zum Auswärtigen Amt ADAP, Sero D, Bd. 5, 632 ff. (Runderlaß, 22.6.1937). Hitler im Reichstag 1939 ff. nach Domarus III, 1058; IV, 1663, 1828 f., 1920, 1937. Göring nach IMG, Bd. 28, 499 ff., 538 f. Artikel: Juden, was nun?, in: Das Schwarze Korps, 24.11. 1938.
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und dadurch außenpolitisch bedeutungslos gemacht. Er verbiete deshalb mit aller Schärfe, daß über Rassenlehre und Rassenprobleme überhaupt gesprochen und geschrieben werde. "Genau das Gegenteil müssen wir tun! Volksgemeinschaft, Volksgemeinschaft muß unser Kampfruf sein!" Nur einige wenige wie Hitler selbst oder Rosenberg dürften Klarheit über die Rassenfragen haben, denn für diese seien sie Schlüssel und Wegweiser, aber für die Allgemeinheit sei es Gift. 18 Von solchen giftigen Wahrheiten haben die Nationalsozialisten das Volk lange verschont. Hitler wußte selbst, daß er dem Volk nicht zuviel zumuten durfte; seine Ziele waren so ungewöhnlich oder, wie der Betrachter sagen muß: so ungeheuerlich, daß er beim Volk nicht von vornherein Verständnis dafür erwarten durfte. Wenn Hitler in "Mein Kampf' vieles offen aussprach und manches andeutete, so war das ein Nachhall des Umstands, daß er seine Bewegung zunächst als Umsturzorganisation angesehen hatte. Seitdem er die Legalitätstaktik befolgte, also auf Wählerstimmen aus war, mußte er sich mehr Zurückhaltung auferlegen und vieles verschleiern, auch wenn er in Kreisen der Bewegung nach wie vor die alte Offenheit pflegte. In einer NSDAP-Versammlung erklärte er 1929: "Wir werden uns auf legalem Wege jene legalen Waffen schmieden, die geeignet sind, den Sieg der Bewegung bis ins letzte zu vollenden, und wir werden den Sieg der Bewegung nur darin sehen, daß wir die Destrukteure unseres Volkes auslöschen und ausrotten ... es wird einmal eine nichtparlamentarische, eine deutsche Volksdiktatur kommen, eine völkische Diktatur der Tatkraft, Entschlossenheit und Kühnheit, und die wird, selbstverständlich vollkommen legal, die Demokratie beseitigen." Das Erstaunliche an dieser Vorhersage ist ihre Genauigkeit: Nur wenige Jahre später, am 30. Januar 1933, erhielt Hitler, nach langem Sträuben Hindenburgs zum Chef einer Präsidialregierung ernannt, durch Notverordnungen und Sondergesetze die Möglichkeit, auf legalem Weg eine Diktatur zu errichten. Wie und warum dies geschehen konnte, ist eine umso brennendere Frage, als hier sicher eine der entscheidenden Weichenstellungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts erfolgte. Welche Rolle spielten dabei die sog. konservativen Führungsschichten, zu denen man regelmäßig auch die Reichswehrführung zählt? Es ist üblich, ihnen einen wesentlichen Anteil am Sieg des Nationalsozialismus zuzuschreiben; sie hätten, so heißt es, Hitler in den Sattel gehoben und ein Bündnis mit ihm geschlossen. Dabei ist bislang zu wenig beachtet worden, was kürzlich ein Schweizer Historiker, dem man wohl Unvoreingenommenheit unterstellen darf, mit Recht hervorgehoben hat: Die nationalsozialistische Machtergreifung unterscheidet sich grundlegend von anderen revolutionären Umwälzungen, die zu vergleichbaren totalitären Herrschaftsformen geführt haben. Die Jakobinerherrschaft der Französischen Revolution, der bolschewistische Umsturz in Rußland, der faschistische Griff nach der Regierung durch Mussolini 1922 - sie 18 Goebbels nach Jacobsen, Weg, 233 (5.4.1940). Hitler 1927 nach Preiß, 81. Vgl. J. Fest, Hitler I, 305. Zu Hitler 1930 Wagener, 349 f.
3. Der Führerstaat
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alle wurden von verhältnismäßig kleinen, revolutionären Minderheiten durch außerparlamentarische (Gewalt-) Maßnahmen herbeigeführt.
Im Gegensatz dazu wurde in Deutschland die NSDAP bis 1932 sowohl im Reich als auch in den einzelnen Ländern auf dem Weg demokratischer Wahlen zur weitaus stärksten Partei. Eines Staatsstreichs bedurfte Hitler im Grunde gar nicht; nach den für den parlamentarischen Betrieb sonst gültigen Maßstäben hätte die nationalsozialistische Bewegung bereits 1932 überall die Regierung bilden oder mindestens maßgeblich in ihr vertreten sein müssen. Die Frage nach der Rolle der sog. konservativen Führungsschichten erhält damit doch ein anderes Gesicht. Es scheint, als habe man in der Geschichtsschreibung bei der Frage nach den Gründen und Verantwortlichkeiten bisweilen die Akzente etwas einseitig verschoben. Der genannte Schweizer Historiker verweist darauf, daß die Hauptverantwortung letziich eben nicht bei den sog. Konservativen, sondern beim deutschen Durchschnittswähler zu suchen ist. Das Staatsoberhaupt Hindenburg habe mit seinem langen Zögern vor dem künftigen Diktator immer noch mehr gesunden Instinkt bewiesen als die meisten seiner Landsleute. Wenn dem so ist, dann muß die Frage nach der Ermöglichung Hitlers erneut durchdacht werden, nicht zuletzt im Licht der eingangs erwähnten Verschleierungskünste der Nationalsozialisten, wie Goebbels sie umschrieb. 19 Es ist viel Fleiß, Sorgfalt und Gedankenarbeit darauf verwendet worden, den allmählichen Zerfall der parlamentarischen Regierungsweise in den letzten Jahren der Weimarer Republik zu verfolgen, den Übergang zu Kabinetten, die sich seit 1930 nicht auf das Parlament, sondern auf die Gewaltfülle des Reichspräsidenten stützten. Darin, so heißt es, lasse sich erkennen, wie die Demokratie aufgelöst und Hitler der Weg bereitet wurde; die Präsidialkabinette seien Vorstufen der Hitler-Diktatur gewesen. Dagegen lassen sich jedoch zwei Einwände erheben, ein begrifflicher und ein sachlicher. Jene Auffassung knüpft an einen seit langem verbreiteten Sprachgebrauch an, wonach die Diktatur in zwei Formen auftrete. Die eine sei die kommissarische oder konstitutionelle, die Ausnahmebestimmungen für den Fall des Staatsnotstands vorsehe; in diesem Sinne gelten die Sonderbefugnisse des Weimarer Reichspräsidenten (Artikel 48 der Verfassung) als Diktaturgewalt. Die andere Form der Diktatur sei die souveräne oder revolutionäre, wie sie etwa im Dritten Reich auftrat. Die eine Form der Diktatur könne in die andere übergehen, was sich am deutschen Beispiel beobachten lasse, wo Hitler die ersten Schritte der Machtergreifung unstreitig mittels der präsidialen Gewalt vollzog. Im Rahmen einer solchen Begrifflichkeit ist es logisch, die Präsidialkabinette als Vorstufe der Hitler-Diktatur anzusehen. Fraglich ist, ob die Begrifflichkeit weit trägt. Das Kennzeichen der sog. kommissarischen Diktatur ist es, daß sie einen Hilfs- und Ausnahmemechanismus in einem ansonsten rechts staatlichen Gemeinwesen darstellt und daß sie diktatorisch allenfalls insofern genannt werden 19 Hitler 1929 bei Zitelmann, Hitler, 84. Der zitierte Schweizer Historiker: Peter Stadler, Rückblick, 23 ff.
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kann, als sie die Bindungen des Rechtsstaats unter gewissen Voraussetzungen, die der Rechtsstaat selbst setzt und begrenzt, überspringen darf. Unter den Weimarer Präsidialregierungen beschränkte sich dies in der Hauptsache auf eine Rechtsetzungsbefugnis der Regierung durch präsidiale Notverordnungen, während ansonsten die Prinzipien des Rechtsstaats erhalten blieben. Verwischt wurde lediglich die Gewaltentrennung, ohne völlig beseitigt zu werden. In Kraft blieben die Grundrechte, es gab die herkömmliche Vielfalt der Parteien, freie Wahlen, die Bindung des Staatshandelns an das Recht und den gerichtsförmigen Rechtsschutz (der übrigens auch gegen eine Präsidialregierung angewandt werden konnte). Ein grundsätzlich anderes Bild bot die nationalsozialistische Diktatur, die im Laufe der Zeit den Rechtsstaat vollständig zersetzte und sich auch nicht als Sondererscheinung für einen begrenzten Notfall verstand, sondern als Dauereinrichtung. Um es auf eine knappe Formel zu bringen: Die kommissarische "Diktatur", wie sie auch in den Präsidialkabinetten vorlag, ist eine Einrichtung zur Erhaltung des Rechtsstaats und dessen eigenes Werkzeug. Dagegen war die souveräne Diktatur des Nationalsozialismus die lebendige Verneinung des Rechtsstaats. Es scheint deshalb angebracht zu sein, beide nicht in einen Topf zu werfen. Aus diesem Grund wird von kommissarischer Diktatur hier überhaupt nicht gesprochen, sondern Diktatur als der begriffliche Gegensatz zu Rechtsstaat verstanden. Hierbei verschlägt es nichts, daß die Präsidialregierungen mit dem Gedanken umgingen, den Parteienstaat zu reformieren und Verfassungsänderungen vorzunehmen, etwa in Gestalt einer Wiedereinführung der Monarchie. Soweit sich über solche Vorhaben etwas Bestimmtes ausmachen läßt, zielten sie jedenfalls nicht auf die Beseitigung des Rechtsstaats, sondern äußerstenfalls auf die Rückkehr zu Zuständen, wie sie in vergleichbarer Weise im rechtsstaatlichen Konstitutionalismus des Kaiserreichs anzutreffen waren. Hätten solche Absichten jemals verwirklicht werden können, so wäre äußerstenfalls der Staat weniger demokratisch gewesen, aber unter rechtsstaatlichen Bedingungen wäre niemandem widerrechtlich ein Haar gekrümmt worden - kein geringer Vorteil im Vergleich mit dem Nationalsozialismus. Sodann der zweite Punkt. Zwischen den Präsidialkabinetten und dem Anschwellen des Nationalsozialismus gab es keinen zwingenden Zusammenhang. Die Hitler-Bewegung ist nicht deshalb groß geworden, weil die parlamentarische Regierungsbildung unterblieb, sondern weil sie Wahlen gewann. Bis ins Jahr 1932 erzielte sie bei Reichstags-, Landtags- und Präsidentschaftswahlen über ein Drittel der Stimmen und ließ damit alle anderen Parteien weit hinter sich. Daß dies ohne Präsidialregierungen anders gewesen wäre, ist kaum anzunehmen. In Preußen beispielsweise, dem weitaus größten und wichtigsten Land des Reiches, das bis 1932 von den Parteien der Weimarer Koalition parlamentarisch regiert wurde, schnellte die NSDAP zwischen den Wahlen von 1928 und denen von 1932 auf einen Schlag von 8 auf 162 Landtagssitze empor, das waren 1932 bereits 38 % von insgesamt 423 Sitzen. Das heißt, daß die NSDAP bis 1932 auf jeden Fall Erdrutschsiege errungen hätte, ganz gleich, ob im Reich parlamentari-
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sehe Regierungen amtierten oder nicht. Es läßt sich ja einmal der hypothetische Fall annehmen, im Reich wäre seit 1930 weiterhin parlamentarisch regiert worden (was übrigens angesichts des Verhaltens der Parteien im Reichstag schwer vorstellbar war). Was wäre dann geschehen, wenn die Ritler-Bewegung mit einem Drittel der Stimmen und mehr überall zur stärksten Partei geworden wäre, wenn sie, wie es 1932 tatsächlich der Fall war, zusammen mit den Kommunisten die Mehrheit im Reichstag besessen hätte und wenn eine parlamentarische Regierungsbildung ohne die NSDAP nicht mehr möglich gewesen wäre? Nach parlamentarischem Brauch hätte dann selbstverständlich die NSDAP eine Koalitionsregierung errichtet und den Kanzler gestellt. Mit parlamentarischen Spielregeln hätte das ganz gewiß nicht verhindert werden können, es sei denn durch eine Regierung nicht-nationalsozialistischer Parteien, die dann von den Kommunisten hätte unterstützt oder mindestens geduldet werden müssen. Rierauf bestand keinerlei Aussicht. So blieb in Preußen nach der Wahl vom Frühjahr 1932 die Regierung der Weimarer Koalition nur auf Grund eines Geschäftsordnungstricks im Amt. Mit der späteren Bildung einer nationalsozialistisch geführten Regierung wäre dort unter regulären Bedingungen zu rechnen gewesen. Sie kam einstweilen nicht zustande, weil das Zentrum, welches Koalitionsverhandlungen mit der NSDAP führte, dieser die Schlüsselposten nicht überlassen wollte. Ähnliche Verhältnisse fanden sich in anderen Ländern des Reiches; soweit die Nationalsozialisten nicht bereits in der Regierung saßen, konnten sie nur noch durch geschäftsführende Regierungen daran gehindert werden. Im Reich selbst wären bei normalem Ablauf der Dinge, d. h. ohne vorzeitige Reichstagsauflösungen, 1932 auf jeden Fall Wahlen durchzuführen gewesen. Gemessen an den Verhältnissen in Preußen und bei allen anderen Wahlen hätte dann die NSDAP mit Sicherheit ungefähr dasselbe Ergebnis erzielt, das sie bei den auf Grund vorzeitiger Reichstagsauflösung vorgenommenen Wahlen 1932 tatsächlich erreichte. Nun könnte man freilich einwenden, daß die Reichstagswahl von 1932 gänzlich überflüssig war, weil nach der vorzeitigen Wahl von 1930, in welcher die Nationalsozialisten noch wesentlich schlechter abgeschnitten hatten, der Reichstag bis 1934 Bestand haben konnte und die nationalsozialistische Gefahr bis dahin vielleicht zu bannen war. Insofern hätte die Präsidialregierung dann doch zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen, zumindest im Reich. Der Gedanke ist wohl richtig, nur muß man dann auch zugestehen, daß der pauschale Vorwurf, die Präsidialregierungen hätten der Ritler-Bewegung den Weg geebnet, unzutreffend ist. Die erste Präsidialregierung (Brüning) hätte auf Grund der Wahl von 1930 die NSDAP bis 1934 bremsen und möglicherweise die Republik retten können; die zweite (Papen) hat diesen Vorteil wieder verschenkt und damit ein Wahlergebnis (im Reich) herbeigeführt, das ohne Präsidialregierungen auch eingetreten wäre. Daraus läßt sich ein Vorwurf an die Regierung Papen ableiten; es bleibt aber festzuhalten, daß selbst nach Ritlers Wahlsiegen die Präsidialregierungen bemüht waren, ihn von der höchsten Verantwortung fernzuhalten. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß seit der Wahl von 1930 die Bildung einer 13'
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regierungsfähigen Mehrheit praktisch ausgeschlossen war, so daß der Versuch der Regierung Papen, durch die Wahl von 1932 eine solche zu schaffen, vielleicht falsch, aber nicht ganz unverständlich war. Wie auch immer, die Vorstellung der Regierung Papen, den Nationalsozialismus an den Staat heranzuziehen, ihn in die Verantwortung einzubinden, ohne ihm die entscheidenden Machtinstrumente auszuliefern und die Hitler-Bewegung so zu zähmen - diese Vorstellung scheiterte, weil Hitler die ganze Macht anstrebte. So machte man schließlich Hitler doch zum Kanzler, weil ohne die NSDAP oder gegen sie praktisch nicht mehr zu regieren war. Auch eine Präsidialregierung stellte ja keine freischwebende Erscheinung dar, sondern bedurfte mindestens der stillschweigenden Duldung durch eine Reichstagsmehrheit, um ihre Notverordnungen und Gesetze durchzubringen. Eine andere Lösung schlug im Januar 1933 General Schleicher vor, der letzte Kanzler der Weimarer Republik, der später von den Nationalsozialisten umgebracht wurde. Schleicher wollte den Staatsnotstand erklären und ein allgemeines Verbot der NSDAP und KPD erlassen. Der Plan scheiterte am Zögern Hindenburgs und am erregten Einspruch der demokratischen Parteien, namentlich der SPD und des Zentrums. Gegen eine Regierung Hitler protestierten die Parteien wenn überhaupt, dann nur matt. Der Plan Schleichers war gewiß nicht ohne Risiken, aber wenn es noch eine Chance gab, Hitler aufzuhalten, so lag sie darin, in einem auf die Reichswehr gestützten Ausnahmezustand gleichsam zu überwintern und den vermutlichen Rückgang der NSDAP in der Wählergunst abzuwarten. Die Reichswehr wäre dazu wohl bereit gewesen; außer Schleicher, der gleichzeitig Reichswehrminister war, warnte auch der Chef der Heeresleitung, HammersteinEquord, vor Hitler. Demgegenüber wünschten der Reichspräsident und die Parteien an der Verfassung festzuhalten: Der Reichswehr verweigerten sie den Ausnahmezustand, den späteren Ausnahmezustand unter Hitler mußten sie hinnehmen. 20 Wer hat demnach Hitler zur Macht verholfen? Man wird sagen müssen, in der Hauptsache das Volk, welches der Hitler-Bewegung über ein Drittel der Wählerstimmen gab. Warum tat das Volk dies? Eine solche Frage in allen ihren Verästelungen zu verfolgen, kann nicht die Aufgabe unserer Untersuchung sein. Immerhin werden sich einige Hauptzüge ausfindig machen lassen. Die verbreitete Vorstellung, die sog. konservativen Führungsschichten seien die eigentlichen Helfershelfer des Nationalsozialismus gewesen, wird man in dieser pauschalen Form nicht aufrechterhalten können. Hitler selbst stellte sich auf den Boden der Massendemokratie; mit der Anhänglichkeit vieler Konservativer an die Monarchie und mit ihren überkommenen Wertvorstellungen hatte er nichts im Sinn. Zu seinem Architekten und späteren Rüstungsminister Speer sagte er einmal, man müsse der Sozialdemokratie dankbar sein, daß sie die Monarchie beseitigt habe. "Das war ein großer Schritt vorwärts. Durch sie erst wurde für uns der 20 Zur Auflösung Weimars Bracher, Auflösung. Jasper, Weimar. Ders., Zähmung. Zur Wahl in Preußen H. Schulze, Braun, 725 ff. Zu den Koalitionsverhandlungen mit dem Zentrum Morsey, Untergang, 56 ff. Zu Schleicher und Hammerstein Vogelsang, Reichswehr, 372 f., 378 f. Plehwe, 275 ff. Bracher, Auflösung, 620 f., 626 f.
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Weg bereitet." Gewiß hatte es seit dem Volksbegehren gegen den Young-Plan und seit der Harzburger Front Berührungspunkte zwischen den Konservativen und den Nationalsozialisten gegeben, aber Hitler war sich stets dessen bewußt, daß seine Bewegung auf Grund ihrer Werbewirkung bei den Massen einen Platz in der politischen Arena erkämpft hatte und daß dies die Grundlage war, auf welcher er nach der Regierungsgewalt greifen konnte. Was die älteren Führungsschichten, trotz verbreiteter Abneigung, zur Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten und schließlich zur Teilung der Regierungsgewalt mit ihnen bereit machte, war die Hoffnung, sie einbinden, zähmen und benützen zu können, ohne ihnen den Führungsanspruch, den sie auf Grund ihrer Wahlergebnisse an sich zu erheben vermochten, bedingungslos zuzugestehen. Wie Hitler 1938 rückblikkend ausführte, hätten jene älteren Kräfte danach getrachtet, die "nicht umzubringende Volkserscheinung" des Nationalsozialismus zu vereinnahmen, um später den Trommler Hitler durch die wirklichen Staatsmänner ablösen zu können, also durch sich selbst. Das war natürlich nicht gelungen, aber Hitler wußte sehr wohl, daß die älteren Führungskräfte nie bedingungslos auf seine Seite umschwenkten. Der französische Botschafter Francois-Poncet stellte zum Jahresende 1933 die erstaunliche Schnelligkeit und Leichtigkeit der nationalsozialistischen Revolution fest. "Wenn man näher hinblickt, bemerkt man, daß ... doch eine verschleierte Opposition da ist. Sie besteht bei den früher führenden Klassen, die bedauern, daß von einer Rückkehr zur Monarchie nicht mehr die Rede ist. Sie mißbilligen die Gewalttätigkeit der Regierung gegenüber den Kirchen und Juden, ihre übertriebene Großzügigkeit in der Verwendung der öffentlichen Gelder, die Ausschreitungen ihrer Milizen, sie sind auch beunruhigt darüber, wie die Ereignisse in Deutschland auf das Ausland wirken." Daran änderte sich auch in Zukunft nicht viel. 1938 meinte Hitler, das Heer sei sein unsicherstes Element im Staat, noch schlimmer als das Auswärtige Amt und die Justiz. Soweit es Widerstand gegen Hitler gegeben hat, ist er im wesentlichen von den sog. konservativen Führungsschichten getragen worden und gerade nicht vom Volk. Als Oberst Graf Schenk von Stauffenberg am 20. Juli 1944 sein mißglücktes Attentat auf Hitler unternahm, führte dies zu einem Sympathiegewinn Hitlers bei der Bevölkerung, auch den Arbeitern. Freilich darf man in diese Dinge nicht mehr hineininterpretieren, als sie tatsächlich enthalten. Vielen Arbeiterführern war der Widerstand schon deswegen unmöglich gemacht, weil sie im KZ saßen, während hohe Offiziere und Beamte an ihren Dienststellen konspirierten. Gegen Ende des Krieges bedauerte Hitler, daß er die Wehrmacht nicht ebenso gesäubert habe, wie Stalin es mit der Roten Armee getan hatte. "Unsere Generalität ist zu alt und zu verbraucht, und sie steht dem nationalsozialistischen Gedanken- und Haltungsgut völlig fremd gegenüber. Ein großer Teil unserer Generäle will nicht einmal den Sieg des Nationalsozialismus." Da Hitler den sog. konservativen Führungsschichten nicht traute und nie getraut hatte, wollte er den neu zu errichtenden nationalsozialistischen bzw. großgermanischen Staat auf einer ganz anderen Grundlage aufbauen. Wie er in "Mein Kampf'
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ausführte, war das Volk in zwei Teile zerrissen. Der eine, weitaus kleinere, umfasse die Schichten der nationalen Intelligenz unter Ausschluß aller körperlich Tätigen. Ihr stehe als zweite Klasse gegenüber die breite Masse der handarbeitenden Bevölkerung. Der Wiederaufstieg Deutschlands könne nur so vonstatten gehen, daß die Masse des Volkes den Klauen des internationalen Marxismus entrissen werde; die bewußt antinationale Mehrheit müsse nationalisiert werden. ,,Eine junge Bewegung, die sich mithin als Ziel die Wiederaufrichtung eines deutschen Staates mit eigener Souveränität stellt, wird ihren Kampf restlos auf die Gewinnung der breiten Massen einzustellen haben." Die nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei trug also ihren Namen auch insofern mit Recht, als sie die Arbeiterschaft gewinnen und deren Belange vertreten wollte. Eine ihrer Hauptaufgaben war die Nationalisierung der Massen, und für dieses Ziel war ,,kein soziales Opfer zu schwer ... Die nationale Erziehung der breiten Masse kann nur über den Umweg einer sozialen Hebung stattfinden, da ausschließlich durch sie jene allgemein wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden, die dem einzelnen gestatten, auch an den kulturellen Gütern der Nation teilzunehmen." Dies sollte geschehen durch ein Erhöhen des Lebensstandards der breiten Masse, wozu übrigens auch ihre Versorgung mit Kraftfahrzeugen gehörte (Volkswagen). Es sollte ferner geschehen durch eine Öffnung des Bildungswesens, die den Begabten aus allen Schichten den sozialen Aufstieg ermöglichte. Denn der völkische Staat "hat nicht die Aufgabe, einer bestehenden Gesellschaftsklasse den maßgebenden Einfluß zu wahren, sondern die Aufgabe, aus der Summe aller Volksgenossen die fähigsten Köpfe herauszuholen und zu Amt und Würden zu bringen." Schließlich sollte jene Nationalisierung der Massen geschehen durch eine ausgedehnte Wohlfahrtspolitik. 1940 gab Hitlerdem Reichsorganisationsleiter und Führer der Deutschen Arbeitsfront, Robert Ley, den Auftrag, ein umfangreiches Programm für die Sozialpolitik der Nachkriegszeit auszuarbeiten, das sich auf den Wohnungsbau, die Lohngestaltung, die Altersversorgung, das Gesundheitswesen und die Berufserziehung bezog. Dies umschloß eine leistungsgerechte Lohnordnung und eine Förderung der Tüchtigen, eine staatlich garantierte Rente für alle Bevölkerungsgruppen, den Bau zahlreicher Sozialwohnungen und eine dauernde Sorge für Gesundheit und Erholung aller Deutschen. 21 Das wirkt alles recht ansprechend und scheint die These zu bestätigen, daß der Nationalsozialismus der Modernisierung weder ablehnend gegenüberstand noch sie behinderte. In Hinblick auf das Verhältnis zwischen Hitler und dem Volk scheint es einen Fingerzeig zu geben, warum das Volk den Nationalsozialis21 Hitler zu Speer in dessen Erinnerungen, 67. Hitler 1938 über Nationalsozialismus und Konservative bei Zitelmann, Hitler, 175. Die Meinung des französischen Botschafters bei Fran~ois-Poncet, 160. Hitler 1938 über das Heer bei Engel, 41 (16.10.1938). Zum Widerstand und zu Stauffenberg M. Steinert, Stimmung, 471 f. Ferner Schmädeke / Steinbach. Hitler über die Wehrmacht bei Kriegsende Speer, Erinnerungen, 399. Goebbels, Tagebücher 1945,263 f. (16.3.1945). Vgl. Zitelmann, Hitler, 481 f. Hitler über Förderung der Massen in Mein Kampf, 364 ff., 369 ff., 480. Zur Wohlfahrtspolitik Recker.
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mus nicht rundweg ablehnte. Bevor dieser Faden wieder aufgenommen wird, ist jedoch ein kurzer Exkurs einzuschalten. Was ist überhaupt Modernisierung? Auf diesem Gebiet existiert seit langem eine verwirrende Begriffsvielfalt. Es wird sich empfehlen, Modernisierung in drei verschiedenen Bereichen voneinander zu unterscheiden oder, in soziologischer Ausdrucksweise, in den drei Untersystemen eines gesellschaftlichen Gesamtsystems: Staat, Wirtschaft sowie Kultur oder Geistesleben. Im Bereich der Wirtschaft besteht die Modernisierung zwar nicht allein, aber jedenfalls auch im Ausbau der Industrie und deren Leistungssteigerung, wodurch sich dann charakteristische Verschiebungen zwischen den einzelnen Wirtschaftssektoren ergeben. Daß die Nationalsozialisten die Industrialisierung zurückschrauben wollten, wurde bereits festgestellt; insofern waren sie antimodem. Im Bereich der Kultur oder des Geisteslebens sind alle Formen der gefühlsmäßigen oder verstandesmäßigen Auseinandersetzung mit der Welt anzutreffen, ihrer Erfassung und Bewältigung, von der Kunst über die Religion bis zur rationalen Welterklärung. Modeme Welterklärung ist Wissenschaft. Das Weltbild des Nationalsozialismus war unwissenschaftlich, allenfalls pseudowissenschaftlich, insofern also nicht modem. Ob das Kunstverständnis des Nationalsozialismus, etwa in seiner Wendung gegen die "entartete" Kunst, als modem einzustufen ist, wäre obendrein zu klären. Als Vermittlungsinstanz für die geistigen und kulturellen Inhalte einer Zeit läßt sich das Bildungswesen dem kulturellen System zuordnen. Das Bildungswesen ist in einer modemen Gesellschaft von entscheidender und ständig wachsender Bedeutung, nicht nur, weil es über den sozialen Status bestimmt, sondern vor allem, weil in zunehmendem Maße für nahezu sämtliche Verrichtungen eine Ausbildung vonnöten ist. Was erwartete Hitler vom Bildungswesen? "Der völkische Staat hat ... seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als Letztes die wissenschaftliche Schulung. Der völkische Staat muß dabei von der Voraussetzung ausgehen, daß ein zwar wissenschaftlich wenig gebildeter, aber körperlich gesunder Mensch mit gutem, festem Charakter, erfüllt von Entschlußfreudigkeit und Willenskraft, für die Volksgemeinschaft wertvoller ist als ein geistreicher Schwächling." Hitler wollte keineswegs die wissenschaftliche Ausbildung als solche abschaffen, denn auch ihm war bewußt, daß eine modeme Gesellschaft ohne Techniker, Ärzte, Lehrer usw. nicht auskommt. Auch sein Gedanke, daß die Bildung ein Formen des Charakters mit umfasse, ist im Grundsatz beachtenswert. Aber schon das Unterordnen der Bildung des Verstandes unter diejenige des Körpers und des Gemüts ist verdächtig, und in der Tat war damit etwas Bestimmtes beabsichtigt: "Sicher aber geht diese Welt einer großen Umwälzung entgegen. Und es kann nur die eine Frage sein, ob sie zum Heil der arischen Menschheit oder zum Nutzen des ewigen Juden ausschlägt. Der völki-
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sche Staat wird dafür sorgen müssen, durch eine passende Erziehung der Jugend dereinst das für die letzten und größten Entscheidungen auf diesem Erdball reife Geschlecht zu erhalten." Die Erziehung sollte demnach dazu dienen, ein kämpferisches und rücksichtsloses Geschlecht zu erzeugen, das die nationalsozialistischen Endziele verwirklichte. Das gesamte Erziehungswesen war eingebunden in die antimodeme Weltanschauung des Nationalsozialismus und sollte ihre antimodernen Absichten durchführbar machen. - Schließlich als letzter Punkt der Staat. Die Modernisierung des Staates wurde in der Vergangenheit häufig als Demokratisierung verstanden. Kaum ein Ausdruck des politischen wie wissenschaftlichen Sprachgebrauchs ist schillernder und undeutlicher als das Wort Demokratie. Als Propagandaformel diente es im Ersten Weltkrieg zur Überhöhung und Begründung des Kampfes gegen die angebliche Autokratie, im Zweiten Weltkrieg und danach als Gegenbegriff zur Diktatur, sie sei faschistisch oder kommunistisch. Der begriffliche Gegensatz zur Diktatur ist aber nicht Demokratie, sondern Rechtsstaat. Der Rechtsstaat muß nicht unbedingt demokratisch sein, z. B. war der deutsche Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts zwar Rechtsstaat, aber keine Demokratie. Was gemeinhin als modeme Demokratie verstanden wird, ist zweierlei zugleich, nämlich Rechtsstaat plus Demokratie. Daraus folgt umgekehrt, daß die modeme Diktatur, die gemäß Definition kein Rechtsstaat ist, gleichwohl demokratische Elemente enthalten kann; äußerstenfalls mag man sie sogar als nicht rechtsstaatliche, insbesondere totalitäre Demokratie ansehen. Damit überschneidet sich sodann der Begriff Modernisierung. Wenn die "richtige" und die totalitäre Demokratie sich vorzugsweise durch das Merkmal der Rechtsstaatlichkeit unterscheiden, können sie ansonsten beide in ähnlicher Weise modem sein. Worin besteht dann die Modernität? Die Modernisierungstheorie hat dazu einen Begriffsraster entwickelt, in welchem unter anderem der gleiche Zugang für alle Bevölkerungsschichten zu den öffentlichen Ämtern und Bildungseinrichtungen enthalten ist, ferner Wohlfahrtspolitik durch staatliche Sozialleistungen. All dies wollte der Nationalsozialismus, also war er modem. War er das? Wenn das nationalsozialistische Bildungswesen nach dem Willen Hitlers hauptsächlich Gesundheit und Entschlußfreude fördern sollte, so mochte dies vielleicht ein kämpferisches Geschlecht hervorbringen, aber schwerlich eines, das den Anforderungen der modemen Welt entsprach. Was die modeme Welt vorrangig braucht, sind ausgebildete Fachleute; mit Männern, die nur vom Kampf, nicht aber von der Sache etwas verstehen, ist weder der Wirtschaft noch der Verwaltung, noch der Wissenschaft und noch nicht einmal der militärischen Führung gedient. Aber die geplante Sozialpolitik war doch modem! Nun hat freilich die Sozialpolitik das Besondere an sich, daß sie Geld kostet. Eine leistungsfähige Industriewirtschaft kann dieses Geld aufbringen; ob eine Wirtschaft, die zum Bauerntum zurückkehrt, dasselbe kann, ist eine andere Frage. Allein das Wohnungsbauprogramm sollte soviel kosten wie die gesamte Rüstung zwischen 1934 und 1939. Es ist anzunehmen, daß die geplante Ostsiedlung gewaltige Gelder verschlungen hätte - Hitler wollte z. B. die Siedler mit kompletten Bauernhöfen ausstatten - , und was dann
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noch für den Wohnungsbau übrigblieb, mußte sich zeigen. Ein finanzieller Gesamtplan für all diese Dinge wurde augenscheinlich nie aufgestellt; er hätte überdies die Rüstungslasten berücksichtigen müssen. Denn es war ja keineswegs sicher, daß nach einem Sieg im Osten der Frieden einkehrte, und das Reich würde auf jeden Fall mit der Rüstung der USA und Britanniens schritthalten müssen. Streitkräfte zu unterhalten, die den angloamerikanischen gewachsen waren, hätte leicht auf Jahrzehnte hinaus jede ausgreifende Sozialpolitik unterbinden können. Modernität besteht nicht darin, ausschweifende und zusammenhanglose Entwürfe zu erstellen, sondern darin, auf der Grundlage solider Kenntnis der Wirklichkeit das Machbare zu planen. 22 All dies konnte freilich das Volk vor und nach der Machtergreifung nicht ohne weiteres wissen. Das Volk konnte wissen, daß die Nationalsozialisten die Folgen des Versailler Vertrags beseitigen wollten, aber das wollte das Volk auch. Das Volk konnte wissen oder zumindest ahnen, daß die Nationalsozialisten eine Diktatur erstrebten. Diktaturen waren im Europa der Zwischenkriegszeit nichts Außergewöhnliches. Seit den 1920er Jahren kippte ein Land nach dem anderen in die Diktatur um; bis zum Ende der I 930er Jahre waren die Demokratien bzw. Rechtsstaaten des europäischen Westens und Nordens in der Minderheit, während es im übrigen Europa fast nur noch Diktaturen gab. Diese bemerkenswerte Tatsache bleibt erklärungsbedürftig; sie wird nicht erklärt, wenn man lediglich eine Neigung der Deutschen zum "starken Staat" unterstellt. Ein leistungsfahiger Staat ist im Zeitalter der Modeme immer ein "starker" Staat, nämlich ein politisches System, das gesellschaftliche Gegensätze ausgleichen oder überbrücken, handlungsfahig und ziel bewußt die Regierung führen und in breitem Ausmaß die Interessen der Bevölkerung befriedigen kann. Das Problem besteht darin, ob er Rechtsstaat bleibt oder nicht. In der Weimarer Republik waren die gesellschaftlichen Gegensätze nur schwer auszugleichen, Regierungen mit dauerhafter Handlungsfahigkeit und Durchsetzungskraft gab es kaum, und mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise konnten selbst die elementaren Bedürfnisse des Volkes immer weniger befriedigt werden. Der parlamentarische Rechtsstaat von Weimar, dessen Wurzeln in das Kaiserreich zurückreichen, vermochte sich trotz seiner vielfältigen Belastungen zunächst einigermaßen zu behaupten, aber ein wirklich "starker" Staat war er nie. Die Auflösung der Weimarer Republik läßt sich deshalb auch unter dem Gesichtspunkt des "Machtverfalls in der Demokratie" beschreiben. Weil der Weimarer Parteienstaat letztlich schwach war, weil unter den erschwerenden Bedingungen der Wirtschaftskrise seine Macht nicht ausreichte, der wachsenden gesellschaftlichen Spannungen, der Unzufriedenheit des Volkes Herr zu werden und die Gegensätze durch innen- oder außenpolitische Erfolge rechtzeitig zu überwölben, entwickelte das Volk eine zunehmende Bereitschaft, die Stärke und Durchsetzungsfahigkeit des Staates nicht auf dem parlamentarisch22 Zur Modernisierung Koselleck, Studien; Zapf, Theorien. Hitler über Ausbildung in Mein Kampf, 452, 475. Hitler über Bauernhöfe für Ostsiedler Monologe, 48 (27.7.1941).
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rechtsstaatlichen, sondern auf dem diktatorischen Weg zu suchen. Seit den Wahlen von 1932 bekannte sich mindestens die Hälfte der Bevölkerung zu Parteien, die eine Diktatur anstrebten, rund ein Drittel zu den Nationalsozialisten, ein Sechstel zu den Kommunisten. Unter solchen Umständen war der parlamentarische Rechtsstaat eigentlich am Ende. Da er gewaltsam, durch die Reichswehr, nicht gerettet werden sollte, blieb schwerlich ein anderer Ausweg als ihn den Nationalsozialisten zu überantworten. Für mindestens ein Drittel des Volkes war das alles andere als ein Opfer, viele weitere konnten sich leichten oder schweren Herzens damit abfinden, und für die übrigen hielt die Diktatur bald Werkzeuge der Einschüchterung und Unterdrückung bereit. Hitler hatte neuerliche Reichstagswahlen zur Bedingung seiner Kanzlerschaft gemacht; als diese im März 1933 stattfanden, erbrachten sie 43,9 % der Stimmen für die NSDAP. Das war zwar immer noch keine Mehrheit für die HitlerBewegung, aber zweifellos war nun eine Mehrheit des Volkes bereit, die Diktatur hinzunehmen, sei es aus Überzeugung, Gleichgültigkeit oder Angst. Diese Mehrheit mußte noch wachsen, wenn es der Diktatur gelang, die Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte der Massen zu stillen, wenn sie dem Volk den Eindruck vermittelte, seine Belange ernst zu nehmen und tatkräftig zu verwirklichen. In Hinblick auf die Außenpolitik bestand dieser Eindruck unbedingt. Was in der nationalen Aufbruchstimmung des Jahres 1933 immer wieder zum Ausdruck kam, war ein zutiefst gekränktes Nationalempfinden, das die Demütigungen der Versailler Ordnung zu überwinden und Deutschland den Platz in der Staatenwelt zu geben wünschte, der ihm mißgünstig verweigert worden war. Das Volk wollte weder Krieg noch Eroberung, aber es wollte den unwürdigen Zustand beenden, daß andere Mächte die Ehre und Gleichberechtigung des Vaterlandes mit Füßen treten konnten. Daß Hitler tatsächlich auf den Krieg lossteuern würde, wußte kaum jemand; das Buch "Mein Kampf' hatten die wenigsten sorgfältig gelesen, und die es gelesen hatten, nahmen es nicht ernst. Selbst die SPD begann erst, nachdem ihr Parteivorstand im Frühjahr 1933 ins Exil gegangen war, durch diese sog. SOPADE seit Mitte 1933 vor der Kriegsgefahr zu warnen. In Hinblick auf die Innenpolitik waren die nationalsozialistische Propaganda und Verschleierung nicht minder erfolgreich. Im Juli 1933 erklärte Hitler: "Gesinnung ist in der Wirtschaft nicht das Wesentliche; für das Gedeihen der Wirtschaft ist erforderlich, daß man von der Wirtschaft praktisch etwas versteht. Allgemein gesprochen wird ein Nationalsozialist, der nur theoretischer Wirtschaftler ist, schädlicher wirken als ein Wirtschaftler, der nur Wirtschaftler und kein Nationalsozialist ist." Wie wahr! Solche Einsichten hatten Hitler allerdings nicht abgehalten, seine Vorstellungen über die Zinsknechtschaft zugunsten des internationalen Finanzjuden, über den Lebensraum und die Rückkehr zu einer nationalen Bedarfswirtschaft auf bäuerlicher Grundlage zu entwickeln. Ebensowenig hielten sie ihn in Zukunft davon ab, den Lebensraumkrieg zu führen, um die Wirtschaft nach derlei Richtlinien umzuformen. In den Jahren der Legalitätstaktik und der Machtergreifung jedoch wurde das vertuscht; man prangerte nur die gegenwärtigen Mißstände
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an, sprach von der Volksgemeinschaft und dem Wiederaufstieg, versprach den Besitzenden die Achtung des Privateigentums und den Lohnabhängigen eine Besserung ihrer Lage. Die Arbeiter wußten nicht, was Hitler 1930 zu Dtto Straßer sagte: "Sehen Sie, die große Masse der Arbeiter will nichts anderes als Brot und Spiele, die hat kein Verständnis für irgendwelche Ideale ... Wir wollen eine Auswahl der neuen Herrenschicht, die nicht wie Sie von irgendeiner Mitleidsmoral getrieben wird, sondern die sich darüber klar ist, daß sie auf Grund ihrer besseren Rasse das Recht hat zu herrschen und die diese Herrschaft über die breite Masse rücksichtslos aufrechterhält und sichert." Vielmehr wußten die Arbeiter oder konnten wissen, was Gregor Straßer 1932 im Reichstag ankündigte: Erhöhte Staatsausgaben, Arbeitsbeschaffung, verstärkte staatliche Planung und Sozialpolitik. Wenngleich die Arbeiter nicht die entscheidende Wählergruppe der NSDAP waren, brachte dies dennoch Stimmen. Und eine Hebung der unteren und mittleren Volksschichten konnten die Nationalsozialisten mit gutem Gewissen versprechen; das war ja ihr Ziel. Soweit das Volk dies geglaubt hat - viele haben es geglaubt - , kann man nicht kurzerhand sagen, daß es enttäuscht wurde. Immerhin konnte bis zum Krieg, im Gegensatz zu anderen Ländern, die Vollbeschäftigung erreicht werden, ferner eine Rückkehr zum Lebensstandard der späten zwanziger Jahre und sogar die eine oder andere sozialpolitische Verbesserung, etwa in Form von Ehestandsdarlehen oder Urlaubsregelungen. Für viele HitlerWähler war der Rechtsstaat nur ein abstrakter Wert, der hinter dem eigenen Wohlergehen zurückstehen mußte. Im übrigen war kaum erkennbar, wie radikal die Beseitigung des Rechtsstaats sein würde. 23 Es war zunächst noch nicht einmal sicher, ob es zur Errichtung einer nationalsozialistischen Diktatur überhaupt kommen würde. Wenn die an sich ja bekannten Ereignisse der Machtergreifung hier noch einmal kurz vorgeführt werden, so geschieht dies nicht nur der Vollständigkeit halber. Sondern es ist auch festzuhalten, daß - jenseits aller Vorwürfe über Schuld und Versagen - die Chancen für die Erhaltung des Rechtsstaats nicht gut waren. Wer vom Rathaus kommt, ist immer klüger, aber die Zeitgenossen waren noch nicht dort gewesen. Die Nationalsozialisten besaßen alle Vorteile des Angreifers: Sie verfügten über eine schlagkräftige Bewegung, waren zielstrebig und rücksichtslos, konnten an entscheidenden Stellen ansetzen und wurden in ihrer Gefahrlichkeit oft nicht richtig erkannt. Dagegen wies die Verteidigung des Rechtsstaats deutliche Risse auf: Eine einheitliche Front der Hitler-Gegner gab es nicht, man ließ sich überrumpeln und wurde zusätzlich behindert durch das Bewußtsein, daß eine mehrheits fähige 23 Zum Machtverfall Bracher, Auflösung. Die Arbeit trägt den Untertitel: Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Zum nationalen Aufbruch 1933 Jasper, Zähmung, 220 f. Zur SOPADE Matthias, Sozialdemokratie, 18 ff. Hitler 1933 in Regierung Hitler 1/1,631 (Rede vor den Reichsstatthaltern, 6.7.1933). Hitler 1930 bei O. Straßer, Ministersessel, 12. Gregor Straßer 1932 in Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte, Bd. 446, 2510 ff. (10.5.1932). Ferner Deutsche Verwaltungsgeschichte IV, 665 ff., 793 ff. Lampert, Sozialpolitik. Hachtmann. Zitelmann, Hitler, 175 ff.
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Alternative zur Hitler-Bewegung nicht in Sicht war. Die (Präsidial-) Regierung unter Hitlers Kanzlerschaft, die am 30. Januar 1933 ins Leben trat, war eine Koalitionsregierung zwischen NSDAP und DNVP, in welcher bloß drei Nationalsozialisten acht konservativen oder parteilosen Kabinettsmitgliedern gegenüberstanden. Eine starke Stellung schien Vizekanzler Papen zu haben, der die Bildung der Regierung Hitler in die Wege geleitet hatte, denn Papen war Reichskommissar für Preußen, dessen Regierung im Juli 1932 - damals unter der Kanzlerschaft Papens - vom Reich übernommen worden war, was auch dem Zweck hatte dienen sollen, angesichts der in Preußen drohenden nationalsozialistischen Regierungsbildung die dortige Polizei und Verwaltung nicht der Hitler-Bewegung auszuliefern. Papen meinte anfangs siegessicher: "Ich habe das Vertrauen Hindenburgs. In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, daß er quietscht." Diese Einschätzung hatte allerdings eine Reihe von Schwachstellen. Erstens litt sie darunter, daß Hindenburg ein dem Tode naher Greis war, der weder die Kraft noch den Willen besaß, der nationalsozialistischen Skrupellosigkeit entgegenzutreten. Zweitens wurde Göring kommissarischer preußischer Innenminister, formell zwar unter Papen, tatsächlich jedoch völlig selbständig, was sich für die Nationalsozialisten als besonders glücklicher Griff erwies, da Göring - nervenstärker und zupackender als Hitler - die innere Lage in Preußen bald vollständig im Griff hatte. Drittens verfügte die NSDAP über die Parteimiliz der SA (Sturmabteilungen), die unter ihrem Stabschef Röhm bis zur Machtergreifung die beachtliche Stärke von fast einer halben Million Mann erreichte, ferner über die SS (Schutzstaffel), eine Art Parteipolizei mit gut 50 000 Mann unter Heinrich Himmler. Wenngleich diese Parteitruppen der Reichswehr nach Führung, Ausbildung und Bewaffnung nicht gleichwertig waren, hätten sie doch im Falle innerer Auseinandersetzungen einen reichlich unangenehmen Gegner dargestellt. Auf der anderen Seite hatte Hindenburg es bewußt vermieden, die Reichswehr den Nationalsozialisten auszuliefern; deswegen wurde General Werner von Blomberg im Kabinett Hitler Reichswehrminister mit dem Auftrag, die Streitkräfte als überparteiliches Machtmittel des Staates zu erhalten. Den Konservativen in Hitlers Regierung war anscheinend der Gedanke nicht fremd, sich gegen die Nationalsozialisten auf die Reichswehr zu stützen. Anfang März 1933 sollen Papen und BIomberg mehrfach einen militärischen, d. h. auf die Reichswehr gestützten Ausnahmezustand verlangt haben, um der allmählichen Durchsetzung der Nationalsozialisten und dem mit Hilfe von SA und SS entfesselten Straßenterror zu begegnen. Falls solche Forderungen erhoben wurden, scheinen sie an der Abneigung Hindenburgs gescheitert zu sein, die Reichswehr in inneren Auseinandersetzungen zu verschleißen; auch hätte Hindenburg sich auf den Standpunkt zurückziehen können, da die demokratischen Parteien Schleichers Notstandsplan abgelehnt hatten, mochten sie nun selbst zusehen, wie sie mit der NSDAP fertigwurden. Hitler hatte zwar, wie er später eingestand, die Legalitätstaktik gewählt, um nicht in Gegensatz zur Reichswehr zu geraten. Wenn jedoch die Reichswehr eingesetzt wurde, um ihn von der legalen oder scheinlegalen Errich-
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tung der Diktatur abzuhalten, mochte er sich leicht eines anderen besinnen. Wie auch immer, sofern es in den ersten Monaten des nationalsozialistischen Umsturzes noch eine Möglichkeit gab, die Hitler-Bewegung mit Hilfe der Reichswehr aufzuhalten, dann wurde sie nicht genutzt. Zusätzlich verwickelt wurde die Lage durch den Umstand, daß die neue Regierung mit Gegenmaßnahmen der KPD rechnete, die bei den Reichstagswahlen vom November 1932, im Gegensatz zu den Nationalsozialisten, noch einmal zugenommen hatte (auf 16,9 % der Stimmen). Unter Berufung auf eine kommunistische Aufforderung zum Generalstreik von Ende Januar wurde am 4. Februar eine Notverordnung "zum Schutz des deutschen Volkes" erlassen, die eine Behinderung gegnerischer Parteien erlaubte und äußerstenfalls Verhaftungen zuließ. Hiervon machte in der Folgezeit vor allem Göring Gebrauch, der als kommissarischer preußischer Innenminister die dortige Polizei in Stärke von fast 50 000 Mann leitete. Diese preußische Polizei begann er mit nationalsozialistischen Parteigängern zu durchsetzen, er benützte sie zum Kampf gegen politische Gegner, vor allem die Kommunisten, wobei er die Polizei am 17. Februar zur Gewaltanwendung und zum Schußwaffengebrauch anwies, und am 22. Februar verstärkte er die reguläre Polizei durch 50 000 "Hilfspolizisten", die zu vier Fünftein aus SA und SS kamen, der Rest aus dem Stahlhelm. Wohl die entscheidende Stufe im Vorgang des nationalsozialistischen Umsturzes war der Brand des Reichstagsgebäudes am 27. Februar. Daß dabei die Nationalsozialisten ihre Finger im Spiel hatten, ist schon immer vermutet worden. Generalstabschef Halder glaubte sich später zu erinnern, Göring habe 1942 die Brandstiftung zugegeben. Demgegenüber wird eine Beteiligung der Nationalsozialisten bis heute vielfach bestritten, ohne daß eine Einhelligkeit der Meinungen erzielt worden wäre. Sicher ist jedenfalls, daß die Nationalsozialisten die Lage sofort ausnützten, wobei Göring in der Brandnacht, noch ohne stichhaltige Beweise, die Brandstiftung als erster den Kommunisten in die Schuhe schob und sofort die Verhaftung kommunistischer Abgeordneter und Funktionäre sowie das Verbot der KPD-Presse und die Schließung ihrer Parteibüros anordnete. Wäre der Reichstagsbrand wirklich das Signal für einen kommunistischen Aufstand gewesen, wie die Nationalsozialisten in großer Erregung unterstellten, so wäre das naheliegende Gegenmittel eigentlich ein Ausnahmezustand gewesen, der sich auf die Reichswehr stützte, also die vollziehende Gewalt Militärbefehlshabern übertrug. Ob die Nationalsozialisten nun vom Reichstagsbrand überrascht wurden oder ob sie, gegebenenfalls nur in der Person Görings, selbst daran beteiligt waren einen militärischen Ausnahmezustand suchten sie jedenfalls zu vermeiden, denn er hätte die vorgesehene Reichstagswahl verzögert oder verhindert und die in Preußen vorhandene Verfügung über den Polizeiapparat wieder gefährdet, wenn nicht beseitigt. Anderntags, am 28. Februar 1933, wurde im Reichsinnenministerium des Nationalsozialisten Frick eine neue Notverordnung ausgearbeitet, die berüchtigte Reichstagsbrandverordnung, die einen Ausnahmezustand vorsah aber keinen militärischen, sondern einen zivilen, der alle entsprechenden Befug-
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nisse in die Hand der Reichsregierung legte, also im wesentlichen in die Hände Hitlers, Görings und Fricks. Hindenburg stimmte dem noch am selben Tag zu, wohl in der Erwägung, die Reichswehr könne nicht einen Ausnahmezustand gegen Kommunisten, Nationalsozialisten und womöglich auch noch andere Gegner zugleich durchfechten. Die Reichstagsbrandverordnung ("zum Schutz von Volk und Staat"), die man geradezu als Grundgesetz der nationalsozialistischen Diktatur ansehen kann, setzte Grundrechte außer Kraft, gab der Reichsregierung Eingriffsmöglichkeiten in den einzelnen Ländern, stattete die Behörden mit uferlosen Befugnissen aus, die unbefristet und gerichtlich nicht nachprüfbar waren, und setzte eine Anzahl von Strafen und Strafverschärfungen bis hin zur Todesstrafe fest. Anfang März benützte man die Reichstagsbrandverordnung, um in den Ländern, die noch keine nationalsozialistischen Regierungen besaßen, durch SA, SS und andere Teile der Bewegung Unruhe zu erzeugen und anschließend von Reichs wegen einzugreifen, d. h. Reichskommissare einzusetzen und die Polizei der Länder in die Hand zu bekommen. Durch die beiden Gesetze zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich wurden am 31. März 1933 die Landtage entsprechend den Reichstagswahlen umgebildet und die Landesregierungen zur Gesetzgebung ohne die Landtage ermächtigt, am 7. April die Reichskommissare als Reichsstatthalter und Vollstreckungsorgane der Politik des Reichskanzlers eingesetzt. Auf diesem Weg wurde Göring preußischer Ministerpräsident und Papen ausgebootet. Durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934 fielen schließlich die Hoheitsrechte der Länder an das Reich, die Länderregierungen wurden der Zentrale unterstellt, die Länderparlamente und das bundesstaatliche Organ, der Reichsrat, wurden aufgelöst. Sondergerichte für politische Straftaten gemäß der Reichstagsbrandverordnung und einem zusätzlichen "Heimtückegesetz" waren bereits im März 1933 errichtet worden; im Juli 1934 kam als oberste Instanz hierfür ein Volksgerichtshof dazu. 24 Eine zweite Linie des nationalsozialistischen Umsturzes trat dadurch etwas in den Hintergrund. Hitler hatte ursprünglich ein Ermächtigungsgesetz angestrebt, wie es in ähnlicher Weise bereits 1923 vorübergehend bestanden hatte, also eine Rechtsetzungsbefugnis der Regierung. Dieses Ziel wurde auch nach der Reichstagsbrandverordnung beibehalten; die mittlerweile erreichte Beherrschung der Straße durch SA und SS erleichterten es. Das· Gesetz "zur Behebung der Not von Volk und Reich" vom 24. März 1933 fand nur bei der SPD mutigen Widerspruch (die KPD war bereits ausgeschaltet); der SPD-Vorsitzende Otto Wels sagte allerdings am Abend nach der Abstimmung im Reichstag zu einem Ab24 Papen über Hitler bei Kleist-Schmenzin, 92. Zur Machtergreifung Bracher / Schulz / Sauer I, 92 f., 116 und passim; 11, 82 und passim. Kube, 21 ff. Zum Preußenschlag von 1932 auch Jasper, Zähmung, 100. Zu Papens und Blombergs Forderung eines militärischen Ausnahmezustands H. Mommsen, Reichstagsbrand, 463 ff., 480. Hitler über die Legalitätstaktik bei Picker, 323 (21.5.1942). Der Aufruf der KPD zum Generalstreik, 30.1. 1933, Görings Schießerlaß sowie die Reichstagsbrandverordnung bei Michalka, Dokumente I, 16 f., 24 f., 27 f. Halder über den Reichstagsbrand in Hofer, Dokumente, 52. Ferner Backes et al., Reichstagsbrand.
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geordneten des Zentrums: "Gut, daß ihr zugestimmt habt, sonst wären wir dort nicht mehr herausgekommen." Das Ermächtigungsgesetz gab der Regierung Hitler für vier Jahre die Befugnis, ohne Mitwirkung des Reichstags Gesetze gleich welchen Inhalts zu erlassen, darunter auch Haushaltsgesetze, ferner Verträge abzuschließen, und zwar beides ohne Eingriffsrechte des Reichspräsidenten. Hindenburg war damit weithin entbehrlich geworden. Ansonsten diente das Ermächtigungsgesetz lediglich der Maskerade im Zuge der Legalitätstaktik; weder kam es verfassungsmäßig völlig rechtens zustande noch wurden die schwachen Sicherungen, die es enthielt, später beachtet. Legal war das Ermächtigungsgesetz nur im Sinne revolutionärer Rechtsbegründung; wie die Reichstagsbrandverordnung stellte es eine Brücke dar vom Rechtsstaat zur revolutionären Diktatur. Diese Diktatur wurde in der Folgezeit weiter gefestigt und ausgebaut durch ein (Regierungs-) Gesetz "zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns" vom 7. April 1933, das die Säuberung der Verwaltung ermöglichte, d. h. die Entfernung von Juden und politisch Unzuverlässigen. Der Parteienstaat entfiel nach der Unterdrückung der KPD und dem Verbot der SPD im Juni 1933 durch die Selbstauflösung der übrigen Parteien im Juni und Juli; die NSDAP wurde durch Gesetz vom 1. Dezember 1933 als Körperschaft des öffentlichen Rechts alleiniger politischer Willensträger der Nation. Anfang Mai 1933 erfolgte als reine Parteiaktion die Ausschaltung der Gewerkschaften; an ihre Stelle trat die Deutsche Arbeitsfront (DAF), eine organisatorische Zusammenfassung von Arbeitern, Angestellten und Unternehmern mit schließlich über 20 Millionen Mitgliedern. Für die Bauern gab es seit September 1933 die Zwangsorganisation des Reichsnährstands unter dem Rasseideologen und Landwirtschaftsminister Darre; für die gewerbliche Wirtschaft entstanden bis 1934 Zwangszusammenschlüsse in verschiedenen Reichsgruppen (Industrie, Handwerk, Handel usf.) unter Aufsicht des Wirtschaftsministeriums, aber ohne schwerwiegende Eingriffe. Durch alle diese Maßnahmen wurden bis zum Jahr 1934 die Machtergreifung, die Errichtung der Diktatur und die Gleichschaltung abgeschlossen. Die konservativen Parteipolitiker schieden aus dem Kabinett aus, statt dessen wurden Nationalsozialisten neu aufgenommen. Die parteilosen Fachleute blieben und erhielten sogar Verstärkung, so in Gestalt der parteilosen Wirtschaftsminister Schmitt (1933-34) und Hjalmar Schacht (1934-37). Der Straßenterror flaute ab, die Diktatur schien zur Normalität zurückzukehren. Ende März 1933 hatte zwar die Parteileitung der NSDAP zu einem Boykott jüdischer Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte aufgerufen, der Anfang April von der SA durchgeführt wurde und bei welchem Hitler sich nach außen spürbar zurückhielt. Aber die Bevölkerung trug die Aktion nicht mit; gesprächsweise wurde sie von vielen abgelehnt, und nach dem Boykott kaufte die Bevölkerung verstärkt bei jüdischen Händlern ein. Das Volk erwartete von der Diktatur innen- und außenpolitische Erfolge; für die "Ideale" der nationalsozialistischen Rassenfanatiker war das Volk, wie Hitler wußte, nicht zu haben. Der Boykott erwies sich als Mißerfolg und wurde bald abgebrochen. In Verkennung der wahren Verhältnisse begann sich beim Volk
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der Gedanke einzunisten, Hitler sei ein durchaus gemäßigter Staatsmann, der das ruhige Voranschreiten einer geregelten Staatstätigkeit verbürge, während Ausschreitungen und Fehlleistungen auf das Konto anderer gingen, insbesondere der Schläger- und Radaubanden der SA. In der Tat versuchte die SA, die mittlerweile auf mehrere Millionen Mann angeschwollen war, die nationalsozialistische Revolution weiterzutreiben, wobei ihrem Stabschef Röhm auch die Vereinigung von SA und Reichswehr als Volksheer unter seiner Führung vorschwebte. Dem trat Hitler entgegen, als er Ende Juni 1934 durch die SS, unter Hilfestellung durch die Reichswehr, die SA-Führung ermorden ließ, was zugleich zur Abrechnung mit etlichen alten Gegnern benützt wurde, so General Schleicher. Diese blutige Gewalttat, deren Hintergründe verschleiert wurden, führte bezeichnenderweise beim Volk zu einem Vertrauensgewinn für Hitler. Man betrachtete die Aktion als reinigendes Gewitter, welches das Volk wieder aufatmen lasse; soweit die Exzesse verurteilt wurden, nahm man den Führer davon aus. Hitler saß nun wirklich fest im Sattel, und je mehr sich die Erfolge seiner "fachmännischen" Politik einstellten, umso unangreifbarer wurde er. Der eigentliche Gewinner dieser Vorgänge war freilich, außer Hitler, der Führer der SS Himmler. Die SS, ursprünglich der SA unterstellt, wurde nun selbständig. Himmler hatte 1933 bis 1934 die politische Polizei in allen Ländern des Reiches (in Preußen Gestapo) in seine Hand gebracht. 1936 wurde er, formell Innenminister Frick unterstellt, tatsächlich jedoch völlig selbständig, Chef der gesamten deutschen Polizei. Rechtsgrundlage für das Wirken der politischen Polizei und der SS war die Reichstagsbrandverordnung, d. h. ein Ausnahmezustand ohne rechtliche Sicherung und ohne klare Abgrenzung der Befugnisse, der vom Beginn an für Willkürmaßnahmen benützt worden war, namentlich die Errichtung von Konzentrationslagern. Die Ausgangslage für die weitere Geschichte des Dritten Reiches war geschaffen. 25 Wie stellt sich nun die staatliche Wirklichkeit der nationalsozialistischen Diktatur dar? Es ist seit längerem bekannt und unbestritten, daß der Hitler-Staat von einer institutionellen Anarchie und einem Kompetenzenwirrwarr ohnegleichen geprägt war. Diese erstaunliche Tatsache hat mehrere Ursachen, läßt sich jedoch zureichend nur vor dem Hintergrund der antimodemen Weltanschauung des Nationalsozialismus erklären. Der modeme Verfassungsstaat, wie er in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert bestand, stellt mit seinen organisatorisch verselbständigten Einrichtungen den Lenkungsstab dar für die Gesellschaft, die ihn trägt und die er seinerseits ordnet und steuert. In der Verknüpfung von Rechts- und Verwaltungs staat hatte die deutsche Staatstradition eine Weise des Staatshandelns entwickelt, die schon Max Weber als rationalste und wirkungsvollste Form öffentlicher Herrschaftsausübung beschrieb. Gebunden an positives Recht, war die 25 Zum Ermächtigungsgesetz H. Schneider; der Text in Jasper, Weimar, 504. Wels nach Rudolf Morsey, Diskussionsbeitrag in Broszat, Weg, 235; die Quellenangabe bei Morsey, Untergang, 144. Zum Juden-Boykott 1933 J. und R. Becker, Machtergreifung, 189 ff. Genschel, 52, Anm. 37. Zum sog. Röhm-Putsch Kershaw, 72 ff.
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Arbeit des staatlichen Apparates geprägt von hierarchischer Ordnung, klarer Kompetenzzuweisung, behördlichem Geschäftsbetrieb, fachlicher Ausbildung sowie an der Sache ausgerichteter und durch Überwachung sichergestellter Dienstleistung im Amt. Es ist nun mit Recht darauf verwiesen worden, daß die nationalsozialistische Bewegung sich gleichsam parasitär über den vorhandenen Staat legte und diesen im Laufe der Zeit weitgehend zersetzte. Das galt nicht bloß insofern, als die nationalsozialistische Diktatur die rechtsstaatlichen Freiheitssicherungen durchbrach, sondern der Nationalsozialismus zerstörte darüber hinaus den rationalen Staatsbetrieb als solchen, indem er die genannten Merkmale eines modernen Staatsapparats fast durchwegs beeinträchtigte oder beseitigte. Die Masse der "alten Kämpfer" und vor allem Hitler selbst wollten sich gerade nicht damit begnügen, in diktatorischer Umwandlung des vorhandenen Staatsapparats diesen für eine leistungsfähige Beherrschung und Steuerung der Gesellschaft zu benützen. Sondern das Endziel der nationalsozialistischen Bewegung lief darauf hinaus, über die bestehende Staatlichkeit hinweg zu einer neuen und andersartigen Form politischer Herrschaft zu gelangen. Aus diesem Grund verstanden die Nationalsozialisten die Fortdauer eines zwar diktatorischen, aber ansonsten rationalen, überpersönlichen und institutionell geregelten Staatsbetriebs als Faschismus. Eine solche Art der Staatlichkeit, die sie in Italien unter Mussolini verwirklicht sahen, wollten sie durchaus überwinden. Für die Partei, allen voran Hitler selbst, war und blieb der überkommene Staatsapparat etwas Fremdes, dem man mit offener oder versteckter Feindseligkeit begegnete. 26 Auch die Formel vom totalen Staat, der nach Ansicht mancher Juristen die nationalsozialistische Führungsordnung und die bürokratische Verwaltungsorganisation verknüpfen, Staat und Gesellschaft diktatorisch straff zusammenbinden sollte, entsprach nicht den Vorstellungen der Nationalsozialisten. Der Parteiideologe Rosenberg schrieb deshalb 1934, es komme nicht auf die Totalität des Staates, sondern auf die Totalität der Bewegung an. Nach dem Verständnis der Partei sollte der Staat weder faschistisch noch totalitär sein, sondern er sollte von einer totalitären Bewegung überwuchert werden. Die nationalsozialistische Führerdiktatur kann daher nicht ohne weiteres mit anderen Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf eine Stufe gestellt werden, sondern sie war ihrem Wesen nach etwas Eigenes. Am ehesten läßt sie sich als gewalttätige, den modernen Staat zersetzende Radikaldiktatur verstehen, deren hervorstechende Merkmale Irrationalität und absichtliche Anarchie bildeten. Nach einem regelrechten Programm für den Um- oder Neubau eines modernen Staates wird man daher bei Hitler und den meisten führenden Nationalsozialisten vergeblich suchen. Sie hatten keines und waren, mit Ausnahme des Innenministers Frick, daran auch nicht interessiert, abgesehen von der Errichtung der Diktatur 26 M. Weber, Wirtschaft, 125 ff. H. Mommsen, Beamtentum, 13, 86, 108 f., 118 ff., 236. Broszat, Staat, 39, 423 ff. Adam, Judenpolitik, 355 ff. Buchheim, Anatomie I, 22. Diehl-Thiele, 4 ff., 29 ff., 66 f. Caplan, Bureaucracy. Dies., Govemment. Rebentisch / Teppe.
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und der Beseitigung des Parlamentarismus. Nach gängigem Befund errichtete Hitler zunächst, unter weitgehender Abstützung auf den vorhandenen Staatsapparat, eine Art europäischer Normaldiktatur, in welcher die utopischen, zerstörerischen und terroristischen Endziele der Bewegung noch halbwegs gebändigt zu sein schienen. Durch den Abbruch der Parteirevolution im sog. Röhm-Putsch wurde weiten Schichten das trügerische Gefühl vermittelt, die Bewegung könne eingegliedert werden in ein zum großen Teil von herkömmlichen Ordnungs- und Rechtsvorstellungen geprägtes Staatswesen, in welchem der diktatorische Ausnahmezustand und die Gleichschaltung der Gesellschaft als verhältnismäßig erträglich empfunden wurden. Zwar bestand von vornherein ein öfters beschriebenes Nebeneinander von Normenstaat und totalitärer Maßnahmenherrschaft, doch schien der rational organisierte und arbeitende Staatsapparat anfangs noch ein Übergewicht zu besitzen im Vergleich zu den Einrichtungen polizeilicher und weltanschaulicher Willkürherrschaft. In Wahrheit jedoch war vom Beginn an jener Prozeß im Gange, der die bürokratische Rationalität, Berechenbarkeit und Leistungsfähigkeit des herkömmlichen Staatsbetriebs durchlöcherte zugunsten eines unübersichtlichen Geflechts persönlicher Bevollmächtigung, unklarer Kompetenzabgrenzung, fortwährender Machtkämpfe und fehlender Koordination. In der Person Hermann Görings, seit 1934 zum Nachfolger Hitlers bestimmt, verkörperte sich am deutlichsten die erste Phase der Auflösung vorhandener Staatlichkeit, in deren Verlauf bis etwa 1938 die revolutionäre Stoßkraft der Bewegung allerdings noch eingedämmt wurde, um durch die Zusammenarbeit mit den alten Führungskräften aus Staat und Gesellschaft die Voraussetzungen zu schaffen für den Absprung in diejenige Art von Politik, die Hitler eigentlich anstrebte. Anders als der engstirnige Rassenfanatiker Heinrich Himmler, der mit seiner SS in den Kriegsjahren das Erscheinungsbild des Dritten Reiches vorzugweise prägte, fühlte Göring sich weder der Bewegung noch deren Weltanschauung besonders verpflichtet, sondern bezog eine schillernde Stellung zwischen Partei, Verwaltung, Wehrmacht und Wirtschaft, die ihn für einige Jahre zum nützlichsten Werkzeug Hitlers machte. Gerade die Überlastung mit vielfältigen Ämtern und Aufgaben, die durch Görings rastlosen Machthunger noch verstärkt wurde, leistete jedoch einen wesentlichen Beitrag zu jener Verwirrung der Zuständigkeiten, zum unkontrollierten Ausufern der Positionskämpfe und zum Verfall des planmäßigen Zusammenwirkens der Ressorts, wie sie von Hitler teils hingenommen, teils gefördert und von Göring jedenfalls nicht aufgehalten wurden. So stellte Görings Machtbereich, den man geradezu als Staat im Staat bezeichnet hat, bald ein getreues Spiegelbild des größeren Ganzen dar: durch eine Fülle von Sonderinstanzen eher staatszersetzend, in der Organisation chaotisch, in der Leistung schwach und den Anforderungen sachlich vielfach nicht gewachsen. 27 27 Zu Rosenberg Artikel Totaler Staat? in Völkischer Beobachter, 9.1.1934. Ferner Fraenkel, Doppelstaat. Broszat, Staat, 244 ff., 423 ff. Zu Göring Kube 29, 160 und passim. Martens, Göring.
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Wenn man versucht, die Ursachen für dieses institutionelle Durcheinander dingfest zu machen, dann stößt man regelmäßig auf drei Beweggründe. Dazu gehört erstens Hitlers Bestreben, seine diktatorische Stellung dadurch zu sichern, daß die Macht vorsätzlich geteilt und zersplittert wurde, um keine gefährlichen Rivalen aufkommen zu lassen und stets in der Rolle des obersten Schiedsrichters zu bleiben. Zweitens ist der Umstand zu nennen, daß Hitler wie die meisten führenden Nationalsozialisten in den Sachfragen des Staatsbetriebs einen erschreckenden Dilettantismus an den Tag legte, der durch Desinteresse und mangelnde Bemühung noch verstärkt wurde. Drittens schließlich kam eine ideologische Komponente zum Tragen, welche die weltanschaulichen Vorstellungen von Rasse und Führertum auf das Institutionengefüge übertrug und seinen Aufbau wie seine Wirkungsweise danach ausrichtete. Den ersten beiden Sachverhalten wird meistens besonderes Gewicht beigemessen. 28 In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß Hitler als Reichskanzler dasselbe Verfahren fortsetzte, das er schon als Parteiführer in der Kampfzeit angewendet hatte, denn bereits damals hatte er den Machtrivalitäten seiner Gefolgsleute weiten Raum gegönnt und nur insoweit eingegriffen, als es die Wahrung seiner obersten Autorität und Entscheidung erforderlich machte. Ein Gauleiter, der noch vor der Machtergreifung wieder aus der NSDAP ausschied, stellte zu dieser Taktik fest, daß Machtkämpfe auf der nachgeordneten Ebene am besten die Bildung einer geschlossenen Opposition gegen die Spitze verhinderten. Sie seien daher eher nützlich als schädlich, sollten gegebenenfalls heimlich gefördert und möglichst nicht nach Sachgesichtspunkten entschieden werden. Es entsprach dieser spalterischen und auf persönliche Abhängigkeit zielenden Herrschaftstechnik, wenn Hitler die zentrale Parteileitung schwach und uneinheitlich ließ, dafür aber den Unterorganisationen sowie ihren Funktionären große Handlungsfreiheit zugestand und den Zusammenhalt der Partei vorzugsweise auf die persönliche Treuepflicht der einzelnen gegenüber dem Führer gründete. Verfahrensweisen solcher Art wurden auf den Staat übertragen und führten dazu, die straffe Einheitlichkeit der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit aufzufasern. Bereits die 1935 abgebrochene Reichsreform und die merkwürdig unvollständige Verschmelzung des preußischen Ministeriums mit dem Reichskabinett deuten darauf hin, daß der Machtsteigerung zentralisierter bürokratischer Apparate Zügel angelegt werden sollten. Die Koordination der Regierungsarbeit wurde immer schleppender und mühsamer, der Informationsfluß immer dünner, als die Kabinettsitzungen allmählich einschliefen und 1938 ganz aufhörten. In seinem Mißtrauen gegen die zentrale Bürokratie verbot Hitler im Krieg sogar gesellige Zusammenkünfte der Reichsminister. Das Aufspalten der Verwaltung in eine Anzahl wenig koordinierter und Hitler jeweils einzeln unterstehender Zweige wurde noch verstärkt durch das Einrichten von neuen Behörden und Sonderbe28 Bracher, Diktatur, 258, 376. Bollmus, 242 ff. J. C. Fest, Hitler 11, 573. Milward, 15 ff. Herbst, 117. H. Mommsen, Stellung, 52 ff.
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vollrnächtigten wie Todt mit seiner Bauorganisation (zunächst für die Autobahnen, dann auch für militärische Befestigungen) oder Göring mit dem Vierjahresplan (seit 1936 für Rüstungszwecke). Deren Zuständigkeiten durchschnitten die bestehende Aufgabenverteilung und hielten die Machtverhältnisse in Fluß. Dieses System der Gegengewichte hatte freilich seinen Preis, nicht nur im Hinblick auf die ständigen Reibungsverluste, Verzögerungen und Leistungseinbußen. Die Vereinigung der Regierungen Preußens und des Reiches beispielsweise war bereits in der späteren Weimarer Republik zum Zweck der Verwaltungsvereinfachung angestrebt und eben deswegen in den Reparationsverhandlungen auch vom Ausland begrüßt worden. Eine entsprechende Verwaltungsrationalisierung konnte vom Dritten Reich jedoch nicht erreicht werden. Während der personelle Umfang der öffentlichen Verwaltung und Rechtspflege zwischen 1925 und 1930 um 23 % gestiegen war, betrug das Wachstum zwischen 1933 und 1938 dann 26 %, und dies trotz aller Zentralisierungsmaßnahmen. Über die Folgen des nationalsozialistischen Herrschaftsdurcheinanders waren im übrigen bereits die zeitgenössischen Verwaltungsfachleute nicht im Zweifel. 1941 beklagte der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Stuckart auf verdeckte Weise das bestehende Kompetenzenchaos und stellte fest, es müsse zu Behördeninflation und Behördenkrieg führen, zu Doppelarbeit und Leerlauf der Behörden, Unproduktivität der Behördenarbeit, Publikumsbelastung durch vermehrte Behördenlauferei, Verminderung der Rechtssicherheit durch erhöhte Möglichkeit voneinander abweichender Behördenentscheidungen, Verteuerung der Verwaltung, Aufblähung des gesamten Staatsapparats und zu überflüssigem Zentralismus mangels Ausgleich in der Mittel- und Unterstufe. Solche Warnungen, die bemerkenswerterweise in einer Festschrift für Himmler enthalten waren, vermochten freilich an Hitlers Absichten nichts zu ändern. 29 Ein zweiter Grund für den zerfahrenen Staatsbetrieb des Dritten Reiches liegt im Dilettantismus Hitlers und anderer Nationalsozialisten. Zu den Grundlagen jeder modemen, bürokratischen Regierungs- und Verwaltungstätigkeit gehören Aktenkenntnis, Stetigkeit der Geschäftsführung und Schriftlichkeit. Hitler verletzte alle drei. Anders als Mussolini war er nicht bereit, regelmäßig Akten zu studieren. Sein Regierungsstil hatte nichts mit bürokratischer Amtswaltung zu tun, sondern war eine Art private Veranstaltung, die sich häufig zwischen Tür und Angel abspielte. Seine Entscheidungen waren dementsprechend sprunghaft, nicht selten auch widersprüchlich; die mangelnde Arbeitsdisziplin schlug sich in einem Verfall der Schriftlichkeit nieder; die unsystematischen und meist mündlichen Bekundungen des Führerwillens, häufig über informelle Kanäle, erzeugten Unsicherheit, Desorientierung und vermeidbaren Leerlauf. Seine an sich vorhandene, rasche Auffassungsgabe benützte Hitler nicht dazu, sich wirklich gründlich 29 Über innere Machtkämpfe in der Partei Krebs, 66. Horn, 12 f., 430 ff. Diehl-Thiele, 34, 201 ff. Zur Reichsreform Bracher / Schulz / Sauer 11, 254 ff. Broszat, Staat, 151 ff. Zum Kabinett Gruchmann, Reichsregierung, 202 und passim. Zur Verwaltung H. Schulze, Braun, 689 ff. W. G. Hoffmann, Wachstum, 204. Stuckart, Zentralgewalt.
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in ein Gebiet einzuarbeiten und diejenige Art von Sachkunde zu erwerben, die imstande ist, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Statt dessen versuchte er, den Fachleuten durch abgelegene Detailkenntnisse zu imponieren oder sie durch weitschweifige, ideologische Auslassungen mundtot zu machen. Bei den Konferenzen mit seinem Rüstungsminister Speer in den späteren Kriegsjahren pflegte Hitler stundenlang bei technischen Einzelheiten zu verweilen, während er die langfristigen und wesentlichen Probleme regelmäßig Speer überließ oder durch unsinnige Sonderforderungen durcheinanderbrachte. Ende 1941 übernahm Hitler den Oberbefehl über das Heer mit der Bemerkung, das bißchen Operationsführung könne jeder machen. In Wirklichkeit zeigte sich bald, daß der Gefreite des Ersten Weltkrieges das bißchen Operationsführung gerade nicht beherrschte, sondern beständig die Führungsebenen durcheinanderwarf und sich an taktischen Nebensächlichkeiten festbiß. Mit seiner Mißachtung gediegener Sachkunde stand Hitler indes nicht allein. Was man landläufig als Bürokratie bezeichnet, erschöpft sich ja nicht darin, daß viele Leute an Schreibtischen sitzen, sondern Bürokratie ist ein geordneter, gegliederter, jedenfalls im staatlichen Bereich durch Verfahrens- und Verhaltensregeln rechtlicher Natur bestimmmter Aufbau zur Anwendung von Sachverstand auf das Lösen von Sachfragen und zum Fällen von Entscheidungen. Der Nationalsozialismus zeichnete sich nun dadurch aus, daß er diese Merkmale, teils aus Unkenntnis, teils mit Vorsatz gering schätzte, namentlich die Sachkunde. Obwohl die Wirtschaft seit der Einrichtung des Vierjahresplans der Kriegführung dienstbar gemacht wurde, scheiterte ihre einheitliche und straffe Lenkung bis in die ersten Kriegsjahre nicht zuletzt an Görings mangelnder Einsicht in Sachfragen, die sich, ähnlich wie bei Hitler, mit einem chaotischen Führungsstil und mit der Unlust paarte, sich jener Aufgabe angestrengt zu widmen. Für die SS, die zum wichtigsten Werkzeug des Führerstaats werden sollte, sprach sich Himmler dahingehend aus, daß den Fachleuten, insbesondere den Juristen, ihre Denkgewohnheiten erst einmal ausgetrieben werden müßten. "Unsere Juristen versuchen wir dadurch, daß wir sie in die SS stecken und mit unserem Geist durchdringen, umzuschulen. Aber ich muß sagen, es ist eine der schwierigsten Angelegenheiten, die mir stets von neuem Kopfzerbrechen macht. Immer wieder ertappt man sie dabei, wie sie ausbrechen und in ihre alten Bahnen zurückfallen ... Im Anfange war dies besonders schlimm. Wenn ich da nicht aufgepaßt hätte, hätten die Juristen in meinen Stäben und nicht ich geherrscht . . . Wie grotesk dies im Anfang war, kann ich Ihnen gar nicht sagen. Überall stieß ich auf an und für sich nette, liebe, anständige Leute in SS-Uniform, die ihre Aufgabe darin sahen, mir zu allen meinen Befehlen eine Art Rechtsgutachten zu liefern und mir zu beweisen, in welchen Punkten meine Maßnahmen dem geltenden Recht widersprächen und daher nicht rechtsverbindlich seien ... Aber, wie gesagt, man muß höllisch aufpassen, alle Juristen sind innerlich irgendwie verbogen, das liegt in der Natur der Sache, sie sind die Pfaffen des täglichen Lebens." Diese Äußerung hatte einen gewissen rasseideologischen Hintergrund, auf den noch zurückzukom-
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men ist. Zugleich umschrieb sie jedoch ein Mittel, die geistige Substanz, soweit sie in der SS vorhanden war, zu unterhöhlen. Was der SS noch blieb, war die Befähigung zu primitiven "bürokratischen" Handlungen, vor allem zu Terrorund Verfolgungsmaßnahmen. Auf anderen Gebieten war sie weniger leistungsfähig. So versuchte die SS während des Krieges, in den Konzentrationslagern einfache Waffen herzustellen, was ihr jedoch auf Grund fehlender betriebswirtschaftlicher und organisatorischer Fertigkeiten nur höchst unvollkommen und ineffizient gelang. Vergleichbares galt sodann für die alten Kämpfer der Partei, vor allem die Gauleiter. Beispielsweise wurden nach dem Polenfeldzug in den neuerrichteten Reichsgauen die Landratsämter von den betreffenden Gauleitern zu fast zwei Dritteln mit Gefolgsleuten ohne Verwaltungskenntisse besetzt. Rund die Hälfte davon versagte nach kurzer Zeit vollständig. Innenminister Frick gab deshalb 1941 zu verstehen, nach Auffassung der Partei seien sachliches Wissen und Können geradezu eine Disqualifikation für politisches Führen. 30 Diese Einschätzung verdient es, festgehalten zu werden. Frick, der unter den führenden Nationalsozialisten noch das meiste Verständnis für die Wirkungsweise des modemen Staates aufbrachte, traf mit seinem Urteil den Nagel auf den Kopf, vor allem insofern, als das Politikverständnis der Bewegung mit Absicht jenseits aller Sachkenntnis angesiedelt war. Hitler bestätigte das selbst, wenn er 1942 in einer Rede ausführte, politisches Führen habe mit einem abstrakten Wissen, das man in einer Studienanstalt eingetrichtert bekomme, gar nichts zu tun. Das eine sei eingelernt und eingetrichtert, das andere sei angeboren und werde sich immmer durchsetzen. Es ist deshalb nicht damit getan, den Herrschaftswirrwarr des Dritten Reiches bloß auf die spalterische Herrschaftstechik Hitlers oder auf den Dilettantismus der Nationalsozialisten zurückzuführen. Weit wichtiger war es, daß sich hinter beidem noch etwas anderes verbarg, nämlich die Weltanschauung Hitlers, die für seine Gefolgsleute verbindlich wurde, selbst wenn nicht jeder vollständig damit übereinstimmte. Es ist nicht einfach so, daß Hitler und seine Anhänger den Staat in Unordnung brachten, weil sie mit diesem empfindlichen Instrument nicht umgehen konnten. Sondern es entsprach der Weltanschauung Hitlers, über die Rationalität des vorhandenen Staatsapparates hinwegzuschreiten zugunsten einer andersartigen Herrschaftsform. Man hat wiederholt darauf hingewiesen, daß unter der Voraussetzung, Hitler habe durch Machtzersplitterung seine oberste Schiedsrichterrolle festigen wollen, die außerordentliche Machtzusammenballung bei Himmler unverständlich bleiben müsse. Der scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man die überragende Stellung der SS und ihres Führers auf ideologische Beweggründe zurückführt. Die SS sollte eben nach dem Willen Hitlers das entscheidende 30 H. Mommsen, Stellung, 59. Gruchmann, Reichsregierung, 187 ff., 193 ff. Broszat, Staat, 353 ff. Speer, Erinnerungen, 244 ff. und passim. Zu Hitler als Oberbefehlshaber Bor, 214. Warlimont. Zu Göring Herbst, 111 ff. Himmler nach Kersten, 138 f. (17.7.1941). Zu den Rüstungsbemühungen der SS Speer, Sklavenstaat, 36 ff. Frick 1941 nach H. Mommsen, Beamtenturn, 233 ff.
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Werkzeug des nationalsozialistischen Rassenstaates sein; sie war ausersehen als Staatsschutzkorps des Großgermanischen Reiches, führte die Rassen- und Volkstumspolitik durch und sollte außerdem die rassische Aristokratie der Zukunft erzeugen. In diesem Zurücktreten der herrschafts sichernden Ziele des Diktators gegenüber den weltanschaulichen offenbart sich der Umstand, daß die ideologischen Absichten für Hitler die eigentlich wichtigen waren. Welche organisatorischen Folgen das haben würde, war von Hitler schon früh angedeutet worden. Auf dem Nürnberger Parteitag von 1935 erklärte er, der Kampf gegen die inneren Feinde der Nation werde niemals an einer formalen Bürokratie und ihrer Unzulänglichkeit scheitern. Was staatlich gelöst werden könne, werde staatlich gelöst, was der Staat seinem ganzen Wesen nach nicht zu lösen in der Lage sei, werde durch die Bewegung gelöst. Die Entschlossenheit, bestimmte Gefahren unter allen Umständen und schon im Keim zu ersticken, werde auch davor nicht zurückscheuen, Funktionen, für die ersichtlich der Staat nicht geeignet sei, weil sie seinem innersten Wesen nicht entsprächen, denjenigen Einrichtungen zu übertragen, die für die Lösung einer solchen Aufgabe besser geeignet seien. Diese Auslassungen waren keineswegs nichtssagend, wie gelegentlich vermutet wurde, und dienten auch nicht dem Zweck, den Weg für die bekannten Judengesetze von 1935 freizumachen. Dem nach Nürnberg einberufenen Reichstag wurden die Nürnberger Gesetze erst vorgelegt, nachdem sich der ursprüngliche Plan zerschlagen hatte, den Reichstag eine außenpolitische Erklärung Hitlers entgegennehmen zu lassen. Die Verabschiedung der Gesetze zu diesem Zeitpunkt war eine Verlegenheitslösung, bei welcher sich übrigens Hitler, im Gegensatz zur Partei, eher gemäßigt zeigte. Jene Auslassungen bekommen jedoch sofort einen Sinn, wenn man ihren programmatischen Charakter erkennt, der sich auf den jüdischen Marxismus allgemein bezog und nicht weniger beinhaltete als dessen Zerstörung auf dem Weg der zukünftigen Judenvernichtung. Für eine solche Aufgabe war freilich nach Hitlers Ansicht der herkömmliche Staatsapparat nicht geeignet, da er an rechtliche Normen gebunden war und zur organisierten Massentötung sich kaum würde verwenden lassen. An seine Stelle sollten deshalb Einrichtungen treten, welche die Bewegung aus sich hervortrieb und welche einem solchen Geschäft besser gewachsen waren. Die wichtigste dieser Einrichtungen war unstreitig die SS, denn sie, die seit 1936 mit der gesamten Polizei organisatorisch verbunden war und diese allmählich in sich aufsaugte, verkörperte am augenfälligsten jene vorstaatliche und überstaatliche Führergewalt, die außerhalb rechtlicher Bindungen die nationalsozialistische Weltanschauung verwirklichte. Neben der SS griff Hitler aber auch auf andere Teile der Bewegung zurück, um seine Ziele zu erreichen, so bei der 1939 anlaufenden Euthanasie, die hauptsächlich vom Chef der Führerkanzlei, Bouhler, und Hitlers Leibarzt Brandt betrieben wurde, allerdings 1941 wegen des Widerstands aus der Bevölkerung eingeschränkt werden mußte. Die absichtliche Gesetzlosigkeit derartiger Aktionen setzte voraus, daß sie nicht dem Staatsap-
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parat übertragen wurden. Als die Behörden an der Gesetzlosigkeit der Euthanasie Anstoß nahmen, wurden sie angewiesen, sich damit nicht zu befassen. 31 Auf die Bewegung als eigenständigen Machtfaktor neben der bürokratischen Verwaltung konnte und wollte Hitler daher nie verzichten. Das war der wichtigste Grund, weshalb die von Frick betriebene Reichsreform steckenblieb, denn Frick hatte tatsächlich auf die Errichtung eines totalen Staates abgezielt. In dessen Rahmen sollte auch das Verhältnis von Bewegung und Staatsapparat geregelt werden, ungefähr in der Art, wie es das Gesetz über die Einheit von Partei und Staat Ende 1933 vorsah. Demnach sollte zwar die Partei die staatliche Willensbildung überwachen, indem der Stellvertreter des Führers an der Rechtsetzung und Beamtenernennung durch die Regierung beteiligt wurde. Davon abgesehen hätte jedoch nach den Vorstellungen Fricks der Verwaltungsapparat die einzige und tragende Säule der Staatlichkeit bilden sollen, wobei der Parteieinfluß hauptsächlich über die Regierung zum Tragen kam und so kanalisiert wurde, während ansonsten alle Staatstätigkeit in hierarchischer Ordnung unter der straffen Leitung der Zentrale stand. Daß Hitler gerade das nicht wollte, ließ er bereits auf dem Parteitag von 1934 erkennen, als er vor 200 000 politischen Leitern der NSDAP ausrief: ,,Nicht der Staat befiehlt uns, sondern wir befehlen dem Staat! Nicht der Staat hat uns geschaffen, sondern wir schaffen uns unseren Staat." Zur gleichmäßig durchorganisierten Zentralisierung der Verwaltung kam es deshalb nicht, sondern auf den nachgeordneten Ebenen blieben überall Machtträger der Partei in den Staatsapparat eingeschaltet, ohne ein beträchtliches Maß an eigenem Handlungsspielraum zu verlieren. Das galt vor allem für die Gauleiter der Partei, denn 1935 waren von insgesamt 30 Gauleitern nur acht ohne hohes Staatsamt, während zehn zugleich Reichsstatthalter, sechs zugleich Oberpräsidenten und weitere sechs zugleich Reichs- bzw. Landesminister oder andere Amtsinhaber waren. Wie Hitler später eingestand, gab er den Gauleitern und Reichsstatthaltern mit Vorbedacht weitgehende Freiheit und vermied ihre straffe Unterordnung gegenüber der zentralen Bürokratie. So konnten die Reichsstatthalter und Oberpräsidenten ihre amtlichen Befugnisse - seit Ende 1934/ Anfang 1935 besaßen sie ein Informations- und Anregungsrecht in Verwaltungsangelegenheiten sowie ein Anordnungsrecht im Notfall- zugunsten ihrer Selbstherrlichkeit ausschlachten. Eine gleichmäßige Durchsetzung des zentralen Ressortwillens war deshalb nie gewährleistet, ein Zustand, der durch die Überschneidung von Verwaltungs- und Gaugrenzen noch verschlimmert wurde und vor allem im Krieg zum Tragen kam, als die Gauleiter umfangreiche Aufgaben zusätzlich erhielten. Rüstungsminister Speer berichtet hierüber, daß er zur wirksameren Steuerung der Wirtschaft 31 Hitlers Rede vom 30.1.1942 nach Völkischer Beobachter, 31.1.1942. Zum Widerspruch zwischen Machtzersplitterung und Machtzusammenballung Bollmus, 245 f. Rebentisch, 284. Hitlers Rede vom 11. 9.1935 nach Reden 1935, 16 f. Zur Deutung Bracher, Diktatur, 253. Adam, 129. Zur SS Buchheim, Anatomie I, 15 ff., 49 ff., 101 ff. Zur Euthanasie Gruchmann, Euthanasie.
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die Betriebsleiter zum Einreichen von Anregungen aufforderte. Als das Echo ausblieb, stellte sich heraus, daß die Betriebsleiter die Mitarbeit verweigerten, weil sie Maßregelungen durch die Gauleiter befürchteten. Das wirre und leistungsmindernde Nebeneinander von Partei und Staat unterschied sich durchaus vom totalitären Bolschewismus, dessen Wirkungsweise bereits Lenin so umschrieben hatte, daß man auf keinen Fall die Funktionen der Partei mit denjenigen staatlicher Organe verwechseln dürfe. Vielmehr müsse die Partei ihre Beschlüsse mittels der Staatsorgane durchführen und diese entsprechend lenken. Eine klare Aufgabenverteilung solcher Art, also eigentlich die Errichtung eines totalen Staates, lehnte Hitler ab, wobei sich in Erwägung ziehen ließe, ob er nicht insgeheim den Plan verfolgte, das Herrschaftssystem im Laufe der Zeit überhaupt von der Bewegung her aufzubauen. Jedenfalls hieß es in "Mein Kampf', daß die angestrebte Umwälzung nur von einer Bewegung vollzogen werden könne, die den Rassegedanken in sich aufgenommen habe, danach aufgebaut sei und in sich selbst schon den kommenden Staat trage. Der allmähliche Aufstieg von Himmler, der 1943 selbst Innenminister wurde, fand offenbar Hitlers Billigung, und dasselbe gilt von der schleichenden Unterwanderung anderer Ministerien durch SS-Angehörige. 1941 sagte Hitler, er zweifle nicht daran, daß in hundert Jahren die gesamte deutsche Führerschaft aus der SS hervorgehe. Auf der anderen Seite gibt es Anzeichen für eine Auflösung des Dualismus von Staat und Parteiorganisation zugunsten der letzteren. Die unmittelbare Verwaltung von Reichsgauen durch Gauleiter ohne Nebenschaltung einer Landesregierung findet sich seit 1938 in Hamburg, seit 1939 im Sudetenland sowie den neuen Reichsgauen auf polnischem Gebiet und seit 1939/1940 in Österreich. Die übrigen Gauleiter näherten sich der Stellung eines selbständigen Verwaltungschefs in ihren Gebieten an, als sie 1939 und, mit etwas veränderter Organisation, 1942 zu Reichsverteidigungskommissaren ernannt wurden, d. h. zu zivilen Kriegsbefehlshabern. Das Zurückdrängen des herkömmlichen Staatsapparats zugunsten der Partei fand sodann einen Niederschlag im Aufstieg Bormanns zum Sekretär des Führers, denn damit wurde der Chef der Parteikanzlei zum wichtigsten Verbindungsglied zwischen dem Führer und der Bürokratie. 32 Diese Entwicklung trug unstreitig dazu bei, die Einheitlichkeit und Regelhaftigkeit der Verwaltung weiter auszuhöhlen und die überkommene staatliche Substanz zu verschleudern. Aber selbst wenn diese Vorgänge nicht bewußt darauf abzielten, eine neue Herrschaftsorganisation aus der Bewegung hervorgehen zu lassen, so entsprachen sie trotzdem Hitlers weltanschaulichen Vorstellungen. Besinnt man sich noch einmal auf die genannten drei Ursachen für den Herr32 Broszat, Staat, 262 ff. Ritlers Rede vom 7.9.1934 nach Völkischer Beobachter, 8.9.1934. Zu den Gauleitern Rüttenberger, 79 f. Picker, 382 (24.6.1942). Bracher / Schulz / Sauer 11, 287 f. Speer, Erinnerungen, 226. Lenin nach Leonhard, 170. Ritler über Bewegung und Staat in Mein Kampf, 503. Ritler über die SS Monologe, 121 (1./ 2.11.1941). Zur Verwaltungsorganisation Deutsche Verwaltungsgeschichte IV, 753 ff. und passim.
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schafts wirrwarr des Dritten Reiches, also Machtzersplitterung, Dilettantismus und Ideologie, so kann man geradezu sagen, daß die Ideologie eigentlich die einzige war und die beiden anderen in sich enthielt. Der Regierungsstil Hitlers war spalterisch und dilettantisch, weil sein Weltbild eine Herrschaftsordnung vorsah, die solche Bestandteile mit umfaßte. Wie die nationalsozialistische Gegenbewegung sich der modernen Welt insgesamt entgegenstellte, so stellte sich Hitlers Weltanschauung auch den Bau- und Wirkungsprinzipien des modernen Staates entgegen. Insofern war die Bewegung tatsächlich ein Vorbild für die Herrschaftsstruktur des Dritten Reiches. Denn die Organisation der Bewegung beruhte zwar auf dem Gedanken unbedingter Autorität des Führers, aber nicht auf dem Gedanken bürokratischer Zentralisierung und gestufter Zuständigkeit. Kennzeichnend war vielmehr ein institutionell wenig verbundenes und häufig konkurrierendes Nebeneinander, z. B. das Nebeneinander der verschiedenen Reichsleiter der Partei, das Nebeneinander verschiedener Teilorganisationen wie der Politischen Organisation der NSDAP, der SA, später der SS, und anderer, und vor allem auch das Nebeneinander der Gauleiter, die Hitler ausdrücklich als wichtigste Vertreter des Führers bezeichnete und möglichst souverän sehen wollte. Nicht bürokratische Regelhaftigkeit bestimmte den Aufbau der Bewegung, sondern weitgehende Handlungsfreiheit der Unterführer, ein Geflecht persönlicher Beziehungen und die bedingungslose Unterordnung gegenüber Hitler. Daß eben dieses System in den Staatsbetrieb hineingetragen worden sei, gab Hitler später selbst zu. 1942 sagte er, die Erfahrungen, die er bei der Organisation der Partei in der Kampfzeit gemacht habe, werte er heute bei der Organisation des Reichs aus. Wiewohl Hitler sich bei diesen Ausführungen vorzugsweise auf die Gauleiter bezog, lassen sich doch einige Grundlinien seines staatlichen Herrschaftsverständnisses erkennen. Neben der Disziplin nach oben hob er vor allem zwei Dinge heraus: Erstens solle die oberste Führung bloß "die ganz großen Weisungen" erteilen und sich mit ihren Befehlen nicht in die sog. Kleinarbeit einmischen, da die örtlichen Voraussetzungen für diese überall andersartig seien. Zweitens müsse man den nachgeordneten Funktionären hinreichende Wirkungsmöglichkeiten und große Eigenverantwortung zugestehen, da man nur auf diese Weise Talente heranziehen könne und andernfalls eine stupide Bürokratie entstehe. Was mit diesen zunächst recht oberflächlich anmutenden Feststellungen wirklich gemeint war, wird deutlicher, wenn man sie mit einschlägigen Äußerungen Rosenbergs zusammenhält. 1934 hatte Rosenberg geschrieben, dem germanischen Menschen entspreche nicht ein unpersönlicher, hierarchischer Beamtenstaat, sondern das persönliche Treueverhältnis zwischen einem Führer und seiner Gefolgschaft. Daß in ähnlicher Weise auch die Staatsrechtslehre des Dritten Reiches das Führerprinzip auf Treue und Gefolgschaft zurückleitete und seine Wurzeln in der germanisch-deutschen Geschichte suchte, mag man als Zugeständnis an den Zeitgeist deuten; gleichwohl führte es an den Kern der Sache heran.
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Es ist das Wesen eines modemen Staatsapparates, öffentliche Herrschaft mittels überpersönlicher Institutionen auszuüben, die durch hierarchische Ordnung, klare Kompetenzzuweisung und behördliche Amtswaltung gekennzeichet sind. Dagegen war es das Wesen der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis, diese Regelhaftigkeit aufzulösen und an ihre Stelle ein Knäuel anderer Bedingungen zu setzen, die vor allem auf persönlichen Verflechtungen, auf Ausnahmebestimmungen und auf der Führerunmittelbarkeit beruhten. Hitler wollte die abstrakte und institutionelle Ordnung des Staatsbetriebs ersetzen durch eine konkrete und persönliche Herrschaftsweise, bei welcher er selbst nur die allgemeinen Ziele vorgab, also "die ganz großen Weisungen" erteilte, und es alsdann seinen Beauftragten überließ, was sie daraus machten, weil das "Talent" ohne einengende Vorschriften sich in der Ausführung selbst bewähren mußte. Daher tadelte Hitler die Berliner Ministerialbürokratie, denn sie sehe die Aufgabe der Zentralgewalt nicht darin, lediglich die Richtung anzugeben und dort einzugreifen, wo Schäden auftraten, sondern töte durch ihren Unitarismus das Leben draußen völlig ab. Das Wort Unitarismus darf man dabei nicht in einem exakten staatsrechtlichen Sinn verstehen, vielmehr meinte Hitler damit so etwas wie bürokratische Regelung. In entsprechender Weise hatte Hitler, wenn er sich für eine starke Selbstverwaltung aussprach, nicht den gängigen juristischen Begriff im Sinn - die Selbstverwaltung war bekanntlich weitgehend eingeschränkt - , sondern er hob auf die Handlungsfreiheit von Unterführem ab. Wenn aber die Beziehungen zwischen der obersten Führung und den nachgeordneten Funktionären nicht auf bürokratischer Regelung beruhen sollten, dann mußten sie durch etwas anderes vermittelt werden. Dieses andere war die persönliche Abhängigkeit vom Führer, die sich in der Treuebindung äußerte und den Führer instand setzte, das Ausüben von Macht seitens der Gefolgsleute zu steuern, indem er Macht zuteilte, entzog oder die Funktionäre gegeneinander ausspielte. Das Betätigen von Herrschaft wurde so zu einem Geschäft, das nicht an Institutionen und feste Zuständigkeiten gebunden war, sondern an.Personen, ihre Eigenschaften und ihre Beziehungen zum Führer. Damit zerfiel die koordinierte Regierungs- und Verwaltungstätigkeit in ein Nebeneinander verschiedener Machtträger aus Staat und Bewegung, die dem Führer je gesondert unterstanden und sich wechselseitig behaupten mußten. Die persönliche Durchsetzungskraft erhielt einen Vorrang gegenüber langfristiger und methodischer Regierungsplanung; der vom Führer Bevollmächtigte wurde zur kennzeichnenden Gestalt im Herrschaftssystem; in der Aufgabenverteilung nahmen die Sonderregelungen überhand, nicht zuletzt durch die Spezial aufträge für Teile der Bewegung; und Machtpositionen wechselten mit dem Fluß der Ausnahmeermächtigungen oder mit der Gunst des Führers. Daß dieses personalistische System eine Abkehr von der Funktionsweise des modemen Staates beinhaltete, unterliegt keinem Zweifel; der gelegentlich gezogene Vergleich mit dem Lehenswesen trägt allerdings nicht weit, und Hitler unterstrich das selbst, wenn er betonte, es dürfe natürlich kein Staats- oder Parteiamt vererblich sein und grundsätzlich seien auch Gauleiter absetzbar.
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Ausgangspunkt all solcher Erscheinungen des Staats lebens war Hitlers RassenIehre und seine Ansicht vom Wert der Persönlichkeit. Seine Auffassung über das Funktionieren des Staates brachte Hitler 1941 dahingehend zum Ausdruck, daß einheitliches Recht überhaupt nicht erforderlich sei. Die Führung müsse lediglich einen Überblick über die Tätigkeit der Verwaltung und die Fäden in der Hand behalten. Daß eine modeme Verwaltung so gerade nicht funktioniert, wußte auch Hitler; deshalb beklagte er sich an derselben Stelle, daß eine modeme Verwaltung die Ausnahme nicht kenne. Aus diesem Grund fehle ihr der Mut zur großen Verantwortung. Das aber war es, worauf Hitler hinauswollte: daß seine Unterführer und Bevollmächtigten den Mut zur großen Verantwortung aufbrachten und aus der normierten Regelhaftigkeit des modemen Staates ausbrachen. In diesem Zusammenhang erklärte Hitler es für gut, daß man allmählich einen ganzen Kontinent zu verwalten habe. Denn Einheitlichkeit sei dann nicht mehr möglich, vielmehr gewalttätige Durchsetzungskraft erforderlich, die von den Männern der Partei aufgebracht werden müsse; und so werde sich ein neuer Typ von Menschen herausschälen: Herrennaturen und Vizekönige. 33 Diese Äußerung bezeichnet nichts anderes als die in die Tat umgesetzte Rassenlehre. Bereits in "Mein Kampf" hatte es geheißen, die Aufgabe des kommenden Deutschen Reiches bestehe darin, aus dem Volk die wertvollsten Bestände an rassischen Urelementen zu sammeln und zur beherrschenden Stellung emporzuführen. Dabei muß man berücksichtigen, daß nach Hitlers Meinung keineswegs schon das deutsche Volk als solches rassisch wertvoll war, sondern daß es nur einen guten Rassekern enthielt, der zur Herrschaft berufen war, und zwar auch zur Herrschaft über das eigene Volk. Wohl am deutlichsten hat Hitler dies in einer Geheimrede vor Offizieren Anfang 1939 dargelegt. Er führte aus, "daß die große Masse unseres Volkes nicht aus nordisch-führungsmäßig geeigneten Elementen besteht. Sehr viele gehören einer vorarischen, europäischen Grundrasse an ... , die große Mehrheit jedenfalls ist nicht nordisch-herrisch bedingt. Alle diese Elemente stellen damit dem nordisch-herrischen Element gegenüber ich möchte sagen - ein feminines Element dar ... dieselben Deutschen, die unsere bürgerlichen schwachen Parteiführer verlachten und diesen Staat damals beseitigten und Revolutionen machten, marschieren heute in blinder Diziplin in unseren Reihen mit. Sie werden das so lange tun, solange die Führungsorganisation absolut herrische und damit nordische Züge trägt, d. h. solange sie berechtigt ist ... Wenn ich diese Menschen nun aus einem Volk heraussuchen will, würde natürlich nichts falscher sein, als nach dem Äußeren zu gehen ... Die sicherste Auslese findet stets statt durch ein System, das von vornherein auf blinder Verantwortung aufgebaut ist und in dieser Verantwortung vom einzelnen nun Mut erfordert. Und ich habe daher einst eine Bewegung aufgebaut - das war 33 Hitler über die Gauleiter nach Diehl-Thiele, 205 (20.12.1932). Hitler 1942 nach Picker, 382 f. (24.6.1942). Zu Rosenberg 1934 dessen Ordensstaat, 7 f. und passim. Ritler über Ministerialbürokratie bei Picker, 260 f. (3.5.1942). Über Unvererblichkeit Picker, 381, 385. Über Herrennaturen Monologe, 50 f.; Picker, 62 (1.8.1941).
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der Grundgedanke bei der Gründung der Partei: eine Bewegung zu schaffen, die sehr viel Mut erfordert und die den einzelnen mit sehr viel Verantwortung belastet ... Nun natürlich, nach dem Sieg, ist ja dieser Kampf nicht möglich ... Man muß also nunmehr einen anderen Weg suchen, und der Weg besteht darin, daß die neue Führungsauslese erstens stattfindet nach dem Prinzip des absolutesten persönlichen Mutes. Diese Regenschinnpolitiker müssen endgültig verschwinden aus unserem Volk. Es muß ... der Grundsatz der persönlichen Tapferkeit und des Mutes selbstverständlich werden als Voraussetzung für jede Führungseignung ... Zweitens: man muß eine große Verantwortung dem einzelnen aufbürden, immer nur Verantwortung . , . Diese Führung wird im Laufe nicht von 10 oder 20 Jahren, aber von 100 Jahren natürlich eine neue gesellschaftliche Elite darstellen; sie wird Unzähliges aufnehmen, das nicht taugt; es wird abfallen, es wird auch hier wie überall im menschlichen Leben neben Gold selbstverständlich auch Sand zu finden sein, aber im wesentlichen wird sich hier allmählich ein neuer Gesellschaftskern herausbilden, der nicht aus kapitalistischen Gesichtspunkten enstand, sondern von vornherein aus politischen - ich möchte sagen - aus politischen Führungsinstinkten heraus. Und wenn dieser Aufbau - sagen wir in 100 Jahren - endgültig in sich gefestigt sein wird und eine neue tragende Gesellschaftsschichte abgegeben haben wird, dann wird das Volk, das - meiner Überzeugung - als erstes diesen Weg beschritt, die Anwartschaft besitzen auf die Herrschaft Europas - das ist meine festeste Überzeugung." Faßt man dies knapp zusammen, so bestand das Endziel der nationalsozialistischen Bewegung und des Dritten Reiches darin, eine Rasseherrschaft herbeizuführen, nämlich die Herrschaft des arisch-nordischen Rassekerns über Deutschland, Europa und am Ende die ganze Welt. Nordisch-herrisch und damit rassisch wertvoll waren freilich nicht unbedingt, wie Himmler glaubte, Menschen mit entsprechenden äußeren Rassemerkmalen, also nordischem Aussehen, sondern aus den charakterlichen Eigenschaften eines Menschen ließ sich auf seine Rassezugehörigkeit schließen. Bei diesen Charaktereigenschaften standen an erster Stelle nicht Verstand und Wissen, sondern Mut, Einsatzbereitschaft und Verantwortungsfreude. Die nationalsozialistische Bewegung hatte in ihrer Kampfzeit erstmals eine derartige rassische Auslese hervorgebracht; insofern verkörperte sie wenigstens teilweise den Rassekern und stellte geeignetes, nordisch-herrisches Führungspersonal bereit. Seitdem die Partei infolge der Machtergreifung gewaltig aufgebläht worden war, mußte die Führerauslese andere Wege beschreiten. Bestimmend blieben jedoch die Grundsätze der Auslese, die auch für die Bewegung in der Kampfzeit gegolten hatten: Wer sich im öffentlichen Leben mit äußerster Tapferkeit für die nationalsozialistische Sache einsetzte und in seinem Wirkungskreis durchsetzte, der ließ damit hochwertige Rasseeigenschaften erkennen. Zugleich verwirklichte die Bewegung in ihrem inneren Aufbau bereits die organisatorischen Grundgedanken der Rasseherrschaft. 34 34 Zum Rassekern Mein Kampf, 439. Hitlers Rede von 1939 bei Jacobsen / Jochmann, 25.1.1939. Die Hervorhebungen wurden nicht vollständig übernommen.
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II. Deutschland unter dem Nationalsozialismus
Die Rasseherrschaft aber war eine Herrschaft von Personen und nicht von Institutionen; sie äußerte sich in der Führerbindung, in der rücksichtslosen Durchführung des völkischen Auftrags, in der Selbstbehauptungsfahigkeit und Durchsetzungskraft. Ihr Lebensprinzip war der Kampf; normierte Regelhaftigkeit war ihr nur hinderlich. Dagegen stachelten unklare Zuständigkeiten und Machtrivalitäten den Kampf an, so daß Hitler das Kompetenzenchaos des öfteren als notwendig hinstellte, etwa mit der Formel, man müsse die Menschen sich reiben lassen, dadurch entstehe Energie, oder bei der Überschneidung von Aufgabenfeldern setze sich der Stärkere durch. Jegliches Staatshandeln war für Hitler immer auch ein Kampf um die Durchsetzung der stärksten Persönlichkeiten, der härtesten, tapfersten, kühnsten, zähesten und ausdauerndsten Männer. Der Staatsbetrieb diente damit zugleich der rassischen Auslese; wer jenen Kampf bestand, der bewies damit, daß er "Talent" besaß, d. h. zu den Besten zählte, weil er rassisch überlegen war. Je weniger die starke, schöpferische Persönlichkeit durch bürokratische Vorschriften gegängelt wurde, umso freier konnte sie sich entfalten. Darum wollte Hitler seinen Unterführem und Bevollmächtigten möglichst freie Hand lassen, denn die Herrschaft der rassisch Besten war geradezu das Gegenbild zur bürokratischen Systematisierung. In diesem Sinn berichtete Hitlers Wirtschaftsberater Wagener, "daß Hitler eigentlich nie Anordnungen gab. Er vermied es, ja er unterließ es, zu sagen: Ich will das so und so haben ... Dann war es eben Aufgabe des einzelnen, auf seinem Gebiet seine Anordnungen so zu treffen und so zu arbeiten, daß die von Hitler dargelegte allgemeine Richtung, das sich aus diesen Unterhaltungen mit der Zeit kristallisierende große Ziel, angestrebt und mit der Zeit erreicht wurde." Hitler wollte seine Gefolgsleute in ihre eigene Verantwortung entlassen; der politische Herrschaftsinstinkt der Nordisch-Herrischen würde sich dann von selbst erweisen. 35 Da die angestrebte Rasseherrschaft eine Herrschaft von Personen und nicht von Institutionen war, konnte sie auch das geringschätzen, was Max Weber als das Kennzeichen der modernen Rationalisierung heraushob, nämlich das Fachmenschentum. An die Stelle fachlicher Befähigung und Leistung traten der Wille und die Gesinnung. Die überragende Bedeutung des Willens für die völkische Politik wurde von Hitler immer wieder betont, und auch Rosenberg sprach von der Willenhaftigkeit des Germanentums. Die nationalsozialistische Rasseherrschaft betätigte sich durch den Willen, nicht durch den Aufbau eines wohlgeordneten Staatsapparats, der sich auf das Recht gründete und von Fachleuten bedient wurde. Man mag es als Belanglosigkeit ansehen, daß Göring bei Übernahme des Vierjahresplans Ende 1936 erklärte, er werde zwar ohne Sachkenntnis, aber mit unbändigem Wollen an seine Aufgabe gehen. Kennzeichnend war es trotzdem. Hitler meinte 1942, ein harter Charakter setze sich auch bei nur geringem Wissen durch. Dagegen führe die europäisch-intellektuelle Welt, das blöde eingetrichterte 35 Hitler über Rivalität und Kampf bei Schellenberg, 98; Speer, Erinnerungen, 225; Picker, 186 f. (4.4.1942). Wagener, 30l.
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Wissen von Universitätsprofessoren und höheren Beamten, vom Instinkt weg. Wenn er, Hitler, in den meisten führenden Positionen Männer habe, die ihren Aufgaben voll gewachsen seien, so liege das nicht zuletzt daran, daß sie nicht aufgrund einer juristischen Vorbildung in die Positionen gekommen seien, sondern weil sie mit Erfolg durch die Schule des Lebens gegangen seien. Unter Schule des Lebens verstand Hitler im wesentlichen die Bewährung im nationalsozialistischen Kampf; wenn Wille und Gesinnung dafür ausreichten, dann mußten sie nach Hitlers Meinung auch in den Staatsgeschäften ausreichen. Seinen eigenen dilettantischen Regierungsstil fand er dadurch gerechtfertigt, daß auf führende Stellen ohnedies nur Männer von großen Gedanken gehörten. Bei ihnen komme es auf das richtige Denken an, nämlich auf die richtige nationalsozialistische Gesinnung,und nicht auf die tägliche Kleinarbeit, so daß sie sich auf zwei Stunden konzentrierter Arbeit am Tag beschränken könnten. 36 Hitlers Absage an das Fachmenschentum fand ihren schärfsten Ausdruck in seiner Einstellung gegenüber den Juristen. Sieht man von Hitlers durchgängigem Anti-Intellektualismus einmal ab, so lag der wichtigste Grund sicher darin, daß das positive Recht sowie der damit vertraute und daran gebundene Juristenstand eben das verkörperte, was der Nationalsozialismus überwinden wollte, nämlich die bürokratische und normierte Regelhaftigkeit des Staatsbetriebs. 1942 beschimpfte Hitler die Juristen einmal als Narren, rückte sie ein andermal in die Nähe von Verbrechern, und rief vor dem Reichstag aus, diejenigen Richter ihres Amtes entheben zu wollen, die sich nur dem Recht und ihrem Gewissen verpflichtet fühlten, nicht aber dem völkischen Empfinden der Nationalsozialisten. Das ganze Gebäude des Rechts, Grundlage jeder modemen Staatlichkeit, erklärte Hitler für unverständlich, für jüdisch verseucht und für eine einzige große Systematik zur Abwälzung der Verantwortlichkeit. Es lag nahe, daß die antijüdische Rasseherrschaft, die aus der verantwortlichen Tatkraft ihrer Herrenmenschen lebte, eine derart unnütze Erscheinung hinter sich lassen wollte. Wie Hitler in einer Rede von 1933 ausführte, war ein gesundes, unverdorbenes Volk in der Lage, die Stellungnahme zu allen Lebensforderungen instinktsicher aus dem Selbsterhaltungstrieb zu finden. Die rassische Gleichheit der Lebewesen erspare damit förmlich die Aufstellung bindender Regeln und verpflichtender Gesetze. Erst die rassische Mischung verwirre die Stellungnahme und führe zu dem Zwang, durch Gesetz und Regel den Lebensanforderungen einheitlich zu begegnen. Unter den idealen Bedingungen gleicher Rassezugehörigkeit wäre also nach Hitlers Auffassung das modeme Recht schlicht überflüssig gewesen. Gemäß der Lehre von der Rassenmischung traf das an sich beim deutschen Volk nicht zu, so daß Hitler offenbar davon ausging, daß auch in Deutschland auf das formelle, 36 Zum Willen Hitler, Aufzeichnungen, 282 (1.1.1921). Allgemein Stern, 55 ff. Rosenberg, Mythus, 342 ff., 698 ff. Zu Göring 1936 Boelcke, Wirtschaft, 184. Hitler 1942 nach Picker 107, 187 (17.2.1942, 4.4.1942); Monologe, 280; Picker, 266 (5.5.1942). Hitler über Regierungsstil Picker, 275 (9.5.1942).
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geschriebene Recht nicht völlig verzichtet werden könne. Zwar sagte Hitler bei anderer Gelegenheit, er wolle es einmal versuchen, ob es in Deutschland nicht ohne Gesetze und staatliche Verordnung möglich sei, eine Autorität aufzubauen - nur auf Gewohnheitsrecht aufgebaut, das sich als stärker erweisen müsse als jedes andere Recht und Gesetz. Doch schloß er auch in diesem Fall die juristische Regelung einer bestimmten Materie (es handelte sich um die Deutsche Arbeitsfront) nicht gänzlich aus. Auf den ersten Blick wirken solche Auslassungen ziemlich undurchsichtig, da nicht erkennbar ist, wann und in welchem Ausmaß fonnelles, geschriebenes Recht erforderlich sein sollte. Bei genauerem Prüfen der gedanklichen Voraussetzungen zeigt sich indes, daß eben diese Unbestimmtheit zum Wesensgehalt der Angelegenheit gehörte. Da dem arischen Rassekern die Herrschaft über das deutsche Volk gebührte, oblag ihm auch das Herstellen einer Lebensordnung für das Volk. Soweit sich dies auf das Zusammenleben rassisch unterschiedlicher Bestandteile bezog, war es der positiv-rechtlichen Regelung zumindest zugänglich und je nach den Umständen auch bedürftig. Dagegen war der Rassekern selbst einer fönnlichen Bindung an das positive Recht enthoben, sofern er sich nicht freiwillig dazu bekannte, und bewegte sich gewissennaßen in einem rechtsfreien Raum, da er den Lebenskampf instinktsicher aus seinem Selbsterhaltungstrieb führte. Hitlers Reden vom Gewohnheitsrecht bezog sich anscheinend in erster Linie auf die Herrschaft des Rassekerns, auf die "Autorität"; die Durchsetzung der rassisch Besten im Lebenskampf erzeugte selbst (Gewohnheits-) Recht, und dieses Recht galt in dem Maße, wie es durch den Erfolg im Lebens- und Rassenkampf bestätigt wurde. Ein Bedürfnis nach fonneller, positiv-rechtlicher Regelung war deshalb nicht durchwegs und nicht einheitlich gegeben; derartige Regelungen konnten sich fallweise als zweckmäßig erweisen, sie konnten aber ebenso, vor allem in den entscheidenden Fragen des Lebens- und Rassenkampfes, hinfällig werden. Wo immer die Lebensforderungen es notwendig machten, sollte der Rassekern imstande sein, sich über bestehende Nonnen hinwegzusetzen. Das galt in der inneren Staatsverwaltung, wo die schöpferische Persönlichkeit durch Ausnahmebestimmungen freie Bahn erhielt und die bürokratische Regelhaftigkeit hinter sich lassen sollte. Vor allem aber galt es auf dem Kemgebiet der völkischen Politik, gegenüber rassisch Minderwertigen und gegenüber dem Rassefeind schlechthin, dem Judentum, für deren Behandlung überhaupt kein Recht mehr verbindlich war. Es liegt auf der Hand, daß mit dieser Lehre in Wahrheit nichts anderes umschrieben wurde als die ungezügelte Schrankenlosigkeit eines angeblich höheren Menschentums, das sich in der Verwirklichung von Hitlers Gegenutopie über die institutionellen Bindungen des Staates ebenso hinwegsetzen sollte wie über die Sachzwänge der modemen Welt insgesamt. 37 37 Hitler über die Juristen bei Picker, 161,451 (29.3.1942,22.7.1942); Reichstagsrede vom 26.4.1942, Völkischer Beobachter, 27.4.1942. Über das Recht Picker, 158 (29.3.1942). Die Rede vom 1. 9.1933 auf der Kulturtagung des Parteitags bei Klöss, 108 ff. Hitler über Verzicht auf Gesetze nach Buchheim, Anatomie I, 20.
4. Die Wehnnacht und der Weg in den Krieg
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4. Die Wehrmacht und der Weg in den Krieg Die Reichswehr, seit 1935 die Wehnnacht, hatte im Dritten Reich stets einen besonderen, herausgehobenen Stellenwert. Der Reichswehr galt Hitlers verstärkte Aufmerksamkeit; gegen die Reichswehr wäre die Diktatur nicht zu errichten, gegen die Wehnnacht wäre sie nicht aufrechtzuerhalten gewesen. Wie stand die bewaffnete Macht zum Dritten Reich? Es steht wohl außer Zweifel, daß sich die Reichswehr mit dem Weimarer Staatswesen vielfach nur widerwillig und jedenfalls ohne Begeisterung abfand. Stärker noch als für die Masse der Bevölkerung war die Republik für die Soldaten ein ungeliebter Staat, den sie zwar nicht durchwegs zu beseitigen wünschten, dessen Erhaltung für sie aber auch kein Herzensanliegen war, als er schließlich überwunden wurde. Hierfür gab es eine Reihe von Ursachen. Bezeichnenderweise standen sie alle untereinander in Verbindung und lassen sich auf einen Generalnenner bringen: Es waren die Folgen des Ersten Weltkriegs, der Zusammenbruch, der Umsturz und über allem anderen die Demütigung des Versailler Diktats. Zu jenen Ursachen gehörte, wenngleich nicht in erster Linie, der Fall der Monarchie und das unvermittelte Hineinspringen in den Parteien staat, der sich bald als recht gebrechlich entpuppte. Die alliierte Kriegspropaganda hatte es für weise gehalten, die "preußische Autokratie" zur Wurzel des Kriegsübels zu erklären, und Präsident Wilson hatte in seinen Waffenstillstandsnoten vom Herbst 1918 mehr oder weniger unverhohlen den Sturz des letzten Kaisers empfohlen. Das war nicht der eigentliche Grund, aber jedenfalls ein Auslöser für die Revolution gewesen, welche die Monarchie beseitigte, obwohl sich damals nahezu alle Parteien einig waren, daß eine Beibehaltung der Monarchie geboten sei. Selbst der sozialdemokratische Partei vorsitzende und spätere Reichspräsident Ebert, ein Mann mit ruhigem Weitblick und untadeliger Gesinnung, hatte die Beibehaltung der Monarchie unter der bereits erreichten Regierungsform des Parlamentarismus gewünscht, in der wohlerwogenen Auffassung, daß "das deutsche Volk noch nicht fähig sei, sich selbst zu regieren. Hierzu müsse es erst unter einer demokratischen Monarchie erzogen werden." Für die deutschen Soldaten, vor allem die Offiziere, war die Beseitigung der Monarchie ein schwerer Schlag, den viele nie richtig verwunden haben und der sie von vornherein mit Mißtrauen gegenüber dem Parteienstaat erfüllte. General Oster, einer der profiliertesten Widerstandskämpfer gegen Hitler, erklärte bei seiner Vernehmung durch die SS im Jahre 1944, der Zusammenbruch der Monarchie durch die Revolte von 1918 habe den im Grunde monarchisch eingestellten Offizier aufs schwerste erschüttert und überrascht. "Wie ein Schlag mit dem Hammer auf den Kopf wirkte auf uns der Zusammenbruch 1918, die Versandung der Monarchie in der Wilhelminischen Zeit in einen brüchigen Parteienstaat." Die Offiziere hätten sich unter schwersten inneren Kämpfen schließlich entschlossen, auch in der Republik schweren Herzens unter einer neuen Fahne weiter zu dienen in der Hoffnung und mit dem Willen, unserem Volk mit über diese Durststrecke hinüber zu helfen. Der Umbruch im Jahre 1933 15 Raub, Zweiter Weltkrieg 1. Teil
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habe, so sagte Oster, für die Soldaten eine Erlösung aus den Gewissenskonflikten bedeutet, die für sie in der Republik entstanden. Die Rückkehr zu einer starken nationalen Politik, die Wiederaufrüstung, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht bedeuteten für den Offizier die Rückkehr zu früheren Traditionen. Während der Soldat in der Republik nur pflichtgemäß seine Aufgaben erfüllt habe, habe er diese Punkte des nationalsozialistischen Aufbauwerkes auch mit dem Herzen begrüßt. 38 Damit sind gleich einige weitere Dinge angesprochen. Wie die Soldaten den Versailler Vertrag insgesamt ablehnten, so lehnten sie insbesondere auch dessen militärische Bestimmungen ab. Dies entsprang nicht einem unzeitgemäßen Militarismus, sondern deckte sich mit einem Staatsverständnis, das von demokratischen Kräften geteilt wurde. Die aus der demokratischen Revolution hervorgegangene Weimarer Reichsverfassung hatte noch eine allgemeine Wehrpflicht vorgesehen. Dem schob das Versailler Diktat einen Riegel vor, das die Reichswehr im engeren Sinn, also das Reichsheer, auf 100000 Berufssoldaten mit 4000 Offizieren beschränkte und die Reichsmarine auf 15 000 Mann mit 1500 Offizieren. Wäre dies Teil einer allgemeinen Abrüstung gewesen, die auch andere Länder betraf, so hätte man es vielleicht noch verstanden; als einseitige Wehrlosmachung wurde es nicht hingenommen. Hinzu kam, daß die Reichswehr nach dem Willen des Versailler Diktats vorzugsweise eine Polizeitruppe für den inneren Einsatz darstellte, gewissermaßen eine Bürgerkriegsarmee, und in den wirren ersten Jahren der Weimarer Republik tatsächlich immer wieder zur Bekämpfung innerer Unruhen eingesetzt werden mußte. Der Reichswehr war diese einseitige Verengung ihres Aufgabenfeldes stets zuwider. Den Einsatz der bewaffneten Macht beim inneren Notstand kannte zwar auch der konstitutionelle Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts, und in anderen Ländern ist er bis heute möglich. Aber die wichtigste Zweckbestimmung von Streitkräften ist zu allen Zeiten ihre außenpolitische gewesen; sie dienen der Regierung zur Verteidigung des eigenen Landes oder als außenpolitisches Machtrnittel. Für die Reichswehr war es ein entwürdigender Zustand, lediglich zum Kampf gegen das eigene Volk imstande zu sein, nicht jedoch gegen mögliche Feinde von außen. Mit dieser Einstellung hätte die Reichswehr sich sogar auf die 14 Punkte von Präsident Wilson aus dem Ersten Weltkrieg berufen können, denn die 14 Punkte hatten niemals, wie später fälschlicherweise behauptet wurde, bloß Streitkräfte für den inneren Polizeieinsatz vorgesehen. Es war dort die Rede gewesen von einer allgemeinen Abrüstung, die mit dem niedrigsten Punkt der "domestic safety" verträglich sei. Ein Kommentar aus dem Oktober 1918 stellte dazu fest, mit "domestic safety" seien nicht nur innere Polizeiaufgaben gemeint, sondern der Schutz des Landes gegen einen Einmarsch. Der krampfhafte Knebelungsversuch des Versailler Diktats hatte eben dies unterbunden und damit überzeitlich gültige Richtlinien für den Soldatenberuf über 38 Ebert nach Schiffer, 74 f. Vgl. Rauh, Parlamentarisierung, 422 ff. Oster nach Spiegelbild einer Verschwörung, 302 f. Dazu Thun-Hohenstein.
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den Haufen geworfen. Die Gewissenskonflikte, von denen Oster sprach, finden so ihre Erklärung. Sie bezogen sich nicht zuletzt auf die Frage des Eides. Anders als im deutschen Kaiserreich, wo der Soldat nur einen Fahneneid auf einen regierenden Fürsten und zugleich auf die Person seines kaiserlichen obersten Befehlshabers abgelegt hatte, wurden die Soldaten der Reichswehr auf die Verfassung und die gesetzmäßigen Einrichtungen des Reiches vereidigt. Damit war der Soldat von vornherein in einen mehrfachen Zwiespalt gestürzt. Er legte erstens einen Eid auf ein Staatswesen ab, das nach dem Willen des Auslands zur Selbstverteidigung nicht imstande war, das den Vorstellungen von nationaler Würde und Selbstachtung nicht entsprach, das den Soldaten zu einem Werkzeug für die innere Aufrechterhaltung einer bestimmmten Herrschaftsordnung machte, obwohl die vornehmste Aufgabe des Soldaten stets darin besteht, sein Volk und Land nach außen zu schützen. So verlangt etwa das Soldatengesetz der Bundesrepublik Deutschland, die sich ihrer rechtsstaatlich-demokratischen Ordnung gewiß nicht zu schämen braucht, zwar das Eintreten des Soldaten für diese Ordnung, aber es verlangt keinen Eid auf die Verfassung. Der westdeutsche Soldat ist verpflichtet, der Bundesrepublik treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Der bundesdeutsche Soldat bekennt sich mit seinem Eid zum Dienst an seinem Land und seinem Volk; zum Dienst an einer Herrschaftsordnung bekennt er sich nur insofern, als sie rechtsstaatlich ist (wobei dann noch zu klären wäre, wessen Recht und Freiheit der Soldat tapfer verteidigt; es ist ja vom deutschen Volk und nicht bloß vom Bundesvolk die Rede). Zweitens: Der Soldat der Reichswehr legte den Eid auf eine Verfassung ab, von der wesentliche Teile, die ihn selbst betrafen oder seinem Herzen nahe standen, unter dem Einfluß des Auslands für ungültig erklärt werden mußten. Die allgemeine Wehrpflicht hatte dem Willen des deutschen Volkes in der verfassunggebenden Nationalversammlung entsprochen, ebenso übrigens der Anschluß Österreichs. Da das Versailler Diktat insoweit der Verfassung vorging, hatte der Soldat nun die Wahl, ob er sich eher dem Willen der Verfassung oder eher dem Willen des Auslands verpflichtet fühlen sollte. Daß vielleicht viele Soldaten die Verfassung so genau gar nicht kannten, spielt dabei keine Rolle. Wenn sie einen wehrhaften Staat wünschten (gegebenenfalls auch den Anschluß Österreichs), so wünschten sie dasselbe wie die Verfassung, und damit entstand der Zwiespalt. In die Bindung des Soldaten an Staat und Verfassung kam damit ein Zug von Unwahrhaftigkeit. Er wurde noch verstärkt, weil der Soldat seinen Eid, drittens, auf die gesetzlichen Einrichtungen ablegte. Hierzu gehörte das Versailler Diktat als geltendes Reichsrecht, und diesen Vertrag lehnte der Soldat mit aller Entschiedenheit ab. Man darf die Frage des Eides vielleicht nicht überbewerten, aber wenn die Soldaten ihren Eid einigermaßen ernst nahmen, was die meisten wohl taten, dann wurden sie in eine schwer erträgliche Zerreißprobe geworfen zwischen dem, was sie wollten, und dem, was sie eigentlich sollten. Es ist deshalb nicht ganz zufällig, wenn Oster für das Jahr 1933 von einer Erlösung aus Gewissenskonflikten sprach. Von daher wird auch die Beseitigung des Verfassungseides eher 15"
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verständlich. Anfang Dezember 1933 verordnete Reichspräsident Hindenburg eine neue Eidesformel, wonach der Soldat sich verpflichtete, Volk und Vaterland allzeit treu und redlich zu dienen. Dieser Eid führte die Soldaten zu dem zurück, was ihre eigentliche Aufgabe war. Daß die Soldaten hiergegen keinerlei Einwände hatten, ist nicht verwunderlich. Sie wurden nun davon entlastet, die äußere Wehrhaftigkeit des Staates, die ihrem eigenen Willen und demjenigen der Verfassung entsprach, entweder gar nicht oder, in Form der geheimen Aufrüstung, nur verstohlen und eigentlich rechtswidrig herstellen zu dürfen. Sie wurden davon entlastet, im Einsatz nach innen den Sinn ihrer Existenz zu sehen und konnten sich wieder als Diener an den Lebensbedürfnissen des Vaterlandes verstehen. Wesentlich schwerer wog es, daß unmittelbar nach dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934 eine neue Vereidigung der Reichswehr erfolgte, nunmehr auf den Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler. Wenn dagegen kaum Bedenken geäußert wurden, so mag dies damit zusammenhängen, daß ein bloßer Fahneneid auf die Person des Oberbefehlshabers auch im Kaiserreich geleistet worden war. Zudem war Hitler durch die Übernahme des Amtes des Reichspräsidenten nun selbst Oberbefehlshaber, und den Gehorsam gegenüber dem Reichspräsidenten hatte schon der Weimarer Eid enthalten. Trotzdem lag es auf der Hand, daß zu dieser Zeit eine Diktatur bestand, so daß es sich um den Eid auf einen Diktator handelte. Daß dadurch in Zukunft andere, noch viel schwerere Konflikte hervorgerufen wurden, als sie früher jemals bestanden hatten, ist bekannt und unbestritten. Doch scheinen sich Reichswehrminister BIomberg, der den Eid veranlaßt hatte, und andere Verantwortliche über die politische und moralische Problematik des Eides auf den Diktator keine Rechenschaft abgelegt zu haben. Offenbar unterlagen sie demselben Irrtum wie die Masse des Volkes, das im Vorgehen Hitlers gegen die SA beim sog. Röhm-Putsch die Gewähr für eine Rückkehr zu geordneten Verhältnissen erblickte. Selbst der spätere Generalstabschef Halder, vom Beginn an ein aufmerksamer und kritischer Beobachter, meinte im August 1934 noch, das reine und von idealistischem Schwung getragene Wollen des Kanzlers werde durch unzulängliche und minderwertige Ausführungsorgane vielfach zu einem Zerrbild oder zum Gegenteil der Absichten des Kanzlers. Im übrigen hatte die Reichswehr zu dieser Zeit nicht mehr viele Entscheidungsmöglichkeiten. Im Anschluß an den Austritt aus dem Völkerbund hatte Hitler im November 1933 eine Volksabstimmung veranstalten lassen, die mit der Wahl eines neuen Reichstags nach NSDAP-Einheitsliste verbunden war. Ebenso fand nach der Übernahme des Amtes des Reichspräsidenten ein Plebiszit statt. Die erste Volksabstimmung erbrachte 88 %, die zweite 85 % für Hitler. Dabei ging wohl nicht alles mit rechten Dingen zu; nichtsdestoweniger war es unbezweifelbar, daß die weit überwiegende Mehrheit des Volkes nun die Diktatur bejahte. Die Reichswehr wäre schwerlich imstande gewesen, sich dem entgegenzustemmen. Durch den Schlag gegen die SA schien sich jedoch Hitler selbst gegen die revolutionären Kräfte in der nationalsozialistischen Bewegung gewandt und nicht zuletzt den Bestand der Reichswehr gesichert zu haben. So mag der
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Eid auf Hitler aus der Überlegung zu erklären sein, daß die Reichswehr sich mit der Diktatur ohnedies abzufinden hatte, daß ihre Selbständigkeit durch Hitler aber eher gewährleistet werde als durch die radikalen Elemente in der Bewegung. Daß Hitler selbst der radikalste von allen war, hat man lange nicht gesehen; erst Generalstabschef Halder bezeichnete Hitler 1938 als das, was er war: einen Blutsäufer und Verbrecher. 39 Ein nach dem Zweiten Weltkrieg häufig gebrauchtes Argument verwies auf die unpolitische Haltung und die mangelnde politische Bildung der Soldaten, die sie für die Diktatur anfällig gemacht habe. In dieser pauschalen Form ist das unzutreffend. Ganz allgemein ist zunächst festzustellen, daß der Bildungsstand des Offizierkorps den Verhältnissen angemessen war. Offizier wurde man in der Regel - die bei besonderen Umständen allerdings Ausnahmen zuließ - nur mit dem Abitur, und für den weiteren Aufstieg war das Arbeiten an der eigenen Bildung eine Voraussetzung. Zur Auswahl der Besten für den Generalstabsdienst mußten sich alle Offiziere Prüfungen unterziehen, bei denen geschichtliche, staats-, rechts- und wirtschaftswissenschafliche Kenntnisse verlangt wurden sowie eine Fremdsprache. Die weitere Ausbildung zum Generalstabsoffizier stellte hohe Anforderungen; für besonders ausgewählte Offiziere fanden in den späteren Jahren der Republik Fortbildungskurse an der Universität und der Hochschule für Politik in Berlin statt. Kriegsspiele wurden zusammen mit hochrangigen Vertretern des Auswärtigen Amts durchgeführt, um das Wechselspiel politischer und militärischer Entscheidungen zu üben sowie das Beherrschen von Krisen. Daß die Wehrmacht später über eine Vielzahl fähiger Offiziere verfügte, verdankte sie den Ausbildungsgrundlagen, die in der Reichswehr geschaffen worden waren. Unter dem Nationalsozialismus ging manches davon wieder verloren. So untersagte Hitler nach der Machtübernahme die gemeinsamen Übungen von Auswärtigem Amt und Truppenamt, d. h. der Weimarer Tamform des Generalstabs. Politische Grundsatzentscheidungen sollten nicht auf dem gesammelten Sachverstand von Fachleuten beruhen, sondern Hitlers eigenem, weltanschaulich geprägten Willen entspringen; auch war es im Interesse der Machterhaltung nützlich, die potentiellen Gegner des Regimes, Soldaten und Diplomaten, getrennt zu halten. Gleichwohl war der Wehrmachtsführung auch unter Hitler der Wert einer gediegenen Ausbildung geläufig. Für Spitzenverwendungen sollte an die Stelle der erwähnten Universitätskurse eine Fortbildung an der Wehrmachtakademie treten, die 1935 gegründet wurde und außer Offizieren auch höheren Beamten offenstehen sollte. Ihr Kommandeur wurde General Adam, der 1930 - 1933 Chef 39 Die Weimarer Reichsverfassung mit Art. 133 über die Wehrpflicht, ferner die Verordnung über den Weimarer Eid und das Weimarer Wehrgesetz bei E. R. Huber, Dokumente III, 129 ff., 168 f., 176 ff. Vgl. zum Eid im Kaiserreich E. R. Huber, Verfassungsgeschichte III, 75 f., 994, 1015. Zum Eid 1933/34 MGFA, Militärgeschichte IV, 53, 81 ff. Die irrige Auffassung über die deutsche Entwaffnung und die 14 Punkte bei Bracher, Auflösung, 207. Dagegen der Kommentar zu den 14 Punkten bei Walworth, Moment, 276. Zu den Volksabstimmungen 1933/34 Bracher, Diktatur, 267. Halder 1934 und 1938 bei K.-J. Müller, Armee, 229 (6.8.1934); Gisevius, 348 f.
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des Truppenamtes gewesen war, damals die enge Verzahnung von Politik und militärischem Handeln geübt hatte und aus seiner Abneigung gegen den Nationalsozialismus keinen Hehl machte. Die Wehrmachtakademie ging allerdings bald wieder ein, was wohl nicht bloß auf organisatorische Schwierigkeiten beim schnellen Aufbau der Streitkräfte und auf Reibereien zwischen den Teilstreitkräften zurückzuführen ist, sondern ein Mißtrauen der politischen Führung gegenüber regimekritischem Denken vermuten läßt. Damit blieben an höheren Ausbildungseinrichtungen nur die Akademien der Teilstreitkräfte, darunter diejenige für die Ausbildung im Generalstabsdienst des Heeres. Hierfür existierten seit 1932 Lehrgänge an einer zunächst noch getarnten Kriegsakademie, die 1935 offiziell eröffnet wurde. Da ihr erster Kommandeur nationalsozialistisch gesonnen war, wurde er 1934 durch den konservativen Fachmann General Liebmann ersetzt. Im übrigen unterstand die Kriegsakademie dem jeweiligen Generalstabschef, also vor dem Krieg Beck und Halder, die beide Hitler entgegentraten. In den Augen Hitlers verkörperten Liebmann und Adam anscheinend den "unpolitischen" Geist der Reichswehr, der sich dem nationalsozialistischen Gedankengut kaum öffnete. Jedenfalls beschwerte sich Hitler im Oktober 1938, die Wehrmacht und das Heer seien der politischen Führung stets als stark hemmendes Moment im Weg gestanden; dem habe die Reichswehrerziehung Vorschub geleistet. Im Anschluß daran wurden Liebmann und Adam abgelöst. Richtig ist an der These von den unpolitischen Streitkräften etwas anderes. Unter Anknüpfung an die Verhältnisse des Kaiserreichs bestimmte das Wehrgesetz von 1921, daß Soldaten sich nicht politisch betätigen und politischen Vereinen nicht angehören durften, ebenso ruhte ihr Wahlrecht. Der Soldat war also kein "Staatsbürger in Uniform", sondern der demokratisch legitimierte Gesetzgeber hatte ihm sozusagen die Rolle eines politischen Neutrums auferlegt. Wenn die Reichswehr daran stets festhielt, so tat sie nichts Außergewöhnliches, sondern sie folgte dem Gesetz. Reichswehrminister Geßler (1920-1928), Mitglied der linksliberalen Demokratischen Partei, sah seine Aufgabe darin, die Reichswehr und ihr Offizierkorps aus dem Hader des Parteienstaats herauszuhalten; die Reichswehr sollte ein überparteiliches Machtinstrument des Staates darstellen, das dem Einfluß wechselnder Parteiregierungen entzogen war und als staatstreues Organ dem ganzen Vaterland zu dienen hatte. Die "Berufspflichten des deutschen Soldaten" in der Fassung von 1930 schärften dies noch einmal ein: Es hieß dort ausdrücklich: "Die Reichswehr dient dem Staat, nicht den Parteien." Ganz so unpolitisch war die Reichswehr freilich auch wieder nicht. Die persönliche Anteilnahme am politischen Leben stand dem Soldaten frei, und eine politische Meinung konnte ihm schon vollends nicht verboten werden. Da zunächst die Reichswehr im wesentlichen aus Angehörigen der kaiserlichen Streitkräfte zusammengesetzt wurde, die der Revolution mit Ablehnung begegneten, stand eine zumindest kühle Haltung der Reichswehr zur Republik von vornherein fest, nicht bloß bei Offizieren, sondern auch bei Unteroffizieren und Mannschaften. Durch das Ergänzungswesen, das den Einheitsführern und Kommandeuren oblag, wurde dies eher
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noch gefestigt. Ein Wehrpflichtheer, wie es die Weimarer Verfassung eigentlich vorsah, wäre zweifellos erheblich demokratischer gewesen, zumindest nach seiner Zusammensetzung. In der Weimarer Reichswehr dagegen verengte sich die soziale Bandbreite. Von den Offiziersanwärtern stammte ungefähr die Hälfte wiederum aus Offiziersfamilien, was wesentlich mehr war als im Kaiserreich, und insgesamt kamen sie zu mehr als 90 % aus oberen Gesellschaftsschichten. Selbst der Anteil an adligen Offizieren, der seit dem Kaiserreich fortwährend gesunken war und in der Reichswehr gut ein Fünftel betrug, begann bei den jungen Offizieren wieder zu steigen. Unteroffiziere und Mannschaften des Reichsheeres kamen überwiegend aus dem Bauerntum sowie den Schichten kleiner Gewerbetreibender, einfacher Beamter und Soldaten. Soweit es einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Herkunft und politischer Haltung gibt, kann man sagen, daß die Reichswehr auf der konservativen, z.T. monarchistischen, jedenfalls kaum der nachdrücklich republikanischen Seite des parteipolitischen Spektrums stand. 40 Für die Stellung der Reichswehr zum Nationalsozialismus war dies sicher nicht belanglos, da der Reichswehrsoldat in der Regel entschieden patriotisch oder, wie es meistens heißt, nationalistisch gesonnen war. Trotzdem darf man die Dinge nicht unzulässig vereinfachen. Schon der Umstand gibt zu denken, daß später etliche der glühendsten Nationalisten, bisweilen auch Monarchisten, wie der Generalstabschef Beck, der Abwehrchef Canaris, der Attentäter Stauffenberg und andere mehr, Hitler in den Weg traten, als sie erkannten, daß er das Vaterland zugrunde richtete. Der Nationalsozialismus trug zwar das nationale Aushängeschild, aber das, was überall als natürliche Grundlage des Staatslebens gilt, nämlich die Vaterlandsliebe, war dem Nationalsozialismus wesensfremd. Vaterlandsliebe oder Patriotismus, die geläuterte Fonn des Nationalismus, ist etwas vollständig anderes als die absurde Rassen- und Lebensraumtheorie der Nationalsozialisten. Hitler und seine Gefolgsleute erstrebten ja gar nicht das Wohl des Vaterlands, sie erstrebten noch nicht einmal eine Machtsteigerung Deutschlands, um es in der Familie der Völker wieder einen geachteten und bestimmenden Platz einnehmen zu lassen. Sondern sie zielten auf die Herrschaft des erdichteten arischen Rassekerns über Deutschland und Europa, auf die Benützung des Volkes und der Wehrmacht, um das politische Antlitz der Erde zu verändern, sie verstanden sich letzten Endes überhaupt nicht als Deutsche, sondern als fiktive nordische Herrenmenschen, die den Nationalismus der Deutschen für ihre Absichten ausschlachteten. Aus dem Schicksal des Nationalsozialismus läßt sich kein begründeter Schluß auf die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit eines gesunden Nationalgefühls ziehen. Hitler und seine Gefolgsleute hatten gar kein Nationalgefühl, was Hitler am Ende des Krieges bewies, als er das deutsche 40 Zur politischen Haltung und Bildung in den Streitkräften MGFA, Militärgeschichte III, Abschn. 6; IV, 364 ff. Erfurth. Model. SpeideI, 46 f. Bracher / Schulz / Sauer III, 79 (zu Liebmann). Hitler 1938 bei Krausnick, Widerstand, 350 f. Das Wehrgesetz von 1921 und die Berufspflichten von 1930 bei E. R. Huber, Dokumente III, 176 ff., 181 f. Ferner Jacobsen, Militär. Bald, Generalstab. Ders., Offizier.
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Volk zugrunde gehen lassen wollte, weil es sich den Anforderungen des Rassenkampfes nicht gewachsen gezeigt hatte. Hitler und seine Gefolgsleute hatten noch nicht einmal ein Vaterland, denn sie verstanden sich als Vertreter einer Rasse, die sich in der Errichtung einer übernationalen Herrschaft ihre Heimat erst schaffen mußte. Wenn man denn ein Wort benützen will, könnte man den Nationalsozialismus allenfalls als Rassismus bezeichnen, obwohl auch das die Sache nicht trifft, weil es die Rassen, wie der Nationalsozialismus sie im Auge hatte, im Grunde gar nicht gibt. Das schwierige und spannungsreiche Verhältnis zwischen der Reichswehr und dem Nationalsozialismus läßt sich demnach nicht einfach mit der Formel abtun, daß eben beide nationalistisch waren, die Hitler-Bewegung nur noch etliche Grade mehr. Das ist dieselbe Art von Irrtum, der schon die Führung der Reichswehr und dann der Wehrmacht unterlegen ist. Gewiß war die Reichswehr nationalistisch, aber Hitler und seine Gefolgsleute waren nicht bloß die nationalistischen Scharfmacher, für die sie von der Reichswehr gehalten wurden, sondern sie waren etwas qualitativ anderes. Eine verbreitete These besagt, es habe eine Teilidentität der Ziele zwischen Reichswehr und Nationalsozialismus gegeben. Vom logischen Standpunkt aus wäre zu bemerken, daß es sich hier um zwei Mengen (von Zielen) handelt, und Mengen sind entweder identisch oder nicht; eine Teilidentität gibt es nicht. Es könnten dann allenfalls einzelne Ziele identisch sein, was die Sache schon wesentlich anders aussehen läßt, denn die grundlegenden Ziele des Nationalsozialismus teilte die Reichswehr absolut nicht, abgesehen davon, daß sie ihr nicht geläufig waren. Die Reichswehr war weder auf den Lebensraumkrieg aus noch auf die wirtschaftliche und rassische Umgestaltung Europas, noch auf die Judenvernichtung, noch auf die Heranzüchtung einer rassischen Herrschaftselite. Sollte es demnach so sein, daß die angebliche Teilidentität sich nur auf Dinge bezog, die für die Nationalsozialisten nebensächlich waren? Was wollte denn die Reichswehr? Sie wollte jedenfalls die Revision des Versailler Vertrags, von daher erklärt sich praktisch alles übrige. Die Reichswehr hätte sich mit der Republik abfinden, hätte in sie hineinwachsen können, wenn die Republik das verwirklicht hätte, was den Soldaten als unverzichtbar erschien: ein wehrhafter Staat, der sich gegen andere Länder zu behaupten vermochte und eine Machtstellung einnahm, die derjenigen des Reiches vor dem Ersten Weltkrieg vergleichbar war. Als seit den ausgehenden 1920er Jahren die politische Führung die geheime Aufrüstung deckte, als sie eine schärfere Gangart in der Außenpolitik einschlug, als erste Lokkerungen der Versailler Fesseln sichtbar wurden, vollzog sich eine Annäherung der Reichswehr an den bestehenden Staat. Wenn die Offiziere dabei an der Vorstellung von der Überparteilichkeit festhielten, so war das keine Wendung gegen den bestehenden Staat, denn der bestehende Staat verlangte eben dies von ihnen, sondern es sollte die innere Geschlossenheit der Streitkräfte aufrechterhalten, um den Spaltpilz parteipolitischer Händel nicht schon innerhalb der Truppe wuchern zu lassen. Das bezog sich nicht zuletzt auf die allmählich anwachsende
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NSDAP. Diese stand zunächst in scharfer Opposition zur Reichswehr, deren unpolitische und überparteiliche Haltung sie angriff. Ende 1928 verbot Hitler die Teilnahme von Parteimitgliedern an der Tätigkeit der Streitkräfte mit der Begründung, jene hätten keine Veranlassung, für den heutigen Staat, der kein Verständnis für ihre Ehrauffassung besitze und der das Unglück des Volkes verewige, auch nur einen Finger zu rühren. Nichtsdestoweniger begannen vor allem jüngere Offiziere sich allmählich dem Nationalsozialismus zu nähern, was 1930 zu einem Hochverratsprozeß gegen drei Ulmer Offiziere führte, die für einen Umsturz in Zusammenarbeit mit der NSDAP geworben hatten. Dabei wurde deutlich, daß in den Streitkräften keine genaue Kenntnis des nationalsozialistischen Gedankenguts vorhanden war; man hielt die Hitler-Bewegung einfach für national und bewunderte an ihr, daß sie die Wehrhaftmachung des Volkes verlangte. Der Hochverratsprozeß gab Hitler Gelegenheit, als Zeuge seinen berühmten Legalitätseid abzulegen, durch welchen er versicherte, er wolle nur mit rechtmäßigen Mitteln an die Macht kommen, allerdings werde dann der Staat in eine neue Form gegossen. Hitler zog damit die Folgerungen aus der überparteilichen Stellung der Reichswehr, denn er durfte mit Recht davon ausgehen, daß sowohl die politische als auch die militärische Führung einem nationalsozialistischen Umsturzversuch mit Waffengewalt entgegentreten würden und daß kaum Aussicht bestand, durch innere Wühlarbeit den Zusammenhalt der Streitkräfte in einer Weise zu zersetzen, die sie für den Erhalt der staatlichen Ordnung untauglich machte. Es gibt Zeugnisse, daß die Reichswehr bis zur Machtergreifung fähig und bereit gewesen wäre, einen nationalsozialistischen Staatsstreich niederzuwerfen oder die Hitler-Bewegung als politische Kraft auszuschalten. Im August 1932 erläuterte Oberst Blaskowitz, damals Regimentskommandeur und im Krieg als General ein Gegner der nationalsozialistischen Greuel in Polen, die innenpolitische Lage dahingehend, falls die Nazi Dummheiten machten, werde ihnen mit aller Gewalt entgegengetreten werden, und man werde selbst vor blutigsten Auseinandersetzungen nicht zurückschrecken. Polizei und Reichswehr seien absolut in der Lage, allein mit den Brüdern fertigzuwerden. General Liebmann, damals Wehrbereichsbefehlshaber in Stuttgart, meinte an der Jahreswende 1932/33, die Disziplin der Truppe werde an einem Einsatz gegen die Nationalsozialisten nicht zerbrechen; gegebenenfalls müßten nationalsozialistisch gesonnene Offiziere rechtzeitig festgesetzt werden. 41 Die Brücken, welche die Reichswehr an den Nationalsozialismus heran- und in den nationalsozialistischen Staat hineinführten, waren die Legalitätstaktik und die Frontstellung gegen das Versailler Diktat. Es darf hier noch einmal daran 41 Die These von der Teilidentität der Ziele vor allem bei Messerschmidt, Wehrmacht, passim. Vgl. ders., Verhältnis. Zum Verhältnis Nationalsozialismus - Reichswehr Vogelsang, Reichswehr, 58 ff. Schüddekopf, 280. Zum Reichswehrprozeß Bucher. E. R. Huber, Dokumente III, 431 ff. Ferner MGFA, Militärgeschichte III, Abschn. 6, 150 ff.; IV, 26 ff. Zu Blaskowitz die Wiedergabe seiner Mitteilungen in einem Brief des Hauptmanns Stieff bei H. Rothfels, Briefe, 296 f. Zu Liebmann Krausnick, Widerstand, 313 f.
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erinnert werden, daß für die Reichswehr kaum Veranlassung bestanden hätte, sich mit den nationalsozialistischen Schreihälsen abzugeben, wenn die Republik das gewesen wäre, was sogar in ihrer Verfassung stand, nämlich ein wehrfähiger Staat, und wenn die Nationalsozialisten mit ihren Angriffen auf das Versailler Diktat nicht genau den Nerv getroffen hätten, der auch bei der Reichswehr ins Zentrum der Empfindlichkeit führte. Was die erwähnte "Teil identität" der Ziele angeht, so bestand eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Reichswehr und Nationalsozialismus über die Wehrhaftmachung. Das war zwar keine Nebensächlichkeit, dennoch sind schwerwiegende Unterschiede festzuhalten. Der Besitz von Streitkräften ist ja kein Selbstzweck, sondern er dient als Mittel für andere Zwecke, so insbesondere die äußere und gegebenenfalls die innere Sicherheit. Was Hitler und seine Gefolgsleute anstrebten, war eine starke Wehrmacht, um dereinst den Lebensraumkrieg führen zu können. Demgegenüber waren die Ziele der Reichswehr von gänzlich anderer Art. Zur Landesverteidigung in einem regelrechten Krieg war die Reichswehr so wenig imstande, daß sie sogar darauf verzichtete, feste Aufmarsch- und Operationspläne zu entwerfen. Nur unter günstigen internationalen Bedingungen, so insbesondere bei einem Eingreifen des Völkerbunds, wäre der Einsatz der Streitkräfte überhaupt erfolgversprechend gewesen; doch blieb es höchst zweifelhaft, ob der Völkerbund dazu fähig und hinreichend wirksam war. Wie wenig Verlaß auf die internationale Friedensgemeinschaft war, zeigte sich spätestens 1931, als Japan, selbst Mitglied des Völkerbunds, die (chinesische) Mandschurei besetzte und weder der Völkerbund noch die USA etwas dagegen auszurichten vermochten. Das war ein Zeichen, daß jedes Land gut daran tat, auf seine Sicherheit selbst zu achten, auch Deutschland. Pilsudski, der sich allmählich zum Diktator in Polen aufschwang, erwog in den Jahren 1932/33 Pläne für einen militärischen Schlag, bei welchem deutsche Gebiete besetzt werden sollten, um einen Verzicht auf die Revisionspolitik zu erzwingen. Dies zeigte jedenfalls, daß Deutschland auf Grund seiner Wehrlosigkeit nach wie vor erpreßbar und in seinem territorialen Bestand bedroht war. Der Wunsch von Reichsregierung und Reichswehr nach einem kriegsfähigen Heer erscheint von daher als nicht ganz unbegründet. Es kam hinzu, daß auch die territoriale Revision ungleich bessere Aussichten hatte, wenn Deutschland verteidigungsfähig war und nicht jeder Versuch zur Grenzänderung alsbald durch einen Einmarsch oder die Drohung mit einem Einmarsch abgewürgt werden konnte. So zielte die Reichswehr langfristig darauf ab, Streitkräfte zu erhalten, die im Stärkeverhältnis gegenüber anderen Ländern überhaupt kriegsfähig waren, sei es auf dem Wege international vereinbarter Gleichberechtigung in der Sicherheit oder sei es äußerstenfalls im Alleingang durch einseitige Aufrüstung. Diese Streitkräfte sollten das Machtmittel darstellen, um die Revision des Versailler Vertrages zu ermöglichen. Mit Nachdruck ist jedoch zu betonen, daß das Verfügen über kriegsfähige Streitkräfte nicht bedeutet, die Revisionsziele hätten im Weg des Angriffskrieges erreicht werden sollen. Der Besitz kriegsfähiger Streitkräfte ist zu allererstein politisches Machtmittel, welches entweder eine erfolgreiche
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Verteidigung zuläßt und damit die politische Erpreßbarkeit durch Androhung von Gewalt ausscheidet oder welches selbst einen Rückhalt für die Ausübung politischen Druckes darstellt. Das Maß außenpolitischer Handlungsfähigkeit ist an den Besitz kriegsfähiger Streitkräfte geknüpft sowie an das Stärkeverhältnis, in welchem diese zu anderen stehen. Eben diese Handlungsfähigkeit war es, worauf es der Führung der Reichswehr und dann der Wehrmacht ankam. Mit dem Willen zum Krieg oder gar zum Angriffskrieg hatte das von sich aus gar nichts zu tun, was Hitler zu seiner Enttäuschung später feststellen mußte. 1938 ereiferte er sich darüber, daß seine Generale gewissermaßen Jagdhunden glichen, die man zum Jagen tragen mußte. "Was sind das für Generale, die ich als Staatsoberhaupt womöglich zum Kriege treiben muß! Wäre es richtig, so dürfte ich mich doch vor dem Drängen der Generale nach Krieg nicht retten können! Ich verlange nicht, daß meine Generale meine Befehle verstehen, sondern daß sie sie befolgen." Die Generale hatten 1933 nicht geglaubt, daß sie einmal in eine solche Lage kommen könnten, denn der Aufbau und die Verwendung von Streitkräften war für sie ein rationales Geschäft, das außenpolitische Sachzwänge zu berücksichtigen hatte. Aus diesem Grund trägt auch das Argument nicht weit, die Generale hätten spätestens seit 1933 über die außenpolitischen Ziele Hitlers Bescheid wissen können. Bereits am 3. Februar 1933, wenige Tage nach der Regierungsbildung, trug Hitler bei einer Veranstaltung zu Ehren des Außenministers Neurath im Hause Hammersteins den anwesenden Spitzen der Reichswehr sein Programm vor. Da war die Rede von straffster autoritärer Staatsführung und Beseitigung des Krebsschadens der Demokratie, von Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel, vom Kampf gegen Versailles, Wiederwehrhaftmachung und Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. All dies sollte dem obersten Ziel dienen, der Wiedergewinnung politischer Macht. Bei der Frage, wie diese politische Macht dann gebraucht werden solle, legte Hitler sich nicht fest. In den einschlägigen Aufzeichnungen heißt es, Hitler habe zwei Möglichkeiten aufgezeigt: vielleicht Erkämpfung neuer Exportmöglichkeiten, vielleicht - und wohl besser - Eroberung neuen Lebensraums im Osten und dessen rücksichtslose Germanisierung. Wenn man Hitlers Weltanschauung kennt, weiß man, was das bedeuten sollte: Es war sein alter Gedanke, daß ein friedlicher Kampf um die Weltmärkte für Deutschland weder möglich noch wünschenswert sei, so daß entweder neue Exportmöglichkeiten im Wege des Krieges erkämpft werden müßten oder weit besser - Lebensraum zu erobern sei, um Siedlungsland zu gewinnen und der Abhängigkeit vom Export ganz zu entgehen. Das hat Hitler an dieser Stelle auch durchblicken lassen, aber was konnten die Generale damit anfangen? Ihre Antwort war in der Hauptsache Ratlosigkeit. In Hinblick auf Hitlers innenpolitische Auslassungen waren sie ohnedies nicht viel klüger als zuvor. Mit seiner Absicht, die Demokratie zu beseitigen, sagte Hitler niemandem etwas Neues; die Frage war zu der Zeit, ob ihm das gelingen würde. Noch war er Chef einer Koalitionsregierung, die ihn von der Errichtung einer unverfälschten, nationalso-
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zialistischen Diktatur abhalten sollte und wollte. Auch den Kampf gegen den Marxismus verkündete die NSDAP seit Jahr und Tag; welche Formen das annehmen würde, war zu der Zeit noch lange nicht entschieden. In Bezug auf die Außenpolitik vermochten die Offiziere ein klares Bild nicht zu gewinnen. Wenn der Chef der Marineleitung, Admiral Raeder, später meinte, Hitler habe nur von der Verteidigungsfähigkeit gesprochen, so mag man das als Schutzbehauptung ansehen. Einem anderen Teilnehmer erschien der Plan, im Osten Lebensraum zu schaffen, als entscheidende Erklärung, doch war eine solche Deutung nicht zwingend. Soweit die Aufzeichnungen zuverlässig sind, hatte Hitler ausdrücklich gesagt, daß die Frage jetzt noch nicht zu entscheiden sei und daß man vielleicht am besten Lebensraum erobern sollte. Einen unveränderlichen Willen hierzu konnten die Offiziere höchstens vermuten, deutlich ausgesprochen wurde er nicht. Ein ungenannter Teilnehmer zitierte deshalb verständlicherweise das SchillerWort: "Stets war die Rede kecker als die Tat." Über eine ähnliche Rede im Jahr darauf meinte der spätere Feldmarschall Weichs, er habe zunächst einen Schrekken bekommen, sei aber bei weiterer Überlegung zu der Auffassung gelangt, daß Politiker es mit der Wahrheit nicht so genau nähmen. In der Tat waren Hitlers Vorstellungen so abwegig, daß der geschulte Verstand der Offiziere dem kaum zu folgen vermochte. Für die Generale lag die Annahme nahe, Hitler werde, wenn er erst mit der Wirklichkeit der Außenpolitik in Berührung komme, in ein gemäßigteres Fahrwasser umschwenken. Vom Lebensraum hatte schon Reichskanzler Brüning gesprochen und darunter die Grenzrevision sowie den deutschen Einfluß in Zwischeneuropa verstanden. Das waren vernünftige Ziele einer sachlichen Außenpolitik, und sie hätten - theoretisch - auch für Hitler verbindlich werden können. Für die Offiziere lag eine solche Auffassung umso näher, als Hitler ihnen augenscheinlich verschwieg, daß mit dem Lebensraum Rußland gemeint war. Über diesen Punkt waren die Verantwortlichen lange im Unklaren; in der Regel vermochte man sich darunter nur die kleinen Länder an der Ostgrenze vorzustellen. So warnte Wirtschaftsminister Schacht 1935 den Diktator vor der Idee von dem zu erwerbenden Ostraum, wobei er Polen und das Baltikum erwähnte. Schacht meinte, eine Änderung der östlichen Grenzen strebe auch er an, aber eine deutsche Siedlung sei nur bei glatter Entvölkerung der betreffenden Gebiete denkbar, was kein vernünftiger Mensch für möglich halten werde. In der Reichswehr und Wehrmacht sah man das ähnlich. Die Siedlungs- und Germanisierungsideen hielt man, auch im kleinen Maßstab benachbarter Länder, einfach für unvernünftig und vermochte sich lange nicht vorzustellen, daß Hitler darauf beharren würde. Von einem Staatsmann, der Politik als rationales Geschäft verstand und nicht wie Hitler in seinem weltanschaulichen Fanatismus gefangen war, hätte man das mit Recht erwarten dürfen. Wenn Deutschland erst verteidigungsfähig war, eröffneten sich für die Revisionspolitik im Osten vielfältige Möglichkeiten, auch ohne Gewaltanwendung, zumal Deutschland bei einer Anzahl von Ländern auf stillschweigende Duldung oder offene Unterstützung rechnen durfte. Hitlers Auslassungen vom Februar 1933
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vennochten den Generalen die Augen nicht zu öffnen, teils weil sie zu unbestimmt waren und teils weil niemand erwartete, Unvernunft könne wirklich zur Grundlage der Politik gemacht werden. 42 Daß die Hitler-Bewegung eine Diktatur anstrebe, war der politischen Führung wie der Reichswehrführung nie zweifelhaft. Ähnlich wie schon im August 1932 lehnte Hindenburg im November desselben Jahres die Betrauung Hitlers mit dem Kanzleramt ab, weil er befürchten müsse, ein von Hitler geführtes Präsidialkabinett werde sich zwangsläufig zu einer Parteidiktatur entwickeln. Wenn das so klar war, wieso geschah es dann doch? Muß man bei den sog. konservativen Führungsschichten, darunter der Reichswehr, am Ende doch eine stillschweigende Bereitschaft zur Diktatur unterstellen? Der Gedanke ist wohl nicht ganz abwegig; immerhin schrieb der spätere Generalstabschef Beck im März 1933 über den politischen Umschwung, er habe ihn seit Jahren erhofft und freue sich, daß die Hoffnung nicht getrogen habe; dies sei der erste große Lichtblick seit 1918. Freilich darf man dies nicht vorschnell verallgemeinern, es gab auch ganz andere Stimmen. Der Chef der Heeresleitung, Hammerstein-Equord, war allgemein als Gegner der Nationalsozialisten bekannt, und sein Chef des Truppenamtes, Adam, sagte vor hohen Offizieren Anfang Mai 1933, die Soldaten verabscheuten vieles von dem, was jetzt geschehe. Es sei ihre Aufgabe, zu warten und zu hoffen, daß nach Versinken der üblen Bestandteile und des Schmutzes dieser Revolution sich ein festes Bollwerk deutscher Gesinnung erhebe, das in sich schließe Recht, Sitte, Ehre, Anstand und Kultur. Diese Äußerung enthielt ein Maß an Kritik, das unter anderen Umständen eigentlich schon unzulässig gewesen wäre. Die Stimmung unter den Soldaten war also offenbar sehr unterschiedlich; von einer einhelligen Begrüßung der Machtübernahme kann keine Rede sein. Warum gelang es trotzdem, die Reichswehr ohne allzu große Reibungen in die Diktatur hineinzuführen? 43 Ein Grund, wenngleich nicht der wichtigste, bestand darin, daß es seit Jahren Berührungspunkte zwischen Reichswehr und NSDAP gab, bisweilen sogar eine Art von Förderung der Hitler-Bewegung. Im Reichswehrministerium war General Schleicher als Chef der Wehrmachtabteilung (seit 1926) und des daraus hervorgegangenen Ministeramtes (seit 1929) für Militärpolitik zuständig und hielt in dieser Eigenschaft Verbindung sowohl mit dem Reichspräsidenten als auch mit den Parteien. Hindenburg wünschte seit 1929, beraten und unterstützt von Schleicher, eine Verlagerung der parlamentarischen Basis für die Regierungsarbeit nach rechts, teils um die finanzpolitischen Probleme des Reiches besser lösen 42 Zur strategisch-operativen Planung der Reichswehr MGFA, Militärgeschichte III, Abschn. 6, 199 f. Zu Pilsudski Th. Schieder, Handbuch VII/2, 1012. Hitler 1938 bei W. Foerster, Beck, 116. Hitler 1933 bei Vogelsang, Dokumente, 434 ff. Dazu Bracher / Schulz / Sauer III, 55 f., 90 f., 112ff. Schacht in ADAP, Ser. C, Bd.3/11, 1004 f. (19.3.1935). BfÜning in Kabinette BfÜning, Bd. 1,281 (8.7.1930). 43 Zu Hindenburg E. R. Huber, Dokumente III, 518 (14.8. 1932), 559 f. (24. 11. 1932). Zu Beck K.-J. Müller, Beck, 337 ff. (17.3.1933). Adam nach Hoch / Weiß, 43f.
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zu können, teils um die Arbeit im Zusammenhang mit der geheimen Aufrüstung zu erleichtern. Dies führte 1930 zur Bildung des ersten Präsidialkabinetts unter dem Zentrumspolitiker Brüning, der sich weitgehend auf die Notverordnungsgewalt des Reichspräsidenten stützte, allerdings zugleich der Tolerierung durch eine Reichstagsmehrheit unter Einschluß der SPD bedurfte, da Notmaßnahmen des Reichspräsidenten vom Reichstag außer Kraft gesetzt werden konnten. Die Frage der geheimen Aufrüstung bezog sich darauf, daß die Reichswehr einerseits für den Mobilmachungsfall die Vermehrung der vorhandenen 7 Infanteriedivisionen auf21 vorsah (abgesehen von einer geringfügigen Vermehrung der außerdem noch vorhandenen 3 Kavalleriedivisionen), andererseits die regulären Truppen durch Sonderformationen zu verstärken suchte. Da die Reichswehr als Berufsheer über das Wehrersatzwesen einer Wehrpflichtarmee nicht verfügte, also kaum Reserven besaß, und ihre zahlenmäßige Verstärkung gemäß Versailler Vertrag sowieso verboten war, griff sie auf die Hilfseinrichtungen des Heimat- oder Grenzschutzes einerseits, des Landesschutzes andererseits zurück. Der Heimatoder Grenzschutz war in den ersten Jahren der Republik vor allem in den preußischen Ostprovinzen enstanden zur Abwehr polnischer Übergriffe. Seine Wurzeln waren verschieden, teils privater Natur; seit 1924 wurde der Grenzschutz zentral vom Truppenamt gesteuert, vor Ort waren in dessen Auftrag ehemalige Offiziere tätig. Mit diesem Grenzschutz überschnitt sich zum Teil der Landesschutz, doch war er im Prinzip etwas anderes. Der Landesschutz entstand als zentralisierte Einrichtung 1924, nachdem die französische Ruhrbesetzung die Wehrlosigkeit Deutschlands grell an den Tag gelegt hatte. Im Truppenamt, also praktisch dem Weimarer Generalstab, kam damals die strategische Vorstellung auf, in einem Verteidigungskrieg dem operativen Einsatz der regulären Truppen eine hinhaltende Defensivtaktik von Grenzschutzverbänden (etwa in Regimentsstärke) sowie von kleinen Kampftrupps (in der Art von Partisanen) vorzuschalten, um einen eindringenden Gegner zu schwächen und dann im Landesinneren zur Entscheidungsschlacht zu stellen. Da man mit den 7 Infanterie- und 3 Kavalleriedivisionen der Reichswehr selbstverständlich keine Entscheidungsschlacht schlagen konnte, jedenfalls nicht gegen die potentiellen Gegner, mußten weitere Kräfte mobilisiert werden, was dann zu den genannten 21 Divisionen führen sollte, abgesehen von den Grenzschutz- bzw. Landwehrverbänden, deren Stärke vermutlich um die 100 000 Mann betrug, bei verhältnismäßig geringem Kampfwert. Als Ersatz für eine regelrechte Mobilmachungsorganisation sollte der erwähnte Landesschutz dienen. Wie der vorgeschaltete Kleinkrieg von Grenzschutz und anderen Verzögerungskräften ein bloßer Notbehelf war, weil die regulären Truppen für einen regulären Krieg nicht ausreichten, so war auch der Landesschutz ein reiner Notbehelf, welcher an die Stelle eines ordnungsgemäßen und rechtlich geregelten Apparats für den Aufbau einer Kriegsstreitmacht treten sollte. Daß dies eine neuartige Militarisierung von Staat und Bevölkerung bedeutet habe, wie gelegentlich behauptet wurde, stellt die Tatsachen. auf den Kopf. Der Normalfall, wie ihn auch die Weimarer Verfassung mit der allgemeinen Wehrpflicht vorsah, ist
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eben diese angebliche Militarisierung; es gibt in diesem Nonnalfall eine militärische Organisation, welche - regelmäßig in Zusammenarbeit mit zivilen Stellen - das Wehrersatzwesen, die Mobilisierung einer Kriegsstreitmacht und deren Ausstattung steuert. Das war im Kaiserreich so, es ist in der Bundesrepublik so, und in allen Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht ist es ebenso. Die Reichswehr kannte diesen Nonnalfall nicht, da er ihr durch das Versailler Diktat verboten war; deshalb suchte sie sich ihm mit Hilfe des Landesschutzes anzunähern. Beim Landesschutz waren, ähnlich wie beim Grenzschutz, jedoch reichsweit, ehemalige Offiziere im Auftrag der Reichswehr tätig, um die wehrfahige Bevölkerung zu erfassen und den personellen Ergänzungsbedarf im Mobilmachungsfall zu dekken. Da eine regelrechte militärische Ausbildung nicht möglich war, behalf man sich mit einer vonnilitärischen; zu diesem Zweck wurden z. B. Sportschulen gegründet. Da eine allgemeine Wehrpflicht nicht existierte, mußte die Reichswehr auf Freiwillige zurückgreifen, die sich zum Wehrgedanken bekannten, und solche fanden sich naturgemäß am ehesten in nationalistischen und konservativen Kreisen. Von besonderer Bedeutung war hierbei der Bund der Frontsoldaten "Stahlhelm", aus dessen Mitte meistens die Landesschutzoffiziere stammten und der sich für den Grenz- und Landesschutz zur Verfügung stellte. Der Stahlhelm hielt seit dem Volksbegehren gegen den Young-Plan Verbindung mit den Nationalsozialisten. Für die geheime Aufrüstung war die Hitler-Bewegung zunächst zwar ziemlich belanglos, weil sie gemäß der Weisung Hitlers von 1928 sich davon fernhielt. Längerfristig konnte sie jedoch sehr wohl bedeutsam werden, weil sie vor allem in der SA über ein Potential wehrfahiger und wehrwilliger Männer verfügte, wie die Reichswehr es suchte. In der Geschichte der Präsidialregierungen spielen diese Berührungspunkte zwischen Reichswehr und NSDAP eine nicht unbeträchtliche Rolle. Hindenburg nahm als ehemaliger Generalstabschef des kaiserlichen Heeres regen Anteil an militärischen Dingen. Auf der anderen Seite gab es zwischen der Reichswehrführung und der preußischen Regierung fortwährend Streit wegen des Grenz- und vor allem wegen des Landesschutzes. Der sozialdemokratische Ministerpräsident von Preußen, Otto Braun (1920 - 1932), lehnte alle Vorarbeiten für eine Mobilmachung rundweg ab; außerdem befürchtete er, im Grenz- und Landesschutz fänden republikfeindliche Kräfte einen Sammelpunkt, eine Möglichkeit zur Ausbildung und den Zugang zu geheimen Waffenlagern. Das war in der Sache nicht ganz unrichtig; die geheime Aufrüstung brachte militärisch nur bescheidene Vorteile, ging in fonneller Hinsicht mit Rechtsverletzungen einher und stützte sich auf Kreise, die teils mit der Monarchie, teils mit der Diktatur liebäugelten. Demgegenüber konnte sich die Reichswehr auf den Standpunkt zurückziehen, daß sie nur durch die geheime Aufrüstung überhaupt eine Verteidigungschance habe, und sei es auch bloß bei günstigen außenpolitischen Bedingungen; außerdem war sie gezwungen, auf die Kräfte zurückzugreifen, deren Wehrwille mit zwielichtiger Einstellung gegenüber der Republik verknüpft war. Man sieht, daß der Gegensatz auf dieser Ebene der Argumentation schwer zu überbrücken war. Man sieht indes
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zugleich, daß der Gegensatz gar nicht erst enstanden wäre, wenn die Republik diejenige Art von Wehrfähigkeit besessen hätte, welche die 14 Punkte, die Völkerbundssatzung und die Weimarer Verfassung selbst vorgesehen hatten. Ein Gutteil aller Belastungen der Weimarer Republik, an denen sie schließlich zerbrach, erwuchs gar nicht aus inneren Spannungen, sondern aus den von außen auferlegten Zwängen. Wie auch immer, der Widerstand des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Braun gegen die Mobilmachungsarbeiten war dem Reichspräsidenten und der Reichswehrführung ebenso ein Dom im Auge wie die insgesamt sehr schwankende und unsichere Haltung der Sozialdemokratie zu allen militärischen Fragen. Hindenburg und Schleicher wurden dadurch in ihrem Vorsatz bestärkt, aus der parlamentarischen Basis für die Regierungsarbeit die SPD möglichst auszuschließen und zugleich in Preußen eine Änderung der Regierungsverhältnisse herbeizuführen - was schließlich einer der Gründe für Papens "Preußenschlag" von 1932 wurde, also die Absetzung der geschäftsführenden Regierung Braun und die Übernahme ihrer Befugnisse durch das Reich. Jener von Hindenburg und Schleicher geplante und jahrelang betriebene Rechtsabmarsch war die Hauptursache für den Sturz des Kanzlers Brüning, denn dieser hatte die gewünschte parlamentarische Mehrheit ohne die Sozialdemokratie nicht zustande gebracht. Mittelbar kam der Regierungswechsel der NSDAP zugute, die bei einem Fortbestand der Regierung Brüning die Erfolge bei den Reichstagswahlen des Jahres 1932 nicht errungen hätte und so möglicherweise an der Machtergreifung zu hindern gewesen wäre. Die Wahl vom Juli 1932 beruhte ihrerseits auf einem Handel zwischen Schleicher und Hitler, und zwar vor folgendem Hintergrund: Für die Reichswehr wurden die Mobilmachungsvorarbeiten immer schwieriger, weil allmählich der taugliche Ersatz ehemaliger Frontsoldaten entfiel. Die Reichswehr ging deshalb in den frühen 1930er Jahren dazu über, den Grenzschutz für SA-Leute zu öffnen; in einer Ausarbeitung aus dem Büro des Reichspräsidenten vom Juni 1932 hieß es sogar, junge Nationalsozialisten stellten das Hauptkontingent im Grenzschutz. Das bedeutete nicht, daß die Reichswehr willens war, den Personalersatz vorwiegend aus den Reihen der SA zu rekrutieren. Ganz im Gegenteil suchten das Reichswehrministerium unter Groener und Schleicher sowie die Heeresleitung seit Jahren den Wehrgedanken breitesten Bevölkerungsschichten nahezubringen, um sich von der einseitigen Bindung an rechtsradikale Organisationen zu lösen. Auch konnte die SA der Reichswehr das nicht liefern, was sie wirklich brauchte, nämlich ausgebildete Soldaten. Unter Groener wurde deshalb der Plan für eine neue Heeresstruktur entwickelt, der bei den Abrüstungsverhandlungen eine Rolle spielte und auf dem Gedanken beruhte, dem längerdienenden Berufsheer eine kurzausgebildete Miliz an die Seite zu stellen, die dann den geeigneten Ersatz für ein Mobilmachungsheer geliefert hätte. Aber bis solche Pläne verwirklicht werden konnten, war die SA ein nützlicher Notbehelf, und wenn die Miliz erst kam, war die SA auch dort gut zu verwenden. Nun hatte freilich Groener, der zugleich Innenminister war, auf Drängen der preußischen und anderer Landesregierungen im April 1932 die SA verbieten
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lassen. Dies rief bald den Widerstand der Reichswehrkommandeure, sodann Hindenburgs und Schleichers wach, führte den Sturz Groeners herbei und zog den Sturz Brünings nach sich. Schleicher kam im Mai 1932 mit Hitler überein, für eine Aufhebung des SA-Verbots und Neuwahlen zu sorgen; dafür sollte die NSDAP einer neuen Regierung ihre Unterstützung leihen und so eine Mehrheit auf der rechten Seite des parteipolitischen Spektrums ermöglichen. Das war der Inhalt von Schleichers ,,zähmungskonzept": Die NSDAP sollte in die staatliche Verantwortung eingebunden werden, ohne die ganze Macht zu erhalten, und sich dabei abnutzen. Außerdem sollte eine parlamentarische Mehrheit geschaffen werden, die eine zielstrebige Politik ermöglichte, nicht zuletzt auf militärischem Gebiet. Die so entstandene Regierung Papen unternahm es, das Zähmungskonzept in die Wirklichkeit umzusetzen, scheiterte jedoch daran, daß Hitler sich nicht in die Verantwortung einbinden ließ. Damit war das Reich auf der Grundlage parlamentarischer Mehrheitsbildung zunächst einmal unregierbar geworden; sofern der Reichstag nicht zeitweise oder dauernd ausgeschaltet werden sollte, mußte die NSDAP in irgendeiner Weise an der Regierung beteiligt werden. In der Folgezeit haben Hindenburg und die beiden letzten Präsidialregierungen unter Papen und Schleicher sämtliche verbliebenen Möglichkeiten gedanklich durchgespielt: von der Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung unter Hitler, wobei allerdings Hindenburg sich starke Einwirkungsmöglichkeiten vorbehalten wollte, insbesondere den Einsatz der Reichswehr; über die Spaltung der NSDAP und die Unterstützung der Regierung durch Arbeiterschaft und Gewerkschaften quer durch die Parteien, wie es Schleicher vorschwebte; bis hin zur Reichstagsauflösung, verfassungswidrigen Aussetzung von Neuwahlen und Errichtung eines auf die Reichswehr gestützten Ausnahmezustands. Nichts von alledem ließ sich verwirklichen, so daß Hitler schließlich bekam, was er wollte - er wurde Chef einer Präsidialregierung. Gerade bei sorgfältigem Durchmustern aller Alternativlösungen scheint dieses Ergebnis einen Zug von Unausweichlichkeit zu erhalten: Hitler zu verhindern wurde ja versucht, aber es gelang nicht. Zumal für die Offiziere der Reichswehr konnte die Regierungsübernahme Hitlers durchaus eine Klärung bedeuten. Auf der einen Seite waren sie damit beschäftigt, durch die Eingliederung von Nationalsozialisten den Grenzschutz im besonderen und die Verteidigungsfähigkeit im allgemeinen zu stärken; auf der anderen Seite mußten sie gewärtig sein, demnächst die Republik gegen die Nationalsozialisten zu schützen und die Verteidigungsfähigkeit außer acht zu lassen. Die Verstrickung in innenpolitische Auseinandersetzungen hatten sie schon beim SA-Verbot mit Unbehagen aufgenommen; mit Hitlers Regierungsübernahme glaubten sie zur gewohnten Überparteilichkeit zurückzukehren zu können. Einem Einsatzbefehl gegen die Nationalsozialisten hätte sich die Masse der Offiziere wohl gebeugt, manche aus Überzeugung, andere aus Diziplin, aber wenn er sich vermeiden ließ, war das jedenfalls einfacher. 44 44 Zum Grenz- und Landesschutz MGFA, Militärgeschichte III, Abschn. 6, 212 ff. Vogelsang, Reichswehr, 43 ff., 52 ff., 156 ff., 229 ff.; sowie die Niederschrift aus dem
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Dies führt auf den zweiten Grund, warum die Reichswehr ohne besonders große Reibungen in die Diktatur hineingeführt werden konnte. Hitler wurde vom rechtmäßigen Staatsoberhaupt auf rechtmäßigem Weg zum Regierungschef ernannt. Hätten die Soldaten sich dagegen aufgelehnt, so hätten sie ihren Eid gebrochen, der den Gehorsam gegen das Staatsoberhaupt vorsah. Betrachtet man die Sache unter diesem Blickwinkel, dann waren der Reichswehr die Hände gebunden, solange Hindenburg nicht selbst etwas gegen die Errichtung der Diktatur unternahm, und das tat er nie. Eine Widerstandspflicht der Soldaten hätte sich allenfalls aus dem Bruch der Verfassung und der gesetzlichen Einrichtungen herleiten lassen, doch abgesehen davon, daß Reichsregierung und Reichswehr in der geheimen Aufrüstung am Bruch gesetzlicher Einrichtungen schon bislang beteiligt waren, verlief die Errichtung der Diktatur anfangs in Bahnen, die entweder selbst als legal angesehen werden konnten oder deren Rechtswidrigkeit für den Soldaten schwer erkennbar war. Die Reichstagsbrandverordnung zum Beispiel durfte ungeachtet gewisser Bedenken zunächst als formell zulässige Ausschöpfung der Notstandsgewalt des Reichspräsidenten angesehen werden, die erst dadurch zum Werkzeug des Unrechtsstaats wurde, daß sie nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Selbst das Ermächtigungsgesetz wurde von namhaften, keineswegs nationalsozialistischen Juristen zwar der Sache nach als Widerspruch zur Verfassung, in seiner Entstehung jedoch als formell rechtmäßig bezeichnet. Ob das zutrifft, kann dabei auf sich beruhen - es traf wohl nicht zu - , aber es war den Soldaten schwerlich zuzumuten, einen Sachverhalt angemessen zu beurteilen, der schon unter den Rechtsgelehrten strittig war. Nun wird man freilich die Sache ganz so formalistisch nicht betrachten dürfen. Rein rechtliche Gesichtspunkte erhielten ein minderes Gewicht, wenn die Regierungsgewalt einem Mann anvertraut wurde, der mit Hilfe einer starken Parteimiliz den Umsturz ansteuerte und dessen sonstige innen- wie außenpolitische Absichten zumindest nicht ganz geheuer waren. Wache Mahner wie der mittlerweile abgelöste Schleicher, wie die in ihren Ämtern verbliebenen Hammerstein und Adam sowie manche anderen wären wohl auch nach Hitlers Regierungsübernahme noch zu einer Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten bereit gewesen. Gelegenheiten hätte es gegeben, so bei der Gleichschaltung Bayerns im März 1933, als die bayerische Regierung bei Hindenburg und dem Reichswehrministerium um Hilfe bat und sie nicht erhielt. Hier zeigt sich indes zugleich das Dilemma der Reichswehr: Ihr Einsatz zur Verhinderung der Diktatur wäre allenfalls in der ersten Jahreshälfte 1933 vertretbar gewesen, als eine Mehrheit der Bevölkerung bei den Wahlen sich noch nicht zur Hitler-Bewegung bekannt hatte, als die Parteien noch nicht aufgelöst, die gesellschaftlichen Gruppen und die Länder noch nicht gleichgeschaltet waren, als die SA noch nicht zu ihrer späteren Stärke Büro des Reichspräsidenten, 459 ff., 462. Meinck, 1 ff. Bennett. H. Schulze, Braun, 606 ff. Zu den strategischen Vorstellungen der Reichswehr und zur angeblichen Militari sierung M. Geyer, Aufrüstung, 76 ff., 97 ff. Ferner Mauch. Zu den Fragen der Regierungsbildung unter Papen und Schleicher E. R. Huber, Dokumente III, 546 ff. Bracher, Auflösung.
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angeschwollen war, als - mit einem Wort - die Reichswehr noch irgendwo hätte Unterstützung finden können und nicht mit ihren gerade 100 000 Mann der Mehrheit des ganzen Volkes gegenübergestanden wäre. Ein solcher Einsatz der Reichswehr hätte vorausgesetzt, daß er von Hindenburg ausgegangen wäre, denn ein etwa vom Chef der Heeresleitung oder auch dem Reichswehrminister ohne Befehl des Reichspräsidenten ausgelöstes Unternehmen wäre nichts anderes als ein Putschversuch gewesen, dem die Soldaten selbst keine Folge geleistet hätten. Ohne Befehl des Reichspräsidenten konnte die Reichswehr der Machtergreifung nicht entgegentreten, und daran hat es in der entscheidenden Zeit gefehlt. Damit kommt man, drittens, auf den vorhin erwähnten Umstand zurück, daß Hindenburg bei einer Betrauung Hitlers mit dem Kanzleramt die Diktatur befürchtete und ihm dieses Amt trotzdem übertrug. Man gewinnt fast den Eindruck, Hindenburg habe sich seit dem 30. Januar 1933 mit der Errichtung der Diktatur abgefunden oder zumindest darauf verzichtet, sie selbst noch zu bekämpfen. Er hatte Hitler jenes Amt übertragen, weil nur so eine Regierung auf breiter parlamentarischer Grundlage zustande gebracht werden konnte, weil die Parteien den Verfassungsbruch zur Ausschaltung des Nationalsozialismus, wie ihn Schleicher plante, entrüstet zurückwiesen, und weil er wohl auch selbst die Reichswehr nicht in inneren Kämpfen verschleißen wollte. Wie Hindenburg die Reichswehr für Schleichers Notstandsplan nicht freigab, so versagte er sich auch in Zukunft der Möglichkeit, die Reichswehr gegen den nationalsozialistischen Umsturz einzusetzen. Schon die Auswahl des Ministers BIomberg spricht dafür, daß ein Kampfkurs gegen den Nationalsozialismus nicht beabsichtigt war, andernfalls hätte eine entschlossenere Natur mit diesem Posten betraut werden müssen. BIomberg, zweifellos ein befahigter Offizier und wesentlich weniger konservativ als viele seiner Standesgenossen, war nach einer Tätigkeit als Chef des Truppenamtes (1927 - 1929) Wehrkreisbefehlshaber in Ostpreußen geworden, wo die SA im Grenzschutz stark vertreten war. Ebenso wie sein Stabschef, Oberst Reichenau, der dann Chef des Ministeramtes unter BIomberg wurde, hatte BIomberg sich in Ostpreußen dem Nationalsozialismus genähert, ohne daß man beide als entschiedene Parteigänger Hitlers bezeichnen könnte. BIomberg trat sein neues Amt an mit der Marschroute, erstens die Reichswehr als überparteiliches Machtmittel zu erhalten, zweitens die Wehrmacht durch Wehrhaftmachung des breiten Volkes zu untermauern und drittens die Reichswehr zu einem brauchbaren Instrument der nationalen Sicherheit auszubauen. Die Reichswehr dem Nationalsozialismus ausliefern wollte Blomberg gerade nicht; deswegen stellte er Anfang Februar 1933 fest, ein Herabsinken zur Parteitruppe hebe die Grundlagen auf, auf welchen die Soldaten stünden. In diesem Sinne begrüßte BIomberg in der ersten Kabinettsitzung am 30. Januar 1933 Hitlers Absicht, im Falle eines von der KPD ausgelösten Generalstreiks auf den Einsatz der Reichswehr im Innern zu verzichten. Diese Äußerung Blombergs richtig zu deuten ist schwierig. Auf der einen Seite wird darin seit langem eine Bestätigung der These gesehen, Hitler und die sog. konservativen Führungsschichten, in diesem Fall die Reichswehr, hätten ein 16'
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Bündnis geschlossen, eine Entente oder Koalition oder was man sonst für Namen dafür finden mag. Die Reichswehrführung habe, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, der NSDAP keine Hindernisse in den Weg gelegt, denn BIombergs Äußerung beinhalte, so heißt es, ein "Nichteinmischungsabkommen" , eine versteckte Begünstigung des nationalsozialistischen Umsturzes, sogar einen Eingriff in die Notstandsgewalt des Reichspräsidenten, weil BIomberg jeglichen inneren Einsatz der Reichswehr, auch einen solchen auf Befehl des Reichspräsidenten, ausgeschlossen habe. Nun wäre es natürlich denkbar, daß Hindenburg in der Tat die Reichswehr nicht einsetzen wollte und daß BIomberg das zum Ausdruck brachte; in diesem Fall hätte Blomberg mehr oder weniger unmißverständlich kundgetan, daß Hitler bei der Errichtung der Diktatur sich um die Reichswehr nicht zu kümmern brauche, weil sie ja doch nicht einschreiten werde. Andererseits ist dies aus mehreren Gründen ziemlich unglaubhaft. Erstens dürfte BIomberg, selbst wenn er annahm, Hindenburg werde nichts unternehmen, schwerlich so unbedarft gewesen sein, es Hitler auf die Nase zu binden und ihn damit praktisch zur Errichtung der Diktatur zu ermuntern. Zweitens muß man einmal genau zur Kenntnis nehmen, was BIomberg sagte und was er überhaupt ausdrücken konnte. Es spricht nichts gegen die Annahme, daß BIomberg eben das beabsichtigte, was er sagte: Die Reichswehr sollte auf seinen Befehl nicht gegen einen Generalstreik eingesetzt werden, sie sollte nicht zur nationalsozialistischen Parteitruppe verkommen und der Hitler-Bewegung nicht als Werkzeug für den Umsturz dienen. Mit einer Beschneidung der präsidialen Notstandsbefugnisse hat das gar nichts zu tun, und ebensowenig wurde ein Einschreiten gegen die Nationalsozialisten ausgeschlossen. Abgesehen davon, daß ein Minister über die Befugnisse des Staatsoberhaupts sowieso nicht befinden konnte, gab es nach den geltenden Gesetzen, die damals ja noch in Kraft standen, für den inneren Einsatz der Reichswehr verschiedene Möglichkeiten. Da der Reichswehrminister den Oberbefehl über die Streitkräfte ausübte, solange der Reichspräsident den Oberbefehl nicht selbst an sich zog, war für einen inneren Einsatz der Streitkräfte zunächst einmal der Minister zuständig, wobei er allerdings nicht willkürlich handeln durfte, sondern nur in bestimmten Fällen, namentlich auf Anfordern einer Landesregierung. Das hätte etwa für Preußen Bedeutung gewinnen können, wo Göring kommissarischer Innenminister war. Bei einem Generalstreik hätte die preußische Kommissariatsregierung Unterstützung durch die Reichswehr anfordern können, und dies schloß BIomberg aus. Ein völlig anderer Fall lag vor, wenn der Reichspräsident von seinen Notstandsbefugnissen Gebrauch machte. Er konnte dann verschiedene Maßnahmen ergreifen, insbesondere den militärischen Ausnahmezustand verhängen und Militärbefehlshaber einsetzen, wobei der Reichswehrminister schlicht übergangen werden konnte, wie es 1923 geschehen war, als dem Chef der Heeresleitung Seeckt die vollziehende Gewalt übertragen worden war. Über einen solchen Fall vermochte BIomberg schon deswegen nichts Bestimmtes auszusagen, weil Hindenburg in der Lage gewesen wäre, zur Bekämpfung kommunisti-
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scher Unruhen einen anderen Offizier zu benennen, gegebenenfalls sogar einen zivilen Kommissar, und weil Hindenburg sich überdies hätte entschließen können, gegen die Nationalsozialisten vorzugehen, etwa indem er Hammerstein die vollziehende Gewalt übertrug. Für das Verhältnis zwischen Reichswehr und Nationalsozialismus ergibt sich aus der genannten Äußerung BIombergs nur, daß er die Überparteilichkeit wahren wollte. Drittens kann BIomberg schon deswegen kein ,,Nichteinmischungsabkommen" mit Hitler geschlossen haben, weil die Möglichkeit eines militärischen Ausnahmezustands, auch gegen die Nationalsozialisten, mindestens bis zum Reichstagsbrand nicht völlig ausgeschlossen war. Wenn die früher erwähnte Angabe zutrifft, daß Papen und BIomberg in dieser Zeit an den militärischen Ausnahmezustand dachten, dann kann von einem verantwortungslosen Hineinstürzen in die Diktatur nicht die Rede sein. Es bleibt dann die Frage, wieso der militärische Ausnahmezustand nicht kam. Verschiedene Dinge mögen hierzu beigetragen haben: Erstens waren in Berlin die Überlegungen Pilsudskis bekannt, einen Zwischenfall herbeizuführen und anschließend militärisch gegen Deutschland vorzugehen. Am 6. März 1933 ließ Pilsudski die Garnison auf der Westerplatte, einer Landzunge vor Danzig mit polnischem Besatzungsrecht, vertragswidrig verstärken, um so den erwarteten Zwischenfall hervorzurufen. Unter diesen Umständen war es schwer zu verantworten, die Reichswehr im Innern festzulegen und anschließend polnischen Übergriffen hilflos ausgeliefert zu sein, und noch schwerer war es zu verantworten, gegen die Nationalsozialisten vorzugehen und damit den Grenzschutz, vor allem in Ostpreußen und Schlesien, zu schwächen. Zweitens war es ein geschickter Schachzug Görings, den Reichstagsbrand, ob er ihn nun selber veranIaßt hatte oder nicht, sofort den Kommunisten in die Schuhe zu schieben, denn dies gab den Nationalsozialisten nicht bloß Wahlhilfe, sondern brachte auch den Reichspräsidenten und Hitlers Regierungspartner in Zugzwang. Eine naheliegende Lösung konnte dann darin bestehen, den für notwendig erachteten Kampf gegen die Kommunisten und ihre unterstellte Umsturzbereitschaft von der HitlerBewegung, namentlich der SA, führen zu lassen und die Reichswehr zu schonen. So geschah es dann ja auch, und damit entfiel, drittens, die andere Lösung, durch einen militärischen Ausnahmezustand sowohl den Nationalsozialisten als auch den Kommunisten entgegenzutreten. Auf diese Lösung zu verzichten wird den Verantwortlichen umso leichter gefallen sein, als der gleichzeitige Kampf gegen die Radikalen von links und rechts schon zu Schleichers Zeiten als schwieriges Unterfangen gegolten hatte und seitdem nicht einfacher geworden war. Hindenburg hatte jedenfalls einen solchen Kampf schon früher nicht gewünscht, und er scheint ihn jetzt erst recht nicht gewünscht zu haben. Vielleicht hätten ein anderer Vizekanzler als Papen und ein anderer Reichswehrminister als BIomberg ihn eines Besseren belehren können, aber wie die Dinge lagen, war zumindest BIomberg dazu außerstande, da ihm die nötige Entschlossenheit zum Kampf gegen den Nationalsozialismus fehlte. Blomberg hat nicht mit Hitler paktiert, aber er hat sich, teils unter dem Zwang der Umstände, teils weil er den Nationalso-
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zialismus nicht rundweg ablehnte, mit der Errichtung der Diktatur abfinden können. 45 So wurde im Anschluß an den Reichstagsbrand kein militärischer Ausnahmezustand errichtet, vielmehr den nationalsozialistischen Partei truppen gewissermaßen der Kampf gegen die Kommunisten freigegeben. Reichenau mußte Anfang März den Befehlshabern die neue Lage erläutern, wobei er ausführte: ,,Erkenntnis notwendig, daß wir in einer Revolution stehen. Morsches im Staat muß fallen; das kann nur mit Terror geschehen. Die Partei wird gegen den Marxismus rücksichtslos vorgehen. Aufgabe der Wehrmacht: Gewehr bei Fuß. Keine Unterstützung, falls Verfolgte Zuflucht bei der Truppe suchen." Das beinhaltete nun in der Tat ein Abweichen von BIombergs ursprünglichem Kurs der strikten Überparteilichkeit und machte den Weg frei für die Errichtung der Diktatur. Die Befehlshaber nahmen dies mit Betroffenheit auf, wobei einige, darunter der spätere Feldmarschall Rundstedt, die Weisung bei der Weitergabe abschwächen wollten. General Liebmann tat dies mit den Worten, die Reichswehr stehe in Gefahr, ihre Vertrauensstellung im Volk nunmehr zu verlieren, und verwies zugleich darauf, die Reichswehr brauche auch die Volksteile, die jetzt verfolgt würden. Das war vornehm gedacht, konnte indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Reichswehr von da an auf dem Rückzug war. Je mehr Hitler sich im Zuge der Machtergreifung durchsetzte, umso weiter wich BIomberg zurück. Hatte er am 23. Februar 1933, vor dem Reichstagsbrand, in einer Ansprache noch gesagt: "Wir Soldaten stehen außerhalb des innerpolitischen Kampfes", so meinte er auf einer Befehlshaberbesprechung am 1. Juni: "Jetzt ist das Unpolitischsein vorbei und es bleibt nur eins: der nationalen Bewegung mit aller Hingabe zu dienen." In einer geheimen Anordnung BIombergs vom April 1934 hieß es, die Wehrmacht müsse im öffentlichen Leben mehr als bisher in Erscheinung treten, und zwar in dreifacher Hinsicht: als alleiniger Waffenträger der Nation, als im Sinne der Regierung Hitler absolut zuverlässig, als im nationalsozialistischen Denken planmäßig erzogen. In diesen wenigen Worten war eigentlich schon BIombergs ganzes Programm enthalten. Es gründete auf einer Einsicht, die Reichenau so umschrieb: "Selbst der verbohrteste Reaktionär wird heute nicht im Ernst erwarten, daß wir das Rad der Geschichte zurückdrehen . . . (Der ganze Staat) befindet sich in fester Hand ... Und da sollen wir mit unseren veralteten, über das ganze Land verstreuten sieben Divisionen als einzige eine Extratour 45 Zu Hindenburg Dorpalen, 425 ff. Zum Ermächtigungsgesetz H. Schneider, 426 ff. BIombergs Programm bei Vogelsang, Dokumente, 432 ff. Die Kabinettsitzung vom 30.1.1933 in Regierung Hitler I/l, 3. Zur Deutung Bracher I Schulz I Sauer III, 41 ff., 52 ff. K. -J. Müller, Armee, 31, 51 ff. Zum inneren Einsatz der Reichswehr die Verordnung des Reichspräsidenten über den Oberbefehl, 20.8.1919, sowie das Wehrgesetz von 1921; E. R. Huber, Dokumente III, 171 f., 176 ff. (§ 17). Die Einsetzung Seeckts a. a. 0.,286 ff., 330. Zur Westerplatte 1933 und den polnischen Absichten Th. Schieder, Handbuch VIII 1, 613. Wandycz, Twilight, 268 ff. Zur Kenntnis der polnischen Absichten in Berlin auch Denkschrift Bülows, 13.3.1933, bei Wollstein, Denkschrift. Vgl. ferner MGFA, Militärgeschichte IV, 13 ff., 20 ff.
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tanzen? Das können sich nur Narren einbilden! Wir sind gewohnt, nüchtern mit Tatsachen zu rechnen! ... Uns bleibt praktisch nur der Weg, aus den gegebenen Verhältnissen ... die Folgerungen zu ziehen." Diese Folgerungen zog Reichenau mit den Worten: "Hinein in den neuen Staat und dort die uns gebührende Position behauptet! "46 Das Behaupten der gebührenden Position bezog sich auf die Erhaltung der Reichswehr als einziger Waffenträger der Nation, wie BIomberg in der genannten Anordnung vom April 1934 sagte, und damit auf eine starke Stellung im Staat überhaupt. Diese Stellung war nie unangefochten, vor allem nicht bis ins Jahr 1934, als die SA durch das Aufsaugen des Stahlhelms immer mehr anschwoll und Röhm die Absicht bekundete, den "grauen Fels" der Reichswehr in der "braunen Flut" der SA untergehen zu lassen. Zwar versuchte die Reichswehr, unterstützt von Hitler, bis ins Frühjahr 1934 die SA unter ihre Aufsicht zu bekommen, indem die SA in allen militärischen Fragen dem Reichswehrrninisterium unterstellt wurde, ferner lediglich - durch abgestellte Reichswehroffiziere angeleitet - eine vormilitärische Ausbildung durchzuführen und der Reichswehr eine Personalreserve zu stellen hatte, schließlich die Mitwirkung der SA im Grenzschutz geregelt wurde. Doch fand sich Röhm mit der schleichenden Kaltstellung der SA nicht ab, sondern begann, nachdem Hitler im Februar 1934 Röhms Ansprüche abgelehnt und sich eindeutig auf die Seite der Reichswehr gestellt hatte, in großem Umfang Waffen für die SA zu beschaffen. Ob freilich BIomberg und Reichenau wirklich einen Putschversuch der SA fürchteten, als sie Hitler und der SS bei ihrem Vorgehen gegen die SA-Führung im Juni 1934 Hilfestellung leisteten, mag fraglich sein. Obwohl die Stimmung durch allerlei Gerüchte angeheizt wurde, dürfte die Reichswehrführung darüber im klaren gewesen sein, daß Röhm vielleicht einen Aufruhr anzetteln, aber nicht leicht zu einem erfolgreichen Ende bringen konnte. Eine andere und wohl größere Gefahr bestand darin, daß Röhm Druck auf Hitler auszuüben und ihn zu einer Berücksichtigung seiner Wünsche zu zwingen vermochte. So werden für die Entscheidung BIombergs und Reichenaus weniger die Putschangst als vielmehr andere politische Beweggründe maßgeblich gewesen sein. Seit Mitte 1933 rief Hitler gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber der Partei mehrfach das Ende der nationalsozialistischen Revolution aus, so daß die im Volk wie bei der Reichswehr verbreitete Ansicht, der Diktator stelle im Vergleich mit den radikalen Elementen seiner Bewegung einen gemäßigten und - bis zu einem gewissen Grad vertrauenswürdigen Staatsmann dar, des Anscheins der Glaubhaftigkeit nicht entbehrte. Blomberg und Reichenau versuchten deshalb, diesen vermeintlich 46 Die Äußerungen Reichenaus in einer Befehlshaberbesprechung vom 1. 3. 1933 (nach anderen Angaben sprach dort nicht Reichenau, sondern BIomberg selbst) bei Krausnick, Widerstand, 318, 352. Vgl. Bracher / Schulz / Sauer III, 68. BIomberg am 23.2. 1933 bei Cuno Horkenbach, Das Deutsche Reich von 1918 bis heute, Jahrgang 1933, 69. BIomberg am 1.6.1933 bei Jacobsen / Jochmann. BIomberg am 21.4.1934 bei K.-J. Müller, Heer, 603. Zu Reichenau Röhricht, 42 ff.
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maßvolleren Staatsmann gegen die revolutionären Teile seiner Bewegung zu unterstützen, ihn dadurch der Reichswehr zu verpflichten, ja ihn für die Reichswehr zu vereinnahmen. In diesem Sinn erklärte Reichenau Ende 1935, damals bereits nicht mehr Chef des Ministeramts, sondern Korpskommandeur, die Wehrmacht sei die "einzige, letzte, größte Hoffnung des Führers". Wenn das zutraf - und zunächst schien manches dafür zu sprechen - , dann war die Reichswehr tatsächlich die stärkste Macht im Staat, an der Hitler nicht vorbeigehen konnte. Reichenau brachte damit nachträglich das zum Ausdruck, was das Ministerium zu seiner Zeit angestrebt hatte und nach seinem Ausscheiden weiter anstrebte. Es war dies eine Politik, die wohl Hitler an die Streitkräfte, nicht jedoch die Streitkräfte an die nationalsozialistische Bewegung binden sollte. Deswegen sagte Reichenau bei derselben Gelegenheit, der revolutionäre Geist des Nationalsozialismus habe in der Truppe nichts zu suchen, vielmehr müßten die ins Heer eintretenden Nationalsozialisten erst einmal zu Soldaten gemacht werden. "Wir haben es nicht nötig, den Soldaten zum Nationalsozialisten zu machen ... Wir sind Nationalsozialisten auch ohne Parteibuch ..." Gemeint war damit, daß die Streitkräfte selbst definierten, was Nationalsozialismus sei, und sich dies nicht von der Bewegung vorschreiben ließen. Das lief darauf hinaus, nicht der Bewegung den Vorrang im neuen Staat zu überlassen, sondern der Reichswehr und dem Geist des Soldatenturns. In diesem Sinn hatte das Militärwochenblatt zu Hitlers Geburtstag am 18. April 1934 geschrieben, im nationalsozialistischen Deutschland vollziehe sich die Übertragung der frontsoldatischen Wertung und Sittlichkeit auf das gesamte öffentliche Leben. Die Wehrmacht sei das konzentrierte Vorbild der von allen Deutschen geforderten soldatischen Haltung und das Kernstück der nationalsozialistischen Staatlichkeit. Die Reichswehrführung betrieb also eine Art Umarmungstaktik, nicht gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung, sondern gegenüber Hitler selbst, der gewissermaßen von der Bewegung abgespalten wurde. Auf diese Weise sollte er dann umso stärker auf die Reichswehr angewiesen sein, ihren Rang als wichtigster Machtfaktor im Staat anerkennen und auf ihre Mitwirkung in politischen Dingen nicht verzichten können. Zugleich wurde der geistige Inhalt der nationalsozialistischen Revolution umgedeutet: Nicht ein Sieg des Nationalsozialismus gegen hergebrachte soldatische Werte habe sich vollzogen, sondern das Soldatenturn selbst sei zum Vorbild der Nation geworden und könne demnach eine bevorzugte Stellung beanspruchen. Zugunsten dieser Umarmungstaktik ermöglichte die Reichswehrführung Hitlers Vorgehen gegen den angeblichen Röhmputsch, allerdings ohne Kenntnis der Pläne im einzelnen. Zugunsten dieser Taktik nahm sie nachträglich in Kauf, daß dabei Schleicher und andere Regimegegner ermordet worden waren, obwohl verschiedene hohe Offiziere eine gerichtliche Untersuchung forderten. Zugunsten jener Taktik ließ schließlich BIomberg die Reichswehr auf Hitler vereidigen, was immerhin dazu führte, daß der Diktator am 17. August 1934 die oft genannte Zwei-Säulen-Theorie verkündete, wonach die Staatsführung politisch von der Säule der Bewegung und militärisch von der
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Säule der Wehrmacht getragen werde. BIomberg mochte sich dies als Erfolg anrechnen, doch blieb der Erfolg zwiespältig. Schon zum alleinigen Waffenträger wurde die Reichswehr nicht, da BIomberg im September 1934 zugestehen mußte, daß innerhalb der SS (mittlerweile gut 200 000 Mann) eine bewaffnete, stehende Verfügungstruppe in Stärke von drei Regimentern aufgebaut wurde. Sodann hörten trotz der Ausschaltung der SA die Spannungen und Reibereien zwischen der Bewegung und den Streitkräften nicht auf, was Hitler Gelegenheit gab, weiterhin beide gegeneinander auszuspielen. Halder, damals Oberst und Stabschef einer Division, war im August 1934 sicher, "daß die Röhmrevolte nur eine, und vielleicht nicht die gefährlichste Eiterbeule war, die Deutschlands kranker Körper trägt." Dieser Offizier bewies schon jetzt seinen Weitblick, wenn er feststellte: "Eine die Kräfte richtig wertende, vorausschauende und ihr Schwergewicht geschickt geltend machende Vertretung der Armee wird vorbeugend viel tun können, was uns später die schreckliche Rolle des bewaffneten Friedensstifters im eigenen Volke ersparen kann." Was Halder getan hätte, wenn er in verantwortlicher Stellung gewesen wäre, läßt sich nicht sagen. Blomberg jedenfalls blieb bei seiner Umarmungstaktik, was ihn Anfang 1935 zu einer scharfen Zurückweisung von Gerüchten über einen militärischen Ausnahmezustand oder eine Militärdiktatur veranlaßte, Gerüchte, die wohl weniger in den Streitkräften selbst umliefen, als vielmehr von außen an sie herangetragen wurden. Hitler bestätigte zur selben Zeit noch einmal sein Vertrauen zur Reichswehr und verschaffte damit BIomberg eine vordergründige Rechtfertigung. 47 Es gehörte zu BIombergs Taktik, die Reichswehr, wie er 1934 anordnete, als im Sinne der Regierung Hitler absolut zuverlässig, als im nationalsozialistischen Denken planmäßig erzogen auftreten zu lassen. Natürlich besaß der Versuch, Hitler an die Reichswehr zu binden, nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Streitkräfte nicht in glatter Ablehnung des Nationalsozialismus verharrten, sondern sich dem Zeitgeist öffneten und zugleich, wie Reichenau sagte, die einzige, letzte, größte Hoffnung des Führers waren. Es kam hinzu, daß mit der 1933 beginnenden Ausweitung der Reichswehr und später mit der allgemeinen Wehrpflicht ohnedies ein Zustrom an jungen Soldaten einsetzte, die in mehr oder minder großem Ausmaß mit nationalsozialistischem Gedankengut vertraut waren, so daß die Streitkräfte sich davon nicht vollständig absperren konnten. Was zunächst die politische Schulung der Streikräfte betrifft, so wurde sie seit 1934 in einer Anzahl von Erlassen vorgeschrieben und geregelt. Doch besagt das bloße Vorhandensein von Erlassen noch wenig über die Wirklichkeit; persönliche und andere Dinge sind hier viel wichtiger. Die älteren und höheren Offiziere, die 47 Zur SA-Frage MGFA, Militärgeschichte IV, 60 ff. Bracher / Schulz / Sauer I1I, 255 ff., 324 ff. Zu Reichenau K.-J. Müller, Armee, 34. Ferner Militär-Wochenblatt, 118. Jahrgg. 1933/34, Nr. 39; auch bei K.-J. Müller, Armee, 168 f. Zur Zwei-Säulen-Theorie Krausnick, Widerstand, 325. Zur SS und zu Halder sowie zu den innenpolitischen Spannungen K.-J. Müller, Armee, 209 ff., 229 ff., 233 ff.
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ihre Ausbildung noch in der Republik, teilweise sogar im Kaiserreich erhalten hatten, waren überhaupt kein geeignetes Objekt für politische Unterweisung. Soweit sie sich zum Nationalsozialismus bekannten oder mit der Diktatur abfanden, taten sie dies auf Grund anderer Beweggründe als des politischen Unterrichts, den sie im übrigen eher erteilt als genossen haben dürften. Viele davon waren der nationalsozialistischen Gedankenwelt entweder gar nicht oder nur beschränkt zugänglich. Hammerstein-Equord und Adam wurden zwar Anfang 1934 bzw. Ende 1933 als Chef der Heeresleitung bzw. Chef des Truppenamtes durch die Generale Fritsch und Beck ersetzt. Doch wird man die Ernennung Adams zum Kommandeur der Wehrmachtakademie 1935 wohl so zu verstehen haben, daß dort Sachverstand und selbständiges Denken den Vorrang vor weltanschaulicher Beschränktheit haben sollten. Fritsch wiederum begegnete zwar dem Nationalsozialismus nicht mit derselben Ablehnung wie Hammerstein, hielt aber von einer Anbiederung an den Nationalsozialismus gar nichts, sondern suchte, anders als Blomberg, das Heer vom Parteieinfluß möglichst freizuhalten. Beim Chef der Marineleitung, Admiral Raeder, verhielt es sich nicht viel anders. Der Personenkreis, bei welchem die politische Unterweisung eine nennenswerte Rolle spielen konnte, waren die jungen Offiziere und alle übrigen Soldaten. Nach einigen Jahren kamen die Rekruten jedoch allesamt aus der Hitler-Jugend oder dem nationalsozialistischen Bildungswesen, so daß ihnen der politische Unterricht bei den Streitkräften nicht mehr allzu viel Neues geboten haben dürfte. Wie nicht anders zu erwarten, betrachtete die Truppe den politischen Unterricht vielfach als Erholungspause. Die Ausbilder und Vorgesetzten taten augenscheinlich das, was Reichenau empfohlen hatte und was für Streitkräfte ja auch ganz selbstverständlich ist: Sie versuchten aus den jungen Männern erst einmal Soldaten zu machen. Die Begeisterung für den Nationalsozialismus scheint sich dabei in Grenzen gehalten zu haben; jedenfalls bemängelte Reichenau noch 1937, daß Rekruten aus der NSDAP oder der SA von ihren Vorgesetzten gehänselt würden. Einen aufschlußreichen Erlaß gab der neue Oberbefehlshaber des Heeres, Brauchitsch, im Dezember 1938 heraus. Es hieß dort, das Offizierkorps dürfe sich an Reinheit und Echtheit nationalsozialistischer Weltanschauung von niemandem übertreffen lassen. Brauchitsch fühlte sich bemüßigt, dies zu betonen, weil es in der Vergangenheit schon oft verlangt und nie zureichend beachtet worden war. Das schließt nicht aus, daß die Masse der jüngeren Offiziere Hitler bewunderte, aber zur Festigung des nationalsozialistischen Weltbildes hatte der politische Unterricht offenbar kaum beigetragen. Selbst Brauchitsch legte darauf auch keinen gesteigerten Wert, denn in derselben Anordnung hieß es, der Offizier solle mit seinen Leuten nicht viel über Politik reden, er solle nur auf Fragen antworten können. 48 48 Zur Wirklichkeit des politischen Unterrichts Messerschmidt, in Diktatur, 468. Reichenau 1937 nach K.-J. Müller, Heer, 620. Brauchitsch 1938 bei Meier-Welcker, Offiziere, 274 ff. (18.12.1938).
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Was sodann die Zuverlässigkeit der Reichswehr im Sinne der Regierung Hitler betrifft, wie BIomberg es verlangte, so suchte der Reichswehrminister diese Zuverlässigkeit zu erweisen, indem er im Zuge der Umarmungstaktik sich der wohl abstoßendsten Seite des Nationalsozialismus näherte, der Judenfeindschaft. Einen gewissen Antisemitismus hat es in der Reichswehr ebenso gegeben wie in der Bevölkerung; allerdings war er weit entfernt von den radikalen Formen, die er bei Hitler und Himmler annahm, auch scheint sich aus eigenem Antrieb nur eine kleine Minderheit der Soldaten wie der Bevölkerung dazu bekannt zu haben. Immerhin war sogar der Chef der Heeresleitung, General Fritsch, nicht davon frei, denn gemäß eigenem Zeugnis war er nach dem Ersten Weltkrieg zu der Auffassung gelangt, der Wiederaufstieg Deutschlands verlange auch den Kampf gegen die Juden. Für einen so klugen und fähigen Offizier wie Fritsch wirken diese Auslassungen auf den ersten Blick etwas unverständlich. Um sie einigermaßen zu erklären, wird es sich empfehlen, die Meinung eines unverdächtigen Beobachters vorzuführen, des britischen Botschafters in Berlin Rumbold, der sich anläßlich des Judenboykotts von 1933 einen Reim auf die Haltung der Bevölkerung zu machen versuchte. Wiewohl er feststellte, die Bevölkerung habe den Boykott nicht unterstützt, fiel ihm doch eine verbreitete Gleichgültigkeit oder ein Mangel an Sympathie für die Juden auf. Hierüber berichtete Rumbold am 13. April 1933 dem britischen Außenminister: ,,Es war vielleicht ein unglücklicher Umstand, daß Präsident Wilsons ,Vierzehn Punkte' und die Waffenstillstands-Verhandlungen der deutschen Öffentlichkeit die Auffassung vermittelten, daß der Sturz der Hohenzollern-Monarchie und die Gründung einer demokratischen Regierung dem Wunsch der alliierten Regierungen entspreche. In der Hoffnung auf mildere Bedingungen wurden die Linksparteien von der großen Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit ermutigt, eine Republik zu gründen und eine Verfassung anzunehmen, die zu weit in die Richtung eines exzessiven Liberalismus ging. Entwicklungen in den folgenden vierzehn Jahren überzeugten die Wählerschaft, daß der Wechsel zur Demokratie die siegreichen Mächte nicht veraniaßt hatte, ihre Haltung wesentlich zu ändern. Im Gegenteil: Es scheint, daß die Erfüllungspolitik, die Juden wie Dr. Rathenau einleiteten, die Alliierten lediglich ermutigte, auf der Erfüllung unmöglicher finanzieller Bedingungen zu bestehen. Der langsame Fortgang der LocarnoPolitik und in ihrem Rahmen das Ausbleiben einer sofortigen Räumung des Rheinlands und der Behebung anderer dringlicher Beschwerdepunkte schlugen auf die Linksparteien und vor allem auf die jüdische Presse zurück, die diese Politik leidenschaftlich unterstützt hatte. Nach der Auffassung der jüngeren Generation war die Annahme des Young-Planes 1929 eine unverzeihliche Sünde. Politisch erwies sie sich als ein Fehler, von dem sich die Linksparteien und ihre jüdische Presse niemals wieder erholten. Im Triumph über ihre neu errungene Freiheit öffneten die Linksparteien nach dem Krieg jüdischen Einwanderern aus der Ukraine, Galizien und Polen ihre Grenzen. Ein höchst unerwünschter Typ von Juden gelangte in die größeren
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Städte, und mit der bemerkenswerten Anpassungsfähigkeit ihrer Rasse fanden sie einen Weg in die Stadtverwaltungen und selbst in die Provinzialverwaltungen. In den Jahren 1920-1925 kamen in der Berliner Stadtverwaltung alle Arten unehrenhafter Geschäfte ans Tageslicht ... Die Anhänger Hitlers und die Deutschnationalen haben künftig die Fälle Sklarek und Barmat - um nur die zwei bekanntesten zu erwähnen - den Wählern als klassische Beispiele der Korruption vorgehalten, die die Juden mit der Duldung käuflicher Linkspolitiker eingeführt und praktiziert hätten. Der bemerkenswerte Erfolg des jüdischen Elements nach dem Krieg in allen intellektuellen Bereichen in Deutschland weckte Eifersucht und Feindseligkeit. Solange jedoch Stellungen in anderen Berufen zu erlangen waren, gab es keinen ernsthaften öffentlichen Protest. Die juristischen und medizinischen Berufe wurden von den Juden überschwemmt, und die intellektuelle Überlegenheit der jüdischen Studenten und Schüler wurde eindeutig ... Es kann nicht geleugnet werden, daß übertriebene Auffassungen von der Freiheit des Theaters und des Films nach dem Krieg eine gewisse Zügellosigkeit hervorbrachten und daß diese Zügellosigkeit auf jüdischen Einfluß zurückgeführt werden konnte, speziell auf den Einfluß der Nachkriegseinwanderer, die oben erwähnt wurden. Es ist nicht nötig, ausführlich auf die finanziellen Erfolge der Juden in Deutschland nach dem Krieg einzugehen. Alle Banken ... fielen im Zuge der Inflation und Deflation in immer stärkerem Maß in ihre Hand. Der deutsch-jüdische Bankier schien sich allgemein an der finanziellen Not des Landes zu mästen ... Die öffentliche Meinung in diesem Land setzt sich" (sc.in der Regel) "langsam in Bewegung, und es ist unwahrscheinlich, daß irgendeine der erwähnten Ursachen zu einem Ausbruch der Gefühle des Volkes geführt hätte, wäre Hitler nicht auf der Bühne erschienen ... Es ist möglich, daß Hitler ohne die Wirtschaftskrise und die daraus resultierende Welle der Arbeitslosigkeit seine Doktrin vergeblich gepredigt hätte. 1930 und in den folgenden Jahren wurde der Boden empfanglicher für antijüdische Propaganda. Es war leicht, Arbeiter, und noch leichter, Studenten zu überzeugen, daß sie ihres Lebensunterhalts von ausländischen Parasiten beraubt wurden ... Wenn ich Nachdruck auf die Unpopularität der Juden und die Gründe für diese Unpopularität in diesem Lande legte, so geschah dies, um bis zu einem gewissen Grad den gegenwärtigen Ausbruch an Gewalttätigkeit zu erklären. Es geschah nicht, um in irgendeiner Weise die begangenen Gewalttaten aufrechnen zu können. Die Sünden einer relativ begrenzten Zahl von Personen, meistens Einwanderern, sind am fleißigen und wertvollen Teil der jüdischen Bevölkerung vergolten worden." Soweit Rumbold. Was er beschrieb, wird für viele Deutsche gültig gewesen sein, zumal sie schwerlich über höhere Beurteilungsmaßstäbe verfügen konnten als dieser kenntnisreiche und gebildete Ausländer. Seine Erläuterungen lassen
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eher einsichtig werden, warum beim Volk wie bei den Streitkräften die Judenfeindschaft zwar nicht allgemein verbreitet war, aber doch die Neigung bestand, Maßnahmen gegen die Juden ohne deutlichen Widerstand hinzunehmen. Dabei ist noch einmal festzuhalten, daß die Endziele des nationalsozialistischen Antisemitismus nicht bekannt waren, auch Rumbold nicht, der allenfalls damit rechnete, Hitler wolle die Juden nach Möglichkeit aus Deutschland vertreiben. Einer rechtlichen Benachteiligung der Juden paßten sich freilich auch die sog. konservativen Führungsschichten an, darunter die Reichswehr. Wirtschaftsminister Schacht protestierte 1935 bei Hitler gegen die Willkürmaßnahmen der Gestapo und forderte einen verbindlichen Rechtsschutz für alle Bürger. In Hinblick auf die Juden meinte er: "Man stempele die Juden in jedem gewünschten Maße zu Einwohnern minderen Rechtes durch entsprechende Gesetze, aber für die Rechte, die man ihnen lassen will, gewähre man ihnen staatlichen Schutz gegen Fanatiker und Ungebildete." Eine rechtliche Grundlage für die Behandlung der Juden schien 1935 mit den Nürnberger Gesetzen erreicht zu werden, die den Juden die staatsbürgerliche Gleichberechtigung nahmen, rassische Mischehen verboten und den Juden das Zeigen der deutschen Fahne untersagten; doch blieb es in Zunkunft nicht bei solchen erst vorläufigen Einschränkungen. Die Reichswehrführung schwenkte 1934 auf eine Benachteiligung der Juden um, als sie durch Erlaß BIombergs vom 28. Februar den sog. Arierparagraphen aus dem Berufsbeamtengesetz vom April 1933 auf die bewaffneten Streitkräfte übertrug. Demnach durften Juden künftig nicht mehr Soldaten werden; jüdische Soldaten waren zu entlassen (vorerst ohne die Kriegsteilnehmer). Dies entsprang allerdings nicht einer selbständigen Judenfeindschaft bei der Reichswehrführung, denn noch im Dezember 1933 hatte sie ein Vorgehen gegen die Juden unter den Soldaten abgelehnt. Vielmehr stellte es einen Zug in Blombergs Umarmungstaktik gegenüber Hitler dar, einen Zug, welcher angesichts der Angriffe von Partei und SA auf die Streitkräfte deren Zuverlässigkeit und Unentbehrlichkeit für Hitler unter Beweis stellen und so dem Kanzler die nötige Standhaftigkeit gegenüber der SA geben sollte. Die Entlassung von rund 70 jüdischen Soldaten stieß bei ihren "arischen" Kameraden auf Betroffenheit, die immerhin zeigt, daß der persönliche Zusammenhalt der Streitkräfte stärker war als rassische Vorurteile, doch ließ die Truppe die politische Entscheidung mehr oder weniger unwillig über sich ergehen. Ein jüdischer Leutnant wandte sich an einen früheren Vorgesetzten mit den bewegenden Worten: "Daß wir Deutschland nicht mehr dienen dürfen, empfinden wir am wehesten. Und obgleich das Leben nun nicht mehr wertvoll erscheint, nachdem man uns diese Berechtigung nahm, sind wir zu jung, zu sehr Offizier und zu stolz, um zu zerbrechen. Vielleicht braucht uns Deutschland später doch einmal, dann sind wir da." Der angesprochene Vorgesetzte war der damalige Oberst und Stabschef einer Division, Erich von Lewinski, Sohn eines preußischen Generals polnischer Abstammung und auf Grund einer Adoption Träger des Namens Manstein, der als einer der besten Köpfe des Heeres galt. Manstein
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protestierte schriftlich bei Generalstabschef Beck unter dem Gesichtspunkt,"ob es mit der Ehre der Armee vereinbar ist, Kameraden nicht die Treue zu halten, um politischen Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen." Manstein hatte keine Einwände gegen eine Ausschaltung von Juden aus anderen Berufen (man erinnert sich an Rumbold), aber er meinte, ein Soldat, auch ein jüdischer, der durch seinen Eid sein ganzes Leben dem Vaterland geweiht habe, könne unmöglich nicht als vollwertiger Deutscher angesehen werden. "Sie haben ihre arische Gesinnung unter Beweis gestellt, was viele andere trotz arischer Großmutter nicht getan haben." Darüber hinaus warnte Manstein weitblickend vor den politischen Folgen: "Wird, wenn die Armee heute dem Geschrei der Hetzer nachgibt, irgendein Erfolg erreicht? Nein! Wenn wir heute die jungen Nachkriegssoldaten opfern, wird die Hetze auch nicht einen Tag nachlassen ... Geben wir heute einen kleinen Teil der Unseren preis, so werden die Leute morgen die Köpfe anderer fordern! Einen politischen Erfolg wird unser Opfer nicht haben!" Manstein sollte später recht behalten. Für den Augenblick jedoch erreichte er nichts; politische Taktik wurde über soldatische Haltung gestellt trotz der berechtigten Mahnung, die soldatische Haltung werde selbst darunter leiden. Wie Manstein sagte: ,,Es bleibt aber stets eine moralische Schuld, die wie jede Schuld einmal bezahlt werden wird."49 Vorerst allerdings trat dies nicht in Erscheinung. Nach der Entmachtung der SA konnte sich die Reichswehr mit Nachdruck der Aufgabe widmen, die sie seit Jahren herbeigesehnt hatte: dem Aufbau von Streitkräften, die ein brauchbares Instrument der nationalen Sicherheit darstellten und in Zukunft auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhen sollten, wie Hitler Anfang Februar 1933 angekündigt hatte. Kurz zuvor hatte BIomberg vor den Reichswehrbefehlshabern geäußert, die Genfer Abrüstungskonferenz, die am 2. Februar 1933 wieder eröffnet worden war, werde wahrscheinlich dramatisch oder in der Stille zerplatzen. BIomberg sagte nicht, daß er dies selbst herbeiführen wolle, aber ebenso wie Außenminister Neurath war er entschlossen, die zu Zeiten Schleichers begonnene Linie der deutschen Militärpolitik fortzusetzen, d. h. gemäß dem sog. Umbauplan von 1932 eine neue Heeresstruktur mit einer kurzdienenden Miliz einzuführen. Der deutsche Botschafter bei der Abrüstungskonferenz, Nadolny, beschrieb die deutsche Marschroute so: "Die Hauptaufgabe unserer nunmehr beginnenden Konferenzarbeit besteht darin, gegenüber der von den Gegnern für Deutschland aufgestellten These ,Gleichberechtigung für Deutschland, aber keine Aufrüstung' die Möglichkeit der Ausführung unserer Um- und Aufrüstungsabsichten zu erreichen. Diese Möglichkeit läßt sich auf zwei Wegen verwirklichen: erstens außerhalb der Konvention durch Scheitern der Konferenz und eigenmächtige Rücknahme unse49 Zu Fritsch dessen Privatbrief vom 11.12.1938 bei N. Reynolds, Brief, 370 f. Rumbold in DBFP, Sero 2, Bd. 5, 38 ff. Dazu die deutsche Übersetzung in J. und R. Becker, Machtergreifung, 232 ff. Zu Schacht dessen Denkschrift für Hitler über Fragen der Innenpolitik, 3.5.1935, bei Rugel Schumann, Dokumente I, 108 f. Zum Arierparagraphen und zu Manstein K.-J. Müller, Heer, 592 ff. Ferner Castellan, 430. K.-J. Müller, Armee, 57 ff.
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rer Rüstungsfreiheit, zweitens im Rahmen einer allgemeinen Konvention, in der uns die Befugnis zu den von uns beabsichtigten militärischen Maßnahmen zugestanden wird." Das hieß, auf einen kurzen Nenner gebracht, daß Deutschland den Umbauplan auf jeden Fall durchführen wollte, wenn nicht im Rahmen internationaler Übereinkunft, dann ohne sie. Den zweiten Fall hat BIomberg offenbar von vornherein erwartet. Das Risiko schätzte er, ebenso wie Neurath, als verhältnismäßig gering ein, da die Grundzüge des Umbauplans noch unter Brüning von Briten und Amerikanern befürwortet worden waren, so daß ein deutscher Alleingang allenfalls bei Frankreich auf Widerstand stoßen konnte. Diese Aussicht beunruhigte allerdings Hitler. Schon Anfang Februar 1933 hatte er gemeint: "Gefahrlichste Zeit ist die des Aufbaus der Wehrmacht. Da wird sich zeigen, ob Frankreich Staatsmänner hat; wenn ja, wird es uns Zeit nicht lassen, sondern über uns herfallen (vermutlich mit Osttrabanten)." Während BIomberg und Neurath im Mai 1933 bereit waren, die Verhandlungen auf der Abrüstungskonferenz einzustellen, scheute Hitler davor zurück und suchte durch eine Friedensrede vor dem Reichstag am 17. Mai die Stimmung im Ausland zu beeinflussen. Noch Ende September erklärte er Neurath, es sei auf alle Fälle wünschenswert, eine Abrüstungskonvention zustande zu bringen, selbst wenn dabei nicht alle deutschen Wünsche erfüllt würden. Die vorsichtige Zurückhaltung Hitlers schien zunächst die bei hohen Offizieren wie bei Regierungsmitgliedern verbreitete Ansicht zu bestätigen, man dürfe die Andeutungen des Kanzlers über kriegerische Absichten nicht allzu ernst nehmen; das alte Sprichwort, daß nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird, schien auch hier zuzutreffen. Darüber hinaus vermochten Neurath und BIomberg die ersten außenpolitischen Gehversuche Hitlers noch weitgehend unter Kontrolle zu halten; manche Einzelentscheidungen im Umkreis der Genfer Verhandlungen fielen hinter seinem Rücken oder gegen seine erklärte Absicht. Die Einzelheiten dieser Genfer Verhandlungen sind hier ziemlich belanglos, da Blomberg und Neurath nie die Absicht hatten, hinter den Umbauplan zurückzugehen oder Kompromisse mit wesentlichen Abstrichen zu schließen. Es sei nur beiläufig erwähnt, daß Frankreich einen Plan seines Luftfahrtministers Cot vorlegte, wonach die Heeresstruktur in den europäischen Ländern angeglichen werden sollte, und Britannien einen Plan unter dem Namen seines Premierministers Mac Donald, der Zahlenverhältnisse für die Streitkräfte der europäischen Länder nannte. Beide Pläne enthielten noch Benachteiligungen Deutschlands. Ob sie hätten ausgeräumt werden können, ist fraglich, doch kann die Frage auf sich beruhen, da man in Deutschland auf weiteres Feilschen keinen Wert mehr legte. Anfang Oktober 1933 einigten sich Hitler, BIomberg und Neurath, die Verhandlungen abzubrechen. Am 14. Oktober trat Deutschland aus der Abrüstungskonferenz sowie dem Völkerbund aus.Hitler konnte des Beifalls seiner Minister gewiß sein, wenn er ausführte: "Der Welt wird ein Dienst geleistet, wenn der Völkerbund, dessen Errichtung zuletzt nur als eine gegen Deutschland gerichtete Maßnahme gedacht war, allmählich zum Einschlafen dadurch gebracht wird, daß er seine Unfähigkeit beweist, die ihm vorgelegten Probleme zu lösen."5o
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Wiewohl Blomberg ursprunglich den Umbauplan hatte durchführen wollen, scheint mit dem Scheitern der Genfer Verhandlungen der Gedanke aufgekommen zu sein, darüber hinauszugehen und das Heer auf eine völlig neue Grundlage zu stellen. Hitler äußerte schon im Mai 1933 die Hoffnung, die deutsche Heeresstärke von den im Mac Donald-Plan vorgesehenen 200 000 Mann auf 300 000 erhöhen zu können. Nach dem Auszug aus dem Völkerbund sprach Hitler gegenüber dem britischen Botschafter am 24. Oktober wieder von den 300 000 Mann, die nunmehr eine einjährige Dienstzeit haben sollten, was dem Umbauplan nicht entsprach, der für die Miliz eine kürzere Dienstzeit vorgesehen hatte. Im Reichswehrministerium waren solche Dinge erwogen, aber bislang nicht entschieden worden. Noch im November hielt das Ministerium am Umbauplan fest, doch muß Anfang Dezember die Entscheidung für die 300 000 Mann gefallen sein, entweder auf Drängen Hitlers oder weil BIomberg sich aus eigenem Antrieb den Plan zu eigen machte. Eine Denkschrift des Truppenamts, nunmehr unter General Beck, stellte am 14. Dezember 1933 fest, die militärpolitische Lage verlange eine rasche Beseitigung des Zustands völliger Wehrlosigkeit; der Angriff müsse für die Nachbarn zu einem Risiko werden. Das Friedensheer, also das stehende Heer, sei so zu bemessen, daß das aus ihm zu mobilisierende Kriegsheer einen Verteidigungskrieg nach mehreren Fronten mit einiger Aussicht auf Erfolg aufnehmen könne. Zu diesem Zweck sollte das, was bislang als Kriegsheer geplant war, also die bekannten 21 Divisionen, als Friedensheer aufgestellt werden; das waren die besagten 300 000 Mann. Die Masse der Soldaten - knapp 200 000 Mann - sollte ein Jahr lang dienen; nach einer Übergangsfrist mit Freiwilligenmeldung sollte ab Herbst 1934 eine allgemeine Dienstpflicht eingeführt werden, also die Wehrpflicht. Der Aufbau sollte vier Jahre dauern und der Grenzschutz solange noch erhalten bleiben; nach vollendetem Aufbau konnte das Kriegsheer über 60 Divisionen umfassen. Die entscheidende Neuerung hierbei war, außer der Verstärkung des Friedensheeres, die in Aussicht genommene allgemeine Wehrpflicht. Die organisatorischen Voraussetzungen hierfür waren auf der Grundlage des Umbauplans im Fruhjahr 1933 geschaffen worden, als man in jedem der sieben Wehrkreise, die den sieben Infanteriedivisionen des Reichsheeres entsprachen, je drei Wehrgauleitungen errichtet hatte. Die Organisation für das 21-DivisionenKriegsheer schimmert hier durch; sie ließ sich ohne Mühe für das 21-DivisionenFriedensheer übernehmen. Dieser Organisation oblag, wie allen derartigen Einrichtungen, die Bereitstellung und Zuführung des Ergänzungsbedarfs an Personal und Material für die in ihren Bezirken aufzustellenden Einheiten und Verbände. Die personelle Ergänzung hatte im Umbauplan noch auf der Freiwilligkeit beruht, doch wären wegen der geplanten Miliz jährlich 85 000 Rekruten einzustellen gewesen. Mit den gut 200 000 Rekruten, die bei dem neuen Friedensheer auf 50 BIomberg bei Vogelsang, Dokumente, 432 ff. (3.2.1933). Nadolny nach M. Geyer, Aufrüstung, 310, Anm. 6. Zu Hitler Vogelsang, Dokumente, 434 f. (3.2.1933). ADAP, Sero C, Bd. l/II, 868 (30.9.1933),905 ff. (13./14.10.1933). Ferner MGFA, Weltkrieg I, 397 ff., 571 ff.
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Grund der Wehrpflicht alljährlich anfallen sollten, konnten die einzelnen Geburtsjahrgänge, die rund 300 000 junge Männer umfaßten, zum großen Teil dem Dienst in den Streitkräften zugeführt werden. Durch diese Neuerungen wurden die Hilfs- und Ersatzkonstruktionen überflüssig, welche die Reichswehr ersonnen hatte, um notdürftig ein Kriegsheer mobilisieren zu können, so der Landesschutz, der sich in eine geregelte Wehrersatzorganisation auflöste, ferner der Versuch, breitere Bevölkerungskreise dem Wehrgedanken zu öffnen, denn in der allgemeinen Wehrpflicht kamen sie sowieso nicht mehr daran vorbei, und schließlich die vormilitärische Ausbildung, die der SA und später der Hitler-Jugend überlassen wurde. Die angebliche "Militarisierung" der Republik löste sich in ein geregeltes Wehrwesen auf, das Deutschland wieder verteidigungsfähig machen sollte, ohne daß es schon eine Gefahr für seine Nachbarn dargestellt hätte. BIomberg sagte am 2. Februar 1934 vor den Befehlshabern, es solle der Friede für eine Reihe von Jahren gesichert werden, um den Umbau des Reiches und den Aufbau der Streitkräfte durchzuführen. Danach bestehe nicht die Absicht, über irgendjemanden herzufallen, sondern das Reich solle befähigt sein, aktiver in die große Politik einzugreifen. 51 Der Übergang zur Rüstungsfreiheit machte die Frage dringlich, in welchen organisatorischen Formen der Aufbau von Streitkräften und die Verwendung der durchaus nicht unbegrenzten wirtschaftlichen, finanziellen und personellen Hilfsquellen gesteuert werden solle; auch waren die Zuständigkeiten und Befugnisse der obersten politischen und militärischen Führung sowohl im Frieden als auch im Krieg zu regeln. In der republikanischen Reichswehr waren, schon wegen ihrer geringen Größe, die Verhältnisse noch relativ einfach gewesen. Dem Minister hatten einerseits das Ministeramt unterstanden, das hauptsächlich für politische, haushaltsmäßige und rechtliche Aufgaben zuständig war, andererseits die Teilstreitkräfte Heer und Marine, welche Kommando- und Operationsangelegenheiten, Verwaltung und Ausrüstung in ihren Bereichen selbständig bearbeiteten. Komplizierter wurde die Sachlage, als der ehemalige Fliegeroffizier Hermann Göring im Kabinett Hitler nicht bloß zum kommissarischen preußischen Innenminister, sondern auch zum Reichskommissar für den Luftverkehr ernannt wurde und Anfang Mai 1933 seine Ernennung zum Luftfahrtminister erreichte. Der Ausbau einer Luftwaffe und die beabsichtigte Luftrüstung sollte unter Görings Leitung neben der Aufrüstung von Heer und Marine erfolgen. Verbindungen blieben zwar erhalten, da das Heer befähigte Offiziere und anderes Personal für den Aufbau der Luftwaffe abzustellen hatte; auch blieb Göring in militärischen Fragen zunächst noch - formell - BIomberg unterstellt. Doch zeichnete sich ab, daß Göring, nach Hitler der zweite Mann im nationalsozialistischen Staat und als Minister Blomberg weitgehend gleichgestellt, die Überordnung Blombergs leicht unwirksam machen konnte. Die Frage der Spitzengliederung war 51 Hitler nach Meissner, 336. ADAP, Sero C, Bd.2/1, 38 f., 41 f. Die Denkschrift Becks vom 14.12.1933 bei K.-J. Müller, Beck, 339 ff. Blomberg 1934 nach MGFA, Weltkrieg I, 410. Ferner Rautenberg, 212 ff., 235 ff., 302 ff.
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bereits in den Jahren um 1930 erörtert worden, wobei sich herausgeschält hatte, daß die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte, vor allem im Krieg, in einer Hand zusammengefaßt werden müßten, daß der oberste Befehlshaber über einen arbeitsfähigen Stab zu verfügen habe, um die Wehrmacht einheitlich lenken und mit operativen Weisungen versehen zu können, und daß die Erfordernisse des modemen Krieges auch die einheitliche Steuerung der Wirtschaft im allgemeinen wie der Rüstung im besonderen erheischten. Offen blieb, wie all dies erreicht werden könne. Blomberg, mit solchen Dingen vertraut, wurde Anfang April 1933 in dem neu gebildeten Reichsverteidigungsrat, einem Ministerausschuß, zum ständigen Vertreter des Reichskanzlers in allen Fragen der Reichsverteidigung ernannt und war in dieser Eigenschaft verantwortlich für die Durchführung der beschlossenen Maßnahmen. Durch seine Ernennung zum Reichsverteidigungsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht Ende April 1933 kam zum Ausdruck, daß die Verteidigung des Reiches mehr umfaßte als die früheren Aufgaben der Reichswehr, nämlich insbesondere den Aufbau kriegsfähiger Streitkräfte unter Einschluß einer Luftwaffe, und daß ihre einheitliche Führung gewährleistet werden sollte. Als hoher Offizier und ehemaliger Chef des Truppenamtes war Blomberg für die Stellung des Oberbefehlshabers durchaus geeignet; was ihm einstweilen noch fehlte, war eine entsprechende Behörde bzw. ein arbeitsfähiger Stab für die einheitliche Steuerung der Streitkräfte in Verwaltung, Rüstung und Operation. BIomberg und Reichenau waren entschiedene Anhänger einer zentralisierten und zusammengefaßten Spitzengliederung, welche die Aufgaben bündelte, die für alle drei Teilstreitkräfte gemeinsam zu erledigen waren. Das wäre wahrscheinlich die rationellste und leistungsfähigste Organisationsform für die Wehrmachtspitze gewesen, um den Aufbau für alle drei Teilstreitkräfte einheitlich planen zu können, um ihre Bedürfnisse untereinander abstimmen und Schwerpunkte setzen zu können, um überflüssige Doppelarbeit und die Vergeudung von knappen Hilfsquellen zu vermeiden, schließlich um eine geschlossene strategische und operative Planung für den potentiellen Einsatz der Streitkräfte zu erreichen. In diesem Sinn ließ Blomberg im Februar 1934 das bisherige Ministeramt in Wehrmachtamt umbennen und darin eine Abteilung für Landesverteidigung einrichten, die als Kern eines künftigen Wehrmachtgeneralstabs gedacht war; die 1935 errichtete Wehrmachtakademie sollte als Schule für den Wehrmachtgeneralstab dienen. Im November 1934 wurde dem Wehrmachtamt eine Abteilung für Wehrwirtschaft und Waffen bzw. Rüstung angegliedert, die aus dem Heereswaffenamt herausgelöst worden war und von Oberst Thomas, einem Fachmann für Wirtschaftsfragen und Rüstungssteuerung, geleitet wurde. In der Folgezeit wurde das Wehrmachtamt, seit Oktober 1935 unter Leitung des Organisationsfachmannes General Wilhelm Keitel, weiter ausgebaut; es verfügte nun über Abteilungen für die verschiedenen Gebiete der obersten militärischen Führungstätigkeit, so für Operation und Mobilmachung (Abt. Landesverteidigung), für außenpolitische Lage (Abt. Ausland), für Nachrichtengewinnung und Spionageabwehr (Abt. Abwehr), für Fernmeldewesen,
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Wehrwirtschaft, Personal, Verwaltung usf. Daß das Wehnnachtamt seit Ende 1936 informell die Bezeichnung Oberkommando der Wehnnacht (OKW) verwandte, deutet schon darauf hin, daß BIomberg und Keitel an der Vorstellung einer umfassenden obersten Behörde für Befehls- und Kommandoführung weiter festhielten, auch wenn sie diese keineswegs schon erreicht hatten und die Hindernisse immer deutlicher zutage traten. Das wichtigste dieser Hindernisse war wohl Hitler selbst. 1944, im Anschluß an Stauffenbergs mißglücktes Attentat, meinte Hitler: "Wieder einmal habe ich recht gehabt! Wer wollte mir schon glauben, als ich mich gegen jede Vereinheitlichung der Wehnnachtsführung wandte! In einer Hand zusammengefaßt, ist die Wehnnacht eine Gefahr!" Da Hitler entsprechendes Mißtrauen, vor allem gegenüber dem Heer, auch vor dem Krieg schon bekundet hatte, spricht nichts dagegen, daß er eine wirklich zentralisierte, straffe Wehnnachtführung von vornherein nicht wünschte, um seine diktatorische Herrschaft nicht zu gefährden. Jedenfalls machte er die einheitliche Wehrmachtführung von dem Zeitpunkt ab unmöglich, wo er zuließ oder auch förderte, daß die Luftwaffe durch seinen Gefolgsmann Göring aufgebaut wurde und dessen Befehl unterstand. Die Aufsplitterung der Zuständigkeiten trat spätestens im Sommer 1934 in Erscheinung, als Göring und sein Staatssekretär Erhard Milch, der im Luftfahrtministerium die entscheidende Arbeit leistete, ein Luftrüstungsprogramm von Hitler persönlich genehmigen ließen, ohne Rücksicht darauf, daß Göring in solchen Dingen formell BIomberg unterstand und dieser bei Unternehmungen derartiger Größenordnung sowohl in planerischer als auch in haushaltstechnischer Hinsicht hätte federführend sein müssen. Etwa zur selben Zeit machten übrigens auch Hitler und Admiral Raeder Einzelheiten der Flottenrüstung unter sich aus. Jede Einheitlichkeit der Rüstungsplanung war damit vom Beginn an durchbrochen; sie kam bis zum Krieg nicht mehr zustande. Als im Februar 1935 auf Betreiben Görings der bislang geheime Aufbau der Luftwaffe enttarnt und die Existenz der dritten Teilstreitkraft offiziell gemacht wurde, erhielt Göring für den Erlaß von Ausführungsbestimmungen, wie er bislang Blomberg zustand, im Bereich der Luftwaffe ein formelles Mitwirkungsrecht, was tatsächlich darauf hinauslief, daß er BIomberg nun noch leichter überspielen konnte. Für die Aufspaltung der Wehnnacht bzw. das Verhindern ihrer einheitlichen Führung war indes nicht allein das Bestreben Hitlers nach Herrschaftssicherung verantwortlich, auch nicht sein Dilettantismus in organisatorischen Fragen, sondern die wichtigste Ursache war seine früher bereits erwähnte weltanschauliche Festlegung. Auf Grund seiner Anschauung vom rassischen Persönlichkeitswert pflegte Hitler Zuständigkeiten zu schaffen, die sich überschnitten, gleiche oder ähnliche Aufgaben von mehreren bearbeiten zu lassen und das übersichtliche Nebeneinander von Stellen in ein Gegeneinander aufzulösen, weil er glaubte, daß "jeder Mensch erst bei Widerständen seine größten Fähigkeiten und seinen größten Tatendrang entwickle". Für eine übergreifende Rüstungsplanung hatte das verheerende Folgen. Durch die Befugnisse BIombergs als Reichsverteidi17"
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gungsminister und durch den Reichsverteidigungsrat bzw. dessen ständigen Arbeitsausschuß wäre an sich ein Instrumentarium verfügbar gewesen, um die Kriegsbereitschaft von Reichswehr, Wirtschaft und Staat herbeizuführen. Der Wehrwirtschaftsstab unter Thomas hätte Rüstungsgesamtpläne entwerfen und mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten Deutschlands in Übereinstimmung bringen können; er hätte die Steuerungszentrale für eine wirtschaftliche Mobilmachung bilden können. Da jedoch jede Teilstreitkraft, gefördert durch Hitler, unverbunden vor sich hinrüstete und Hitler durch ständige Eingriffe immer wieder alles über den Haufen warf, blieb dem Wehrwirtschaftsstab nur eine beratende, manchmal vorbeugende und bisweilen ausgleichende Tätigkeit. Diese Lage wurde durch andere Maßnahmen noch verschlimmert. Mit dem Reichsverteidigungsgesetz vom Mai 1935 ernannte Hitler den Wirtschaftsminister Schacht zum Generalbevollmächtigten für die Kriegswirtschaft, doch zog er damit nur einen widersinnigen Trennungsstrich quer durch die gesamte Wirtschaft, weil Blomberg mit seinem Wehrwirtschaftsstab fortan auf die Rüstungsendfertigung beschränkt wurde, während der Wirtschaftsminister für die übrige kriegswichtige Wirtschaft zuständig sein sollte. Sodann hatte Hitler schon im November 1934 seinem Wirtschaftsberater Keppler den Auftrag erteilt, unabhängig vom Wirtschaftsminister sich um die Ersetzung ausländischer Rohstoffe durch inländische zu kümmern. Dahinter steckte Hitlers Autarkiegedanke, also seine Vorstellung, Deutschland aus der Verflechtung in die Weltwirtschaft weitgehend herauszulösen, weil der Zwang, Industrieerzeugnisse für den Export herzustellen, eine schädliche Überindustrialisierung erzeuge. Eine vollständige Autarkie konnte Deutschland selbstverständlich nie erreichen, weil eine Anzahl wichtiger Rohstoffe wie Chrom, Mangan, Nickel, Bauxit usf. in Deutschland einfach nicht vorhanden war, so daß es dafür immer auf Einfuhren angewiesen sein würde. Immerhin ließen sich für etliche Rohstoffe Ausweichmöglichkeiten finden, so konnte Treibstoff statt aus Erdöl aus der Kohlehydrierung gewonnen werden, oder man konnte minderwertiges deutsches Eisenerz verhütten. Wirtschaftsfachleute wie Schacht und Thomas lehnten zwar den übersteigerten Autarkiegedanken Hitlerscher Prägung ab, weil das Ausweichen auf inländische Ersatzstoffe wirtschaftlich unrationell war und die Einbindung Deutschlands in die Weltwirtschaft größere Vorteile versprach. Eine Denkschrift des Wehrwirtschaftsstabes aus dem Mai 1935, die von BIomberg gutgeheißen war, bezeichnete eine starke und gesunde Friedenswirtschaft als die beste Voraussetzung der Wehrwirtschaft. Eine derartige Friedenswirtschaft sei aber in erster Linie Ausfuhrwirtschaft; deswegen forderte der Wehrwirtschaftsstab eine Steigerung der Ausfuhr und zu diesem Zweck auch ein Unterlassen judenfeindlicher Maßnahmen. In der Tat war eine Förderung des Exports gleichbedeutend mit einer Stärkung der industriellen Produktionskapazität, was für die Kriegsfähigkeit von entscheidender Bedeutung war. Um die Abhängigkeit von Einfuhren nicht zu groß werden zu lassen und im Krisen- oder Kriegsfall nicht alsbald zum Aufgeben gezwungen zu sein, sahen Blomberg und der Wehrwirtschaftsstab allerdings auch Vorsorgemaßnahmen vor, etwa die Ein-
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lagerung strategischer Rohstoffe oder eine Verminderung des Treibstoffengpasses durch inländische Kohlehydrierung. Das Durcheinander in der Wirtschaftssteuerung fand weder bei Schacht noch bei BIomberg oder dem Wehrwirtschaftsstab Billigung; als jedoch 1935/36 die Devisenerlöse aus dem Exportgeschäft nicht mehr ausreichten, die Versorgung der Wirtschaft und der Wehrmacht mit Erdöl und anderen Rohstoffen sicherzustellen, fanden sich alle drei bereit, Göring Sondervollmachten in der Rohstoff- und Devisenfrage zuzugestehen, da Göring am ehesten Aussicht bot, sich in dem wirren System überlappender Zuständigkeiten und konkurrierender Behörden durchzusetzen. Auf Betreiben BIombergs und Schachts ernannte Hitler Anfang April 1936 Göring zum Devisen- und Rohstoffkommissar, was Göring Gelegenheit gab, nun seinerseits Wirtschaftspolitik zu betreiben. Anders als Schacht, der die Aufrüstung bremsen und die Wirtschaft wieder ins Lot bringen wollte, und anders als der Wehrwirtschaftsstab, der nach wie vor auf eine bessere Koordination der Rüstungspläne hoffte, suchte Göring die Aufrüstung weiter voranzutreiben, und zwar unter seinem maßgeblichen Einfluß. Dies wurde ihm ermöglicht, als Hitler, gedrängt von Göring, im September / Oktober 1936 die Durchführung des Vierjahresplans anordnete, den Göring so auslegte, daß Selbstversorgung auf allen Gebieten erreicht werden sollte, wo es technisch möglich war, namentlich bei Treibstoff und Eisen, und daß ansonsten durch Ausfuhr Devisen beschafft werden sollten, um all das im Ausland zu kaufen, was in Deutschland nicht oder nicht ausreichend erzeugt werden konnte. Zu diesem Zweck erhielt Göring die Befugnis, Rechtsverordnungen und allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen sowie sämtlichen Behörden und allen Dienststellen der Partei Weisungen zu erteilen. Damit wurde Göring zu einer Art Überminister, der in fast alle anderen Ressorts hineinregieren konnte und dies auch tat, was 1937 zum Rücktritt Schachts führte. Da dessen Nachfolger Funk wiederum Generalbevollmächtigter für die Wirtschaft wurde, standen für die Steuerung von Wirtschaft und Rüstung nun drei Einrichtungen nebeneinander: erstens das Wirtschaftsministerium, das 1938 eine Anzahl von Aufgabengebieten des Vierjahresplans übernahm, ansonsten jedoch den Weisungen von Görings Vierjahresplanzentrale unterlag; zweitens BIombergs Ministerium, später das OKW, mit dem Wehrwirtschaftsstab, der wenig zu sagen hatte und mitansehen mußte, wie sich die drei Teilstreitkräfte um die Verteilung von Rüstungsmitteln stritten, wobei Göring, der eigentlich BIomberg hätte unterstellt sein sollen, diesem tatsächlich überlegen und übergeordnet war; schließlich drittens Göring selbst, der für den Vierjahresplan eine unübersichtliche, schwerfällige und öfters geänderte Organisation aufbaute, deren zentrale Entscheidungsstelle im preußischen Staatsministerium lag (Göring war ja preußischer Ministerpräsident), die jedoch wegen der mangelnden Sachkunde Görings und wegen seines bald versiegenden Interesses eine schlagkräftige Steuerung der Wirtschaft auch nicht zuwege brachte. Die Aufrüstung der Wehrmacht zeigt also genau dasselbe Bild, das für den nationalsozialistischen Herrschaftsbetrieb insgesamt kennzeichnend ist: ein
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chaotisches Durcheinander von Zuständigkeiten, Dienststellen und Bevollmächtigungen, das eine angemessene Planung erstickte, gründliche Arbeit erschwerte und brauchbare Leistungen nur insoweit hervorbrachte, als Beamte und Offiziere die Verfahrensweisen einer geregelten, bürokratischen Staatstätigkeit noch anzuwenden vermochten. Da auf diese Weise immerhin beachtliche Erfolge in der Aufrüstung erzielt wurden, konnte Blomberg vor dem allgegenwärtigen Wirrwarr die Augen verschließen, was er wohl auch deswegen tat, weil sein unter solchen Umständen eigentlich angebrachter Rücktritt die Dinge kaum geändert hätte. 52 Ein weiterer Grund, warum eine einheitliche und zentralisierte Wehnnachtführung nicht zustande kam, lag beim Heer. Fritsch und Beck waren zwar 1934 mit der Zusammenfassung gewisser Aufgaben im Ministerium einverstanden und befürworteten insbesondere eine die Teilstreitkräfte übergreifende Rüstungsplanung, die dann freilich wegen der Sonderstellung der Luftwaffe und Hitlers spalterischer Taktik verfehlt wurde. Aber die Heeresleitung konnte sich seit der Jahreswende 1933/34 nicht mit dem Gedanken befreunden, die strategische und operative Führung der gesamten Wehrmacht einem eigenen Wehnnachtgeneralstab zu überlassen. Fritsch und Beck sahen ein, daß der Oberbefehlshaber der Wehnnacht einen kleinen Stab oder ein Büro benötigte, durch welches er Weisungen an die drei Wehrmachtsteile bearbeiten lassen konnte; das war eine Art Wehnnachtführungsstab mit kleiner Besetzung, geringer Leistungsfähigkeit und ohne unmittelbaren Einfluß auf die Operationsführung, ein Stab, wie er dann im Wehnnachtamt bzw. OKW tatsächlich eingerichtet wurde (zunächst als Abt. Landesverteidigung). Doch ging die Heeresleitung ansonsten davon aus, daß dem Heer als der größten und weitaus wichtigsten Teilstreitkraft ein natürlicher Vorrang gebühre, daß die Heeresleitung entscheidende Mitsprache bei strategischen und operativen Entschlüssen behalten müsse, eine Mitsprache, die nicht durch die übergeordneten Befugnisse eines regelrechten Wehnnachtgeneralstabs beeinträchtigt werden sollte, und daß im Falle eines Krieges, der für Deutschland in erster Linie immer ein Landkrieg sein mußte, der Oberbefehlshaber der Wehrmacht auf die Führungseinrichtungen des Heeres zurückzugreifen habe. Das Truppenamt des Heeres, das im Grunde ja der Nachfolger des alten kaiserlichen Generalstabs war, sollte deshalb wieder zu einem umfassenden Führungsorgan, einem Großen Generalstab, ausgebaut werden, dem die Hauptlast der operativen Planung oblag. Das war ein vertretbares Modell, das sich ja später weitgehend durchgesetzt und in den ersten Kriegsjahren gar nicht schlecht bewährt hat. Auf der anderen Seite wäre es freilich ebenso vorstellbar gewesen, den reichen Sachverstand des Heeresgeneralstabs in einen Wehnnachtgeneralstab einzubringen 52 Hitler 1944 bei Speer, Erinnerungen, 400. Zur Organisation der Rüstung und Spitzengliederung MGFA, Militärgeschichte IV, 141 ff., 166 ff., 319 ff. Rautenberg, 200 ff., 332 ff. MGFA, Weltkrieg I, 497 ff. HitJers Auffassung über unklare Zuständigkeiten bei Kehrl, 72. Zu Görings Befugnissen 1935 ADAP, Sero C, Bd. 3/11, 942 ff. Allgemein zu Göring und dem Vierjahresplan Kube, 55, 126 ff., 138 ff., 151 ff. Herbst, 111 ff. Petzina, Autarkiepolitik. Zum Wehrwirtschaftsstab 1935 M. Geyer, Aufrüstung, 449 ff., 456.
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und ihn dort mit demjenigen von Luftwaffe und Marine zu verknüpfen. Die Zusammenarbeit der Teilstreitkräfte hätte sich dann besser in institutionelle Formen gießen lassen, und vor allem hätten sich die Voraussetzungen für strategische Entscheidungen gründlicher erarbeiten lassen, da solche Entscheidungen, wenn sie fundiert sein sollen, immer ein umfassendes politisches, militärisches und wirtschaftliches Lagebild voraussetzen. Strategische Entscheidungen zu fällen, ohne ein vernünftiges und sorgfältig erarbeitetes Lagebild zu besitzen, war Hitlers Methode. Demgegenüber hätte BIombergs Plan einer einheitlichen und zentralisierten Wehrmachtsführung den gewichtigen Vorteil aufgewiesen, nicht nur die Teilstreitkräfte besser zu koordinieren, sondern dem Dilettantismus Hitlers auch den geballten strategischen Sachverstand des Wehrmachtgeneralstabs entgegenzustellen. Warum ein solcher nicht errichtet werden konnte, hängt zwar stark mit der Haltung der Heeresleitung zusammen, darf ihr aber nicht allein angelastet werden und ist überdies aus den Umständen zu erklären. Zweifellos hätten der Ausbau des Ministeriums zu einer umfassenden Kommandobehörde und die Errichtung eines regelrechten Wehrmachtgeneralstabs die Chefs der Teilstreitkräfte (darunter auch Göring) weitgehend entmachtet und zu ausführenden Organen herabgedrückt. Ein derartiges Oberkommando bzw. ein derartiger Wehrmachtstab hätte mit hochrangigen und besonders befähigten ,Offizieren besetzt werden müssen - eine organisatorische Umgestaltung, die BIomberg aus eigenem und alleinigem Entschluß nicht wagen konnte, die jedoch Hitlers Billigung mit ziemlicher Sicherheit nicht gefunden hätte. Umgekehrt hatten weder Fritsch noch Beck, noch Admiral Raeder oder Göring Veranlassung, sich von einem Wehrmachtgeneralstab bevormunden zu lassen, dessen Chef in seinem Rang weit niedriger und in seinen Fähigkeiten weit weniger anerkannt war als sie selbst. Da BIomberg mit Reichenau und Keitel als Chef des Wehrmachtamts sowie mit nachgeordneten Offizieren als Chefs der Abt. Landesverteidigung den letzteren Weg beschreiten mußte, war eigentlich von vorherein abzusehen, daß die Lösung mit dem Wehrmachtgeneralstab kaum zu verwirklichen war. In der Tat stießen die einschlägigen Bemühungen BIombergs, später vor allem Keitels und des Chefs der Abteilung Landesverteidigung, Oberst Alfred Jodl, allgemein auf wenig Gegenliebe und zumal beim Heer auf steigende Ablehnung. Im Lauf der Jahre spitzten sich die Meinungsunterschiede zwischen Blomberg und der Heeresleitung dahingehend zu, daß Fritsch und Beck sich von BIomberg mit seinen Beratern übergangen fühlten und befürchteten, in außenpolitische oder militärische Unternehmungen hineingerissen zu werden, deren Voraussetzungen ihnen nicht einsichtig waren und die ohne ihr Zutun beschlossen wurden. Demgegenüber verlangte die Heeresleitung mit wachsender Schärfe, daß sie an strategischen und sogar politischen Entscheidungen mitzuwirken habe und daß ihr, nicht dem in der Tat zu kleinen und ungeeigneten Wehrmachtführungsstab (zunächst Abt. Landesverteidigung) der maßgebliche Anteil der operativen Planung und Führung zustehe.
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Der Streit entzündete sich, als BIomberg im Frühjahr 1935 Angaben der drei Wehrmachtsteile anforderte, wie eine schnelle Besetzung der Tschechoslowakei bei gleichzeitiger Abwehr im Westen durchgeführt werden könne. Was BIomberg damit bezweckte, ist nicht recht durchsichtig; als Minister muß er gewußt haben, daß das Unternehmen aus politischen und militärischen Gründen undurchführbar war und obendrein aus organisatorischen, denn die Leitung sollte ihm selbst obliegen, und er verfügte dazu nur über den unzureichenden Stab der Abteilung Landesverteidigung. So spricht viel dafür, daß es sich bei diesem Unternehmen "Schulung" genau um das handelte, was der Deckname besagte, nämlich eine Schulung für die Abteilung Landesverteidigung, die das Zusammenwirken der Teilstreitkräfte üben sollte. Beck war jedenfalls von der Anordnung aufs höchste überrascht und wollte, falls damit praktische Kriegsvorbereitungen verknüpft seien, sein Amt zur Verfügung stellen. Als gegen Ende 1935 eine operative Studie mit ähnlichem Hintergrund erstellt werden sollte, forderte Beck, der Oberbefehlshaber des Heeres müsse an allen wichtigen Fragen der Landesverteidigung beteiligt werden, auch durch den Führer (Hitler), er müsse in allen entscheidenden Fragen der Landkriegführung einziger Berater des Oberbefehlshabers der Wehrmacht sein, und er müsse, im Rahmen der übergeordneten ministeriellen Weisungen, bei der Führung der Heeresoperationen volle Selbständigkeit genießen. Fritsch ging im August 1937 noch einen Schritt weiter und verlangte für das Oberkommando des Heeres die Bearbeitung der Vorschläge für die Gesamtkriegführung. Der Generalstab des Heeres wäre damit in die Stellung eines Wehrmachtgeneralstabs gerückt, der Wehrmachtführungsstab im OKW weitgehend entbehrlich geworden und Fritsch mehr oder weniger an die Stelle BIombergs als oberster militärischer Berater des Regierungschefs getreten. Die Debatte über die Spitzengliederung war damit im Grunde in einer Sackgasse gelandet, denn auf der einen Seite war eine nur von der Heeresleitung besorgte Führung der Wehrmacht auf strategischem und operativem Gebiet weder zeitgemäß noch zweckdienlich, abgesehen davon, daß sie gegen Luftwaffe und Marine sowieso nicht hätte durchgesetzt werden können, während auf der anderen Seite die Heeresleitung bei BIomberg, vor allem aber bei Keitel und Jodl mit Recht eine zunehmende Hitler-Hörigkeit witterte und eine Verstrickung in gefährliche außenpolitische Abenteuer heraufdämmern sah. Eine sachdienliche Lösung dieses Zwiespalts war nicht in Sicht; auch in der Auseinandersetzung über die Spitzengliederung steuerte man auf die Krise des Jahres 1938 zu. 53 Vor dem Hintergrund des immer stärker wuchernden nationalsozialistischen Organisationsdschungels vollzog sich die Aufrüstung, wobei man von einer geplanten Rüstung der Gesamtwehrmacht nicht sprechen kann, sondern nur von einer der Teilstreitkräfte. Diese Aufrüstung diente in den Augen Hitlers zweifellos der Kriegsvorbereitung, doch konnte sie vom Beginn an sehr geschickt verpackt 53 K.-J. Müller, Heer, 622 ff., 205 ff. Ders., Beck, passim. Rautenberg, Anhang, 43 ff. Meinck, 121 ff., 137. MGFA, Weltkrieg I, 504 ff.
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werden, weil sie zugleich Arbeitsmöglichkeiten schuf und zum Abbau der Arbeitslosigkeit beitrug. Der Gedanke staatlicher Arbeitsbeschaffung war an sich nicht neu und ebensowenig der Gedanke, durch Rüstung die Beschäftigung zu fördern. Schon zu Zeiten des Reichswehrrninisters Groener hatten das damals geplante Rüstungsprogramm und die neue Heeresstruktur mit ihrer Miliz auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben sollen, und nach ersten Anfängen noch unter den Präsidialkabinetten Brüning und Papen hatte die Regierung Schleicher, nachdem die Reparationen entfallen waren, ein recht beachtliches Arbeitsbeschaffungsprogramm mit einem Finanzrahmen von 600 Millionen Mark erstellt. Solche Ansätze nahm die Regierung Hitler auf und weitete sie mit Entschiedenheit aus; in ihrem ersten Haushaltsjahr wandte sie bereits über eine Milliarde für Arbeitsbeschaffung auf. Obwohl Hitler vom Beginn an den Rüstungsmaßnahmen einen Vorrang bei der Arbeitsbeschaffung einräumen wollte, kamen die verausgabten Gelder zunächst weniger der unmittelbaren Rüstung zugute als vielmehr zivilen Vorhaben oder solchen, die nur mittelbar militärischen Zwecken dienten, z. B. der gern überschätzte Autobahnbau. Erst ab 1934, nachdem mit dem Austritt aus dem Völkerbund die Rüstungsfreiheit erreicht war, begannen die Rüstungsausgaben auf die Beschäftigung durchzuschlagen, ab 1935 verdrängten sie die bisherige Arbeitsbeschaffung und ab 1938 überschritten sie die zivilen Reichsausgaben insgesamt. Der deutsche Wirtschaftsaufschwung wurde so in erster Linie eine Rüstungskonjunktur. Genaue Zahlen hierfür zu errechnen, ist bis heute außerordentlich erschwert, weil ab 1934 aus Geheimhaltungsgründen keine Reichshaushaltspläne mehr veröffentlicht wurden, das Statistische Reichsamt seine Untersuchungen über Einnahmen und Ausgaben des Reiches einstellte und in der Folgezeit sowohl die anerkannten Grundsätze als auch die bisher gültigen Vorschriften der öffentlichen Haushaltsführung über Bord geworfen wurden. Es bürgerten sich Budgetüberschreitungen ein sowie außerplanmäßige Ausgaben ohne Genehmigung des Finanzministers, eine Vielzahl von außerordentlichen Haushalten enstand, das Jahresbudget wandelte sich zu einer fließenden Rechnung und der Finanzminister zu einer Art Zahlmeister des Reiches. Die an sich berechtigte Frage, ob der Finanzminister unter solchen Umständen nicht hätte zurücktreten müssen, läßt sich wie im Falle BIombergs dahingehend beantworten, daß das auch nichts geändert hätte. Wie dem auch sei, die Vielfalt unterschiedlicher Berechnungen über Haushalt und Rüstungsaufwendungen des Reiches soll hier nicht im einzelnen untersucht werden; statt dessen wird es genügen, als Beispiel einige Zahlen vorzuführen, die vielleicht nicht ganz zuverlässig sind, aber einen ungefahren Eindruck vermitteln mögen. Der Anteil der Militärausgaben am Volkseinkommen stieg zwischen 1934 und 1938 von knapp 8 % auf 21 %, was zweifellos hoch ist, allerdings den Militärausgaben mancher Länder nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar sein dürfte. Die gesamten Reichsausgaben sollen zwischen 1933 und 1939 rund 126 Milliarden betragen haben, wovon etwas weniger als die Hälfte, 60 Milliarden, auf Wehrmachtsausgaben entfiel. Davon beanspruchte
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Görings Luftwaffe ein gutes Drittel, das Heer etwa die Hälfte, die Marine über ein Zehntel und das OKW den kleinen Rest. Man kann davon absehen, daß darin auch beträchtliche Personalkosten enthalten waren, weil ein gewisser und ständig wachsender Prozentsatz der Bevölkerung, nämlich Soldaten, Zivilbedienstete und Angehörige, von den Streitkräften ihren Lebensunterhalt bezogen. Wichtiger ist, daß die Wehrmachtsausgaben aus haushaltstechnischen und organisatorischen Gründen überhöht waren. Göring und BIomberg wurden von einem soliden Finanzgebaren befreit, indem sie keine aufgegliederten Haushaltspläne aufzustellen brauchten, sondern nur Globalbeträge beim Finanzminister anforderten, die, wenn sie sich auf Führerentscheide stützten, auch nicht abgelehnt werden konnten und im übrigen einer politischen Nachprüfung sowieso nicht und einer rechnungsmäßigen immer weniger unterlagen. Das führte natürlich dazu, das Geld mit vollen Händen auszugeben, man möchte fast sagen: es zum Fenster hinauszuwerfen, was durch die Nebeneinanderschaltung von zwei Stellen, des Reichswehrund des Luftfahrtministeriums, noch verstärkt wurde. Finanzminister Schwerin von Krosigk brachte das später auf die Formel, mit wesentlich geringeren Summen hätte der gleiche Effekt erzielt werden können. Das Herrschaftsdurcheinander des Nationalsozialismus war verschwenderisch und unrationell. Sieht man davon einmal ab, so muß das Ankurbeln der K-onjunktur durch erhöhte Rüstungsaufwendungen mittlerweile als anerkanntes Mittel der Wirtschaftspolitik gelten. Die konservativen und parteilosen Mitglieder der Regierung Hitler waren dabei keineswegs vom Willen zum Krieg geleitet, sondern sie suchten ein doppeltes Ziel zu verwirklichen: zum einen die Überwindung der Wirtschaftskrise und zum anderen den Aufbau einer verteidigungsfähigen Wehrmacht, um eine tatkräftige Revisionspolitik betreiben zu können. Reichsbankpräsident Schacht erfand hierfür die sog. Mefo-Wechsel, die ein Mittel öffentlicher Kreditschöpfung darstellten, um Staatsaufträge zu vergeben und eine Belebung der Wirtschaftstätigkeit in Gang zu setzen. Der Staat stellte den Rüstungslieferanten Wechsel aus, also Zahlungsverpflichtungen, die jedoch nach dem Reichsbankgesetz eine zweite "gute" Unterschrift benötigten, um von der Reichsbank eingelöst, rediskontiert zu werden. Zu diesem Zweck wurde die Metallurgische Forschungsgesellschaft gegründet (daher Mefo), im Grunde eine Scheinfirma, welche die zweite Unterschrift leistete und so rediskontfähige Handelswechsel erzeugte. Die Mefo-Wechsel sollten, ebenso wie ähnliche Wechsel auf dem Gebiet der zivilen Arbeitsbeschaffung, durch Rüstungsaufträge die Initialzündung für Wirtschaftswachstum geben; nach fünf Jahren sollten sie vom Reich zurückgekauft werden, wodurch das Reich in seinen Aufwendungen, vor allem für Rüstungszwecke, sich wieder hätte einschränken müssen. Schacht meinte in Hinblick auf die Rüstungsförderung, Hitler solle nur ja keinen Krieg anfangen oder auch bloß dafür rüsten, sonst müsse er dies ohne ihn tun und er behalte sich seine Konsequenzen vor - was Schacht dann auch tat, als er sich nach dem Deutlichwerden von Hitlers Kriegsabsichten dem Widerstand zur Verfügung stellte.
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Daher kann auch eine weitere Maßnahme Schachts nicht in den Umkreis der Kriegsvorbereitungen gerückt werden. Nachdem Schacht 1934 das Wirtschaftsministerium übernommen hatte, griff er mit seinem "Neuen Plan" auf die schon unter Brüning vorhandene Absicht zurück, eine enge handelspolitische Verbindung mit den Staaten Südosteuropas herzustellen. Das erinnert zwar an die Schaffung eines wirtschaftlichen Großraumes, in welchem Deutschland Rohstoffe und Nahrungsmittel aus dem Südosten bezog und so eine strategisch günstigere, blockadefestere Position gewann; in der Tat wurde der "Neue Plan" öfters so verstanden, vor allem von den Nationalsozialisten. Schachts Ausgangspunkt war jedoch ein anderer. Seit der Weltwirtschaftskrise litten die Industrieländer allgemein unter Exportschwierigkeiten, so daß die meisten zur Devisenbewirtschaftung übergingen und der Schutz des eigenen Außenhandels um sich griff. Mit am schlimmsten wurde Deutschland vom Zusammenbruch des internationalen Handels getroffen; bis Mitte 1934 entstand bei einem Gold- und Devisenbestand der Reichsbank von nur noch 77 Millionen eine Neuverschuldung im Warenverkehr in Höhe von 450 Millionen. Der Ausweg, den Schacht fand, lief darauf hinaus, zweiseitige, bilaterale Handelsverträge einzugehen, eigentlich eine Art Tauschhandel mit Ländern, die das kauften, was Deutschland erzeugte, und das verkauften, was Deutschland brauchte. Die Bezahlung erfolgte nicht mehr in Devisen, sondern auf dem Verrechnungsweg; die Handelspartner erhielten für ihre Lieferungen Reichsmarkkonten, zu deren Lasten sie deutsche Waren erwerben konnten. Solche bilateralen Verträge wurden vor allem mit Staaten Südosteuropas und Südamerikas geschlossen, was die Handelsbeziehungen stark ausweitete und zumal die Balkanländer wirtschaftlich weitgehend auf Deutschland ausrichtete. Für den Augenblick war das ein brauchbarer Notbehelf, der sich schon deswegen anbot, weil die fraglichen Länder die Verbindung mit Deutschland von sich aus suchten. Doch ließ Schacht keinen Zweifel daran, daß dies keine Dauerlösung darstelle, sondern daß Deutschland wieder in den Welthandel zurückkehren müsse, um Devisen zu erwirtschaften; auch konnte der Südostraum die deutschen Rohstoffbedürfnisse nur zum geringsten Teil befriedigen. Hier lag eben der grundsätzliche Gegensatz zwischen den raumpolitischen Vorstellungen Hitlers und den weltwirtschaftlichen Schachts: Hitler wollte in der Tat Deutschland aus den weltwirtschaftlichen Verflechtungen lösen, am Ende durch die Eroberung Rußlands und die Errichtung eines blockadefesten Großraums, während Schacht und in ähnlicher Weise der Wehrwirtschaftsstab unter Thomas die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands gerade durch seine Einbindung in den Weltmarkt sicherzustellen suchten. Mit dem Vierjahresplan gewannen die Vorstellungen Hitlers und der Nationalsozialisten die Oberhand. Eine Denkschrift zum Vierjahresplan, die Hitler Ende August 1936 persönlich ausarbeitete und Göring sowie Blomberg übergab, verlangte die Selbstversorgung bei etlichen Roh- und Ersatzstoffen und strotzte im übrigen von Ausfällen gegen Fachleute wie Schacht, Thomas oder die Industriellen der Privatwirtschaft, gegen die Absicht, die Rüstung zu bremsen, die Ausfuhr
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zu steigern, Rohstoffvorräte anzulegen und kostensparend zu erzeugen. Die übertriebenen und sachlich fragwürdigen Autarkievorstellungen Hitlers stießen auf Ablehnung bei Schacht, der auch BIomberg für ein gemeinsames Vorgehen zu gewinnen versuchte. Daß BIomberg sich dem verweigerte, gibt Anlaß zu der : Frage, in welchem Ausmaß er Hitlers Ziele billigte. Leichthin ist die Frage nicht zu beantworten, da noch nicht einmal klar ist, inwieweit BIomberg jene Ziele überhaupt kannte. Die Denkschrift Hitlers sprach zwar davon, daß das Verhältnis zum bolschewistischen Rußland irgendwann in eine Krise führen werde, aber sie sprach nicht davon, daß Rußland angegriffen werden solle, und von Verwicklungen mit anderen Ländern war schon gar nicht die Rede. Die Denkschrift erwähnte wieder einmal den Lebensraum, aber sie machte keinerlei konkrete Angaben, was man darunter zu verstehen habe. Die Denkschrift verlangte, daß die Armee in 4 Jahren einsatzfähig, die Wirtschaft in 4 Jahren kriegsfähig sein müsse. Hitler sagte damit nichts Neues; gemäß den damaligen Planungen war vorgesehen, daß das Heer und die übrige Wehrmacht bis etwa zum Jahr 1939/ 40 einsatzfähig sein sollten. Nach den Vorstellungen der Heeresleitung hieß dies, das Heer müsse im Kriegsfall zur Verteidigung des Reiches imstande sein. Was konnte Blomberg aus der Denkschrift schließen? In außenpolitischer Hinsicht verhältnismäßig wenig, denn daß er die Wehrmacht tatsächlich einsetzen wolle, hatte Hitler hier noch nicht gesagt. Zweifellos offenbarte die Denkschrift Hitlers wirtschaftlichen Dilettantismus und eine verschrobene außenpolitische Vorstellungswelt, aber das war ja bekannt; bedenklich war daran im Augenblick nur, daß er in drei Jahren Kanzlerschaft immer noch nicht klüger geworden war. Mit Gewißheit vermochte BIomberg aus der Denkschrift bloß zu entnehmen, daß die Aufrüstung nicht an Wirtschaftsengpässen scheitern dürfe, und daran war ihm selbst gelegen. BIomberg mag die Stichhaltigkeit von Schachts Einwänden eingesehen haben, nur hatte er selbst nicht viele Wahlmöglichkeiten. Ein Krebsübel in der ganzen Rüstungsfrage lag ja schon darin, daß das Rüstungstempo der gesamten Wehrmacht gar nicht von BIomberg bestimmt werden konnte, sondern daß Görings Luftwaffe ohnedies selbständig vorging und Göring obendrein als Devisen- und Rohstoffkommissar bei der Verteilung von Rüstungsmitteln den Finger am Drücker hatte. Das Nebeneinander der Teilstreitkräfte und das Fehlen einer wirkungsvollen Koordination erzeugte gewissermaßen einen Rüstungswettbewerb der Wehrmachtsteile, einen Verteilungskampf, in welchem BIomberg seinerseits mithalten mußte, um gegenüber der Luftwaffe nicht ins Hintertreffen zu geraten. BIomberg konnte sich ausrechnen, daß Hitlers Denkschrift die Stellung Görings gegenüber Schacht stärken würde, so daß ein Bündnis BIombergs mit Schacht letztlich ein Aufrollen der Organisationsfrage, der Frage nach der Unterordnung der Wehrmachtsteile bedeutet hätte. Vielleicht hätte eine entschlossenere Natur als BIomberg den Kampf aufgenommen, aber so entschlossen war BIomberg nicht; im übrigen durfte er wohl mit Recht davon ausgehen, daß er gegen Hitler und Göring ja doch nichts bewirkt hätte. So wählte BIomberg den Weg, sich nach der Decke zu strecken. Göring erhielt seine Vollmachten, und die Auflösung einer rationalen Staats- und Wirtschaftstätigkeit schritt voran.
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Zunächst freilich erfüllten Arbeitsbeschaffung und Rüstung ihren Zweck, die Konjunktur anspringen zu lassen. Das Bruttosozialprodukt stieg zwischen 1932 und 1936 um 50 % bei nahezu stabilen Preisen und Löhnen, die Arbeitslosigkeit verschwand zum größten Teil, und die Zahl der abhängig Beschäftigten erhöhte sich um 30 %. Danach allerdings wurde die Schwelle zu einer Art Kriegswirtschaft im Frieden überschritten, wenngleich die Leistungsfähigkeit dieser "Kriegswirtschaft" verhältnismäßig bescheiden blieb. Im Juli 1938 stellte Göring fest, daß der Vierjahresplan die Hoffnungen bislang nicht erfüllt habe und nannte auch gleich einige Ursachen. "Bisherige Leistungen des Vierjahresplans unbefriedigend auf den kriegswichtigen Gebieten, da zu große Zersplitterung. Katastrophal die Lage auf dem Pulver- und Sprengstoffgebiet als Folge des Streites um Zuständigkeiten". Nach einem neuen Erzeugungsplan vom Sommer 1938 sollte kurzfristig die Pulver- und Sprengstofferzeugung gesteigert werden; die Produktion von Treibstoff, Kunstgummi (Buna) und Leichtmetall war in einem längerfristigen Plan bis in die 1940er Jahre hinein wesentlich zu erhöhen. Das von Hitler vorgegebene Ziel der Selbstversorgung wurde vorderhand nicht erreicht; 1939 betrug die Einfuhrabhängigkeit bei Erdöl 66 %, bei Gummi wenigstens 80 %, bei Eisenerz immer noch rund 45 % und bei anderen strategischen Rohstoffen wie Aluminium, Nickel und Zinn mindestens 90 %. Immerhin waren einige Rohstoffvorräte angelegt worden, so daß Deutschland bei internationalen Verwicklungen und einem Abschneiden der Zufuhr für einen begrenzten Zeitraum (etwa ein halbes bis ein ganzes Jahr) durchzuhalten vermochte. Man könnte die naheliegende Vermutung anstellen, ob diese Vorrats- und Lagerhaltung, die ja Teil der Verteidigungsfahigkeit und der strategischen Standfestigkeit war, auf anderem Weg nicht ebensogut oder besser hätte erreicht werden können, namentlich durch einen Verzicht auf die übertriebene Autarkiewirtschaft und eine stärkere Anbindung an den Welthandel. Für die Stahlindustrie dürfte gelten, daß ein Unterlassen der inländischen Erzverhüttung in den dafür errichteten Hermann-Göring-Werken (bei Salzgitter) und ein Ausbau der vorhandenen Betriebe nicht nur weniger Investitionen verlangt und damit billiger gewesen wäre, nicht bloß das Arbeitskräftepotential geschont hätte, sondern daß dann auch mehr und besserer Stahl hätte erzeugt werden können. Das organisatorische und planerische Chaos des Nationalsozialismus zog dagegen überall Leistungseinbußen nach sich, ferner eine Verzettelung knapper Hilfsmittel und eine überflüssige Autblähung der Kosten. Die öfters eintretende Umstellung von Rüstungsplänen, die zwar nicht durchwegs auf Hitler zurückging, aber bei einheitlicher Steuerung der Rüstung leichter vermeidbar gewesen wäre, führte zu stoß weisen Auftragsschüben bei den einschlägigen Rüstungsfirmen, zur Preissteigerung, häufig zur Qualitätsverschlechterung und zu Lieferungsengpässen. Solche Dinge wurden vom Wehrwirtschaftsstab rechtzeitig vorgebracht, aber nicht beachtet. Das Oberkommando des Heeres erstellte 1937 ein zwölfjähriges Programm für die Befestigung der Westgrenze, das Hitler 1938 auf ein einziges Jahr zusammenzog. Der auf diese Weise erstellte Westwall war militärisch von geringem Wert,
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diente vorwiegend Täuschungs- und Propagandazwecken und hatte wirtschaftlich zur Folge, daß Hunderttausende knapper Arbeitskräfte gebunden wurden und 21 % des Wehnnachtsverbrauches an Stahl für andere Zwecke fehlten, weil sie dauerhaft in den Westwall einbetoniert wurden. Ähnlich verhielt es sich mit den Repräsentationsbauten des Nationalsozialismus, z. B. dem Ausbau des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg seit 1936 oder der Umgestaltung Berlins und anderer Städte zum Zweck der Herrschaftssymbolisierung, die von Hitler und nachgeordneten Parteileuten betrieben wurden. Thomas hatte schon 1936 erkannt, daß vor allem bei öffentlichen Bauten Stahl gespart werden könne, daß aber der Wille des Führers dem entgegenstehe. Gewiß war mit solchen Tätigkeiten auch Arbeitsbeschaffung verbunden, aber in den Jahren vor dem Krieg war das überflüssig, weil Arbeitskräfte knapp zu werden begannen. Was man mit der Wirtschafts- und Rüstungspolitik in den letzten Jahren vor dem Krieg tatsächlich erreichte, war erstens eine uneinheitliche Auslastung des industriellen Produktionsapparats, wobei die Fabriken für die Rüstungsendfertigung durch die einander jagenden Aufträge vielfach überlastet wurden, ohne rechtzeitig die Kapazitäten erweitern, den Maschinenpark erneuern oder auf rationellere Fertigungsmethoden wie die Fließbandproduktion umstellen zu können. Zweitens trat eine Überbeanspruchung des Arbeitsmarktes ein, so daß bereits jetzt Ausländer beschäftigt wurden, vor allem in der Landwirtschaft, Dienstverpflichtungen erfolgten und Überstunden geleistet werden mußten, was zu einigen Spannungen innerhalb der Arbeiterschaft führte. Drittens blieb Görings Versuch, die Autarkiewirtschaft und den Aufbau eines südosteuropäischen Ergänzungsraums mit der Steigerung der Ausfuhr zu verknüpfen, eine Halbheit. In den Welthandel kehrte Deutschland kaum zurück; gerade mit denjenigen Ländern, welche den deutschen Rohstoff- und Nahrungsmittelbedarf bevorzugt hätten decken können, nämlich den USA und Rußland, war der Handel insgesamt rückläufig. Die Devisennot konnte so nicht behoben, die Aufrüstung nicht mehr lange durchgehalten werden. Viertens verdoppelte sich zwar das Sozialprodukt zwischen 1932 und 1939, was eine Erhöhung des Steueraufkommens im Reich auf das Zweieinhalbfache zwischen 1933 und 1939 möglich machte. Doch reichte dies bei weitem nicht, die Reichsausgaben zu decken. Die Reichsschulden stiegen zwischen 1933 und 1939 von 12 Milliarden auf 43 Milliarden Mark. Die MefoWechsel machten davon nur 12 Milliarden aus, da Schacht bei Erreichen dieser Grenze 1937 eine weitere Ausgabe solcher Wechsel verweigerte. Die vorgesehene Rückzahlung der Wechsel und damit eine Einengung des Ausgabenspielraums im Reichshaushalt konnte Schacht nicht erzwingen; der Staat nahm, vor allem für die Aufrüstung, weiterhin den Kredit in Anspruch, der nunmehr allerdings nicht die Konjunktur ankurbelte, sondern die Inflation. So bewegte sich Deutschland allmählich auf eine Wendemarke zu: 1939 stand weder ein Zusammenbruch von Wirtschaft und Reichsfinanzen vor der Tür noch war mit ernsthaften inneren Unruhen zu rechnen, noch stellte die Flucht in den Krieg den einzigen Ausweg dar; aber es stand fest, daß die bisherige Rüstungspolitik demnächst an ein Ende gelangen mußte. 54
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Da die Aufrüstung der gesamten Wehrmacht zwischen 1933 und 1939 nicht einheitlich gesteuert wurde, lag ihr auch kein einheitlicher politischer und strategischer Entwurf zugrunde, wenn man einmal von dem allgemeinen Wunsch Hitlers absieht, möglichst bald einsatzfähige Streitkräfte zu erhalten. Den Zustand, der daraus entstand, beschrieb Hitlers Rüstungsminister Speer. Wenngleich Speer nur die Verhältnisse während des Krieges vor Augen standen, lassen sich seine Beobachtungen verallgemeinern und auf die Vorkriegszeit übertragen. Es blieb stets so, "daß Hitler alle Entscheidungen, ohne Fachunterlagen, selbst fällte. Er verzichtete auf Analysen der Lage, auf logistische Berechnungen seiner Ideen; es gab für ihn keine Studiengruppen, die Offensivpläne nach allen Seiten des Gelingens und die möglichen Gegenmaßnahmen des Gegners überprüften. Auf alle diese Funktionen eines modernen Krieges waren die Stäbe des Hauptquartiers vorbereitet, sie hätten nur aktiviert werden müssen. Hitler ließ sich zwar über Teilgebiete unterrichten, aber allein in seinem Kopf sollten sich die Einzelkenntnisse zu einem Gesamtbild vereinigen. Seine Feldmarschälle wie auch seine engsten Mitarbeiter hatten daher im eigentlichen Sinne nur beratende Funktionen, denn seine Entscheidung stand meist schon vorher fest und konnte nur um Nuancen verändert werden." Mit einem solchen Verfahren schirmte Hitler seine Absichten vor unerwünschter Kritik ab und entzog sie einer sachgerechten, auf Vernunft und wirkliches Wissen gegründeten Durchleuchtung. Der Einwand, daß auch andere leitende Staatsmänner, z. B. die amerikanischen Präsidenten in beiden Weltkriegen, Wilson und Roosevelt, einen selbstherrlichen Führungsstil pflegten und für wesentliche Entscheidungen hauptsächlich mit sich selbst zu Rate gingen, verfängt nicht. Der Unterschied liegt erstens darin, daß andere, bedeutendere Staatsmänner sehr wohl Fachunterlagen, sorgfältige Analysen und Berechnungen zur Grundlage ihrer obersten politischen Entscheidung machten; und der Unterschied liegt zweitens vor allem darin, daß andere Staatsmänner über einen geistigen Zuschnitt und ein Weltbild verfügten, die mit denjenigen Hitlers nicht vergleichbar waren. Hitlers Selbstherrlichkeit diente nicht bloß der Sicherung seiner diktatorischen Machtstellung, sondern sie entsprach insbesondere der nationalsozialistischen Weltanschauung in all ihrer Irrationalität und verteidigte sie zugleich. Wie diese Weltanschauung weder auf Sachkunde noch auf Logik beruhte, so wurde sie der Sachkunde und Logik von Fachleuten auch nicht ausgesetzt, weil Hitler von den Fachleuten nur eine glatte Ablehnung, zumindest aber eine Verwäs54 Zur Finanz- und Wirtschaftspolitik allgemein Schwerin von Krosigk, Finanzpolitik, 315 und passim. Deutsche Verwaltungsgeschichte IV, 664 ff., 832 ff. Boe1cke, Kosten. Zu Schachts Ablehnung des Krieges Vogelsang, Nationalsozialistische Zeit, 73. Ferner Boe1cke, Geldpolitik, 298 und passim. H.-J. Schröder, Drittes Reich, 351 und passim. Blaich, Wirtschaft, 297 und passim. Dülffer, Beginn, 332 (zu Thomas 1936) und passim. Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan bei Treue, D~nkschrift. Göring 1938 nach Kube, 259. Die Zahlen zur Einfuhrabhängigkeit 1939 bei Thomas, Wehrwirtschaft, 146. Zur Stahlindustrie Milward, 11. Vgl. auch MGFA, Weltkrieg I, 278 ff. M. Geyer, Aufrüstung, 449 ff.
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serung seiner weitreichenden Absichten erwarten durfte. Nationalsozialistische Politik nach innen und außen sollte nicht auf Wissen und Können beruhen, sondern auf Wille und Gesinnung. Galt im Staatsbetrieb Hitlers uneingeschränkte Verachtung den Juristen und dem Recht, so galt im militärischen Bereich sein besonderer Widerwille den Intellektuellen des Generalstabs, und das wiederum heißt: der in institutionellen Formen geregelten Arbeit militärischer Sachkenner, die durch Analyse, Berechnung und Planung durchdachtes Handeln möglich machen. In beiden Fällen wandte Hitler sich gegen die Fachleute, die ihr Gebiet beherrschen und die den modemen Staat wie die modemen Streitkräfte erst funktionstüchtig und leistungsfähig machen. In beiden Fällen wandte er sich auch gegen die Tätigkeit von Institutionen, die an Regeln und Sachzwänge gebunden sind und auf der Grundlage von Wissen und Vernunft herausarbeiten, was verwirklicht werden kann. An die Stelle von Institutionen, die ihre Schlagkraft aus der Organisation und der Sachkunde beziehen, wollte Hitler Personen setzen, die dem Führer jeweils einzeln unterstanden und so beherrscht werden konnten, die dem Führer gehorchten und seinen Willen mit Tatkraft und Durchsetzungsfähigkeit verwirklichten. Aus seiner weltanschaulichen Gesinnung und seinem fanatischen Willen heraus gab Hitler die Ziele vor, die dann von nachgeordneten Führungspersönlichkeiten nicht mehr auf ihre Tragfähigkeit untersucht, sondern - möglichst zersplittert und uneinheitlich - ebenso gesinnungsfreudig und willensstark umgesetzt werden sollten. Was Hitler entschied, stützte sich weder auf ein von Fachleuten sorfältig erarbeitetes Lagebild noch auf die durchdachte Planung geeigneter Institutionen, sondern lediglich auf seine Eingebungen und Vorurteile. Über allem sollten allein Hitlers Intuition stehen und sein Wille, ein Wille, für welchen die sachgemäße Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und mit den Leuten, die etwas davon verstanden, nur hinderlich war. Eine einheitliche Rüstungsplanung der Wehrmacht konnte so ebensowenig zustande kommen wie ein einheitliches, politisch-strategisches Lagebild, an welchem die Rüstung sich hätte ausrichten lassen. Soweit es strategische Vorstellungen gab, wurden sie bei den einzelnen Teilstreitkräften entwickelt, allenfalls noch in Blombergs Wehrmachtamt bzw. dem OKW, doch hing ihre Gültigkeit stets von Hitlers sprunghaften Entscheidungen ab. Denn was die Rüstung letztendlich bezweckte, wurde lange Zeit nicht verbindlich festgelegt, sondern Hitler führte nur allmählich, Schritt um Schritt, die Wehrmacht an seine Ziele heran. Die Methode Hitlers, einsame Entschlüsse zu fällen und überraschende Maßnahmen durchzuführen, brachte eine Zeitlang erstaunliche Erfolge und schien vielen zu erweisen, daß der Führer die Vorteile gründlicher, organisierter Analyse und Planung im politisch-strategischen Bereich durch besonderes Genie wettmache. Daß die oberste Führung mit diesem vermeintlichen Genie das Schicksal des Vaterlandes leichtsinnig auf Spiel setzte, wurde erst später deutlich, und auch dann nicht allen. 55 55 Speer über Hitler bei Speer, Erinnerungen, 316. Zu Hitlers Abneigung gegenüber dem Generalstab Görlitz, Keitel, 410. IMG, Bd. 10, 663; Bd. 15, 324.
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Was nun die Aufrüstung der einzelnen Teilstreitkräfte betrifft, so hatte die Marine - um mit der kleinsten zu beginnen - am Ende der Weimarer Republik einen Umbauplan entwickelt, ebenso wie das Heer, wonach zunächst die organisatorischen Grundlagen für die Errichtung einer U-Boot- sowie einer Marineluftwaffe geschaffen werden sollten, die gemäß Versailler Vertrag verboten waren. Nachdem Deutschland aus dem Völkerbund und der Abrüstungskonferenz ausgetreten war, ergab sich auch für die Marine die Gelegenheit zum Aufbau stärkerer Streitkräfte, mit denen das Reich wieder einen Platz unter den bedeutenderen Seemächten einnehmen konnte. Da zu diesen bedeutenderen Seemächten jedenfalls alle damaligen Großmächte zählten, beinhaltete die Marinerüstung, ebenso wie die Heeresrüstung, für Deutschland zunächst einfach die Rückkehr in den Kreis der Großmächte; das öfters gebrauchte Schlagwort von der Bündnisfähigkeit besagte lediglich, daß Deutschland wieder ein gleichberechtigter Partner in den Beziehungen der Mächte sein sollte. Eine Spitze gegen England, wie vor dem Ersten Weltkrieg, enthielt die Marinerüstung einstweilen nicht. Hitler wünschte dies sowieso nicht, und die Marineleitung unter ihrem Chef Admiral Raeder schloß eine Gegnerschaft zu Britannien anfangs ebenfalls aus. Die strategischen Vorstellungen der Marine legten die Möglichkeit eines Zweifrontenkriegs gegen Frankreich und Polen (bzw. später Rußland) zugrunde. Daraus ergaben sich als Aufgaben der Seestreitkräfte die Sicherstellung der Seeherrschaft in der Ostsee, die Abschirmung der eigenen Küsten und gegebenenfalls die Unterstützung von Landoperationen, der Schutz der eigenen Zufuhr über See, hauptsächlich in den Heimatgewässern, sowie der Angriff auf gegnerische Seeverbindungen. Zu diesem Zweck sollte die deutsche Flotte dieselbe Stärke wie die französische erhalten; sie besaß dann eine gute Chance, ihre Aufgaben erfolgreich zu lösen. Da seit den Flottenkonferenzen von Washington 1921/22 und London 1930 die französische Flottenstärke etwa ein Drittel bis die Hälfte der britischen ausmachte, bedeutete ein Gleichstand der deutschen Flotte mit der französischen zugleich, daß Deutschland etwa ein Drittel bis die Hälfte der britischen Flottenstärke erreichte - woraus dann der Schlüssel von 35 % hervorging, welcher dem deutsch-britischen Flottenabkommen von 1935 zugrunde lag. Die neue deutsche Flotte sollte einen ausgewogenen Aufbau erhalten, d. h. alle Schiffstypen für den Einsatz auf hoher See und im küstennahen Bereich im angemessenen Zahlenverhältnis enthalten, von Schlachtschiffen über Flugzeugträger und Kreuzer bis zu V-Booten und anderen kleinen Einheiten. Die Beseitigung des Versailler Vertrags war hierfür die Voraussetzung, da er der deutschen Marine Schlachtschiffe, Flugzeugträger und U-Boote verboten hatte; lediglich Panzerschiffe mit einer Wasserverdrängung von 10 000 Tonnen waren zulässig gewesen, die in ihrem Gefechtswert etwa schweren Kreuzern entsprachen. Zu einem langfristig geplanten, organischen Aufbau ist es freilich nicht gekommen. Nachdem die Rüstungsfreiheit erreicht war, wurde im Frühjahr 1934 ein Schiffbauplan aufgestellt, der bis 1949 erfüllt werden sollte und acht gepanzerte Schiffe, insbesondere Schlachtschiffe, drei Flugzeugträger und entsprechende 18 Rauh, Zweiter Weltkrieg 1. Teil
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leichte Streitkräfte vorsah; durch die Kiellegung von zwei leichten Schlachtschiffen wurde in dieser Klasse sofort die Gleichheit mit Frankreich angestrebt. Nach Abschluß des Flottenvertrags mit England 1935 stellte dieser den Rahmen für den Flottenaufbau dar; den 1936 in Bau gegebenen zwei schweren Schlachtschiffen und zwei Flugzeugträgern hätten später weitere Einheiten folgen können, da nunmehr auch Britannien, ebenso wie die anderen Seemächte, seine Flotte zu verstärken begann. In der Folgezeit geriet jedoch die Bauplanung durcheinander, da sich bei der Marineleitung die Zweifel verstärkten, ob Hitler den Zweck des Flottenvertrags, nämlich in jedem Fall die britische Neutralität zu sichern, wirklich erreichen würde. Auf der strategischen Grundlage einer möglichen Gegnerschaft Britanniens war die Flotte nicht geplant; einem Seekrieg gegen England und Frankreich zugleich war sie kurzfristig überhaupt nicht gewachsen und langfristig höchstens dann, wenn die gesamte Rüstungsplanung umgestellt wurde. Eine Entscheidung fiel einstweilen nicht; Hitler schob sie seit 1937 vor sich her, indem er lediglich darauf Einfluß nahm, einen im Entwurfsstadium befindlichen neuen Schlachtschifftyp möglichst stark zu machen. Erst Mitte 1938 begannen in der Marineleitung bzw. Seekriegsleitung die Überlegungen, wie ein Seekrieg gegen Britannien geführt werden könne und welche Art von Flotte man dafür benötige. Die Frage war im Grunde kaum zu lösen, jedenfalls nicht ohne einen umgreifenden strategischen Entwurf, und ein solcher war nicht vorgegeben. So blieb die Debatte einigermaßen unfruchtbar; eine Flotte zu bauen, die der britischen und französischen stärkemäßig gleichkam, war schlechterdings ausgeschlossen, und um mit einer schwächeren Flotte einige Erfolgsaussichten zu besitzen, hätte die ungünstige geographische Lage des Reiches wesentlich verbessert werden müssen, namentlich durch eine Besetzung der französischen Atlantikküste, wie in der Marineführung öfters festgestellt wurde. Da eine derartige territoriale Machterweiterung von der Seekriegsleitung nicht angenommen wurde, konnte sie kaum mehr als akademische Erörterungen über eine Flotte für den Seekrieg gegen England anstellen. Ein strategischer Entwurf aus der Seekriegsleitung vom Oktober 1938 sah vor, die reguläre, stärkere Form des Seekriegs, nämlich den Kampf um die Seeherrschaft mit Hilfe einer geeigneten Hochseeflotte, zu verbinden mit der schwächeren Form des Seekriegs, dem sog. Kreuzerkrieg, bei welchem die unterlegene Seemacht auf den Kampf um die Seeherrschaft verzichtet und statt dessen versucht, die überseeischen Handelslinien des Gegners abzuschneiden. Hierfür dachte man an eine Flotte von 10 Schlachtschiffen, acht Flugzeugträgern, 15 Panzerschiffen, d. h. eine Art überschwerer Kreuzer, sowie sonstige Streitkräfte, darunter UBoote. Unter der Voraussetzung, daß eine solche Flotte von geeigneten Stützpunkten aus zum Einsatz kam, hätte sie selbst für Britannien eine Gefahr dargestellt, weil die Panzerschiffe, die den Kreuzerkrieg führen sollten, die britische Schlachtflotte zum Schutz der Handelswege und damit zur Zersplitterung zwingen mußten, wodurch die deutsche Schlachtflotte bei begrenzten Unternehmungen zum Erfolg kommen und die britische Flotte hätte abnutzen können. Das war zwar gut
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durchdacht und zeugte für den Sachverstand der Marineoffiziere, es krankte nur daran, daß die schönste Flotte nichts nützt, wenn sie keine geeigneten Stützpunkte hat. Admiral Raeder zog daraus Anfang November 1938 die Folgerung, den Bau einer großen Flotte erst einmal sein zu lassen und bis 1944 nur vier Panzerschiffe und zwei Schlachtschiffe vorzusehen, wobei die beiden Schlachtschiffe ohnedies seit längerem geplant waren und sich im Rahmen eines Gleichstandes mit Frankreich bewegt hätten. Hitler dagegen hatte seit längerem die fixe Idee entwickelt, binnen kurzem sechs überschwere Schlachtschiffe zu bauen. Was er mit ihnen anfangen wollte, bleibt unklar, es sei denn, er habe schon damals damit gerechnet, sie von französischen Häfen aus einsetzen zu können. Selbst in diesem Fall hätten sie aber durch eine ausreichende Zahl von Flugzeugträgern ergänzt werden müssen, was in den Flottenbauplänen der großen Seemächte damals berücksichtigt wurde und auch in der Seekriegsleitung erkannt worden war. Als die Standpunkte Raeders und Hitlers Ende 1938 aufeinanderprallten, tat Raeder das, was man von einem verantwortungsbewußten Oberbefehlshaber erwarten darf: Er reichte seinen Rücktritt ein, der allerdings nicht angenommen wurde. In der Folgezeit setzte sich Hitler durch, so daß am 27. Januar 1939 ein neuer Flottenbauplan, der sog. Z-Plan, angeordnet wurde, der bis 1944 den Bau der besagten sechs Schlachtschiffe vorsah, unter den übrigen Streitkräften jedoch nur zwei Flugzeugträger, so daß die Flottenzusammensetzung merkwürdig unausgewogen wirkt und nicht recht erkennbar ist, nach welchen operativen Grundsätzen der Einsatz erfolgen sollte. Darüber hinaus konnte die gesamte Flotte erst tief in den 1940er Jahren einsatzbereit sein, so daß bis dahin entweder ein Krieg mit England vermieden werden mußte - was zur Täuschung der Marineführung über Hitlers Absichten beigetragen hat - oder die deutsche Marine in einem solchen Krieg auf verlorenem Posten stand, denn allein mit V-Booten war Britannien schwerlich zu bezwingen, wie schon der Erste Weltkrieg gezeigt hatte. Als der Krieg schließlich 1939 doch ausbrach, wurde der Bau der Z-Plan-Flotte eingestellt. Mit ihren knapp 80000 Mann und den bis dahin fertiggestellten Einheiten (zwei leichte Schlachtschiffe, eine Anzahl Kreuzer sowie leichte Streitkräfte) war die Marine bei Kriegsbeginn ein Torso. 56 Wohl die größte organisatorische Herausforderung stellte im Rahmen der Wiederaufrüstung der Aufbau der Luftwaffe dar. Das Verbot jeglicher Militärluftfahrt, wie es der Versailler Vertrag aussprach, war im Rahmen der geheimen Aufrüstung zwar umgangen worden, teils durch die Errichtung des deutschen Schul- und Erprobungszentrums im sowjetrussischen Lipezk (1924), teils durch getarnte Dienststellen im Reich und teils durch die Aufstellung einiger getarnter "Reklamestaffeln" (1930). Die Reichswehr war so von der Entwicklung der Militärluftfahrt nicht völlig abgeschnitten worden, aber für den Aufbau verwendungsfähiger Luftstreitkräfte mußte doch erst Grundlagenarbeit geleistet werden. 56 Dülffer, Marine. Salewski, Seekriegsleitung, I, III. Gemzell, Raeder. MGFA, Militärgeschichte IV, 401 ff.; V, 449 ff. Raeder. MGFA, Weltkrieg I, 449 ff.
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Das Rüstungsprogramm von 1932 hatte die Aufstellung von 22 Staffeln mit rund 200 Flugzeugen bis 1937 vorgesehen, was alles andere als beeindruckend war. Die stürmische Entwicklung der Luftwaffe seit 1933 war freilich zum wenigsten das Verdienst Görings, denn starke Luftstreitkräfte wären nach dem Willen Hitlers und BIombergs auf jeden Fall aufzustellen gewesen, sondern was an Brauchbarem zustande kam, geht teils auf das Konto von Erhard Milch, vorher Vorstandsmitglied der Lufthansa und seit 1933 Staatssekretär in Görings Luftfahrtministerium, teils auf das Konto der vier Oberste Wever, Stumpff, Wimmer und Kesselring, die vom Heer zur Luftwaffe überstellt wurden und zunächst an die Spitze der Ämter für Kommandosachen (praktisch der Generalstab der Luftwaffe), für Personal, Technik und Verwaltung traten. Gegenüber der verbreiteten Auffassung, Heer und Marine je über ihre eigene Luftwaffe verfügen zu lassen, setzte Göring die Errichtung der Luftwaffe als eigene Teilstreitkraft durch, was an sich eine vertretbare Lösung darstellte, jedoch vom Beginn an darunter litt, daß Göring sich den Pflichten eines Oberbefehlshabers zu wenig widmete und ihnen auch fachlich kaum gewachsen war. Die Aufgaben der Luftwaffe wurden ihr noch von BIomberg vorgegeben, der in einer Weisung vom August 1933 feststellte, es solle eine "operative Luftwaffe" aufgestellt werden, die im Rahmen der Gesamtstrategie entweder selbständig oder im Zusammenwirken mit Heer und Marine ihre Kampfaufträge zu erfüllen habe. Strategische Grundlage war ein möglicher Mehrfrontenkrieg auf dem Kontinent, insbesondere gegen Frankreich, Polen und die Tschechoslowakei. Eine im Luftkommandoamt unter Oberst bzw. General Wever bis 1936 erstellte Dienstvorschrift verdeutlichte die Aufgaben der Luftwaffe, die erstens im Kampf gegen feindliche Luftstreitkräfte bestanden, zweitens in der unmittelbaren Unterstützung der Operationen von Heer und Marine sowie drittens im Kampf gegen die feindlichen Kraftquellen, d. h. gegen Rüstung und Nachschub. Darin waren auch Elemente des sog. strategischen Luftkrieges enthalten, der sich unmittelbar gegen die Kriegsfähigkeit des Gegners richtet, namentlich gegen seine Rüstungsindustrie oder gegebenenfalls gegen die Zivilbevölkerung, und dadurch von sich aus kriegsentscheidend wirken kann. Wenn BIomberg in seiner Weisung von 1933 eine "operative" Luftwaffe gefordert, eine "strategische" jedoch abgelehnt hatte, so hatte er damit zum Ausdruck gebracht, daß die Luftwaffe ihren Schwerpunkt nicht im strategischen Luftkrieg suchen sollte, der unter den Gegebenheiten der Zeit vorzugsweise von schweren Fernbombern geführt wurde. Solche schweren Fernbomber sollten unter Wever und danach zwar entwickelt werden, standen aber bis zum Krieg nicht zur Verfügung, so daß ein Luftkrieg gegen England schon aus rüstungstechnischen Gründen kaum geführt werden konnte. Die Luftwaffe war daher in einem besonderen Sinn eine "operative" Luftwaffe: Sie war ausgelegt für eine potentielle Auseinandersetzung mit kontinentalen Nachbarn des Reiches, bei welcher sie aus der Luft die Voraussetzungen schaffen sollte, um dem Heer einen erfolgreichen Ablauf seiner Operationen zu ermöglichen.
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An dieser AufgabensteIlung richtete sich die Führungsorganisation aus. Ab 1. April 1934 wurden, in loser Angleichung an die territoriale Organisation der Wehrkreise des Heeres, sechs Luftkreiskommandos aufgestellt, die ab 1. April 1935, nach der Enttarnung der Luftwaffe, den Befehl über die Fliegertruppe, die Flakartillerie und die Luftnachrichtentruppe in ihrem Bereich übernahmen. Im Februar 1938 traten an die Stelle der Luftkreiskommandos mehrere Luftwaffengruppenkommandos, aus denen 1939 vier Luftflottenkommandos hervorgingen. Jede Luftwaffengruppe bzw. jede Luftflotte war eine eigene Luftwaffe im kleinen, mit fliegenden Verbänden, Flak, Bodenorganisation, Ausbildungs- und Ersatzwesen usf. Die Luftflotten sollten mit den entsprechenden Heeresgruppen der Bodenstreitkräfte zusammenwirken, worin ihr "operativer" Charakter und ihre Anbindung an die Operationen des Heeres zum Ausdruck kommt. Den Luftflottenkommandos unterstanden einerseits Fliegerdivisionen (später auch Fliegerkorps), die als Frontverbände von der Bodenorganisation gelöst waren und leicht verschoben werden konnten, andererseits Luftgaukommandos, welche die Bodenorganisation stellten und über Einrichtungen für die Heimatluftverteidigung verfügten. Was dieser Organisation fehlte, war erstens eine Steuerungszentrale für die Heimatluftverteidigung und zweitens ein strategisches Bomberkommando, was natürlich mit dem Fehlen strategischer Bomber zusammenhängt, aber zugleich wieder darauf verweist, daß die strategische Komponente im Kriegsbild der Luftwaffe schwach entwickelt war und ihre Zweckbestimmung vor allem im Zusammenwirken mit dem Heer bestand. Unter solchen Umständen hätte auf die Errichtung der Luftwaffe als selbständige Teilstreitkraft wohl auch ganz verzichtet und Heer wie Marine mit eigenen Luftstreitkräften ausgestattet werden können; die Marine hat jedenfalls mit Recht immer hervorgehoben, daß sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben eigentlich eine zugehörige Marineluftwaffe benötige. Wenn Göring die Daseinsberechtigung der Luftwaffe als selbständiger Wehrmachtsteil auf mehr gründen wollte als auf seinen persönlichen Ehrgeiz, hätte er sich um eine sorgfaltige Klärung des Kriegsbildes und der Verwendungsmöglichkeiten der Luftwaffe kümmern müssen, wozu er aber wohl nicht imstande war, zumal er nach Wevers frühem Tod 1936 in der Auswahl seiner Mitarbeiter und in der Organisation des Luftfahrtministeriums eine wenig glückliche Hand bewies. Als der Luftwaffenführung, ähnlich wie der Marineführung, seit 1938 deutlich wurde, daß mit England als möglichem Kriegsgegner gerechnet werden müsse, stellte sich bald heraus, daß die Luftwaffe zur Führung eines Krieges über See ebensowenig imstande war wie zur Führung eines strategischen Luftkrieges. Die bisherige Luftwaffenrüstung entpuppte sich als zu wenig ausgewogen, trotz ihrer unbezweifelbaren Leistungen. Es rächte sich nun, ähnlich wie bei der Marine, daß allein Hitler in seinem eigenen Kopf die Einzelheiten seines politischen Fahrplans zusammensetzte, daß kein Wehrmachtgeneralstab ein fundiertes strategisches Lagebild entwarf und daß Hitler mit seinen jähen Schwenkungen immer für neue Überraschung sorgte. Dabei hätte die Luftwaffe mit dem bisherigen Aufbau "operativer" Streitkräfte durchaus
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zufrieden sein können, wenn nicht die strategischen Grundlagen sich gewandelt hätten. Nachdem Milch bereits im Sommer 1933 erste Programme für die Aufstellung fliegender Verbände bis 1935 vorgelegt hatte, wurde im Sommer 1934 ein langfristiges Beschaffungsprogramm für fliegendes Gerät genehmigt, wonach bis 1938 rund 17 000 Flugzeuge hergestellt werden sollten, in der Mehrzahl Schulflugzeuge. Damit sollte erst einmal eine Grundlage für die Aufstellung verwendungsfahiger Verbände geschaffen und die Luftfahrtindustrie in die Höhe gebracht werden; es war aber klar, daß die anfangs verwendeten Flugzeugmuster bald ersetzt werden mußten, weil sie technisch nicht mehr genügten. Im Frühjahr 1935 waren rund 20 Staffeln vorhanden bzw. einsatzfahig, Ende 1936 gut 100, Ende 1937 gut 200 und Ende 1938 knapp 250. Nach dem Ausrüstungssoll der späteren Jahre verfügte eine Staffel meistens über neun Flugzeuge, drei Staffeln bildeten eine Gruppe und drei Gruppen ein Geschwader (das Geschwader stand auf der Regimentsebene), so daß ein Geschwader rund 100 Flugzeuge aufwies. Bei den Jagdgeschwadern wurde in den Jahren vor dem Krieg der Abfangjäger mit der Typenbezeichnung Me 109 von der Firma Messerschmitt eingeführt, bei den Kampf- bzw. Bombengeschwadern mittlere zweimotorige Bomber der Typen He 111 (von Heinkel) und Do 17 (von Dornier), für den Angriff auf Punktziele und die taktische Erdkampfunterstützung standen Stukageschwader mit dem Sturzkampfflugzeug Ju 87 (von Junkers) zur Verfügung. Für strategische Ferneinsätze waren alle verwendeten Typen ungeeignet, so daß im Jahr 1938, als die Möglichkeit eines Krieges mit England einkalkuliert werden mußte, die Feststellung nicht mehr zu umgehen war, daß mit den vorhandenen Flugzeugmustern ein Luftkrieg gegen England nur dann geführt werden konnte, wenn man über Einsatzbasen in Holland und Belgien verfügte, und auch dann nur in beschränktem Umfang. Um dem abzuhelfen, sollten baldmöglichst neue Flugzeugtypen zur Truppe gelangen, so namentlich der mittlere Bomber Ju 88 und der schwere Fernbomber He 177. Für beide wurde die Sturzflugfahigkeit gefordert, die mittlerweile von etlichen Köpfen im Luftfahrtministerium Besitz ergriffen hatte, weil Punktangriffe in der Tat wirkungsvoller waren als Flächenbombardements von Hochbombern. Doch führte dies nur dazu, daß die Flugeigenschaften der Ju 88 wesentlich verschlechtert wurden und die He 177 praktisch nie zum Einsatz kam. Man möchte vermuten, daß eine andere Stellenbesetzung in der Luftwaffenführung derartige Ungereimtheiten wohl hätte verhindern können. Hitler leistete seinen üblichen Beitrag zum Durcheinander, indem er im Oktober 1938 eine Verfünffachung der Luftwaffe bis 1942 befahl, was schon aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich war und sich außerdem mit der bald darauf angeordneten VorzugsteIlung der Marine zur Erfüllung des Z-Planes überschnitt. Die Rüstungspolitik begann hier in die reine Willkür abzugleiten, sofern man nicht annimmt, daß Hitler lediglich eine kurzfristige Kraftanstrengung herbeiführen wollte, um besser auf den demnächst auszulösenden Krieg vorbereitet zu sein. Im August 1939 verfügte die Luftwaffe über rund 300 Staffeln, die meisten davon zusammen-
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gefaßt in 21 Geschwadern, sowie über gut 4000 Frontflugzeuge, die zu über 90 % einsatzbereit waren, davon gut 1 500 Bomber einschließlich Stukas, knapp 800 Jäger, ferner Aufklärer, Begleit- bzw. Langstreckenjäger (sog. Zerstörer), Transporter, Schlachtflieger und Seeflugzeuge. Personell umfaßte die Luftwaffe 373000 Mann, davon 107000 Mann bei der Flak, die über 9300 schwere, mittlere und leichte Flugabwehrkanonen verfügte. Ein gewisser Engpaß bestand bei den Flugzeugbesatzungen, da die vorhandenen Flugzeuge zu 12 % nicht mit ausgebildetem Personal besetzt werden konnten. Insgesamt war die Luftwaffe als "operative" Streitkraft auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit kontinentalen Nachbarn des Reiches hinlänglich vorbereitet; zu einem weiträumigen oder strategischen Luftkrieg, etwa gegen Britannien oder Rußland, war sie dagegen nicht imstande. 57 Während Luftwaffe und Marine zwar nicht reibungslos, aber schließlich doch gefügig den Wendungen und politischen Vorgaben Hitlers folgten, entwickelte sich im Heer, der größten Teilstreitkraft, allmählich ein Herd des Widerstands, was auch Hitler nicht ganz verborgen blieb, als er das Heer im Herbst 1938 sein unsicherstes Element im Staat nannte. Anders als Luftwaffe und Marine fand sich das Heer nicht damit ab, daß seit 1937/38 die bisherige strategische Grundlage der Wiederaufrüstung hinfallig wurde und Hitler Absichten erkennen ließ, welche weder mit der herkömmlichen Revisionspolitik noch mit den deutschen Möglichkeiten in Einklang standen. Vor allem den geschmähten Intellektuellen des Generalstabs kommt dabei das Verdienst zu, nicht bloß - nach anfänglichen Irrtümern - das Zerstörerische der Hitlerschen Politik durchschaut, sondern in der Verantwortung vor ihrem Gewissen und ihrer Nation auch auf die Beseitigung der Diktatur hinge wirkt zu haben. Im Zuge dieser Ereignisse wurde sodann die bisherige Zwei-Säulen-Theorie hinfällig, wonach die bewaffnete Macht eine bevorzugte Stellung im Staat, Unabhängigkeit von der nationalsozialistischen Bewegung und Mitsprache bei außenpolitischen Grundsatzentscheidungen genoß. Ein herausragender Repräsentant des Zwei-Säulen-Systems war seit Anfang 1934 der neue Oberbefehlshaber des Heeres, General Werner von Fritsch, der noch als Divisionskommandeur im Juli 1933 den nationalsozialistischen Umsturz nicht abgelehnt, aber seine Offiziere hatte wissen lassen, das wirklich wertvolle Geistesgut, das seine lebendige Kraft aus der ruhmreichen Vergangenheit unseres Volkes ziehe, müsse dem neuen Staat erhalten bleiben; wer dem jüngst eingetretenen Wandel sich noch nicht habe anpassen können, der besitze die verantwortungsvolle und schöne Aufgabe, die sittlichen Werte der Vergangenheit in den neuen Staat zu überführen. Mit dieser Einstellung wurde Fritsch zu einem Vorbild für Sauberkeit, Ordnung und Anständigkeit, für eine verantwortungsbewußte Politik, und geriet zunehmend in Gegensatz zur nationalsozialistischen Bewegung. Als Fritsch bei seinem Amts57 Völker, Luftwaffe. Ders., Dokumente. Boog. MGFA, Militärgeschichte IV, 501 ff. MGFA, Weltkrieg I, 473 ff.
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antritt von Hitler den Auftrag erhielt, ein Heer in größtmöglicher Stärke und innerer Geschlossenheit und Einheitlichkeit auf dem denkbar besten Ausbildungsstand zu schaffen, sah er sich einer Aufgabe gegenüber, die für einen hohen Offizier bestechend war und von der er glauben durfte, sie diene dem Wohl des Vaterlands, das dadurch wieder seinen gebührenden Platz unter den Großmächten einnehmen könne. Ähnlich wie sein Chef des Truppenamts, General Ludwig Beck, der den nationalsozialistischen Umsturz noch freudiger begrüßt hatte, verkörperte Fritsch den Typus des Soldaten oder einfach des Staatsbürgers, welcher unter der Diktatur mitarbeitete in der Hoffnung, zum inneren und äußeren Wiederaufstieg Deutschlands beizutragen, ohne den Staat den radikalen und revolutionären Bestrebungen der Partei völlig auszuliefern. Wenn es dabei in den ersten Jahren der Wiederaufrüstung Uneinigkeiten zwischen Hitler und der Heeresführung im besonderen oder der Wehrmachtführung im allgemeinen gab, so bezog sich dies in der Regel auf taktische Fragen des Vorgehens, der Vorsicht gegenüber dem Ausland, des Tempos oder dergleichen; über die grundsätzliche Frage, daß Deutschland bald wieder über brauchbare Streitkräfte verfügen müsse, waren sich Hitler, BIomberg, Fritsch, Beck und andere weitgehend einig. So begehrte Beck im Mai 1934 auf, nachdem Hitler - wahrscheinlich wegen der gespannten außenpolitischen Lage - eine erhebliche Beschleunigung beim Aufbau des seit Dezember 1933 geplanten 21-Divisionen-Friedensheeres verlangt hatte, das nicht mehr bis 1938, sondern nunmehr schon bis 1935 aufgestellt werden sollte. Beck nannte dieses eilige Aus-demBoden-Stampfen eine Mobilmachung und befürchtete davon eine Verschärfung der außenpolitischen Spannungen; die Maßnahme fördere, so meinte er, die Kriegsgefahr und sei außenpolitisch nur gerechtfertigt, wenn man glaube, an einem bewaffneten Konflikt doch nicht vorbeizukommen. Als sich diese Lageeinschätzung als zu düster erwies, führte Beck den Auftrag anstandslos aus. Ähnlich verhielt es sich mit der Frage der allgemeinen Wehrpflicht, die nach den ursprünglichen Vorstellungen vom Dezember 1933 schon im Herbst 1934 hatte eingeführt werden sollen, dann freilich verschoben wurde, eben wegen der gespannten außenpolitischen Lage. Im März 1935 ordnete Hitler überraschend die Verkündung der deutschen Wehrhoheit und in diesem Rahmen die Einführung der Wehrpflicht an, was bei BIomberg und der Heeresleitung auf Bedenken stieß, im Kabinett jedoch gebilligt wurde. Auf Grund eines entsprechenden Gesetzes sowie eines anschließenden Wehrgesetzes vom Mai 1935 traten eine Neufestsetzung der Heeresstärke ein sowie einige Umbenennungen; aus der Reichswehr wurde die Wehrmacht, aus dem Reichswehrminister der Reichskriegsminister, aus der Heeresleitung das Oberkommando des Heeres (entsprechend bei den anderen Teilstreitkräften) und aus dem Truppenamt der Generalstab des Heeres. Ein alter Wunsch war sodann die Wiederbesetzung des Rheinlands, also das Beseitigen der vom Versailler Diktat eingeführten und in den Locarno-Verträgen festgeschriebenen Entmilitarisierung des Rheinlands, weil Deutschland sein Territorium und insbesondere das Ruhrgebiet natürlich ungleich besser schützen
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konnte, wenn es mit seinen Truppen jenseits des Rheins stand. Die Rheinlandbesetzung wurde wiederum durch einsamen Entschluß Hitlers im Februar 1936 festgelegt, fand die sorgenvolle Zustimmung BIombergs sowie des Oberkommandos des Heeres und wurde unter nervöser Unruhe BIombergs im März 1936 durchgeführt. Bei all diesen Maßnahmen vermochten die Offiziere Hitler ohne das Entstehen schwerwiegender Gegensätze zu folgen; die Maßnahmen waren mit ihren eigenen Wünschen vereinbar und schienen nur eine gewisse Kühnheit, aber keine unverantwortliche Bedenkenlosigkeit zu offenbaren. Die strategische Grundlage der Heeresrüstung war dieselbe wie bei Luftwaffe und Marine: ein kontinentaler Zweifrontenkrieg gegen benachbarte Länder des Reiches. Das hatte schon die Denkschrift des Truppenamts vom Dezember 1933 ausgedrückt, in welcher es hieß, der Angriff müsse für die Nachbarn zum Risiko werden, und bei der Neuplanung der Heeresrüstung seit 1935 war es ebenso. Die Wehrmacht hat nie für den Lebensraumkrieg gerüstet, den sie weder wünschte noch erwartete. Als Anfang 1935 noch einmal die Möglichkeit internationaler Rüstungsvereinbarungen ins Gespräch kam, erarbeitete das Truppenamt unter Beck eine Denkschrift vom 6. März, in welcher es hieß, Deutschland müsse einen Rüstungsstand fordern, der ihm wenigstens notdürftig Sicherheit gewähre. Da unterdessen auch andere Länder aufgerüstet hatten, war gegenüber früheren Jahren eine neue Lage entstanden. Im einzelnen führte die Denkschrift aus: "Als Erdrüstung muß ein Friedensheer gefordert werden, das die Aufstellung eines Kriegsheeres gestattet, mit dem die möglichen Angriffe auf der Erde abgewehrt werden können. Nach der derzeitigen politischen Lage kommen als Angreifer auf der Erde in Betracht: Frankreich, Tschechei, Belgien, Polen. Letzteres muß trotz der z. Zt. bestehenden vertraglichen Abmachungen stets zu den möglichen Gegnern gerechnet werden. Die Neutralität der übrigen an Deutschland angrenzenden Länder kann als wahrscheinlich angenommen werden. Ein unmittelbares Eingreifen anderer, uns z. Zt. wenig freundlich gesinnter Mächte Europas hierbei ist in erster Linie an Rußland, in zweiter an Italien und schließlich an England zu denken - ist weniger wahrscheinlich und deshalb bei den nachfolgenden Berechnungen außer Betracht gelassen." Diese Berechnungen ergaben, daß im Kriegsfall aufstellen konnten: Frankreich 88 Divisionen, Tschechei 28 Divisionen, Belgien 15 Divisionen und Polen 53 Divisionen, also zusammen 184 Divisionen. Wie die Denkschrift darlegte, werde man zur Sicherstellung einer erfolgreichen Abwehr im freien Feld nach Möglichkeit ein Kräfteverhältnis zwischen Verteidiger und Angreifer von 1: 1 anstreben, doch sei bei günstigen Geländeverhältnissen und beim Vorhandensein von Befestigungen auch ein Kräfteverhältnis von 1 : 2 oder äußerstenfalls 1 : 3 zulässig, um eine erfolgreiche Abwehr zu ermöglichen. "Zusammenfassend ergibt sich, daß eine erfolgreiche Abwehr äußerstenfalls durch ein personell und materiell gut ausgestattetes Kriegsheer von ... 63 Divisionen mit den zu einem modemen Heer gehörigen Sonderformationen sichergestellt erscheint. Voraussetzung dabei ist, daß die Verteidigung unserer Grenzen durch ständige Befestigungsanlagen gestützt wird ... Bleiben die Bin-
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dungen der entmilitarisierten Zone in bisheriger Form bestehen, so müßte sich die Forderung auf 73 Divisionen erhöhen." Diese Ausführungen, die vom Chef der Heeresleitung Fritsch gebilligt wurden, beruhten sodann auf der Überlegung, infolge der technischen Entwicklung (Luftwaffe, Kampfwagen, größere Beweglichkeit durch Motorisierung) sei die Angriffsfahigkeit der potentiellen Gegner erheblich gewachsen, so daß ein Zukunftskrieg aller Voraussicht nach ganz überraschend ausbrechen werde. Zur ersten Abwehr müßten daher starke Kräfte verfügbar sein, die nicht herangezogen werden könnten, um aktive Stämme für die Mobilisierung der Kriegswehrmacht zu stellen. Das wiederum bedeutete, daß in Zukunft das Friedensheer wesentlich größer sein mußte als die seit 1933 geplanten 21 Divisionen, weil nicht genug Zeit verblieb, um mit so wenigen Divisionen sowohl den Einmarsch beweglicher Kräfte aufzufangen als auch die Reserven zu mobilisieren. Für die Heeresleitung ergab sich daraus, den Umfang des Friedensheeres auf 30 bis 36 Divisionen festzusetzen, nachdem Fritsch ursprünglich 36 bis 40 Divisionen ins Auge gefaßt hatte. Es entsprach diesen Erwägungen, wenn Hitler durch das Gesetz über den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935, das die allgemeine Wehrpflicht einführte, zugleich den Umfang des Friedensheeres auf 36 Divisionen und 12 Korpskommandos festsetzte. Das war noch kein ausufernder Militarismus, sondern geradezu ein Minimalprogramm; das deutsche Kriegsheer sollte tatsächlich nur ein Drittel der Heeresstärke bei den möglichen Gegnern erreichen. 58 Dabei blieb es freilich nicht. Hierzu ist neuerdings die Behauptung aufgestellt worden, die Wehrmacht sei 1935 von dem bisherigen Aufbauziel eines Verteidigungsheeres abgegangen und habe mit der Planung eines Aggressionsheeres begonnen. Die Feststellung, dies sei bislang völlig unbekannt gewesen, trifft zu; es konnte auch nicht bekannt sein, weil es in dieser Form nicht stimmt. Richtig ist zwar, daß Hitler bei einer Rede vor der Generalität sowie höheren SA- und SS-Führern im Februar 1934 ausgeführt hatte, die deutsche Wirtschaftsblüte werde nur etwa acht Jahre dauern, danach müßten wirtschaftliche Rückschläge eintreten, was man durch die Schaffung von Lebensraum umgehen könne. Da die Westmächte dem Reich diesen Lebensraum nicht gönnten, seien möglicherweise kurze, entscheidende Schläge nach Westen und dann nach Osten notwendig. Die neu aufzubauende Armee müsse nach fünf Jahren für jede Verteidigung, nach acht Jahren auch für den Angriff geeignet sein. In dieser Äußerung ist eine Art Stufenplan für die Wiederaufrüstung enthalten, ohne daß klar ersichtlich wäre, wie Hitler dazu kam. Möglicherweise griff er dabei auf Überlegungen BIombergs und der Heeresleitung zurück, die nach den Plänen von Ende 1933 58 Zu Fritsch K.-J. Müller, Armee, 153 ff. (Verfügung des Divisionskommandeurs Fritsch, 14.7.1933),244 ff. (Aufzeichnung Fritsch' vom 1.2.1938). Zum zweiten Dokument auch Hoßbach, 68 ff. Zu Beck 1934 K.-J. Müller, Beck, 350 ff. (20.5.1934). Ferner K.-J. Müller, Heer, 206 ff. MGFA, Militärgeschichte IV, 134 ff., 162 ff. Becks Denkschrift vom 6.3.1935 bei K.-J. Müller, Beck, 415 ff. Dazu MGFA, Militärgeschichte IV, 300 f. MGFA, Weltkrieg I, 416.
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ein Heer aufbauen wollten, das bis 1938 zur Verteidigung in einem Mehrfrontenkrieg imstande war. Jedenfalls stellte die Organisationsabteilung des Truppenamts in einer Ausarbeitung vom November 1935 fest: "Der derzeitige und in den nächsten Jahren weiter beabsichtigte Aufbau des Friedensheeres ging entsprechend der militärpolitischen Lage davon aus, möglichst rasch die Grundlagen für die Aufstellung eines Kriegsheeres für einen Verteidigungskrieg zu schaffen. Diesen Gedanken gegenüber und mit Rücksicht auf Geldlage und technische Möglichkeiten mußten bisher die Absichten, durch Erhöhung der Angriffskraft und der Beweglichkeit im Endziel ein Heer zu schaffen, das zu einem entscheidungssuchenden Angriffskrieg befähigt ist, zurücktreten." Es sei nun an der Zeit, "den bisher für 1938 und 1939 vorgesehenen Aufbau in dieser Richtung zu überprüfen." Es hat den Anschein, als habe die militärische Führung ursprünglich einen ähnlichen Stufenplan ins Auge gefaßt, wie ihn Hitler 1934 andeutete, und habe ab 1935 den Aufbau des Heeres umgestellt. Aber was steckt wirklich dahinter und was hat es mit dem entscheidungssuchenden Angriffskrieg auf sich? 59 Seit den Tagen der preußisch-deutschen Generalstabschefs Moltke und Schlieffen spielte im Heer die Operation immer eine herausragende Rolle. Definiert man den Ausdruck Operation ganz formal, so handelt es sich um die militärische Führungstätigkeit auf einer mittleren Ebene zwischen Strategie und Taktik. Strategie ist der oberste und zugleich politische Bereich der Kriegführung und anhängender Tätigkeiten; Strategie fällt die grundlegenden Entscheidungen, unter welchen Umständen, wozu und wie überhaupt Krieg geführt wird. Auf der Ebene darunter steht die Operation, welche die Führung größerer Truppenverbände, gegebenfalls einer ganzen Streitmacht zu Lande oder zu Wasser umgreift, während es die Taktik mit dem Verhalten der Truppe auf dem Gefechtsfeld zu tun hat. Über diese formale Definition hinaus bedarf der eher schwimmende Begriff Operation einer inhaltlichen Auffüllung, die sich ganz knapp und schlagwortartig etwa so umreißen läßt: Operation ist Bewegung. Als Kunst der beweglichen Kampfführung ist Operation eine besonders hochentwickelte, man möchte sagen: intelligente Form militärischer Führungstätigkeit; Angriff und Verteidigung, die operativ, also beweglich angelegt sind, nützen Zeit, Raum, Gelände, Überraschung und Schwächen des Gegners, um an entscheidenden Stellen stark zu sein, also Schwerpunkte zu bilden, die es gestatten, den Schlachtplan des Gegners zu durchkreuzen und ihm das Gesetz des Handeins aufzuzwingen. Obwohl während des Ersten Weltkriegs die operative Führungskunst vielfach im Stellungskrieg versandet war, hielten die Heeresleitungen der republikanischen Reichswehr unter Seeckt und seinen Nachfolgern mit Entschiedenheit an der operativen Kampffüh59 Die These vom Aggressionsheer bei M. Geyer, Aufrüstung, 438 ff. Ähnlich K.-J. Müller, Armee, 100 ("Angriffsheer"). Vgl. ferner M. Geyer, Militär, 261 ff. Hitlers Rede vom 28.2.1934 bei K.-J. Müller, Armee, 195. Die Äußerung der Organisationsabteilung des Generalstabs vom 15.11.1935 bei M. Geyer, Aufrüstung, 447; sowie ders., Militär, 261.
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rung fest. Die eifrig gepflegten Kriegsspiele der Reichswehr, die sog. Truppenamtsreisen oder Führerreisen, hatten zwar wenig Bedeutung für die Wirklichkeit, weil das Heer für einen operativen Krieg voraussichtlich zu schwach war, doch dienten sie der gründlichen theoretischen Schulung und bildeten ein höheres Offizierkorps heran, das in der beweglichen Führung eines großen Heeres vollauf bewandert war, wenn Deutschland erst wieder über ein solches verfügen sollte. Die Merkmale der operativen Führungskunst, wie sie in der Reichswehr gepflegt wurde, waren klare Vorstellungen über die Verhältnisse von Zeit und Raum, die Fähigkeit zum weiten Vorausdenken, Einheitlichkeit, Kürze und Schnelligkeit in der Befehlsgebung. Ein Erfolg war nur im Angriff zu erringen, was sich nicht auf einen von Deutschland entfesselten Angriffskrieg bezog, denn derartiges wurde augenscheinlich nicht gespielt, sondern die "Reisen" gingen regelmäßig von der Abwehr gegnerischer Angriffe aus. Demgemäß waren die gespielten eigenen Angriffe Gegenangriffe, die aus einer Verteidigungssituation heraus den aufmarschierten oder eingedrungenen Feind schlagen sollten. Anzustreben war die Schaffung von Umfassungsmöglichkeiten, immer wieder die Überraschung des Gegners, äußerste Konzentration der Kräfte an einer Stelle und größte Schnelligkeit. Dazu gehörte Mut zur Schwächung weiter Frontabschnitte, Mut zu Lükken, Mut zum Entschluß ins Ungewisse. Vor diesem Erfahrungshintergrund der höheren Offiziere trat, nachdem die Wiederaufrüstung in Gang gekommen war, die Frage hervor, wie die Beweglichkeit und Angriffskraft des Heeres sicherzustellen sei, was angesichts der Motorisierung und der Verwendung von Kampfwagen in anderen Ländern nur bedeuten konnte, derartige Waffen und Geräte ebenfalls zu besitzen. Als einer der geistigen Väter der späteren Panzertruppe gilt gemeinhin Heinz Guderian, der als Oberstleutnant seit dem Ende der 1920er Jahre den Gedanken entwickelt hatte, durch die Zusammenfassung von Kampfwagen, motorisierter Infanterie und Artillerie sowie der zugehörigen anderen Waffengattungen (Pioniere, Nachrichten-, Versorgungstruppe usf.) einen selbständigen Verband für weitreichende operative Aufgaben zu schaffen, die Panzerdivision. Derartige Überlegungen waren freilich auch der Reichswehrführung und der Heeresleitung nicht fremd, namentlich BIomberg, Fritsch und Beck, so daß bereits der Heeresaufbauplan von Ende 1933 außer den öfters genannten 21 klassischen Infanteriedivisionen noch eine motorisierte "leichte" Division sowie einen Panzerverband umfaßte (daneben übrigens auch drei Kavalleriedivisionen), während ab 1934 die Aufstellung von drei Panzerdivisionen in die Wege geleitet wurde (wofür in Zukunft die Kavallerie entfiel). Hitlers Willensbekundung vom März 1935, wonach das Friedensheer 36 Divisionen umfassen sollte, wurde vom Truppenamt anfangs so ausgelegt, daß es sich um 33 Infanterie- und drei Panzerdivisionen handeln solle. Da die Panzerdivision ein typischer Angriffsverband ist, sah die Heeresplanung eine beachtliche Angriffskomponente bereits zu einer Zeit vor, wo von einem "Aggressionsheer" nun wirklich nicht die Rede sein kann. Das erklärt sich einfach daraus, daß die operative Verteidigung im Weg des Angriffs bzw. Gegenangriffs geführt
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werden sollte, wie die Reichswehr es jahrelang gespielt hatte. Auf drei Panzerdivisionen allein ließ sich freilich eine operative Abwehr nicht stützen, sondern um einem beweglichen und mit Panzern ausgerüsteten Feind standhalten zu können oder ihrerseits in der operativen Abwehr zum Angriff überzugehen, mußten auch die Infanteriedivisionen über entsprechende Kampf- bzw. Angriffskraft verfügen. Fritsch brachte das im Herbst 1935 auf die ebenso banale wie richtige Formel, daß Panzer das beste Mittel gegen Panzer sind. Was kann demnach die Organisationsabteilung des Generalstabs gemeint haben, wenn sie Ende 1935 von der Befähigung zu einem entscheidungssuchenden Angriffskrieg sprach? Es ist wohl richtig, daß "Angriffskrieg" im allgemeinen Sprachgebrauch der begriffliche Gegensatz zu Verteidigungskrieg ist; dennoch spricht nichts dagegen, die Befähigung zum Angriffskrieg in einem militärisch-technischen Sinn zu verstehen. Auch nachdem die Aufstellung des ursprünglichen 21-DivisionenFriedensheeres auf das Jahr 1935 vorgezogen und nachdem im Frühjahr ein 36Divisionen-Friedensheer vorgeschrieben worden war, hielt Beck anfangs daran fest, zunächst das eilig aufgeblähte 21-Divisionen-Heer zu festigen und daneben Schritt für Schritt bis 1939 das 36-Divisionen-Heer aufzustellen. Angesichts der technischen Entwicklung und der vor allem in Frankreich rasch voranschreitenden Heeresmotorisierung hätte aber im Jahr 1939 das 36-Divisionen-Heer bzw. das zugehörige Kriegsheer seine Zweckbestimmung, nämlich einen Angriff operativ abzuwehren, mit einer herkömmlichen Bewaffnung und Gliederung zweifellos nicht mehr erfüllen können. Sollte bis Ende des Jahrzehnts ein verteidigungsfähiges Heer vorhanden sein - was im Grundsatz ja bereits 1933 entschieden worden war - , so mußte mit dem Aufbau des 36-Divisionen-Heeres zugleich dessen Beweglichkeit und Angriffskraft verstärkt werden. Das war der Hintergrund der Debatte über die Angriffsfähigkeit, wie sie seit 1935/36 bei den entsprechenden Stellen ausgetragen wurde. Es liegt nun auf der Hand, daß ein Heer, welches den beweglichen Angriff gegnerischer Streitkräfte operativ auffangen und zerschlagen kann, eine Kampfkraft besitzt, die es selbst zu einem Angriffskrieg befähigt. Ob ein solcher Angriffskrieg auch gewünscht wird, ist eine völlig andere Frage, die mit diesem militärisch-technischen Sachverhalt überhaupt nichts zu tun hat. Ein Heer, welches zu einem entscheidungssuchenden Angriffskrieg befähigt ist, besitzt jedenfalls auch die Fähigkeit zur operativen Abwehr in einem Bewegungskrieg; ein "Aggressionsheer" ist es deswegen noch lange nicht. Wenn die Organisationsabteilung des Generalstabs sich dafür aussprach, nicht erst später, sondern gleich mit der Planung für ein Heer zu beginnen, das zu einem entscheidungs suchenden Angriffskrieg in der Lage war, so läßt sich daraus mit Sicherheit nur entnehmen, daß sie ein Heer für den modernen Bewegungskrieg befürwortete, das möglichst bald einen Verteidigungsauftrag wahrnehmen konnte. 60 60 Zum operativen Denken in der Reichswehr Neugebauer, passim, vor allem 119 mit den im Text wiedergegebenen Aussagen über die Merkmale der operativen Führungskunst. Ferner MOFA, Weltkrieg I, 415 ff., 428. MOFA, Militärgeschichte IV, 303 ff.
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Das klärende Wort in dieser Debatte sprach Beck selbst. In einer Denkschrift vom 30. Dezember 1935 führte er aus: "Die strategische Abwehr wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie auch angriffs weise geführt werden kann. Aus diesem Grunde bedeutet die Erhöhung der Angriffskraft gleichzeitig eine Verstärkung der Abwehrkraft. " In einem Entwurf zu dieser Denkschrift hatte Beck noch den Ausdruck "operative Abwehr" benützt, der dann in "strategische Abwehr" umgewandelt wurde. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß damit eine Verdeutlichung und Verschärfung beabsichtigt war. Eine operative Abwehr, die angriffsweise geführt wurde, hatte die Reichswehr seit jeher gespielt. Eine strategische Abwehr war dagegen weit mehr; sie beschränkte sich nicht bloß auf das Militärfachliche, sondern reichte in das Gebiet des Politischen. Wenn das Heer verstärkte Angriffskraft für die operative Abwehr erhielt, so wurde es auch stark genug für die strategische Offensive. Beck sprach aber ausdrücklich von der Angriffskraft für strategische Abwehr, so daß das Heer auch auf Grund politischer Entscheidung prinzipiell defensiv bleiben sollte. War das ein Aggressionsheer? Oder wird mit solchen Behauptungen nur die Logik durcheinandergebracht? Wie auch immer, die Heeresleitung, von nun an das Oberkommando des Heeres (OKH), fand nach mannigfachem Schwanken und Zögern 1935/36 zu dem Entschluß, nicht mehr, wie bislang geplant, bis etwa 1939 ein Heer mit weitgehend herkömmlicher Gliederung und Bewaffnung aufzustellen, sondern sofort die Errichtung eines Heeres mit verstärkter Angriffskraft für einen operativen Bewegungskrieg unter modernen Bedingungen zu planen. Nachdem Beck sich Ende 1935 dafür ausgesprochen hatte, sämtliche vorgesehenen Infanteriedivisionen bis 1936 aufzustellen, erfolgten im Laufe des Jahres 1936 die Entscheidungen über die neue Heeresgliederung, die großenteils auf Becks Vorstellungen zurückgingen. Demnach sollte das Friedensheer aus 32 herkömmlichen Infanteriedivisionen bestehen (Kriegsstärke je rund 17 000 Mann), ferner aus drei Panzerdivisionen (rund 13 000 Mann), vier motorisierten Infanteriedivisionen, drei (später vier) sog. leichten Divisionen, einer Art Mittelding zwischen Panzer- und motorisierter Infanteriedivision, sowie einer Gebirgsdivision und einer Kavalleriebrigade. Die Verstärkung der Angriffskraft suchte man vor allem durch eine Vermehrung der Panzer zu erzielen; hierfür wurden 13 Panzerbrigaden als Heerestruppen in Aussicht genommen, die nicht einzelnen Divisionen fest zugeteilt, sondern je nach Bedarf zu verwenden waren. Viele der eilig aufgestellten Divisionen bildeten einstweilen nur Rahmenverbände; der Aufbau des gesamten Heeres sollte bis etwa 1939/40 beendet sein. Das Kriegsheer hätte dann rund 102 Divisionen mit 2,4 Millionen Mann (Feldheer) umfaßt. Gegenüber den Berechnungen von 1935 war also zweifellos eine Steigerung eingetreten, wenn auch keine so starke, wie es zunächst den Anschein hat. Die strategische Vorstellung von 1935, daß das Friedensheer sowohl einen Angriff mehrerer Nachbarn abzuwehren als auch die Stämme für Reservedivisionen zu stellen habe, blieb weiterhin gültig. Hatte man 1935 für diese doppelte Aufgabe 30-40 Divisionen veranschlagt, so waren es jetzt 43, darunter freilich
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10 (später 11) vollmotorisierte, die naturgemäß für die bewegliche Abwehr am besten geeignet waren. Die rund 70 Divisionen des Kriegsheeres von 1935 (63 Infanteriedivisionen plus Panzer- und Kavalleriedivisionen) waren nunmehr auf rund 80 angewachsen, wobei freilich die Infanteriedivisionen durch die vorgesehenen Panzerbrigaden einen namhaften Stärkezuwachs erhalten hätten, um gegnerische Panzerangriffe abwehren oder selbst mit Panzerunterstützung angreifen zu können. Die zusätzlich geplanten 21 Landwehrdivisionen besaßen verminderten Kampfwert; rechnet man sie dennoch in die Gesamtzahlen mit ein, so erreichte das geplante Kriegsheer gegenüber den möglichen Gegnern nicht mehr ein Verhältnis von 1 : 3, sondern immerhin schon von 1 : 2. Aggressionsheer? Nach einer alten militärischen Faustregel, die auch das Truppenamt 1935 zugrunde gelegt hatte, sollte ein Angreifer im Verhältnis 3: 1 überlegen sein, und nicht, wie das deutsche Heer, im Verhältnis 1:2 unterlegen. Die Generale sind nicht Hitler blindlings auf seinem Kriegskurs gefolgt, sondern sie haben zunächst einmal versucht, die Heimat verteidigungsfähig zu machen. Daran ändern auch einige andere Dinge nichts. Die Chefs des Allgemeinen Heeresamts und des Heereswaffenamts verwiesen 1936 darauf, daß die beschleunigte Ausrüstung und Bevorratung des neuen Kriegsheeres neben anderen Schwierigkeiten (Rohstoff- und Devisenfrage) auch das Problem aufwarfen, wie im Anschluß an die Aufrüstungsperiode die Lieferkapazität der Industrie im Mobilisierungsfall aufrechterhalten werden könne. Wenn das Heer erst aufgerüstet war, sank naturgemäß sein Bedarf an Rüstungsgütern, was verschiedene Folgen haben konnte. Denkbar war, daß die Rüstungsfirmen Kapazitäten still legten, die dann im Mobilisierungsfall fehlten bzw. erst zeitraubend wieder aufgebaut werden mußten; oder daß die Industrie andere Güter erzeugte, z. B. für den Export, so daß bei einer Mobilmachung ebenfalls Verzögerungen eintraten. Eine dritte Lösung, nämlich die Mobilmachungskapazität durch große Anschlußaufträge zu erhalten, war praktisch nicht gangbar, weil sie riesige Summen erfordert hätte für Güter, welche das Heer gar nicht brauchte. Man erkennt unschwer, daß es theoretisch noch eine vierte Lösung gab, nämlich den Kriegsausbruch im Anschluß an die Aufrüstung; die Schwierigkeiten mit der Mobilmachungskapazität wären dann nicht aufgetreten. Die beiden genannten Amtschefs, die Generale Fromm und Liese, legten den Finger auf all die vorliegenden Probleme und nannten dabei eben auch die Kriegsmöglichkeit, Liese übrigens mit deutlich kritischem Unterton. Von irgendwelchen Kriegsabsichten wußten beide nichts, und Fritsch konnte ihnen darüber auch keine Auskunft erteilen, weil er es selbst nicht wußte. Das ganze Problem war militärisch-technischer Natur und läßt keine außenpolitischen Rückschlüsse zu. Zudem hätte es vielleicht nicht völlig beseitigt, aber doch entschärft werden können, z. B. durch eine Senkung der Lieferungsforderungen an die Industrie im Mobilmachungsfall oder durch eine Streckung der laufenden Aufträge. Einschlägige Überlegungen sind im OKH auch angestellt worden, ohne daß klar ersichtlich wäre, inwieweit sie in den Planungen berücksichtigt wurden. Die allmählich enger werdenden Spiel-
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räume der Rüstungswirtschaft führten ohnedies bald dazu, daß die ursprünglichen Vorhaben nicht erfüllt werden konnten. Im Dezember 1937 teilte das OKH Blomberg mit, das Friedensheer könne erst zum Herbst 1942 vollständig ausgebaut und ausgerüstet werden, das Kriegsheer erst zum Frühjahr 1943. Ob der Generalstab von dieser Entwicklung überrascht wurde, darf bezweifelt werden; jedenfalls hatte er schon im September 1936 vorgeschlagen, die Materialbeschaffung zu strecken und das Kriegsheer erst bis 1942 aufzustellen. 61 So war das Heer, welches im Herbst 1939 mobilgemacht wurde, ein anderes als dasjenige, welches 1936 geplant worden war. Wohl umfaßte das Kriegsheer von 1939 mit 103 Divisionen fast dieselbe Zahl von Verbänden, wie sie 1936 vorgesehen worden war (102), doch hatten sich in Gliederung und Ausrüstung nicht unbeträchtliche Veränderungen ergeben. Die Heeresrüstung stand während der 1930er Jahre in allen Ländern, auch in Deutschland, auf einer ähnlichen Nahtstelle wie die Marinerüstung. Während bei den Flotten der Großmächte allmählich der Flugzeugträger das herkömmliche Großkampfschiff (Schlachtschiff) verdrängte, traten bei den Bodenstreitkräften allmählich die motorisierten und mechanisierten Truppen in den Vordergrund, die den zu Fuß marschierenden Infanteristen sowie das Pferd als Fortbewegungsmittel verdrängten. Das Ideal für den modemen Bewegungskrieg wäre an sich wohl eine vollmotorisierte Streitmacht, abgesehen von Spezialverbänden für bestimmte Geländearten und Einsatzformen, wie Gebirgsjäger und dergleichen. Eine solche vollmotorisierte Streitmacht ist das deutsche Heer nie gewesen. Vielmehr beruhten seine planerischen Grundlagen, wie Beck und andere sie entwarfen, auf einem Komprorniß zwischen der herkömmlichen Infanteriedivision und den motorisierten Truppen, die 1938 zusammenfassend den Namen "schnelle Truppen" erhielten. Der Motorisierungsgrad des deutschen Heeres blieb insgesamt gering; von den rund 100 Divisionen des Kriegsheeres war nach den Plänen von 1936 lediglich ein Zehntel vollmotorisiert, und selbst im Krieg stieg dieser Anteil nicht über ein Fünftel. Die herkömmliche Infanteriedivision hatte nur einzelne motorisierte Teile (so insbesondere die Panzerabwehrabteilung); zusammen mit den motorisierten Heerestruppen dürfte die Masse des Heeres (außer den schnellen Verbänden) nur zu etwa 20 % motorisiert gewesen sein. Den Unterschied zwischen einer herkömmlichen Infanteriedivision und einer schnellen Division verdeutlicht man sich leicht anhand der Tatsache, daß eine Infanteriedivision mit ihren fast 5 000 Pferden eine Marschleistung von 25 km am Tag erreichte, während eine Panzerdivision mit ihren über 4 000 Fahrzeugen auf 150 km kommen konnte, also das Sechsfache. In Verbindung mit der Kampfkraft gepanzerter Verbände eröffneten sich damit für die Operation völlig neue 61 Becks Denkschrift vom 30.12.1935 bei K.-J. Müller, Beck, 469 ff. Vgl. K.-J. Müller, Militärpolitik, 366. Zu den Einwänden von Fromm und Liese K.-J. Müller, Armee, 303 ff. MGFA, Weltkrieg I, 431 ff. Die Mitteilung des OKH an Blomberg vom Dezember 1937 bei K.-J. Müller, Armee, 305 ff.
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Möglichkeiten. Die Erfahrungen, wie solche schnellen Verbände in der Bewegung und im Kampf zu handhaben waren, mußten freilich erst gesammelt werden. So betrug die Marschlänge einer Infanteriedivision nur 30 km, diejenige einer Panzeroder motorisierten Infanteriedivision aber schon an die 100 km, so daß bei mangelnder führungsmäßiger Beherrschung dieses empfindlichen Instruments nicht mehr ein schlagkräftiger Kampfverband vorhanden war, sondern nur noch ein wüstes Knäuel zusammenhangloser Truppenteile. Daß diese Führungsprobleme zu meistem waren, wurde seit den ersten Übungen motorisierter Verbände 1935 deutlich, doch bestand noch keine abschließende Vorstellung über die zweckmäßigste Art und Zusammensetzung schneller Verbände. Der Generalstab hatte zwar die operativen Vorteile der Motorisierung erfaßt, er ging jedoch von dem bekannten und sicheren Fundament der herkömmlichen Infanteriedivision aus und suchte daneben noch nach den geeigneten Organisationsformen für motorisierte Verbände. Das spricht übrigens auch gegen die These vom Aggressionsheer, denn wie sollte man wohl einen Angriffskrieg planen mit Formationen, deren Verwendbarkeit noch gar nicht geklärt ist? So meinte Beck Ende 1935, für weitgesteckte Angriffsziele erschienen Panzerdivisionen am geeignetsten, die Zweckmäßigkeit ihrer Zusammensetzung müsse indes erst durch die praktische Erfahrung bestätigt werden. Ebenso undeutlich blieb einstweilen die Verwendungsart und Eignung der übrigen motorisierten und gepanzerten Truppen. Ein typisches Beispiel stellen die leichten Divisionen dar, die in der Nachfolge der alten Heereskavallerie Aufgaben übernehmen sollten, für welche sie im Zeitalter der technischen Kriegführung in dieser Form kaum benötigt wurden, wie weitreichende Aufklärung, Verschleierung und Verfolgung. Ihre zugehörige gepanzerte Kampfkraft erwies sich als zu gering, ihre Transportform für die Panzer (auf Tiefladern) als kostspielig und ungeeignet, so daß die leichten Divisionen 1939 in Panzerdivisionen umgewandelt werden sollten, was dann erst nach Kriegsausbruch geschah. Offen blieb ferner das Verhältnis zwischen herkömmlichen und motorisierten Infanteriedivisionen sowie den ursprünglich geplanten Heerespanzerbrigaden, zu deren Aufstellung es später nicht mehr kam. Der Generalstab wußte, daß im Idealfall jede Infanteriedivision über organisatorisch zugehörige gepanzerte Kampfkraft verfügen müßte (etwa in Stärke eines Panzerbataillons bzw., wie es in der Wehrmacht hieß, einer Panzerabteilung), doch sah er sich aus rüstungswirtschaftlichen Gründen außerstande, diesem Ideal zu entsprechen. Die naheliegende Lösung, wenigstens die motorisierten Infanteriedivisionen mit Panzern auszustatten, wurde nicht gewählt; sie fand erst ab 1942 statt und führte zu den Panzergrenadierdivisionen. Statt dessen sah das OKH die Aufstellung der Panzerbrigaden vor, die wohl an Schwerpunkten eingesetzt werden sollten, während die motorisierten Infanteriedivisionen als operative Reserven zu verwenden waren, die entweder beweglich die Verteidigung verstärkten oder die Erfolge der Panzer ausnutzten. All dies hätte freilich von Panzerdivisionen (oder gegebenenfalls Panzergrenadierdivisionen) ebenso erfüllt werden können, da sie ja dafür ausgelegt waren, 19 Rauh, Zweiter Weltkrieg 1. Teil
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die Schwerpunktwaffe Kampfwagen mit motorisierter Infanterie (und anderen Waffengattungen) zu verbinden. Der Generalstab hat das schließlich auch erkannt und die Folgerungen daraus gezogen, allerdings in der Hauptsache nicht mehr unter Beck, sondern seinem Nachfolger Halder, der sich uneingeschränkt zur Panzerdivision und ihren operativen Möglichkeiten bekannte. Die vorhandenen Panzer wurden nun nicht mehr in selbständigen Brigaden zusammengefaßt, sondern in Panzerdivisionen, deren Zahl sich bis 1939 auf sechs verdoppelte. Weitere Verstärkungen wurden infolge des Anschlusses Österreichs und der Besetzung der Tschechei 1938/39 möglich, wodurch die Zahl der Divisionen im Friedensheer auf 53 stieg, darunter 35 Infanterie- und drei Gebirgsdivisionen. Dennoch war das Heer bei Kriegsbeginn zwar bedingt einsatzfähig, aber nicht kriegsfertig. Den meisten Infanteriedivisionen fehlten Truppenteile (Infanteriebataillone), die Ausbildung war nicht abgeschlossen, vor allem bei den mittlerweile 50 Reservedivisionen, die Ausrüstung war modem, aber nicht vollständig, der Vorrat schlicht unzureichend. Im Frühjahr 1939 gab es bei nahezu allen Waffen Fehlbestände zwischen rund 10 % und rund 50 %, die bis zum Herbst nurteilweise ausgeglichen werden konnten. Munitionsvorräte waren bei Kriegsausbruch nur für etwa ein bis zwei Monate vorhanden; bis zum Anlaufen der kriegsmäßigen Erzeugung wäre eine Lücke von mehreren Monaten entstanden, die bei entsprechender Kriegslage leicht zum Zusammenbruch hätte führen können. Wie in anderen Fällen vorher machte es die außenpolitische Lage möglich, unbeschadet die Gefahrenzone zu durchschreiten. 62 Vor allem an den außenpolitischen Fragen hatte sich schon früher der Widerstand gegen Hitler und sein Regime entzündet. Ein Kemgedanke der Versailler Ordnung war es gewesen, Deutschland entwaffnet und damit wehrlos, das Rheinland entmilitarisiert zu halten, um jeden Versuch zur Grenzänderung im Osten notfalls mit Gewalt ersticken zu können - was Briand 1928 mit dem Ausspruch bekräftigt hatte, der Anschluß Österreichs bedeute den Krieg. Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und die anschließende Wiederaufrüstung war also ein unmittelbarer Schlag gegen die Versailler Ordnung; er destabilisierte sie und beschwor die Gefahr eines militärischen Eingreifens anderer Länder herauf. Daß man die entstehenden internationalen Spannungen dennoch ertragen und schließlich zu größerer außenpolitischer Bewegungsfreiheit gelangen könne, haben Hitler, BIomberg und Neurath seit 1933 angenommen; sie sollten damit recht behalten. Eine Weisung BIombergs für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht vom 24. Juni 1937 stellte fest, die allgemeine politische Lage berechtige zu der Vermutung, daß Deutschland mit keinem Angriff von irgendeiner Seite zu rechnen habe. Zugleich betonte die Weisung, es bestehe ebensowenig von Seiten Deutschlands die Absicht, einen europäischen Krieg zu 62 Zur Heeresmotorisierung MGFA, Militärgeschichte IV, 338 ff., 351 ff. Beck Ende 1935 nach K.-J. Müller, Beck, 469 ff. Zur Rüstungslage bei Kriegsausbruch Thomas, Wehrwirtschaft, 149 f. MGFA, Militärgeschichte IV, 395 ff. Müller-Hillebrand 11, 41, 55.
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entfesseln. Trotzdem erfordere die labile Weltlage eine stete Kriegsbereitschaft der Wehrmacht, um Angriffen jederzeit entgegenzutreten oder etwa sich ergebende politisch günstige Gelegenheiten militärisch ausnutzen zu können. Das letztere war keine Neuerung, sondern hatte sich in ähnlicher Weise bereits in einer Weisung des republikanischen Reichswehrministers Groener von 1930 gefunden. Territoriale Revisionsziele zu verfolgen, gegebenenfalls durch eine militärische Besetzung entsprechender Gebiete, war schon ein Inhalt der Weimarer Außenpolitik gewesen, freilich stets unter der Voraussetzung, einen europäischen Krieg zu vermeiden. Auf denselben Standpunkt stellte sich BIomberg. Die Bereitschaft, Angriffen entgegenzutreten, bezog sich auf zwei Fälle (Kriegsfälle), für welche ein Aufmarschplan bearbeitet wurde. Das eine war der Fall "Rot", ein Zweifrontenkrieg mit Schwerpunkt West, bei welchem unterstellt wurde, daß sich die Kriegseröffnung durch einen überfallartigen Angriff Frankreichs vollziehen werde. Das andere war der Fall "Grün", über welchen die Weisung sagte: "Um den bevorstehenden Angriff einer überlegenen feindlichen Koalition abzuwehren, kann der Krieg im Osten mit einer überraschenden deutschen Operation gegen die Tschechoslowakei beginnen. Die politischen und völkerrechtlichen Voraussetzungen für ein derartiges Handeln müssen vorher geschaffen sein." Beide Fälle bzw. Aufmarschpläne, die etwa seit 1935 bearbeitet worden waren, hielten sich eng an die außenpolitische Lage. Ein Eingreifen Frankreichs war vom Beginn an als Gefahr betrachtet worden; seitdem die Sowjetunion sich Frankreich genähert und mit diesem sowie mit der Tschechoslowakei im Mai 1935 Beistandsverträge abgeschlossen hatte, wurde ein Angriff der genannten drei Länder in Rechnung gestellt, in welchen Rußland außer mit seiner Flotte vor allem mit Luftstreitkräften von der Tschechoslowakei aus eingreifen konnte. Irgendwelche Eroberungsabsichten, die nur durch einen Angriffskrieg zu verwirklichen waren, lassen sich aus der Weisung beim besten Willen nicht entnehmen. Sofern die Wehrmacht zur Besetzung von Gebieten schritt, sollte dies ohne Krieg geschehen, wie es bei der Rheinlandbesetzung der Fall gewesen war. Sofern die Wehrmacht von sich aus offensiv wurde, wie es im Plan Grün vorgesehen war, handelte es sich nicht um die Entfesselung eines Angriffskrieges, sondern um eine Verteidigungssituation, in welcher das Reich einem bevorstehenden Angriff durch einen Überraschungsschlag oder Präventivschlag begegnete. Das war nichts anderes als der klassische Fall der Notwehr, welcher dem Bedrohten das Recht gibt, einem Angreifer zuvorzukommen. So scheint denn auch das OKH gegen den Plan Grün keine Einwände erhoben zu haben, zumal der Generalstab, wie Beck 1938 ausführte, die Frage der militärischen Niederwerfung der Tschechei mindestens seit 1935 fortdauernd prüfte und bearbeitete. Der Plan änderte nichts an der grundsätzlich defensiven Einstellung der Wehrmacht, wie Beck sie 1935 umrissen hatte. Wenn es in BIombergs Weisung hieß, das Endziel von Plan Grün bestehe in einem planmäßig im Frieden vorbereiteten strategischen Überfall auf die Tschechoslowakei, so beinhaltete dies nicht die strategische Entscheidung zum Angriffskrieg, sondern der Überraschungsschlag war strategisch insofern, 19*
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als er nicht auf der operativen Führungsebene des OKH angesiedelt blieb, vielmehr der Entscheidungsgewalt der obersten, politisch-militärischen Führung unterlag. Gleichwohl ist es nicht zufallig, daß im Umkreis von BIombergs Weisung noch einmal der Streit um die Spitzengliederung der Wehrmacht ausbrach, denn das OKH nahm für sich in Anspruch, die strategischen und operativen Grundlagen der Kriegführung weit besser beurteilen zu können als BIombergs Wehrmachtamt. Die Weisung enthielt außer den beiden Fällen Rot und Grün noch Sonderfälle, darunter den Sonderfall "Otto", der ein bewaffnetes Einschreiten gegen Österreich vorsah, sofern dort die Monarchie (der Habsburger) wiederhergestellt werden sollte. Beck wandte sich im Mai 1937, noch vor BIombergs Weisung, scharf gegen derlei Vorhaben, nicht weil er den Anschluß Österreichs ablehnte, sondern in der wahrscheinlich zutreffenden Überzeugung, daß bei Rückkehr eines Habsburgers auf den Thron das österreichische Heer sich für diesen schlagen würde, was voraussichtlich einen europäischen Krieg herbeiführen würde, dem Deutschland nicht gewachsen war. In der Tat war der Sonderfall Otto eine ziemlich merkwürdige Eingebung - sie ging wohl auf Hitler zurück - , welche in Blombergs Weisung schließlich entschärft wurde, indem die Sonderfälle nicht zu bearbeiten, sondern nur zu durchdenken waren. Dasselbe galt für den Sonderfall ,,Erweiterung Rot / Grün", welcher auf der Annahme beruhte, daß England, Polen oder Litauen oder alle drei auf die Seite der deutschen Gegner träten. Ganz im Sinne Becks führte die Weisung aus: "Damit würde unsere militärische Lage in einem unerträglichen Maße, sogar bis zur Aussichtslosigkeit verschlechtert werden. Die politische Führung wird deshalb alles unternehmen, um diese Länder, vor allem England und Polen, neutral zu erhalten."63 Derlei Vorgaben wurden hinfällig, als Hitler in einer Besprechung mit Neurath, BIomberg und den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte, die durch eine Aufzeichnung von Hitlers Wehrmachtadjutant Oberst Hoßbach bekanntgeworden ist, am 5. November 1937 seine Karten wenigstens zum Teil aufdeckte. Wieder einmal sprach er davon, daß Deutschland nicht in den Kampf um die Weltmärkte eintreten, sondern lieber Lebensraum erwerben solle (wobei er übrigens Rußland immer noch nicht nannte). Wohl ein Kernpunkt seiner Ausführungen war der Satz: ,,zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben, dieser niemals risikolos sein." Solche Gewalt sollte gegen Österreich und die Tschechei angewandt werden, die militärisch "niederzuwerfen" waren, und zwar spätestens bis 1943/45, weil Deutschland im Rüstungswettlauf dann zurückfallen werde. Bei Vorliegen günstiger Umstände müsse aber auch schon früher losgeschlagen werden, so bei einer schweren inneren Krise in Frankreich, welche dieses handlungsunfahig mache, oder bei kriegerischen Verwicklungen im Mittel63 Die Weisung BIombergs vom Juni 1937 in IMG, Bd. 34,732 ff. Zu den Ausführungen Becks von 1938 dessen Denkschrift vom 3.6.1938 bei K.-J. Müller, Beck, 528 ff. Vgl. Manstein, Soldatenleben, 229. Zum Fall "Otto" Becks Denkschrift vom 20.5.1937 bei Foerster, Beck, 62 f.
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meer, insbesondere zwischen Frankreich und Italien. Im einzelnen waren Hitlers Auslassungen wieder einmal so ungereimt, daß die Anwesenden, ähnlich wie bei früheren Gelegenheiten, ihre Tragweite ganz unterschiedlich beurteilten. Schon die Behauptung, daß die deutsche Frage nur durch Gewalt lösbar sei, entsprach zwar, wie man heute weiß, vollauf Hitlers abwegiger Weltanschauung, sie war aber in ihrer einseitigen Verengung schlichter Unsinn, weil Deutschland selbstverständlich einen ganz beträchtlichen außenpolitischen Spielraum besaß, um mit Duldung anderer Länder seine Lage wesentlich zu verbessern. Sodann war der Anlaß für die Besprechung gar nicht die Außenpolitik, sondern die Klärung von Rüstungsfragen, so daß sich der Verdacht aufdrängen konnte, Hitlers Ausführungen sollten nur dazu dienen, die Notwendigkeit von Rüstungsanstrengungen zu unterstreichen. In der Tat hatte Göring vor Beginn der Sitzung dem Oberbefehlshaber der Marine, Admiral Raeder, mitgeteilt, der Führer wolle mit seinen Ausführungen das Heer zu verstärkten Rüstungsanstrengungen anspornen. Es mag damit zusammenhängen, daß Raeder und BIomberg den Worten Hitlers anscheinend keine besondere Bedeutung beimaßen. Das hinderte BIomberg freilich nicht, ebenso wie Fritsch und Neurath die Schwachstellen von Hitlers Argumentation bloßzulegen. Neurath wandte ein, mit einem Krieg im Mittelmeer sei demnächst nicht zu rechnen; BIomberg und Fritsch betonten mehrfach, England und Frankreich dürften nicht als unsere Gegner auftreten; beide Offiziere bestritten, daß ein Krieg gegen Italien Frankreich daran hindern würde, mit überlegenen Kräften Deutschland anzugreifen; sie unterstrichen die Schwäche der deutschen Befestigungen im Westen und die Stärke des tschechischen Festungssystems, das einen deutschen Angriff aufs äußerste erschwere. Im Grunde hatten sie damit Hitlers Forderungen den Boden entzogen, doch gaben sich Neurath und Fritsch nicht mit BIombergs Hoffnung zufrieden, es werde schon nicht alles so ernst gemeint sein, sondern sie kamen wenige Tage später mit Beck überein, Hitler noch einmal die Gründe gegen sein Vorhaben darzulegen. Neurath tat dies im Januar 1938 mit den unmißverständlichen Worten, Hitlers Absichten müßten zum Weltkrieg führen, was umso weniger angebracht sei, als man viele seiner Pläne auf friedlichem Weg - allerdings etwas langsamer - einlösen könne. Neurath erzielte damit freilich keinen anderen Erfolg, als daß er kurz darauf abgelöst wurde. BIomberg ging geschmeidiger vor, indem er in einer neuen Weisung für die Kriegsvorbereitung der Wehrmacht vom 7./21. Dezember 1937 die Vorgaben Hitlers scheinbar übernahm. Ein bedingungsloses Einschwenken auf den Kurs Hitlers war damit indes nicht verbunden, was sich schon aus dem Umstand ergibt, daß in die Ausarbeitung der neuen Weisung der Generalstab einbezogen worden war. Beck hatte noch im November zu der Führerbesprechung Stellung genommen und Hitlers Darlegungen in allen Punkten zerpflückt. In BIombergs neuer Weisung hieß es, die politischen Voraussetzungen für den Fall Grün hätten sich nach den Weisungen des Führers geändert, doch wurden mit Nachdruck alle Maßnahmen verboten, die geeignet waren, bei Stäben und Truppe die Vermutung
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auszulösen, als ob schon im Jahr 1938 mit einem Krieg zu rechnen sei. Das war etwas gewunden formuliert, da aber Stäbe und Truppen in der Lage waren, wirkliche Angriffsvorbereitungen als solche zu erkennen, bedeutete dies, daß entsprechende Maßnahmen zu unterlassen waren. Zugleich war darin ein versteckter Widerspruch zu Hitler enthalten, denn dieser hatte bei der Führerbesprechung gemeint, ein Krieg im Mittelmeer könne im Sommer 1938 ausbrechen und müsse zum Losschlagen genutzt werden. Sodann hieß es in der Neufassung von Plan Grün: "Hat Deutschland seine volle Kriegsbereitschaft auf allen Gebieten erreicht, so wird die militärische Voraussetzung geschaffen sein, einen Angriffskrieg gegen die Tschechoslowakei und damit die Lösung des deutschen Raumproblems auch dann zu einem siegreichen Ende zu führen, wenn die eine oder andere Großmacht gegen uns eingreift." Dieser Satz ist kennzeichnend für die ganze Neufassung von Plan Grün, die bei ihren politisch-strategischen Teilen in der Hauptsache aus Vorbehalten und Einschränkungen bestand. Das galt schon für die Lebensraumfrage, von welcher es hieß, daß sie durch die Besetzung von Böhmen und Mähren (im Anschluß daran auch von Österreich) gelöst sei. Von Rußland zu sprechen, kam den Generalen gar nicht in den Sinn, und nicht einmal Polen war erwähnt. Das bedeutet nicht, daß auf Revisionsziele gegen Polen verzichtet werden sollte, aber hierfür blieb der Weg einer vernünftigen, gewaltfreien Außenpolitik. In Hinblick auf Österreich wurde das deutlich ausgesprochen, denn die Neufassung sagte, um die Einbeziehung Österreichs in das Deutsche Reich zu erzielen, "werden militärische Machtmittel nur dann erforderlich sein, wenn andere Mittel nicht zum Erfolg führen oder geführt haben." Als militärische Voraussetzung für einen Angriffskrieg wurde die volle Kriegsbereitschaft auf allen Gebieten genannt. Nun stand aber das OKH zur selben Zeit auf dem Standpunkt, daß die volle Kriegsbereitschaft des Friedens- und Kriegsheeres nicht vor 1942/43 erreicht werde. Ausdrücklich erwähnte die Neufassung ferner die Verteidigungsfähigkeit der Westbefestigungen, von welcher das OKH Mitte Dezember 1937 erklärte, "Fertigstellung der wichtigsten Befestigungsanlagen ist nicht vor 1950 möglich. Auswirkung auf die Kriegführung!" Das Ausrufezeichen wird nicht ganz zufallig gewesen sein; nach dieser Berechnung waren die militärischen Voraussetzungen für einen Angriffskrieg bis 1950 nicht gegeben. Bis 1950 konnte gar viel geschehen; vielleicht hatten sich die außenpolitischen Fragen, wie Neurath annahm, bis dahin von selbst erledigt. Darüber hinaus suchte die Neufassung Hitler politisch festzulegen, indem sie zum Ausdruck brachte, die Staatsführung werde das politisch Mögliche tun, um einen Zweifrontenkrieg zu umgehen und jede Lage zu vermeiden, der Deutschland militärisch oder wirtschaftlich nicht gewachsen sei. Immerhin gestand die Neufassung zu, Fall Grün könne auch vor der vollen Kriegsbereitschaft Deutschlands eintreten, sofern Deutschland außer Rußland keinen weiteren Gegner an der Seite der Tschechoslowakei finde. Diese Bedingung war in zweierlei Hinsicht doppelbödig: Erstens war es höchst unwahrscheinlich, daß alle die Umstände eintraten, welche die Neufassung für die Auslösung
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von Grün als erforderlich bezeichnete, namentlich eine Uninteressiertheit Britanniens an dem mitteleuropäischen Problem und ein Krieg zwischen Italien und Frankreich. Zweitens hätte, wenn wider Erwarten dies alles doch eingetreten wäre, die Tschechoslowakei überhaupt keinen Bundesgenossen, sondern nur noch Feinde besessen. Denn einerseits war Rußland kraft Vertrages zur Hilfeleistung nur verpflichtet, wenn auch Frankreich Unterstützung gab; andererseits ließen Ungarn und Polen die Neigung zum Erwerb tschechoslowakischer Gebietsteile erkennen, so daß das Land regelrecht umzingelt war und ein Krieg sich leicht ganz erübrigen konnte, weil die Tschechei unter solchen Umständen gut daran tat, auf Widerstand freiwillig zu verzichten. Was konnte man demnach aus der Neufassung entnehmen? Man konnte daraus entnehmen, daß BIomberg und das OKH auf Hitlers Wünsche nicht einzugehen beabsichtigten und daß sie darüber hinaus den Führer mit seinen eigenen Waffen schlugen, indem sie - versteckt - die Haltlosigkeit seiner Vorgaben darlegten. 64 Kurze Zeit später, Ende Januar / Anfang Februar 1938, mußten außer Neurath auch BIomberg und Fritsch ihren Abschied nehmen, BIomberg wegen einer Mißheirat, Fritsch wegen des böswillig erlogenen Vorwurfs der Homosexualität. In welchem Zusammenhang diese Vorgänge mit den Ereignissen Ende 1937 standen, ist seit langem strittig. Für den naheliegenden Verdacht, der Widerspruch von Neurath, BIomberg und Fritsch gegen Hitlers Kriegspolitik bei der Führerbesprechung am 5. November sei der eigentliche Grund für ihre Entfernung gewesen, scheint es keine zwingenden Beweise zu geben. Statt dessen wird öfters die Meinung vertreten, Göring habe - unter tatkräftiger Mithilfe durch den SSFührer Himmler und den Chef der Sicherheitspolizei Heydrich - eine Intrige gegen BIomberg und Fritsch eingefädelt, um selbst Reichskriegsminister zu werden, obwohl auch dies nicht unbestritten ist. Eine dritte Deutung geht dahin, daß Hitler von BIombergs Heiratsaffäre (er heiratete in zweiter Ehe ein der Sittenpolizei bekanntes Mädchen) selbst überrascht wurde, daß er aber dann die Gelegenheit benützte, auch Fritsch auszubooten. Die Wendung gegen Fritsch war mit einiger Sicherheit nicht zufällig; der Oberbefehlshaber des Heeres galt als festeste Stütze der Zwei-Säulen-Theorie, er schirmte das Heer gegen Eingriffe der nationalsozialistischen Bewegung ab, beharrte auf der Erhaltung hergebrachter Werte und Tugenden, genoß bei den Soldaten hohes Ansehen und zeigte sich nicht gewillt, das Heer, den weitaus stärksten Machtfaktor im Staat, für außenpolitische Abenteuer zur Verfügung zu stellen. Das Heer unter der Führung von Fritsch war für die Nationalsozialisten ein Unsicherheitsmoment ersten Ranges; der Durchset64 Die Hoßbach-Niederschrift in ADAP, Sero D, Bd. 1,25 ff. Dazu Hoßbach, 207 ff., 217 ff. Wright / Stafford. Ferner Raeder II, 149 f. K.-J. Müller, Heer, 243 ff. Zu Neurath Gackenholz, 471 ff. Die neue Weisung für die Kriegsvorbereitung der Wehrmacht vom 7.12.1937 (fonnell: Nachtrag zur Weisung vom 24.6.1937) in IMG, Bd.34, 745 ff. Dazu die Anlage vom 21.12.1937 über die Neufassung von Aufmarsch Grün in ADAP, Sero D, Bd. 7,547 ff. Zu Beck K.-J. Müller, Beck, 498 ff., 263 ff. Zur Rüstungslage die Mitteilung des OKH an Blomberg vom 14.12.1937; K.-J. Müller, Annee, 305 ff.
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zung ihrer Herrschaft im Inneren stand es ebenso im Weg wie der Verfolgung derjenigen Außenpolitik, die Hitler eigentlich im Sinn hatte. Dies alles ist einleuchtend; es klärt jedoch nicht die Frage, wieso Fritsch gerade zu diesem Zeitpunkt und unter solch entwürdigenden Umständen hinaus gedrängt wurde. Eine Entlassung von Fritsch aus politischen Gründen wäre ja möglich gewesen, ebenso wie Hammerstein aus politischen Gründen hatte gehen müssen, nur hätte sich dann schwerlich verheimlichen lassen, daß Fritsch unbequem geworden war, weil er sich Hitlers Kriegspolitik widersetzt hatte. Die alte Vermutung, daß die Ausschaltung von Neurath, BIomberg und Fritsch verschiedene Seiten derselben Sache waren, gewinnt damit wieder an Gewicht. Merkwürdigerweise ist in diesem Zusammenhang BIombergs Weisung über die einheitliche Kriegsvorbereitung vom Dezember 1937 kaum beachtet worden. Sie galt lange als Beweis für BIombergs Einschwenken auf konkrete Aggressionsvorbereitungen, was in Wahrheit nicht zutrifft. Schon der Umstand gibt zu denken, daß Hitler im April 1938 dem OKW den Auftrag erteilte, eine neue Weisung für den Fall Grün auszuarbeiten. Das kann doch wohl nur heißen, daß die entsprechende Weisung vom Dezember 1937 seinen Vorstellungen nicht entsprach; sonst hätte er ja keine neue gebraucht. Den Beteiligten war das auch bekannt, denn das OKW suchte die Angelegenheit dem OKH zu verheimlichen, weil man wußte, daß das Heer selbst nach dem Abgang von Fritsch gegen eine Kriegspolitik war. BIombergs Weisung vom Dezember 1937 faßte noch einmal alles zusammen, was Neurath, BIomberg und Fritsch bei der Besprechung vom 5. November eingewandt hatten, was Fritsch bei einem Gespräch mit Hitler am 9. November - über das Einzelheiten nicht bekannt sind - wahrscheinlich vortrug und was Neurath im Januar 1938 feststellte. Spätestens nach Blombergs Weisung konnte Hitler wissen, daß mit diesem Kriegsminister und mit diesem Oberbefehlshaber des Heeres seine Ziele nicht zu verwirklichen waren. Ob die mißglückte Heirat Blombergs nur ein Aufhänger war, um die unbequemen Kritiker loszuwerden, oder ob Hitler seinen Kriegsminister mit Vorbedacht ins offene Messer rennen ließ, dürfte sich kaum noch feststellen lassen. Jedenfalls gab die BlombergFritsch-Krise von Anfang 1938 Hitler die Gelegenheit, durch eine Säuberungsaktion in der Wehrmacht und im Auswärtigen Amt den Widerstand gegen seine Kriegspolitik wenn schon nicht völlig zu brechen, so doch zu vermindern. Die Krise war damit ein wichtiger Wendepunkt, welcher die Selbständigkeit der Wehrmacht im Staat untergrub und sie auf den Weg führte, dem Diktator als Werkzeug für seine weltanschaulichen Ziele zu dienen. 65 Am 4. Februar 1938 übernahm Hitler den Oberbefehl über die Wehrmacht persönlich. Aus BIombergs Wehrmachtamt wurde das Oberkommando der Wehr65 Zu den verschiedenen Meinungen über die Blomberg-Fritsch-Krise Schmädeke, Krise. J. C. Fest, Hitler 11, 744. Deutsch, Komplott, 77 ff. und passim. Kube, 197 f. KJ. Müller, Armee, 90. Zur älteren Einschätzung von BIombergs Weisung aus dem Dezember 1937 K-J. Müller, Heer, 247. Zur neuen Weisung vom Frühjahr 1938 a.a.O.,
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macht, das der beflissene und anpassungsfähige Keitel (Spötter nannten ihn Lakaitel) in der Folgezeit umorganisierte, so daß es das Wehrmachtführungsamt unter Oberst (später General) Jodl umfaßte, das Amt Ausland / Abwehr unter Admiral Canaris, das Wehrwirtschaftsamt unter General Thomas sowie das Allgemeine Wehrmachtamt. Keitel als Chef des OKW übernahm zwar formell die Leitung der kriegsministeriellen Geschäfte, durfte aber nur in Hitlers Auftrag handeln und war nicht viel mehr als ein besserer Bürovorsteher. Wenn irgendwann, dann hätte jetzt die Gelegenheit bestanden, eine einheitliche Wehrmachtführung und einen wirklichen Wehrmachtgeneralstab einzuführen. Daß es nicht geschah, zeigt, daß Hitler es nicht wollte; er blieb dabei, die Wehrmacht zu zersplittern und nach den Erfahrungen, die er mit BIomberg und Fritsch gemacht hatte, lediglich willfährige Organe für das Ausführen seiner Befehle zu suchen. Die Leitung des Auswärtigen Amts erhielt Hitlers Günstling Ribbentrop, ein außenpolitischer Autodidakt; an die Spitze des Heeres trat General Walther von Brauchitseh, fachlich ein sehr befähigter Offizier, der sich jedoch von Hitler gewissermaßen kaufen ließ, indem er beträchtliche finanzielle Zuwendungen zum Zweck einer Scheidung annahm. Es mag damit zusammenhängen, wenn Brauchitsch später gegenüber Hitler oft befangen wirkte und sich kaum zu einer entschiedenen Haltung aufzuraffen vermochte. Neben diesen Umbesetzungen an der Spitze traten weitere Personalveränderungen ein; so wurden Botschafter abberufen, darunter von HasseIl in Rom, der dann zum Widerstand stieß, gut ein Dutzend ältere Generale mußten in den Ruhestand gehen, was weniger eine Verjüngung als vielmehr eine Schwächung traditioneller Kräfte bedeutete, und eine größere Zahl wichtiger Stellen wurde neu besetzt, so das Heerespersonalamt mit einem Bruder Keitels und der Posten des Wehrmachtadjutanten bei Hitler mit dem gefügigen Major Schmundt anstelle von Hoßbach, der sich nachdrücklich für Fritsch eingesetzt hatte. Das alte Zwei-Säulen-System war von Hitler mindestens aufgekündigt worden; die bewaffnete Macht sollte unmittelbar der Führergewalt unterworfen sein und keine nennenswerte Eigenständigkeit mehr besitzen, um dem Willen des Führers jederzeit gefügig zu sein. Ob dies gelingen könne, war der Kern aller inneren Auseinandersetzungen des Jahres 1938. Die Blomberg-Fritsch-Krise war der Abschluß eines Entwicklungsabschnitts und der Beginn eines neuen in einem. Bis Ende 1937 hatte es scheinen können, als ob die Politik der Stärke, wie sie das Auswärtige Amt und die Wehrmachtführung betrieben, um mittels der Aufrüstung einen Rückhalt für die Revision der Versailler Ordnung zu gewinnen, mit den Absichten Hitlers verträglich sei. Das Zwei-Säulen-System, 1934 im Zuge der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Bewegung ins Leben getreten, hatte seitens der Wehrmacht auf der Annahme beruht, der vermeintlich gemäßigte Staatsmann Hitler müsse sich außer auf die Bewegung vor allem auf die bewaffnete Macht stützen, die damit eine entscheidende Rolle im Staat spielen könne. Die Ereignisse an der Jahreswende 1937/38 machten jedoch zweierlei deutlich: Erstens war Hitler gar kein gemäßigter Staatsmann, sondern ein außenpolitischer Abenteurer;
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und zweitens benützte der Diktator nun die Bewegung, in diesem Fall die SS, um die unabhängige Stellung der Wehrmacht, insbesondere des Heeres, aus den Angeln zu heben, denn die Vorwürfe gegen Fritsch wegen angeblicher Homosexualität beruhten auf gefälschtem Material, das Himmler und Heydrich zur Verfügung stellten. Diese Dinge wurden einstweilen überdeckt durch den Anschluß Österreichs im März 1938, der als berauschender außenpolitischer Erfolg empfunden wurde und viele Zweifler zum Verstummen brachte. Dennoch bildete sich im Anschluß an den Fritsch-Skandal (der im März 1938 mit einem kriegs gerichtlichen Urteil auf erwiesene Unschuld beendet wurde) eine Oppositionsgruppe um den damaligen Oberstleutnant Oster in der Abwehrabteilung des OKW, den Regierungsrat im Innenministerium Gisevius, den ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig Goerdeler, den ausgeschiedenen Wirtschaftsminister Schacht (damals noch Reichsbankpräsident) und etliche andere, die sich zunächst vor allem gegen die wachsende Willkürherrschaft von SS und Sicherheitspolizei wandten. Als Hitlers Kriegsabsichten wieder zum Vorschein kamen, gesellte sich zu dieser einen Linie des Widerstands eine zweite, in welcher Generalstabschef Beck in den Vordergrund trat. Beide Linien liefen schließlich unter Becks Nachfolger Halder zusammen, der den Staatsstreich planen ließ. Mit der Blomberg-FritschKrise begann so ein Entwicklungsabschnitt des Verhältnisses zwischen Nationalsozialismus und Heer, welcher stufenweise auf die Entscheidung hinsteuerte, ob Hitler nach innen die unbeschränkte Herrschaft der Bewegung durchsetzen und nach außen die Wehrmacht zum Werkzeug seiner Kriegsabsichten machen konnte, oder ob es den Widerstandskreisen, vor allem dem Heer gelang, dies zu verhindern und am Ende die Diktatur selbst zu beseitigen. 66 Hitlers Auftrag an das OKW vom April 1938, eine neue Weisung für Fall Grün auszuarbeiten, erfuhr im Laufe des Mai eine inhaltliche Verschärfung, so daß die endgültige Fassung vom 30. Mai feststellte - ähnlich wie es Hitler in einer Rede vor den Spitzen des Auswärtigen Amts und der Wehrmacht am 28. Mai tat - , es sei der unabänderliche Entschluß des Führers, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen. Dies bildete den Auftakt für den nun beginnenden Kampf Becks und anderer gegen den Krieg, aus welchem bald ein Kampf gegen die Diktatur selbst wurde. Dabei ist zu beachten, daß es den Widersachern Hitlers im allgemeinen nicht um die Erhaltung der Tschechoslowakei ging. Der tschechoslowakische Staat, eine Schöpfung Frankreichs und der Pariser Friedenskonferenz, war für etliche seiner Nachbarn und vor allem für Deutschland nicht geradezu ein Haßgegner - erst Hitler machte ihn dazu - , aber doch eine Erscheinung, deren Existenz mit vielen Vorbehalten und manchen mißgünstigen Gefühlen betrachtet wurde. Die Slowakei hatte jahrhundertelang zu Ungarn gehört; Preßburg war zeitweise ungarische Hauptstadt gewesen. Böhmen und Mähren hatten rund ein Jahrtausend erst zum 66 Deutsch, Komplott, P. Hoffmann, Widerstand, 60 ff. K.-J. Müller, Heer, 255 ff. Thun-Hohenstein. G. Ritter, Goerdeler.
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alten Deutschen Reich und dann zu Österreich gehört. Prag war zeitweise Residenz der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der Habsburger gewesen. Wurzeln der neuhochdeutschen Sprache gehen auf das Prager Kanzleideutsch des 14. Jahrhunderts zurück; einige der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter des 20. Jahrhunderts stammen aus Böhmen. Die Tschechoslowakei gehörte zu den am buntesten zusammengestückelten Nationalitätenstaaten Zwischeneuropas. Von den rund 13-14 Millionen Einwohnern waren nur etwa die Hälfte Tschechen, die sich als Staatsvolk verstanden. Die über drei Millionen Deutschen in den Randgebieten hatten noch im Oktober 1918 durch ihre Vertreter im österreichischen Parlament den Anschluß an Deutsch-Österreich erklärt, was verwaltungstechnisch natürlich schwierig gewesen wäre, aber mit Waffengewalt ohnedies unterbunden wurde. Selbstverwaltung erhielten die Deutschen ebensowenig wie die zahlreichen Ungarn in der Südslowakei. Es kam hinzu, daß die Tschechoslowakei, die geographisch wie ein Keil in deutsches Gebiet hinein vorsprang, auch aus strategischen Gründen Unruhe erzeugte, zumal seit ihrem Bündnis mit Rußland, da Luftangriffe aus der Tschechoslowakei deutsche Wirtschaftsgebiete und Verkehrsverbindungen schwer in Mitleidenschaft ziehen konnten und bei einem Zusammenwirken Polens und der Tschechei Schlesien kaum zu halten war. All diese Schwierigkeiten hätten sich freilich auf dem Wege friedlicher Politik ebenso lösen lassen. Schon die Weimarer Außenpolitik hatte mit dem Gedanken gespielt, die Tschechoslowakei in den wirtschaftlichen Einzugsbereich des Reiches zu bringen, etwa durch einen Zollbund, und der wirtschaftlichen Abhängigkeit mochte die politische auf dem Fuße folgen. Stand die Tschechoslowakei erst in einer Art Satellitenrolle zum Reich, so war sie militärisch nicht mehr bedrohlich und die Frage der deutschen Minderheit konnte einvernehmlich geregelt werden, sei es durch Selbstverwaltung oder sei es anderswie. Das wäre auf eine deutsche Vormachtrolle in Mitteleuropa hinausgelaufen, wie die Revisionspolitik und die sog. konservativen Führungsschichten es seit jeher angestrebt hatten und wie die Appeasementpolitik es nur allzugern zugestanden hätte. Der neue Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Weizsäcker (1938-43), dachte in diese Richtung, wenn er seinem Minister Ribbentrop im Juni 1938 einen Lagebericht vorlegte, im welchem er einen derartigen Lösungsweg vorschlug. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß zu dieser Zeit schon nicht mehr zur Debatte stand, ob die Tschechoslowakei längerfristig in Abhängigkeit zu bringen sei, sondern die politische Vorgabe lautete Zerschlagung des Landes, und hierfür suchte Weizsäcker friedliche Mittel aufzuzeigen. Er verwies darauf, daß England und Frankreich in einen Krieg nicht unbedingt eingreifen müßten, wenn aber doch, dann gemeinsam, und in diesem Fall stünden die USA und Rußland auf ihrer Seite. Diese Einsicht ist festzuhalten; sie kehrte bei Beck wieder, der mit Weizsäkker - verbotenerweise - in lebhaftem Gedankenaustausch stand, und sie besagte, daß kriegerische Abenteuer in Mitteleuropa zu einem Weltkrieg führen konnten, in welchem - abgesehen von Rußland - das Reich dem Wirtschafts- und
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Wehrpotential der größten Industriernacht der Welt, der USA, gegenüberstehen würde. Weizsäcker meinte weiter, ein im Osten Deutschlands gelegenes Ziel sei politisch nur dann erreichbar, wenn die Entente dieses Vorgehen dulde. Hierfür sah er gute Aussichten, denn: "Weder Frankreich noch England suchen Händel wegen der Tschechei. Heide würden die Tschechei vielleicht sogar sich selbst überlassen, wenn diese ohne direkte äußere Eingriffe und durch innere selbstverschuldete Auflösungserscheinungen ihr verdientes Los erlitte. Dieser Prozeß müßte allerdings ein schrittweiser sein und über Volksabstimmung und Gebietsabtrennung zum Kräfteverfall des Restgebiets führen ... Hierfür wird das z. Zt. von England ausgehende Stichwort des Selbstbestimmungsrechts der Sudetendeutschen, das wir bewußt uns bisher nicht zu eigen gemacht haben, langsam aufzugreifen sein. Die internationale Überzeugung, daß diesen Deutschen die Wahl ihrer staatlichen Zugehörigkeit vorenthalten worden sei, wird nützliche Vorarbeit tun, gleichgültig, ob der chemische Auflösungsprozeß des tschechoslowakischen Staatsgebildes schließlich doch noch durch mechanisches Zutun gefördert werden kann oder nicht. Das Schicksal der eigentlichen Rumpf-Tschechei wäre damit allerdings noch nicht klar umrissen; es wäre aber trotzdem schon besiegelt" - nämlich im Sinne einer unumgänglichen Abhängigkeit vorn Reich, die bei vernünftiger Politik Gewaltmittel überflüssig gemacht hätte. 67 Heck äußerte sich ähnlich. In einer Anzahl von Denkschriften suchte er zwischen Ende 1937 und Mitte 1938 dem jeweiligen Oberbefehlshaber des Heeres Argumente gegen Hitlers Kriegspolitik an die Hand zu geben. Was das von Hitler so oft beschworene ,,Raumproblem" des deutschen Volkes betrifft, so stimmte Heck dem im Prinzip zu; aber schon am 12. November 1937 meinte er dazu, soweit dieses Raumproblem sich auf Deutschlands zenrale Lage in Europa beziehe, bestehe es seit jeher und vielleicht für alle Zeiten. Soweit sich das Raumproblem auf die Versailler Grenzen beziehe, erschienen geringe Veränderungen als möglich, doch dürften sie die Einheitlichkeit des deutschen Volkes nicht gefahrden, auch seien weitgehende Änderungen der europäischen Hevölkerungslage kaum noch erreichbar. Das hieß nichts anderes, als was schon Stresemann erhofft hatte, nämlich einen einheitlichen Staat, der alle Deutschen in Mitteleuropa umfaßte, aber andere Nationalitäten, wie Polen und Tschechen, außerhalb ließ. Lebensraum zu gewinnen, um die Autarkie zu erreichen, lehnte Heck rundweg ab, denn wie er glaubte "benötigen wir für alle Zeiten einen höchstmöglichen Anteil an der Weltwirtschaft." Von daher ist wohl auch die ziemlich dunkle Stelle in der Denkschrift vorn 29. Mai 1938 zu verstehen, Hitlers Meinung, Deutschland brauche einen größeren Lebensraum in Europa, sei richtig, doch sei dieser nur durch einen Krieg zu erwerben. Auf die Tschechoslowakei 67 Hitlers Weisung vom 30.5.1938 in IMG, Bd.25, 433 ff.; sowie ADAP, Sero D, Bd.2, 281 ff. Zur Rede Hitlers vom 28.5. die Aufzeichnung Becks bei K.-J. Müller, Beck, 512 ff. Der Lagebericht Weizsäckers vom 8.6.1938 bei Hill, 129 ff.
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bezog sich das augenscheinlich nicht, denn im unmittelbaren Anschluß daran meinte Beck, der fragliche Lebensraum werde nicht erworben durch ein Land, das in der Hauptsache selbst Zuschußgebiet sei - was bei der Tschechei zutraf, die Lebensmitteleinfuhren benötigte. Möglicherweise wollte Beck an der besagten Stelle nur zum Ausdruck bringen, Deutschland brauche an sich, idealerweise, mehr Lebensraum, was aber keine praktische Bedeutung besitze, weil das deutsche Raumproblem, abgesehen von kleineren Grenzveränderungen, vielleicht für alle Zeiten bestehe. Einen Krieg wegen der Tschechei hielt Beck jedenfalls für ebenso gefährlich wie überflüssig. Er bestritt nicht, daß die Tschechei in ihrer durch das Versailler Diktat erzwungenen Gestaltung für Deutschland unerträglich sei und die von ihr ausgehende Gefahr notfalls auch durch eine kriegerische Lösung ausgeschaltet werden müsse. Aber am 5. Mai 1938 stellte er unmißverständlich fest, eine Einigung über die Tschechei sei möglich, denn England liege nichts an diesem Gefahrenherd. "Verfeinden wir uns über die Tschechei mit England, so entschwinden auch andere Möglichkeiten, die wir von einem freundschaftlich gesonnenen England, wenn auch nicht vollständig, wohl erhalten könnten, von einem uns feindlich gesinnten England werden wir nichts erhalten." Das war klassische Revisionspolitik mit friedlichen Mitteln, die einen Krieg gar nicht brauchte, weil sie mit Zustimmung anderer Mächte sowieso die meisten ihrer Ziele erreichen konnte. Dagegen befürchtete Beck bei einem militärischen Angriff auf die Tschechei den Kriegseintritt Englands und Frankreichs, hinter denen, mindestens als Materiallieferant, noch Amerika stand. Die Frage, ob und wie schnell Deutschland die Tschechei überrennen könne, war dabei eher nebensächlich. Beck stellte in Rechnung, daß die Westmächte die Tschechei erst einmal preisgaben, aber Deutschland einen langen Krieg aufzwangen, dem es mit seinem begrenzten Potential nicht gewachsen war. Am 29. Mai 1938 schrieb er: "Ein socher Krieg - und hierin liegt ein vielfach begangener verhängnisvoller Irrtum - wird nicht mehr von den Erfolgen oder Mißerfolgen der ersten Waffengänge abhängen, sondern von ganz anderen Faktoren, die unsere Gegner in der Lage sind, gegen uns ins Feld zu führen." Hier war bereits eine strategische Grundfrage des späteren Weltkriegs angesprochen: Deutschland mochte anfangliche Erfolge erzielen, aber würde es je in der Lage sein, das überlegene Wehrpotential seiner voraussichtlichen Gegner einzuholen? Beck hielt das für ausgeschlossen. Das OKH hatte im Sommer 1938 die planerischen Vorarbeiten für den Überfall auf die Tschechei vorerst anlaufen lassen. Am 16. Juli stellte jedoch Beck fest, daß er das nicht mehr verantworten wolle, weil er, ebenso wie seine Mitarbeiter im Generalstab, die Sache für aussichtslos halte. In einer Vortragsnotiz vom selben Tag finden sich die berühmten Worte, der Krieg gegen die Tschechei werde zum Weltkrieg, dieser zu "finis Germaniae" führen. ,,Es stehen hier letzte Entscheidungen für den Bestand der Nation auf dem Spiel", die höchsten Führer der Wehrmacht seien zum Handeln berufen. "Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr
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Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet." Also glatte Befehlsverweigerung? Kollektive Meuterei der Generalität? Ganz so weit wollte Beck denn doch nicht gehen. Er kam an der Tatsache nicht vorbei, daß die Offiziere in ihrem Eid geschworen hatten, dem Führer unbedingten Gehorsam zu leisten. Beck vesuchte einen Ausweg zu finden, indem die Befehlshaber nicht gemeinsam in Ungehorsam verfallen sollten, sondern Hitler die Undurchführbarkeit seiner Befehle vor Augen stellen und im Falle, daß Hitler darauf beharrte, gemeinsam zurücktreten sollten. Die eidliche Bindung der Offiziere wäre damit gewahrt und trotzdem ein entschiedener Schritt gegen den Diktator unternommen worden. Dies suchte Beck zu ergänzen durch eine "für die Wiederherstellung geordneter Rechtszustände unausbleibliche Auseinandersetzung mit der SS und der Bonzokratie". Beck rechnete "in jedem Falle mit inneren Spannungen ... es wird hiernach notwendig sein, daß das Heer sich nicht nur auf einen möglichen Krieg, sondern auch auf eine innere Auseinandersetzung, die sich nur in Berlin abzuspielen braucht, vorbereitet. Entsprechenden Auftrag erteilen. Witzleben mit Helldorf zusammenbringen." General Witzleben war damals Befehlshaber im Berliner Wehrkreis, Graf Helldorf Polizeipräsident von Berlin; mindestens Helldorf stand seit dem Fritsch-Skandal in Verbindung mit Oppositionskreisen. Lief dies auf einen Staatsstreich hinaus? Das hängt davon ab, was Beck unter der Wiederherstellung geordneter Rechtszustände verstand. Wenn Beck betonte, es dürfe kein Zweifel darüber aufkommen, daß dieser Kampf für den Führer geführt werde, so besagt das verhältnismäßig wenig; Beck konnte schwerlich verlangen - oder zumindest wollte er das nicht öffentlich aussprechen - , die Generale sollten gemeinsam Hitler zum Teufel jagen. Offenbar war nicht vorgesehen, jedenfalls zunächst nicht, Hitlers Stellung als ,,Führer", d. h. als Reichspräsident, Regierungschef und Oberbefehlshaber, dem der Eid geschworen worden war, anzutasten; statt dessen sollte eine Säuberung von den Auswüchsen der nationalsozialistischen Herrschaft stattfinden. Wie weit sie gehen sollte, bleibt offen. In einer Liste von Punkten, die Beck vorläufig nur als zugkräftige Schlagworte verstanden wissen wollte, wurden u. a. genannt: Friede mit der Kirche, freie Meinungsäußerung, wieder Recht im Reich. Das hätte jedenfalls bedeutet, die Diktatur wesentlich zu entschärfen und größere Rechtssicherheit herzustellen. Ob darüber hinaus eine vollständige Wiederherstellung des Rechtsstaats durch die Rückkehr zur Gewaltenteilung, politischen Vereinigungsfreiheit (Parteigründung), freien Wahlen usf. beabsichtigt war, also die Beseitigung der Diktatur schlechthin, läßt sich aus Mangel an Anhaltspunkten nicht beantworten. Man kann aber einen anderen Schluß ziehen. Becks Ansatz war ja eigentümlich gespalten: Auf der einen Seite sollten die Befehlshaber, ohne eigentlich in Ungehorsam zu verfallen, Hitler geschlossen entgegentreten; auf der anderen Seite erwartete Beck "in jedem Falle" innere Spannungen und war zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit den Stützen von Hitlers Herrschaft, insbesondere
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der SS, bereit. Es war doch wohl nicht zu erwarten, daß Hitler tatenlos zusah, wie die Generalität ihm in der Außenpolitik ihren Willen aufzwang, und schon vollends nicht, wie sie durch einen Schlag gegen SS und Bonzokratie sein inneres Herrschaftssystem umkrempelte. Wenn Hitler sich das erst gefallen ließ, waren seine Tage als Diktator gezählt. Es hätte dann auch keine Rückkehr zur ZweiSäulen-Theorie gegeben, denn diese hatte eben besagt, daß die Staatsführung von zwei Säulen, der Bewegung und der Wehrmacht, getragen wurde. Wenn die Wehrmacht die Bewegung ausschalten konnte, gab es keine zwei Säulen mehr, sondern nur noch eine: die Wehrmacht. (Dabei ist es unerheblich, daß in den Kampf gegen SS und Bonzokratie auch Mitglieder der Bewegung eingeschaltet werden konnten; Helldorf z. B. war SA-Gruppenführer.) Mit Gegenmaßnahmen Hitlers war demnach zu rechnen, und das hätte bedeutet, daß die Wehrmacht bei ihrem Kampf gegen die Bewegung ja doch den Gehorsam gegen Hitler verletzte. Beck wollte einerseits mit seinem "Streik der Generale" den offenen Ungehorsam vermeiden und mußte andererseits den Ungehorsam dennoch in Kauf nehmen, wenn Hitler sich selbst bzw. die Bewegung nicht freiwillig entmachten ließ. Das war im Grunde eine unhaltbare Zwischenposition: Entweder man ist ungehorsam oder man ist es nicht; entweder man macht einen Staatsstreich oder man läßt es bleiben. Das haben anscheinend auch Brauchitsch und Raeder so gesehen. In Becks Plan war unstreitig die Bereitschaft, wenn nicht der klare Vorsatz zum offenen Aufruhr enthalten. Der "Streik der Generale" war bloß eine Ausflucht; wenn die Stunde des Handeins kam, mußten die Generale sich für Hitler oder gegen ihn entscheiden. Brauchitsch und Raeder entschieden sich gegen den Aufruhr. Der Stabschef der Seekriegsleitung, Admiral Guse, war in einer Denkschrift von Mitte Juli 1938, in Übereinstimmung mit Beck, zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungen gelangt wie der Generalstabschef: Einem europäischen Krieg sei das Reich nicht gewachsen, und dies müsse durch gemeinsames Vorgehen der Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte verhindert werden. Raeder ging darauf nicht ein, sondern löste Guse ab. Es gibt Anzeichen, daß die Dinge sich bei Beck ähnlich entwickelten. Brauchitsch war nicht so blind und Hitler-hörig, daß er einen Umsturz in jedem Fall abgelehnt hätte, aber Vorbereitung und Durchführung selbst in die Hand zu nehmen vermochte er nicht; noch zu Halders Zeiten ließ er andere vorangehen. Becks Plan, einen gemeinsamen Schritt der Befehlshaber zu unternehmen und dies gegebenenfalls zu einem Auslöser für die Abrechnung mit der SS zu machen, hatte zur stillschweigenden Voraussetzung, daß Brauchitsch, vielleicht zusammen mit Raeder, sich an die Spitze stellte und die Generalität mit sich fortriß. Dazu hat Brauchitsch sich nicht bereitgefunden. Anfang August ließ er eine Versammlung der Befehlshaber einberufen, auf welcher Einigkeit bestand, daß ein Krieg vermieden werden müsse, aber was man dagegen tun könne, sagte Brauchitsch nicht. Möglicherweise hat Beck das schon seit Ende Juli gewußt, seit seinen flammenden Aufrufen an Brauchitsch. Am 21. August 1938 trat Beck als Generalstabschef zurück. 68
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Halder, der ihm folgte, begann seine Amtstätigkeit mit der Vorbereitung des Staatsstreiches. Die unklare Zwiespältigkeit Becks, ob der Eid nun gebrochen werden solle oder nicht, focht Halder nicht an. Er wußte, daß einige entschlossene Männer es auf sich nehmen mußten, den Eid zu brechen, um das Vaterland vor Schaden zu bewahren, und er handelte danach. Gedankt hat man es ihm nicht. Wenige Gestalten der neuesten deutschen Geschichte sind in ihrem Bild für die Nachwelt so unscharf und widersprüchlich geblieben wie Halder. Über viele Gestalten des Zweiten Weltkriegs, bedeutende und weniger bedeutende, gibt es Biographien, über Halder nur die liebenswürdige Lebensbeschreibung durch seine Enkelin. Andere Generalstabschefs der deutschen Militärgeschichte stehen im hellen Licht, Halder allenfalls im Zwielicht. Über seinem Kampf gegen den Diktator liegt der Schatten des Scheiterns, über den von ihm geführten Feldzügen, die zu den glänzendsten der deutschen Militärgeschichte gehören, liegt der Schatten des bösen politischen Zwecks. In der Geschichtschreibung ist Halder mittlerweile regelrecht unter die Räder geraten. Von den Prozessen gegen die Kriegsverbrecher verschont, da ihm augenscheinlich nichts vorzuwerfen war, galt Halder nach dem Krieg zunächst noch als Verkörperung bester soldatischer Traditionen; gerühmt wurden sein überragendes fachliches Können, sein durchdringender Verstand, seine Arbeitskraft, seine wissenschaftlichen Interessen und seine Verwurzelung in der Wertewelt des christlichen Abendlandes. Das änderte sich, als der allgemeine geistige Umschwung der 1960er und 1970er Jahre auch auf die Geschichtschreibung abfärbte. War Halder anfangs noch eine begehrte Auskunftstelle für frühere Ereignisse gewesen, so geriet er nun in den Geruch des notorischen Lügners. Hatte er anfangs noch als einer der Hauptwidersacher Hitlers gegolten, so begann seine Rolle im Widerstand nun zu verblassen. An deren Stelle trat die Anschuldigung, Halder habe, wenn er denn die Ziele des N ationalsozialismus überhaupt je ablehnte, sich ihnen später zumindest genähert, so daß er den Wunsch Hitlers geteilt habe, durch die Niederwerfung Rußlands eine deutsche Kontinentalhegemonie zu errichten. Selbst an den verbrecherischen Maßnahmen des Rußlandkrieges treffe Halder sein Teil der Verantwortung. Auch das Scheitern des Rußlandfeldzugs finde seine Ursachen in der Unzulänglichkeit des Generalstabs. Faßt man all dies zusammen, so ergibt sich ein wenig schmeichelhaftes Bild Halders. Er hätte demnach maßgeblichen Anteil genommen an Hitlers Welteroberungsplänen und an den Kriegsverbrechen, seine Fähigkeiten als Generalstabschef wären beschränkt und sein Charakter zweifelhaft gewesen. 69 68 Becks Denkschriften vom 12.11.1937,5.5.1938,29.5.1938,16.7.1938, sowie die Vortragsnotizen vom 16.7.1938, 19.7.1938,29.7.1938 bei K.-J. Müller, Beck, 498 ff., 502 ff., 521 ff., 542 ff., 551 ff., 554 ff., 557 ff. Zur Wirtschaftslage der Tschechoslowakei MGFA, Weltkrieg I, 351. Zu Guse Dülffer, Marine, 475 f. Gemzell, 169 ff. Ferner P. Hoffmann, Widerstand, 94 ff. Krausnick, Widerstand, 337 ff. K.-J. Müller, Heer, 300 ff. 69 Lebensbeschreibung Halders durch seine Enkelin Schall-Riaucour. Ältere Auffassungen über Halder etwa bei Krausnick, Vorgeschichte, 335 ff. K.-J. Müller, Heer, 346 ff. Kosthorst, Opposition, 51 ff. G. Ritter, Goerdeler, 183 f. Dagegen neuerdings Leach, 118 ff., 231 ff. (Halder als Lügner). Messerschmidt, Motive, 1026 (verbrecheri-
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War das Halder? Oder tobt sich hier nur der Zeitgeist aus? Wie auch immer, diese Untersuchungen werden - auf der Grundlage der Tatsachen - ein anderes Bild von Halder entwerfen. Wer war Halder? Geboren 1884, entstammte Franz Halder einer Familie, die seit dem 17. Jahrhundert dem bayerischen Staat Soldaten gestellt hatte. Umfassend gebildet - er hatte nach dem Ersten Weltkrieg an der Münchner Universität einige Semester Volkswirtschaft und Statistik studiert und sprach mehrere Sprachen - durchlief Halder eine erfolgreiche militärische Laufbahn, in welcher er sich den Ruf eines Fachmannes für Generalstabsausbildung und Manöverfragen erwarb. Als Leiter des Wehrmachtmanövers 1937 erprobte er die Einsatzmöglichkeiten von Panzerdivisionen, deren Eignung für weiträumige, bewegliche Operationen wenige so klar erfaßt haben dürften wie er. Im Oktober 1937 wurde Halder Oberquartiermeister 11 für Ausbildungsfragen im Generalstab des Heeres (die Oberquartiermeister leiteten die Arbeit mehrerer sachlich zusammengehöriger Abteilungen des Generalstabs), im April 1938 rückte er zum Oberquartiermeister I für Operation und ständigen Stellvertreter des Generalstabschefs auf. Früher als Beck erkannte Halder, daß man dem Diktator notfalls mit Gewalt entgegentreten müsse. Über den Charakter Hitlers gab er sich spätestens seit 1938 keinen Illusionen mehr hin: Er nannte ihn einen Verbrecher und Geisteskranken mit sexualpathologischer Veranlagung. Einem solchen Subjekt gegenüber wurden die sittlichen Verpflichtungen, wie sie aus dem Eid erwuchsen, hinfällig. An ihre Stelle setzte Halder die sittliche Verpflichtung gegenüber dem Gewissen der freien, selbstbestimmten Persönlichkeit, die eine Verankerung in der Religion findet. Obwohl ohne feste kirchliche Bindung Halder entstammte einer konfessionell gemischten Ehe und ging selbst wieder eine solche ein - fühlte er eine Verantwortung vor Gott, die das Eintreten für soldatische Tugenden ebenso in sich schloß wie die Sorge für das Wohl von Reich und Volk. Persönlichen politischen Ehrgeiz besaß Halder nicht; gemäß glaubhaftem Zeugnis soll er bei der Planung für den Staatsstreich im September 1938 vorgesehen haben, nach geglücktem Umsturz sofort zurückzutreten, um so ein Zeichen zu setzen, daß er nur der guten Sache diene. Der Soldat sollte nicht zum Revoluzzer werden, sondern der Tatsache eingedenk bleiben, daß er grundsätzlich der politischen Führung unterstand; erst in dem Ausnahmefall, daß die politische Führung das Recht mit Füßen trat, Volk und Wehrmacht in den Abgrund riß, war der Soldat zum Handeln befugt und aufgerufen. Mit einer solchen Einstellung wurde Halder für die Jahre 1938 bis 1942, in welchen er an der Spitze des Generalstabs stand, zum wichtigsten Gegenspieler Hitlers. Die Hoffnung, den Diktator schließlich doch beseitigen zu können, hat er lange nicht aufgegeben. So ließ er im Mai 1940 über seine Frau einem Freund ausrichten, man müsse warten können, der Tag der Abrechnung werde kommen. sche Befehle des Rußlandfeldzugs). MGFA, Weltkrieg IV, 3 ff., 15 (Kontinentalhegemonie). Seaton, 59 ff. Reinhardt, Wende, 18 ff. (unzulängliche Vorbereitung des Rußlandfeldzugs und Unterschätzung Rußlands). Ferner K.-J. Müller, Opposition, 338 f. Ders., Armee, 115 f. 20 Rauh, Zweiter Weltkrieg 1. Teil
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Halder war weder schwankend noch unentschlossen, wie schon manche Zeitgenossen meinten, und er war auch nicht der farblose Schulmeister, als der er bisweilen noch heute erscheint. Sondern Halder war die Verkörperung des hervorragenden Generalstäblers. Sein reiches Gemüt, geprägt durch Empfindsamkeit, Lebhaftigkeit und Willensstärke, dabei nicht frei von aufbrausenden Zügen, war gebändigt durch natürliche Zurückhaltung und vor allem durch das Bemühen, Sachprobleme mit scharfem Verstand und eiserner Gründlichkeit zu durchdenken, bis sich die passende Lösung fand. Was Halder pflegte, war operatives Denken, wie es der Generalstab lehrte: auf der Grundlage sorgfältiger Lageanalyse die richtigen Kräfte an der richtigen Stelle ansetzen und mit Kühnheit und Entschlossenheit das Mögliche verwirklichen. Halder plante den Staatsstreich wie eine Operation: Es mußten die Voraussetzungen stimmen, annehmbare Erfolgsaussichten vorhanden sein, andernfalls hatte die Sache zu unterbleiben; ein blindes Hineinstürzen in unfruchtbare Abenteuer lehnte das geschulte Denken des Generalstäblers ab. Im Gegensatz Hitler - Halder verkörpert sich zugleich der Gegensatz zwischen dem weltanschaulichen Fanatiker und dem kühl rechnenden Sachkenner, zwischen dem politischen wie militärischen Dilettantentum und dem Fachmenschentum, wie es schon Max Weber beschrieb, zwischen dem irrationalen Willensmenschen und dem auf Vernunft und Analyse bauenden Verstandesmenschen. Setzte Hitler auf seine Eingebungen, auf die Gesinnung und auf den Willen, so setzte Halder auf wirkliche Kenntnis, auf klares Denken und sorgfältige Planung. Man muß nur einmal die Fotografien betrachten, die Halder bei Lagebesprechungen mit Hitler zeigen, um aus dem mürrischen, vielfach regelrecht angewiderten Gesichtsausdruck des Generalstabschefs zu ermessen, mit welchem geradezu körperlichen Widerwillen er das Gefreitengeschwätz des Diktators über sich ergehen ließ, wieviel Kraft und Überwindung es ihn kostete, durch Dilettantismus und weltanschauliche Verbohrtheit des selbsternannten Feldherm Hitler jede angemessene strategische und operative Planung gefährden, wo nicht zuschanden machen zu lassen. Halder klebte nicht an seinem Amt, weil er Hitlers Ziele teilte oder dem Diktator willfährig war. Mehr als einmal hat er während des Krieges seinen Oberbefehlshaber Brauchitsch gedrängt, ihrer beider Abschied einzureichen, und blieb erfolglos. Im August 1941 schrieb er an seine Frau: "Die einfachste Lösung, mit Krach abzugehen, verbietet sich durch den Mangel eines Nachfolgers, dem ich mit gutem Gewissen diese Last auf die Schultern legen könnte, und aus der Pflicht der Treue meinem Heere und meinen Mitarbeitern gegenüber, die mir fest zur Seite bleiben. Also kämpfe ich weiter und nehme ein Gutteil der Kraft dazu aus dem Wissen um die vielen lieben Gedanken und treuen Wünsche, die mich begleiten." Vielmehr blieb Halder auf seinem Posten, solange er noch glaubte, für Deutschland irgendetwas zum Guten wenden zu können, sei es durch eine Verbesserung der politischen und militärischen Lage in einem Krieg, der nach der Überzeugung des Generalstabs schon im Jahre 1938 am Ende ja doch mit der deutschen Niederlage enden würde, oder sei es
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in der Hoffnung, es werde sich noch rechtzeitig die Gelegenheit bieten, dem Schurken Hitler das Handwerk zu legen. Erst im September 1942, als die militärische und politische Lage Deutschlands so verfahren war, daß weder nach innen noch nach außen eine nennenswerte Besserung zu gewärtigen stand, hat Halder aufgegeben. Er fühlte sich nicht mehr verpflichtet, sein eigenes Leben und das seiner Familie aufs Spiel zu setzen für eine Sache, die nur noch durch den Zusammenbruch zu bereinigen war. Über den Umsturzversuch Stauffenbergs urteilte er später: "Die Tat des 20. Juli war ein Verzweiflungsakt junger entschlossener Idealisten ... ich war zu dieser Zeit bereits realistisch genug, um zu wissen, daß einzelne kleine Gruppen das vor keiner Brutalität zurückschreckende Regime nicht zu stürzen vermochten. Ich stand in der Sorge und Verantwortung, daß am unvermeidlichen bitteren Ende wieder das Chaos stehen würde." 70 Halder war der Mann, der den Weitblick, den Mut und die seelische Standfestigkeit besaß, jenseits von Opportunismus, Anpassung und Gleichgültigkeit den Kampf aufzunehmen gegen ein Verhängnis, das viele ahnten und zu wenige ernst nahmen. Halder war der Mann, der das deutsche Schicksal hätte wenden können, wenn die Hindernisse nicht zu groß gewesen wären. Halder ist schon bei vielen Zeitgenossen und noch mehr bei den Nachlebenden unverstanden geblieben; wer sich einfachen Erklärungsmustern nicht fügt, gerät immer in Gefahr, unter die Wölfe zu fallen. Und einfachen Erklärungsmustern fügt Halder sich nicht; er war kein bloßer Haudegen, sondern eine eher spröde Natur, ein planerischer Kopf mit Einfühlungsgabe, unbeugsamer Härte des Willens, beschwingter Phantasie und unbestechlicher Nüchternheit - wie er selbst einmal die Gaben des wahren Feldherrn umschrieb. Mit diesen Eigenschaften ging er auch an die Planung des Umsturzes heran. Warum ist der Staatsstreich 1938 mißlungen? Die Einzelheiten dieses Unternehmens brauchen hier nicht nachgezeichnet zu werden; es genügt zu sagen, daß es wohl das am besten vorbereitete und aussichtsreichste Vorhaben war, das je vom deutschen Widerstand in Gang gesetzt wurde. Halder war das Hirn und der Auslöser des Unternehmens; Schacht stellte sich bereitwillig zu Verfügung; die konkreten Vorbereitungen wurden hauptsächlich von Witzleben geleistet sowie von Oster und seinem Kreis in der Abwehr, der von Abwehrchef Canaris gedeckt und unterstützt wurde. Was mit Hitler geschehen sollte, wurde nicht abschließend entschieden, doch hätte sich die Frage dadurch erledigt, daß Major Heinz aus der Abwehr, der einen Stoßtrupp in die Reichskanzlei zu führen hatte, bei dieser Gelegenheit Hitler niedermachen wollte. Im Anschluß an den Umsturz sollten allgemeine Wahlen stattfinden und eine parlamentarische Regierung entstehen - vorausgesetzt, daß bis dahin alles einigermaßen reibungslos ablief. 70 Zu Halders Lebenslauf Schall-Riaucour. Halders Äußerungen über Hitler 1938 bei Gisevius, 349. Die Mitteilung an Halders Frau 1940 bei Schall-Riaucour, 211 f. Der Brief an seine Frau vom August 1941 a.a.O., 126. Halder über Stauffenberg nach einer persönlichen Mitteilung an Schall-Riaucour, a. a. 0., 305. Ferner Deutsch, Verschwörung,
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Der entscheidende Punkt des Unternehmens war die Haltung des Volkes und, damit verknüpft, diejenige des Auslands. In diesen Untersuchungen wurde früher hervorgehoben, daß es letztlich weniger die sog. konservative Führungsschicht als vielmehr das Volk war, das Hitler an die Macht gebracht hatte, und daß es die Zustimmung des Volkes war, welche die nationalsozialistische Diktatur weiterhin an der Macht hielt. Eben dies war Halders Ausgangspunkt. Soweit man Halder zur konservativen Führungsschicht rechnen kann, wandte sich in seiner Person diese Schicht nunmehr gegen das Regime; typische Vertreter dieser Gruppe wie Schacht schlossen sich an. Brauchitsch hatte in voller Kenntnis von Halders Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus ihn als neuen Generalstabschef ausgewählt. In die Umsturzvorbereitungen wurde Brauchitsch nicht unmittelbar einbezogen; Halder glaubte jedoch, schließlich auf ihn zählen zu können, was sich Ende September als richtig erwies, da Brauchitsch im Begriff stand, sich anzuschließen. Die Haltung des Oberbefehlshabers war außerordentlich wichtig, da Halder als Generalstabschef keine unmittelbare Kommandogewalt besaß. Wenn Brauchitsch mittat, war zu erwarten, daß die meisten Befehlshaber seinen Anordnungen folgten; wenn aber Brauchitsch dem Generalstabschef in den Rücken fiel und anderslautende Befehle erteilte, war schon auf der Ebene der Generalität der Putsch gescheitert. Unsicher war und blieb die Haltung der Truppe und des Volkes. Seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht war das Heer zu einem Volksheer geworden, und das heißt, daß die im Volk verbreitete Hitler-Begeisterung vom Heer gleichermaßen Besitz ergriff. Das Volk und die Truppe sahen hauptsächlich Hitlers berauschende außenpolitische Erfolge und den Aufschwung im Innern; die strategischen Zusammenhänge erfaßten sie kaum, und die Hintergründe von Hitlers Politik blieben ihnen dunkel. Den Putschversuch einer Handvoll von Generalen hätten sie nicht verstanden und wären ihm, ohne Einsicht in seine Notwendigkeit, zum großen Teil wohl nicht gefolgt. Halder gebrauchte in diesem Zusammenhang gelegentlich den Vergleich mit dem KappPutsch von 1920, bei welchem der Aufstand einiger militärischer Formationen unter Führung eines Generals und des Politikers Kapp durch einen Generalstreik und den Widerstand der Bürokratie kläglich mißlungen war. Was sollte denn geschehen, wenn Brauchitsch und Halder den Umsturz ausriefen und anschließend die Verkehrsverbindungen zusammenbrachen, weil sie von nationalsozialistisch gesonnenem Personal bei Bahn und Post lahmgelegt wurden? Oder wenn die jüngeren Offiziere bis hinauf zum Major den Gehorsam verweigerten und die Generale ohne Truppe dastanden? Oder wenn ein Bürgerkrieg ausbrach, in welchem sich das Heer unter tatkräftiger Mithilfe durch die SS selbst zerfleischte? Halder beschritt den Ausweg, daß Hitler einen schweren außenpolitischen Rückschlag erleiden müsse, der dem Volk die Augen öffne und es geneigt mache, Gewaltmaßnahmen gegen die Diktatur hinzunehmen. Der Erfolg des Umsturzes wurde damit an die mittelbare Unterstützung des Auslands geknüpft. Der Gedanke war an sich nicht neu. Schon im Frühjahr 1938 hatte der konservative Politiker Kleist-Schmenzin, ein preußischer "Junker" und vom Beginn an entschiedener
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Hitler-Gegner, einen Mitarbeiter des britischen Foreign Office beschworen, London möge Hitler nachdrücklich entgegentreten und damit dem deutschen Generalstab einen "Notanker" zuwerfen, an dem er seinen Widerstand festmachen konnte. Im Auftrag von Canaris und Beck reiste Kleist-Schmenzin Mitte August 1938 nach London, um die britische Regierung zu fester Haltung aufzufordern. Beck soll ihm die Weisung mit auf den Weg gegeben haben: "Bringen sie mir den sicheren Beweis, daß England kämpfen wird, wenn die Tschechoslowakei angegriffen wird, und ich werde diesem Regime ein Ende bereiten." Dazu kam es dann nicht mehr, aber Halder ließ nach seinem Amtsantritt Anfang September den Major a.D. und Industriellen Boehm-Tettelbach wiederum mit einem ähnlichen Auftrag nach London entsenden, was möglicherweise nur dazu dienen sollte, die Briten über die Haltung des neuen Generalstabschefs zu vergewissern. Kurz darauf ließen auch noch Widerstandskreise des Auswärtigen Amts über die im diplomatischen Dienst tätigen Brüder Kordt der britischen Regierung den Zusammenhang zwischen Staatsstreichbereitschaft und Hilfestellung aus London auseinandersetzen. In England konnte man nun wirklich wissen, daß es im Reich eine breite Oppositionsfront vom Generalstab des Heeres über das OKW bis zum Auswärtigen Amt gab und daß sie auf die Möglichkeit zum Losschlagen wartete. Halders Plan lief darauf hinaus, daß Hitler an seinen Kriegsabsichten gegen die Tschechoslowakei festhalten werde, daß, wie es bereits vorgesehen war, Ende September / Anfang Oktober die Entscheidung fallen müsse, daß die Westmächte ihrerseits Gegenmaßnahmen ergriffen, was dem deutschen Volk zeigen würde, wie Hitler es in den europäischen Krieg trieb, den das Volk tatsächlich nicht wollte - und daß dann der Umsturz ausgelöst werden könne. Die Dinge schienen sich zunächst günstig zu entwickeln. Nachdem London und Paris Mitte September die Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland zugestanden, Hitler aber einen militärischen Einmarsch verlangt hatte, begannen Frankreich und England mit der Mobilisierung von Truppen und Flotte und stellten ihr Eingreifen als unvermeidlich dar. Um den 27./28. September warteten die Verschwörer auf einen stichhaltigen Beweis für Hitlers Kriegsabsichten, den sie brauchten, um ihr Vorgehen gegenüber dem Volk zu rechtfertigen. Brauchitsch war schon auf dem Weg in die Reichskanzlei, um sich über die Lage zu vergewissern und anschließend der Aktion zuzustimmen, Halder wartete auf seine Rückkunft, um das Zeichen zum Losschlagen zu geben, der Stoßtrupp für die Reichskanzlei stand bereit da traf am Nachmittag des 28. September die Nachricht ein, daß die Westmächte nachgaben und Hitlers Forderungen auf einer Konferenz zustimmen wollten. Die Verschwörung war geplatzt; gegen den Diktator, der eben wieder einen außenpolitischen Triumph errungen hatte, war kein Staatsstreich mehr möglich. Hitlers Heeresadjutant fand Halder an seinem Schreibtisch, weinend, die Nervenanspannung und die grenzenlose Enttäuschung hatten den sonst so überlegten Generalstabschef aus dem Gleichgewicht gebracht: Wenn seine Kalkulation richtig war, dann würde es schwer, vielleicht unmöglich sein, Hitler nun noch aufzuhalten.
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Was hier geschehen war, wußten die Kundigen, und der britische Botschafter drückte es in einem Bericht an seine Regierung vom 6. Oktober unmißverständlich aus: Indem die Briten den Frieden erhielten, retteten sie Hitler und sein Regime. 7l Nicht nur das. Der neuerliche Erfolg stärkte Hitlers Stellung gegenüber Volk und Wehrmacht und ließ es noch unwahrscheinlicher werden, daß ein Umsturzversuch Gefolgschaft finden könnte. Halder blieb bei seiner Lagebeurteilung, daß Hitler erst einen außenpolitischen Rückschlag erleiden müsse, bevor das unveränderte Ziel, der Staatsstreich, wieder ins Auge gefaßt werden könne. Die Soldaten seien von Hitlers Erfolgen geblendet; da das Ausland alle seine Schritte hinnehme, glaubten die Soldaten, daß auch in Zukunft alles glücklich verlaufen werde. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als die Westmächte die Besetzung der Resttschechei und des Memellandes im März 1939 widerstandslos duldeten. Wie hätten auch die Soldaten sich lossagen sollen von einem Mann, der scheinbar mit überlegener Staatskunst all das nach Hause brachte, was das Versailler Diktat und die Westmächte den Deutschen verweigert hatten? Das Ausland gab ja der Diktatur die beste Rechtfertigung, indem es ihr alles in den Rachen warf, was es der Republik vorenthalten hatte. Die Ausschreitungen gegen die Juden in der sog. Reichskristallnacht vom November 1938 riefen zwar bei den Soldaten verbreitetes Entsetzen hervor, doch glaubte man, die Verantwortung liege nicht bei Hitler, sondern bei den radikalen Elementen der Bewegung, etwa Goebbels, den der Generaloberst und spätere Feldmarschall von Bock am liebsten aufhängen wollte. Hitler unterstützte den Irrtum, als er, von Admiral Raeder wegen der Vorfälle zur Rede gestellt, die Behauptung aufstellte, die Gauleiter seien ihm aus dem Ruder gelaufen. Die Chancen für einen Staatsstreich wurden zusätzlich vermindert, als Witzleben ein anderes Kommando erhielt, Helldorf sich von der Verschwörung zurückzog, entschiedene Regimegegner wie Adam verabschiedet wurden, Brauchitsch jeden Gedanken an Widerstand ablehnte und Ende 1938 von Hitler die sog. Zeittafeln angeordnet wurden, die eine ganz kurzfristige Verfügbarkeit der Verbände vorsahen, so daß es schwieriger wurde, sie aus einem Aufmarsch herauszulösen, um sie im Innern einzusetzen. Die Möglichkeit eines Krieges gegen Polen, die sich seit dem Frühjahr 1939 immer deutlicher abzeichnete, führte zwar zu einiger Unruhe in OKW und OKH, zu Warnungen und Gegenvorstellungen durch Canaris, Thomas, Keitel und Brauchitsch. Doch nahm der Abschluß des deutschrussischen Nichtangriffsvertrages vom 23. August 1939 den Zweiflern wieder 7l Halder über die Gaben des Feldherrn bei Halder, Hitler, 23. Zum Staatsstreichplan von 1938 K.-J. Müller, Heer, 345 ff. P. Hoffmann, Widerstand, 109 ff. Halder über die Haltung von Volk und Truppe bei Gisevius, 350 ff. Halder über Kapp-Putsch bei Kosthorst, 114 ff. (Anfang 1940). Kleist-Schrnenzin und Beck nach Colvin, 211, 223. Vgl. Wendt, München, 15, 29 ff. P. Hoffmann, Widerstand, 82 ff., auch zu Kordt. Halders Reaktion auf das Scheitern des Staatsstreichs bei Engel, 39. Der Bericht des britischen Botschafters Henderson in DBFP, Sero 3, Bd. 3, 615.
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viel Wind aus den Segeln, weil dadurch tatsächlich Deutschlands politische und strategische Lage nennenswert verbessert wurde. Es war in dieser Lage durchaus denkbar, daß sich die Ereignisse vom September 1938 wiederholten, als beide Seiten unter großem Getöse den Krieg angedroht und sich dann doch auf der Ebene einer friedlichen Hinnahme von Hitlers Erpressung getroffen hatten. Unter solchen Umständen war die erneute Vorbereitung des Staatsstreiches ziemlich aussichtslos, und Halder hat es denn auch gar nicht versucht. Darüber hinaus wußte der Generalstabschef, und er sagte es im April 1939 dem amerikanischen Geschäftsträger in Berlin, daß das deutsche Heer den Krieg nicht wünsche, daß es aber im Ernstfall marschieren werde. Die Truppe baute darauf, daß Hitler einen Ausweg finden werde, wie er bislang scheinbar immer einen gefunden hatte. Die im Sommer 1939 zwar vorhandene, aber für viele doch ganz ungewisse Möglichkeit eines Krieges gegen Polen und die Westmächte war nicht der außenpolitische Rückschlag, den Halder für notwendig erachtete, um Volk und Wehrmacht von Hitlers Aberwitz zu überzeugen, zumal sie durch den deutsch-russischen Vertrag wieder entschärft wurde. Erst als Hitler nach dem Sieg über Polen im Herbst 1939 den zu dieser Zeit praktisch unmöglichen Angriff auf Frankreich befahl, konnte Halder wieder an den Staatsstreich denken, weil hier vielleicht eine Chance bestand, breitere Kreise von der Sinnlosigkeit Hitlerscher Anordnungen zu überzeugen. 72 So war also, wie bereits zu Beginn dieses Kapitels festgestellt, mit dem Scheitern von Halders Staatsstreichversuch vom September 1938 der Weg in den Krieg frei. Hitler hatte den Machtkampf mit dem Heer, wie er seit der BlombergFritsch-Krise entbrannt war, für sich entscheiden können. Das Heer hat sich nicht freiwillig ausgeliefert; unter Halder war es im Begriff gewesen, das Unheil, das über Deutschland und Europa hereinzubrechen drohte, noch einmal aufzuhalten. Das Ausland hatte es in der Hand, Halder und das Heer dabei zu unterstützen. Daß das Ausland diese Unterstützung verweigerte, haben Deutschland und Europa später bezahlt. Man könnte an dieser Stelle die bissige Bemerkung einflechten, daß das Ausland wohl besser beraten gewesen wäre, sich in die deutschen Verhältnisse nicht immer bloß dann einzumischen, wenn es den Deutschen schadete, sondern den Deutschen zur Abwechslung auch einmal zu helfen. Aber damit träfe man die eigentlichen Probleme nur am Rand; es ging in Wahrheit um die Entwicklung der internationalen Beziehungen und des internationalen Systems selbst.
72 Halders Lagebeurteilung bei Krausnick, Vorgeschichte, 370. Zu Bock a.a.O., 373. Zu Raeder dessen Mein Leben 11, 133 ff. Halder zum amerikanischen Geschäftsträger nach DBFP, Sero 3, Bd. 5, 107 (13.4.1939). Ferner K.-J. Müller, Heer, 378 ff. P. Hoffmann, Widerstand, 130 ff.
III. Das internationale System vor dem Krieg Warum erhielten Halder und der deutsche Widerstand nicht die Unterstützung des Auslands, als sie versuchten, Hitler zu beseitigen und den Krieg zu verhindern? Im Nachhinein will es doch scheinen, als sei hier ein schwerwiegendes Versäumnis begangen, eine Fehlentscheidung mit fürchterlichen Auswirkungen getroffen worden. Ungeachtet der verbreiteten Neigung, diese Dinge aus der Betrachtung ganz auszublenden, ist an die Feststellung eines bekannten Historikers zu erinnern, die Verschwörer in Deutschland hätten die britische Verständigung mit Hitler wohl als "Dolchstoß in den Rücken" empfinden dürfen. Daß der deutsche Widerstand von da an nicht mehr allzuviel zuwege brachte, wird so leichter verständlich; er war in seinem Lebensnerv getroffen. Worauf hätte er denn noch hoffen sollen, wenn ihm das Ausland den Boden unter den Füßen wegzog und statt dessen das Ansehen der Diktatur beim Volk stärkte?l Die Frage nach dem Warum hat sich vor allem mit dem britischen Premienninister Neville Chamberlain, Hauptvertreter der Appeasementpolitik, zu beschäftigen, denn auf ihn hatten sich die Hoffnungen der Verschwörer gerichtet. Das Verhalten Chamberlains gegenüber dem Widerstand wirkt nun in der Tat ebenso rätselhaft wie widersprüchlich. Auf der einen Seite war er bestrebt, mit Hitler bzw. Deutschland zu einer friedlichen Verständigung zu gelangen; noch im November 1938 schrieb er seinen Schwestern, denen er seine geheimsten Gedanken anzuvertrauen pflegte, er verfolge die Idee, mit Deutschland doch noch zu einem Frieden zu kommen. Andererseits teilte er in einem gleichartigen Privatbrief aus dem März 1939 mit: "Ich wollte schon immer Zeit gewinnen, denn ich habe niemals die Ansicht ausgeschlossen, daß ein Krieg unvenneidbar sei." Wenn Hitler nicht zu bändigen und der Krieg unvenneidbar war, dann hätte doch wohl der Widerstand unterstützt werden müssen. Auf der einen Seite fühlte sich Chamberlain durch Kleist-Schmenzin und seine Forderung nach harter Haltung gegenüber Hitler an die Jakobiten erinnert, also an die Anhänger des gestürzten StuartKönigs, die am Ende des 17. Jahrhunderts auf einen französischen Sieg über England hofften. Das erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, als habe London im deutschen Widerstand keine annehmbare Alternative zur Regierung Hitler gesehen, die immerhin vom Volk nicht abgelehnt wurde und in gewisser Weise rechtmäßig war. Zudem war bekannt, daß natürlich auch der Widerstand Revisionsziele verfolgte, namentlich Grenzänderungen im Osten, so daß insoweit kein Unterschied zu Hitler zu bestehen schien. Auf der anderen Seite war aber 1 Zum "Dolchstoß in den Rücken" Rothfels, Opposition, 28. Völlig oder weitgehend unterschlagen werden diese Dinge etwa bei Bell, Origins. Read / Fisher, Embrace. Graml, Weg. Vgl. MGFA, Weltkrieg I, 159 f., 651 f. Dagegen neuerdings Lamb, Ghosts, 70 ff.
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nicht minder klar, daß der deutsche Widerstand wegen dieser Revisionsziele keinen Krieg anzufangen, ihn im Gegenteil zu verhindern wünschte. Dagegen bestand im Schoße der britischen Regierung - und ähnlich der französischen - im Herbst 1938 nicht der leiseste Zweifel, daß Hitler mit den bisherigen Erfolgen sich nicht zufriedengeben, sondern nach weiteren Gewinnen Ausschau halten würde. Für denkbar hielt man insbesondere ein Ausgreifen nach der Ukraine. Hätten die Westmächte dies stillschweigend geduldet, so würde es fatal an die Lage vor dem Ersten Weltkrieg erinnern, als Deutschland und Rußland gegeneinander getrieben werden sollten. Selbst wenn die westlichen Regierungen dies 1938/39 nicht wirklich beabsichtigten, scheint man doch in der Sowjetunion entsprechende Befürchtungen gehegt zu haben. Jedenfalls sprach der russische Außenminister Litwinow im Januar 1939 von solchen Dingen, und Stalin erklärte in einer Rede aus dem März 1939, die westliche Diskussion über einen deutschen Angriff auf die Ukraine solle eine deutsch-russische Auseinandersetzung herbeiführen. Als Aufgabe der Sowjetregierung bezeichnete er es deswegen, nicht zuzulassen, daß das Land in Konflikte durch Kriegstreiber verwickelt werde, die es gewohnt seien, andere für sie die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. Muß man daraus etwa schließen, den Briten und Franzosen sei ein Hitler mit seinem erklärten Antibolschewismus lieber gewesen als der deutsche Widerstand mit seinen begrenzten Revisionszielen? Freilich ist das wiederum fraglich, denn auf der einen Seite haben zwar die Briten in der Tschechei-Krise vom September 1938 Hitler mit Vorbedacht gestützt. Außenminister Halifax hatte Ende August 1938 festgestellt, es könnte angesichts der inneren Lage in Deutschland für das Hitler-Regime lebenswichtig werden, einen diplomatischen Erfolg zu gewinnen durch eine zufriedenstellende Lösung der Sudetenfrage. Das entsprach ziemlich genau der Argumentation des deutschen Widerstands, der Hitler bei einem schweren außenpolitischen Rückschlag aus dem Sattel heben wollte. Indem die Briten Hitler seinen Triumph gönnten, hielten sie ihn am Ruder. Auf der anderen Seite hat man aber in London den deutschen Widerstand keineswegs vollständig abgeschrieben. Im Dezember 1938 kam der Unterstaatssekretär im Foreign Office, Cadogan, nach einem Gespräch mit Chamberlain über den deutschen Widerstand zu dem Schluß, diese Leute sollten ihren Job selbständig erledigen, also den Umsturz herbeiführen, ohne auf Hilfe von außen zu warten. An dieser Linie hat Chamberlain in Zukunft festgehalten; im Winter 1939/40, nach Kriegsausbruch, wartete er auf den Staatsstreich in Deutschland, der zur Grundlage für ein geregeltes Nebeneinander der europäischen Länder hätte werden können. Diese Rechnung war an sich nicht ganz falsch, da Halder zur selben Zeit erneut mit Putschplänen umging; dennoch enthielt sie einen Denkfehler. Was Halder für den Staatsstreich brauchte, war eine Erschütterung des Vertrauens von Heer und Volk in Hitler. Soweit dieses Vertrauen nach Kriegsausbruch erschüttert war, reichte die Erschütterung jedenfalls nicht aus für den Staatsstreich. Der richtige Zeitpunkt wäre 1938 gewesen; das hat das geschulte Denken des Generalstabschefs besser erkannt als dasjenige des leitenden Politikers in London. 2
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III. Das internationale System vor dem Krieg
Was wollte demnach die Appeasementpolitik? In Hinblick auf den deutschen Widerstand ist die Frage schwer zu beantworten, aber natürlich ging es der Appeasementpolitik nicht bloß um den deutschen Widerstand. Man wird ihr am ehesten gerecht werden, wenn man sie in den Zusammenhang hineinstellt, in welchen sie gehört, nämlich in die Entwicklung des internationalen Systems. Dort hatte indes Britannien nicht bloß mit Deutschland zu rechnen und noch nicht einmal vorrangig mit ihm, sondern ebenso mit anderen Ländern und mit ihren Beziehungen untereinander. Das internationale System der Zwischenkriegszeit war in einem aufgewühlten und regellosen Zustand, in dem nichts richtig zueinander paßte - unmittelbare Folge des Umstands, daß eine tragfähige Weltfriedensordnung durch das Versailler System verhindert worden war. Der Appeasementpolitik kommt immerhin das Verdienst zu, daß sie in diese Unordnung wieder ein haltbares Ordnungsprinzip einbauen wollte. Es sollte dies ein neues europäisches Gleichgewicht sein, wie ja Britannien seit Jahrhunderten immer wieder als Regisseur des europäischen Gleichgewichts aufgetreten war. Das europäische Mächtesystem, durch das neue Gleichgewicht wiederum geordnet, hätte dann zwar nicht mehr, wie früher, den alleinigen Mittelpunkt der Weltpolitik gebildet, aber doch einen festen Ort, um auch das Verhältnis zu außereuropäischen Mächten im Lot zu halten. In dieser neuen europäischen Ordnung, im Rahmen der Appeasementpolitik, hätte Deutschland nahezu alle Revisionsziele erreichen können, die seit der Weimarer Republik verfolgt worden waren; Deutschland wäre zur mitteleuropäischen Führungsrnacht aufgestiegen und hätte wieder einen gleichberechtigten Platz unter den Großmächten besetzt. Die Appeasementpolitik war also nicht bloß jene Politik schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Diktaturen, als welche sie früher oft erschien. Sie war auch nicht bloß eine Politik der Friedenserhaltung, sondern sie enthielt einen konstruktiven Entwurf für die Errichtung einer neuen Mächteordnung jenseits des Versailler Zwangssystems. In dem neuen europäischen Gleichgewicht sollte Deutschland wieder die Rolle übernehmen, in welcher es die britische Politik seit langem am liebsten sah: eines Gegengewichts zu Rußland. Dieses Gleichgewicht haben Hitler und Stalin durch ihren Nichtangriffspakt vom August 1939 gemeinsam aus den Angeln gehoben. Das hat Stalin später offen eingestanden, wenn er am I. Juli 1940 dem britischen Botschafter sagte, "die Grundlage des (deutsch-sowjetischen) Nichtangriffspakts sei das gemeinsame Bestreben gewesen, das alte in Europa bestehende Gleichgewicht zu beseiti2 Chamberlain an seine Schwestern, 6.11.1938 und 19.3.1939, bei Wehner, 165f. Chamberlains Jakobitenausspruch in DBFP, Ser. 3, Bd. 2, 686 f. (19.8. 1938). Zur britischen Lageeinschätzung im Herbst 1938 Middlemas. Cowling. Wehner, 124 ff. Zu Frankreich DDF, Ser. 2, Bd. 13,204 f. (Bericht von Franr;:ois-Poncet, 13.12.1938). Zu Litwinow Toscano, 556 f. Stalins Kastanienrede in Ursachen und Folgen 13,38 ff. (10.3. 1939). 1-:Ialifax 1938 in DBFP, Sero 3, Bd. 2, 195 (31.8.1938). Chamberlain und Cadogan über den deutschen Widerstand Dezember 1938 bei Dilks, Cadogan, 129. Ferner Watt, Verhandlungsinitiativen, 421 ff. Wehner, 21 ff., 60 f., 199 ff. Wendt, München, 7, 10,36 ff. und passim.
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gen, das Großbritannien und Frankreich vor dem Krieg aufrechtzuerhalten bestrebt gewesen seien. Wenn der Premierminister (Churchill) das alte Gleichgewicht wiederhergestellt haben möchte, setzte Stalin fort, könnten wir ihm nicht zustimmen. Auf meinen (des Botschafters) Einwand, es müsse doch irgendein Gleichgewicht in Europa geben und nicht die Hegemonie einer einzigen Macht, erwiderte Stalin: Ich bin nicht so einfältig, den deutschen Versicherungen zu glauben, sie hätten keinen Wunsch nach Hegemonie, aber ich bin von der physischen Unmöglichkeit einer solchen Hegemonie überzeugt, da Deutschland nicht über die dazu notwendige Seemacht verfügt." Diese Äußerung ist in verschiedener Hinsicht ziemlich aufschlußreich. Sie zeigt erstens, daß Stalin das europäische Gleichgewicht genau verstand, genauer als viele spätere Historiker. Durch eine deutsche Führungsstellung in Mitteleuropa, wie die Appeasementpolitik sie vorsah, wurde das Gleichgewicht nicht gefährdet, ebensowenig wie vor dem Ersten Weltkrieg die machtpolitische Zusammenfassung des mitteleuropäischen Raumes durch das deutsch-österreichische Bündnis das Gleichgewicht gefährdet hatte. Beseitigt wurde dagegen das Gleichgewicht durch ein Zusammengehen Deutschlands und Rußlands, zumal wenn es, wie beim Hitler-Stalin-Pakt der Fall, die Aufteilung Zwischeneuropas und die Ausschaltung Polens zum Ziel hatte. Zweitens zeigte sich Stalin gut informiert über das Wesen der Seemacht. Es ist nicht ersichtlich, ob er mit seiner Bemerkung über die Seemacht auf den deutschen Flottenbau vor dem Ersten Weltkrieg sowie auf Bülows Plan eines Kontinentalblocks anspielte. Wenn er es tat, hat er jedenfalls richtig erkannt, daß eine deutsche Hegemonie über den Kontinent nach damaligem Denken zwei Voraussetzungen erforderte: ein Bündnis mit Rußland und eine starke Flotte, um Eurasien an seinen Seeflanken abschirmen zu können. Bezog Stalin sich lediglich auf die konkrete Situation seiner Gegenwart, so hat er nicht minder richtig erkannt, daß ein Deutschland ohne starke Flotte den Kontinent gegen die westlichen Seemächte nicht wirksam zu verteidigen vermochte, so daß es für Rußland im Grunde kein gleichwertiger Bündnispartner war. Wenn nun, wie Stalin sagte, eine deutsche Hegemonie über Europa nicht in Frage kam, so ist drittens zu beachten, daß Stalin gleichwohl das europäische Gleichgewicht, das er absichtlich mitbeseitigt hatte, nicht wiederherstellen wollte. Was sollte das heißen? Augenscheinlich konnte damit nur gemeint sein, daß dann eben eine andere Macht die Hegemonie über Europa erringen müsse, und man darf wohl kurzerhand schließen, daß Stalin damit die Sowjetunion meinte. Man sieht, daß in den Jahren vor dem Krieg mehr auf dem Spiel stand als nur eine Beschwichtigung (= Appeasement) Deutschlands. Es kommt hinzu, daß weltpolitische Bewegungen außer in Europa auch noch andernorts stattfanden. Eine sowjetrussische Geschichtsdarstellung läßt den Zweiten Weltkrieg mit Japans Griff nach der Mandschurei im Jahr 1931 beginnen. Man muß nicht darüber streiten, ob das zulässig ist; es enthält zumindest einen richtigen Gedanken. Daß das Versailler Durcheinander erneut in den Krieg führen werde, hatten schon 1919 viele gesagt; spätestens seit 1931 begann es sich zu bewahrheiten. Ob man
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III. Das internationale System vor dem Krieg
nun den Zweiten Weltkrieg 1931 anfangen läßt oder nicht, die Auslösung der weltpolitischen Unruhe durch ostasiatische Vorgänge zeigt jedenfalls eine gewisse Parallele zu den Vorgängen vor dem Ersten Weltkrieg. Auch damals hatte Europa sich in Ruhelage befunden, bis der ostasiatische Zusammenstoß zwischen Rußland und Japan auf Europa zurückschlug, indem Rußland sich wieder Europa zuwandte und dort Gegensätze aufbrechen ließ. Auch damals hatte Britannien auf der Klaviatur des deutsch-russischen Verhältnisses gespielt und dies für eigene Zwecke auszunutzen getrachtet. Gewiß darf man den Vergleich nicht überdehnen; die Ausgangslage war unterschiedlich, und die Absichten der Beteiligten waren nicht dieselben. Aber es wiederholte sich doch das Wechselspiel verschiedener Schauplätze der Weltpolitik; die europäischen Vorgänge der 1930er Jahre hingen mittelbar oder unmittelbar immer auch mit den ostasiatischen zusammen. Es ist deshalb angebracht, mit Japans Rolle in der Weltpolitik zu beginnen. 3 Unter allen Ländern, die nicht zum europäischen Kulturkreis gehörten, hatte Japan, auf der Grundlage seiner langen kulturellen Tradition, am schnellsten Anschluß an die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritte der modernen Welt gefunden. Japan war ein verhältnismäßig entwickeltes Land, gehörte allerdings noch nicht zu den ganz großen Industriestaaten. Sein Anteil an der Weltindustrieerzeugung betrug am Ende der 1920er Jahre erst 2,5 %. Überwiegend noch ein Agrarland, litt Japan an vielfältigen Spannungen des Übergangs von einer Agrargesellschaft zu einer industrialisierten Massenzivilisation sowie an Verwerfungen innerhalb der Landwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft selbst. Die stark anschwellende Bevölkerung konnte in der Landwirtschaft nicht mehr und in der Industrie noch nicht ihren Lebensunterhalt finden, eine Lage, wie sie Deutschland in ähnlicher Weise vor der Jahrhundertwende erlebt hatte, so daß Japan, ähnlich wie damals Deutschland, seinen Bevölkerungsüberschuß durch Auswanderung anderswo unterbringen mußte. Die USA haben im Laufe der Zeit bekanntlich große Mengen deutscher Einwanderer aufgenommen; der japanischen Einwanderung wurde 1924 ein Riegel vorgeschoben, was die Belastung der japanischen Wirtschaft verschärfte und die Erbitterung anheizte, auch wegen der offenkundigen rassischen Ungleichbehandlung. Große Teile der Landbevölkerung lebten am Rande des Existenzminimums; rund die Hälfte des Bodens wurde von Pachtbauern bewirtschaftet, die ihren Lebensunterhalt aus kleinsten Flächen bestreiten mußten. Wenn in der Weltwirtschaftskrise um 1930 Japan mit seinen rund 64 Millionen Einwohnern nur eine Million Arbeitslose aufwies, so trügt der Schein. Da es verhältnismäßig weniger Industriearbeiter als in den großen Industrieländern gab, besagt die Zahl, daß die gewerbliche Wirtschaft auch in Japan mit voller Wucht getroffen wurde. Verheerend waren die Auswirkungen auf dem Land. Die Bauern betrieben als zweite Einkommensquelle die Erzeugung von Rohseide und waren außerordentlich stark von Markt- oder Preis3 Stalins Äußerung zum britischen Botschafter Cripps 1940 bei Brügel, 230 f. Die These vom Beginn des Zweiten Weltkriegs 1931 in Gretschko, Zweiter Weltkrieg.
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schwankungen abhängig. Fast die gesamte Rohseidenerzeugung wurde in die USA ausgeführt; mit dem Erlös finanzierte Japan fast die Hälfte seiner Rohstoffund Maschineneinfuhren. Als die Wirtschaftskrise die USA erfaßte, und diese sich überdies durch Zollmauern abschotteten, brach ein großer Teil des japanischen Außenhandels schlicht zusammen und ließ die Landbevölkerung verelenden. Auf der anderen Seite hatte Japan seit langem versucht, auf dem asiatischen Festland, vor allem in China, wirtschaftlich wie politisch Fuß zu fassen, um Rohstoffquellen, Absatzmärkte und Auswanderungsmöglichkeiten zu gewinnen. Die berühmten 21 Forderungen an China von 1915 hatten all dies beinhaltet: Sie sahen die Ernennung japanischer Berater bei der chinesischen Regierung vor, die Ansiedlung von Japanern, den Bau von Bahnen, Häfen und Bergwerken, die Errichtung gemeinsamer Industrien, gemeinsame Polizeieinheiten usf. Mit der wirtschaftlichen Erschließung Chinas hätte Japan auf diese Weise weitreichenden Einfluß erlangt. Dazu kam es dann nicht, aber seit der Weltwirtschaftskrise griff Japan wieder auf diese Stoßrichtung seiner Außenpolitik zurück. Dem Ausgreifen Japans nach China hatten die USA nach dem Ersten Weltkrieg ein Ende bereitet. Das stand seinerseits wieder in der Traditionslinie der amerikanischen Politik der "offenen Tür" und der territorialen Unversehrtheit Chinas, wie sie um 1900 verkündet worden war. Auf der Konferenz von Washington 1921/22 wurde für den pazifischen Raum ein Vertragswerk errichtet, das man in Anlehnung an den Ausdruck "System von Versailles" als "System von Washington" bezeichnen könnte. Durch das Flottenabkommen wurde Japans militärische Stärke im Verhältnis zu den anderen Flottenmächten festgelegt, durch einen Viererpakt zwischen den USA, Japan, Britannien und Frankreich wurden Konsultationen in Streitfragen vereinbart, durch einen Neunerpakt verpflichteten sich die USA, Japan und sechs europäische Länder zur Zusammenarbeit und Gleichberechtigung in Hinblick auf die (Wirtschafts-) Politik gegenüber China. An diese Vereinbarungen hat sich Japan zunächst gehalten. Auf Widerstand stießen die Verträge vor allem in militärischen Kreisen, die zu den wichtigsten Trägem eines großjapanischen Sendungsbewußtseins und japanischer Ausdehnungspolitik wurden. Die Soldaten entstammten großenteils den ländlichen Unterschichten und waren mit deren Nöten vertraut; im Laufe der Zeit entwickelten sie immer mehr die Bereitschaft, die Brüche und Spannungen der japanischen Gesellschaft durch radikale Maßnahmen im Innern und eine Gewaltpolitik nach außen zu überwinden. Viele näherten sich den Gedanken eines gewissen Kita Ikki, der 1919 ein Werk über den Neuaufbau Japans verfaßt hatte, in welchem er eine Art Staatssozialismus forderte, der durch eine Militärregierung im Namen des Kaisers verwirklicht werden sollte, sowie die Einigung Ostasiens unter japanischer Führung und die Beseitigung des westlichen Einflusses. Obwohl die politischen Institutionen Japans in den 1920er Jahren im Übergang zur Massendemokratie begriffen waren - 1925 wurde das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt und an die Stelle der früheren Beamtenregierungen traten allmählich Parteiregierungen - , gelang es nicht, die innere Unruhe und Unzufriedenheit zu dämpfen. Stabile
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Regierungsverhältnisse blieben aus; Gewalt wurde zu einem gängigen Mittel der Innenpolitik. Von 11 Ministerpräsidenten in den 14 Jahren zwischen 1918 und 1932 kamen sechs aus den Parteien, und davon wurden drei ermordet. Unter solchen Umständen konnten die Streitkräfte keiner wirksamen zivilen Kontrolle unterstellt werden. Die Minister der beiden Wehrmachtteile Heer und Marine waren ohnedies nur dem Kaiser, nicht aber dem Parlament verantwortlich, und die Offiziere ließen ihren politischen Neigungen entweder in den zahlreichen Geheimgesellschaften freien Lauf oder bei den Truppenverbänden auf dem Festland. Hierzu gehörte insbesondere die sog. Kwantung-Armee, also die (zahlenmäßig zunächst recht begrenzten) Streitkräfte, die seit dem russisch-japanischen Krieg Besatzungsrechte in der südlichen Mandschurei sowie den Schutz der von den Russen übernommenen südmandschurischen Eisenbahn versahen. Eben von dieser Kwantung-Armee ging 1931 die Besetzung der ganzen Mandschurei aus, was mit Vorwissen und Billigung der Heeresführung in Tokio, aber gegen den Willen der Regierung geschah. Erst nachdem das Handeln der Kwantung-Armee in der japanischen Öffentlichkeit auf breite Zustimmung gestoßen war, fand auch die Regierung sich damit ab. 1932 wurde der Vasallenstaat Mandschukuo errichtet, der in rein wirtschaftlicher Hinsicht für Japan immer ein Zuschußgebiet blieb, wenngleich das Heer sich auf den Standpunkt stellen konnte, daß der Bezug von Rohstoffen, vor allem Kohle und Eisen, nun strategisch gesichert sei. Bemerkenswert an dem mandschurischen Zwischenfall waren seine Folgen - oder besser die Tatsache, daß er keine Folgen hatte. Das japanische Vorgehen war an sich ein klarer Bruch bestehender Verträge, einerseits derjenigen von Washington, andererseits der Völkerbundssatzung. China, ebenso wie Japan selbst Völkerbundsmitglied, konnte mit Recht darauf verweisen, daß sein territorialer Bestand unter Kriegshandlungen angetastet worden war und daß dies die übrigen Bundesmitglieder verpflichte, dem Rechtsbrecher entgegenzutreten. Selbst wenn man für das japanische Vorgehen viel Verständnis aufbringt, muß man doch sagen, daß es im Rahmen eines geregelten Zusammenlebens der Völker nicht ohne weiteres gerechtfertigt war. Gewiß hatte Japan durch die WashingtonVerträge einen Teil seiner Siegesbeute aus dem Ersten Weltkrieg, nämlich die Gewinne in Schantung, wieder verloren, gewiß besaß es ein verständliches Interesse an der Sicherung seines Außenhandels, der von den USA so leicht geschädigt werden konnte, gewiß durfte Tokio besorgt sein um den Schutz der Japaner, die in der Mandschurei wie anderswo in China lebten, gewiß hat Japan die Mandschurei nicht ausgebeutet, sondern im Gegenteil viel für das Land getan. Aber es war doch ein erheblicher Unterschied zwischen dem, was man als japanischen Revisionismus bezeichnen könnte, sowie demjenigen Revisionismus, der bei europäischen Verlierern des Ersten Weltkriegs anzutreffen war, insbesondere bei Deutschland. Es ist nicht ganz zufallig, daß die amerikanische Regierung mit ihrem Außenminister Stimson in den frühen 1930er Jahren dem deutschen Revisionismus wesentlich aufgeschlossener begegnete als dem japanischen. Deutschland, Österreich und Ungarn waren durch die Versailler Ordnung ganz einfach
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vergewaltigt worden, während das System von Washington Japan kaum schädigte, sondern lediglich seine imperialistische Ausdehnung bremste. Mit der Besetzung der Mandschurei gewann Tokio keine Gebiete zurück, die Japan rechtmäßig schon einmal besessen hatte oder auf die es namens des Selbstbestimmungsrechts einen begründeten Anspruch erheben konnte, vielmehr betrieb es reine Eroberung. Dagegen ließe sich wiederum einwenden, daß andere Länder, wie Britannien, Rußland und die USA, in früheren Zeiten genau dasselbe getan hatten. Nur bestand der Unterschied darin, daß Japan sich durch den Eintritt in den Völkerbund, durch die Washington-Verträge und durch den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 freiwillig gebunden hatte, derlei zu unterlassen. Japan entgegenzutreten, wäre gemäß verbreiteter Rechtsanschauung demnach angebracht und gemäß den Konstruktionsgedanken des Völkerbunds sogar zwingend erforderlich gewesen. Nichts dergleichen geschah. Der Völkerbund begnügte sich damit, Empfehlungen an die beiden Streitparteien zu geben, eine Untersuchungskommission einzusetzen und im Februar 1933 Japan einstimmig zu verurteilen, was nur zur Folge hatte, daß Tokio anschließend aus dem Völkerbund austrat. Die USA erklärten durch die sog. Stimson-Doktrin von 1932 immerhin, sie würden keine Veränderung des bestehenden Zustands anerkennen, die mit kriegerischen Mitteln sowie unter Verletzung des Grundsatzes der offenen Tür erfolge, doch hatte es dabei sein Bewenden. Außer papierenen Entschließungen mußte Japan keine weiteren Maßnahmen befürchten. Warum das so war, ist nicht leichthin zu sagen. Den Hauptgrund darf man wohl darin sehen, daß die auf Präsident Wilson zurückgehende Vorstellung gescheitert war, die Beziehungen der Staaten auf das Recht zu gründen, die Völker in der gegenseitigen Achtung zusammenzuführen und das internationale Recht im Zusammenwirken aller zu schützen. Die Staatenordnung Ostasiens, wie sie vor allem in den Washington-Verträgen festgeschrieben war, blieb in ähnlicher Weise zerrissen, uneinheitlich und ohne durchgängiges Bauprinzip wie diejenige des Versailler Systems in Europa; sie stellte insofern tatsächlich nur eine besondere Erscheinungsform der überwölbenden und weltweiten Versailler Scheinlösung dar. Wie in Europa stützte sich der Völkerbund in Asien vorzugsweise auf England und Frankreich, die eine Weltfriedensordnung nach dem Muster Wilsons gerade verhindert hatten; wie in Europa betrieben die USA in Asien Sonderpolitik neben dem Völkerbund; wie in Europa stand Sowjetrußland außerhalb des Mächtegefüges und war an dessen Festigung nicht interessiert. Der britische Außenminister Austen Chamberlain stellte 1926 fest, Rußland sei der Erbfeind in Asien. Natürlich kann man nur darüber spekulieren, welche Wirkung ein Völkerbund hätte ausüben mögen, dem Amerika, Deutschland und Rußland als maßgebliche und zufriedene Mitglieder angehört hätten; aber die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß vor deren Stirnrunzeln jeder potentielle Aggressor sich alsbald eines Besseren besonnen hätte. So hatte Wilson es ja vorgesehen - übrigens auch durch die Erhaltung der deutschen Flotte - , während England und Frankreich unter dem Deckmantel des Völkerbunds
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tatsächlich nur ihre alte Machtpolitik weiter betrieben, für welche sie im Grunde schon zu schwach waren. Die amerikanische Politik hielt weiterhin an dem Gedanken Wilsons fest, das Recht zur Grundlage der Staatenbeziehungen zu machen, und ebenso an der charakteristischen Verknüpfung mit der Vorstellung von einer Welt des offenen Austausches und Handels, in welcher sich eine amerikanische Führung kraft wirtschaftlicher Überlegenheit frei entfalten konnte. Die Stimson-Doktrin berief sich eben darauf; das Ergreifen von Maßnahmen gegen Japan bis hin zum Krieg wurde in jenen Jahren erörtert, doch konnte es kaum noch in Frage kommen, seitdem die öffentliche Meinung der USA aus dem Zusammenbruch von Wilsons Weltfriedensplan den Schluß gezogen hatte, sich nicht mehr in die Händel der Welt verstricken zu lassen. Was Britannien betrifft, so mußte London sich zweimal überlegen, ob das Land einern neuerlichen Krieg überhaupt noch gewachsen war. Außerdem war es sowieso klüger und bequemer, die Gegensätze anderer Mächte untereinander auszunutzen. Das Ziel, Rußland im Fernen Osten durch Japan in Schach halten zu lassen, hatte Britannien schon vor dem Ersten Weltkrieg verfolgt; warum hätte London jetzt etwas anderes tun sollen? Die Besetzung der Mandschurei betraf Britannien nicht unmittelbar; sollte aber Japan in Ostasien wirklich gefährlich werden, so würde es jedenfalls auch bei anderen Ländern auf Widerstand stoßen, und dann konnte man immer noch weitersehen. Frankreich schließlich hatte am allerwenigsten Grund, sich über eine japanische Hegemonialpolitik in Ostasien zu ereifern; entgegen der ursprünglichen Völkerbundsidee hatte Frankreich ja selbst Hegemonialpolitik gegenüber Mitteleuropa betrieben. So stieß Japan einfach in die Lücken und Schwächen des untauglichen Versailler Systems hinein. Die Frage war eigentlich nur, wie weit Tokio seine Ausdehnungspolitik fortsetzen konnte, ohne auf ernsthafte Gegenwehr zu stoßen. 1934 gab das Außenministerium in Tokio die sog. Amau-Erklärung heraus (benannt nach einem Beamten dieser Behörde), wonach Japan die Verantwortung für den Frieden in Ostasien übernahm sowie jede Einmischung anderer Mächte in China ablehnte. Das war eine Art japanischer Momoe-Doktrin, durch welche Tokio seinen Führungsanspruch in Ostasien unmißverständlich anmeldete. Es ist seit jener Zeit üblich geworden, Japan als revisionistisch, aggressiv, gar faschistisch zu brandmarken und dem die Friedensliebe anderer Länder gegenüberzustellen. Der Vollständigkeit halber wäre freilich anzufügen, daß Japan in Ostasien nichts anderes beanspruchte, als was für die USA in ihrer Hemisphäre seit langem selbstverständlich war und bis heute selbstverständlich geblieben ist. Richtig ist zwar, daß Japan zur Erreichung seiner Ziele auf den Krieg zurückgriff, aber dann wäre immer noch zu berücksichtigen, daß auch die USA sich nie gescheut haben, mit Gewaltmitteln in lateinamerikanischen Ländern einzugreifen, wenn sie es für nötig erachteten. Gegenüber dem Gedanken einer befriedeten Weltgemeinschaft stellte die japanische Politik tatsächlich einen Rückfall in die älteren Verfahrensweisen der Machterweiterung, des Kampfes um Einflußräume und Vorherrschaft dar. Doch vermochten japanische Staatmänner sich mit Recht
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darauf zu berufen, daß solche Verfahrensweisen bislang nirgendwo unüblich geworden waren und daß die Versailler Ordnung das Gedeihen der weltweiten Völkergemeinschaft nicht gefördert, sondern lediglich manchen Ländern Vorteile verschafft hatte. An die Spitze der japanischen Regierung trat im Juni 1937 mit Fürst Konoye Fumimaro ein Mann, der nicht bloß als Ministerpräsident einen Ausgleich herbeiführen sollte zwischen den innenpolitischen Kräften: der Wehrmacht, den Parteien und anderen Führungsgruppen, sondern der auch in seiner Person ein Programm verkörperte. Seit den 1920er Jahren hatte er die Auffassung vertreten, daß der Völkerbund, die Washington-Verträge, der Briand-KelloggPakt ein internationales System auf der Grundlage des status quo festschrieben, das darauf gerichtet sei, bestehende Grenzen einzufrieren, und vor allem die ungleiche Verteilung natürlicher Reichtümer zementiere. Während Länder wie die USA und das britische Empire, die mit Bodenschätzen sowie anderen Hilfsquellen gut ausgestattet waren, verständlicherweise am status quo festhielten, habe Japan Veranlassung, ihn zu ändern, da er für dieses Land Armut und Ungerechtigkeit bedeute. Das konnte man auch anders sehen, z. B. hatte der Außenminister des vorherigen Kabinetts, Sato, Japans Probleme durch rasche Industrialisierung und friedlichen Handel lösen wollen, wie die Amerikaner es mit der offenen Tür ja immer schon vorgeschlagen hatten. Mit Konoye setzte sich jedoch eine andere Richtung der Außenpolitik durch, die fortan bestimmend wurde. Am 7. Juli 1937 kam es an der Marco-Polo-Brücke bei Peking zu einer Schießerei zwischen Chinesen und japanischen Soldaten der sog. Tientsin-Armee, die seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Verbindungslinien von Peking zum Meer bewachte und seit dem mandschurischen Zwischenfall den japanischen Einfluß in Nordchina durch Unterstützung örtlicher Machthaber ausgeweitet hatte. Die Sache hätte an sich gütlich beigelegt werden können, sie wurde jedoch sowohl von der national-chinesischen Regierung unter Tschiang Kai-schek als auch von der japanischen Regierung hochgeschaukelt und führte zum Krieg, den die Japaner stets als chinesischen Zwischenfall bezeichneten. In diesen Krieg verbiß sich Japan immer mehr; nachdem Ende 1937 unter häßlichen Greueln Nanking erobert worden war, verlegte Tschiang Kai-schek den Regierungssitz ins Landesinnere, so daß die Japaner zwar große Teile Nordchinas in der Hand hatten, aber auf dem Land und in unwegsamem Gelände in einen Kleinkrieg verwickelt wurden, der sie viel Kraft kostete und dessen Ende nicht absehbar war. Zum Rückzug war die Regierung Konoye nicht bereit; statt dessen verkündete sie im November 1938 das Programm, Ostasien in einer neuen Ordnung unter japanischer Führung zusammenzuschließen. 4
4 Zur japanischen Wirtschaft W. Fischer, Weltwirtschaft, 87. Lockwood, Development. Havens, Japan. Smethurst, Militarism. Allgemein ferner Iriye, Origins. Hall, Kaiserreich, 301 ff., 319 ff. Beasley, Imperialism. Zum mandschurischen Zwischenfall Northedge, League, 137 ff. Austen Chamberlain 1926 in DBFP, Sero 1 A, Bd. 2,945 f. (20.10.1926). Zur amerikanischen Politik auch Angermann, 132 ff., 196.
21 Rauh, Zweiter Weltkrieg 1. Teil
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Mit Japans Griff nach der Mandschurei 1931 begann zwar nicht die Auflösung der Versailler Ordnung, aber sie trat von da an ins allgemeine Bewußtsein. Wenn Völkerbundsmitglieder einander mit Krieg überziehen konnten, ohne von irgendjemandem daran gehindert zu werden, dann geriet der Völkerbund notwendigerweise in den Geruch, eine bloße Schwatzbude zu sein. Obwohl gelegentlich bestritten wird, daß die ostasiatischen Vorgänge erhebliche Rückwirkungen auf Europa hatten, sind solche Rückwirkungen durchaus nachweisbar. Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund 1933, bald nach dem entsprechenden Schritt Japans, wird zwar von dem japanischen Vorbild kaum beeinflußt worden sein, und die politischen Absichten Hitlers wie Mussolinis wären vermutlich auch ohne die Ereignisse in astasien verfolgt worden. Aber ihr Verfolgen wurde erleichtert, seitdem die Westmächte Japan den Weg zur Ausdehnung freigegeben hatten, womit zusätzlich ein Schauplatz des Geschehens entstand, der sie band und ihre Bewegungsfreiheit einengte. Die britische Flotte, durch die Flottenverträge auf ein Stärkeverhältnis von ungefähr 5: 3 gegenüber der japanischen festgelegt, mußte auf die Erhaltung eines genügenden Abschreckungspotentials im pazifischen Raum Wert legen, damit das Mutterland seine Fähigkeit bewies, die asiatischen und pazifischen Teile des Empire zu verteidigen. Das britische Seereich war stets vorrangig durch die Flotte zusammengehalten worden; die ständig spürbareren Selbständigkeitsbestrebungen der Kolonien und Dominions mußten noch wachsen, wenn das Mutterland nicht einmal mehr ihre Sicherheit zu gewährleisten vermochte. In dieser Lage war es London willkommen, mit Deutschland das Flottenabkommen von 1935 schließen zu können, das die deutsche Flottenstärke auf 35 % der britischen festlegte, denn dadurch blieb der größere Teil der britischen Flotte als Abschreckungspotential für den Femen Osten erhalten, wo Japan soeben - Ende 1934 - die Flottenverträge gekündigt hatte. Durch das deutsch-britische Flottenabkommen wurde der Versailler Vertrag beiseite geschoben und damit ein Zeichen gesetzt, daß London den deutschen Revisionswünschen entgegenzukommen beabsichtige, notfalls auch ohne oder gegen Frankreich, das man in die Flottengespräche gar nicht einbezogen hatte. Gebunden in Asien, machte Britannien nun in Europa gleichermaßen den Weg frei zur Überwindung des Versailler Systems, und zwar nicht einmal mehr im Rahmen des Völkerbunds, sondern außerhalb davon. Die Wechselwirkung zwischen astasien und Europa zeigte sich von da an immer wieder. So wiesen die britischen Stabschefs seit 1935 wiederholt darauf hin, es müßten gleichzeitige Verwicklungen mit Japan, Deutschland und Italien vermieden werden; und im Frühjahr 1938 warnten sie vor einer militärischen Unterstützung der Tschechoslowakei, weil bei einem Krieg in Mitteleuropa voraussichtlich auch Japan (ähnlich Italien) die Gelegenheit zu weiterer Ausdehnung nutzen würde, so daß ein Weltkrieg zu befürchten sei. Chamberlains Nachgiebigkeit in der Tschechei-Angelegenheit hing damit zusammen; astasien hatte teil an der Entscheidung über europäische Vorgänge. 5 5 Keinen nennenswerten Einfluß des mandschurischen Zwischenfalls auf Europa glaubt etwa zu erkennen Bell, 204. Zu den Flottenfragen Meyers, Sicherheitspolitik.
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Andere Rückwirkungen dieser Art kamen hinzu. Im September 1935 zählte der britische Premierminister Baldwin die vier gefährlichsten Unmhestifter in der Welt auf, nämlich - in dieser Reihenfolge - Deutschland, Italien, Rußland und Japan. Daran sind zwei Dinge auffällig: erstens, daß Rußland noch vor Japan erschien, zweitens, daß Rußland überhaupt in der Liste vorkam, obwohl es 1934 in den Völkerbund eingetreten war und eifrig den Anschein erweckte, als beteilige es sich an der Eindämmung der sog. Aggressoren. Wie ist das zu verstehen? Waren die Briten vor Mißtrauen ganz von Sinnen oder hatten sie am Ende doch ein zutreffendes Lagebild? War das nur eine Augenblickseingebung oder galt es längerfristig? Eine Betrachtung der sowjetischen Politik wird hierüber Aufschluß geben. Man darf wohl davon ausgehen, daß diese russische Politik jedenfalls in ihren Grundzügen von dem Georgier J. W. Stalin (eigentlich Dschugaschwili) bestimmt wurde, dem Generalsekretär der KPdSU, der sich in den inneren Machtkämpfen nach Lenins Tod 1924 durchsetzte und bis zum Ende der 1920er Jahre seine diktatorische Alleinherrschaft sicherte. Vor dem Zentralkomitee seiner Partei führte er im Januar 1925 aus, die Sowjetunion müsse für Verwicklungen in den umgebenden Ländern gerüstet sein; der Krieg könne in Zukunft unvermeidlich werden. "Das bedeutet nicht, daß wir bei einer solchen Situation unbedingt aktiv gegen irgend jemand auftreten müssen. Dem ist nicht so ... Unser Banner bleibt nach wie vor das Banner des Friedens. Sollte aber der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig zusehen können - wir werden auftreten müssen, aber wir werden als letzte auftreten. Und wir werden auftreten, um das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen, ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte." Diese Äußerung scheint zunächst nicht sehr aussagekräftig zu sein. Kriegerische Absichten kündigte sie nicht an; sie erklärte nur die Bereitschaft, die Zwistigkeiten anderer Länder auszuschlachten, gewissermaßen eine Art Leichenfledderei zu betreiben. So ähnlich hat sich ja Stalin nach Ausbruch des europäischen Krieges 1939 tatsächlich verhalten, als er seine Gewinne in Ostmitteleuropa einstrich. Die entscheidenden Fragen liegen an anderer Stelle. War es denn wahrscheinlich, daß andere Länder in Krieg gerieten, oder konnte Rußland dazu beitragen, diese Wahrscheinlichkeit zu schaffen bzw. zu erhöhen? Und wenn dem so war, gab es denn Auseinandersetzungen, die Rußland besonders großen Gewinn versprachen? Die Feststellung Stalins, Rußland werde als letzter auftreten und das ausschlaggebende Gewicht in die Waagschale werfen, läßt derartiges vermuten, denn ein ausschlaggebendes Gewicht brauchte die Sowjetunion nicht gegen kleine Länder einzusetzen, während sie bei Auseinandersetzungen großer Länder sehr wohl ausschlaggebend sein konnte. Man fühlt sich an Stresemanns Sorge aus demselben Jahr 1925 erinnert, ein gemeinsames Handeln Deutschlands und Rußlands gegen den Westen werde dazu führen, daß Deutschland zerstückelt und zur Hälfte bolschewisiert werde. Den größten Vorteil vermochte Stalins Sowjetunion offenbar aus kriegerischen Verwicklungen der groGibbs, Strategy I. Höbelt, 89 ff. Zu den Wamungen der britischen Stabschefs M. Howard, Commitment, 118 f. 21*
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ßen kapitalistischen Länder untereinander zu ziehen, sei es aus einern Krieg Japans gegen die Westmächte in Ostasien oder sei es aus einem entsprechenden Krieg Deutschlands in Europa. Für beides gab es ausreichende Ansatzpunkte, wenn Japan nach der Hegemonie in Ostasien, Deutschland nach der Sprengung des Versailler Systems strebte und die Westmächte dies nicht duldeten. Solche Gegensätze vermochte Sowjetrußland zu schüren; wenn sie sich entluden, konnte es als letztes auftreten und das entscheidende Gewicht in die Waagschale werfen - z. B. in die Mandschurei vorstoßen oder nach Mitteleuropa. Fraglich blieb allerdings, ob Deutschland und Japan einerseits, die Westmächte andererseits diejenigen Rollen spielten, welche ihnen in diesem Szenario zugedacht waren. Im Jahr 1925, als Stalin solche Worte äußerte, kam derartiges ohnedies noch nicht in Betracht, deswegen meinte Stalin selbst, es werde erst später eintreten. Außerdem sprachen mancherlei politische und strategische Überlegungen dagegen. Obwohl Rußland seine Verwüstungen durch Krieg und Bürgerkrieg erst wieder überwinden sowie insbesondere seine Wirtschaft wieder in Gang setzen mußte, war es doch auf Grund seiner ungeheuren Ausdehnung, seiner Menschenzahl und seiner natürlichen Reichtümer ein sicherer Anwärter auf die Stellung einer besonders großen Macht; vor allem seine Bodenschätze gaben ihm einen deutlichen Vorsprung vor den meisten anderen Großmächten. Der deutsche Wehrwirtschaftsstab unter General Thomas wußte in den 1930er Jahren ganz genau, daß nur die USA und die Sowjetunion in der Lage waren, "aus sich selbst heraus Krieg zu führen"; allenfalls Britannien konnte aus seinem Empire noch eine annähernd vergleichbare Versorgung mit Rohstoffen oder Lebensmitteln sicherstellen. Amerika wie Rußland bildeten damit eigentlich zwei Pole in einem strategischen Gefalle, welches andere Länder um so verwundbarer und abhängiger machte, je mehr sie auf die Zufuhr von Rohstoffen aus Gebieten angewiesen waren, die sie selbst nicht beherrschten. Ein Land wie Japan etwa war wirtschaftlich binnen kurzem zu erdrosseln, wenn ihm die Rohstoffzufuhren und womöglich auch noch die Absatzmärkte entzogen wurden. Daß Tokio versuchte, sich in Ostasien beides zu sichern, ist von daher nicht ganz unverständlich. Japan war wirtschaftlich schlicht erpreßbar, infolgedessen zugleich politisch erpreßbar; es stand in einem verschleierten Abhängigkeitsverhältnis gegenüber den Ländern, die ihm seine Zufuhren und Märkte abschneiden konnten. Beispielsweise bezog Japan im Jahr 1932 etwa 55 % seiner Erdöleinfuhren aus Amerika und 20 % aus Niederländisch Indien (Indonesien); noch im Jahr 1937 kamen 50 % der japanischen Einfuhren an Eisenerz aus dem britischen Malaya und den amerikanischen Philippinen. Deutschland befand sich im Grunde in einer ähnlichen Lage; wenngleich der Vierjahresplan die Rohstoffabhängigkeit gegenüber dem Ausland minderte sowie europäische Rohstofflieferanten auf Deutschland ausgerichtet werden konnten, blieb das Reich doch bei vielen Rohstoffen in großem Umfang und bei anderen nahezu ausschließlich auf den Bezug aus Ländern angewiesen, die außerhalb des deutschen Machtbereichs lagen. Deutschland und Japan waren aus sich selbst heraus nicht kriegsfabig (und Italien natürlich
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erst recht nicht). In Deutschland wurde daraus im Jahr 1939 eine ganz klare Folgerung gezogen: Die restlose Sicherung der deutschen Kriegsfähigkeit war nur mit den Rohstoffen Rußlands möglich, was damals noch hieß, durch friedliche Abmachung. 6 Derlei wirtschaftliche Sachverhalte waren politisch und strategisch von höchster Bedeutung. Alle Länder, die sich nicht in einer ähnlich glücklichen Lage befanden wie die USA oder Sowjetrußland, waren gefangen in einem Netz strategischer Abhängigkeit, das gleichsam zwischen Amerika und Rußland aufgespannt war. Die weniger begünstigten Länder konnten versuchen, sich politisch unter solchen Abhängigkeiten hindurchzuwinden, ohne über Gebühr anzuecken. Wenn sie aber eine Politik trieben, welche die Belange anderer Länder schwerwiegend verletzte, wenn sie gar zu kriegerischer Eroberung schritten, dann war das nur möglich, solange eine der strategischen Leitmächte sie unterstützte oder mindestens gewähren ließ. So vermochte Japan sich zwar in China auszudehnen oder Rußland in Sibirien zu bedrohen, aber es vermochte dies nur mit Hilfe amerikanischer Rohstoffe und mit amerikanischer sowie britischer Duldung. In Europa wiederum vermochte Hitler-Deutschland zwar Krieg gegen die Westmächte zu führen, aber langfristig nur mit Hilfe russischer Rohstoffe und mit russischer Duldung. Zugleich liegt es auf der Hand, daß Länder wie Deutschland oder Japan, wenn sie sich auf solche Abenteuer einließen, ihren Hals in die Schlinge steckten: Falls Amerika bzw. Rußland ihnen die Rohstoffzufuhr abdrosselte, mußte ihnen bald der Atem ausgehen und sie waren gezwungen, sich nahezu bedingungslos zu beugen. Sie waren also fast beliebig erpreßbar, es sei denn, sie versuchten vorher ihrerseits noch, lebenswichtige Rohstoffgebiete zu erobern. Die Rechnung Stalins, die kapitalistischen Länder gegeneinander auszuspielen, war demnach richtig und falsch zugleich. Sie war richtig insofern, als die Sowjetunion in der Hinterhand bleiben und abwarten konnte, ob und wann sich der Zusammenstoß in Europa bzw. Asien vollzog. Deutschland mit russischen Rohstoffen kriegsfähig zu machen, war dabei doppelt vorteilhaft, weil ein Krieg zwischen Deutschland und dem Westen beide Seiten schwächen sowie Rußland Gelegenheit geben würde, schließlich das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen. Jene Rechnung Stalins war aber so lange falsch, wie ein unheilbarer Bruch zwischen den revisionistischen Ländern und den Westmächten nicht eintrat, sondern die Westmächte die Revision noch verschmerzten oder die revisionistischen Länder sich damit begnügten, den Westmächten nicht zuviel zuzumuten. Es gab sozusagen eine Art Niemandsland zwischen den strategischen Leitmächten, in welchem sich die revisionistischen Länder bewegen und eine begrenzte Ernte einfahren durften. Die Westmächte mußten den revisionistischen Ländern einen gewissen Toleranzspielraum zubilligen, ohne es zum Krieg kom6 Baldwin bei Funke, Fallstudie, 283. Stalin 1925 in J. W. Stalin, Werke, Bd.7, Ostberlin 1952, 11 (19.1.1925). Vgl. Hildebrand, Legitimität, 9. Zum Wehrwirtschaftsstab M. Geyer, Aufrüstung, 460. Zu den japanischen Rohstoffeinfuhren Beasley, 212, 223. Zur deutschen Rohstoffversorgung MGFA, Weltkrieg I, 355 ff.
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men zu lassen. Denn es stand zu befürchten, daß aus einem Krieg am Ende als größter Gewinner hervorgehen würde: die Sowjetunion. Noch einmal sei aber an dieser Stelle daran erinnert, daß es sich bei all solchen Dingen um nichts anderes handelte als das klassische Spiel der Machtpolitik - einer Machtpolitik, die durch Wilsons Völkerbund eigentlich ihr Ende hatte finden sollen und die jetzt erneut mit vermehrter Kraft ihr Haupt erheben konnte, weil mit Vorsatz die Verständigung unter den Völkern sowie ihr einvernehmliches Handeln verhindert worden waren. Für jene Machtpolitik suchte Stalin sein Land bereit zu machen, teils durch die Industrialisierung, bei welcher Rußland ohnedies nachhinkte, teils durch eine Aufrüstung, die ihresgleichen suchte. Im Gegensatz zu seinem innerparteilichen Widersacher Trotzki, der die Hauptaufgabe des Kommunismus in der Revolutionierung des Westens sah, entwickelte Stalin die Lehre vom Sozialismus in einem Land, gab also dem inneren Aufbau den Vorrang, doch betrieb die 1919 gegründete Kommunistische Internationale, ein Zusammenschluß kommunistischer Parteien unter russischer Führung, weiterhin weltweite Propaganda. Durch die Fünfjahrespläne seit 1928 wurden einerseits die Industrialisierung, andererseits die Kollektivierung der Landwirtschaft vorangetrieben. Wiewohl unter ungeheuren Opfern erkauft - eine Hungersnot 1932/33 forderte rund 10 Millionen Menschenleben - , konnte die wirtschaftliche, namentlich industrielle Leistung des Landes erheblich gesteigert werden; der Anteil Rußlands an der Weltindustrieerzeugung stieg von gut 4 % am Ende der 1920er Jahre auf fast 10 % im Jahr 1937. Dies bildete die Grundlage für die Aufstellung starker Streitkräfte; nach einer britischen Berechnung gaben Rußland und Deutschland zwischen 1933 und 1938 fast dasselbe für Rüstung aus, nämlich Rußland 2,8 Milliarden Pfund und Deutschland 2,87 Milliarden, während alle anderen Länder weit dahinter zurückblieben. Zwischen 1934 und 1938 stiegen die realen Rüstungsausgaben in Rußland um 370 %, in Japan um 455 %, in Deutschland um 470 %. Den sozialistischen Staat und seine eigene Herrschaft suchte Stalin durch Terror sowie umfangreiche Säuberungen seit der Mitte der 1930er Jahre zu festigen, wovon auch die Streitkräfte erfaßt und durch Dezimierung ihres Führerkorps zeitweise stark geschwächt wurden. Von 6000 hohen Offizieren wurden allein 1500 hingerichtet; die stalinistischen Straflager füllten sich zwischen Mitte und Ende der 1930er Jahre von ungefähr fünf auf ungefahr zehn Millionen Menschen. 7 Die Aufrüstung der Sowjetunion diente zweifellos dazu, das russische Sicherheitsverlangen zu befriedigen; man wird aber schwerlich fehlgehen in der Annahme, daß Stalin sein Land damit zugleich bereit machen wollte für die Zusammenstöße anderer Mächte. Zunächst freilich schienen diese auszubleiben. Daß die Westmächte Japans Vorstoß in die Mandschurei duldeten, durfte Moskau als 7 Zur Industrieerzeugung die etwas abweichenden Angaben bei W. Fischer, Weltwirtschaft, 87; Bairoch, 296, 304; Nekritsch / Grigorenko, 82. Zu den Rüstungsausgaben W. Fischer, Geschichte V, 46, 68, 70. Ferner Rauch, Sowjetunion.
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Gefährdung der russischen Sicherheit in Ostasien durch ein stillschweigendes Zusammenwirken der kapitalistischen Länder auffassen; immerhin hatte Japan schon einmal Teile Sibiriens besetzt. Statt einer Abschirmung der Sowjetunion durch Zwistigkeiten der kapitalistischen Länder untereinander schien sich hier nun das Gegenteil anzudeuten - eine Umklammerung Rußlands durch eine Welt von Feinden, darunter die USA, die bis 1933 noch nicht einmal die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetregierung aufgenommen hatten. Diese Umklammerung mußte vollständig werden, wenn sich in Europa ähnliches vollzog, insbesondere Deutschland sich an den Westen binden ließ und seine unbestimmte Zwischenstellung, wie sie seit Rapallo bestand, wieder aufgab. Dermaßen eingeschnürt, würde Rußland wirtschaftlichem, politischem und militärischem Druck von allen Seiten ausgesetzt sein; außer Japan mochten Polen und Rumänien an Gebietserwerb denken und vielleicht von anderen unterstützt werden; innere Erschütterungen, auch der bolschewistischen Parteiherrschaft, waren nicht auszuschließen, und der Zusammenhalt des Vielvölkerreiches war bedroht. Solchen Gefahren suchte Moskau zu steuern, indem es sich dem Westen näherte, um eine Zweifrontenbedrohung zu vermeiden. Außerdem war Moskau anfangs auf ein gutes Verhältnis zu Japan bedacht. Das Angebot eines Nichtangriffspakts nahm Tokio zwar nicht auf, doch kamen Wirtschaftsvereinbarungen zustande, darunter 1935 der Verkauf der noch in russischem Besitz befindlichen nordmandschurischen Eisenbahn. Nachdem Moskau bis zur Mitte der 1930er Jahre seine diplomatische Lage gegenüber dem Westen verbessert hatte, versteifte sich freilich seine Haltung in Ostasien. Es kam zu zahlreichen bewaffneten Grenzzwischenfällen, welche die Möglichkeit eines Krieges in greifbare Nähe rückten. Der Abschirmung im Westen diente eine Anzahl von Nichtangriffspakten in den Jahren 1932/33, vor allem mit Polen, Frankreich und Italien, sodann die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den USA 1933, der Eintritt in den Völkerbund 1934 und schließlich die Beistandspakte mit Frankreich und der Tschechoslowakei 1935. Dieses Sicherheitssystem genügte Stalin augenscheinlich nicht; er suchte bald wieder das besondere Verhältnis zu Deutschland, das zeitweilig verloren gegangen war. Im Zuge der Rapallo-Politik hatten sich die deutsch-russischen Beziehungen zunächst günstig entwickelt, nicht zuletzt auf dem Gebiet des Handels, so daß im Jahr 1933 rund 43 % der russischen Einfuhren aus Deutschland stammten und rund 19 % der russischen Ausfuhren dorthin gingen. Seit den späten 1920er Jahren war jedoch in Moskau die Sorge gewachsen, das Reich könne zu einer Verständigung mit dem Westen gelangen, was die Komintern mit heftigen Angriffen auf die Sozialdemokratie begleitete, die man für eine solche Politik in erster Linie verantwortlich machte. So begann in den frühen 1930er Jahren eine Doppelgleisigkeit der sowjetischen Außenpolitik, die einerseits die Verbindung mit Berlin nicht vollständig abreißen lassen wollte, andererseits aber eine Annäherung an die Westmächte, namentlich an Frankreich, vollzog, um sozusagen zwei Eisen im Feuer zu haben und nicht durch eine Verständigung Deutschlands mit dem Westen unversehens in die Isolation getrieben zu werden. Der
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Aufstieg des Nationalsozialismus, dessen Ziele in Moskau recht gut bekannt waren, wurde vor allem unter dem außenpolitischen Gesichtspunkt betrachtet; nach der Machtergreifung war Moskau bereit, sich nicht in die inneren Angelegenheiten Deutschlands einzumischen und sogar die Unterdrückung der Kommunisten hinzunehmen, sofern nur die Möglichkeit der außenpolitischen Zusammenarbeit nicht verschüttet werde. Solche Hoffnungen erwiesen sich freilich bald als trügerisch. Auf Betreiben Mussolinis wurde im Sommer 1933 ein Viermächtepakt zur gemeinsamen Behandlung anstehender Fragen zwischen England, Frankreich, Deutschland und Italien unterzeichnet, der zwar wegen des deutschen Austritts aus dem Völkerbund nicht ratifiziert wurde, für Moskau jedoch ein Zeichen setzte, daß eine Anbindung Deutschlands an den Westen, eine friedliche Revision des Versailler Vertrags und ein Ausschluß Rußlands aus den Vereinbarungen der europäischen Großmächte nicht undenkbar war. Das hätte genau die Isolierung der Sowjetunion und die kapitalistische Einheitsfront herbeigeführt, welche Moskau unbedingt zu vermeiden suchte. Vollends aufgeschreckt wurden die sowjetischen Führer durch den Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag, den Hitler am 26. Januar 1934 mit Pilsudski schloß. Polen war bis dahin die feste Klammer zwischen dem deutschen und dem russischen Revisionismus gewesen sowie der Anknüpfungspunkt für ein deutsch-russisches Zusammenwirken. Wenn nun Deutschland, wie es den Anschein hatte, seinen Streit mit Polen begrub, so traten an die Stelle der Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Rußland eher solche zwischen Deutschland und dem Westen. Es kam hinzu, daß die militärische Zusammenarbeit zwischen der Roten Armee und der Reichswehr seit 1933 einschlief und trotz russischer Angebote von der deutschen Seite nicht wieder aufgenommen wurde; ebenso entwickelte sich der Handel rückläufig. Damit trat naturgemäß die andere Linie der sowjetischen Außenpolitik, der Ausgleich mit dem Westen, in den Vordergrund; der Außenkommissar Litwinow wurde zum Vertreter einer Politik, die am Völkerbund, an der Erhaltung des Friedens und des status quo ausgerichtet zu sein schien; die Komintern definierte 1935 die revisionistischen Länder Japan, Italien und Deutschland als faschistische Aggressorstaaten und verkündete die Volksfronttaktik, d. h. das Zusammenwirken der Kommunisten mit anderen gesellschaftlichen Kräften zum Kampf gegen den Faschismus. Das war die Vorderseite - auf der Rückseite sah manches anders aus. Seit 1933 hatten Stalin, sein Vorsitzender im Rat der Volkskommissare (Ministerpräsident) Molotow und andere Vertraute immer wieder durchblicken lassen, daß sie an der Freundschaft mit Deutschland nach wie vor interessiert seien, ungeachtet des weltanschaulichen Gegensatzes. Nachdem Litwinow bereits 1934 einmal den Zusammenhang zwischen einer Verbesserung der Beziehungen und einem Nichtangriffsabkommen erwähnt hatte, ließ die russische Seite Ende 1935 vorsichtig einen solchen Nichtangriffsvertrag vorschlagen, fand jedoch keine deutsche Gegenliebe. 8 8 Allgemein zur russischen Politik D. Geyer, Osteuropa-Handbuch. Allgemein zur Politik der Nichtangriffspakte Ahmann, Nichtangriffspakte. Zum russisch-japanischen
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Was Stalin und die sowjetische Außenpolitik in jenen Jahren wirklich bezweckten, ist beim gegenwärtigen Kenntnisstand schwer zu entscheiden. Die Deutungen bewegen sich zwischen den beiden Polen, Stalin habe nur die Abschirmung der Sowjetunion, das Verhindern einer kapitalistischen Einheitsfront und das Heraushalten Rußlands aus einem möglichen Krieg angestrebt, oder Stalin habe sich fortwährend um ein Zusammengehen mit Hitler bemüht, um diesen in Zwistigkeiten mit dem Westen zu verwickeln und am Ende aus einem Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern Gewinn zu schlagen. Wie auch immer, allein um eine Eindämmung Deutschlands kann es Stalin jedenfalls nicht gegangen sein, denn im März 1935 sagte Stalin dem britischen Lordsiegelbewahrer und späteren Außenminister Anthony Eden, "wir wollen mit Deutschland ein freundschaftliches Verhältnis haben. Die Deutschen sind ein großes und tapferes Volk ... Dieses Volk kann nicht auf Dauer in den Fesseln von Versailles gehalten werden ... Ich wiederhole, ein solch großes Volk wie die Deutschen muß die Versailler Fesseln sprengen." Das war zwar richtig, klingt aber aus dem Munde Stalins doch eine Spur zu uneigennützig, um nicht Verdacht zu erwecken. Die entscheidende Frage war ja, mit wessen Hilfe oder Duldung sich Deutschland von den Versailler Fesseln befreite. Hierfür gab es grundsätzlich drei Möglichkeiten: eine Anlehnung Deutschlands an den Westen, den Osten oder an beide Seiten. Entsprechende Verständigungen konnten innerhalb des Völkerbunds erfolgen oder außerhalb davon; umfaßten sie alle europäischen Großmächte, so wurde das alte Konzert der europäischen Großmächte wiederbelebt, das in der klassischen Zeit des europäischen Gleichgewichts die einvernehmliche Regelung anstehender Streitfragen ermöglicht hatte. Die stillschweigende oder offene Übereinkunft mehrerer oder aller Großmächte war sodann auch in der Lage, territoriale Veränderungen durchzusetzen, namentlich gegenüber zwischeneuropäischen Kleinstaaten. Das Sprengen der Versailler Fesseln durch Deutschland, von dem Stalin sprach, war nun offenbar auf drei Wegen möglich. Entweder einigten sich alle europäischen Großmächte auf das Überwinden der Versailler Ordnung. In diesem Fall lag es zumindest nahe, daß außer Deutschland auch andere Staaten, insbesondere Rußland, ihre Ansprüche anmelden würden. Die Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen, von der Sowjetregierung schon in den 1920er Jahren vorgeschlagen, war dann so gut wie unvermeidlich; von den Westmächten nicht mehr gehalten, vermochte Polen dem vereinten Willen Deutschlands und Rußlands nicht viel entgegenzusetzen. Oder Deutschland und die Sowjetunion taten sich zusammen, dann konnten sie ebenfalls ihre Revisionsabsichten gegenüber Zwischeneuropa verwirklichen. Oder Deutschland band sich an den Westen und suchte dort das Einvernehmen für die Revision, dann wurde Rußland aus dem europäischen Konzert ausgeschlossen und ging voraussichtlich leer aus. 9 Verhältnis Iriye, 20, 30 f. Hata, 133. Zum deutsch-russischen Verhältnis Weingartner, Stalin. Pietrow, 19 ff. Zu den Handelsbeziehungen MGFA, Weltkrieg I, 356 f. Das Angebot eines Nichtangriffspakts in ADAP, Ser. C, Bd. 4, 915 (21.12.1935). Vgl. Ahmann, Nichtangriffspakte, 368 f. Pietrow, 49.
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Es ist nun in hohem Maße erstaunlich, daß Stalin zwar die Revision für Deutschland einforderte, daß aber die russische Politik augenscheinlich keine europäische Gesamtrevision verlangte, aus der sie selbst Gewinn ziehen konnte. Vielmehr zeichnete sich die Politik der Sowjetunion durch eine merkwürdige Doppelgleisigkeit aus. Auf der einen Seite bemühte sich die Sowjetregierung im Völkerbund um eine Eindämmung der Aggressorstaaten, lehnte Zugeständnisse ab und suchte den Völkerbund auf eine harte Haltung zu verpflichten, während andererseits nicht verborgen blieb, daß Stalin und seine Vertrauten unter der Hand nach einem BTÜckenschlag zu Hitler, dem gefährlichsten der Aggressoren, Ausschau hielten. Dabei möchte man doch meinen, eine europäische Gesamtrevision im Konzert der Großmächte sei das Gebot der Stunde gewesen - Deutschland war seit jeher revisionistisch, Rußland ebenfalls, Britannien war nunmehr willens, die Revision zuzugestehen, und Japan betrieb sie sowieso schon. Was hätte näherliegen können als die deutsch-russische Zusammenarbeit im Konzert der Mächte, zum beiderseitigen Vorteil? Gemäß einem Zeugnis seiner Tochter pflegte Stalin bis nach dem Krieg - anscheinend mit einem Unterton des Bedauerns - zu wiederholen: ,,zusammen mit den Deutschen wären wir unbesiegbar gewesen." Angesichts dieses Stärkeverhältnisses hätten beide gemeinsam im Konzert der Mächte die europäische Neuordnung nach Art und Umfang bestimmen können. Darüber hinaus waren den Sowjetführern die Gefahren, die von der Person Hitlers ausgingen, nicht unbekannt. Stalin und Litwinow hatten Hitlers "Mein Kampf' gelesen und kannten sich in den Gedankengängen des deutschen Diktators aus. Wo sonst als im Konzert der Mächte hätte eine bessere Gelegenheit bestanden, Hitler einzurahmen und ihm zusammen mit den Westmächten entgegenzutreten, wenn er Anstalten machte, über die Stränge zu schlagen? In einem Konzert der Mächte wäre Sowjetrußland geradezu die leitende Macht gewesen und hätte es in der Hand gehabt, die Fäden für die Gestalt des Staatensystems zu ziehen oder Hitler im Zaum zu halten. Trotzdem haben die russischen Staatsmänner, soweit erkennbar, das Ziel einer europäischen Gesamtrevision im Konzert der Mächte nicht verfolgt. Wollten sie nicht, oder haben sie nicht erwartet, daß die anderen es wollten? Von Hitler durfte man wohl annehmen, jedenfalls wenn man seine Gedanken kannte, daß er es nicht wollte. Aber Britannien hätte doch die Gelegenheit wahrnehmen können, im Verein mit den anderen Großmächten die Revision in die Wege zu leiten und zugleich Hitler zu bändigen. Es ist also nach der Möglichkeit eines derartigen Zusammenspiels zwischen England und der Sowjetunion zu fragen oder, anders gewendet, nach der Appeasementpolitik und ihren Rückwirkungen auf die russische Politik. IO
9 Die verschiedenen Ansichten über die russische Außenpolitik etwa bei Haslam, Soviet Union. Allard, Stalin. Vgl. Ahmann, Hitler-Stalin-Pakt, 93 ff. Stalin zu Eden 1935 nach Pietrow, 48. IO Stalin zu seiner Tochter bei S. Allilujewa, 369. Zur Kenntnis von Hitlers Zielen bei Stalin und Litwinow Lange, 131 ff. Hilger, 243.
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Um es vorwegzunehmen: Von Britannien ist nicht bekannt, daß es jemals eine europäische Gesamtrevision im Rahmen des Konzerts der Mächte verfolgt hätte. Was Britannien anstrebte, war eine Revision zugunsten Deutschlands im Rahmen der westlichen Großmächte, aber ohne Rußland. Die Appeasementpolitik ist definiert worden als eine Politik der Erhaltung und Festigung des Friedens; in diesem Sinn soll Britannien in der Zwischenkriegszeit fortwährend Appeasementpolitik betrieben haben. Das kann man so sehen, nur ist dabei zu beachten, daß der Appeasementpolitik auch bestimmte Vorstellungen über die Gestalt des internationalen Systems zugrunde lagen. Der Frieden sollte erhalten werden, indem die Mächte in einem bestimmten Verhältnis zueinander standen. Grundlage war einerseits, daß der amerikanische Weltführungsanspruch, wie ihn Präsident Wilson vertreten hatte, von England und Frankreich im Versailler System zunichte gemacht worden war. Gleichwohl blieb das amerikanische Potential weit überlegen, so daß London es auf einen neuerlichen Krieg schon deswegen nicht ankommen lassen wollte, weil man richtig vorhersah, die Durchsetzung des amerikanischen Führungsanspruchs würde dann nicht mehr aufzuhalten sein. Andererseits hatte zwar Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg eine Vormachtstellung gegenüber dem mittleren Europa errichtet, doch hatten bereits die Ereignisse bei der französischen Ruhr-Besetzung 1923 und dem Dawes-Plan 1924 gezeigt, daß weder die USA noch Britannien eine vollständige Knebelung Deutschlands wünschten. Den britischen Vorstellungen vom europäischen Gleichgewicht entsprach die französische Hegemonialpolitik ohnehin nicht, und die USA erhoben unter Präsident Herbert Hoover und seinem Außenminister Stimson (1929 - 1933) den friedlichen Wandel (peaceful change) zum Programm. Wie Hoover und Stimson die Frage der deutsch-polnischen Grenze neu geregelt wissen wollten, so beendeten sie 1931/32 die deutschen Reparationszahlungen und sorgten 1932 zusammen mit den Briten dafür, daß die deutsche Gleichberechtigung in der Sicherheit bzw. Rüstung grundsätzlich anerkannt wurde. Noch vor Hitlers Machtantritt war damit der französischen Hegemonialpolitik der Boden entzogen, und zwar nicht durch den deutschen Revisionismus, sondern durch Amerikaner und Briten. Der französische Wille zur Vorherrschaft flackerte im Frühjahr 1933 noch einmal auf, als in Paris, ähnlich wie in Warschau, ein Präventivschlag erwogen wurde, um der vorhersehbaren deutschen Aufrüstung zuvorzukommen. Doch konnte sich die französische Regierung dazu nicht durchringen, wohl auch deswegen, weil sie bei den USA und Britannien voraussichtlich keine Unterstützung gefunden hätte. Paris hatte sich mit seiner unfruchtbaren Demütigungspolitik gegenüber Deutschland ersichtlich verhoben und nur erreicht, daß ihm nun ein Hitler gegenüberstand, dessen weltanschaulicher Radikalismus in Frankreich kaum zureichend verstanden wurde. Statt den Nationalsozialismus genauer zu analysieren und den Gründen für seinen Aufstieg nachzugehen, begnügte man sich damit, in ihm einen übersteigerten Nationalismus zu sehen und ihn mit einem angeblichen deutschen Hang zum Irrationalismus in Verbindung zu bringen, der die vermeintliche Vernunftbetontheit Frankreichs in umso hellerem
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Glanz erstrahlen ließ. Paris geriet nun außenpolitisch mehr und mehr ins Schlepptau Londons; nachdem der Versuch gescheitert war, die überlegene deutsche Kraft zu brechen, mußte Frankreich sich allmählich den britischen Vorstellungen von einem europäischen Gleichgewicht beugen. In England wiederum verstand man den Nationalsozialismus teils als Antwort auf die verfehlte Versailler Ordnung, teils als Ergebnis der Wirtschaftskrise. Durch eine Beseitigung berechtigter deutscher Beschwerden schien es daher nicht ausgeschlossen zu sein, Deutschland doch in ein befriedetes europäisches Staatensystem einzugliedern. Den deutschen Revisionswünschen sollte stattgegeben und Deutschland der Wiederaufstieg zu einer der großen Mächte erlaubt werden, um aus dem verzerrten europäischen Gleichgewicht, wie die französische Hegemonialpolitik es geschaffen hatte, wieder herauszukommen und an seine Stelle ein natürliches Gleichgewicht zu setzen. Die Wiederherstellung eines natürlichen Gleichgewichts im Rahmen eines "general settlement" war das erklärte Ziel der britischen Appeasementpolitik. Aber wie "general" sollte das "settlement" sein? Der nicht ratifizierte Viermächtepakt von 1933 deutete bereits an, daß die Sowjetunion dem europäischen Konzert nicht angehören sollte. Das settlement, die friedliche Verständigung unter den Großmächten, bezog sich wohl auf das Beheben berechtigter deutscher Beschwerden, nicht jedoch auf ein Einvernehmen über russische Revisionswünsche. Die britische Appeasementpolitik hat nie etwas anderes ins Auge gefaßt als eine Einigung unter den westeuropäischen Großmächten England, Frankreich, Deutschland und Italien über eine Befreiung Deutschlands von den Versailler Fesseln; Rußland sollte nicht einbezogen werden. Warum war das so? II Eine erste Antwort findet sich in dem abgrundtiefen Mißtrauen, welches die britischen Staatsmänner gegenüber Stalin und der russischen Politik beseelte. Für viele schienen die sowjetischen Ziele mindestens ebenso bedrohlich zu sein wie die nationalsozialistischen. Schon den Eintritt Rußlands in den Völkerbund hielten Außenminister Simon und sein ständiger Unterstaatssekretär Vansittart keineswegs für einen Ausweis sowjetischer Friedensliebe, sondern für eine momentane Aushilfe. Auf die Dauer werde Rußland, so die feste Überzeugung in Londoner Regierungskreisen, immer versuchen, im Trüben zu fischen. Außenminister Eden (1935-1938), Premierminister Chamberlain (1937 -1940) und die britischen Stabschefs brachten verschiedentlich zum Ausdruck, die Sowjetregierung warte nur auf den Krieg, um als tertius gaudens triumphieren zu können. Chamberlain kleidete dies 1938 in die Worte, die Russen zögen heimlich die Drähte hinter der Szene, um Britannien in Krieg mit Deutschland zu verwickeln. Für Vansittarts Nachfolger Cadogan stand 1938 fest, daß Rußland in Europa II Die Definition der Appeasement-Politik bei Niedhart, Appeasement. Ferner W. J. Mommsen / L. Kettenacker , Chal1enge. Rohe, Westmächte. Zu den französischen Überlegungen wegen eines Präventivschlages Wandycz, Twilight, 269 ff. Zum Verständnis des Nationalsozialismus in Frankreich Hörling, opinion. Schumacher, politique. VlÜsse, Frankreich. Zum englischen Verständnis des Nationalsozialismus Wendt, in Rohe, 65. Niedhart, Deutschlandbild. Zum natürlichen Gleichgewicht auch Niedhart, Großbritannien, passim.
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Verwjrrung und Krieg hervorrufen wolle. Selbst französische Staatsmänner bekannten sich zu einer solchen Auffassung. Auf dem Höhepunkt der französischen Appeasementpolitik vertraute Ministerpräsident Daladier im Mai 1938 dem deutschen Botschafter an, er fürchte einen europäischen Krieg und die Zerstörung der europäischen Zivilisation, denn in die Kampfgebiete, verödet und menschenleer, würden Horden von Kosaken und Mongolen einziehen und Europa eine neue "Kultur" bringen. Dies müsse verhindert werden, auch um den Preis großer Opfer. Das war eben die Furcht vor dem Krieg der kapitalistischen Länder untereinander, aus welchem Rußland als der wahre Sieger hervorgehen würde. 12 Ängste solcher Art bewogen die Appeaser, zunächst die Briten und zunehmend auch die Franzosen, Rußland in die Regelung europäischer Angelegenheiten überhaupt nicht einzubeziehen. Dies galt in verschiedener Hinsicht. Der französische Außenminister Barthou versuchte 1934, durch einen allgemeinen Sicherheitspakt in Osteuropa die Sowjetunion in eine Eindämmung des Dritten Reiches einzubinden. Hatte London die russischen Annäherungsversuche an den Westen und den Plan Barthous anfanglieh ohne Begeisterung zur Kenntnis genommen, so ließen gewisse Erwägungen, über die noch zu sprechen sein wird, es den Briten zeitweise geraten erscheinen, der russisch-französischen Verbindung keine Steine mehr in den Weg zu legen. Seit 1935 rissen indes die Linien einer derartigen Politik ab. Nachdem der Plan Barthous am deutschen und polnischen Widerstand gescheitert war, schloß zwar Außenminister Laval den Beistandspakt mit Rußland von 1935, doch folgten diesem keine Militärabsprachen, so daß er eine ziemlich papierene Angelegenheit blieb. Von inneren Krisen geschüttelt, wurde Frankreich in seiner Außenpolitik nun zusehends unselbständiger und hilfloser. Weiten Kreisen galten Moskau und der Kommunismus als gefährlicher denn der Nationalsozialismus. In England wiederum gab es an sich zwei Denkschulen, wovon die eine den Ausgleich mit Deutschland unter Ausschluß der Sowjetunion anstrebte, während die andere, zu welcher auch der mehrfache frühere Minister und spätere Premier Winston Churchill gehörte, die Eindämmung Deutschlands mit Hilfe Rußlands empfahl. Durchzusetzen vermochte die letztere sich freilich nicht; die Regierung folgte der mehrheitlich vertretenen Auffassung, daß die Appeasementpolitik, d. h. die friedliche Verständigung mit Deutschland, der richtige Weg sei. Der wahre Führer der Konservativen Partei und damalige Schatzkanzler Neville Chamberlain erläuterte am 5. November 1936 im Unterhaus die Leitlinien dieser Politik mit den Worten, die gegenwärtige (von den Konservativen gestellte) Regierung wende sich gegen die Aufteilung Europas in Bündnisblöcke und gegen eine Rolle Britanniens, die entweder das Gleichgewicht zwischen den Blöcken halte oder sich einem davon anschließe. Ein solches System sei vergangen und brauche nicht wiederbelebt zu werden. Chamberlain wandte sich damit unmittelbar gegen Churchill und mittelbar gegen die britische Politik vor dem Ersten Weltkrieg. Hatte Churchill vor dem Ersten Weltkrieg als Marineminister die 12 Zum britischen Mißtrauen gegen Rußland Niedhart, Feindbild, 114 ff. Northedge / WeHs, Britain, 65 f. Daladier 1938 in ADAP, Ser. D, Bd. 2,258 (23.5.1938).
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Einkreisung und in diesem Rahmen die britisch-russische Marinekonvention von 1914 mitgetragen, so lehnte die Appeasementpolitik nun jede neuerliche Einkreisung mit Entschiedenheit ab, wobei übrigens der Ausdruck Einkreisung (encirclement) benützt und die Politik vor dem Ersten Weltkrieg so gedeutet wurde. Unter der Hand beinhaltete dies zugleich das Eingeständnis, daß eben die Einkreisungspolitik zum Ersten Weltkrieg geführt hatte. Derartiges sollte sich nach dem Willen der Appeaser nicht wiederholen; der Friede sollte diesmal erhalten werden, indem ein neues Gleichgewicht erzeugt wurde, für welches ein gestärktes Deutschland eine tragende Säule darstellte. In diesem Gleichgewicht war Rußland als Machtfaktor selbstverständlich enthalten, es sollte aber nicht durch eine falsche Bündnispolitik Londons, vor allem nicht durch eine Einkreisungspolitik, in die Lage versetzt werden, Europa in Verwirrung zu stürzen. Nach den klassischen Regeln der Gleichgewichtspolitik hätte eine regelrechte, durch Bündnisverflechtungen herbeigeführte Einkreisung Deutschlands ohnehin das Gleichgewicht gefährdet und allein schon ausgereicht, den Krieg wahrscheinlich zu machen. Es mag fraglich sein, ob Deutschland angesichts seines unzureichenden Rüstungsstands es hätte wagen dürfen, den Einkreisungsring in der Art eines Präventivkriegs zu sprengen. Aber umgekehrt wäre Frankreich, gegebenenfalls auch Polen, mit Hinblick auf die Unterstützung durch Britannien und Rußland in der Lage gewesen, den deutschen Revisionszielen durch Androhung oder Anwendung von Gewalt entgegenzutreten, wie es 1933 bereits erwogen worden war. Führten derlei Spannungen zum Krieg, so stand einmal mehr zu befürchten, daß Rußland der eigentliche Gewinner sein würde. Nun blieben dies freilich theoretische Überlegungen, da London die Einkreisung eben nicht vollzog. London vollzog indes die Einkreisung auch deswegen nicht, weil man in die Zuverlässigkeit und Bündnistreue Rußlands keinerlei Vertrauen setzte. Im Foreign Office wurde immer wieder vor dem sowjetischen Opportunismus gewarnt sowie vor der Gefahr, daß Stalin auf die deutsche Seite abschwenken könnte, etwa auch in dem - vorerst unwahrscheinlichen - Fall eines deutschen Angriffs gegen den Westen. Der parlamentarische Unterstaatssekretär im Foreign Office Cranborne glaubte Anfang 1936, die Sowjetregierung werde unverändert böswillig gegenüber dem Empire bleiben und überall gegen Britannien intrigieren. Sein Kollege Stanhope meinte zur selben Zeit, von den drei Mächten, denen man nicht trauen dürfe, nämlich Rußland, Deutschland und Japan, verdiene Rußland das meiste Mißtrauen. So gesehen verbot sich von selbst jede Eindämmungspolitik gegen Deutschland im allgemeinen und jede Einkreisungspolitik im besonderen, die mit Hilfe Rußlands vorgenommen wurde. 13 Ebenso verbot sich ein Anschluß Britanniens und Frankreichs an die russische Völkerbundspolitik, die darauf abzielte, allen Revisionswünschen Deutschlands, Japans und Italiens mit unnachgiebiger Härte entgegenzutreten. Denn in diesem 13 Zur französischen Politik Duroselle, Decadence. Zur britischen Politik G. Schmidt, England. Ders., Zusammenspiel. Manne, Foreign Office. Chamberlain 1936 bei Gilbert, Britain, 64. Cranborne und Stanhope bei Manne, 749.
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Fall war abzusehen, daß die Spannungen zwischen den status-quo-Mächten einerseits und den revisionistischen Mächten andererseits sich bis zum Siedepunkt erhitzen würden. Kam es dann zum Krieg, so konnte Stalin die Prophezeiung von 1925 wahrrnachen: Rußland würde als letzter auftreten, um das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen und ohne ernsthaften Widerstand durch die erschöpften Kriegsgegner seine Beute an sich zu raffen. Oder mit den Worten Daladiers von 1938: In die verödeten Kriegsgebiete würden Horden von Kosaken und Mongolen einziehen und Europa eine neue "Kultur" bringen. Drittens schließlich verbot sich, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, eine europäische Gesamtrevision im Konzert der Großmächte unter Einschluß Rußlands. Sie verbot sich, weil man Rußland nicht traute und weil durch sie eine fortwährend festgehaltene Leitlinie der westlichen Außenpolitik verletzt worden wäre. Seit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war es das Ziel der britischen und französischen Politik, Deutschland und Rußland getrennt zu halten oder sie gegeneinander auszuspielen: Zuerst durch die Entente, dann durch den Krieg, dann durch die Versailler Ordnung mit dem Sicherheitsgürtel Zwischeneuropas und schließlich durch die Appeasementpolitik. Für Lordsiegelbewahrer Eden stand im Februar 1934 nach einer Begegnung mit Hitler fest, das ,,neue Deutschland von Hitler und Goebbels" sei dem alten Deutschland des kaiserlichen Kanzlers Bülow vorzuziehen. Nach allem, was man heute weiß, glaubt man nicht recht zu hören. Sollten die Briten so verblendet gewesen sein, Hitler und seinen Anhang für harmloser zu halten als das wilhelminische Reich? Richtig ist zwar, daß wohl auch die Staatsmänner in London die volle Radikalität der Rassenlehre nicht sofort durchschauten. Nichtsdestoweniger kam eine britische Verteidigungskommission schon an der Jahreswende 1933/34 zu dem Schluß, Deutschland müsse in Zukunft als Hauptgegner angesehen werden, der in etlichen Jahren ein militärisches Eingreifen Britanniens erforderlich machen könnte. Wieso war dann ein nationalsozialistisches Deutschland dem wilhelminischen Reich vorzuziehen? Die Erklärung liegt im Verhältnis der Mächte untereinander. Der Sündenfall des Kaiserreichs war es gewesen, daß es versucht hatte, sich mit Rußland zu verbinden, wofür der Name Bülow stand. Bei dem erklärten Antibolschewisten Hitler schien das nicht der Fall zu sein, und deswegen galt er als weniger gefährlich. Das Niederschlagen des sog. Röhm-Putsches vom Sommer 1934 verstand man in London als eine Stärkung der konservativen Führungsschichten, der Reichswehr, des Preußenturns, des Adels und der Wirtschaft. Wie Außenminister Simon am 4. Juli 1934 dem britischen Kabinett mitteilte, hätten die (preußischen) Junker und das Heer die Oberhand über Hitler gewonnen. Britannien müsse daraus die Lehre ziehen, daß Deutschland im Begriff sei, zu der Haltung vor 1914 zurückzukehren, als der preußische und der militärische Einfluß seinen Gipfel erreicht habe. Unterstaatssekretär Vansittart hieb einen Tag später in dieselbe Kerbe, wenn er meinte, da Deutschland sich jetzt in Richtung auf die politische Rechte und die Militaristen bewege, könnte Deutschland zu seiner alten Politik einer Zusammenarbeit mit Rußland zurückkehren. Solche Überlegungen waren der
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Grund, weshalb London die russisch-französische Annäherung zeitweise begrüßte - um den deutsch-russischen Brückenschlag zu unterbinden. In einer Denkschrift Vansittarts aus dem Februar 1935 hieß es, das Verhindern einer deutsch-russischen Allianz sei für Britannien lebenswichtig; eine solche Allianz wäre verhängnisvoll für die gegenwärtige Welt. Trotz Hitlers Anti-Kommunismus gebe es in Deutschland Kräfte, die auf eine deutsch-russische Annäherung hinwirkten. Die Reichswehr habe an Gewicht gewonnen, und man werde wahrscheinlich eine Wiederbelebung des alten militaristisch-industriellen-junkerlichen Einflusses auf die Außenpolitik erleben; dieser Einfluß sei immer gleichbedeutend gewesen mit engen Beziehungen zu Rußland. Da war es wieder, das Reden vom preußischen Militarismus, das seit dem Ersten Weltkrieg für die Verbreitung von Propagandanebel gesorgt hatte und das in Wahrheit nichts anderes beinhaltete als die Angst vor einem Zusammenwirken Deutschlands und Rußlands. Man muß die Formel im Auge behalten; sie hat jahrzehntelang das Verhältnis zwischen Deutschland, Rußland und dem Westen begleitet. 14 Über diese Hürde ist die britische Politik nicht hinweggekommen. Dabei war die Vorstellung von dem militärisch-junkerlichen Einfluß nicht einmal ganz verkehrt. Reichswehrminister BIomberg bekannte in seinen ungedruckten Erinnerungen: "Ich war für einen außenpolitischen Ausgleich, besser noch für ein Zusammengehen mit Rußland." Sogar von einem eurasischen Block mit Frankreich gegen Anglo-Amerika sprach er. Dem suchte die Appeasementpolitik entgegenzuwirken; Deutschland sollte an den Westen gebunden werden, um seinen Platz nicht an der Seite Rußlands zu finden. Die Anlehnung Deutschlands an die Sowjetunion war nun freilich in zwei Formen denkbar. Sie konnte als Verbindung Deutschlands und der Sowjetunion allein erfolgen, enthielt alsdann eine klare Spitze gegen Zwischeneuropa, untergrub das europäische Gleichgewicht und stellte damit zugleich eine Bedrohung Westeuropas dar. Das war die alte Problematik des Kontinentalblocks, die entweder den Krieg nach sich zog oder eine Neugruppierung der Mächte im Weltrnaßstab herbeiführte, indem zumindest Britannien sich an Amerika anlehnte. Auf der anderen Seite konnte eine Verbindung Deutschlands mit der Sowjetunion aber auch dadurch entstehen, daß eine europäische Gesamtrevision im Konzert der Großmächte eingeleitet wurde. In einem europäischen Konzert hatten Deutschland und Rußland zusammen unstreitig ein Übergewicht. Das war so lange nicht gefahriich, wie beide die Verbindung zu den Westmächten nicht abreißen ließen, also sich tatsächlich im Konzert der Mächte hielten, wie beide ihre Ziele mäßigten und nach einer für ganz Europa erträglichen Lösung suchten. Es war auch so lange noch durchführbar, wie wenigstens Rußland seine Verantwortung für die europäische Stabilität und Sicherheit ernst nahm, wie es die Verständigung mit den Westmächten anstrebte 14 Eden 1934 bei Most, 322. Zur Kenntnis der Ziele Hitlers in England Hildebrand, Außenpolitik, 31. Zur Verteidigungs situation Britanniens Gibbs, Strategy I, 93 ff. M. Howard, Commitment, 104. Die britischen Ansichten über die deutsch-russische Zusammenarbeit bei Manne, 729 ff., 752 f.
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und bereit war, mit ihnen zusammen Hitler zu bändigen. Eben dies hat man in London nicht erwartet und später in Paris ebensowenig. Zudem spricht manches dafür, daß man es auch in Moskau nicht bezweckte. Das war der Grund, weshalb Britannien keine europäische Gesamtrevision wünschte; und das war wohl auch der Grund, weshalb Stalin sie gar nicht erst vorschlug. Wenn weder Deutschland noch die Sowjetunion willens waren, sich im Rahmen einer Verständigung mit den Westmächten zu halten, so mußte eine europäische Gesamtrevision, einmal eingeleitet, dem Konzert der Mächte alsbald entgleiten und zu einer Sache werden, die vom Willen Deutschlands und Rußlands allein diktiert wurde. Es handelte sich dann überhaupt nicht mehr um ein gesamteuropäisches Einvernehmen, sondern um den anderen Fall, daß Deutschland und Rußland gemeinsam, im Vertrauen auf ihre überlegene Stärke, die Versailler Ordnung und am Ende ganz Europa aufrollten. Die Neigung, sich mit Rußland zu einigen, ohne oder gegen den Westen, vermuteten die Appeaser am ehesten bei den Vertretern des "preußischen Militarismus"; sie schlossen indes auch eine Einigung zwischen Hitler und Stalin nicht aus. Auf einer Empire-Konferenz im Mai 1937 erklärte Außenminister Eden, es sei eine ernsthafte Gefahr, in welchem Maß Deutschland, das eigentlich die Achse des europäischen Handels sein sollte, sich vom Wirtschaftssystem Westeuropas wegbewege. Deutschland übe eine starke Anziehungskraft auf die Staaten Zwischeneuropas aus, und die Gefahr einer Abwendung Deutschlands vom Westen werde wachsen, wenn sich die deutsche Anziehungskraft auf Rußland richte, das sich wirtschaftlich mit Deutschland noch besser ergänze als Zwischeneuropa. Wenn Europa wirtschaftlich nicht zweigeteilt werden solle, müsse Deutschland dringend wieder auf seinen normalen Platz im westeuropäischen System zurückgeführt werden. Die Gefahr, welche Eden hier an die Wand malte, konnte sicher auch vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehen, und wenn Hitler sich wirtschaftlich mit Stalin einigte, mochte er sich auch politisch mit ihm einigen. Das konnte dann wiederum darauf hinauslaufen, daß Stalin den deutschen Diktator als Rammbock gegen den Westen benützte, der den Krieg auslöste. 15 Für die Appeasementpolitik blieb damit, zumindest in ihrer eigenen Einschätzung, praktisch keine andere Lösung als die, dem Dritten Reich die Erfüllung von Revisionszielen zuzugestehen in der Hoffnung, Hitler würde sich damit zufriedengeben und Deutschland auf den Platz im europäischen Gleichgewicht setzen, welchen die Appeaser ihm zugedacht hatten. Man kann die Appeasementpolitik als einen Versuch zur Rettung Europas bezeichnen - zur Rettung vor der Selbstzerstörung in einem neuen Krieg, zur Rettung vor dem drohenden Übergewicht der USA und Rußlands, zur Rettung des europäischen Gleichgewichts, das der west- und mitteleuropäischen Völkerfamilie einen friedlichen und festen Standort zwischen den außereuropäischen Großmächten, darunter dem halbasiatischen Rußland, verleihen sollte. Die Verständigung unter den Staaten 15 Zu BIomberg M. Geyer, Aufrüstung, 181, Anm. 17. Eden 1937 nach Wendt, in Rohe, 70.
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Deutschland, England, Frankreich und Italien sollte dies bewirken; sie sollte Britannien einen Rückhalt gegen die USA, Deutschland einen Rückhalt gegen die Sowjetunion geben und mit Deutschland als der wirtschaftlichen Achse Europas den Handel wie das Wohlergehen innerhalb des westlichen Europa fördern. In diesem Sinn waren London und zunehmend auch Paris bereit, den Revisionswünschen des Dritten Reiches, Japans und Italiens entgegenzukommen, nicht einfach nur, um den Krieg zu vermeiden, sondern um den Krieg so lange zu vermeiden, wie die revisionistischen Länder nicht die Eigenständigkeit und Überlebensfähigkeit anderer Großmächte selbst in Frage stellten. Das Erringen einer Vormachtstellung Deutschlands in Mitteleuropa und Japans in Ostasien war zumindest für Britannien kein Kriegsgrund, solange beide Rußland in Schach hielten und nicht den Bestand des Empire oder Frankreichs bedrohten. Die deutsche Wiederaufrüstung konnte das Dritte Reich erst nach Ablauf etlicher Jahre kriegsfähig machen; bis dahin glaubte man in London Zeit zu haben. Gleichwohl verstärkten England und Frankreich ihre Verteidigungsbereitschaft, seitdem Deutschland 1933 aus der Abrüstungskonferenz ausgetreten war und in der Folgezeit keinerlei Neigung zeigte, sich auf die mehrfach vorgeschlagenen internationalen Rüstungsvereinbarungen einzulassen, abgesehen vom deutschbritischen Flottenabkommen. Zwischen 1933 und 1938 gaben nach einer britischen Berechnung Frankreich rund 1,1 Milliarden Pfund und England 1,2 Milliarden für Rüstung aus - weniger als die Hälfte der ungefähr 2,8 Milliarden, die Deutschland und Rußland in derselben Zeit aufwandten. Da Britannien bei einem verhältnismäßig niedrigen Ausgangspunkt begann, im Gegensatz zu dem bereits stark aufgerüsteten Frankreich, betrug die Steigerung des Realwerts zwischen 1934 und 1938 in England 250 %, in Frankreich 41 %. Einem möglichen deutschen Angriff glaubte man gewachsen zu sein, da Deutschland auf Grund seiner begrenzten Hilfsquellen nur schwer imstande war, einen langen Abnützungskrieg durchzuhalten und die westliche Verteidigung einen Rückhalt an der MaginotLinie fand, jenem gewaltigen Festungsgürtel, den Frankreich seit 1929 an seiner Ostgrenze errichtet hatte. Der Wiederaufstieg Deutschlands zur Großmacht und zur mitteleuropäischen Vormacht mußte den britischen Regierungen nicht durch Kniffe, Winkelzüge oder Überraschungsschläge mühsam abgerungen werden; er war vielmehr unvermeidbar und in groben Zügen absehbar, seitdem Britannien mitgeholfen hatte, den Weg zur deutschen Aufrüstung freizumachen. Denn die Haltbarkeit des Versailler Systems hatte eben darauf beruht, daß Deutschland nicht verteidigungsfähig war, daß Frankreich militärisch weit überlegen war und alle territorialen Revisionsversuche im Keim ersticken konnte. Traf dies nicht mehr zu, so war es nur noch eine Frage der Zeit, wann der deutsche Einfluß in Zwischeneuropa sich geltend machen würde. Es war deshalb im Grunde auch gleichgültig, ob Deutschland seine Verteidigungsfähigkeit durch international vereinbarte Gleichberechtigung in der Sicherheit erlangte oder ob es im Alleingang aufrüstete. Eine international ausgehandelte Gleichberechtigung in der Sicherheit hätte allenfalls
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die Rüstungskosten zu senken vennocht; an einer neuen Rolle Deutschlands in Europa hätte sie nichts geändert. Schon die Gleichberechtigung in der Sicherheit verhinderte, daß Frankreich seinen zwischeneuropäischen Verbündeten nach Belieben zu Hilfe eilen konnte, und öffnete damit den Weg zu erfolgversprechenden deutschen Revisionsversuchen. Wenn Britannien und die USA, wie es 1932 geschehen war, die deutsche Gleichberechtigung in der Sicherheit zuließen, dann konnten sie auch einen deutschen Alleingang in der Aufrüstung zulassen. Ein solcher Alleingang wäre ohnedies nur durch militärisches Eingreifen der Westmächte zu verhindern gewesen, und dazu bestand weder in England noch in den USA irgendeine Neigung. Bereits im Sommer 1933, als noch erfolglos in der Abrüstungskonferenz verhandelt wurde, gab der britische Außenminister Simon zu verstehen, daß England sich an Sanktionen gegen Deutschland nicht beteiligen werde. Nicht einmal das Verletzen der Bestimmungen über das entmilitarisierte Rheinland stellte für Britannien einen zwingenden Grund zum Eingreifen dar. Das Rheinland war ja lediglich zum Zweck der französischen Hegemonialpolitik entmilitarisiert worden; wurde dies rückgängig gemacht, so folgte allein daraus noch keine unmittelbare Bedrohung Frankreichs. London unterschied deshalb seit den 1920er Jahren zwischen einem "flagranten" Verstoß gegen die Entmilitarisierung, der Frankreich selbst einem militärischen Angriff aussetzte, und milderen Fonnen der Vertragsverletzung, welche lediglich die deutsche Souveränität im Rheinland wiederherstellten. Auf deutscher Seite wurde dies übrigens in Rechnung gestellt, indem die Rheinlandbesetzung nur mit schwachen Kräften stattfand. Erwägungen solcher Art veranlaßten Außenminister Eden im Februar 1936, als die Rheinlandfrage akut wurde, zu der Empfehlung an das britische Kabinett, mit Frankreich über mögliche Gegenmaßnahmen gar nicht erst zu beraten. London hatte keine Veranlassung, sich für eine Sache stark zu machen, die nicht seine eigene war. Nachdem Deutschland am 7. März 1936 das entmilitarisierte Rheinland besetzt hatte, billigte die britische Regierung Edens Vorschlag, Frankreich von bewaffneten Gegenmaßnahmen abzubringen. Mit der territorialen Revision verhielt es sich ähnlich. Bereits Außenminister Simon ließ im März 1935 gegenüber Hitler durchblicken, England könne zu einem Entgegenkommen in Bezug auf Österreich bereit sein. Den Standpunkt der Regierung Chamberlain fonnulierte dann Lordsiegelbewahrer Halifax bei seinem Gespräch mit Hitler am 19. November 1937. Er sprach von den ,,Änderungen der europäischen Ordnung ... , die wahrscheinlich früher oder später eintreten würden. Zu diesen Fragen gehöre Danzig und Österreich und die Tschechoslowakei. England sei nur daran interessiert, daß diese Änderungen im Wege friedlicher Evolution zustande gebracht würden und daß Methoden vennieden würden, die weitgehende Störungen, wie sie weder der Führer noch andere Länder wünschten, verursachen könnten". London hat Hitlers Methode der Überraschungs schläge und der Erpressungen nicht gutgeheißen; es hätte eine Einbindung der Revision in internationale Abmachungen und eine langsamere Gangart bevorzugt. Aber grundsätzlich war man in London nicht im Zweifel, daß, wie Halifax sagte, "die Fehler des Versailler Diktates richtiggestellt werden müßten." 16 22'
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Die Briten gestanden demnach ein, was heute vielfach geleugnet wird: daß es sich bei der Versailler Regelung um ein Diktat handelte und daß sie unbrauchbar war. Nunmehr begann sich drohend abzuzeichnen, was Präsident Wilson im Dezember 1918 vorausgesagt hatte: Ein Friede, der nicht auf Gerechtigkeit aufgebaut sei, werde in weniger als einer Generation hinweggefegt werden und in die Vernichtung führen. Diese einfache Wahrheit vermochte auch die Appeasementpolitik nicht mehr außer Kraft zu setzen; als Rettungsversuch kam die Appeasementpolitik zu spät. Gegenüber der Weimarer Republik und ihren führenden Vertretern wie Stresemann wäre die Revision angebracht gewesen; einem Hitler gegenüber war das angebracht, was Halder vorschlug. Aber Einsichten solcher Art blieben chancenlos, seitdem an die Stelle einer Weltfriedensgemeinschaft wieder die herkömmliche Machtpolitik getreten war, deren Hintergründe im übrigen häufig durch propagandistisch eingefärbte Schlagworte vernebelt wurden. Molotow sprach in einer Rede am 6. November 1938 von einem imperialistischen Krieg, der bereits im Gang sei und bei welchem Deutschland, Italien und Japan einen Kampf um die Aufteilung von Einflußgebieten führten. Es gebe keine antifaschistische Einheitsfront, weil die Westmächte den Faschismus als "gutes Gegengift" gegen revolutionäre Bestrebungen des Weltkommunismus betrachteten. Der außenpolitische Teil dieser Analyse traf zweifellos etwas Richtiges; dagegen war der Faschismusbegriff, wie die Sowjets ihn verwendeten, ein höchst unscharfer politischer Kampfbegriff, der seither durch eifrige Verwendung an Deutlichkeit nicht gewonnen hat. Die Unterschiede zwischen den drei "Faschismen" waren eher größer als die Ähnlichkeiten. Japan entwickelte sich erst infolge des Krieges zu einer Art von Militärdiktatur, die nach innen nie dieselbe Terrorherrschaft kannte wie der Nationalsozialismus. In Italien wiederum spielte die für den Nationalsozialismus so kennzeichnende Rassenlehre augenscheinlich keine nennenswerte Rolle. Mussolini konnte zwar in den 1920er Jahren eine diktatorische Stellung erlangen, mit gesetzgeberischen Vollmachten sowie einer Einparteienherrschaft (1926), doch gewann er nie die unumschränkte Machtfülle Hitlers und blieb gewissermaßen ein "konstitutioneller" Diktator. Ähnlich wie in Japan der Kaiser mit seinen Beratern erhielt sich in Italien der König, auf den die Streitkräfte vereidigt wurden, der den Generalsekretär der Faschistischen Partei ernannte und ihr Parteistatut billigte. Im Grundsatz konnte sogar der Ministerpräsident, also Mussolini selbst, vom König entlassen werden, wie es 1943 geschah. Sodann fehlte in Italien jenes Nebeneinander und Gegeneinander von Bewegung und Staatsapparat, welches das Dritte Reich kennzeichnete; vielmehr wurden in Italien Staat und Partei eng miteinander verklammert, auf den unteren Ebenen die Parteiorgane den Staatsorganen unterstellt. Auch in ihren außenpolitischen Zielen wiesen die drei ,,Faschismen" Unterschiede auf. Während 16 Zur britischen und französischen Aufrüstung W. Fischer, Geschichte V, 46, 70. Zur britischen Haltung gegenüber der deutschen Aufrüstung MGFA, Weltkrieg I, 578, 604,607. Cowling, Impact, 64 ff. Gibbs, Strategy I, 133 ff. Niedhart, Beziehungen, 71, 118 f. Simon 1935 in DBFP, Sero 2, Bd. 12, 703 ff., 721 (25.3.1935). Halifax 1937 in ADAP, Ser. D, Bd. 1,47 ff.
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Japan und Italien auf die Errichtung hegemonialer Großräume ausgingen, zielte der Nationalsozialismus, jedenfalls bei Hitler und anderen Rassenfanatikern, letzten Endes auf die Weltherrschaft, und zwar in Form der Rassenherrschaft. Darin äußert sich zugleich ein Unterschied im Rationalitätsgrad der drei "Faschismen", denn die Errichtung hegemonialer Einflußräume brauchte nicht notwendigerweise am Widerstand anderer Großmächte zu scheitern und wäre innerhalb gewisser Grenzen auch mit der Appeasementpolitik verträglich gewesen. Dagegen konnte die Unterjochung ganz Europas oder gar der Welt bei einer vernünftigen Beurteilung der Lage sowie der verfügbaren Kräfte schwerlich anders denn als Phantasterei angesehen werden und wurde dennoch mit unerbittlichem Fanatismus verfolgt. Dies rechtzeitig zu erkennen und geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen, war gewiß nicht einfach. Der Sachverhalt wurde indes zusätzlich vernebelt durch das unterschiedslose Reden vom "Faschismus"; überdies wurde auch deswegen versäumt, Hitler beizeiten aufzuhalten, weil man das Durchschauen seiner Gefahrlichkeit vor sich herschob in der Hoffnung, ihn für die eigenen machtpolitischen Ziele einspannen zu können. 17 Die deutsche und die italienische Revisionspolitik waren stets eng miteinander verzahnt. Der italienische Außenminister Dino Grandi formulierte 1930 die Politik des "pe so determinante", des entscheidenden Gewichts, wenn er in einer Rede vom 2. Oktober ausführte, zwar sei Italien weder politisch noch militärisch, noch wirtschaftlich eine europäische Großmacht, es könne aber in einem "europäischen Drama" als Gewicht auf der Waagschale wirken. Mit der Machtergreifung Hitlers kam Italiens Stunde; wenn Gegensätze zwischen Deutschland und den Westmächten aufbrachen, vermochte Italien sich freier zu bewegen, es vermochte für die Unterstützung der einen oder der anderen Seite seinen Preis zu verlangen oder wie eine gleichberechtigte Großmacht an der Regelung der europäischen Angelegenheiten teilzunehmen, was Mussolini seit dem auf Eis gelegten Viermächtepakt von 1933 versuchte. Obwohl Mussolini nach Hitlers Regierungsantritt von politischen Gemeinsamkeiten sprach, kam es zunächst nicht zu einem einvernehmlichen Handeln beider Länder. Deutschland hatte einstweilen noch nichts zu bieten, Frankreich dagegen um so mehr. Gegen eines der vordringlichen deutschen Revisionsziele, den Anschluß Österreichs, errichtete Rom erst einmal Dämme. Die römischen Protokolle vom 17. März 1934 sahen wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie Konsultationen zwischen Italien, Österreich und Ungarn vor; zugleich sollten sie die österreichische Unabhängigkeit stützen, um die sich auch Frankreich sorgte. Als ein mißlungener Putschversuch der österreichischen Nationalsozialisten im Juli 1934 ein deutsches Eingreifen denkbar machte, ließ Mussolini Truppen am Brenner aufmarschieren. Die Unterstützung Frankreichs durch Italien in der österreichischen Angelegenheit trug im Januar 1935 ihre Früchte, als Mussolini und der französische Außenminister Laval sich darauf verständigten, gemeinsam die Unabhängigkeit Österreichs zu wahren, wofür Italien freie Hand 17
Molotow 1938 nach Pietrow, 60. Zum Faschismusbegriff Martin, Tauglichkeit.
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in Abessinien erhielt. Der Erwerb dieses Landes, zwischen den 1889 gewonnenen Kolonien Eritrea und Somaliland gelegen, war eines der ältesten Ziele des italienischen Imperialismus. Die Eroberung war in den 1890er Jahren schmählich mißlungen; statt dessen hatte Italien 1912 Libyen und die ägäischen Inseln des Dodekanes kriegerisch erworben. Nunmehr erhielt Italien Gelegenheit, auf seine Ausdehnungspolitik mit der Stoßrichtung in den östlichen Mittelmeerraum zurückzukommen. Wenn Frankreich, Italien und England die Erklärung der deutschen Wehrhoheit im März 1935 zum Anlaß nahmen, in der sog. Stresa-Front noch einmal gemeinsam Vertragsbrüche zurückzuweisen, so war dies in doppelter Hinsicht hohl. Denn zum einen ging Mussolini nur deswegen Hand in Hand mit Frankreich, um demnächst außerhalb Europas den Frieden und den status quo zu brechen, weswegen er sich in Stresa, im April 1935, um eine diplomatische Abschirmung seiner Abessinien-Absichten bemühte. Und zum anderen hatten zu dieser Zeit die Gespräche über das deutsch-britische Flottenabkommen bereits begonnen, mit denen später Britannien seinerseits bestehende Vertragspflichten verletzte. An dieser Stelle zeigt sich noch einmal die ganze Brüchigkeit der Versailler Ordnung. Um Österreich von Deutschland getrennt zu halten, willigte Frankreich in die italienischen Pläne ein, obwohl über deren Inhalt kein Zweifel bestehen konnte. Der Einfall in Abessinien, seit Jahren erwogen, wurde seit 1934 deutlich sichtbar vorbereitet; Mussolini entwarf im Dezember 1934 persönlich einen Aktionsplan für die Lösung der Abessinienfrage und gab spätestens im Mai 1935 im diplomatischen Gespräch selbst zu, daß er den Krieg wolle. Das Völkerbundsmitglied Italien erhielt demnach freie Hand für einen Überfall auf das Völkerbundsmitglied Abessinien, nur damit die Bevölkerung in Deutschland und Österreich nicht die Vereinigung vollziehen konnte, welche sie 1918/19 gewollt hatte und, wie die späteren Ereignisse zeigten, offenbar noch immer wollte. Um das Gesicht zu wahren, behauptete Laval zwar später, die freie Hand habe sich nur auf die wirtschaftliche Durchdringung bezogen, doch konnte Mussolini dies guten Gewissens zurückweisen; eine derartige Einschränkung war nicht vorgenommen worden. Dieses Verfahren stürzte den Völkerbund in seine zweite große Krise nach der Mandschurei-Affäre. Den Angriff auf Abessinien im Oktober 1935 beantwortete der Völkerbund zwar mit Wirtschaftssanktionen, die aber ziemlich wirkungslos blieben, weil Italien dringend benötigte Rohstoffe wie Öl und Kohle von Amerika, Deutschland und Rußland erhielt. Rom hatte richtig spekuliert, daß die vielfältigen Interessenunterschiede zwischen den Ländern, Völkerbundsmitgliedern und Nichtmitgliedern, ein einheitliches und durchschlagendes Handeln unmöglich machen würden. Militärische Gegenmaßnahmen, nach der Idee des Völkerbunds eigentlich geboten, mußten praktisch ausscheiden. Frankreich konnte schwerlich dazu greifen, ohne Italien gegenüber wortbrüchig zu werden und es an die Seite Deutschlands zu treiben. England konnte ebensowenig etwas unternehmen, ohne Europa in allgemeine Unruhe zu stürzen. Schon den Abessinienkrieg nützte Hitler für die Besetzung des Rheinlands aus. Eine militärische Auseinandersetzung zwischen England und Italien mochte ihn
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zu weit mehr verleiten und am Ende einen europäischen Krieg heraufbeschwören. So blieb der Völkerbund auch diesmal wirkungslos; Abessinien wurde im Mai 1936 annektiert. Die britischen Appeaser wie Chamberlain und Eden betrachteten von nun an den Völkerbund als Fehlschlag und wollten die anstehenden Fragen außerhalb des Völkerbunds regeln. 18 Mit dem Abessinienkrieg begann das Zusammenrücken Deutschlands und Italiens, aus dem schließlich ein Bündnis werden sollte. Dies beruhte weniger auf Mussolinis Dankbarkeit wegen der Unterstützung in der Abessinien-Angelegenheit als vielmehr auf der Einsicht in Rom, daß es nunmehr an der Zeit war, die Pferde zu wechseln. Deutschland stand im Begriff, wieder ein Machtfaktor in der europäischen Politik zu werden, dessen Aufstieg England und Frankreich offenbar nicht zu bremsen vermochten. Hatte die zeitweilige Verbindung mit Frankreich noch ausgereicht, das Abessinien-Unternehmen ins Werk zu setzen, so benötigte Mussolini für seine weiteren Absichten in Zukunft einen anderen Spießgesellen. Es scheint festzustehen, daß Mussolini die geschichtliche Sendung in sich verspürte, Italien zu einer Weltmachtstellung zu verhelfen. Ähnlich wie von Deutschland und Japan erwartete er von Italien eine imperiale Ausdehnung; unter Anlehnung an jene, vor allem an Hitler, hoffte Mussolini ein italienisches Mittelmeerreich zu begründen, mit Kolonien in Afrika, Einflußräumen in der arabischen Welt und auf dem Balkan sowie einer Brechung der englisch-französischen Machtstellung im Mittelmeer und an den Zugängen zum Mittelmeer. Der Krieg wurde dabei auf lange Sicht als unvermeidlich angesehen und war an der Seite Deutschlands zu führen. So begann 1936 allmählich die Verbrüderung der Diktatoren, zunächst mit Mussolinis Zugeständnis, Österreich dürfe, bei formeller Wahrung seiner Selbständigkeit, ein Satellit Deutschlands werden. Dementsprechend mußte sich der österreichische Kanzler Schuschnigg im Juli 1936 zu einem Abkommen mit Deutschland bequemen, wonach Österreich seine Außenpolitik an der Tatsache ausrichten wollte, daß es ein deutscher Staat war. Die italienischen Widerstände gegen das eigentliche deutsche Ziel, den Anschluß Österreichs, wurden weiter verringert, das Einvernehmen der Diktatoren gestärkt, als im Sommer 1936 in Spanien ein Bürgerkrieg zwischen der Volksfrontregierung und Militärkreisen ausbrach, in welchen sowohl Mussolini als auch Hitler eingriffen: ersterer, um den italienischen Einfluß ins westliche Mittelmeer vorzuschieben, letzterer anscheinend, um das befürchtete Vordringen des Bolschewismus aufzuhalten. Im Oktober 1936 verständigten sich der italienische Außenminister Ciano und sein deutscher Kollege Neurath auf die Richtlinien politischer Zusammenarbeit, was Mussolini veranlaßte, am 1. November von der ,,Achse Berlin-Rom" zu sprechen, um welche sich andere Staaten Europas sammeln könnten. Deutschland vermochte die Anschlußfrage nunmehr reifen zu lassen; der Anschluß war 18 Dino Grandi nach de Felice, Mussolini il duce I, 377 ff. Zur deutsch-italienischen Politik Petersen, Achse. Dokumente zur italienisch-französischen Verständigung über Abessinien und zur Stresa-Front bei Krautkrämer I, 77 ff., 94 ff. Ferner Northedge, League, 221 ff. Funke, Sanktionen. Niedhart, Beziehungen, 94 ff.
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auf die Dauer nicht mehr aufzuhalten, schon vollends nicht, seitdem Halifax im November 1937 dieses und andere Revisionsziele gebilligt hatte. Die österreichische Regierung versuchte unterdessen, einen Restbestand an österreichischer Selbständigkeit zu bewahren, zumal große Teile des Volkes zwar nicht die Vereinigung als solche scheuten, sehr wohl jedoch eine Vereinigung unter dem Nationalsozialismus. Als der deutsche Druck immer größer wurde, u. a. bei einem Treffen Schuschniggs mit Hitler im Februar 1938, trat Schuschnigg die Flucht nach vorn an und kündigte eine Volksabstimmung über ein zumindest im Inneren selbständiges Österreich an. Getrieben von Göring, gab Hitler daraufhin den Befehl zum Einmarsch, der am 12. März 1938 stattfand. Das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl brach sich jetzt Bahn: Die deutschen Truppen wurden mit Jubel begrüßt, Hitler hielt einen triumphalen Einzug in Wien, und eine Volksabstimmung über den Anschluß erbrachte eine so gut wie hundertprozentige Zustimmung. Dem Taumel folgte indes die Ernüchterung. Getäuscht sahen sich all diejenigen, welche geglaubt hatten, der Österreicher Hitler führe seine Landsleute dorthin, wo sie hinwollten und hingehörten, nämlich in den Schoß eines einigen Vaterlandes. Hitler betrachtete sich in erster Linie weder als Deutscher noch als deutscher Österreicher, sondern als arischer Herrenmensch, dem die Deutschen und erst recht die deutschen Österreicher nur ein Mittel zum Zweck waren - zum Zweck der Rüstung, des Krieges, der Gewaltherrschaft und der rassischen Säuberung. Österreich wurde weniger als heimgekehrter Teil einer Nation behandelt denn als Objekt nationalsozialistischer Willkür. Gauleiter Bürekel aus dem Saarland wurde zum Kommissar für die Wiedervereinigung ernannt und erzeugte ein Verwaltungschaos, welches dasjenige im Altreich womöglich noch überstieg. Das zusammengehörige Staatswesen Österreich wurde ebenso ausgelöscht wie sein Name; die geschichtlich gewachsenen Länder Österreichs wurden umgemodelt und zu Reichsgauen eines neuen Typs gemacht, in denen mit der Verbindung von Parteiorganisation und Verwaltungsaufgaben anscheinend die nationalsozialistischen Vorstellungen vom staatlichen Herrschaftsaufbau verwirklicht werden sollten. Kirchen- und Judenverfolgung wüteten in Österreich mindestens ebenso wie im Altreich; politisch Mißliebige traten in großer Zahl den Weg ins KZ an. Damit wurde der Boden bereitet für die Ansicht, Österreich sei nicht etwa ins Vaterland heimgekehrt, sondern es stelle das erste freie Land dar, das Deutschland zum Opfer gefallen sei. In Wahrheit verhielten sich die Dinge so, daß die deutsch-österreichische Vereinigung verhindert worden war, als sie - vor 1933 - unter rechts staatlichen Bedingungen abgelaufen wäre, und daß sie zugelassen wurde, als sie in der Tat so etwas wie einen ersten Beutezug Hitlers darstellte. 19 19 Zu Mussolinis politischer Vorstellungswelt de Felice, Mussolini il duce 11. Österreich als Satellit Deutschlands ADAP, Ser. C, Bd. 4/II, 954 ff. (7.1.1936). Zur Anschlußfrage ferner Schausberger, Griff. Ders., Österreich. Zum spanischen Bürgerkrieg Abendroth, Hitler. Ders., Rolle. Zur deutsch-italienischen Zusammenarbeit 1936 Funke, Substanz. Zu Görings Rolle beim Anschluß Kube, 215 ff. Zu Österreich im Dritten Reich Botz.
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Das nächste Opfer war die Tschechoslowakei. In der Politik der Vorkriegsjahre stellt die Tschechei-Angelegenheit (Sudeten-Krise) einen entscheidenden Wendepunkt dar: teils weil Halders Staatsstreichplan und damit langfristig das Verhindern des Krieges scheiterten, teils weil von da an die sowjetische Politik sich endgültig von den Westmächten entfernte. Der sowjetische Außenminister Litwinow hatte bereits im November 1937, als in Brüssel eine Fernost-Konferenz wegen des japanisch-chinesischen Krieges stattfand, ein gemeinsames Handeln der Großmächte gegen die japanische Aggression vorgeschlagen. Darauf hatte sich keiner einlassen wollen; als sich jedoch nach dem Anschluß Österreichs die Gefahrdung der Tschechoslowakei abzeichnete, brachte Litwinow wieder die Idee der kollektiven Sicherheit, also hier gemeinsamer Maßnahmen gegen Deutschland, ins Gespräch. Nach einem ersten derartigen Vorstoß schon im März 1938 verdichteten sich dann vor allem auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise, im September 1938, die russischen Angebote, an der Verteidigung der Tschechei mitzuwirken, entweder im Verein mit den Westmächten oder sogar allein. Es wird schwerlich Zufall gewesen sein, wenn sich gerade in jener Zeit die Bekundungen britischer und französischer Staatsmänner aufnillig häuften, Rußland versuche die kapitalistischen Länder in Krieg zu verwickeln, so etwa die erwähnte Äußerung Daladiers vom Mai 1938 über die Kosaken- und Mongolenhorden. Ebenfalls im Mai befürchtete Halifax, die Entwicklung könne den Beteiligten aus der Hand gleiten und die Kommunisten als einzige davon profitieren. Anfang September meinte der französische Außenminister Bonnet, Rußlands einziger Wunsch sei, zu einem allgemeinen Krieg aufzuhetzen, um in seinen trüben Wassern dann zu fischen. Ähnlich wurde die Sachlage in diplomatischen Kreisen der USA beurteilt. In der Tat war die sowjetische Haltung mehr als zwielichtig. Nach der Einschätzung westlicher Generalstäbe war die Rote Armee infolge der Säuberungen Stalins zwar leistungsmäßig beeinträchtigt und wegen des Führermangels für weitreichende Operationen wenig geeignet. Das schloß indes nicht aus, daß sie, neben der Erfüllung von Verteidigungsaufgaben, auch zum Kampf gegen einen schwachen oder geschwächten Gegner befähigt war. Unter entsprechenden politischen Voraussetzungen mochte das vollauf ausreichen, und für den Einfall in Polen, das Baltikum, Finnland und Rumänien 1939/40 hat es denn ja auch ausgereicht. Wenn im Jahr 1938 wegen der Tschechei-Sache ein mitteleuropäischer Krieg ausbrach, konnte Stalin in Ruhe abwarten, wie die Gegner einander aufrieben; irgendeinen Gewinn würde er mit Sicherheit einstreichen, unter Umständen bis Mitteleuropa vordringen. Selbst eine einseitige Unterstützung der Tschechoslowakei durch Rußland brauchte kein Fehler zu sein. Vor einem deutschen Angriff vermochte Stalin die Tschechei wohl nicht zu retten, aber in einen deutsch-tschechischen Krieg würden voraussichtlich die Westmächte eingreifen, überdies konnte Rußland der Tschechei nur über das Gebiet anderer Länder hinweg, etwa Rumäniens, zu Hilfe kommen, so daß bei dieser Gelegenheit gleich die alten Gebietsforderungen gegenüber Rumänien (oder auch Polen) geltend gemacht werden konnten. Solche Dinge hat man in den westlichen
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Hauptstädten befürchtet oder erwartet, und deswegen hatte man keinerlei Neigung, sich auf einen Handel mit Rußland einzulassen. Spätestens im Frühjahr 1938 hatte außer Britannien auch Frankreich die Tschechoslowakei im Stillen bereits abgeschrieben. Für London galt ohnedies, was der tschechische Botschafter Jan Masaryk so ausdrückte: "Wir sind den Engländern intensiv zuwider. Wir fallen ihnen nur zur Last, und sie verfluchen den Tag unserer Begründung." Aber auch der französische Ministerpräsident Daladier meinte, für die Verteidigung der Tschechei könne sein Land keinen Krieg führen. Dennoch waren weder London noch Paris gewillt, die Dinge einfach treiben zu lassen und die Tschechei regungslos der Gewalt Hitlers zu übergeben. Chamberlain nahm die mühsame Pflicht auf sich, im September 1938 mehrmals nach Deutschland zu kommen, um mit Hitler eine friedliche Regelung auszuhandeln. Dies geschah, obwohl man in London den deutschen Diktator, wie Außenminister Halifax (1938-1940) sagte, für einen madman hielt, einen Verrückten, mit dem es in Europa wohl keinen dauernden Frieden geben könne. Wie in einem Brennspiegel bündelten sich in der Sudeten-Krise noch einmal die verschiedenen Beweggründe der Appeasementpolitik, und wie in einem Brennspiegel wurde hier der Funke, der Europa später in Brand stecken sollte, nicht ausgetreten, sondern noch angefacht. Gewiß hatten die Appeaser die Hoffnung, Hitler könne vielleicht doch noch zur Vernunft kommen und sich mit einer Vormachtstellung gegenüber den zwischeneuropäischen Ländern bescheiden, welche ihm die Appeasementpolitik zugestehen wollte. Gemäß Chamberlains Eingeständnis vom März 1940 sah er vor dem Krieg keine Schwierigkeit, zwischen Deutschland und seinen (östlichen) Nachbarn ähnliche Wirtschaftsverflechtungen zuzulassen, wie sie innerhalb des britischen Empire bestanden. Dieser wirtschaftliche Einflußraum wäre zugleich ein politischer gewesen. Andererseits schlossen die Appeaser einen Krieg nicht grundsätzlich aus; sie wollten ihn nur nicht wegen der Tschechei-Sache führen, in der es begründete deutsche Ansprüche gab, und wollten Zeit für die Aufrüstung gewinnen. Sodann mußte der Krieg wirklich notwendig sein, d. h. der Bestand des europäischen Staatensysterns selbst auf dem Spiel stehen, nicht dagegen die Grenzen oder die Unabhängigkeit zwischeneuropäischer Kleinstaaten. Zu verhindern wünschten die Appeaser indes zwei Dinge: einen europäischen Krieg, in welchem Rußland zum Zünglein an der Waage wurde, und eine deutsch-russische Verständigung, die das europäische Gleichgewicht gefährdete oder sprengte. Der Staatsstreichplan Halders paßte in diese Erwägungen nicht hinein. Erstens enthielt er das Risiko des Mißlingens. Zweitens war er so angelegt, daß die Westmächte Hitlers Angriffsabsichten mit Festigkeit entgegentraten, so daß möglicherweise durch den Umsturz das Eröffnen von Kampfhandlungen nicht mehr verhindert wurde. Bei gutem Willen aller Beteiligten war eine solche Lage zu meistem, aber Risiken enthielt auch sie. Drittens schließlich, und das war wohl das Entscheidende, erblickten die Appeaser in einem Militärputsch keine wesentliche Verbesserung für das Verhältnis der Mächte untereinander. Im Sinne der
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"Preußentheorie" glaubten sie, die Neigung zum Einvernehmen mit Rußland sei bei Junkern und Militärs eher größer als bei Hitler, und gerade das sollte ja unter allen Umständen vermieden werden. Auch insofern sahen die Appeaser keine andere Möglichkeit als die, sich mit Hitler zu verständigen. Dies wiederum durfte nicht so geschehen, daß Hitler einfach Handlungsfreiheit erhielt. Sondern es war der Sinn der Appeasementpolitik, Deutschland an den Westen zu binden, eine Einigung unter den Großmächten des westlichen Europa über deutsche Revisionsziele herbeizuführen und Rußland in derartige Verständigungen tunlichst gar nicht einzubeziehen. Deswegen berichtete der deutsche Botschafter in London im Juli 1938, das britische Kabinett habe sich im wesentlichen dem Leitsatz angenähert, die Sowjetunion aus der Mitbestimmung der Geschicke Europas auszuschalten. Das hieß zugleich, daß Hitler in seinem Verhalten erkennbar machen mußte, ob er überhaupt noch auf der Seite des Westens stand. Hitler durfte nicht einfach machen, was er wollte, vor allem nicht über die Köpfe der westlichen Regierungen hinweg, sonst hätte er zunächst bei Stillhalten der Westmächte die Tschechei vereinnahmen und anschließend mit russischer Zustimmung Polen überrennen können. Es war in jenen Monaten öfters die Rede von einer Wahrung der französischen Ehre. Das hieß eben, daß die Großmachtstellung Frankreichs geachtet werden mußte und Hitler die europäischen Territorialfragen sowie Mächtebeziehungen nicht im Alleingang gestalten durfte, sondern sich zur Gemeinsamkeit mit dem Westen bekennen mußte, indem er ihn bei der TschecheiSache nicht einfach überging. Die Tschechei selber war dabei ziemlich belanglos, denn Chamberlain rechnete im September damit, daß dieser Staat außer seinen deutschen auch die ungarischen, polnischen und slowakischen Bestandteile verlieren und nur als Rumpfgebilde übrigbleiben werde, das automatisch zu einem deutschen Satelliten werden mußte. Obwohl die Westmächte für die Verteidigung der Tschechoslowakei an sich keinen Krieg führen wollten, trafen sie im September Kriegsvorbereitungen, um Hitler von einseitiger Gewaltanwendung abzuhalten und wenigstens formell ihre Mitsprache zu sichern. Durch Chamberlains Vermittlertätigkeit wurde dies schließlich erreicht und mit dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 (Abtretung des Sudetenlandes) genau jene Abstimmung unter den vier Mächten England, Frankreich, Deutschland und Italien herbeiführt, welche die Appeasementpolitik anstrebte. 20 Was hier freilich offen in Erscheinung trat, war der Ausschluß Rußlands. Dieser Ausschluß war anscheinend im britischen Kabinett nicht ganz unumstritten, vielleicht auch mit Rücksicht auf Frankreich, das immerhin einen Beistands20 Allgemein Rönnefarth, Sudetenkrise. Zu Rußland auch Pietrow, 56 ff. Zu den Befürchtungen über die russische Kriegstreiberei Wendt, München, 106 ff. Jan Masaryk nach Kral, Abkommen, 15. Daladier in FRUS, 1938, Bd. I, 493 f. (9.5.1938). Halifax über madman FRUS ,1938, Bd. I, 549 ff. (24.8.1938). Chamberlain 1940 in Dokumente zur Deutschlandpolitik I/l, 142 (13.3.1940). Bericht des deutschen Botschafters Dirksen über den Leitsatz der Appeasementpolitik in Dokumente und Materialien aus der Vorgeschichte I, Nr. 12 (10.7. 1938). Chamberlains Auffassung über die Zukunft der Tschechei in DBFP, Sero 3, Bd. 2, 373 ff. (18.9.1938). Das Münchener Abkommen in Ursachen und Folgen 12, 452 ff.
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vertrag mit Rußland und wie dieses wiederum einen entsprechenden Pakt mit der Tschechei besaß. Jedenfalls nahm Chamberlain, als er zu seinen Vennittlungsversuchen nach Deutschland autbrach, den Entwurf für eine Garantie der Resttschechei mit, eine Garantie, an welcher auch Rußland teilnehmen sollte. Hitler gegenüber hat Chamberlain jedoch nie ein Wort über die Sache verloren; zudem wurde, was noch auffälliger ist, nie der geringste Versuch unternommen, Rußland zu unterrichten, geschweige denn Verhandlungen mit ihm zu führen, so daß der Verdacht naheliegt, es habe sich um reine Spiegelfechterei gehandelt. Wie auch immer, das Einvernehmen der westlichen Mächte untereinander wurde durch keinerlei Rücksichtnahme auf die Sowjetunion getrübt, Rußland war isoliert. Sofern Moskau seine Völkerbundspolitik jemals ernst gemeint hatte, gab es sie nun auf und schaltete verschärft auf die Einigung mit Hitler um. Der stellvertretende Außenminister Potemkin sagte im Anschluß an das Münchener Abkommen, nach diesen Ereignissen gebe es für Moskau nur noch die Lösung einer vierten Teilung Polens. Litwinow selbst soll einen deutsch-russischen Pakt erwartet und ihn damit gerechtfertigt haben, daß die Westmächte Rußland verraten hätten und dieses allein zu schwach sei, den Nazis standzuhalten. Stalins früher erwähnte "Kastanienrede" vom März 1939 war so angelegt, die Westmächte der Kriegshetzerei zu beschuldigen, aber umgekehrt der Sowjetunion den Willen zum Frieden zu bescheinigen und ebenso einen deutschen Willen zum Angriff auf Rußland zu bezweifeln. Wenn dies als Handreichung für die deutsche Seite gedacht war, dann sollte es wohl heißen, daß zwischen Deutschland und Rußland keine wesentlichen Gegensätze bestanden und sie sich demzufolge verständigen könnten, weil der Westen ohnedies nur danach trachte, sie in Krieg zu verwickeln. Ein deutlicheres Zeichen setzte Stalin Anfang Mai 1939, als er Litwinow durch Molotow ersetzte; dies war als Abkehr von Litwinows Völkerbundspolitik zu verstehen. Nach einigen Zwischenstufen erwuchs daraus der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, der den Krieg nach sich zog. Fraglich bleibt, was Stalin zu seiner Schwenkung zwischen dem Münchener Abkommen und dem Frühjahr 1939 bewog und ob es wirklich eine völlige Neuausrichtung der russischen Politik darstellte. Richtig ist sicher, daß das Münchener Abkommen die Sowjetunion außenpolitisch isolierte und daß dies als Gefährdung der russischen Sicherheit angesehen werden konnte. Im November 1936 hatte Deutschland mit Japan den AntiKomintern-Pakt geschlossen, der in einem geheimen Zusatzabkommen vorsah, daß im Falle eines russischen Angriffs die Vertragspartner über ihre gemeinsamen Interessen beraten und daß sie Verträge mit der Sowjetunion nur in gegenseitiger Abstimmung schließen wollten. Das war noch kein regelrechtes Bündnis, aber doch ein Schritt auf dem Weg zur Umklammerung Rußlands, dem durch den Beitritt Italiens zum Antikominternpakt im November 1937 ein weiterer folgte. Hatte Rußland gegen derlei Konstellationen früher ein Gegengewicht in dem russisch-französischen Beistandspakt gefunden, wo wurde diese Rückversicherung fragwürdig, als Frankreich sich in der Tschechei-Angelegenheit dazu verstand, seinem Bundesgenossen Tschechoslowakei die Abtretung von Gebieten
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aufzunötigen, um einen Krieg mit Deutschland zu venneiden. Überdies beteiligte sich an der territorialen Verkleinerung der Tschechei auch Polen, das ein Gebiet um Teschen mit rund 200 000 Einwohnern erhielt (durch den ersten Wiener Schiedsspruch vorn 2. November 1938 wurden zudem die Südslowakei und Teile der Karpathen-Ukraine Ungarn zugeschlagen). Wenn Deutschland und Polen, mit Billigung durch die Westmächte, gemeinsam gegen die Tschechei vorgingen, warum sollte dann dasselbe nicht auch gegenüber Rußland möglich sein? Erinnerte die Lage Rußlands nicht an die Einkreisung Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg? Stalin durfte derlei Befürchtungen wohl hegen; Deutschland und Rußland gegeneinander zu treiben, wäre von den Westmächten nicht zum ersten Mal versucht worden. Mußte Stalin derlei Befürchtungen hegen? Bereits in den Jahren 1936/37 hatte Hitler versucht, für eine spätere Wendung Deutschlands gegen Rußland bei den Briten um Billigung oder Rückenfreiheit zu werben. Doch hatte sich bald herausgestellt, daß London darauf nicht einging. Eden meinte im Sommer 1937, Britannien könne sich keiner Mächteverbindung gegen die Sowjetunion anschließen, nur weil diese kommunistisch sei. Unter dem Blickwinkel der Macht- und Gleichgewichtspolitik war das ganz selbstverständlich, weil das Gleichgewichtsdenken von der ideologischen Ausrichtung eines Staates unabhängig ist. Das mußte schließlich auch Hitlers Vertrauensmann in London, Botschafter Ribbentrop, einsehen, der 1937 verschiedentlich berichtete, Britannien halte am Gleichgewicht fest und werde bei einem deutsch-russischen Krieg vennutlich an der Seite Frankreichs gegen Deutschland stehen. Damit auch Hitler und Ribbentrop das verstanden, wurden sie von den Briten aufgeklärt: "Wenn Deutschland in einem russischen Krieg siegreich bliebe, wäre es so stark, daß es mit Europa und dann auch eines Tages mit England machen könne, was ihm beliebe." Es ist nicht anzunehmen, daß solche Dinge Stalin unbekannt waren. Von den inneren Zusammenhängen des Staatensystems verstand er jedenfalls mehr als der Dilettant Hitler; im übrigen war ja schon der Erste Weltkrieg auch dafür geführt worden, die Vereinigung des deutschen und des russischen Potentials zu verhindern. Wenn dem so ist, dann war die Behauptung, daß die Westmächte Deutschland gegen Rußland treiben wollten, eine bloße Schimäre. Freilich braucht das noch nicht die ganze Wahrheit zu sein. Denkbar wäre immerhin, daß der große Unterwerfungskrieg Deutschlands gegen Rußland ausblieb und stattdessen Polen, vielleicht auch Japan, bei begrenzten Unternehmungen gegen die Sowjetunion von Deutschland unterstützt wurden. In der Tat hat sich die deutsche Seite verschiedentlich bemüht, so 1935 und an der Jahreswende 1938/39, die polnischen Blicke auf die Ukraine zu lenken. Sieht man genauer hin, so bleibt allerdings auch davon nicht viel übrig. Ein russisch-polnischer Krieg konnte allenfalls dazu führen, daß Polen sich aufrieb und anschließend von der Gnade Deutschlands abhing. Das hat man offenbar auch in Warschau so gesehen; jedenfalls bestätigte Polen am 26. November 1938 den Nichtangriffsvertrag mit Rußland und lehnte es ab, den deutschen Köder zu schlucken.
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So bleibt schließlich als letzte Möglichkeit nur noch dies, daß die isolierte Sowjetunion durch eine geschlossene kapitalistische Welt umklammert wurde. Wenngleich damit keine unmittelbare Existenzgefahrdung verbunden gewesen wäre, so hätte es doch den kommunistischen Staat erheblichem Druck von allen Seiten ausgesetzt, der mancherlei unangenehme Folgen nach sich ziehen konnte. Es mag sein, daß Stalin dies scheute und deswegen wieder auf die Verständigung mit Hitler zurückkam. Es mag aber auch sein, daß Stalin im Anschluß an das Münchener Abkommen gar nicht die Ziele seiner Politik änderte, sondern nur die Mittel. Die russische Völkerbundspolitik war weniger eine Politik der kollektiven Sicherheit, als welche sie sich fälschlicherweise ausgab, sondern sie läßt sich unter zwei anderen Gesichtspunkten verstehen. Auf der einen Seite vermuteten die Westmächte, daß Stalin durch eine unnachgiebige Haltung der Völkerbundsstaaten den Krieg heraufbeschwören wollte; auf der anderen Seite konnte Stalin die russische Völkerbundspolitik als Druckmittel gegenüber Hitler einsetzen, um ihn auf die russische Seite zu ziehen. Im letzteren Fall wäre die russische Politik der status-quo-Erhaltung nur ein Vorwand gewesen, um Hitler vor Augen zu führen, daß er an der Seite Rußlands wesentlich mehr erreichen konnte. Trifft dies zu, dann hätte Stalin nie etwas anderes bezweckt als den Krieg: entweder indem die Westmächte den revisionistischen Ländern entgegentraten, oder indem er Hitler als nützlichen Idioten verwandte, der die Entfesselung des Krieges besorgte. Allem Anschein nach ist die Sachlage in den westlichen Hauptstädten so verstanden worden. Die Appeasementpolitik war demnach auch ein Versuch, Hitler vor der Torheit zu bewahren, daß er sich mit Stalin einigte. Wenn Potemkin von der Teilung Polens als dem letzten Ausweg für die Sowjetunion sprach, so muß das nicht heißen, daß nur auf diesem Weg Rußland vor der Einkreisung abzuschirmen war. Es könnte vielmehr auch heißen, daß nur noch so der Krieg zu entfesseln war. 21 Wenn es schon nicht möglich zu sein schien, Hitler mit Hilfe Rußlands einzudämmen, hätten dann nicht wenigstens die USA in eine entsprechende Rolle schlüpfen können? Die Frage ist zu verneinen, nicht weil die amerikanische Regierung blind gewesen wäre gegenüber der Gefahr, sondern weil die USA seit den Erfahrungen von Versailles keinen Anteil mehr haben wollten an den Händeln und Verstrickungen der herkömmlichen Macht- und Gleichgewichtspolitik. Präsident der USA war von 1933 bis zu seinem Tod 1945 der Demokrat Franklin D. Roosevelt, nach Präsident Wilson die zweite große Führergestalt Amerikas im 20. Jahrhundert, ein erklärter Anhänger Wilsons, der an dem Gedanken einer neuen Weltfriedensordnung unter amerikanischer Führung festhielt, 21 Zur Frage einer russischen Garantie für die Rest-Tschechei Northedge / WeHs, 62 f. Brügel, 10 f. Potemkin bei Coulondre, 165. Litwinow bei Goldmann, 47. Die Kastanienrede in Ursachen und Folgen 13, 38 ff. Eden 1937 nach Wendt, Economic Appeasement, 444 (15.7.1937). Ribbentrops Berichte von 1937 in Ribbentrop, Kriegsschuld, 25 ff. (21. 5. 1937),61 ff. (28. 12. 1937). Ferner Henke. Michalka, Ribbentrop. Zu den deutschen Versuchen, Polen auf die Ukraine zu lenken, Kube, 106 (1935). ADAP, Ser. D, Bd. 5, 132 ff. (9.1.1939).
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diesen Gedanken allerdings während des Krieges in einer weiterentwickelten Fonn zu verwirklichen suchte. Als einziger amerikanischer Präsident dreimal wiedergewählt, trat Roosevelt zunächst hauptsächlich als Innenpolitiker in Erscheinung, der mit dem "New Deal" den amerikanischen Wohlfahrtsstaat begründete und die Wirtschaftskrise zu überwinden suchte. Zu den Folgen der Wirtschaftskrise gehörte auch ein starker Rückgang des amerikanischen Außenhandels. Die USA waren aus dem Ersten Weltkrieg als die führende Wirtschaftsnation der Erde hervorgegangen; zu ihrer überlegenen Produktionsleistung traten nun die Spitzenstellung im Welthandel und die Gläubigerposition gegenüber den Alliierten. Die Suche nach Absatzmärkten, im Zeichen der offenen Tür schon vor dem Krieg für die amerikanische Außenpolitik bestimmend, wurde jetzt erst recht maßgeblich. Der Einbruch in der Wirtschaftskrise war jedoch für die USA noch stärker als für andere Länder. Der amerikanische Außenhandel ging nicht nur absolut zurück, sondern auch relativ; die USA verloren Märkte an die Konkurrenz. Zwischen 1929 und 1932 sank der Anteil der USA am Weltexportvolumen von 15,6 % auf 12,4 %. Die Rückeroberung von Märkten wurde damit doppelt wichtig: erstens natürlich, um zur Überwindung der Wirtschaftskrise beizutragen; zweitens aber auch, um die amerikanische Führungsstellung im Welthandel nicht noch weiter verfallen zu lassen. Die Regierung Roosevelt griff hierfür auf Richtlinien zurück, die bereits 1922/23 unter Präsident Harding entwickelt worden waren. Damals war der Plan entstanden, Handelsverträge nicht mehr nach dem Grundsatz der bedingten Meistbegünstigung abzuschließen, wonach sich beide Vertragsparteien gegenseitig Vorteile gewähren, sondern die unbedingte Meistbegünstigung einzuführen, wonach die Vorteile, welche eine Vertragspartei einräumt, auch allen anderen zugute kommen. Die unbedingte Meistbegünstigung ist nicht bilateral, sondern multilateral, sie erzeugt gewissennaßen eine Lawine von Handelsvorteilen, welche sich dem unbegrenzten Freihandel nähert. Die Politik der unbedingten Meistbegünstigung wurde verstanden als eine Ausweitung der Politik der offenen Tür auf die ganze Welt; sie sollte einen ungeteilten Weltmarkt erzeugen, auf dem sich die wirtschaftliche Führungsstellung Amerikas frei entfalten konnte. Dies war seit den Zeiten Hardings noch Stückwerk geblieben; aber die Regierung Roosevelt knüpfte mit ihrem Außenminister Cordell Hull (1933 - 1944) daran an und schloß seit der gesetzlichen Festlegung der unbedingten Meistbegünstigung 1934 insgesamt 20 entsprechende Handelsverträge. Eine befriedete Welt, in welcher die Völker ihre Kraft nicht auf Rüstung und Krieg, sondern auf den freien wirtschaftlichen Wettbewerb richteten und die USA durch ihre überlegene Stärke von selbst eine herausgehobene Stellung einnahmen - eine solche Welt war schon das Ziel Präsident Wilsons gewesen. Der Verwirklichung dieses Zieles stellten sich jedoch unter Roosevelt erhebliche Hindernisse in den Weg. Seit der Wirtschaftskrise begann nicht bloß der Aufstieg der revisionistischen Länder bzw. der Aggressorstaaten Japan, Deutschland und Italien, sondern es begann auch die Aufteilung der Welt in getrennte Wirtschafts-
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räume. Den Anfang machte Britannien, das im Westminster-Statut von 1931 den Dominions die Unabhängigkeit gewährte und so das Empire in ein Commonwealth umwandelte, das aber im Gegenzug durch die Reichszollkonferenz von Ottawa 1932 dieses Commonwealth wirtschaftlich wieder enger zusammenschloß. Durch ein System von Vorzugszöllen innerhalb des Commonwealth und durch erhöhte Außenzölle wurde ein nicht völlig geschlossener, aber doch vielfach abgesperrter Wirtschaftsraum geschaffen, in welchem die überseeischen Reichsteile am Ende der 30er Jahre rund die Hälfte der Exporte des Mutterlands aufnahmen. Dem Beispiel Englands folgten Deutschland und Japan: Durch den ,,Neuen Plan" von Wirtschaftsminister Schacht 1934 wurde mittels bilateraler Handelsverträge und Verrechnungsabkommen ein wirtschaftlicher Einflußraum errichtet, der vor allem den Balkan erfaßte, aber auch nach Südamerika ausgriff; und Japan war seit der Besetzung der Mandschurei im Begriff, etwas ähnliches in Ostasien zu schaffen. Die USA wurden dadurch nicht unbeträchtlich geschädigt. Ihre Anteile an der Ausfuhr in die Wirtschaftsräume Britanniens, Deutschlands und Japans (ansatzweise kam noch ein italienischer dazu) sanken gegenüber den 1920er Jahren spürbar, was zugleich das Überwinden der Wirtschaftskrise erschwerte; noch 1937 gab es in den USA 11,5 Millionen Arbeitslose. Dem Errichten solcher Wirtschaftsräume durch Deutschland, Japan und Italien schien Britannien nicht nur tatenlos zuzusehen, es schien dies mittelbar noch zu fördern, indem es gegen den amerikanischen Grundsatz vom unteilbaren Weltmarkt selbst an seinem Empire-Wirtschaftsraum festhielt. Umgekehrt gefährdete der Grundsatz vom unteilbaren Weltmarkt den Zusammenhalt des Empire, so daß es schon von daher kaum möglich war, eine gemeinsame Front der Westmächte gegen die revisionistischen Länder aufzubauen. 22 Vollends unmöglich wurde dies durch inneramerikanische Vorgänge. Daß von Japan, Deutschland und Italien eine Kriegsgefahr ausging, hat Roosevelt natürlich beizeiten erkannt, ebenso wie andere Staatsmänner. Der Person Hitlers begegnete Roosevelt mit Mißtrauen und dann mit wachsendem Abscheu. In seiner unverblümten Ausdrucksweise bezeichnete Roosevelt die Aggressorstaaten 1937 als Banditen-Nationen und nannte Hitler 1939 einen puren unverfälschten Teufel. Seit 1938 rechnete er mit einem Krieg und sah die Notwendigkeit, Amerika an seiner Gegenküste in Europa zu verteidigen. Aber die Maßnahmen Roosevelts gingen über eine gewisse Aufrüstung, über rhetorische Zurechtweisungen der Aggressorstaaten und über einige vorläufige Fühlungnahmen mit London und Paris kaum hinaus. Seit 1937 wurden die Flotte sowie die Luftwaffe verstärkt, in seiner "Quarantäne-Rede" vom 5. Oktober 1937 sprach Roosevelt davon, die friedliebende Menschheit müsse die internationalen Rechtsbrecher ausgrenzen, und auf britische Anregung hin fanden seit Anfang 1938 geheime Gespräche über die Verteilung der beiderseitigen Flotten statt. England und Frankreich 22 Ziebura, Weltwirtschaft, passim. Herz, 37, 62 ff., 130 ff. Schröder, Deutschland. Ders., Drittes Reich. Ders., Appeasement. Mac Donald, United States. Ders., USA. Martin, Durchbruch. Junker, Weltmarkt.
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durften sich Hoffnungen machen, im Kriegsfall von den USA unterstützt zu werden, wie der deutsche Generalstab es Mitte 1938 vorausgesagt hatte. Aber Roosevelt war außerstande, bindende Verpflichtungen einzugehen, um auf diese Weise die revisionistischen Länder abzuschrecken. Der Grund lag in der Haltung der amerikanischen Öffentlichkeit und des Kongresses. Man bezweifelte den Sinn des amerikanischen Eintritts in den Ersten Weltkrieg, fühlte sich von den europäischen Westmächten für deren eigensüchtige Ziele mißbraucht und wollte eine Wiederholung derartiger Vorgänge verhindern. Es kam hinzu, daß man hinter dem amerikanischen Kriegseintritt die Profitsucht von Rüstungsfirmen witterte und dem einen Riegel vorschieben wollte. So beschloß der Kongreß 1935 und 1937 Neutralitätsgesetze, wovon das erste ein automatisches Waffenembargo gegenüber allen kriegführenden Staaten beinhaltete, während das zweite die Lieferung kriegswichtiger Güter (außer Waffen und Munition) nur unter der Voraussetzung zuließ, daß sie bar bezahlt und auf nichtamerikanischen Schiffen verfrachtet wurden ("cash and carry"). Die Neutralitätsgesetze erwuchsen aus der Absicht, dem Präsidenten die Hände zu binden und das Land aus außenpolitischen Verwicklungen herauszuhalten; andere Länder sollten ihre Streitigkeiten unter sich ausmachen. 23 So war der Weg in den Krieg letztlich schon vor 1939 frei; es wurde nur noch vollzogen, was seit längerem, jedenfalls seit 1938, angelegt war. Der Rest der Geschichte ist daher rasch erzählt. Am 11. August 1939 sagte Hitler zu earl J. Burckhardt, dem Hochkommissar des Völkerbunds in der Freien Stadt Danzig: "Alles was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden." Freilich hat Hitler, obwohl die Isolierung Rußlands in der Sudetenkrise für viele Beobachter eine deutsch-russische Verständigung wahrscheinlich machte, diesen Weg nicht sogleich beschritten. Seit seinen programmatischen Schriften aus den 1920er Jahren betrachtete Hitler die Eroberung von Lebensraum in Rußland als seine Hauptaufgabe, doch sollten dem zwei andere Maßnahmen vorausgehen, nämlich einerseits ein Bündnis mit England und Italien sowie andererseits die Niederwerfung Frankreichs, um den Rücken frei zu haben. Für diese Rückenfreiheit spielte das Bündnis mit England eine wesentliche Rolle. Kam es nicht zustande, so mochte sich Deutschland bei zukünftigen Auseinandersetzungen wieder der gegnerischen Koalition des Ersten Weltkriegs gegenübersehen; kam es aber zustande, so war die Eroberung Europas möglich und anschließend das Hinausgreifen über Europa. Ein solches Hinausgreifen über Europa, letztlich einen Kampf um die Weltherrschaft, gedachte Hitler ursprünglich wohl nicht mehr zu seinen eigenen Lebzeiten zu führen; er sollte als Aufgabe einem 23 RooseveIt über Banditen-Nationen bei Ickes 11, 213. Über Hitler 1939 bei Kinsella, 142. Vgl. Dallek, 148, 157. Die Quarantäne-Rede bei Junker, Kampf, 79 ff. Ferner Craig. Schwabe, Regierung. Ders., Ära.
23 Rauh, Zweiter Weltkrieg I. Teil
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neuen Geschlecht rassereiner Herrenmenschen verbleiben, die nach der Begründung eines germanischen Großreiches heranwachsen würden. Gegner dieses Kampfes um die Weltherrschaft würden die USA sein, die vieles von dem bereits besaßen, was der Nationalsozialismus erst erringen wollte: ein flächenmäßig großes Reich mit gewaltigen natürlichen Hilfsquellen, einen selbstgenügsamen Wirtschaftsraum und eine Bevölkerung, in der wenigstens zum Teil hochwertige Rasseelemente enthalten waren. In diese Konstruktion suchte Hitler sein Wunschbild eines Bündnisses mit England einzupassen. Er hielt es für erreichbar, solange Deutschland nicht auf die Weltmeere ausgreife, also die überseeische WeltmachtsteIlung Britanniens nicht bedrohe. Umgekehrt liege es im wohlverstandenen Eigeninteresse Englands, sich an das Dritte Reich anzulehnen, weil Britanniens WeltmachtsteIlung ihrerseits von Amerika bedroht werde. Deutschland und England könnten so eines Tages gemeinsam, vielleicht auch noch mit Japan, den Kampf gegen die USA führen. Mit diesen Gedanken verhält es sich ebenso wie mit vielen anderen Vorstellungen Hitlers: Sie sind so wirr und widersprüchlich, daß sie sich kaum auf einen glatten Nenner bringen lassen. Das scheint Hitler selbst gespürt zu haben, jedenfalls suchte er seine Bündnisideen rassentheoretisch zu überhöhen, indem er annahm, das Bündnis mit England könne nur dann verwirklicht werden, wenn dort die rassisch hochwertigen Elemente zum Zug kämen. Andernfalls werde sich das internationale Judentum durchsetzen, das die Vernichtung Deutschlands wolle. 24 Auf dieser Grundlage betrieb Hitler Außenpolitik. Das englische Bündnis, das er beim deutsch-britischen Flottenabkommen in erreichbarer Nähe geglaubt hatte, verflüchtigte sich in den folgenden Jahren und machte der Einsicht Platz, daß London bei einer Gefährdung des Gleichgewichts zu den Waffen greifen würde. Obendrein begannen seit Roosevelts Quarantäne-Rede die USA als denkbarer Gegner in Erscheinung zu treten. Die deutsche Botschaft in Washington berichtete seit Ende 1937, daß bei einem Krieg, in welchem es um die Existenz Englands gehe, Amerika auf dessen Seite stehen würde. Das hieß, daß bei einem europäischen Krieg ja doch wieder die Gegnerkoalition des Ersten Weltkriegs zu erwarten war. Beirren ließ Hitler sich dadurch nicht. Er schlug nur eine schnellere Gangart ein, um seine ersten Ziele zu verwirklichen, solange die Westmächte mit ihrer Aufrüstung noch im Rückstand waren und der Isolationismus Amerika unbeweglich machte. Wie er den Oberbefehlshabern der Wehrmacht am 22. August 1939 erklärte, war die wirtschaftliche Lage Deutschlands infolge der Rüstung so angespannt, daß man nur noch wenige Jahre durchhalten konnte. Die Gegenseite sei wegen ihrer viel größeren Kapazitäten in der Lage, den deutschen Rüstungsvorsprung in etwa zwei Jahren einzuholen. Man müsse also sofort den Durchbruch wagen. Kriegswillig war Hitler an sich schon seit der Sudetenkrise; daß er sich 24 Hitler zu Burckhardt in C. J. Burckhardt, 348. Zu den Vermutungen über eine deutsch-russische Annäherung Wendt, München, 112, 124 f. Zu Hitlers außenpolitischen Vorstellungen Mein Kampf, passim; Hitlers Zweites Buch. Henke, England. Hillgruber, Hitler und die USA 1933 bis 1945, in ders., Zerstörung, 186-202.
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dort noch einmal hatte einbinden lassen, verstand er als Schachzug Chamberlains, um Zeit für die Aufrüstung zu gewinnen. Seit Herbst 1938 stand daher für Hitler und seinen Außenminister Ribbentrop fest, daß der Krieg demnächst kommen müsse; unklar war nur noch, wo und wie er ausgelöst werden solle. Durch eine Umstellung der Pressepropaganda sowie durch vielerlei Reden wollte Hitler Volk und Wehrmacht auf den Krieg einstimmen. In der Rede vom 22. August 1939 gab er zu, daß bis ins Frühjahr 1939 die Absicht bestanden habe, "die Lösung der polnischen Frage hinauszuschieben, sozusagen auf Eis zu legen, um erst die nach seiner Ansicht unvermeidbare Auseinandersetzung im Westen auszutragen." Um sich für den Krieg im Westen den Rücken freizuhalten, suchten Hitler und Ribbentrop im Winter 1938/39 das Verhältnis zu Polen zu bereinigen, wobei verhältnismäßig großzügige Angebote gemacht wurden, insbesondere der Korridor bei Polen bleiben sollte. Zugleich bemühten sich Hitler und Ribbentrop, den Anti-Komintern-Pakt zu einem regelrechten Bündnis zwischen Deutschland, Japan und Italien auszugestalten, damit Rußland und Britannien in Ostasien sowie im Mittelmeer gefesselt wurden. Mit solchen Vorhaben folgte Hitler seinem alten Plan, zunächst Frankreich niederzuwerfen, um anschließend die Hände für den Osten freizuhaben. Was mit Britannien geschehen sollte, ist nicht recht durchsichtig. Fest stand wohl, daß es durch einen Sieg über Frankreich vom Kontinent vertrieben werden sollte; doch scheint Hitler die Möglichkeit offengelassen zu haben, mit London doch noch zu einem Ausgleich zu kommen, wenn dieses erst eingesehen habe, daß es den Kontinent dem Dritten Reich überlassen müsse. Auffälligerweise sprach Hitler in einer Rede vom 8. März 1939 davon, daß Deutschland nach einem Sieg über Frankreich auch England beherrschen und dann mit den Dollar-Juden der Vereinigten Staaten abrechnen werde. Anscheinend hoffte Hitler nach wie vor auf das Bündnis mit England und glaubte mit dessen Hilfe den Endkampf gegen die USA führen zu können, das "größte Unternehmen der Geschichte", wie er sagte. Das würde dann zugleich heißen, daß Hitler den Kampf um die Weltherrschaft nicht mehr in eine ferne Zukunft verschieben, sondern noch zu seinen Lebzeiten ausfechten wollte - sofern England mitmachte. 25 Der Plan, zunächst Frankreich anzufallen, scheiterte bald. Weder war Polen bereit, sich Deutschland zu unterstellen, noch kam das Dreierbündnis mit Japan und Italien zustande. Mussolini schloß zwar am 22. Mai 1939 mit Deutschland den "Stahlpakt", im Grunde ein unbegrenztes Angriffsbündnis, doch ließ er wissen, daß Italien nicht vor 1943 kriegsfähig sei. Seit März 1939 schaltete Hitler deshalb um; Anfang April wurde befohlen, bis zum 1. September die Vorausset25 Warnungen der deutschen Botschaft in Washington in ADAP, Sero D, Bd. 1,533 ff. (7.12.1937),591 ff. (12.9.1938). HitIer am 22.8.1939 nach Halder, Kriegstagebuch I, 22 ff. ADAP, Sero D, Bd.7, 167 ff. Jacobsen, Weg, 23 ff. IMG, Bd.41, 16 ff. Dazu Baumgart, Ansprache. HitIer über Umstellung der Pressepropaganda in Domarus I, 973 ff. (10.11.1938). Zu Hitlers Kriegswillen im Herbst 1938 HasselI, Tagebücher, 68 f. (16.12.1938, nach Angaben Weizsäckers). HitIer am 8. März 1939 in Anatomie des Krieges, 204 f.
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zungen für den "Fall Weiß", d. h. einen Krieg gegen Polen, zu schaffen. Das Problem hierbei war wieder dasselbe wie bei dem vorher geplanten Angriff auf Frankreich: Es sollte nach Möglichkeit vermieden werden, andere Länder in den Krieg hineinzuziehen. Die Resttschechei hatte Hitler im März, unter Absprengung der Slowakei, noch gefahrlos besetzen können, weil jeder Eingeweihte wußte, daß die Westmächte deswegen nicht marschieren würden. Dasselbe galt für den Gewinn des Memellandes im März und die Besetzung Albaniens durch Italien im April 1939. Bei Polen dagegen lagen die Dinge anders. Ein Krieg um Polen hatte das Verhalten aller europäischen Großmächte in Rechnung zu stellen und gegebenenfalls auch noch dasjenige Amerikas; allen anderen Großmächten war aber Deutschland allein denn doch nicht gewachsen. Obwohl die Quellenzeugnisse nicht ganz eindeutig sind, gibt es Hinweise, daß Hitler vor einem Krieg zurückgescheut hätte, wenn er sich einer Einheitsfront der anderen Großmächte gegenübergesehen hätte. Weizsäcker hielt dazu am 30. Juli 1939 fest: "Die Entscheidung dieses Sommers über Krieg oder Frieden will man bei uns davon abhängig machen, ob die schwebenden Verhandlungen in Moskau zum Beitritt Rußlands in den Kreis der Westmächte führen. Wo nicht, wäre die Depression dort so groß, daß wir uns gegen Polen alles erlauben könnten." Hitler soll sogar geplant haben, bei einer Einigung zwischen der Sowjetunion und den Westmächten die Aktion gegen Polen abzublasen und einen ,,Parteitag des Friedens" abzuhalten. Wenn das zutrifft, lag die Entscheidung über Krieg und Frieden nicht in den Händen Hitlers, sondern in denjenigen Stalins. 26 Der sowjetische Diktator saß dabei von vornherein am längeren Hebelarm. Nach der Besetzung der Resttschechei gab Chamberlain, im Einverständnis mit der französischen Regierung, am 31. März 1939 eine Garantieerklärung für Polen ab, die sich allerdings nur auf die Unabhängigkeit Polens bezog, nicht jedoch auf seinen Gebietsstand. Ebenso wie entsprechende Garantieerklärungen für Rumänien und Griechenland am 13. April sollte jene Geste keineswegs das Ende der Appeasementpolitik anzeigen, sondern die Achsenmächte, insbesondere Deutschland, durch das Betonen von Abschreckungsmaßnahmen unter Druck setzen. Eine weitere Verständigung, auch über deutsche Revisionsforderungen an Polen, blieb offen. Das Einbeziehen Rußlands in die Abschreckungsfront wurde in den westlichen Hauptstädten erwogen; es sah sich freilich der Schwierigkeit gegenüber, daß weder Polen noch Rumänien noch andere zwischeneuropäische Länder eine militärische Unterstützung durch die Sowjetunion wünschten, weil man dort richtig voraussah, daß die russischen Truppen, wenn sie erst einmal im Land standen, anschließend nicht mehr hinauszubringen waren. London suchte einen Ausweg zu finden, indem es am 15. April vorschlug, Rußland solle seinerseits eine Garantieerklärung für die zwischeneuropäischen Staaten abgeben. Die 26 Zum Stahlpakt ADAP, Sero D, Bd.6, 466 ff. (22.5.1939), 514 ff. (30.5.1939). Allgemein zur deutschen Außenpolitik Weinberg, Policy II. MGFA, Weltkrieg I, 665 ff. Weizsäcker am 30.7.1939 in HilI, 157. Ferner Weizsäcker, Erinnerungen, 247. Kordt, Wilhelmstraße, 310.
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Sowjetunion wäre dadurch für eine Abschreckung Hitlers in Pflicht genommen worden, und zwar unterhalb der Schwelle eines förmlichen Bündnisses zwischen den Westmächten und Rußland, denn ein solches hätte die von Britannien abgelehnte Einkreisung vollzogen, das Gleichgewicht erschüttert und die Kriegsgefahr erhöht. Moskau begegnete dem jedoch mit dem Vorschlag, gerade ein solches Bündnis zu schließen, nämlich einen Beistandsvertrag zwischen England, Frankreich und Rußland, der auch zwischeneuropäische Staaten einbeziehen sollte. Obwohl darüber bis in den August verhandelt wurde, scheinen beide Seiten dies nicht wirklich bezweckt zu haben. Jedenfalls meinte Chamberlain im Juli, eine Verständigung mit Rußland herbeizuführen, sei das einzige, was Britannien nicht tun könne; und Moskau ließ schon im Juni der deutschen Seite zutragen, daß es eigentlich lieber mit Berlin ins Reine kommen wolle. Warum Stalin trotzdem mit den Westmächten verhandeln ließ, bleibt undeutlich; vielleicht wollte er nur den Preis für den Abschluß mit Hitler in die Höhe treiben. Um eine wirkliche Abschreckung Hitlers kann es Stalin augenscheinlich nicht gegangen sein, denn dafür hätte eine russische Garantieerklärung, wie die Briten sie vorschlugen, völlig ausgereicht, während ein formelles Bündnis bei den Appeasern und den zwischeneuropäischen Ländern auf so viel Widerstand stoßen mußte, daß es im Grunde kein geeigneter Verhandlungsgegenstand war. Man gewinnt den Eindruck, daß sowohl London als auch Moskau nur deswegen die Bündnisgespräche führten, um Druck auf Hitler auszuüben und ihn auf ihre jeweilige Seite zu ziehen. In diesem Wettbewerb um die Gunst Hitlers, der letztlich ein Wettbewerb um Krieg oder Frieden war, trug Stalin schließlich den vorhersehbaren Sieg davon. Nachdem sich seit Juli die Umrisse einer Einigung herausgeschält hatten, unterzeichneten Ribbentrop und Molotow am 23. August 1939 einen Nichtangriffsvertrag, der in einem geheimen Zusatzprotokoll ganz Ostmitteleuropa aufteilte: Polen bis zur Weichsel sollte in die deutsche Interessensphäre fallen, Finnland, Estland und Lettland sowie Bessarabien in die russische. 27 Was Hitler und Stalin mit dem Vertrag bezweckten, steht außer Frage: Beide wollten den Krieg. In Hinblick auf Stalin hat das Ribbentrop bestätigt, der am 24. August dem italienischen Botschafter in Moskau mitteilte, die Sowjetregierung habe die Notwendigkeit zur Kenntnis genommen, daß Deutschland die Frage Danzig regle, und werde infolgedessen keine Einwendungen gegen einen Krieg Deutschlands gegen Polen erheben. In einer Weisung des sowjetischen Außenkommissariats an die Botschaft in Tokio vom 1. Juli 1940 hieß es, der Neutralitätsvertrag sei notwendig gewesen, um den Krieg in Europa herbeizuführen. Was Hitler betrifft, so gab ihm der Pakt mit Stalin die ersehnte Rückenfreiheit 27 Allgemein zur Vorgeschichte des Krieges Hofer, Entfesselung. Aster, 1939. Gram1, Weg. Altrichter / Becker, Kriegsausbruch. Chamber1ain im Juli 1939 nach M. Howard, Commitment, 132. Hierzu ferner Watt, Origins, 235, 247. Fleischhauer, 161. Zu den Verhandlungen mit Moskau Bartel. Zu Rußland auch Pietrow, 62 ff. Der Hitler-StalinPakt in ADAP, Sero D, Bd. 7, 205 ff. Ferner Ahmann, Nichtangriffspakte, 618 ff. Ders., Hitler-Stalin-Pakt. Hillgruber, Zerstörung, 203 ff., 219 ff.
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für den Krieg. Wann Hitler den Entschluß faßte, sich mit Stalin zu einigen, ist nicht klar ersichtlich; vermutlich erst im Frühjahr oder Sommer 1939, nachdem die Ausgleichsversuche mit Polen gescheitert waren und Hitler Ende April den Flottenvertrag mit England sowie den Freundschaftsvertrag mit Polen gekündigt hatte. Hitler hoffte bis zum Schluß, die Westmächte aus einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Polen heraushalten zu können. Der Pakt mit Stalin gab ihm zunächst einmal die Sicherheit, weder beim Krieg gegen Polen noch bei einem allenfalls eintretenden Krieg gegen die Westmächte ein russisches Eingreifen befürchten zu müssen. Darüber hinaus versprach er sich von der Verständigung mit Rußland zeitweilig eine solche Einschüchterung der Westmächte, daß sie Polen freiwillig preisgeben würden. Weizsäcker beschrieb dies mit den Worten: "Der Führer rechnet damit, daß am 24. August unter dem Eindruck unseres coup in Moskau Chamberlain stürze und die Garantie-Idee falle." Notfalls war Hitler allerdings auch bereit, das Eingreifen der Westmächte in Kauf zu nehmen, da es bei einem schnellen Sieg über Polen voraussichtlich keine große Wirkung entfalten würde. Im Anschluß an den Hitler-Stalin-Pakt, der die diplomatischen Rahmenbedingungen für den im Spätsommer 1939 geplanten Angriff auf Polen schaffen sollte, überstürzten sich nun die Ereignisse. Am 25. August setzte Hitler den Angriff auf den 26. fest; am selben 25. August gab er wohllautende Versicherungen gegenüber England und Frankreich ab, um sie doch noch von Polen abzuspalten; und ebenfalls am 25. erfuhr er schließlich, daß London seine Garantie gegenüber Polen zu einem förmlichen Bündnisvertrag erweitert hatte. Dies veranlaßte Hitler, den Angriff aufzuschieben und kurzfristig gegenüber Polen Verhandlungs bereitschaft vorzutäuschen, wovon er jedoch selbst zugab, er habe nur ein Alibi gebraucht, vor allem dem deutschen Volk gegenüber, das längst nicht so kriegswillig war, wie er es gern gesehen hätte. Vermittlungsversuche, die von Britannien, Italien, aber auch von Göring unternommen wurden, ließ Hitler unbeachtet. Am 31. August gab er den Angriffsbefehl für den 1. September. Am 3. September erklärten England und Frankreich dem Reich den Krieg. Wenn Hitler davon überrascht wurde, so zeigt das nur, daß er die inneren Zusammenhänge des Staatensystems noch immer nicht begriffen hatte. Gewiß wären London und Paris noch zur Zeit des Kriegsausbruchs (der übrigens ohne deutsche Kriegserklärung erfolgte) bereit gewesen, Polen zu Zugeständnissen zu veranlassen, sofern auch Hitler Entgegenkommen zeigte. Aber Hitler verstand nicht, daß die Westmächte unter den nunmehr eingetretenen Umständen ihm unmöglich freie Hand zur Gewaltanwendung geben konnten. Es lag weniger daran, daß London und Paris zu ihren Bündnisverträgen mit Polen stehen mußten, wenn sie nicht als vertragsbrüchige und gänzlich unzuverlässige Partner im diplomatischen Geschäft erscheinen wollten. Sondern vor dem Hintergrund des Hitler-Stalin-Pakts stellte der Angriff auf Polen eine Sprengung des europäischen Gleichgewichts und eine Existenzbedrohung für die Westmächte selbst dar, auf die es nur eine Antwort geben konnte: den Krieg. Schon der Hitler-Stalin-Pakt
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allein war für das europäische Gleichgewicht nicht unbedenklich, da er eine Annäherung zwischen Deutschland und Rußland in die Wege leitete, die, wenn sie sich verfestigte, beiden Staaten ein Übergewicht in den europäischen Angelegenheiten verschaffte. Benützte Hitler obendrein den Pakt mit Stalin als Rükkendeckung für Gewaltanwendung, so gab er damit zu verstehen, daß er mit dem Westen gebrochen hatte und dieser damit rechnen mußte, das Ziel des nächsten Angriffs zu sein. Das war es ja, was Hitler tatsächlich beabsichtigte, aber wenn es hierüber in den westlichen Hauptstädten noch irgendeinen Zweifel gegeben haben sollte, so wurde er nun ausgeräumt. Für einen Krieg gegen den Westen wirkte der Hitler-Stalin-Pakt zugleich wie eine Art verkapptes Bündnis. Lag die Stärke des Westens darin, einen langen Krieg durchhalten zu können, weil er über mehr Hilfsquellen verfügte als Deutschland, so gab der Hitler-StalinPakt dem Dritten Reich die Möglichkeit, diesen Nachteil wettzumachen, indem es durch russische Unterstützung, insbesondere den Bezug russischer Rohstoffe, eine unbeschränkte Kriegsfahigkeit erreichte. Erinnert man sich noch einmal an das Netz strategischer Abhängigkeit, von dem früher die Rede war, so bedeutete der Hitler-Stalin-Pakt, daß Deutschland sich in strategische Abhängigkeit von Rußland begab, daß es sich zu einem Werkzeug in den Händen Stalins machte, um den Krieg zwischen den kapitalistischen Ländern b.erbeizuführen, der beide Seiten schwächen mußte und der Sowjetunion Gelegenheit bot, ihren Einfluß in der einen oder anderen Weise nach Europa hinein auszudehnen. Im November 1939 faßte der britische Außenminister Halifax diese Erkenntnis auf einer EmpireKonferenz zusammen. Er tat dort den seherischen Ausspruch, ein wichtiges Ergebnis des Hitler-Stalin-Pakts sei die Gefahr, daß der Bolschewismus sich nach dem westlichen Europa ausbreite. Man werde abwarten müssen, ob Hitler diese Bewegung anführe oder ob sie ihn auslöschen werde. Dies sei jedoch eine Gefahr, der man ins Auge blicken müsse, und die Regierung habe sich entscheiden müssen, ob sie dieser Gefahr begegnen wolle, indem sie sich Rußland entfremde oder sogar den Krieg an Rußland erkläre. Hierdurch könne freilich Rußland noch mehr an die Seite Deutschlands getrieben werden. Die Regierung habe sich deshalb entschieden, sich zuerst auf die deutsche Bedrohung zu konzentrieren und hoffe, den Ausbruch offener Feindseligkeiten gegenüber Rußland vermeiden zu können. Halifax sagte damit, daß Hitler durch seinen Pakt mit Stalin und durch die Entfesselung des Krieges das getan hatte, was die Appeasementpolitik hatte vermeiden wollen. Hitler hatte die Sowjetunion nach Europa hereingeholt und hatte sich selbst in die Lage versetzt, entweder von Stalin abhängig zu werden oder zwischen den Mühlsteinen von Ost und West zerrieben zu werden. Der sofortige Kriegseintritt der Westmächte war die notwendige Folge des QuasiBündnisses zwischen Stalin und Hitler, der Kriegseintritt jedenfalls gegen Deutschland und notfalls auch gegen Rußland. In der Tat haben London und Paris mehrfach militärische Maßnahmen gegen die Sowjetunion erwogen, so 1940 und 1941 gegen die Erdölanlagen im Kaukasus. Der Zweite Weltkrieg war
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vom Beginn an nicht bloß ein Krieg gegen Länder, die man als Aggressorstaaten zu bezeichnen pflegte, sondern dahinter verbarg sich die mindestens ebenso wichtige Frage, wer die eigentlichen Nutznießer des Krieges sein würden und ob nicht auch ihnen gegenüber eine Schadensbegrenzung angezeigt war. Hitler hatte geglaubt, durch seinen Pakt mit Stalin ein besonders schlaues Spiel zu treiben, und vermochte in seinem weltanschaulichen Fanatismus nicht zu sehen, daß er sich damit an ein Geschäft machte, aus dem andere mehr Vorteil ziehen konnten. Mit dem Überfall auf Polen setzte Hitler einen Krieg in Gang, der für das westliche und mittlere Europa so überflüssig war wie kaum ein anderer in dessen Geschichte und der das besiegelte, was der Erste Weltkrieg begonnen hatte: die Selbstzerfleischung und Selbstzerstörung Europas. 28 So bleibt am Schluß nur noch die Frage, wo denn die eigentlichen Ursachen liegen, daß dieser Krieg unvermeidlich wurde. Es gilt vielfach als elegante Lösung, in Hitler den Hauptverantwortlichen für die Entfesselung des Krieges und die folgenden Schrecknisse zu sehen. Nun ist gewiß nicht zu leugnen, daß Hitler sich für die Rolle des Sündenbocks besonders gut eignet: Augenmaß und Vernunft galten ihm als Schwäche, Politik verkürzte sich in seinen Augen auf den Krieg, Gewalt und Greuel dünkten ihn die rechten Mittel für die Verwirklichung eines Weltbildes, das aus unsinnigen Gedankenfetzen zusammengekleistert war. Aber reicht das schon aus für eine brauchbare Erklärung? Daß Hitler alle getäuscht habe, bis es zu spät war, trifft ja in dieser vereinfachenden Form nicht zu. Wenn Stalin Hitlers "Mein Kampf' studiert hatte, wenn Roosevelt im deutschen Diktator zunehmend das Teuflische erblickte, wenn Halifax ihn als Verrückten betrachtete, wenn Halder ihn einen Blutsäufer und Verbrecher nannte - warum war es dann nicht möglich, ihm rechtzeitig das Handwerk zu legen? Im Grunde kennt man ja die Antworten: Halder konnte nicht handeln, weil die Appeaser ihn im Stich ließen, die Appeaser hielten sich zurück, weil sie Rußland und den "preußischen" Weg nach Rußland fürchteten, Roosevelt waren die Hände gebunden, weil der Isolationismus es verlangte, und Stalin öffnete Hitler den Weg in den Krieg, weil dies für die Sowjetunion die günstigsten Aussichten versprach. Und woher kommt all dies? Bloße Verblendung kann es nicht gewesen sein, denn es war sorgfältig durchdacht und entsprach den gegebenen Handlungsspielräumen. Eben hier liegt der springende Punkt. Die gegebenen Handlungsspielräume erwuchsen aus einer Ordnung der Staatenwelt, die sich in den Jahren 1917 bis 1920 herausgebildet hatte, vom Scheitern des Friedens im Ersten Weltkrieg bis zum Scheitern des Völkerbunds im amerikanischen Senat. Die entscheidenden Fehler sind nicht in den 1930er Jahren gemacht worden, sie sind allesamt zwischen 1917 und 1920 begangen worden. Der Zustand des internationalen 28 Ribbentrop nach Brügel, 95. Die Weisung des sowjetischen Außenministeriums von 1940 nach Weinberg, Balance, 7, Anm. 9. Weizsäcker nach Hill, 159. Hitler über Alibi, Hitlers Überraschung wegen Kriegserklärung der Westmächte nach P. Schmidt, Statist, 469, 473. Halifax November 1939 nach Carlton, 156. Zu den westlichen Kaukasus-Plänen Kahle, Kaukasus-Projekt. Lorbeer, Westmächte.
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Systems, die Ordnungsprinzipien der Staatenwelt, wie sie aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren, stellten selbst eine wesentiiche Voraussetzung für den Zweiten Weltkrieg dar. Unter dem Blickwinkel der alten Macht- und Gleichgewichtspolitik war es für die Appeaser rational, Deutschland und Rußland getrennt zu halten, unter diesem Blickwinkel war es für Stalin rational, Deutschland gegen den Westen auszuspielen, nach den Erfahrungen mit den europäischen Alliierten im Ersten Weltkrieg war es für die amerikanische Öffentlichkeit einleuchtend, sich an derlei Händeln nicht mehr zu beteiligen, und nach den Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Diktat war es für viele Deutsche einleuchtend, den ehemaligen Kriegsgegnern kein Vertrauen mehr entgegenzubringen, sondern lieber auf einen "Führer" zu bauen, der imstande schien, berechtigte Ansprüche mit allen Mitteln durchzusetzen. Präsident Wilson hatte versucht, an die Stelle der alten Macht- und Gleichgewichtspolitik ein vertrauensvolles Zusammenleben aller Völker in einer organisierten Staatengemeinschaft zu setzen, und er hatte vorhergesagt, daß das Scheitern eines derartigen Friedens in die Vernichtung führen werde. Hitler war der Mann, der die Vernichtung zum Grundsatz der Politik erhob, aber daß er es konnte, lag eben am Zustand des internationalen Systems. Wenn es zutrifft, daß Hitler schon beim Zustandekommen einer Abschreckungsfront aus den europäischen Westmächten und Rußland den Krieg unterlassen hätte, um wieviel mehr hätte er ihn unterlassen, wenn ihm in einem tauglichen Völkerbund alle großen Mächte und voran die USA in den Weg getreten wären? Im übrigen hätte es, wenn eine brauchbare Weltfriedensordnung entstanden wäre, einen Staatsmann Hitler vielleicht nie gegeben, und nicht einmal der Bolschewismus hätte sich in Rußland durchsetzen müssen, wenn rechtzeitig der Erste Weltkrieg durch einen Verständigungsfrieden beendet worden wäre. So zeigt sich rückblickend noch einmal, daß der Zweite Weltkrieg ohne den Ersten und dessen Folgen nicht verständlich ist. Der Erste Weltkrieg brachte die Drachensaat, aus welcher der Zweite erwuchs.
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Bethmann Hollweg, Theobald von, deutscher Reichskanzler (1909-1917) 52, 53, 54, 58, 60, 61, 62, 71, 72, 75, 77, 78,86,87,88,89,90,91,92,93,95, 111 Bismarck, Otto von, preußischer Ministerpräsident (1862-1890), deutscher Reichskanzler (1871-1890) 23, 24, 28,33,34,36,37,68 Blaskowitz, Johannes, deutscher General, Oberbefehlshaber Ost (1939-1940) 233 BIomberg, Werner von, deutscher Generalfeldmarschall, Chef des Truppenamts (1927 -1929), Reichswehrminister (1933 - 1935), Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht (1935-1938) 204, 228, 243, 244,245,246,247,248,249,250,251, 252,254,255,256,257,258,259,260, 261,262,263,264,265,266,267,268, 272,276,280,281,282,284,288,290, 291,292,293,295,296,297,298,311, 336 Bock, Fedor von, deutscher Generalfeldmarschall 310 Boehm-Tettelbach, Karl, deutscher Industrieller, Offizier a. D. 309 Bonnet, Georges, französischer Außenminister (1938 - 1939) 345 Borah, William, amerikanischer Senator 136 Bormann, Martin, NSDAP-Politiker, Leiter der Parteikanzlei (1941-1945), Sekretär des Führers (1943-1945) 217 Bouhler, Philipp, Chef der Kanzlei des Führers (1934-1945) 215 Brandt, Karl, Leibarzt Hitlers 215 Brauchitseh, Walther von, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber des Heeres (1938 -1941) 250, 297, 303,306,308,309,310
394
Personenregister
Braun, Otto, SPD-Politiker, preußischer Ministerpräsident (1920-1932) 239, 240 Briand, Aristide, französischer Ministerpräsident (1911-1912, 1915-1917, 1921-1922 u. ö.), Außenminister (1926-1932) 67, 156, 158, 159,290, 319,321 Brockdorff-Rantzau, Ulrich von, deutscher Außenminister (1918-1919), Botschafter in Moskau (1922-1928) 113, 126 Brüning, Heinrich, deutscher Reichskanzler (1930-1932) 155, 158, 163, 164, 195,236,238,240,241,255,265,267 Buchanan, George W., britischer Botschafter in Petersburg (1910 - 1917) 107, 108 Bullitt, William C., amerikanischer Diplomat, Mitarbeiter Präsident Wilsons, Botschafter in Moskau (1933-1936) und Paris (1936-1940) 18 Bülow, Bemhard von, deutscher Staatssekretär des Auswärtigen Amts (18971900), Reichskanzler (1900-1909) 29,30,31,37,38,39,40,41,42,43, 44,47,48,49,52,57,88,142,315,335 Bülow, Bernhard W. von, deutscher Staatssekretär im Auswärtigen Amt (1930-1936) 158, 160 Bürckel, Josef, NSDAP-Politiker, Gauleiter, Reichsstatthalter in Österreich (1939) 344 Burckhardt, Carl J., Völkerbundskommissar in Danzig (1937 - 1939) 353
Chamberlain, Joseph, britischer Politiker, Kolonialminister (1895 - 1903) 27, 31, 39,40,41,42,43,45,47 Chamberlain, J. Austen, britischer Indienminister (1915 - 1917), Außenminister (1924-1929) 106, 319 Chamberlain, Neville, britischer Politiker, Schatzkanzler (1931 - 1937), Premierminister (1937-1940) 312,313,322, 332,333,339,343,346,347,348,355, 356, 357, 358 Churchill, Winston S., britischer Politiker, Marineminister (1911-1915), Schatzkanzler (1924-1929), Marineminister (1939-1940), Premierminister (19401945) 315, 333 Ciano, Galeazzo, italienischer Außenminister (1936-1943) 343 Clemenceau, Georges, französischer Ministerpräsident (1906 - 1909, 1917 1920) 106, 108, 115, 116, 118, 119, 127, 136, 145, 150 Conrad von Hötzendorf, Franz, österreichisch-ungarischer Generalstabschef (1906-1911,1912-1917) 51 Cot, Pierre, französischer Politiker, Luftfahrtminister (1933-1934, 19361938) 255 Cranbome, Robert A. J. Gascoyne-Cecil, Marquess of Salisbury, Viscount c., britischer Unterstaatssekretär im Foreign Office (1935 - 1938) 334 Curtius, Julius, deutscher Außenminister (1929-1931) 160 Czemin, Ottokar von, österreichisch-ungarischer Außenminister (1916-1918) 91,95, 103
Cadogan, Alexander, britischer Unterstaatssekretär im Foreign Office (19381946) 313, 332 Cambon, Jules, französischer Diplomat 114 Canaris, Wilhelm, deutscher Admiral, Chef der Abwehr im Reichskriegsministerium bzw. OKW (1935-1944), Widerstandskämpfer 231,297,307,309, 310 Caprivi, Leo von, deutscher Reichskanzler (1890-1894) 28 Cecil, E. A. Robert, britischer Blockademinister (1916-1918) 105, 106
Daladier, Edouard, französischer Ministerpräsident (1938-1940) 333,335,345, 346 Darre, Walter Richard, NSDAP-Politiker, Reichsemährungsminister (19331942), Reichsbauemführer (19331945) 171, 184,207 Dawes, Charles G., amerikanischer Finanzpolitiker, Vizepräsident (1925 1929) 146, 154, 155, 176,331 Delbrück, Clemens von, deutscher Staatssekretär des Reichsamts des Innem, Stellvertreter des Reichskanzlers (1909-1916) 89
Personenregister Delcasse, Theophile, französischer Außenminister (1898-1905, 19141915) 48 Ebert, Friedrich, SPD-Parteivorsitzender (1913-1919), Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten (1918-1919), Reichspräsident (1919-1925) 225 Eckart, Dietrich, Schriftsteller, Chefredakteur des Völkischen Beobachters (1921-1923) 184 Eden, Anthony, britischer Politiker, Lordsiegelbewahrer (1934-1935), AußenmInIster (1935-1938, 1940-1945) 329, 332, 335, 337, 339, 343, 349 Falkenhayn, Erich von, preußischer Kriegsminister (1913-1915), deutscher Generalstabschef (1914-1916) 90, 92 Feder, Gottfried, NSDAP-Politiker, Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium (1933-1934) 174,175,184 Fran\iois-Poncet, Andre, französischer Botschafter in Berlin (1931-1938) 197 Franz Joseph 1., Kaiser von Österreich und König von Ungarn (1848-1916) 114 Frick, Wilhelm, NSDAP-Politiker, Reichsinnenminister (1933 - 1943) 205, 206, 208, 209, 214, 216 Friedrich 11., der Große, König von Preußen (1740-1786) 47 Fritsch, Werner von, deutscher General, Chef der Heeresleitung (1934-1935), Oberbefehlshaber des Heeres (19351938) 250, 251, 262, 263, 264, 279, 280,282,284,285,287,293,295,296, 297,298,302,311 Fromm, Friedrich, deutscher General, Chef des Allgemeinen Heeresamts 287 Funk, Walther, NSDAP-Politiker, Reichswirtschaftsminister (1938 - 1945), Reichsbankpräsident (1939 - 1945) 261 Geßler, Otto, deutscher Reichswehrminister (1920-1928) 230
395
Gisevius, Hans Bo, deutscher Regierungsrat im Reichsinnenministerium, Vizekonsul in Zürich (1940-1944), Widerstandskämpfer 298 Goebbels, Joseph, NSDAP-Politiker, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda (1933-1945) 171, 191, 193,310,335 Goerdeler, Carl-Fo, Oberbürgermeister von Leipzig (1930-1937), Widerstandskämpfer 298 Göring, Hermann, NSDAP-Politiker, preußischer Ministerpräsident (19331945), Reichsminister für Luftfahrt (1933 - 1945), Oberbefehlshaber der Luftwaffe (1935 - 1945), zahlreiche andere Ämter 171, 190,204,205,206, 210,212,213,222,244,245,257,259, 261,263,266,267,268,269,270,276, 277, 293, 295, 344, 358 Grandi, Dino, italienischer Faschist, Außenminister (1929-1932) 341 Grimm, Friedrich Melchior von, deutscher Schriftsteller 21 Grey, Edward, Viscount ofFallodon, britischer Außenminister(1905-1916) 10, 14, 50, 51 52, 53, 54, 55, 57, 58, 60, 61,64,77,81, 82, 90 Groener, Wilhelm, deutscher General, Reichswehrminister (1928 - 1932), Reichsinnenminister (1931-1932) 162, 165, 240, 241, 265, 291 Guderian, Heinz, deutscher General, Chef der Schnellen Truppen (1938-1939), Chef des Generalstabs des Heeres (1944-1945) 284 Guse, Günther, deutscher Admiral, Stabschef der Seekriegsleitung 303 Haldane, Richard Burdon, britischer Heeresminister (1905-1912) 53 Halder, Franz, deutscher General, Chef des Generalstabs des Heeres (1938-1942) 170,205,228,229,230,249,290,298, 303,304,305,306,307,308,309,310, 311,312,313,340,345,346,360 Halifax, Edward F. L. Wood, Viscount Ho, britischer Lordsiegelbewahrer (19351937), Außenminister (1938-1940) 313,339,344,345,346,359,360
396
Personenregister
Hammerstein-Equord, Kurt von, deutscher General, Chef der Heeresleitung (1930-1934) 196,235,237,242,245, 250,296 Hankey, Maurice, britischer Kabinettssekretär (1916-1938) 133 Harding, Warren G., Präsident der USA (1921-1923) 139, 351 Hardinge, Charles, britischer Unterstaatssekretär im Foreign Office (19061910) 50,51,57 Hassell, Ulrich von, deutscher Diplomat, Botschafter in Rom (1932-1938), Widerstandskämpfer 297 Heinz, Friedrich W., deutscher Offizier, Widerstandskämpfer 307 Helldorf, WolfH. von, SA-Führer, Polizeipräsident von Berlin (1935-1944), Widerstandskämpfer 302, 310 Hertling, Georg von, bayerischer Ministerpräsident (1912 - 1917), deutscher Reichskanzler(1917-1918) 95,103 Heydrich, Reinhard, SS-Führer, Chef der Sicherheitspolizei, dann des Reichssicherheitshauptamts (1936-1942) 295, 298 Himmler, Heinrich, NSDAP-Politiker, Reichsführer SS (1929-1945), Chef der Gestapo (1934-1936), Chef der deutschen Polizei (1936-1945), Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums (1939-1945), Reichsinnenminister (1943 - 1945) 171,184,185,204,208,210,212,213, 214, 217, 221, 251, 295, 298 Hindenburg, Paul von Beneckendorff und von H., deutscher Generalfeldmarschall, Generalstabschef (1916-1919), Reichspräsident (1925 -1934) 78, 103,171,192,193,196,204,206,207, 228,237,239,240,241,242,243,244, 245 Hitler, Adolf, Vorsitzender der NSDAP (1921-1945), deutscher Reichskanzler und Reichspräsident (1933/34-1945), Diktator passim Hoegner, Wilhelm, SPD-Politiker, bayerischer Ministerpräsident (1945 - 1946, 1954-1957) 154 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig zu, deutscher Staatsmann, Reichskanzler (1894-1900) 36,37,45
Holstein, Friedrich von, Vortragender Rat im deutschen Auswärtigen Amt (18761906) 31,37,39,44,47,82 Hoover, Herbert c., Präsident der USA (1929-1933) 156, 157, 331 Hoßbach, Friedrich, deutscher General, Wehrmachtsadjutant bei Hitler (19341938) 292, 297 Houghton, Alanson B., amerikanischer Botschafter in Berlin (1922 - 1925) 157 House, Edward M., amerikanischer Politiker, Berater Präsident W. Wilsons 56, 57,62,76,82,83,122,123 Hughes, William Morris, australischer Politiker, Ministerpräsident (19151923) 130 Hull, Cordell, Außenminister der USA (1933-1944) 351 Iswolski, Alexander von, russischer Außenminister (1906-1910), Botschafter in Paris (1910- 1917) 51 Jagow, Gottlieb von, deutscher Staatssekretär des Auswärtigen Amts (19131916) 70, 88, 89 Jodl, Alfred, deutscher General, Abteilungsleiter Landesverteidigung im Wehrmachtamt (1935 - 1938), Chef des Wehrmachtführungsamtes (19391945) 263,264, 297 Kaas, Ludwig, katholischer Prälat, Vorsitzender der deutschen Zentrumspartei (1928 -1933) 153 Kapp, Wolfgang, deutscher Politiker, ostpreußischer General-Landschaftsdirektor (1906-1922) 308 KarlI., Kaiser von Österreich und König von Ungarn (1916-1918) 114, 115, 116,118 Keitel, Wilhelm, deutscher Generalfeldmarschall, Chef des Wehrmachtamtes (1935 - 1938), dann des OKW (19381945) 258,259,263,264,297, 310 Kellogg, Frank B., Außenminister der USA (1925-1929) 156,167,319,321 Keppler, Wilhelm, NSDAP-Politiker, Wirtschaftsberater Hitlers 260 Kerenskij, Alexander, russischer Ministerpräsident (1917) 105, 107
Personenregister
397
Kerr, Philipp, Marquess ofLothian, Sekretär des brit. Premierministers (19161921), Botschafter in Washington (1939-1940) 19 Kesselring, Albert, deutscher General, Chef des Luftwaffenverwaltungsamtes (1933 - 1936), Chef des Generalstabs der Luftwaffe (1936-1937) 276 Keynes, John M., britischer Wirtschaftswissenschaftler 18, 134, 154 Kita, Ikki, japanischer Offizier und Schriftsteller 317 Kleist-Schmenzin, Ewald von, deutscher konservativer Politiker, Widerstandskämprer 308,309,312 Koltschak, Alexander, russischer Admiral, Reichsverweser und Haupt einer gegenrevolutionären Regierung (19181920) 118 Konoye, Fumimaro, japanischer Politiker, Ministerpräsident (1937 -1939, 19401941) 321 Kordt, Theodor, Kordt, Erich, deutsche Diplomaten, Widerstandskämpfer 309 Kühlmann, Richard von, deutscher Staatssekretär des Auswärtigen Amts (1917 1918) 95,96, 103, 104 Kun, Bela, ungarischer Bolschewist und Revolutionär, Volksbeauftragter für Äußeres (1919) 139
Ley, Robert, NSDAP-Politiker, Führer der Deutschen Arbeitsfront (1933 - 1945), Reichsorganisationsleiter (19321945) 185, 188, 198 Liebmann, Curt, deutscher General 230, 233, 246 Liese, Kurt, deutscher General, Chef des Heereswaffenamts 287 Liman von Sanders, Otto, deutscher General 55 Litwinow, Maxim M., sowjetischer Volkskommissar für Auswärtiges (19301939), Botschafter in Washington (1941-1943) 313,328,330,345,348 Lloyd George, David, britischer Schatzkanzler (1908-1915), Premierminister (1916-1922) 19, 59, 60, 63, 64, 65, 72, 86, 104, 108, 112, 121, 122, 123, 124, 125, 127, 129, 135 Löbe, Paul, SPD-Politiker, deutscher Reichstagspräsident(1924-1932) 157 Loucheur, Louis, französischer Politiker, Wiederaufbauminister (1918 - 1920), Finanzminister (1925), Arbeitsminister (1928-1930) 154 Ludendorff, Erich, Generalquartiermeister im deutschen Generalstab (19161918) 78,95 Ludwig XIV., König von Frankreich (1643/1661-1715) 37
Lamsdorff, Wladimir N., russischer Außenminister (1900-1906) 48,49 Lansdowne, Henry Charles Petty-Fitzmaurice, Marquess ofL., britischer Außenminister (1900-1905), konservativer Parteiführer 42, 43, 54, 57, 70 Lansing, Robert, Außenminister der USA (1915-1920) 18, 77, 78, 83, 84, 85, 87, 94, 98, 101, 102, 112, 113, 114, 115,119,120,128,134,135,148 Laval, Pierre, französischer Ministerpräsident (1931-1932,1935-1936,19421944), Außenminister (1934-1936) 333, 341, 342 Lenin (eigentlich Uljanow), Wladimir 11jitsch, Führer der russ. Bolschewiki, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare (1917-1924) 17, 95, 103, 105,106,108,141,217,323
Mac Donald, James Ramsay, britischer Politiker, Premierminister (1924, 1929-1935), Vorsitzender der LabourParty (1911-1914, 1922-1937) 255, 256 Manstein (eigentlich Lewinski), Erich von, deutscher Generalfeldmarschall 253, 254 Marschall von Bieberstein, Adolf, deutscher Politiker, Staatssekretär des Auswärtigen Amts (1890-1897) 36,61 Marx, Karl, deutscher sozialistischer Theoretiker und Politiker 173 Masaryk, Jan, tschechoslowakischer Botschafter in London (1925 - 1939) 346 Masaryk, Thomas G., tschechischer Professor und Politiker, Staatspräsident (1918-1935) 116 Meinecke, Friedrich, deutscher Historiker 167
398
Personenregister
Michaelis, Georg, deutscher Reichskanzler (1917) 95 Milch, Erhard, deutscher Staatssekretär im Reichsluftfahrtministerium (19331945) 259,276,278 Molotow (eigentlich Skrjabin), Wjatscheslaw M., sowjetischer Politiker, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare (1930-1941), Außenminister (19391949) 328, 340, 348, 357 Moltke d. Ä., Helmuth von, preußischer und deutscher Generalstabschef (1857 1888) 283 Moltke d.J., Helmuth von, deutscher Generalstabschef (1906-1914) 51 Monroe, J ames, Präsident der USA (1817 1825), Begründer der Monroe-Doktrin 25, 26, 27, 79, 320 Müller-Franken, Hennann, Vorsitzender der SPD (1919), deutscher Außenminister (1919 - 1920), Reichskanzler (1920, 1928-1930) 157, 162, 167 Müller-Meiningen, Ernst, bayerischer Justizminister (1919 - 1920) 177 Murawjew, Michail, russischer Außenminister (1896-1900) 68 Mussolini, Benito, italienischer Faschistenführer, Ministerpräsident (19221943), Diktator 144, 145, 159, 192, 209,212,322,328,340,341,342,343, 355 Nadolny, Rudolf, deutscher Diplomat, Botschafter bei der Abrüstungskonferenz (1932-1933) 254 Neurath, Konstantin von, deutscher Reichsaußenminister (1932 - 1938) 235,254,255,290,292,293,294,295, 296, 343 Nicolson, Arthur, britischer Unterstaatssekretär im Foreign Office (1910 - 1916) 50,51,56,57,63 Nicolson, Harold, britischer Diplomat, Politiker und Schriftsteller 18, 10 1 Nikolaus II., Zar von Rußland (18941917) 33, 35, 49, 52, 68 Nitti, Francesco, italienischer Ministerpräsident (1919-1920) 18
Ohlendorf, Otto, SS-Führer, Chef des SSSicherheitsdienstes, stellvertretender Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium (1943-1945) 184 Oster, Hans, deutscher General, Widerstandskämpfer 225, 226, 227, 298, 307 Paget, Ralph, britischer stellvertretender Unterstaatssekretär im Foreign Office (1913-1915) 63,64,65 Papen, Franz von, deutscher Reichskanzler (1932), Vizekanzler (1933-1934), Botschafter in Wien (1934-1939) 195, 196, 204, 206, 240, 241, 245, 265 Pichon, Stephan, französischer Außenminister (1906- 1911, 1917 -1920) 116 Pilsudski, Jozef, polnischer Staatspräsident (1918-1922), Kriegsminister (1926 - 1935), Ministerpräsident (1926-1928) 140, 234, 245, 328 Poincare, Raymond, französischer Ministerpräsident (1912-1913,1922-1924, 1926-1929), Staatspräsident (19131920) 54,56,57, 114, 146, 147, 153 Potemkin, Wladimir P., sowjetischer stellvertretender Kommissar für Auswärtiges 348,350 Raeder, Erich, deutscher Admiral, Chef der Marineleitung (1928 - 1935), Oberbefehlshaber der Kriegsmarine (19351943) 236, 250, 259, 263, 273, 275, 293,303,310 Rathenau, Walther, deutscher Industrieller, Politiker und Schriftsteller, Reichsaußenminister (1922) 251 Reichenau, Walter von, deutscher Generalfeldmarschall, Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium (19331935) 243, 246, 247, 248, 249, 250, 258,263 Ribbentrop, Joachim von, NSDAP-Politiker, Botschafter in London (19361938), Reichsaußenminister (19381945) 190,297,299,349, 355, 357 Ribot, Alexandre, französischer Außenminister (1890-1893), Ministerpräsident (1917) 115
Personenregister Richthofen, Oswald von, deutscher Staatssekretär des Auswärtigen Amts (19001906) 39,41,57 Riezler, Kurt, deutscher Legationsrat, persönlicher Referent des Reichskanzlers Bethmann Hollweg (1909 - 1917) 87, 88, 89, 91, 92, 93 Robertson, William, britischer Feldmarschall und Chef des Empire-Generalstabs (1915-1918) 63,64,70 Röhm, Ernst, NSDAP-Politiker, Stabschef der SA (1931-1934) 204,208,210, 228, 247, 248, 335 Roosevelt, Franklin Delano, Präsident der USA (1933-1945) 13,271,350,351, 352, 353, 354, 360 Roosevelt, Theodore, Präsident der USA (1901- 1909) 82 Root, Elihu, Außenminister der USA (1905-1909) 135 Rosebery, Archibald Philipp Prirnrose, Earl of R., britischer Außenminister (1886, 1892-1894), Premierminister (1894-1895) 25,37,57 Rosenberg, Alfred, NSDAP-Politiker, nationalsozialistischer Ideologe, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete (1941-1945) 171,182,184,192,209, 218, 222 Rumbold, Horace, britischer Botschafter in Berlin (1928 - 1933) 251, 252, 253, 254 Rundstedt, Gerd von, deutscher Generalfeldmarschall 246 Salisbury, Robert A. T. Gascoyne-Cecil, Marquess of S., britischer Politiker, Außenminister (1878 - 1880), PremiermInIster (1886-1892, 1895-1902) 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41,42,43,44,45,46,47,48,50,55, 56, 70 Sanderson, Thomas H., britischer Unterstaatssekretär im Foreign Office (18941906) 44,45 Sasonow, Sergej D., russischer Außenminister (1910-1916) 54,55,56,57,60, 61,64,69 Sato, Naotake, japanischer Diplomat, Außenminister (1937) 321
399
Schacht, Hjalmar, deutscher Reichsbankpräsident (1924-1929, 1933-1939), Reichswirtschaftsminister (19341937) 207, 236, 253, 260, 261, 266, 267,268,270,298,307,308,352 ScheidemamI, Philipp, SPD-Politiker, deutscher Ministerpräsident (1919) 17 Schleicher, Kurt von, deutscher General, Chef der Wehrmachtabteilung, damI des Ministeramtes im Reichswehrministerium (1926-1932), Reichswehrminister (1932-1933), Reichskanzler (1932-1933) 196,204,208,237,240, 241, 242, 243, 245, 248, 254, 265 Schlieffen, Alfred von, Generalfeldmarschall, deutscher Generalstabschef (1891-1905), Vater des SchlieffenPlans 47,53,62,283 Schmitt, Kurt P., deutscher Reichswirtschaftsminister (1933 - 1934) 207 Schmoller, Gustav, deutscher Volkswirtschaftler und Professor 22 Schmundt, Rudolf, deutscher General, Wehrmachtadjutant bei Hitler (19381944) 297 Schober, Johann, österreichischer Bundeskanzler (1929-1930), Außenminister (1930-1932) 160 Schuschnigg, Kurt von, österreichiseher Bundeskanzler (1934-1938), Außenminister (1936-1938) 343, 344 Schwerin von Krosigk, JohamI, deutscher Reichsfinanzminister (1932 - 1945) 266 Seeckt, Hans von, deutscher General, Chef der Heeresleitung (1920 - 1926) 141, 142, 162, 165, 244, 283 Seward, William Henry, amerikanischer Politiker, Außenminister (18611869) 26 Simon, John Allsebrook, Viscount S., britischer Politiker, Außenminister (1931-1935), Innenminister (19351937), Schatzkanzler (1937 - 1940) 332, 335, 339 Sixtus, Prinz von Bourbon-Parma, belgiseher Offizier 114 Smuts, Jan, südafrikanischer General und Ministerpräsident (1919 - 1924, 19391948) 18 Sombart, Werner, deutscher Volkswirtschaftler und Soziologe 186
400
Personenregister
Speer, Albert, Architekt, deutscher Reichsminister für Bewaffnung und Kriegsproduktion (1942-1945) 196, 213, 216, 271 Stalin (eigentlich Dschugaschwili), Jossif Wissarionowitsch, Generalsekretär der KPdSU (1922-1953), sowjetischer Ministerpräsident (1941-1953), Diktator 10,190,197,313,314,315,323,324, 325,326,327,328,329,330,332,334, 335,337,345,348,349,350,356,357, 358, 359, 360, 361 Stanhope, James Richard, britischer Unterstaatssekretär im Foreign Office (19241929, 1931-1936) 334 Stauffenberg, Claus Schenk von, deutscher Offizier, Widerstandskämpfer 197, 231,259, 307 Stimson, Henry L., Außenminister der USA (1929-1933), Kriegsminister (1940-1945) 157,164,166,318,319, 320, 331 Straßer, Gregor, NSDAP-Politiker, Reichsorganisationsleiter (1932) 181, 203 Straßer, Otto, NSDAP-Politiker, Begründer der sozialrevolutionären "Schwarzen Front" (1930) 203 Stresemann, Gustav, deutscher Reichskanzler (1923), Außenminister (19231929), Vorsitzender der DVP (19181929) 142, 143, 145, 151, 152, 153, 154,156,157,158,167,169,177,300, 323, 340 Stuckart, Wilhelm, deutscher Staatssekretär im Reichsinnenministerium (19351945) 212 Stülpnagel, Joachim von, deutscher Offizier, Abteilungschef im Truppenamt 165 Stumpff, Hans-Jürgen, deutscher General, Chef des Personalamtes im Reichsluftfahrtministerium (1933 - 1937), Chef des Generalstabs der Luftwaffe (1937 1939) 276 Taft, William, Präsident der USA (19091913) 85 Tw-dieu, Andre, französischer Ministerpräsident (1929-1930, 1932) 160
Thomas, Georg, deutscher General, Abteilungschef für Wehrwirtschaft und Rüstung im Wehrmachtamt bzw. OKW (1934-1942) 258,260,267,270,297, 310, 324 Tirpitz, Admiral Alfred von, deutscher Staatssekretär des Reichsmarineamts (1897-1916) 29,30,31 Todt, Fritz, NSDAP-Politiker, Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen (1933 - 1942), Generalbevollmächtigter für die Regelung der Bauwirtschaft (1938 - 1942), Reichsminister für Bewaffnung und Munition (1940-1942) 212 Trotzki, Lew Davidowitsch (eigentlich Leib Bronstein), russ. Bolschewik, Volkskommissar für Auswärtiges (1917 -1918), für Verteidigung (19181924) 104, 105, 109, 141, 326 Tschiang Kai-schek, chinesischer Offizier und Politiker, Führer der chinesischen Nationalpartei, Diktator 321 Tschirschky und Bögendorff, Heinrich von, deutscher Staatssekretär des Auswärtigen Amts (1906 - 1907), Botschafter in Wien (1907-1916) 51 Tschitscherin, Georgij W., sowjetischer Volkskommissar für Auswärtiges (1918-1930) 113 Tyrrell, William G., britischer Diplomat, Sekretär des Außenministers Grey (1907-1915) 63,64,65 Vansittart, Robert, britischer Diplomat, Unterstaatssekretär im Foreign Office (1929-1937) 332, 335, 336 Viktoria, Königin von England (18371901), Kaiserin von Indien (18771901) 31, 32 Wagener, Otto, NSDAP-Politiker, Leiter des Wirtschaftspolitischen Amtes der NSDAP (1931-1933), Wirtschaftsberater Hitlers 191,222 Weber, Max, deutscher Soziologe 119, 178, 181,208,222,306 Weichs, Maximilian von, deutscher Generalfeldmarschall 236
Personenregister Weizsäcker, Ernst von, deutscher Diplomat, Staatssekretär im Auswärtigen Amt(1938-1943) 167,299,300,356, 358 Wels, OUo, Vorsitzender der SPD (1931 1939) 206 Wever, Walther, deutscher General, Chef des Luftkommandoamtes, dann des Generalstabs der Luftwaffe (19331936) 276, 277 Wilhelm 11., deutscher Kaiser (18881918) 28,30, 31,47,57,78, 84, 89, 95,96, 129, 130, 132 Wilson, Thomas Woodrow, amerikanischer Professor, Präsident der USA (1913-1921) 18, 19, 20, 56, 57, 62, 67, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 90, 93, 94, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 107,108,109,110,111,112,113,114, 115,116,117,118,119,120,121,122,
401
123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 143,146,148,149,150,169,225,226, 251,271,319,320,326,331,340,350, 351,361 Wimmer, Wilhelm, deutscher General, Chef des Technischen Amts im Reichsluftfahrtministerium (1933 - 1936) 276 Wirth, Joseph, deutscher Reichskanzler (1921-1922) 142, 165 Witzleben, Erwin von, deutscher General, Widerstandskämpfer 302, 307, 310 Young, Owen D., amerikanischer Wirtschaftspolitiker 155, 157, 158, 197, 239, 251 Zimmermann, Arthur, deutscher Staatssekretär des Auswärtigen Amts (19161917) 77,80,81,84,91,92,93,94, 95