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German Pages 479 Year 2011
Zeitgeschichtliche Forschungen
Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs von 1940 bis zum Unternehmen Barbarossa 1941
Stefan Scheil Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
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STEFAN SCHEIL
Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs von 1940 bis zum Unternehmen Barbarossa 1941
Zeitgeschichtliche Forschungen Band 41
Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs von 1940 bis zum Unternehmen Barbarossa 1941 Von Stefan Scheil Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagbild: Molotov in Berlin – Empfang in der Reichskanzlei, 13. November 1940 (v. l. n. r. Wjačeslav Molotov, Botschaftsrat Gustav Hilger, Adolf Hitler) (# ullstein-ullstein bilderdienst) Die erste Auflage erschien 2005 im Olzog-Verlag unter dem Titel ,,1940/41. Die Eskalation des Zweiten Weltkriegs“ Alle Rechte vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-13377-2 (Print) ISBN 978-3-428-53377-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-83377-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞
Internet: http://www.duncker-humblot.de
„Es gab für Hitler keine andere Möglichkeit mehr, als uns anzugreifen. Er hätte seinen Krieg mit England niemals beenden können.“ Vjacˇeslav Molotov1 „Barbarossa ist sowieso ein Risiko, wie alles. Mißlingt es, ist sowieso alles verloren. Gelingt es, so ist wohl die Situation geschaffen, die wohl auch England zum Frieden zwingt.“ Adolf Hitler2
1 2
Molotov zu Chuev, zit. n. Molotov, Politics, S. 23. Zit. n. Hewel, Tagebuch, 29. Mai 1941.
Vorwort zur zweiten Auflage Am Beginn der Entscheidung über eine zweite Auflage steht jeweils die Wahl, ob es eine unveränderte oder eine überarbeitete Neuausgabe werden soll. Für den hier vorliegenden Fall bot sich aus zwei Gründen eine Überarbeitung an, zum einen wegen des Wechsels des Verlagsortes, zum anderen wegen mancher Kontroversen um den Inhalt. Das erste machte ohnehin eine vollständige Durchsicht und Umformatierung nötig, das zweite erzwang zwar keine inhaltlichen Änderungen, ließ aber an manchen Stellen eine Präzisierung und Ergänzung der Argumentation wünschenswert erscheinen, um die Menge der Mißverständnisse auf die wirklich unbedingt gewollten zu reduzieren. In den hier vorliegenden Text ist daher die seit der Erstausgabe im Jahr 2005 erschienene Literatur eingearbeitet, aber auch eine ganze Anzahl anderer ergänzender Hinweise und Zitate. Auf manch explizit vorgetragene Kritik wird in einem eigenen Nachwort eingegangen. Ich danke dem Verlag Duncker & Humblot und namentlich Dr. Florian Simon für die Gelegenheit, diese Neuausgabe meiner Studie über die Eskalation des Zweiten Weltkriegs in den Jahren 1940/41 vorzulegen. Stefan Scheil
Inhaltsverzeichnis I.
Nürnberger Nachspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Am Ende war Barbarossa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Spiel mit der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 16 22
II.
Europa in Brand stecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Winston Churchills Strategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Deutschlands Hauptaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rückblick – Politik bis Sommer 1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Konzeption der sowjetischen Außenpolitik nach dem deutschen Sieg über Frankreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32 32 42 42
III.
IV.
V.
Kriegsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die irrelevante Größe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der italienische Angriff auf Griechenland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Deutschland: Wie löst man die Hauptaufgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Besprechung vom 21. Juli 1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf nach Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die List der Besiegten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Vordertür zur Hegemonie. Amerikanische Vorstellungen über eine europäische Friedensordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „First Things First“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „The Great Globe itself“ – die russisch-amerikanischen Beziehungen c) Wahlen in den Zeiten des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gartenschläuche und Strategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die alliierte Strategie der Kriegsausweitung auf dem Balkan . . . . . . . . . a) „Wild Bill“ im Südosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Putsch und Kriegsdrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gewißheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stalins Rede vom 5. Mai 1941 und sein Regierungsantritt . . . . . . . . . . . . 2. Mutmaßungen über TASS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Sommermanöver“. Sowjetische Angriffsvorbereitungen nach Stalins Regierungsübernahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. War Stalin uninformiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 56 56 62 66 66 68 72 78 78 87 92 97 99 108 119 123 130 133 143 146 152
Friedensfühler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Der Literat als Premier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Die Weißauer-Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
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Inhaltsverzeichnis a) b) c) d)
Die Ausbeutung der deutschen Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Englands Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Heß-Flug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Botschafter redet zuviel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180 182 186 203
Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht. . . . . . . . . . . . 1. Propaganda und Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Völkerrecht als Teil von Machtpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gab es einen Begründungsversuch für den Angriff? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. jus ad bellum – das Recht zum Krieg und der deutsche Angriff . . . . . . . 5. Die Gültigkeit des Nichtangriffspakts und des Geheimprotokolls . . . . . . 6. Kriegsspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Shukov-Plan und seine Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213 213 218 219 222 224 242 251
VII. Falls die Rote Armee einmal nach Deutschland kommt . . . . . . . . . . . . . 1. Die sowjetische Rüstung 1939–1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vladimir Semjonov und die sowjetischen Angriffsvorbereitungen . . . . . 3. Der Hitler-Molotov-Gipfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Globalisierungsgegner?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Treffen von Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Amerikanische Verbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257 257 263 271 271 273 287 305
VIII. Die Morgendämmerung des Vernichtungskriegs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „A genocide, sponsored by Great Britain“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Politik des Hungers – Samuel Hoare in Spanien . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein Hungerplan gegen die Bevölkerung der UdSSR? . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nürnberger Nachspiele (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ökonomische Rahmendaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausrottungsphantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
312 312 323 329 329 334 337
VI.
IX.
Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 1. „Rußland hängt wie eine drohende Wolke am Horizont“. Die unmittelbaren Folgen des Molotov-Gipfels und die Beitrittswelle zum Dreimächtepakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 2. Exkurs: Das Land anderer Leute. Über imperialistische Möglichkeiten in Kriegszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
X.
Hegemonie oder Untergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 1. Die Entwicklung in Hitlers Rußlandbild. Vom Kolonialgebiet zur Supermacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 2. „Muß das denn auch noch sein?“ Selbstbewußtsein und Bedrohungsszenarien in deutschen Militärkreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
XI.
Die letzten Wochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 1. Deutsch-Amerikanische Affären am Ende des Mai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 2. Das Unvermeidliche und seine Tarnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Inhaltsverzeichnis
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3. Das Ultimatum, das es nie gab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Letzte interne Diskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der ausgebliebene Coup . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kriegserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
411 418 421 424
Nachwort zur Zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unveröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen und Dokumenteneditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Memoiren, Erinnerungsliteratur und Tagebücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitgenössische politische und historische Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
433 433 435 437 441 442
Anhang: Ereignisse 1940/41 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Sach- und Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
Abkürzungsverzeichnis AA ADAP BA-MA DBFP DDF DDI DDP DNB Doc. Dok. DVP FO FRUS HIS Hrsg. hrsg. HZ IMT KTB MGFA OKW OSZE PRO RSH SKL SOPADE UdSSR VB VfZ
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I. Nürnberger Nachspiele „Paulus: Ich hatte den Auftrag, einen Angriffsplan auszuarbeiten. Müller: Aber bis Kriegsbeginn haben Sie sich darunter einen Präventivkrieg vorgestellt. Paulus: Das habe ich schon früher gesagt. Müller: In Nürnberg sagten Sie das Gegenteil.“1
Man schrieb das Jahr 1945, als Andrej Vyšinskij eine Reise nach Nürnberg antrat. Der in den 1930er Jahren mit der Führung der Moskauer Schauprozesse beauftragte Funktionär und jetzige Stellvertreter des sowjetischen Außenministers Molotov hatte etwas wichtiges und höchst geheimes im Gepäck, das in den Wochen vorher in einer von Josef Stalin eingesetzten und von Vyšinskij selbst geleiteten Kommission beschlossen worden war. Nun sollte es Ende November rechtzeitig nach Deutschland gebracht werden, damit der in Kürze beginnende Prozeß gegen den spärlichen Rest von NS-Deutschlands Führungsriege zum gewünschten politischen Ergebnis führen konnte. Die Zeit drängte. Auf Initiative der USA und Englands, unterstützt von der Sowjetunion und Frankreich, war am 9. November 1945 formell beschlossen worden, daß „politische Ausfälle“ der Angeklagten an die Adresse der Sieger nicht zugelassen werden dürften. Dies war ein Problem, das die Vorbereitung des Prozesses stets begleitet hatte. Es galt, dort den amtlichen Schlußstein des Konflikts zu setzen und die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg ein für allemal festzuschreiben. Während die englische Regierung zunächst dafür plädiert hatte, die wichtigsten Mitglieder der deutschen Führung ohne weitere Umstände vom Leben zum Tode zu befördern, mußte dafür aus amerikanischer Sicht ein formales Gerichtsverfahren geführt werden. Robert H. Jackson erklärte seinen alliierten Juristenkollegen in mehreren Anläufen den Grund dafür. Schließlich wußte er und betonte es auch, daß etwa die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten vollkommen legal gewesen war. Daher, so erklärte Jackson, müsse der Krieg in Europa vor Gericht als eine von Anfang an völkerrechtswidrige deutsche Aggression dargestellt werden. Das erwies sich als leicht gesagt, jedoch als schwer zu beweisen. Längeres Aktenstudium ließ Jackson zunehmend an der Möglichkeit zweifeln, 1 In sowjetischer Kriegsgefangenschaft abgehörter Dialog zwischen Generalfeldmarschall Paulus und General Vinzenz Müller, hier zit. n. Rešin, Paulus, S. 233.
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I. Nürnberger Nachspiele
daß ein fairer Prozeß die Behauptung von der deutschen Alleinschuld untermauern könnte. Ganz im Gegenteil: „Die Deutschen werden mit Sicherheit unsere drei europäischen Alliierten anklagen, eine Politik verfolgt zu haben, die den Krieg erzwungen hat. Das sage ich, weil die sichergestellten Dokumente des Auswärtigen Amts, die ich eingesehen habe, alle zum selben Schluß kommen: ‚Wir haben keinen Ausweg; wir müssen kämpfen; wir sind eingekreist; wir werden erdrosselt‘. Wie würde ein Richter reagieren, wenn dies im Prozeß herauskommt? Ich denke, er würde sagen: Bevor ich jemanden als Aggressor verurteile, soll er dies nicht nur einfach leugnen, sondern hier seine Motive schildern.“2
Und das wäre katastrophal, so Jackson weiter, denn „wenn dieser Prozeß in eine Diskussion über die politischen und wirtschaftlichen Ursachen des Krieges hineingerät, kann daraus sowohl in Europa, das ich nicht gut kenne, als auch in Amerika, das ich ziemlich gut kenne, unendlicher Schaden entstehen.“ Solche Aussichten spornten den US-Juristen letzten Endes aber nur an. Er plante seinen Prozeß als Gesetzgeber und führte ihn als Ankläger erfolgreich durch, indem eine Diskussion über die Kriegsursachen vor den Nürnberger Tribunalen schlicht verboten wurde. Es kam nichts von der Kriegspolitik der Westmächte, Polens oder der UdSSR „heraus“, da fast sämtliche Dokumente und Aussagen in dieser Richtung vom Gericht als irrelevant zurückgewiesen wurden. Vyšinskij sorgte mit dafür, daß in Nürnberg fast alles so reibungslos verlief wie in Moskau. Das Haifischbecken der europäischen Politik der Zwischenkriegszeit mutierte dort zum Karpfenteich, in dem sich ein einziger Hecht herumgetrieben hatte. Zu diesem Zweck sollte jetzt im November 1945 ein Verzeichnis von unerwünschten Themen produziert und miteinander abgestimmt werden. Vyšinskij brachte dabei nach Nürnberg mit, was nach den Vorstellungen der Sowjetunion nicht zur Sprache kommen sollte. Seine Liste bestand aus neun Punkten: 1. Das Verhältnis der UdSSR zum Versailler Vortrag. 2. Der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt von 1939 und alle Fragen, die irgendeine Beziehung dazu haben. 3. Molotovs Besuch in Berlin, Ribbentrops Besuche in Moskau. 4. Fragen, die mit dem gesellschaftspolitischen System der UdSSR zusammenhängen. 5. Die baltischen Sowjetrepubliken. 6. Die sowjetisch-deutsche Vereinbarung über den Austausch der deutschen Bevölkerung Lettlands, Litauens und Estlands mit Deutschland. 2
Zit. n. Jackson, Conference, S. 306.
I. Nürnberger Nachspiele
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7. Die Außenpolitik der Sowjetunion und, en detail die Themen der Meerengen und angeblicher territorialer Ansprüche der UdSSR. 8. Die Balkanfrage. 9. Sowjetisch-polnische Beziehungen (die Probleme Westukraine und Westbelorußland).3 Damit war praktisch die ganze sowjetische Kriegspolitik der letzten Jahre jeder Diskussion entzogen. Es ist zu sehen, daß es sich in wesentlichen Punkten um das handelt, was hier im folgenden besprochen werden wird: der Nichtangriffspakt von 1939, die Molotov-Besprechungen in Berlin, bei denen dieser Pakt von den Sowjets praktisch aufgekündigt wurde, die sowjetischen Ansprüche auf halb Europa einschließlich der türkischen Meerengen, die Balkanfragen, kurz: das Verhalten des sowjetischen Imperialismus in dem „großen Spiel“, das Vyšinskijs Chef Molotov 1940/41 spielte. Zweifellos gibt es Gründe, warum die Sowjets so darauf aus waren, darüber zu schweigen und diese Gründe werden hier sichtbar werden. Es gab aber auch Gründe, warum die Westmächte bereitwillig darauf eingingen. Der Nürnberger Prozeß zeigte sich hier ganz unverhüllt als politischer Prozeß der Siegermächte. Zuvor hatten die Nachforschungen im Besatzungsgebiet der Westmächte brisantes über die Geschichte im Hintergrund des Zweiten Weltkriegs ergeben, das von Wichtigkeit für jeden hätte sein müssen, der sich in diesem Zusammenhang für die juristische Wahrheit interessieren könnte. Auch diese Episode ist bezeichnend für die Methoden, mit denen im Umfeld des Prozesses gearbeitet wurde. Während der Recherchen im Vorfeld der Anklage erhielt Professor Karl Haushofer Ende September 1945 in seinem Haus in Bayern Besuch vom amerikanischen Geheimdienst OSS. Seine bekannten Theorien über Geopolitik und deren möglicher Einfluß auf die Außenpolitik des Dritten Reichs waren naturgemäß Gegenstand nachrichtendienstlichen Interesses geworden. Was bei diesem Verhör zutage kam und welche Folgen es hatte, wirft spiegelbildlich ein Licht auf die Arbeitsweise der politischen Justiz der Westmächte, wie es der Einsatz von Vyšinskij auf der Gegenseite tat. Haushofer wußte erstaunliches zu berichten, was zu den vermuteten deutschen Welteroberungsplänen gar nicht passen wollte. Beispielsweise habe Hitler der britischen Regierung 1941 einen umfassenden Friedensplan vorgelegt, den Haushofers Sohn Albrecht persönlich mit Samuel Hoare besprochen habe, dem englischen Botschafter in Spanien. Da3 Dem Beschluß entsprechend setzte sich der sowjetische Hauptankläger, General Rudenko, mit den Vertretern Englands (Maxwell-Fyfe), der USA (Jackson) und Frankreichs (Dubost) in Verbindung. Sie bestätigten das Verzeichnis, das noch „geordnet“ und präzisiert wurde, wobei Molotov über die sowjetischen Wünsche selbst entschied. Vgl. Bezymenskij, Überführen, S. 110.
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I. Nürnberger Nachspiele
bei sei der Rückzug aus Norwegen, Dänemark und Frankreich angeboten worden, teilte er seinen Gesprächspartnern mit.4 Dies und anderes konnte er durchaus auch dokumentarisch belegen. Haushofers Sammlung war umfangreich, und es wurde ein Lastwagen angefordert, um alles abtransportieren zu können. Darin entdeckte die OSS unter anderem ein persönliches Memorandum Albrecht Haushofers vom 5. Mai 1941, das sich mit Kontakten nach England und Möglichkeiten befasste, einen Frieden zwischen beiden Ländern zu den oben genannten Bedingungen zu vermitteln. Dies schickte man nach Washington, wo es am 14. Dezember 1945 aus der Sammlung Haushofer entnommen wurde – und verschwand.5 Bald darauf drohten die Ankläger dennoch einen Fehler zu begehen und ein Dokument vorzulegen, aus dem sich indirekt erschließen ließ, daß ihre ganze Version des Heß-Falls falsch war. Man kümmerte sich um ein Dementi. Zu Haushofers Unglück blieb trotz dieser Vorgänge um die Beweismittel sein persönliches Wissen unabhängig davon weiterhin erhalten und in der Diskussion. Dr. Alfred Seidl, der Verteidiger von Rudolf Heß und Hans Frank,6 beantragte seine Vernehmung als Zeuge der Verteidigung im Nürnberger Prozeß und konnte sie in der Nachmittagssitzung des Gerichtshofes am Donnerstag, den 7. März 1946 durchsetzen.7 Am Sonntag darauf, man schrieb mittlerweile den 10. März, erhielt Haushofer erneut Besuch, diesmal vom britischen Geheimdienst. Zwei Beamte suchten ihn auf und berichteten bald darauf an Ivone Kirkpatrick, einen hohen Beamten des britischen Außenministeriums, der mit dem Fall Hess betraut war, seit dieser 1941 in Schottland gelandet war: „Als Antwort auf ihre Instruktionen teilen wir Ihnen mit, daß das Problem, das mit diesem Mann und dem Internationalen Militärtribunal zusammenhängt, aus dem Weg geräumt wurde.“8 In der Tat waren diese beiden Beamten wohl die letzten, die Haushofer lebend gesehen haben. Zwei Tage später wurde er tot aufgefunden, man sprach von Selbstmord. 1. Am Ende war Barbarossa „Durch die vielen Versuche, das Hitlerregime ‚erklären‘ zu wollen, wird mir bewußt, daß ich ganz gegen meinen Willen gezwungen bin, es zu verteidigen oder zumindest den Anschein zu erwecken. Zum Beispiel sagt man mir: Die Nazis 4
Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 19. Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 20. 6 Anders als Martin Allen schreibt, war es nicht die Anklage, die dies beantragte. Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 21. 7 Vgl. IMT, VIII, S. 693. 8 Vgl. PRO, Kew. Doc. FO 371/60508, hier zit. n. Allen, Friedensfalle, S. 21. 5
1. Am Ende war Barbarossa
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wollen den Krieg. Ich antworte: Nein, sie haben Angst davor. Man sagt mir, sie seien Kapitalisten und Bourgeois. Ich antworte: Nein, sie wenden sich von allem ab, worauf Ihre stalinistischen Kommunisten sich seit kurzem stürzen. Man sagt mir, in sozialer Hinsicht hätten sie nichts Ernsthaftes gemacht, und ihr Sozialismus sei nichts anderes als Fassade. Ich antworte: Nein, ihr ‚Nationalismus‘ . . . ist für sie ein Propagandamittel, ein Mittel, die Rechten zu verführen und dem Ausland Angst zu machen; aber die dahinterstehenden Vorstellungen des Regimes sind der stärkste Staatssozialismus, der je erträumt wurde; nicht ein Bourgeois wird das überleben.“ Denis de Rougemont.9
Es ist unter deutschen Historikern umstritten, ob am Anfang der neueren deutschen Nationalgeschichte „das Reich“ oder „Napoleon“ die entscheidende historische Voraussetzung gewesen sei. Für das Ende kann dies nicht gelten. Am Ende war Barbarossa. Selten hat es für ein militärisches Unternehmen einen treffenderen Decknamen gegeben als die Gleichsetzung des deutschen Angriffs auf Rußland mit jenem Kreuzzug des deutschen Kaisers, dem es beschieden war, viele hundert Kilometer vor dem Ziel beim Baden ums Leben zu kommen. Der nach ihm benannte Feldzug scheiterte ähnlich vorzeitig und mit ihm erreichte der deutsche Nationalstaat als eigenständige Großmacht sein Ende. Als der einzige jemals geplante Blitzkrieg des Dritten Reichs diesen Ausgang nahm, bedeutete dies nicht nur das Scheitern des nationalsozialistischen Regimes, sondern in letzter Konsequenz das Aus für eine bestimmte Epoche Deutschlands, die 1870 begonnen hatte. Das letzte Stück auf dem Weg zu dieser Entscheidung für den Feldzug von 1941 von wird das Hauptthema dies Buchs sein. Dies ist einerseits ein viel beackertes Feld der Zeitgeschichtsforschung seit 1945. Dennoch hat sich gerade hier in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl neuer Aspekte ergeben. Das Gebäude, das die Geschichtsschreibung nicht zuletzt unter dem Eindruck der Vorgaben des Nürnberger Prozeßes nach 1945 zunächst aufgebaut hat, steht nicht mehr sicher. Zu viele Fakten konnten ermittelt werden, die beispielsweise den Angriffswillen der UdSSR für die Jahre 1939 und 1941 und die ensprechenden Planungen seit 1929 belegen.10 Um die Folgen für das Gesamtbild der Kriegsära zu ermessen, muß man sich etwa erinnern, daß bis in die Ära Gorbatschow in den 1980er Jahren hinein noch behauptet wurde, es habe das sowjetische Geheimabkommen mit Deutschland über die Teilung der Interessensphären von 1939 nicht gegeben, in der realsozialistischen Sphäre ohnehin, aber auch von interessierter Seite im Westen. Es wurde bestritten, daß Stalin je so machiavellistisch argumentiert 9
Zit. n. Rouguemont, Journal, S. 66. Vgl. u. a. Bogdan Musial: Wir werden den Kapitalismus am Kragen packen – Über Polen nach Deutschland, die lange Geschichte der sowjetischen Offensivplanungen, in: FAZ, 12. Januar 2006. 10
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haben könnte, wie es die Tagebücher Georgij Dimitroffs inzwischen gezeigt haben. Es wurde gesagt, die Rote Armee sei nicht auf den Krieg vorbereitet gewesen. Es wurde geleugnet, daß es je Offensivpläne gegen Deutschland gegeben habe. Dies alles ist Vergangenheit. Die Existenz des Teilungsabkommens wurde noch in der Ära Gorbatschow amtlich zugegeben, und es fanden sich Beweise für Stalins Kalkül, die anderen Mächte gegeneinander „aufzuhetzen“, wie er selbst dies nannte. Am Ende wurden tatsächlich die vom sowjetischen Generalstabschef Shukov ausgearbeiteten Angriffspläne zur Vernichtung der deutschen Wehrmacht und zum Marsch auf Breslau gefunden. In der Folge sahen sich die Verteidiger der These von der machtpolitischen Harmlosigkeit der UdSSR zu immer gewagteren Argumentationsstrategien gezwungen. Irrelevant sei der Angriffsplan des Generalstabschefs Shukov, und Stalin habe ihn zurückgewiesen, so argumentierte beispielsweise Gabriel Gorodetsky.11 Gorodetskys Buch über „die große Täuschung“, der Stalin über die deutschen Angriffsabsichten angeblich erlegen sei, zählt zu den Studien zum Thema „Barbarossa“, die Furore gemacht haben. Gorodetsky nähert sich der Auseinandersetzung der verschiedenen Mächte zwischen Sommer 1940 und Sommer 1941 an vielen Stellen unvoreingenommen und geht vor allem auf die Offenheit der Situation ein, in der Hitlers Entscheidung für den Angriffsbefehl keineswegs frühzeitig feststand, sondern sich aus der deutschsowjetischen Rivalität um bestimmbare realpolitische Ziele im Jahr 1941 ergab. Schon dies reichte aus, um seiner Studie die Eigenschaft zukommen zu lassen, „intellektuell aufregend“ (Le Monde) zu sein. Aus solchen Randbemerkungen geht hervor, wie sehr es mit den bisherigen Untersuchungen der akademischen Geschichtswissenschaften zu diesem Thema teilweise im argen lag. Die bloße Annahme eines Autors wie Ernst Topitsch, Stalin habe rationale Machtpolitik betrieben,12 wurde bereits als Provokation empfunden. Die Stufenpläne und Weltblitzkriegsphantasien, wie sie unter anderem von deutschen Historikern seit den 1960er Jahren ausgebreitet wurden, haben die historisch präzise Auseinandersetzung durch die Annahme einer ganzen Reihe von derartigen Vorhaben des deutschen Diktators erschwert, die das Geschehen nach ihrer Lesart bestimmt haben sollen. Dabei trat in den Hintergrund, daß Hitler die unterstellten fixen Pläne nicht empirisch nachgewiesen werden konnten und zudem, daß die internationale Politik stets eine nicht vorausehbare Entwicklung nimmt, innerhalb der eine Politikführung auf axiomatische Weise nicht möglich ist. Das galt für Hitler wie für seine Kontrahenten. Auch Stalin konnte so wenig wie die anderen Spieler auf der internationalen Bühne voraussehen, ob, wie und wann ein 11 12
Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 48. Vgl. Topitsch, Krieg, S. 19.
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Krieg die internationalen Beziehungen stören würde. In den zehn Jahren vor Kriegsausbruch hatte er eine unvergleichliche Rüstung bereitgestellt, um den günstigen Moment für eine Expansion des Sowjetsystem nicht zu verpassen, den ein solcher Krieg bieten würde. Damit trug er zur Destabilisierung der Situation bei und zur Schaffung eines Krieges. Alleinverantwortlich war die UdSSR dafür jedoch so wenig wie ein anderer Staat oder ein anderes politisches System. Zu einem Ereignis, das einen entscheidenden Punkt auf dem Weg zum deutsch-russischen Krieg markiert und der in einer Gesamtdarstellung der Vorgeschichte des deutschen Angriffs behandelt werden muß, will beispielweise Gabriel Gorodetsky ausdrücklich nicht viel sagen, geht dann aber doch kurz und auf denkwürdige Weise darauf ein. Gorodetsky verschweigt dem Leser Stalins Vorgabe an Molotov für dessen Verhandlungen in Berlin im November 1940, ganz Osteuropa jenseits der deutschen Grenzen zur russischen Einflußzone zu erklären, obwohl der schriftliche Beweis dieser Tatsache einer der wichtigsten Quellenfunde der letzten Jahre gewesen ist und Gorodetsky in einem Halbsatz erwähnt, daß er diese Instruktionen auch kennt. Seine Darstellung verschweigt die bei dieser Gelegenheit erklärte russische Absicht, Stützpunkte in Dänemark einzurichten oder Finnland noch einmal anzugreifen. Sie behauptet fälschlicherweise, die dort in Berlin verhandelte Rolle der türkischen Meerengen sei in deutschen Protokollen nicht erwähnt worden.13 Gorodetsky läßt dann eine nicht weniger unrichtige Darstellung folgen, in der die russische Absicht, neben Bulgarien auch in der Türkei eine Präsenz der Roten Armee zu etablieren, nicht vorkommt. Es sind solche Beobachtungen, die an der Fähigkeit zur Selbstkorrektur nicht nur der deutschen Geschichtswissenschaft begründete Zweifel aufkommen lassen. Diesem Phänomen begegnet man im Zusammenhang mit dem „Unternehmen Barbarossa“ immer wieder. Den Darstellungen der deutschen Geschichtswissenschaft zur Geschichte der Jahre 1940/41 ist im großen und ganzen gemeinsam, daß ihnen mindestens ein Axiom zugrunde liegt, das manchmal auch in mehrere aufgespalten ist. Es handelt sich um den angeblich „programmatisch“ festliegenden, „fixierten“ Plan Hitlers, im Osten einen Lebensraumkrieg zu führen. Das steigert sich gelegentlich bis zur Unterstellung eines geplanten „Weltblitzkriegs“ (Andreas Hillgruber),14 fällt manchmal aber auch zu einer gewissen Ironie ab, wie bei Wolfgang Michalka, der zwar ebenfalls ständig von programmatischen Ansätzen Hitlers spricht, aber „programmatisch“ gewissenhaft in Anführungszeichen setzt.15 13 Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 108, dagegen die Verhandlungen RibbentropMolotov in: ADAP, D, XI/1, Dok. 325, S. 52. 14 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 316 ff. 15 Vgl. Michalka, Ribbentrop, S. 296 f.
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Wenn Publikationen auftauchen, in denen diese Gedankenwelt in Frage gestellt wird, so wird häufig als erste Reaktion argumentiert, die Autoren hätten „keine einzige neue Quelle“ vorgelegt.16 Nun beruht diese Reaktion auf der entweder direkt ausgesprochenen oder stillschweigend vorausgesetzten Unterstellung, die bereits ausgewerteten Quellen würden belegen können, was bisher Mehrheitsmeinung war, so daß es „neue“ Quellen bräuchte, um diese Meinung in Frage zu stellen. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Auch die seit Jahrzehnten bekannten Dokumente haben immer eine andere Lesart der Ereignisse zugelassen, als sie sich in akademischen Forschungszirkeln, nicht zuletzt als Spätfolge politischer Inszenierungen wie des Nürnberger Prozesses etabliert hat. Um ein krasses Beispiel zu nennen: Die spätestens seit dem Nürnberger Prozeß öffentlich bekannte Erklärung des polnischen Botschafters in Berlin vom 31. August 1939, er hätte keinerlei Veranlassung, sich für deutsche Verhandlungsangebote zu interessieren, weil „die polnischen Truppen in Kürze auf Berlin marschieren“ würden,17 wird in keiner der üblicherweise herangezogenen Veröffentlichungen zum Thema erwähnt. Das Problem einer akademischen Geschichtswissenschaft, die solche Fehlleistungen über Jahrzehnte hinweg produziert18 und im Ergebnis zum Schlagwort eines deutschen „Überfalls“ auf den geplanten Berlinmarsch verdichtet,19 besteht nicht im Fehlen neuer Quellen. Sehen wir uns die zunächst die bekannten Quellen an, dann ist der Befund bereits eindrucksvoll. Bei genauem Hinsehen stellt sich ohne weiteres heraus, daß die Redewendungen eines „Stufenplans“ zur Eroberung der UdSSR, ein „Programm“ zur Eroberung der UdSSR oder gar eines „Weltblitzkriegs“ in überraschendem Ausmaß auf Mutmaßungen basieren. Dies wurde in einschlägigen Standardwerken gelegentlich ausdrücklich eingeräumt. Es gibt keinen „quellenmäßigen Beleg“ für die von ihm angenommenen „Stufenpläne“ Hitlers zur Erreichung der Weltherrschaft, schrieb etwa Andreas Hillgruber in „Hitlers Strategie“,20 was ihn nicht hinderte, 16 Als ein Beispiel für viele sei hier Bernd Bonwetsch genannt, vgl. Bonwetsch, Kriegsvorbereitungen, S. 172. 17 Vgl. IMT, IX, S. 529. Aussage von Birger Dahlerus. 18 Ein Musterbeispiel dafür ist Walther Hofer, in dessen hunderttausendfach aufgelegter „Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ die ganze Episode, bei der dem polnischen Botschafter die berühmten 16-Punkte-Forderungen der deutschen Regierung übergeben wurden, gar nicht vorkommt, und zwar auch dort nicht, wo er andere Darstellungen, wie die von A. J. P. Taylor ausdrücklich und ausführlich angreift, in denen sie erwähnt wird. Vgl. Hofer, Entfesselung, S. 419 ff. „Grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Buch von A. J. P. Taylor“. 19 So erneut die aus Anlaß des siebzigjährigen Wiederkehr des Kriegsbeginns publizierte Studie von Jochen Böhler aus dem Deutschen Historischen Institut in Warschau: „Der Überfall“. Auch Böhler widmet den polnischen Ambitionen auf einen Marsch nach Berlin keine Zeile. Vgl. Böhler, Überfall, passim.
1. Am Ende war Barbarossa
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diese nicht nachweisbaren Stufenpläne zum Leitmotiv seiner Habilitationsschrift zu machen. Hitler hat zu keinem Zeitpunkt seiner Regierungszeit ausdrücklich davon gesprochen, Lebensraum in Rußland erobern zu wollen, weder öffentlich noch geheim, räumte auch Jürgen Förster in der Darstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamts zum Angriff auf Rußland ein.21 Der Lebensraum-Begriff blieb nebulös, wo er nicht das von Hitler tatsächlich proklamierte Ziel einer großdeutschen Einheit inklusive „Böhmens und Mährens“ meinte,22 ergänzt durch eine Einflußsphäre im östlichen Mitteleuropa und abgefedert durch die angestrebte Bundesgenossenschaft mit Polen und Ungarn, wenn sich das ursprüngliche Ziel eines englisch-deutschen Bündnisses nicht verwirklichen ließ.23 Das „Unternehmen Barbarossa“ als Eroberungsfeldzug für Lebenraum kommt in dieser Gedankenwelt nicht vor, im Gegenteil nimmt dort ab 1935/36 die Furcht vor einem sowjetischen Angriff mit der umfassenden, seit 1929 im Aufbau befindlichen Rüstung zu. Der heiße Krieg ist eine Extremform der staatlichen Auseinandersetzung, die auf anderen Ebenen jederzeit in Gang ist. Er zwingt auf vielen Ebenen zu einer Änderung in den angewandten Methoden. Es ist ein Mangel zahlreicher Veröffentlichungen, diesen Aspekt zu wenig beachtet zu haben. Franklin D. Roosevelts Außenpolitik läßt sich beispielsweise nicht erschöpfend darstellen, ohne die umfangreichen Geheimdienstoperationen zu berücksichtigen, zu denen er während der Kriegsjahre gegriffen hat, nach dem amerikanischen Kriegseintritt und vorher. Dennoch ist dies lange Zeit versucht worden. So etwa von Robert Dallek, dessen Studie über „Franklin Delano Roosevelt and American Foreign Policy“ als Standardwerk galt und gilt, aber den von Roosevelt gerade in den europäischen Affären immer wieder eingesetzten OSS- und CIA-„Vater“ William Donovan nur in einem einzigen Halbsatz erwähnt. Folgerichtig weiß Dallek über den amerikanischen Anteil an den Ereignissen, die zum Balkankrieg des Jahres 1941 führten, kaum ein Wort zu sagen. Die Methoden, mit denen die beiden angelsächsischen Mächte und die UdSSR für eine Eskalation des Krieges in 20
Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 37. Vgl. Förster, Entscheidung, S. 16 bzw. S. 18 ff. 22 Vgl. ADAP, Serie D, Bd. I, Dok., S. 30. 23 Hitler erklärte ein solches Konzept im Januar 1939 dem ungarischen Außenminister Graf Czaky, als er von einigen Jahren der Ruhe sprach, nachdem mit dem Anschluß Österreichs und dem Münchener Abkommen die größten Probleme gelöst seien: „Man müsse eine politisch – territoriale Linie anstreben und Polen und Ungarn müßten partizipieren . . . . Er sähe alles ruhig und erfolgversprechend an unter der Bedingung des absoluten Zusammenspiels allerdings. Man müsse wie eine Fußballmannschaft zusammenarbeiten, Polen, Ungarn und Deutschland, möglichst ökonomisch, ohne Krisen und blitzartig.“ Zit. n. ADAP, Serie D, Bd. V, Dok. 273, S. 304. 21
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diesem Bereich sorgten, müssen jedoch auch auf dieser Ebene nachvollzogen werden. Erst unter Einbeziehung dieser Perpektive wird die Entwicklung zum „Ende“, die Entscheidung zum deutschen Angriff auf die UdSSR, nachvollziehbar. 2. Das Spiel mit der Macht „Wenn wir für uns selbst täten, was wir für unser Land tun, was für Lumpen wären wir!“ Graf Camillo di Cavour24
Wie in den beiden Vorgängerbänden werde ich bei der Darstellung der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen „Mächten“ so weit wie möglich auf moralische Bewertungen verzichten. Das hat schon bisher zu gelegentlichen Irritationen geführt, die wohl nicht zuletzt daher rühren, daß Geschichtsdarstellungen heute meist stillschweigend von zwei Voraussetzungen ausgehen, die sich beim Blick auf die zeitgenössischen Quellen als äußerst merkwürdig herausstellen: Zum einen wird eine wichtige Rolle der Moral vorausgesetzt. Das gilt etwa unter dem Aspekt, der „Friede“ sei für einen jeweils anders gewählten Teilausschnitt der wichtigen Entscheidungsträger der Zeit ein Wert an sich gewesen, während die anderen Kriegspolitik betrieben hätten und daher moralisch verwerflich handelten. Über diese Annahme wird dann die „Kriegsschuld“ verteilt, wie dies der Nürnberger Prozeß tat, der unter Berufung auf den Briand-Kellogg-Pakt bereits jede Kriegsbereitschaft als Verstoß gegen internationales Recht wertete. Diese Kriegsbereitschaft lag allerdings in den Jahren 1938–1941 an vielen Stellen vor. Stalin ebenso wie Hitler, Churchill, Beck, Mussolini oder Roosevelt scheuten sich nicht, politische Zwecke mit militärischen Mitteln zu erreichen – und sie wußten, daß auch die anderen diese Scheu nicht kannten. Daraus folgt nicht, der Einsatz militärischer Gewalt sei von ihnen als Selbstzweck betrachtet worden.25 Die Schwierigkeiten der Kriegsführung zwischen mehr oder weniger industrialisierten Massengesellschaften mit all den dabei zwingend zu beachtenden wirtschaftlichen und psychologischen Variablen waren bekannt, verhinderten die Auseinandersetzung aber dennoch nicht, so wenig wie die formaljuristischen Hindernisse des Briand-Kellogg-Pakts. Zum anderen wird den Beteiligten von der Geschichtsschreibung nicht selten ein Vorauswissen um die Dinge unterstellt, das die Offenheit des Ge24
Zit. n. Ingrimm, Auflösung, S. 7. Das trifft am ehesten wohl noch auf Mussolini zu. Er hat als Begründung für den Kriegseintritt von 1940 unter anderem behauptet, der von Frankreich angebotene „blutlose“ Gewinn wäre politisch schädlich gewesen, und er habe Tote „gebraucht“. 25
2. Das Spiel mit der Macht
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schichtsprozesses und der damaligen Situation nicht mehr recht erfassen kann. Die häufig, wenn auch mit verschiedener Betonung vorgebrachte These, bei den krieggerischen Handlungen nach 1939 handele es sich beispielsweise um „Hitlers Krieg“, „Stalins Krieg“ oder „Roosevelts Krieg“ unterstellt, jeder der Genannten habe langfristige „axiomatische“ Pläne verfolgt. Dies ist insbesondere im Bereich der Hitlerfixierten Kriegsentfesselungsthesen ein viel geübter argumentativer Fehler, mit dem über weite Strecken das Nichtvorhandensein von Belegen kompensiert wird. Der Ablauf des Geschehens der Jahre bis 1939 läßt sich viel eher als Entstehung eines Zufallskriegs charakterisieren, in dem ein Netz von Fehleinschätzungen und Intrigen jene Entwicklung zum verstärkten Einfluß der Flügelmächte auf die europäische Politik beschleunigte, die es im Grundsatz bereits seit langem gab. Allerdings nahm der Einfluß von politischen Zufällen ab, als der heiße Krieg ausgebrochen war und kompromißlos geführt wurde. Dies ist ein Punkt, der betont werden muß. Denn soweit hier von Machtpolitik gesprochen wird, muß berücksichtigt werden, daß sich die Methoden dieser Politik wandeln, wenn sie im Krieg betrieben wird. Dies ist keine Absage an die Clausewitzsche Ansicht, der Krieg sei eine Sonderform der politischen Auseinandersetzung mit anderen Mitteln, wohl aber eine Anerkennung der besonderen Schwierigkeiten, die Politik in Kriegszeiten auszeichnet. Allein schon, daß der Kontakt zwischen kriegführenden Regierungen abbricht, ja daß der Abbruch offizieller Verbindungen und der „diplomatischen Beziehungen“ oft das erste Anzeichen für den Beginn grundlegender Konflikte darstellt, zeigt, wie wichtig dieser Punkt ist. Diesem Umstand widmete Clausewitz wenig Aufmerksamkeit. Auch wenn er „Vom Kriege“ in einem Zeitalter der Revolutionskriege und der Napoleonischen Eroberungszüge schrieb, zog er den bewußt kompromißlosen Krieg bis zur Vernichtung, wie er bis 1945 gegen Deutschland geführt wurde, nicht in Betracht. Clausewitz ging von einer Annahme aus, die er nicht näher begründete und die im Widerspruch zu seinen vorherigen Ausführungen stand. Nachdem er eine unvermeidliche „dreifache Wechselwirkung“ zwischen den Kriegsparteien festgestellt hatte, die den Krieg im Hinblick der eingesetzten Mittel und Methoden zwangsläufig „bis zum Äußersten“ steigern würde, kam er zum Schluß, dieses „Gesetz des Äußersten hatte diesen (politischen) Zweck des Krieges bisher gewissermaßen verschlungen. Sowie dieses Gesetz in seiner Kraft nachläßt, muß der politische Zweck des Krieges wieder hervortreten.“26 Er gab jedoch keinen Grund an, warum das Gesetz des Äußersten in seiner Wirkung in einer späteren Phase des Krieges wieder schwächer werden sollte. Der Zweite Weltkrieg ist ein Beispiel dafür, daß dies keineswegs der Fall sein muß. Die Annahme von 26
Vgl. Clausewitz, Vom Kriege, S. 35.
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I. Nürnberger Nachspiele
Clausewitz stellte einen logischen Bruch in seiner Argumentation dar und setzte die Existenz von Konventionen voraus, die nicht zwangsläufig vorhanden sein müssen. Krieg kann bis hin zur Ausrottung des Gegners archaisch werden, das ist ein Vorgang, der in den biblischen Überlieferungen mehrfach beschrieben und auch sonst historisch bezeugt ist. Selbst wenn die Entwicklung hin zu physischen Vernichtungsabsichten ausbleibt, begünstigt die steigende Zahl der von beiden Seiten gebrachten Opfer gerade in Zeiten der Massengesellschaft den Eindruck, dies dürfe „nicht umsonst gewesen“ sein und beschränkt damit tendenziell die Möglichkeit der Kompromißfindung. Clausewitz überbrückte diesen Widerspruch in seinem Gedankengang später durch einen neuen Begriff, den „wirklichen Krieg“. Dieser wirkliche Krieg sei „kein so konsequentes, auf das Äußerste gerichtete Bestreben, wie er nach seinem Begriff sein sollte, sondern ein Halbding, ein Widerspruch in sich.“27 Er orientierte sich hier an zeitgenössischen Vorbildern. Das revolutionäre Frankreich hatte immer wieder eine gemeinsame Basis für Verhandlungen mit den Alten Regimen in seiner Umgebung gefunden. Napoleon waren von den Alliierten zahlreiche Angebote gemacht worden, und noch nach der Völkerschlacht bei Leipzig wäre es ihm im Jahr 1813 wohl möglich gewesen, auf dem Verhandlungsweg seinen Thron und die Rheingrenze für Frankreich zu retten. Der „wirkliche Krieg“ war hier Wirklichkeit, was allerdings an dem auch von Clausewitz konstatierten Umstand nichts ändern konnte, daß er eben ein Widerspruch in sich war und die Theorie des Krieges hier an prinzipielle Grenzen stieß. Für Kriegsparteien ist es stets schwer, an den Verhandlungstisch zurückzukehren oder auch nur öffentlich die Bereitschaft dafür anzudeuten. „Zeichen der Schwäche“ und Bereitschaft zum Nachgeben können das Gegenteil dessen erzeugen, was beabsichtigt ist, insbesondere eine Eskalation des Krieges bewirken, weil ein Schwächezeichen der einen Partei immer die Option für den Gegner öffnet, diese Schwäche mit einer militärischen Operation weiter zu vertiefen. Daher hat es 1940/41 nur wenige offizielle Kontakte zwischen aktuellen und potentiellen Kontrahenten gegeben. Mit Hitlers Friedensappell an England, gegeben vor dem Reichstag im Juli 1940, endete die offene Phase der politischen Auseinandersetzung auf dieser Ebene. Viele Historiker sind dazu verführt worden, diese Oberfläche für das Ganze zu halten. Die despektierlichen Bemerkungen über den Inhalt des von Deutschlands Diktator öffentlich formulierten Angebots füllen die Bände. Auch hier war allerdings der laut verkündete Appell selbst nicht unbedingt das wesentliche Ereignis. Seine Bedeutung bestand in der implizit damit verbundenen Ankündigung, daß es ein konkretes und substantielles Angebot auf anderen Wegen geben würde.28 27
Ebd. Clausewitz, Vom Kriege, S. 684.
2. Das Spiel mit der Macht
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Es war jetzt Krieg, nachdem diese Verhandlungsphase vorüber ging. Dies ändert die Ebene der Darstellung einer Diplomatiegeschichte dieser Zeit nach dem Sommer 1940. Im Krieg sind wie gesagt die diplomatischen Kommunikationskanäle der Beteiligten abgeschnitten. Die formellen Beziehungen sind unterbrochen, die Botschaften geschlossen, jedes Treffen steht unter dem direkten Einfluß der Kriegssituation oder wird mit Blick auf mögliche ungünstige Rückwirkungen gleich ganz vermieden. Das Spiel um solche Kontakte ist Teil des Krieges selbst.29 Klarer als in allen offiziellen Beteuerungen lassen sich am Auftreten oder Zurückdrängen des Friedenswillens die Motive ablesen, die eine Regierung tatsächlich in den Krieg geführt haben, beziehungsweise aktuell das Motiv bilden, den Krieg weiter zu führen. Denn Kriegsziele können sich je nach militärischer Lage ändern. So ist der Versuch, den jeweils anderen zu ausgesprochenen Angeboten zu bewegen, auch ein Versuch, dessen Stimmung zu erkunden und seine Selbsteinschätzung offen zu legen. Es besteht, um dies mit unserem Thema zu verbinden, kaum ein Zweifel, daß die zahlreichen deutschen Versuche, zwischen 1939 und 1941 einen Kontakt zum Zweck von Friedensgesprächen herbeizuführen, von den Gegnern Deutschlands als Ausdruck andauernder Schwäche begriffen wurden. Neben der inneren Brüchigkeit des deutschen Regimes, die sich in zahlreichen Konspirationsversuchen hoher und höchster Beamter und Militärs mit dem Ausland anschaulich zeigte, lag hier ein weiterer politischer Grund dafür vor, warum sich am Ziel der alliierten Kriegsführung trotz aller bis dahin und auch im Jahr 1940/41 noch erlittenen militärischen Rückschläge wenig änderte, dem Ziel der vollständigen und kompromißlosen deutschen Niederlage. Die Anwendung der Kunst, einen Friedensversuch vorzutragen, beeinflußt auch die Bevölkerungen. Eine öffentliche Bitte um Frieden, wie sie von deutscher Seite 1939 und 1940 mehrfach vorgetragen und von der englischen Regierung zurückgewiesen wurde, bereichert daher das Spiel um eine weitere Facette. Wer um Frieden bittet und abgewiesen wird, hat öffentlich die doppelte Demütigung erfahren, Schwäche gezeigt zu haben und dennoch zurückgewiesen worden zu sein. Dies kann die Moral der Bevölkerung untergraben, denn auch wenn die eigene Regierung im Recht zu sein scheint – was nicht sicher ist – so ist doch offensichtlich geworden, daß der Gegner sich von der weiteren Kriegsführung einen Vorteil verspricht und 28 Zu Inhalt und Übermittlung des Angebots vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 486 ff. 29 Und entsprechend schwer zu rekonstruieren, auch weil die veröffentlichten Quellen sich regelmäßig über bedeutende Teile der Vorgänge ausschweigen. Das Tagebuch des britischen Unterstaatssekretärs Alexander Cadogan wurde etwa von zahlreichen Einträgen über Geheimdienstoperationen politischer Zielsetzung befreit. Vgl. Costello, Days, S. 415 f.
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daß das Recht in Zeiten des Krieges dazu tendiert, eine schwächere Kategorie zu sein als der Sieg.30 Aus dieser Einsicht resultierten denn auch die deutlichen Drohungen, mit denen die nationalsozialistische Regierung ihre mit den Friedensangeboten offensichtlich gewordene Schwäche gleichzeitig zu überspielen versuchte. An den entscheidenden Stellen konnte dies letztlich niemanden täuschen, wie etwa der offene Hohn des sowjetischen Außenministers über die beim Berliner Gipfelgespräch vorgeschobene Zuversicht Hitlers zeigte.31 Aus solchen Gründen wird der Schritt in die Öffentlichkeit von Kriegsparteien weitgehend vermieden, zumal Details eines Friedensschlusses immer kompliziert sind und öffentliche Vorträge also eher das Signal der Verhandlungsbereitschaft darstellen können, als die Verhandlung selbst einläuten. Dies führt direkt ins Problem der Kommunikation. Treffen von Regierungschefs oder auf Ministerebene gibt es zwischen Kriegsparteien in einem heißen Krieg nicht. Wenn verhandelt wird, dann auf Umwegen über das neutrale Ausland und über Vermittler, denen als wichtigste Eigenschaft meistens die der Anonymität zukommt. Dies dient nicht dazu, das wechselseitige Vertrauen zu erhöhen, es erschwert statt dessen bereits aus technischen Gründen die Kontaktaufnahme. Von Deutschland aus hat es in der Frühphase des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Versuche gegeben, diese Schwierigkeiten zu überbrücken. Sie gipfelten im Englandflug von Rudolf Heß, den man aus diesem Blickwinkel als einen verzweifelten Schritt deuten kann, die Regierung Churchill nach zahlreichen gescheiterten geheimen Friedenskontakten unter Druck zu setzen. Man kann sagen, daß diese Bemühungen lediglich insofern erfolgreich waren, als es gelang, die deutschen Friedensvorstellungen in höchste britische Regierungskreise zu übermitteln. Eine wirkliche Resonanz fanden sie nicht. Gegenvorschläge, wie sie Heß persönlich in Erfahrung bringen wollte, blieben aus. Das Problem des Friedensschlusses ist nicht neu. Es gab Kriege des Mittelalters wie den Hundertjährigen zwischen Frankreich und England, die nach mehreren Generationen der Auseinandersetzung und zahlreichen gescheiterten Friedensplänen einfach aufhörten, ohne jemals einen formellen Abschluß zu finden. Andere zogen sich über bereits angelaufenen Friedensverhandlungen noch lange Jahre hin, wie es beispielsweise der Dreißigjäh30
Daß Krieg regelmäßig nicht geführt wird, um Recht zu behalten, sondern mittels einem Sieg politische Ziele zu erzwingen, ist etwas in Vergessenheit geraten. Eine Episode zeigt ein anderes Bild. Am 16. Januar 1918 empfing die amerikanische Botschaft ein Telegramm aus Washington, den Vordruck der Rede des Präsidenten Wilson vom 22.1.1918. Als am Ende der Satz kam: „Es muß ein Frieden ohne Sieg sein“, schien dies den Botschaftsangehörigen „sinnlos“. Man verlangte eine Wiederholung. Vgl. Hentig, Friedensschluß, S. 80. 31 Zit. n. ADAP, D, XI/1, Dok. 329, S. 478.
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rige Krieg in Deutschland tat. Das Ende des sogenannten „Zweiten Weltkriegs“ weist gewisse Parallelen zum Hundertjährigen auf, denn auch in diesem Fall sollte es keinen formaljuristischen Abschluß geben. Zwar wurden die Kampfhandlungen noch symbolisch auf höchster militärischer Ebene eingestellt. Die siegreiche Partei verweigerte den Unterlegenen jedoch konsequent jede politische Verhandlung, schloß auch untereinander keinen förmlichen Vertrag über das Kriegsergebnis32 und konservierte den Kriegszustand sogar formell, indem die Besiegten in der Satzung der Vereinten Nationen auf unbestimmte Zeit zu „Feindstaaten“ deklariert und dem Schutz der Charta entzogen wurden. Auch 1989 blieb in gewisser Weise weiter offen, welches juristische Ende der Weltkrieg eigentlich genommen hatte. Der 2+4 Vertrag über Deutschland stellte keinen Friedensvertrag dar. Am Anfang dieses Prozesses stand am 3. September 1939 eine merkwürdige westalliierte „Kriegserklärung ohne Krieg“. Es herrschte damit formell der Kriegsstand, was im zwanzigsten Jahrhundert unter faktisch kriegsführenden Parteien nicht selbstverständlich ist, sondern im Gegenteil beinah ungewöhnlich. Die Schwierigkeiten der Staatsführungen, im zwanzigsten Jahrhundert noch Frieden zu schließen, führten dazu, daß der juristische Kriegsbegriff zunehmend vermieden wurde. Deutschland hatte Polen im September 1939 ohne Kriegserklärung angegriffen, die UdSSR Mitte August des gleichen Jahres ohne Kriegserklärung eine japanische Armee vernichtet. Japan seinerseits verheerte nun schon seit zwei Jahren mit aller Macht China – ohne Kriegserklärung. Noch im September wird die UdSSR ihrerseits in Polen einmarschieren, im Winter Finnland angreifen, im Sommer 1940 die baltischen Staaten besetzen – ohne Kriegserklärung. 1925 hatte Italien das griechische Korfu beschossen – ohne Kriegserklärung und 1935 war Mussolini in Äthiopien einmarschiert – ohne Kriegserklärung.33 Die von Präsident Roosevelt angekündigten Maßnahmen „kurz vor der Schwelle des Krieges“ kamen 1941 bereits an vielen Stellen de facto einem Krieg ohne Kriegserklärung gleich. Die Liste ließe sich fast endlos fortsetzen (Zypern, Bosnien, Kuwait usw.). Der Grund dafür dürfte, neben der verbreiteten Gewohnheit dieses Jahrhunderts, die Dinge lieber hinter einem euphemistischen Neusprech Orwellschen Zuschnitts zu verstecken als sie beim Namen zu nennen, vor allem in den mit einer formellen Kriegserklärung verbundenen Problemen liegen, die man in der stärkeren Eigendynamik eines juristischen „Krieges“ 32 Das „Potsdamer Abkommen“, das die meisten Angelegenheiten in bezug auf Deutschland regeln sollte, ist kein Vertrag, sondern eine Sammlung von Regierungsabmachungen, die weder von den nationalen Parlamenten ratifiziert noch von Deutschland als Rechtsgrundlage anerkannt wurde. 33 Vgl. Scheil, Logik, S. 228.
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gegenüber einer irgendwie anders bemäntelten Kampfhandlung zu suchen hat. Ein Friedensschluß war schon immer eine juristisch und politisch so komplizierte Sache, daß sich scheinbar kleine Auseinandersetzungen unerwartet über Jahrzehnte hinziehen konnten und außerdem eine starke Neigung zur Eskalation in sich hatten. Man wird sagen können, daß sich in dieser Entwicklung zwei Dinge überlagerten. Einmal die traditionellen Schwierigkeiten, die jeden militärischen Konflikt so schwer beendbar machen, zum anderen aber die besondere Problematik vor allem der westlichen Staaten, dem Phänomen Deutschland gerecht werden zu können. Carl J. Burckhardt beschrieb diese westliche Haltung in den 1920er Jahren eindrucksvoll: „Alles starrt immer auf Deutschland, als ob alle Entscheidung von dort kommen würde, alle Gefahr dort ihren Ursprung habe, hinter diesem faszinierenden, Schrecken, Zorn oder Anbiederungsversuche auslösenden Phänomen Deutschland wird man nicht gewahr, was hinter dem Vorhang der deutschen Grenzen gespielt wird. . . . Man starrt fasziniert auf dieses kleine Mitteleuropa, reizt die am tiefsten durch den Kriegsausgang enttäuschten Deutschen, die längst keine Großmacht mehr sind, wenn sie überhaupt jemals eine waren, man reizt sie durch Mißtrauen und mesquine Behandlung, bis all ihr Drang zum Übertreiben, zum Durchschlagen, zum harten Ende wieder losbrechen wird. Dabei wäre es so leicht, die jetzigen gemäßigten Regierungen dieses Landes durch generöses Entgegenkommen zu kräftigen. Aber man kompromittiert sie, eine nach der anderen wird man innenpolitisch unmöglich machen, bis dann nur noch der blinde Zorn und die jeder Demagogie zugängliche deutsche Urteilslosigkeit übrig sind und einen Rausch bewirken, den dann der Westen für die Weltgefahr an sich, für eine äußerste Bedrohung halten wird, während doch die Bedrohung in Wirklichkeit, sich hinter der deutschen Fassade, zwischen Baltikum und Stillem Ozean vorbereitet, in einem räumlichen Ausmaß, das die Menschheit noch nie gesehen hat. . . . Rußland, als Zentrum einer Heilslehre, gewinnt Kräfte wie einst die durch Mohammed entflammte arabische Welt. Es handelt sich darum, mit dem größten Machtgenerator zu rechnen, dem wir bisher begegnet sind; es handelt sich dagegen nicht darum, akademische oder sentimentale Betrachtungen über Wert oder Unwert des Bolschewismus anzustellen, das gehört nicht in die außenpolitische Aufgabe. Der Bolschewismus ist eine der vielen Formen, die der Sozialismus annehmen kann, eine unendlich wirksamere Form als jene, deren Entstehen auf halbem Wege erkaltete. In einer sozialistischen Ära leben wir alle, auf diesem Gebiet gibt es nur Gradunterschiede. Somit kann das russische Phänomen sich gar nicht mehr als theoretisches Problem entscheiden lassen, entschieden ist es, es ist die größte Realität unseres Zeitalters, und als solche kann es uns nur interessieren, insofern als diese Realität einem mit allen Mitteln zur Weltherrschaft strebenden Staat unvorstellbare Kräfte zuführt.“34 34 Carl J. Burckhardt in einem Brief an Hugo v. Hofmannsthal am 12. November 1925, hier zit. n. Sommer, Memorandum, S. 191 f.
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Die völlig unterschiedliche Haltung des Westens gegenüber den Phänomenen „Deutschland“ und „Sowjetunion“ hat Burckhardt hier treffend beschrieben. Ungeachtet ihrer weltrevolutionären Dynamik und ihrer Menschheitsverbrechen galt die UdSSR dem Westen immer wieder als dialogfähiger Partner, anders als Deutschland und auf eine gewisse Weise bereits anders als das vor-nationalsozialistische Deutschland. Zwei Dinge wird man daher in der Kriegsphase 1940/41 bereits angelegt finden, sowohl die oben angesprochenen Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme zu Friedenszwecken als auch das letztlich ungelöste Problem um die Entwicklung von akzeptablen Kriterien beispielsweise für einen deutsch-englischen Kompromiß. Die Rollen sind dabei verteilt. „Hitlers Strategie“ bestand in dieser Zeit nicht in Eroberungsplänen für „Lebensräume“ oder „Weltblitzkriege“, sondern im vielfach wiederholten Versuch, den 1939 ausgebrochenen Krieg zu beenden. Wie politisch bedenklich solche Friedenskontakte tatsächlich sein können, zeigte sich in diesem Fall besonders deutlich, denn auf der anderen Seite stand die ausgesprochene Absicht Winston Churchills, den Krieg weiter zu eskalieren. Der englische Premier und seine Umgebung konnten sich von der Fixierung auf das Feindbild Deutschland nicht lösen. Statt auf eine Begrenzung und Erstickung des Konflikts, seine Rückführung auf eine „kalte“ Kontroverse, wie sie nach 1945 zwischen dem Westen und dem realsozialistischen Block stattfand, setzten sie auf seine Ausweitung und wurden bei der Wahl der Mittel, dieses Ziel zu erreichen, zunehmend skrupelloser. Interessant an dieser Entwicklung ist nicht zuletzt die damit verbundene Ignoranz gegenüber den Verhältnissen in Osteuropa. Verbunden mit der Feindschaft gegenüber Deutschland traten die Absichten der UdSSR im Bewußtsein der englischen Führung offenbar weit zurück. Man hielt sich für fähig, die sowjetische Politik manipulieren zu können, ohne wirklich abschätzen zu müssen, welche Mittel der UdSSR tatsächlich zur Verfügung standen und was mit einem solchen Kurs letztlich erreicht werden könnte. Selbst dem dafür verantwortlichen Minister Hugh Dalton wurde dies schließlich zu viel. Als in London offen darüber diskutiert wurde, der Krieg sei für England nur zu gewinnen, wenn er zu einem Weltkrieg würde, schrieb er im Februar 1941 an den Außenminister Eden, „er sei nicht sicher, daß es mein Gewissen erlaubt, mich daran zu beteiligen.“35 Allerdings leitete Dalton dennoch wenig später die Vorbereitungen, die zum Putsch in Jugoslawien und zum Balkankrieg führten. Auch weiterhin wird dies im folgenden eine Darstellung sein, die sich auf Europa konzentriert und insbesondere Japan nur am Rand erwähnt. Dies ist, wie bereits früher gesagt, dadurch gerechtfertigt, daß die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Wechselwirkungen beider Räume 35
Vgl. PRO, Kew., Doc. FO 898/306, Dalton an Eden vom 28. Februar 1941.
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I. Nürnberger Nachspiele
für den Gang der Dinge nicht entscheidend waren. Japans schwankende Außenpolitik, die stets den jeweiligen Ergebnissen des internen Dauerkonflikts zwischen den japanischen Teilstreitkräften folgte, neigte zunächst zu einem Abkommen mit den Achsenmächten, schloß tatsächlich den Dreimächtepakt, dann aber auch den Neutralitätsvertrag mit der UdSSR. Damit schlug das Land endgültig die Möglichkeit aus, im innereuropäischen Konflikt Partei ergreifen. Die Chance, sich am Krieg gegen die UdSSR zu beteiligen, blieb ungenutzt, „was immer sie wert gewesen wäre.“36 Japan wählte den Krieg gegen die USA, eine Entscheidung, die aus grundsätzlichen wirtschaftlichen Motiven nachvollziehbar und von der aktuellen Politik der Regierung Roosevelt ebenso mit provoziert wurde, wie von dem scheinbaren und später gebrochenen sowjetischen Versprechen vom Frühjahr 1941, in einem solchen Krieg neutral zu blieben. Zugleich war dies eine hoch symbolische Entscheidung, denn gerade der nach Ostasien ausgreifende amerikanische Imperialismus hatte Japan schließlich Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Weg der Industrialisierung und des Fortschritts westlicher Prägung gezwungen. Die ursprünglich zur kulturellen Selbstbehauptung entwickelte Technik mußte nun ihren Test bestehen und verlor ihn. Japan blieb ein einsames Land, dessen Verhalten nur in einer kurzen Phase auf die europäische Politik Einfluß nehmen konnte. Die folgende Darstellung geht auch deswegen von folgenden Annahmen aus: 1. Die Phase zwischen Sommer 1940 und Sommer 1941 läßt sich als Weiterentwicklung der seit Frühjahr 1939 massiv zu beobachtenden Tendenz verstehen, die den beiden Weltmächten USA und UdSSR aufgrund ihres machtpolitischen Gewichts und wegen der ungelösten Spannungen innerhalb Europas immer mehr Einfluß zukommen ließ. 2. Deutschland scheiterte im Sommer 1940 einmal mehr mit dem Versuch, den Krieg mit einem innereuropäischen Frieden zu beenden. 3. Danach gab es den Versuch, einen solchen Frieden zu erzwingen, zugleich mit einer militärischen Demonstration gegenüber England, weiteren Friedensangeboten und indirektem politischen Druck. 4. Auch dies scheiterte. Frieden in Europa hätte es danach nur geben können, wenn wenigstens eine der großen Mächte bereit gewesen wäre, ihn zu stützen. 5. Keine der großen Mächte USA und UdSSR war jedoch bereit, einen solchen Frieden zu stützen. 6. Die UdSSR zielte auf Verlängerung des Krieges und Ausweitung ihrer Einflußzone, wie dies in den Instruktionen Stalins für Molotovs Berlinreise sehr deutlich wird. 36
Vgl. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 235.
2. Das Spiel mit der Macht
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7. Die USA machten klar, daß sie ganz Europa als ihre Einflußzone betrachteten und nicht bereit waren, einer von den anderen Mächten etablierten Einteilung in Interessenzonen zuzustimmen. 8. Die Politik Großbritanniens zielte in dieser Zeit auf Ausweitung des Krieges auf dem Balkan und darauf, daß russisch-deutsche Spannungen entstehen würden. Die Befürworter eines Kompromißfriedens in der Regierung konnten sich nicht durchsetzen. 9. Der deutsche Angriff auf die UdSSR im Juni 1941 ist die Folge militärstrategischer Zwänge gewesen, die sich aus den gescheiterten Versuchen ergaben, die weitere Eskalation des Kriegs zu verhindern. Er war prinzipieller Ausdruck machtpolitischer Schwäche und die letzte Option, England zum Frieden zu zwingen. Andernfalls sei „sowieso alles verloren“, wie Hitler zugab. Dazu gesellten sich als Motive die sowjetische Balkanpolitik einschließlich der akuten militärischen Bedrohung durch die Rote Armee. Dieser Konflikt wurde von der UdSSR erwartet und im Prinzip mit einkalkuliert.
II. Europa in Brand stecken 1. Winston Churchills Strategie Mit dem Juli 1940, an dessen letztem Tag Harold Nicolson in sein Tagebuch geschrieben hatte, die größte Stunde Englands sei jetzt vorbei, ging auch die kurze Zeit des „letzten europäischen Krieges“ zu Ende, die später als Frühphase des Zweiten Weltkriegs oft in einer eher untergeordneten Rolle ins Geschichtsbild über diesen Krieg eingeordnet wurde.1 Es gab an ihrem Ende keine Friedensordnung, die von den europäischen Staaten untereinander ausgehandelt worden wäre. Es gab überhaupt keinen Frieden. Statt dessen war der Weg zu jener weiteren Eskalation vorgezeichnet, die ein Jahr später zum deutsch-russischen Krieg führte, zum amerikanischen Engagement in Europa und 1945 zur Teilung des Kontinents. Dieser Weg führte über eine konsequente Eskalationsstrategie, die von verschiedenen Mächten innerhalb des nächsten Jahres verfolgt wurde. Als symbolisch dafür kann die Anweisung Winston Churchills an die von ihm im Juli 1940 gegründeten „Special Operations Executive“ (SOE) und deren Leiter Hugh Dalton gelten, den „europäischen Kontinent in Brand zu stecken“.2 Wir werden dieser Anweisung und ihren Folgen noch an verschiedenen Stellen begegnen, auch Churchill selbst kam bei zahlreichen Gelegenheiten immer wieder darauf zurück. Dalton notierte den Auftrag erstmals am 22. Juli 1940 in seinem Tagebuch, jenem Tag, an dem der englische Botschafter Lord Lothian in den Vereinigten Staaten nach London meldete, er kenne die deutschen Bedingungen für einen sofortigen Frieden mit England, sie seien „höchst zufriedenstellend“.3 Hitler hatte zeitgleich mit seiner öffent1 Ich knüpfe hier an die Schlußbetrachtung von „Fünf plus Zwei – die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ an. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 496 ff. 2 Vgl. Schmidt, Heß, S. 131. 3 Ebd. Nicolson, Tagebücher, S. 399. Hitler hatte, wie bereits gesagt, die vom Auswärtigen Amt erarbeiteten konkreten Bedingungen aus seiner öffentlichen Rede gestrichen. Es dürften diese Bedingungen gewesen sein, die Lothian über seinen Kontakt zur deutschen Botschaft erhalten hatte. Da sich später nichts tat und die weiteren deutschen Friedensfühler von der Regierung Churchill offenkundig manipuliert wurden, kursierten um die Jahreswende jedoch Gerüchte. Auch Lothians Haltung sei nur ein Täuschungsmanöver gewesen, um die deutsche Kriegsentschlossenheit zu bremsen, soll der deutsche Militärattaché in Moskau, Köstring zu diesem Zeitpunkt festgestellt haben. Vgl. Krylov, Officer, S. 59. f.
1. Winston Churchills Strategie
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lichen Ankündigung, er „sehe keinen Grund“ die Auseinandersetzung noch länger weiterzuführen, diese Bedingungen der englischen Regierung via Washington zustellen lassen. Wie so manches andere hat die Zeitgeschichtsschreibung dies geflissentlich übersehen, paßte es doch so wenig in das gängige Bild eines zur „Welteroberung“ entschlossenen Chefs der deutschen Nationalsozialisten. Mit der Schilderung dieser Angelegenheit, die ich erstmals ausführlich dargestellt habe,4 kam die erste Eskalationsphase des Weltkriegs an ihr Ende. Winston Churchill wollte von einem Kompromißfrieden nichts hören und fand in der englischen Führungsschicht genügend Rückhalt, um sich durchzusetzen. Es fand sich niemand, der vor den wenigen Wochen am 10. Mai ernannten, charismatischen Premier von seinem Vorhaben abhalten konnte. Dieser Vorgang läßt sich zweifellos auf der Ebene analysieren, daß einzelne Personen eben manchmal Geschichte machen. Unabhängig davon stellte die europäische Friedensunfähigkeit jedoch eine auf langfristigen Trends beruhende Entwicklung dar. Wenn ich auch festgestellt habe, daß „keine geschichtswissenschaftliche Erklärung für den Zweiten Weltkrieg jemals so einfach sein kann wie die Behauptung, er sei von Adolf Hitler langfristig geplant und gezielt entfesselt worden“,5 so lassen sich doch einige zentrale Ursachen für den Gang der Dinge benennen. Der europäische Kontinent verlor während der ganzen Neuzeit in einem stetigen Prozeß seine Fähigkeit, aus eigener Kraft eine innere Ordnung zu finden und zwar in dem Maß, wie die Entwicklung in außereuropäischen Gebieten für Europa wichtiger wurde. Das geschah zunächst über den Kolonialbesitz der europäischen Staaten selbst, dessen Umfang zusehends den jeweiligen Status eines europäischen Landes bestimmte. Dann, mit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten und der Expansion Rußlands in Ostmitteleuropa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, begannen politisch selbständige außereuropäische Länder eine immer größere Rolle innerhalb der europäischen Politik zu spielen, eine Entwicklung, die ihren ersten Höhepunkt 1814 im Einmarsch russischer Truppen in Paris erreichte. Während des 19. Jahrhunderts konnte dieser Prozeß nur durch die außergewöhnliche Geschwindigkeit der europäischen industriellen Entwicklung und den Übergang mehrerer europäischer Länder vom Kolonialismus zum Imperialismus noch einmal für eine gewisse Zeit ausbalanciert werden, bis kurz nach der Jahrhundertwende sichtbar wurde, daß ein rein auf machtpolitischen Egoismus gegründetes europäisches Staatensystem zu viel gegenseitiges Bedrohungspotential und damit Mißtrauen produzierte, um ohne kriegerische Verwicklungen auskommen zu können. 4 5
Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 486 ff. Zit. n. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 496.
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II. Europa in Brand stecken
Die Gliederung Europas in Nationalstaaten, die im vollen Sinn souverän waren, und das daraus folgende machtpolitische Spiel mit vielen Bällen und großen Ambitionen führten zu einer Art permanentem Kalten Krieg oder „Friedens-Krieg“.6 Im zwanzigsten Jahrhundert waren aber die Möglichkeiten, sich in Europa wechselseitig zu bedrohen, viel zu groß geworden, als daß dieses Ordnungskonzept souveräner Staaten in seiner alten Form noch tragfähig gewesen wäre. Schon mehr als hundert Jahre früher hatte Napoleon den Kontinent einen „Maulwurfshügel“ genannt, und diese flache Erhebung war dank moderner Technik seitdem noch deutlich kleiner geworden. Unter den technologischen und wirtschaftlichen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts mußten Europas Nationen notwendigerweise einen Teil ihrer Souveränität abgeben, entweder nach innen, also untereinander, oder nach außen, an eine der beiden (oder beide) potentiellen hegemonialen Flügelmächte Sowjetunion oder Vereinigte Staaten. Die Abwesenheit der weltpolitischen Interessen dieser beiden Staaten und Englands, gehörte zu den Bedingungen, unter denen die deutschen Einigungskriege der 1860er Jahre stattgefunden hatten. Diese Konstellation ist als „Krimkriegssituation“ bezeichnet worden,7 da sie eine Folge der Niederlage Rußlands im Krimkrieg gegen England und Frankreich war. Daraufhin bildete sich in den folgenden eineinhalb Jahrzehnten in Europa ein politisches Vakuum heraus. Das besiegte Rußland gab die weitere Expansion auf den Balkan und in Richtung der türkischen Meerengen auf, widmete sich inneren Reformen und hielt sich territorial in Zentralasien schadlos. Gleichzeitig konsolidierte das britische Empire ebenfalls seinen Besitz in Übersee, während die von Premier Palmerston zeitweise ins Auge gefaßten Pläne einer Übergabe von Ukraine und Baltikum an Österreich und Preußen eine Episode der Geschichte blieben. Da sich auch die USA für ihren aktuellen Ausgriff nach Übersee den Weg über den Pazifik nach Ostasien ausgesucht hatten, wo Japan im Jahr 1854 gewaltsam für den amerikanischen Handel „geöffnet“ wurde, intervenierte in Europa keine der aktuellen und kommenden Weltmächte, als zwischen 1864 und 1871 das Bismarckreich gegründet wurde. Waren die deutschen Einigungsversuche 1848 noch auf den militärischen Gegendruck Rußlands gestoßen, folgte dieses Mal keine Reaktion des Zarenreichs. Auch Versuche der französischen Regierung scheiterten, England zu einem Einspruch gegen die deutsche Einheit zu bewegen und zu diesem Zweck notfalls in den Krieg von 1870/71 mit einzubeziehen. Das weitgehende Desinteresse der Weltpolitik an den europäischen Affären begleitete also die deutsche Reichsgründung. Diese Konstellation entstand nach 1919 noch einmal, als mit den Vereinigten Staaten und der 6 7
Zum Begriff des Friedenskrieges vgl. Sartre, Carnets, S. 148. Vgl. Hildebrand, Krimkriegssituation, S. 37 ff.
1. Winston Churchills Strategie
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Sowjetunion zwei entscheidende Staaten dem Versailler Vertragssystem ferngeblieben waren. Das gemeinsame Nein aus den USA und der UdSSR hatte dafür gesorgt, daß die Europäer nach dem Ersten Weltkrieg in gewisser Weise noch einmal für sich waren. Es gab dennoch keine Möglichkeit, nach altem Muster innereuropäische Machtpolitik zu treiben, ohne früher oder später in einem größeren Krieg zu landen, der dann die ungewollte Entscheidung zugunsten des zweiten Szenarios bedeuten mußte, also einen Machtzuwachs der beiden Weltmächte. Zweifellos hatten die Vereinigten Staaten diese Entwicklung gerade unter der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt recht deutlich vorausgesehen. Sie drängten frühzeitig darauf, daß sich die Europäer untereinander auf gemeinsame Prinzipien einigten, und zwar auf jene, die den amerikanischen Vorstellungen am nächsten kamen, die aber im übrigen durchaus geeignet sein konnten, den europäischen Nationen die Behauptung von bedeutenden Resten ihrer Souveränität zu ermöglichen. Das bedeutete in der Konsequenz aber langfristig eine politische Existenz in der zweiten Klasse, zu der die europäischen Eliten während der späten imperialistischen Ära in ihrer Mehrheit nicht bereit waren. Der amerikanische Präsident machte nach dem Kriegsausbruch noch Versuche, die weitere Eskalation zu verhindern und den Konflikt zeitig in ein politisches System nach seiner Vorstellung münden zu lassen. Er scheiterte aber vor der Einleitung konkreter Verhandlungen am Mißtrauen der Regierungen untereinander und an der Intransigenz der beiden Westmächte, die auf einen eigenen Anlauf zum Sieg über den Weg einer Eskalation des Krieges – zunächst in Skandinavien – nicht verzichten wollten. Auch die stalinistische Sowjetunion hatte die zerstörerische Dynamik der europäischen Politik spätestens seit Ende der zwanziger Jahre erkannt, begünstigt dadurch, daß der zeitweilige Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems und die daraus folgende aggressive, kriegerische Rivalität der bürgerlichen Staaten nach dem gültigen Interpretationsschema des MarxismusLeninismus als Begleiterscheinung des kapitalistischen Systems ohnehin zu erwarten gewesen waren.8 Die Regierung der UdSSR zog daraus allerdings andere Schlußfolgerungen als die USA, wo die Elite um die Gefahren einer kriegerischen Auseinandersetzung wußte und in dem Bewußtsein der eigenen Überlegenheit ihre Ziele zwar mittels wirtschaftlichem, politischem und militärischem Druck durchsetzen wollte, nicht aber zwingend auf dem Weg eines Krieges oder gar Weltkriegs. Die Rückwirkungen auf die amerikanische Innenpolitik waren unkalkulierbar, sie ließen eine offene Kriegspolitik jedoch in keinem Fall zu, für die zudem die nötige Rüstung noch nicht vorhanden war. Es bedurfte des Erfindungsreichtums eines Franklin Roosevelt, 8
Vgl. Musial, Kriegspläne, S. 229 ff.
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um das Land schließlich doch in den Krieg zu führen, nachdem sich die amerikanischen Ziele nicht auf andere Weise hatten erreichen lassen. Das kommunistische System dagegen ließ sich am besten, vielleicht sogar ausschließlich auf dem Umweg über einen großen Krieg exportieren, selbst wenn auf diesem Weg zunächst nur die früheren russischen Gebiete in Osteuropa erreicht werden sollten. Der enge Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution war eine traditionelle Standardannahme der marxistischen Lehre. Josef Stalin begann daher frühzeitig Ende der zwanziger Jahre mit einer beispiellosen Aufrüstung, nachdem er auf dem XVI. Parteitag der KPdSU von 1929 einen bald bevorstehenden imperialistischen Krieg behauptet hatte und damit die Umstellung der sowjetischen Wirtschaft auf eine industrielle Kriegswirtschaft begründete.9 Seine Maßnahmen waren dabei von einem Rückgriff auf ältere allrussische und panslawistische Ideologeme begleitet, die den Charakter der sowjetischen Politik zusehends überlagerten. Neben den allgemeinen Sachzwängen, die dem Handlungsspielraum jedes Staates unabhängig von einem Wechsel seines politischen Systems bestimmte Grenzen auferlegen, trugen diese älteren Elemente wesentlich dazu bei, daß die Sowjetunion letztlich de facto als Nachfolgestaat des zaristischen Rußland innerhalb des Systems der Großmächte agierte. Die sowjetische Rüstungspolitik hatte großen Anteil daran, dieses System zu destabilisieren, den Rüstungswettlauf der dreißiger Jahre in Gang zu setzen und zu beschleunigen. So war die UdSSR Teilnehmer an der internationalen Konkurrenz der Mächte und ihre sprunghafte militärische und wirtschaftliche Entwicklung setzte gemeinsam mit anderen Ereignissen, wie beispielsweise der Wiederbewaffnung Deutschlands, einen Prozeß in Gang, der die Nachkriegsordnung von Versailles überwand. Stalin war zweifellos dazu in der Lage, dies zu erkennen und befürwortete es. Es gibt Anzeichen dafür, daß er in den abstrakten Kategorien des europäischen Gleichgewichts dachte und die UdSSR als dessen Teil sah. Der Zusammenhang zwischen den Störungen des Gleichgewichts und ihrem Ausgleich durch kriegerische Auseinandersetzung stellte zugleich ein Element der Erkenntnisse der leninistischen Theorie über die Eigenbewegungen des Imperialismus dar, die demnach letztlich zu seiner revolutionären Überwindung führen sollten. Stalin förderte aus diesem Grund den Kriegsausbruch im Sommer 1939. Er begrüßte ihn dann im September wie niemand sonst in Europa, und er arbeitete folgerichtig auch an der Eskalation des Krieges mit, die dann allerdings einen unerwarteten Verlauf nehmen sollte und im Sommer 1940 mit der plötzlichen französischen Niederlage alle bisherigen sowjetischen Planungen hinfällig machte. Die siebenhunderttausend in der Ukraine zusammengezogenen Rotarmisten, deren 9
Vgl. Zentralkomitee, Geschichte, S. 375.
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Stationierung erste bedenkliche Anfragen der Berliner Regierung in Moskau hervorrief,10 konnten keine größeren Ziele verfolgen. In der Erwartung eines bevorstehenden Friedens, der das Machtvakuum in Osteuropa wieder füllen würde, okkupierte die UdSSR daher vorerst die baltischen Länder, Bessarabien und die Bukowina. Daß im Sommer 1940 kein europäischer Frieden zustande kam, eröffnete der Sowjetunion dann die Gelegenheit, ihre zwischenzeitlich auf Osteuropa beschränkten Expansionsabsichten mittels eines militärischen Sieges über Deutschland auf ganz Europa auszuweiten oder Deutschland mindestens mittels politischem Druck in eine Abhängigkeit zu bringen, die einer Hegemonie über Europa gleichkam. Diese Vorgeschichte des deutsch-russischen Krieges, die mit den ersten Verletzungen der mit Deutschland vereinbarten Einflußgrenze bei der Okkupation der Bukowina und Teilen Litauens begann, gehört zu den zentralen Themen, die hier im weiteren besprochen werden. Es war nach dem Ersten Weltkrieg nur teilweise gelungen, eine stabile europäische Friedensordnung zu erzeugen. In manchen Merkmalen trug die Zeit nach dem Krieg trotz der Nichtratifizierung des Versailler Vertrags durch die Washingtoner Regierung und der danach vordergründig nur in Europa formulierten innereuropäischen Politik, die Grundzüge einer amerikanischen Hegemonie. Dies galt etwa für den wirtschaftlichen Sektor. Sie war damit – und auch durch die zeitweilige Einflußlosigkeit Rußlands – eine Vorentscheidung, die bereits auf das Jahr 1989 hindeutete. Aber diese Hegemonie basierte nur auf der wirtschaftlichen Dominanz als einziger Säule und war daher nicht stabil. Dies war ein Umstand, den die finanzielle Hegemonie der USA in den 1920er Jahren verdeckte, der aber sichtbar wurde, als mit der Weltwirtschaftskrise dieses Finanzsystem am Ende war und die neuen politischen Verhandlungen über Abrüstung und eine Weltwirtschaftsordnung zu Beginn der dreißiger Jahre ergebnislos verlaufen waren. In dieser Atmosphäre haben die größeren europäischen Staaten noch einmal das alte Machtspiel aufgenommen, das immer mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Krieg geführt hat. Als fataler Umstand erwies sich in dieser Phase die überaus große Differenz zwischen der geringen praktischen Entwicklung der Systeme kollektiver Sicherheit sowie des internationalen Rechts einerseits und deren stabiler Verankerung im Bewußtsein der Öffentlichkeit andererseits. Was hier in den zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre versäumt worden war, konnte nicht mehr aufgeholt werden. Der Völkerbund genoß aufgrund seines opportunistischen Verhaltens in den internationalen Krisen der zwanziger Jahre kaum eigenes Ansehen als Institution. Er agierte als bloßes Werkzeug der bei10 Gleichzeitig wurden die bereitstehenden Truppen zur Abwehr eines möglichen sowjetischen Angriffs alarmiert. Vgl. Jarausch, Sterben, S. 218 f., 22.–24.6.1940.
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den Westmächte, galt aber zu vielen Menschen als Ausdruck der Hoffnung, als daß eine offene Politik gegen seine Prinzipien möglich gewesen wäre. Letzteres beraubte eben gerade die Westmächte jenes Teils ihrer politischen Machtmittel, auf der die Existenz ihrer Kolonialreiche und die Regelungen des Versailler Vertrages beruhten, ohne etwas Adäquates an deren Stelle zu setzen. Dies ergab ein Vakuum, in dem die nationalen Egoismen sich schnell ausbreiten konnten und so skurrile Formen annahmen wie etwa den polnischen Wunsch nach Kolonien.11 Die Herrschaft einzelner europäischer Nationalstaaten über große Teile der Erdoberfläche erwies sich als unhaltbarer Zustand, der auch die Atmosphäre innerhalb des Kontinents vergiftete. Dabei kristallisierte sich als weiteres Kernproblem Europas die große Differenz zwischen Westeuropa und dem mittleren Osteuropa heraus sowie das mangelnde Verständnis, das die Politik in London und Paris für die Eigendynamik der dortigen Konflikte aufbrachte. Die Ignoranz der eigenen Regierung rief selbst bei den englischen Botschaftern in der Region teilweise nur noch müden Spott hervor, wie etwa bei Owen O’Malley, der von Neville Chamberlain im Frühjahr 1940 in ein Gespräch über Ungarn gezogen wurde, um festzustellen, der englische Premier „wisse nichts von Ungarn und wolle auch nichts wissen“.12 In den Ministerien sei dies allgemein so. Das Außenministerium und die übrigen Ressorts hätten im wesentlichen kritiklos nachgesprochen, was von französischen Diplomaten an Vorurteilen in die Welt gesetzt worden sei und durch die geduldige Propagandaarbeit der tschechischen Exilkreise um Masaryk und später Beneš verstärkt wurde.13 Dieser Befund über eine explosive Mischung aus Unwissenheit und Desinformation wirkte sich ganz besonders in einem zentralen Streitfeld der europäischen Politik zu dieser Zeit verhängnisvoll aus: der ethnischen Struktur. Dieses Problem war nicht neu und betraf im Prinzip alle Nationen, gerade in Osteuropa. Deutschlands Reichsgründer Bismarck versuchte erst gar nicht, die größtmögliche Ausdehnung eines deutschen Nationalstaats in diesem Bereich zu erreichen, sondern hielt sich vor wie nach 1871 gegenüber irredentistischen Expansionsabsichten in Richtung deutscher Minoritäten im Osten vollkommen zurück. Das galt sowohl für den „alten deutschen Kolonistenstamm“ im Baltikum, dessen ständische Ord11 „Colonies, Jews and Danzig“, so lauteten die Themen, die Polens Außenminister Beck vor dem Vertragsabschluß mit England besprechen wollte. Nach dem ersten Weltkrieg war von den führenden polnischen Parteien erklärt worden, daß Polen als Siegermacht Anspruch auf Teile der deutschen Kolonien habe. Seit 1936 drängte Polen zu diesem Zweck darauf, in der Mandatskommission des Völkerbundes vertreten zu sein. Vgl. Jansen, Madagaskar, S. 144 und S. 158. Für die Forderungen von 1939 vgl. DBFP, III., Vol. IV, Doc. 175, Doc. 189 u. Doc. 306. 12 Vgl. O’Malley, Caravan, S. 202. 13 Ebd. O’Malley, Caravan, S. 202.
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nung er bewahren wollte, als auch für die Deutschen im österreichisch-ungarischen Nationalitätenstaat. Zu den Hauptlinien von Bismarcks Osteuropapolitik gehörte eine Indifferenz gegenüber jener deutschen Bevölkerung, die an der Ost- und Südostseite des neugegründeten Reichs in autonomer Staatlichkeit verbleiben, nicht aber nach den „westlichen“ Prinzipien eines einheitlichen Nationalstaat gestaltet werden sollten. Dies war nach dem Sturz der von Bismarck auf den Thron des „Deutschen Kaisers“ gesetzten Hohenzollern in der Weimarer Republik ein brandaktuelles Thema, waren doch 1919 noch weitere Millionen Deutsche zwangsweise aus dem Staatsverband ausgeschieden und lebten auf sich gestellt in dem ethnischen Flickenteppich des östlichen Mitteleuropa. Bismarck wollte die Großmacht Österreich-Ungarn nicht nur aus Gründen der außenpolitischen Anlehnung konservieren, sondern wegen prinzipiellen Folgen. „Die Errichtung von kleinen Nationalstaaten im Osten Europas ist unmöglich, es sind bloß historische Staaten möglich,“ sagte er 1874 zu dem Ungarn Jókay. Dahinter stand die Einsicht, daß der Nationalstaat westlichen Typus’ im geographisch und ethnologisch viel zu sehr differenzierten Osteuropa keine politische Option sei. Als Künstler des „politisch Möglichen“ versuchte Bismarck, die nationalen Bewegungen zu bremsen. Sein Ziel war es, die multinationalen Staaten in Osteuropa zu erhalten, nicht nur damit die Deutschen weiterhin ihre Kulturmission in der „deutsch-slawischen Lebensgemeinschaft“ ausüben könnten, sondern vor allem weil „eine nationale Atomisierung . . . Mitteleuropa auflösen und in einem Krieg der Rassen enden würde. Das Durcheinandergeschobensein der Völker im Raume zwischen Deutschen und Russen war ihm vorsehungsmäßiger Reichtum, von Gott gewollt, und im Pangermanismus sah er nicht weniger eine Bedrohung als im Panslawismus.“ Konservative Politik nach diesen Leitlinien war in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr möglich. Jene vorindustrielle Mischung der nationalen Siedlungsgebiete, die sich unter dem Einfluß der Herrschaft der beiden Kaiserreiche Rußland und Österreich-Ungarn in diesem Raum erhalten hatte, führte zusammen mit der willkürlichen Grenzziehung von Versailles in den neu geschaffenen, formell „nationalen“ Staaten zur Herrschaft kleiner ethnischer Mehrheiten über große nationale Minderheiten. Daraus resultierten ausgedehnte Nationalitätenkonflikte, die den Bestand dieser Staaten nachhaltig in Frage stellten – unabhängig davon, ob diese Konflikte von außerhalb noch geschürt wurden. Keiner der multiethnischen Staaten, die durch den Versailler Vertrag in dieser Region geschaffen wurden, erlebte das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Die europäische Politik fand in der Zwischenkriegszeit keinen Weg, diesen Zustand angemessen als Problem zu erkennen, zu reformieren oder ihn wenigstens als etwas anderes zu betrachten, denn als nützliches Vehikel für die eigene Machtpolitik. Sie wäre in diesem Fall zudem mit dem Anspruch der serbischen, tschechi-
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schen, vor allem aber der polnischen Führungsschicht kollidiert, mehr zu regieren, als sich ethnisch begründen ließ. Zu diesem Zweck wurde in diesen Ländern der in Versailles zugestandene Status quo ohne Rücksicht auf seine demokratische Legitimation mit allen Mitteln verteidigt und jede Forderung nach nationaler Selbstbestimmung der Minderheiten als „Verrat“ definiert. Schon deutlich vor dem Kriegsausbruch begann in diesem Zusammenhang in den Köpfen der Entscheidungsträger die Möglichkeit ethnischer Säuberungen als einer Methode zur Lösung dieser Spannung eine Rolle zu spielen. Die Vertreibungs- und Ausrottungsphantasien, die in den dreißiger und vierziger Jahren vielerorts grassierten, auch in London und später in Washington, lassen sich nicht unabhängig von der allgemeinen Atmosphäre der Ratlosigkeit verstehen, die durch zwei Jahrzehnte zynischer und antidemokratischer Machtpolitik seitens der großen und kleinen Siegermächte entstanden war. Hier förderte die scheinbar ausweglose Situation den Trend zum Rassenkrieg, den bereits Bismarck gesehen hatte. Den unmittelbaren Anlaß für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte der deutsch-polnische Konflikt geliefert, der seit 1918 vor sich hin schwelte, Anfangs der zwanziger Jahre mehrfach zu bewaffneten polnischen Angriffen auf deutsches Gebiet geführt hatte und schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten erneut zu einem heißen Krieg zu eskalieren drohte. Hier hatte sich nach dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 zunächst eine Entspannung ergeben, die in der partiellen Zusammenarbeit beider Länder in den beiden Krisen des Jahres 1938 ihren Höhepunkt erreichte. Dann erwies sich die Spannung zwischen Polens Ambitionen als Großmacht und den Ansprüchen seiner politischen Elite auf weite Teile Deutschlands einerseits, seinen inneren Widersprüchen und dem zu geringen Respekt, den das Land auf der internationalen Bühne genoß andererseits, als unüberwindbares Hindernis für ein bilaterales Abkommen mit einem seiner beiden großen Nachbarn. Die polnische Regierung lehnte die von Deutschland seit Oktober 1938 angebotene wechselseitige Grenzgarantie im März 1939 endgültig ab. Sie ging statt dessen mit den Westmächten jene Dreierkoalition mit ausschließlich antideutscher Vertragsbindung ein, von der sie sich eine Erfüllung ihrer weitreichenden Ansprüche versprach, die sich neben einer Fortschreibung der antideutschen Politik auch auf Kreditgewährung, westliche Zugeständnisse in den Kolonialfragen und bei der polnischen Judenpolitik erstreckten. Der deutsche Versuch scheiterte, dieses Bündnis wieder zu sprengen, obwohl die Angebote an Polen fast unverändert wiederholt wurden und mit der möglichen Einbeziehung der Sowjetunion einer solchen Regelung mehr Substanz und Rückhalt in der öffentlichen Meinung der Westmächte verliehen werden sollte. Der Hintergrund dieser Strategie war pragmatischer Natur: „Ich müßte ein Idiot sein, wenn ich wegen Polen in einen Krieg schlittern würde wie die Unfähigen vom
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Jahre 1914“14, hatte Hitler im Mai 1939 in einer Rede vor der Wehrmachtsführung gesagt. Er sagte dies nicht, weil er Krieg für etwas prinzipiell unerwünschtes hielt, sondern weil Deutschland in der gegebenen Situation aus einem solchen Krieg nur geschlagen herauskommen konnte. Letztlich zielte jedoch die Politik der Republik Polen auf andere Ziele als den Kompromißfrieden, und in den Regierungen der Westmächte fanden die Regierungschefs, die das Abkommen von München unterzeichnet hatten, nicht mehr den Rückhalt, ein neues Abkommen zu gestalten. Was im Frieden nicht gelungen war, konnte auch nach Beginn des deutsch-polnischen Konflikts nicht erreicht werden. Nachdem sie mit ihrem Widerstand schon das demokratische Großdeutschland nach 1919 zum „Ordnungsmodell ohne Chance“ gemacht hatten, ließen es das imperiale Selbstverständnis, die verletzte Eitelkeit und die schwankende Entscheidungsfindung der Westmächte nicht zu, den Krieg beizeiten zu beenden. Deutschland schien zu leicht besiegt werden zu können. Die Westmächte, die zusammen mehr als ein Drittel der Erdoberfläche direkt kontrollierten und damit mehr als je zuvor, schwelgten in strategischen Optionen für eine Ausweitung des Krieges, die zu einfach zu verwirklichen zu sein schienen, als daß ein Kompromiß mit Deutschland überhaupt in Betracht gezogen worden wäre. So wurden von ihnen nach Kriegsbeginn niemals die konkreten Forderungen an Deutschland gestellt oder die Normen formuliert, die für ein internationales general settlement erforderlich gewesen wären. Das war auch schon zu Friedenszeiten unterblieben. Es war diese Denkweise in nationalen, rein egoistischen Kategorien, die eine stabile Friedensordnung am Ende unmöglich machte. Sie zeigte deutlich ihre Wirkung während der Europareise des stellvertretenden amerikanischen Außenministers Sumner Welles im Frühjahr 1940, bei der Ablehnung von Franklin Roosevelts Friedensinitiative durch die englische Regierung und bei der Zurückweisung der verschiedenen deutschen Friedensfühler. Es war den europäischen Staaten unmöglich, sich wenigstens im Sicherheitsbereich auf gemeinsame Normen zu verständigen. Insbesondere den französischen und englischen Regierungen gelang es zudem in keiner Phase seit den zwanziger Jahren, sich von ihrer Fixierung auf das deutsche Feindbild freizumachen. Als Motiv für diese Entscheidungen spielte das nationalsozialistische Regierungssystem, wie bereits gesagt, nicht die entscheidende Rolle, zumal es immer eine verbreitete Deutungsvariante gab, die den Nationalsozialismus nur als Variante einer preußischen Neigung zum Militärischen sehen wollte.15 Der Eindruck politischer Kontinuität 14
Hitler am 23. Mai 1939 vor der Wehrmachtsführung, zit. n. Aussage Generalfeldmarschall v. Brauchitschs im Nürnberger Prozeß. Vgl. IMT, XX, S. 623. 15 Letztlich gewann diese Strömung entscheidenden Einfluß auf Entscheidungen über die Vertreibung der Ostdeutschen. Welche Rolle die Aussichten auf eine Ent-
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überwog die aktuelle Kritik an der deutschen Politik. Vor diesem Hintergrund umschrieb Winston Churchills Wort vom „zweiten dreißigjährigen Krieg“ gegen Deutschland die Motive der westlichen Eliten für den kompromißlosen Krieg sehr treffend. Nach dem Fall Frankreichs und dem Kriegseintritt Italiens traten die Friedensmöglichkeiten zwischen den Nationalstaaten in den folgenden Monaten mehr und mehr zurück. Der Plan für ein Viererdirektorium im Stil des Münchener Abkommens hatte keine Basis mehr, weder materiell noch ideell. Statt der Nationalstaaten traten „Europa“ und seine gemeinsame Ordnung als Motiv für den Krieg auf beiden Seiten zusehends in den Vordergrund. Die Aussagen über seine politische und wirtschaftliche Struktur blieben von beiden Kriegsparteien unscharf, sie entwickelten sich erst in einem langem Planungsprozeß, und sie blieben besonders auf deutscher Seite immer eher ein Instrument der Propaganda als ein Ausdruck politischer Absichten. Die militärische Entwicklung machte alle vorgefaßten Planungen dann weitgehend hinfällig, denn der Zweite Weltkrieg endete mit der Teilung Europas und der Entmachtung auch der siegreichen Westmächte. Deren offener Imperialismus stellte nach 1945 keinen gangbaren Weg mehr dar. Als Folge der innereuropäischen Streitigkeiten etablierten die beiden Weltmächte in Europa ihre eigenen Ordnungsvorstellungen, ohne daß die europäischen Länder noch in der Lage waren sie mitzugestalten. Die Unfähigkeit der europäischen Nationalstaaten, diese Entwicklung vorherzusehen und eine gemeinsame Antwort auf die Probleme der Moderne und die Globalisierung der Politik zu finden, war verhängnisvoll. Das Fehlen einer solchen Antwort, die auch eine rechtzeitige Integration von USA und UdSSR in ein europäisches Sicherheitssystem beinhalten mußte, beschwor einen unnötigen Krieg herauf und zerstörte am Ende die Souveränität von allen. 2. Deutschlands Hauptaufgabe a) Rückblick – Politik bis Sommer 1940 „Für Tiefe der Rüstung gekämpft. Abgelehnt durch Führer. Will keinen Krieg, nur bluffen. ‚Dazu brauche ich Breite‘.“16 General Thomas, Notiz über ein Gespräch mit Hitler im Sommer 1939
Dieses Buch schließt sich an seine Vorgänger „Logik der Mächte“ und „Fünf plus Zwei – die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ an. eignung der sogenannten Junkerschicht bei der Entscheidung für eine Vertreibung der gesamten Bevölkerung spielen konnte, dafür siehe etwa die Begründung, neben Ostpreußen vor allem auch Pommern in die Vertreibung mit einzubeziehen. Vgl. Kettenacker, Friedenssicherung, S. 449 f. 16 Zit. n. Thomas, Rüstungswirtschaft, S. 509.
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Es läßt sich in gewisser Weise als deren Fortsetzung und Erläuterung verstehen. Deshalb seien als Abschluß der Einleitung hier noch einmal die Konsequenzen aus der bisherigen Darstellung erläutert, so weit es für das Verständnis des folgenden sinnvoll ist. Gezeigt werden sollte, daß Adolf Hitlers Politik in den Jahren 1938/39 an jenem festen Plan orientiert war, den er im November 1937 bei der Hoßbach-Besprechung als sein „Testament“ verkündet hat und den er im Winter 1938/39 weitgehend erfüllt sah. Er hätte diesen Plan möglicherweise auch gewaltsam verfolgt, wie er es eben im November 1937 für die Mitte der vierziger Jahre in Aussicht gestellt hat. Das erwies sich aber als unnötig, da die dort genannten Ziele, also der Anschluß Österreichs und des deutsch-tschechischen Westens der Tschechoslowakei an Deutschland während des Jahres 1938 gewaltfrei, jedenfalls ohne militärische Auseinandersetzungen erreicht wurden und damit die von Hitler im November 1937 skizzierte „Lösung des deutschen Raumproblems inmitten Europas“ bereits vollzogen war. Diese Gebietsgewinne sollten nach seiner Aussage für mindestens zwanzig Jahre ausreichen, an anderer Stelle sprach er von „1–3 Generationen“.17 Folglich brauchte Hitler den Krieg im Jahr 1939 nicht zu „entfesseln“ und hat dies auch nicht getan, sondern verstrickte sich gemeinsam mit der polnischen, britischen und französischen Regierung im Netz der Wünsche, Intrigen und Notwendigkeiten, wie sie sich aus dem Anspruch auf souveräne Machtpolitik ergaben. Letzten Endes zogen die Beteiligen zur Wahrung dieser Fiktion in den Krieg, der deshalb richtig als „Letzter Europäischer Krieg“ bezeichnet worden ist. Wie wenig dieser Krieg und seine Fortführung nun in deutschem Interesse und in der Absicht der nationalsozialistischen Regierung lagen, zeigten ihre zahlreichen Versuche, ihn zum Stehen zu bringen. Was im März 1939 begonnen hatte, war außer Kontrolle geraten: „Der Führer grübelt über die Lösung der Frage Danzig nach. Er will es bei Polen mit etwas Druck versuchen und hofft, daß es darauf reagiert. Aber wir müssen in den sauren Apfel beißen und Polens Grenzen garantieren.“18
Mit dieser Grenzgarantie sollte die Anerkennungswelle abgeschlossen werden, mit der die deutsche Politik nach dem Münchener Abkommen ihre Nachbarn förmlich überzogen hatte.19 Dabei blieb es. In den „sauren Apfel zu beißen und Polens Grenzen zu akzeptieren“, das lag auch dem am 31. August 1939 an Polen ergangenen Angebot zugrunde, im Austausch gegen
17
Vgl. ADAP, D, I, Dok. 13, S. 26. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/6, S. 300, 25. März 1939. 19 Mit Ausnahme der „Tschecho-Slowakei“, deren Grenzen auch nach München nicht anerkannt wurden. 18
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Danzig nach einer Volksabstimmung die bestehenden polnischen Grenzen zu akzeptieren, jenem Angebot, das sowohl der englische Botschafter wie sein polnischer Kollege wegen plötzlicher Hörschwierigkeiten nicht „verstanden“ haben wollten.20 Das bot Anlaß zu jahrzehntelangem Abstreiten dieses Angebots, weil Außenminister Ribbentrop angeblich zu schnell gesprochen habe. Tatsächlich hatten der englische Gesandte sowohl wie die englische Regierung durchaus verstanden. Premier Chamberlain glaubte daran, daß Hitler sich bemühte: „Ich glaube, er wollte ernsthaft ein Abkommen mit uns und arbeitete ernsthaft an Vorschlägen . . . die aus seiner einseitigen Sicht geradezu unfaßbar großzügig aussehen mußten.“21
Dennoch zeigte Chamberlain sich entschlossen, den Krieg gegen Deutschland 1939 aufzunehmen, unabhängig vom Inhalt dieser Vorschläge.22 Auch wenn es ein Unglück war, daß Danzig der unmittelbare Anlaß der Explosion wurde: „Die Briten konnten nicht auf die nächste Gelegenheit warten.“23 Neville Chamberlain persönlich hatte jedoch seinen Kredit so weit aufgebraucht, daß ihm die politische Stärke für ein weiteres Abkommen mit Deutschland fehlte, wohl auch dann, wenn die polnische Regierung in irgend einer Weise bereit gewesen wäre, auf einen solchen Ausgleich einzugehen. Was die englische Diplomatie anging, so gab diese Ignoranz gegenüber Kompromissen mit Deutschland in der Nachfolgezeit weiterhin das leitende Muster vor. In den dramaturgischen Begriffen der amerikanischen Filmindustrie ausgedrückt, wäre die deutsche Politik nach 1939 ein unerbittlicher „Down“, das heißt eine Geschichte, die den Protagonisten trotz seiner Bemühungen und zwischenzeitlicher Erfolge schließlich unausweichlich zum Untergang führt. Offen oder geheim, Hitlers Versuche, diesen „Down“ diplomatisch zum Halten zu bringen, blieben erfolglos. Militärische Siege blieben wirkungslos. Ob Hitler über Fritz Hesse der Londoner Regierung am 2. September 1939 den Rückzug aus Polen anbieten ließ, Franklin D. Roosevelts diplomatischem Sonderbeauftragten Sumner Welles erneut Zugeständnisse in Wirtschaftsfragen sowie Rückzugsbereitschaft aus Polen in Aussicht stellte, es nützte nichts. Hermann Görings Anlauf, die Schockwirkung der ersten deutschen Siege in Frankreich im Mai 1940 dazu zu nutzen, die fran20
Vgl. Scheil, Logik, S. 212–222: „Von der plötzlichen Hörschwäche unter Diplomaten“. 21 Zit. n. Hyde, Chamberlain, S. 145. 22 Nachdem der heiße Krieg 1939 schließlich begonnen hatte, erhob Chamberlain angeblich schwere Vorwürfe, diesen Entschluß nicht freiwillig gefaßt zu haben: „Amerika und die Weltjuden haben England in den Krieg gezwungen“, so soll seine Anklage gelautet haben. Vgl. Forrestal, Diaries, S. 121 f. 23 So schrieb ein wohlwollender Beobachter wie Robert Ingrimm nach dem Krieg. Vgl. Ingrimm, Auflösung, S. 222.
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zösische Regierung zu Friedensgesprächen zu bewegen,24 fanden ebensowenig ein Echo, wie die nach dem Ende des Frankreichfeldzugs an England übermittelten Bedingungen, die der englische Botschafter in Washington, wie bereits erwähnt, „höchst zufriedenstellend“ fand.25 So konnte der damalige Finanzminister Reynaud, der bald der Premierminister der Niederlage von 1940 werden sollte, gegenüber Harold Nicolson kurz nach Kriegsausbruch noch viel weiter gehen als seine Militärs zu Friedenszeiten: „Wir haben sie (die Deutschen, d. Verf.) bereits am Wickel und sie wissen das auch! . . . Es ist völlig unvermeidlich und Sie wissen, ich würde das nicht zu ihnen sagen, der Sie früher meine Zweifel geteilt haben, wenn ich das nicht wirklich glaubte. Dann würde ich Ihnen sagen: ‚Wir müssen großen Gefahren begegnen.‘ Das sage ich Ihnen jetzt nicht. Ich sage: ‚Wir müssen uns auf den unausweichlichen Sieg vorbereiten.‘ “26
Der französische Premier mußte den Sieg für einige Jahre vertagen, zur allgemeinen Überraschung, besonders aber zur Verblüffung der sowjetischen Führung. Hier hatte sich Stalin die Förderung der innereuropäischen Auseinandersetzungen anders vorgestellt und mit einem langen, erschöpfenden Krieg zwischen den Westmächten und Deutschland gerechnet, so wie die Westmächte ihrerseits auf einen langen deutsch-polnischen Konflikt gebaut hatten. Diese Versuche, den jeweils anderen zum eigenen Vorteil voraus zu schicken, prägten die Politik in den letzten Jahren vor 1940. Einstweilen jedoch schien wenigstens das deutsch-russische Verhältnis noch nicht getrübt zu sein. Hitler am 8. März 1940, also noch vor Beginn der größeren Kampfhandlungen mit den Westmächten an Mussolini: „Rußland erlebt seit dem endgültigen Sieg Stalins ohne Zweifel eine Wandlung des bolschewistischen Prinzips in der Richtung auf eine nationale russische Le24 Göring schickte Raoul Nordling, den schwedischen Generalkonsul in Paris zu Reynaud: „Sagen Sie Herrn Paul Reynaud, daß nichts mehr den Lauf der Ereignisse ändern wird. Unsere Panzerdivisionen haben gestern die Maasfront durchbrochen. Ende des Monats werden wir Calais und Dünkirchen genommen haben.“ Und dann . . . Göring machte eine unbestimmte Geste und fuhr fort: „Herr Reynaud soll uns sofort Waffenstillstandsvorschläge machen. Wir sind bereit, Frankreich vernünftige Bedingungen zu bewilligen. Wenn er die Besetzung und Zerstörung seines Landes verhüten will, möge er sich beeilen. In ein paar Wochen wird es zu spät sein. Das Angebot, das ich ihm heute zu machen ermächtigt bin, wird nicht erneuert werden. Je länger Frankreich zögert, die offenbaren Tatsachen anzuerkennen, desto härter werden unsere Bedingungen sein.“ Zit. n. Benoist-Mechin, Himmel, S. 122. Zu den Hintergründen vgl. Scheil, Entfesselung, S. 455. 25 Vgl. Scheil, Entfesselung, S. 486 ff., sowie Nicolson, Tagebücher, S. 399. Dazu auch Ulrich Schlie, der auf eine der ersten Nachkriegsaussagen Ribbentrops hinweist, nach der er Ende Juni 1940 mit der Ausarbeitung eines ausführlichen Friedensangebots begonnen habe. Vgl. Schlie, Friede, S. 248; die Aussage Ribbentrops vom 23. August 1945 in: NA Washington, RG 319, XE 000 887. 26 Zit. n. Nicolson, Briefe, S. 354.
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bensform . . . Das, was den Nationalsozialismus zum tödlichsten Feind des Kommunismus gemacht hat, war dessen jüdisch-internationale Führung mit dem ausgesprochenen Ziel einer Vernichtung der nichtjüdischen Völker bzw. ihrer führenden Kräfte . . . Die Möglichkeit der Herstellung eines tragbaren Zustandes zwischen beiden Ländern ist heute unzweifelhaft gegeben . . . Wenn aber der Bolschewismus sich zu einer russisch-nationalen Staatsideologie und Wirtschaftsidee entwickelt, dann stellt er eine Realität dar, gegen die zu kämpfen wir weder Interesse noch einen Anlaß besitzen.27“
So blieb „der Osten“ zwar prinzipiell als „Aufgabe“ präsent, aber noch nach dem Sieg über Frankreich dachte Hitler nicht daran, hier sofort oder in absehbarer Zukunft etwas zu unternehmen. Das deutsche Heer wurde demobilisiert, mit England hoffte er ins Reine zu kommen, der Krieg schien aus zu sein. Mit neuen Verwicklungen rechnete er vorläufig nicht, wie auch bei einem Treffen mit Mussolini deutlich wurde: „Merkwürdig war im übrigen, daß Hitler das Bevorstehen einer russischen Intervention in Besserabien, die tatsächlich am 27. Juni 1940 erfolgte, nicht wahrhaben wollte.“28 Die aktuellen politischen Prämissen hatte er bereits deutlich formuliert: Der europäische Konflikt mußte beendet werden, bevor er sich auf die USA ausweitete, bevor die Spannungen auf dem Balkan zum Krieg zwischen Ungarn und Rumänien führen konnten oder gar – ein widerwillig zur Kenntnis genommenes Horrorszenario, das sich in den nächsten Tagen nach dem Waffenstillstand mit Frankreich erstmals abzuzeichnen begann – die UdSSR in einen solchen Krieg eingriff. An einen eigenen Angriff auf Rußland dachte Hitler noch wenige Tage vor den russischen Ultimaten an die baltischen Länder und Rumänien in keiner Weise. Dies würde eine neue Dimension bedeuten, den pazifischen Raum beeinflussen und also Japan – und, so darf man wohl ergänzen, auch die USA – auf den Plan rufen: „Der Krieg im Westen ist beendet. Frankreich ist besiegt, mit England werde ich in kürzester Frist zu einer Verständigung kommen. Dann bleibt nur noch die Auseinandersetzung mit dem Osten. Das ist aber eine Aufgabe, die weltweite Probleme wie das Verhältnis zu Japan und die Machtverteilung im Stillen Ozean aufwirft. Sie kann man vielleicht in zehn Jahren in Angriff nehmen, vielleicht kann ich sie auch meinem Nachfolger überlassen. Jetzt haben wir auf Jahre hinaus alle Hände voll zu tun, das in Europa Erreichte zu verdauen und zu konsolidieren.“29
In diesem Sinn gab Hitler nach dem Sieg über Frankreich seine Überzeugung zu erkennen, daß jede wirtschaftliche Regelung mit den Besiegten unter politischen Prämissen zu stehen habe.30 Priorität sollte nun alles genie27
ADAP, D, VIII, Dok. 663, hier zit. n. Hillgruber, Strategie, S. 30. Zit. n. Boehme, Waffenstillstand, S. 30, 18. Juni 1940. 29 Zit. n. Boehme, Waffenstillstand, S. 79. 30 So etwa gegenüber Ribbentrop, wie der Außenminister in seinem Brief an Göring eher beiläufig erwähnt. Vgl. ADAP, D, X, Dok. 142, S. 142. 28
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ßen, was den Krieg beenden half. So waren die Hauptkriegsursachen vielfältiger Natur gewesen, lassen sich aber im wesentlichen auf die anachronistische Form nationalstaatlicher Konkurrenz Europas zurückführen, die 1939 in einer Kette von Fehlentscheidungen und wechselseitigen Drohungen zum Krieg führte, dabei beschleunigt von der Konkurrenz der Europäer um die Gunst der beiden außereuropäischen Flügelmächte USA und UdSSR. Diesen Krieg nun zu beenden, erwies sich jedoch wieder als unmöglich, da die Voraussetzungen noch dieselben waren, unter denen er begonnen hatte. Dabei wurde immer deutlicher, daß es keinen Kompromiß geben würde. Der Regierungswechsel in England verstärkte den Anachronismus noch, indem mit Winston Churchill ein Premier ernannt wurde, der zuversichtlich der Meinung war, England könnte auf dem Kontinent selbst ein Gegengewicht zur UdSSR garantieren und daher Deutschland einigermaßen folgenlos zerschlagen. Noch 1953 machte er nach Stalins Tod den Vorschlag, Großbritannien könnte einem vereinigten Deutschland und der Sowjetunion Sicherheit voreinander garantieren. Statt der NATO und den Vereinigten Staaten sollte also England allein wieder als Garant der europäischen Ordnung auftreten, als sei nicht in zwei Weltkriegen hinreichend die eigene Unfähigkeit bewiesen worden, im Ernstfall entscheidend auf dem Kontinent einzugreifen.31 Aus deutscher Sicht stellten sich nach der oben skizzierten Situation die Dinge anders dar, als eben noch gedacht worden war. Da man in England nicht an Frieden dachte, stellte sich langfristig das Problem Sowjetunion wieder ganz neu. Zunächst war es aber nötig, während des noch laufenden Krieges eine Europakonzeption zu entwickeln, wie der deutsche Generalstabschef notierte: „Ursprüngliche Absicht des Führers war, mit England zu einem Abschluß zu kommen auf Kosten Frankreichs. – Gescheitert! . . . Nach Erkenntnis, daß Voraussetzungen für das Niederringen Englands noch nicht gegeben sind, neue Konzeption (Europa). Daraufhin Besprechung mit Mussolini. Über dieses Gespräch entstanden auf deutscher und italienischer Seite sehr verschiedene Auffassungen. Die angebliche Zustimmung des Führers stellt wohl eine einseitige Auffassung von uns dar.“32
Es blieben am Schluß begrenzte Alternativen, da der einzige Weg zur militärischen Entscheidung, der über eine Invasion der britischen Inseln, zu riskant schien: Der Krieg konnte demnach dilatorisch weitergeführt werden in der Hoffnung auf Besserung, etwa einem Regierungssturz in England. Im 31
Vgl. Scheil, Logik, S. 98. Zit. n. Halder, KTB, II, S. 186, 18. November 1940. Halder gibt hier offenbar die Ansicht Otto v. Stülpnagels wieder, General z. b. V. und Militärbefehlshaber in Frankreich. 32
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Rahmen einer solchen Strategie könnten militärische Erfolge im Rahmen der Blockade möglicherweise auch den aktuellen Premier Churchill zum Nachgeben motivieren. Zeitgleich waren für diesen Fall eigene politische Initiativen zur Nachkriegsordnung in Europa zu entwickeln, die bei Abschluß eines Kompromißfriedens vielleicht akzeptabel wären. Diese seit Sommer 1940 zu beobachtende „Flucht nach Europa“, auf die wir noch zurückkommen werden, beinhaltete zahlreiche politische Risiken, da leicht von einzelnen Staaten zu viel oder zu wenig verlangt werden konnte und auf diese Weise unerwartete negative Rückwirkungen für den eigentlich angestrebten Deeskalationsprozeß nicht ausgeschlossen werden konnten. Eine Vision einer neuen europäischen „Ordnung“ hatten beide Kriegsparteien nicht parat, letztlich bis Kriegsende nicht. Weitere Alternativen boten die militärische Offensive gegen England, etwa im Mittelmeerraum, dem Nahen Osten oder durch Besetzung der Westafrikanischen Küste, zu der man sich in der deutschen Führung nicht in der Lage sah,33 oder bald darauf der Angriff auf Rußland, das sich im weiteren Verlauf des Jahres 1940/41 als klar erkennbarer und mit deutschen militärischen Mitteln erreichbarer Gegner positionierte. Daraus ergab sich eine Verhaltenskette der deutschen Politik, die im folgenden deutlich werden wird. Es wurden von deutscher Seite Friedensangebote an die englische Regierung gemacht, die nicht angenommen wurden. Dann wurde gedroht, England direkt angreifen, was nach der Niederlage in der Luftschlacht um England nicht gewagt werden konnte. Es folgte der Versuch, England indirekt militärisch anzugreifen, was nicht ohne Verbündete wie Frankreich oder Spanien zu bewerkstelligen war, die aber nicht zu gewinnen waren. Der darauf folgende Versuch, England politisch mattzusetzen, in dem die UdSSR sich in einem Kontinentalblock an die Seite der Dreierpaktstaaten Italien-Japan-Deutschland stellen würde, scheiterte an der Ablehnung der Sowjets. Es wurden also alle Optionen ausgeschöpft, bevor im Winter 1940/41 beiderseits die Weichen für einen sowjetisch-deutschen Konflikt gestellt wurden. Entsprechend dieser Vorgaben entwickelte sich auch die deutsche Rüstung. Am 26. Juni 1940 war man mit den ersten militärischen Planungen nach dem Sieg über Frankreich fertig. Ein Krieg gegen Rußland war darin nicht vorgesehen, daher wurde die Zahl der Landstreitkräfte reduziert. Der Krieg gegen England könnte nur durch die Luftwaffe entschieden werden, nahm man in der deutschen Militärführung an. Deshalb sei die Luftwaffe „zu vervierfachen“, wie im Sommer 1940 entschieden wurde.34 Dies alles waren Notprogramme. Einen strategischen Gesamtplan für den nun stattfin33 34
Vgl. Hewel, Tagebuch, 8. Juni 1941. Vgl. Schramm, OKW, I/1, S. 1016 f.
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denden Großkrieg gab es in Deutschland nicht. Weder politisch noch militärisch oder rüstungstechnisch war ein solcher Krieg vorbereitet worden. Die Tiefenrüstung fehlte, und sie fehlte aus einem einfachen Grund, wie der zuständige General der Infanterie, Georg Thomas feststellte, Hitler hatte sich wegen seiner Leitlinie, im Sommer 1939 nur zu bluffen, aber keinen Krieg zu führen, persönlich gegen den Aufbau von Tiefenrüstung entschieden, er brauche „Breite“.35 Unter solchen Umständen konnte es nicht überraschen, wenn das deutsche Heer auch nach dem Sieg über Frankreich nicht dem Bild entsprach, das sich im nachhinein im Ausland und der Nachkriegsöffentlichkeit festgesetzt hat. Von einer modernen, einheitlich gerüsteten und durch Massen an Panzern geprägten Angriffsmacht konnte in der deutschen Wehrmacht nicht wirklich gesprochen werden. Die Verwendung einer Vielzahl an Beutegut aus tschechischen und französischen Beständen und die weitere Produktion veralteter Typen in geringer Stückzahl kennzeichnete die Situation.36 „Gespensterdivisionen“ wurden auf diese Weise nicht erst gegen Kriegsende Realität, sondern traten ein Jahr später bereits als Folge der unlösbaren logistischen Probleme auf, die der Vormarsch in der UdSSR mit sich brachte. Neben dem Zusammenbruch der Versorgung der eigenen Soldaten mit Nahrung und Kleidung verursachten sie auch die Hungerkatastrophe der sowjetischen Kriegsgefangenen mit. Ebenso blieben die Ersatzteile aus. Bereits im Herbst 1941 trat eine „Panzerdivision“ zum Sturm auf Moskau an, die aus diesem Grund über einen einsatzbereiten Kampfwagen verfügte.37 Die Umsteuerung der Rüstung für einen Krieg gegen die UdSSR hatte zu spät begonnen, sie war wegen der weiterhin ungenügenden Versorgung mit Rohstoffen möglicherweise in keinem Fall ausreichend zu leisten gewesen. Doch noch stellte die UdSSR nicht den erklärten Gegner deutscher Politik dar. Der Sommer 1940 brachte allerdings erste Anzeichen in diese Richtung. b) Die Konzeption der sowjetischen Außenpolitik nach dem deutschen Sieg über Frankreich „Mai 1940. Entsetzlich. Niemand konnte sich vorstellen, daß die schöne französische Armee eine derartige Niederlage erleiden würde. . . . 35
Zit. n. Thomas, Rüstungswirtschaft, S. 509. Die nicht-kriegführende UdSSR dagegen produzierte zwischen 1939 und Juni 1941 etwa 6600 Panzerwagen, also in etwa das Doppelte dessen, was die deutschen Streitkräfte am 22. Juni 1941 überhaupt zur Verfügung hatten. Vgl. Musial, Beutezug, S. 385. 37 Vgl. Bock, KTB, S. 327, 23. November 1941 und Arnold, Besatzungpolitik, S. 235. 36
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Ich traf . . . Nach seinen Angaben herrscht Verwirrung bei uns. Man diskutiert darüber, welcher Taktik man folgen soll. Man möchte alles nehmen, was schlecht geschützt oder exponiert ist. Bessarabien, die Bukowina, einen Teil der Moldau. Man hat einen Aufstand in der Dobrudscha im Sinne. Man möchte sich in Varna (sic) festsetzen, die Baltischen Staaten nehmen. Die Finnland-Frage ist von neuem gestellt. Man möchte in Persien einmarschieren. den Türken Kars und Ardahan nehmen. Das Problem der Dardanellen. So schnell wir möglich nach dem Balkan gehen, damit die Deutschen nicht versuchen, südlich der Donau vorzurücken. Es ist schwer für mich. von weitem zu urteilen. Ich fürchte jedoch, daß eine derartige Taktik zu Ergebnissen führt, die den erhofften entgegengesetzt sind. Kann man hoffen, daß Hitler auf dem Gipfel seiner Macht derartige Bedingungen annimmt?“ Maxim Litvinov38
Die Irrungen und Wirrungen des im Herbst 1939 ausgebrochenen Krieges stellten die Propaganda wie die Außenpolitik der UdSSR vor manche Herausforderung, wenn es galt, die Schuldigen zu benennen. Hatte Vjacˇeslav Molotov im Herbst 1939 ursprünglich noch behauptet, die Westmächte seien am Ausbruch und der Fortdauer des Weltkriegs schuld, so schwenkte die sowjetische Propaganda zusehends um. Die 1940er Ausgabe der „Geschichte der KPdSU“ gab bereits anderen „aggressiven Staaten“ die Schuld: Italien, Japan und Deutschland.39 Unfreundlicherweise wurde dort selbst der Anschluß Österreichs als „brutale imperialistische Aggression“ dargestellt und damit der Bestand des deutschen Territoriums in den Bereich des Illegalen gerückt. Die russische Propaganda begann Deutschland ins Visier zu nehmen und in der Bevölkerung auf subtile Weise die Aggression gegen dieses Land zu steigern. Auch die Arbeitszeitverlängerung der sowjetischen Bevölkerung wurde mit dem – falschen – Hinweis begründet, dies sei in Deutschland ebenso, und selbst den Bombenkrieg gegen Zivilisten sollte nach Meinung eines Autors die deutsche Luftwaffe begonnen haben.40 Dies waren Tonveränderungen, die je nach politischer Gesamtlage schwanken konnten, aber gerade dies machte die Sache ja bedenklich und eröffnete die Frage, warum die sowjetische Führung diese Tonveränderung zuließ, besser gesagt, befohlen hatte. Begleitet wurde dies durch Erklärungen, die nicht neu waren, deren Wiederholung aber in der gegenwärtigen Situation des Jahres 1940 eine neue Bedeutung annehmen konnte, zumal die Expansionspolitik der UdSSR nach Äußerungen ihres Außenministers auf den Endkampf am Rhein zielte, wie er im Sommer dieses Jahres sagte: 38
Zit. n. Litvinov, Memoiren, S. 268 f. Das blieb in Berlin nicht unbemerkt und diente der deutschen Propaganda als Motiv, zumal außer Frage stand, daß Stalin dies persönlich gebilligt hatte. Vgl. Krupinski, Komintern, S. 62. 40 Vgl. Krupinski, Komintern, S. 57 f. und S. 71. 39
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„Ich glaube, daß die Entscheidungsschlacht zwischen dem Proletariat und der degenerierten Bourgeoisie irgendwo in der Nähe des Rheins stattfinden und das Schicksal Europas für alle Zeiten entscheiden wird.“41
Um dieses Schicksal dann gegebenenfalls zu sichern, arbeitete die Sowjetführung bereits seit Jahren an einer Flotte, die den angelsächsischen Seestreitkräften überlegen sein sollte und unter anderem über die weltweit größte Zahl an U-Booten verfügte.42 Ganz in Sinn des beginnenden Marschs Richtung Westen kündigte die sowjetische Regierung am 23. Juni 1940 der deutschen Regierung an, die Lösung der Bessarabienfrage dulde keinen Aufschub mehr und werde gelöst werden, notfalls mit Gewalt.43 Seit Monaten habe Rumänien nichts unternommen, um eine „Lösung herbeizuführen“, womit Außenminister Molotov zum Leidwesen der rumänischen Regierung nichts anderes als die Übergabe des Gebiets an die UdSSR verstand. Beiläufig sagte Molotov bei dieser Gelegenheit aber auch zum deutschen Botschafter Schulenburg, der sowjetische Anspruch erstrecke sich ebenfalls auf die Bukowina. Damit war ein kleines Gebiet mit überwiegend ukrainischer Bevölkerung angesprochen, das derzeit zu Rumänien gehörte, früher einmal Territorium der KuK-Monarchie gewesen war, aber jedenfalls nie, auch zu Zarenzeiten nicht, zu Rußland gezählt worden war. Dies war also etwas vollkommen neues. Es bestanden keine Vereinbarungen zwischen Deutschland und der UdSSR über dieses Gebiet, denn die UdSSR hatte 1939 bei den Absprachen über die Einflußzonen ausdrücklich nur Bessarabien für sich geltend gemacht, die Bukowina aber nicht. Mehr noch: Auch in der Erklärung vor dem Obersten Sowjet am 29. März 1940, auf die sich Molotov mit seinen Vorwürfen an Rumänien bezog, war nicht von der Bukowina die Rede gewesen.44 Auch daraus konnten die Sowjets also keinen Anspruch ableiten. Der Vorgang schlug in Berlin ein wie die sprichwörtliche Bombe und führte zunächst dazu, daß Hitler sich von Außenminister Ribbentrop noch einmal vorlegen und interpretieren ließ, was er 1939 eigentlich unterschrieben hatte. „Soweit ihm erinnerlich“ teilte Ribbentrop mit, habe er weisungsgemäß das politische Desinteresse Deutschlands an diesen Gebieten erklärt, das wirtschaftliche aber betont. Die UdSSR habe sich, wie schriftlich festgehalten, ausdrücklich nur für Bessarabien interessiert.45 Das sei so allge41 So Molotov gegenüber Kreve-Mickevic ˇ ius, zit. n. Sommer, Memorandum, S. 116. 42 Geplant waren 15 Schlachtschiffe, 47 Kreuzer und 198 Zerstörer jeweils verschiedener Typen und 441 U-Boote. Vgl. Rohwer, Fleet, S. 858. 43 Vgl. Erklärung Molotovs zu Schulenburg, in: ADAP, D, X, Dok. 4, S. 3, 23. Juni 1940. 44 Vgl. Molotov, Außenpolitik, S. 21 f. u. ADAP, D, X, S. 3. 45 Vgl. Notiz Ribbentrops für Hitler, in: ADAP, D, X, Dok. 10, S. 9, 24. Juni 1940.
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mein wie möglich formuliert worden, um auch diesen Anspruch „nicht ausdrücklich schriftlich festzulegen“. Von der Bukowina sei nicht gesprochen worden. In jedem Fall blieb der deutschen Regierung zu dieser Zeit nichts anderes übrig, als den russischen Forderungen nachzugeben. Das deutsche Hauptinteresse, so Ribbentrop zu Hitler, sei es schließlich, daß es in der dortigen Region auf keinen Fall zu Kampfhandlungen kommen dürfte. Am gleichen Tag notierte Staatssekretär v. Weizsäcker eine erste Anweisung in diesem Sinn. Sie enthielt wenige Vorbehalte und nur ein einziges Anliegen, daß es eben nicht zum Kampf kommen solle.46 Das Hauptthema der letztlich völlig gescheiterten deutschen Balkanpolitik im kommenden Jahr war damit ausgesprochen. Ein weiteres Indiz wies ebenso in die Zukunft. Die Sowjetregierung beliebte den Vormarsch ihrer Truppen an die Grenze, der bereits zu Beginn der deutschen Offensive gegen Frankreich stattgefunden hatte, stets hinter einem Schleier an öffentlich vorgetragener Desinformation zu verstecken. In der Vorgeschichte des deutschen Angriffs auf die UdSSR spielen die Kommuniqués der Nachrichtenagentur TASS eine besondere Rolle. Das gilt ganz besonders für das Kommuniqué vom 13. Juni 1941, in dem die UdSSR betonte, es seien von Deutschland keine Forderungen an die Sowjetunion gestellt worden, die deutsch-sowjetischen Beziehungen seien also in bester Ordnung. Alle anderslautenden Gerüchte entbehrten jeder Grundlage und seien Wunschdenken interessierter Kreise. Als Verfasser dieses Textes gilt Stalin selbst, und so wird er gern als Beleg für die angebliche Blindheit des Diktators gegenüber dem bevorstehenden deutschen Angriff genommen, über den Stalin bereits eine überwältigende Zahl an präzisen Nachrichten besaß. Wir werden später auf dieses Kommuniqué zurückkommen. Es war jedoch nicht das erste Kommuniqué dieser Art, das der sowjetische Diktator geschrieben hatte. Recht genau ein Jahr zuvor, am 22. Juni 1940, verbreitete der sowjetische Rundfunk eine Meldung, die aufhorchen ließ: „In letzter Zeit werden im Zusammenhang mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in den baltischen Ländern verstärkt Gerüchte verbreitet, daß an der litauisch-deutschen Grenze einmal hundert, einmal hundertfünfzig Divisionen konzentriert sind, und daß diese Konzentrationen der sowjetischen Truppen durch die Unzufriedenheit der Sowjetunion über die Erfolge Deutschlands im Westen hervorgerufen worden sei, daß sie eine Verschlechterung der sowjetisch-deutschen Beziehungen erkennbar werden lasse und zum Ziel hätte, auf Deutschland einen Druck auszuüben. Verschiedene Varianten dieser Gerüchte wurden in letzter Zeit fast jeden Tag in der amerikanischen, japanischen, englischen, französischen, türkischen und schwedischen Presse wiederholt. 46 Vgl. ADAP, D, X, Dok. 8, S. 6, 24. Juni 1940. Gleichzeitig ging ein Schreiben an die rumänische Regierung, der geraten wurde, sofort in allen Fragen nachzugeben und nicht auf deutsche Hilfe zu hoffen.
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TASS ist bevollmächtigt zu erklären, daß all diese Gerüchte, deren Widersinn auch so in die Augen springt, der Wirklichkeit keineswegs entsprechen. In den baltischen Ländern befinden sich tatsächlich weder hundert noch hundertfünfzig Divisionen, sondern im ganzen gesehen nicht mehr als achtzehn bis zwanzig Divisionen, wobei diese Divisionen nicht an der litauisch-deutschen Grenze, sondern in verschiedenen Bezirken der baltischen Republiken zusammengezogen sind und zum Ziel haben, nicht einen ‚Druck‘ auf Deutschland auszuüben, sondern die Garantie für die Durchführung des Beistandspakts der UdSSR mit diesen Ländern zu schaffen. In verantwortlichen sowjetischen Kreisen ist man der Ansicht, daß die Verbreitung dieser widersinnigen Gerüchte das besondere Ziel verfolgt, einen Schatten auf die sowjetisch-deutschen Beziehungen zu werfen. Aber diese Herren geben ihre heimlichen Wünsche für die Wirklichkeit aus. Sie sind augenscheinlich nicht fähig, die offensichtliche Tatsache zu verstehen, daß man die gutnachbarlichen Beziehungen, die sich im Ergebnis des Abschlusses des Nichtangriffspakts zwischen der UdSSR und Deutschland ergeben haben, nicht durch irgendwelche Gerüchte und kleinliche vergiftende Propaganda erschüttern kann; denn diese Beziehungen sind nicht durch Motive wechselnder Konjunktur, sondern durch grundlegende Staatsinteressen der UdSSR und Deutschlands begründet.“47
Der 22. Juni 1940, so ist zu vermerken, das war der Tag des Waffenstillstands mit Frankreich. Sollte die UdSSR je beabsichtigt haben, bei einem schlechten Verlauf der deutschen Offensive gegen Frankreich offensiv in Richtung Westen vorzugehen, nicht nur gegen das Baltikum, sondern auch auf dem Balkan und „zum Schutz der polnischen Werktätigen“ möglicherweise ebenfalls gegen das von Deutschland kontrollierte, aber militärisch fast verlassene Polen, dann verstrich diese Gelegenheit gerade. Gerade der offenbar gut informierte Londoner Korrespondent der TASS hatte während des Frankreichfeldzugs bereits angeregt, die polnische Exilregierung solle militärische Einheiten aufstellen, die in einem solchen Feldzug an der Seite der Roten Armee kämpfen könnten.48 Obwohl sich hier bedenkliches tat, war Botschafter Schulenburg diese Äußerung der Nachrichtenagentur zunächst offenbar gar nicht aufgefallen. Er gab sie erst nach Berlin weiter, nachdem Molotov einen Tag später seine Forderungen gestellt hatte, sah dann jedoch einen Zusammenhang mit dem russischen Vorgehen gegen Bessarabien und meldete, Stalin habe die „deutsch-sowjetische Solidarität als Vorbereitung für die Lösung der Bessarabienfrage unterstreichen“ wollen.49 Dies war eine kühne Interpretation. Die Aussagen des Kommuniqués waren beinah sämtlich falsch und wo sie stimmten, wenig geeignet, sie zu stützen. 47 Zit. n. ADAP, D, X, Dok. 11 und Dok. 12, S. 10 f., Aufzeichnung 24.6.1940, Schulenburg an AA. 48 Die Regierung griff diese Anregung sofort auf. Vgl. Raczynski, London, S. 57. 49 Zit. n. ADAP, D, X, Dok. 12, S. 11.
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II. Europa in Brand stecken
Zunächst einmal hatte niemand ernsthaft behauptet, daß an der „litauischdeutschen Grenze“ hundert oder mehr Divisionen stationiert seien. Solche Zahlen wurden lediglich als Summe für die ganze deutsch-sowjetische Demarkationslinie genannt, die sich auch durch Polen zog. Sie stimmten. Daher bestätigte Stalins Dementi auch indirekt den ihnen angeblich unterstellten Zweck. Denn wenn keine hundert Divisionen in diesem Bereich existierten, zudem die wenigen, die doch dort waren, auch nicht an der Grenze aufmarschiert waren und sie daher „keinen Druck“ auf Deutschland ausüben könnten, dann läßt sich unschwer erschließen, wozu die hundert Divisionen dienen sollen, die tatsächlich doch existierten und die entgegen der Phantasiegeschichten der TASS bis zum 20. Juni sehr wohl in die Nähe der Grenze vorrückten.50 Sie übten jenen „Druck“ aus, den das TASS-Kommuniqué bestritt, verlogenerweise, darf man wohl sagen. Das läßt sich unter anderem daran feststellen, daß sie den deutschen Streitkräften zahlenmäßig um ein mehrfaches überlegen waren. Die zweite Kernaussage des Kommuniqués traf eher zu, war aber ebensowenig geeignet, als Solidaritätsadresse empfunden zu werden, sondern just diesen Druck zu verstärken. Sie läßt sich zusammenfassen als: In der ganzen Welt würde man einen antideutschen Kurswechsel der UdSSR begrüßen. Der sei jedoch nicht durch „Gerüchte“ und „Propaganda“ zu erzielen, sondern durch einen Konflikt bei den „grundlegenden Staatsinteressen“ zwischen der UdSSR und Deutschland. Damit war ein Bruch des Bündnisses zunächst auf dem Umweg über ein Dementi ins Gespräch gebracht. Auch die Vorgänge der nächsten Tage waren nicht geeignet, das Vertrauen in die Politik der UdSSR zu stärken oder in Berlin den Glauben zu nähren, die sowjetische Regierung arbeite auf das deutsche Ziel hin, den Status quo auf dem Balkan zu erhalten. Hatte Molotov dem deutschen Botschafter am 26. Juni noch gesagt, man habe nicht die Absicht, andere Staaten zu Forderungen an Rumänien zu ermutigen,51 so sickerte am gleichen Tag zur deutschen Botschaft durch, daß er eine Woche zuvor dem italienischen Botschafter Rosso das Gegenteil mitgeteilt und sowohl Ungarn als auch Bulgarien sehr wohl zu weiteren Forderungen an Rumänien ermuntert hatte. Nicht genug damit, wollte sich die UdSSR für weitreichende bulgarische Ansprüche an Griechenland stark machen, zu denen unter anderem ein Mittelmeerhafen gehörte, und fühlte sich gar selbst von der Türkei „bedroht“,52 was, wie allgemein spätestens seit dem Angriff auf Finnland be50 Vgl. Hillgruber, Strategie, 230 und ADAP, D, IX, Dok. 504, Aufzeichnung des Legationsrats von der Heyden-Rynsch über Mitteilungen der Abteilung „Ausland“ des OKW vom 20. Juni 1940. 51 Vgl. ADAP, D, X, Dok. 20, S. 18 f. 52 Vgl. ADAP, D, Dok. 21, S. 19 f. Unterredung zwischen Molotov und Rosso vom 20. Juni 1940.
2. Deutschlands Hauptaufgabe
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kannt, jederzeit zu einer russischen Aggression führen konnte. Man müsse sich, so Molotov, vor „der türkischen Bedrohung gegen Batum . . . nach Süden und nach Südosten sichern“.53 Die konkrete Drohung einer unbegrenzten russischen Militärintervention in Rumänien mit der Aussicht, den ganzen übrigen Balkan in Unruhe zu versetzen, war in Berlin jedenfalls angekommen. Hitler traute den Zusagen über die begrenzten Ziele der Roten Armee nicht. Es sei, so führte er aus, „gleichgültig, was die russischen Politiker im Augenblick über ihre Interessengrenze sagten. Sobald die Waffen sprächen und die Armeen marschierten, würde all dies hinfällig werden, und die vorher abgegebenen Erklärungen der Politiker (daß z. B. Rußlands Interessen nur bis zur Moldau gingen) würden durch den Siegeszug der Waffen über den Haufen geworfen.“54
Vor diesem Hintergrund beeilte sich die deutsche Führung, der Roten Armee in diesem Bereich etwas entgegenzusetzen und gruppierte Teile der Wehrmacht beschleunigt ins östliche Vorfeld Berlins um. Am 1. Juli 1940 bat Rumänien sogar bereits um eine Militärmission zu seinem Schutz, was zu dieser Zeit unter der unmittelbaren Drohung des Einmarschs der Roten Armee allerdings nicht anders denn als antisowjetische Intervention zu verstehen gewesen wäre und deshalb von deutscher Seite abgelehnt wurde.55 Dem Durchmarsch der Roten Armee in Richtung der Ölfelder sollte nicht durch Provokationen Vorschub geleistet werden, so lange hinter ihnen keine militärischen Optionen standen.
53 Just diese Expansion wurde ihm persönlich im November 1940 von dem offenbar gut informierten Hitler in Aussicht gestellt. 54 Zit. n. ADAP, X, Dok. 407, 28. August 1940, Besprechung Hitlers mit Ciano. Vgl. auch Hillgruber, Strategie, S. 233, Fn. 114. 55 Vgl. ADAP, X, Dok. 68 und Dok. 80 vom 1.7. bzw. 2.7.1940. Erst als im August ein ungarisch-rumänischer Krieg unmittelbar bevorzustehen schien, wurden zwei Panzerdivisionen nach Rumänien verlegt. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 233.
III. Kriegsperspektiven 1. Die irrelevante Größe „Deutschland wird innerhalb von sechs Monaten ohne Mussolini und innerhalb von drei Monaten mit Mussolini geschlagen.“ Georges Mandel1
Zu denen, die einen Frieden im Jahr 1940 „fürchteten“,2 gehörte auch Benito Mussolini. Sein Ehrgeiz konnte mit dem Ergebnis des italienischen Überfalls auf Frankreich nicht zufrieden sein, den Mussolini angesichts der absehbaren französischen Niederlage gegen Deutschland überhastet angeordnet hatte. Statt „Ruhm auf den Schlachtfeldern“ zu ernten und Italien einen gehörigen Anteil an der zu verteilenden Kriegsbeute zu sichern, hatte die italienische Armee sich und den ambitionierten Diktator blamiert. Dies stellte sich als einer der Punkte heraus, an denen das „allzu Menschliche“ wenig später eine geschichtsmächtige Bedeutung bekommen sollte. Ohne den Juni 1940 ist die italienische Kriegspolitik im Herbst des gleichen Jahres nicht zu verstehen. Lange hatte Mussolini gezögert, auf welcher Seite er in den Krieg ziehen sollte. Es war keinesfalls ausgeschlossen, daß er gegen Deutschland Stellung bezogen hätte, wäre der deutsche Westfeldzug gegen Frankreich gescheitert. Zweifellos wäre dies in der italienischen Elite auch populärer gewesen als die gegenteilige Entscheidung, die getroffen wurde, als der überraschende Erfolg der deutschen Truppen die Situation in ungeahnte Richtungen entwickelte. Die italienische Armee traf der Kriegseintritt an der Seite Deutschlands deshalb unvorbereitet. Mussolini hatte das schnelle Kriegsende befürchtet und wollte vorher zum eigenen Ruhm etwas bewegen, was sich für die Geschichtsbücher verwenden ließ. Dies wurde in doppelter Hinsicht eine Fehlspekulation, denn zum einen erreichten die italienischen Truppen fast nichts, zum anderen folgte der Niederlage Frankreichs letzten Endes kein Kriegsende. Immerhin ließ wenigstens der zweite Umstand das Tor zu jenem Ruhm weiter offen, auf den Mussolini hoffte, ohne sich offenbar je wirklich darüber klar zu werden, daß die italienische Bevölkerung diesen für Italien 1
Prognose des damaligen französischen Kolonialministers in einem Telefonat mit Eduard Beneš vor dem Münchener Abkommen. Hier zit. n. Post, Ursachen, S. 262. 2 Vgl. Ciano, Tagebücher, S. 249, 18./19. Juni 1940.
1. Die irrelevante Größe
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völlig sinnlosen Krieg eindeutig ablehnte und sich auf vielen Ebenen praktisch weigerte, ihn zu führen. Der Diktator deutete dies als fehlende „Größe“ der eigenen Bevölkerung und beschwerte sich bei seinem Außenminister über ein menschliches „Baumaterial“, aus dem auch ein Michelangelo nichts hätte schaffen können. Das schiefe Bild paßte zur Absurdität, die dem Selbstbild des italienischen Duce bei seinem Versuch, einen Renaissancefürsten zu kopieren, niemals ganz verlorenging. An dem, worum es in diesem Krieg ging, hatte Italien letztlich keinen Anteil. Anders als im Fall Deutschland, dessen Existenz von den Westmächten grundsätzlich in Frage gestellt wurde, standen für Italien nur periphere Besitzungen auf dem Spiel. Weder konnte der Erfolg aus dem Land auch nur innerhalb Europas eine machtpolitische Größe erster Ordnung machen, denn dem Mittelmeerraum fehlte dafür jede Voraussetzung, noch würde die Niederlage vernichtend sein, denn Italien würde für den Sieger immer ein mehr oder weniger nützliches Anhängsel bleiben, an dessen Zerschlagung niemand wirklich Interesse hatte. Dessen ungeachtet arbeitete Mussolini weiter an dem, was er für die einem Tyrannen angemessene Zielsetzung hielt und beschleunigte die Operationen, getrieben von der oben erwähnten Sorge, es könnte ein Frieden ausbrechen, der den angeblich vorhandenen Weg zum Ruhm verschließen würde. Der Vorstoß nach Ägypten und besonders die Militäroperation in Griechenland stellten nicht zuletzt einen Versuch dar, das Versagen der eigenen Truppen sichtbar zu korrigieren und sich wenigstens etwas demonstratives Großmachtimage zu verschaffen.3 Dies konnte Mussolini relativ ungestört tun und mit verheerenden Folgen für Deutschland. Denn der zwischen Deutschland und Frankreich abgeschlossene Waffenstillstand hatte mehrere Makel, darunter einen besonders bedeutenden, denn Frankreich wurde nicht vollständig militärisch besetzt. Es blieb eine große „freie“ Zone in Süd- und Zentralfrankreich, in der deutsches Militär keinen Zutritt hatte. Ursache waren die politischen Hintergründe, denn der Waffenstillstand war aus deutscher Sicht mit Blick auf ein baldiges Kriegsende konzipiert. Als eine unerwünschte Nebenwirkung schloß er Deutschland damit ausgerechnet von dem Gebiet aus, in dem der Krieg dann während der nächsten zwölf Monate tatsächlich vorwiegend stattfinden sollte. Die Wehrmacht hatte keinen Zugang zum Mittelmeer, und damit standen der englischen Strategie einer Kriegsausweitung in diesem Raum nach einer Regenerationsphase alle Türen für ihre Aktivitäten in die3 Vor dem Angriff auf Griechenland fehlte es nicht an inneritalienischen Warnungen. Der Gesandte in Athen schickte umfangreiche Berichte, sprach von – für griechische Verhältnisse – außergewöhnlichen Truppenkonzentrationen, von Kampfwillen und davon, daß ein italienischer Angriff letztlich dem englischen Kalkül dienen würde. Vgl. Schramm v. Thadden, Griechenland, S. 94 f., Bericht des Gesandten Grazzi aus Athen vom 3. Oktober 1940.
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III. Kriegsperspektiven
ser Region offen. Vor allem aber gab es keine Möglichkeit, statt der improvisierten Drohung mit einer Landung in England jene Strategie auszuführen, die in London viel mehr gefürchtet wurde: eine Kampagne in Nordwestafrika.4 In diesem Fall mußte von deutscher Seite zwar die in Algerien stationierte französische Flotte als Hindernis einkalkuliert werden.5 Allerdings bot der bestehende Brückenkopf im italienischen Libyen die Möglichkeit einer weitgehend ungestörten Entfaltung von deutschen Landstreitkräften. Diese Option sollte zweieinhalb Jahre später ausgeübt werden, als die widerstandslose Hinnahme der alliierten Landung in Marokko durch die französischen Truppen und der damit verbundene Bruch des Waffenstillstandsabkommens von 1940 zur Besetzung Südfrankreichs führte und dazu, daß der kleine Kern des deutschen Afrikakorps auf Armeestärke gebracht wurde, ohne das Blatt militärisch noch einmal wenden zu können. Ohne Pétains Übergabe „hätten die Deutschen Frankreich zerstört und wären in Gibraltar, Tunis und Marokko eingezogen“.6 Die Hauptgründe, warum dies 1940 nicht geschah, lagen im politischen Bereich, genauer gesagt, im Bereich der Entscheidungsfindung des Dritten Reichs und seines italienischen Verbündeten. Beide sahen den Krieg durch den überwältigenden Erfolg in Frankreich bereits entschieden und hatten kein Konzept für seine weitere Ausdehnung zur Bekämpfung Großbritanniens. So blieb eine naheliegende militärische Option ungenutzt, die darin bestanden hätte, statt mit ungeeigneten Flugzeugtypen und ohne die nötigen Marinestreitkräfte eine militärische Drohkulisse gegen die englischen Inseln aufzubauen, mit den vorhandenen Waffen und unter Anwendung der bewährten Taktiken im zweiten Halbjahr 1940 die nordafrikanische Küste zu besetzen, Ägypten und Marokko zu erreichen und damit das Mittelmeer als Kriegsschauplatz zu schließen. Das hätte sowohl die anglo-amerikanische Invasion in Marokko von 1942 unmöglich werden lassen, als auch eine Balkankampagne der Art verhindert, wie sie von der englischen Strategie im Frühjahr 1941 gestartet wurde. Eine weitere Ausdehnung des Krieges lag 1940 jedoch außerhalb der Absichten der deutschen Regierung, daher nutzte sie die Schwäche der englischen Position nicht aus und ließ ihre Hauptwaffe, die Landstreitkräfte, in der Phase absoluter Überlegenheit ein Dreivierteljahr untätig. Als der Waffenstillstand mit Frankreich geschlossen wurde, sollte er aus 4
Vgl. Nicolson, Tagebücher, 11. August 1940. Es war eine Bedingung sowohl Churchills wie auch Roosevelts gewesen, daß die französische Regierung einen Waffenstillstand nur unterschreiben würde, wenn Flotte und Kolonien dem deutschen Zugriff entzogen bleiben würden. Dies hatte Roosevelt dem scheidenden Premier Reynaud noch übermitteln lassen und er war von den Bedingungen des schließlich unterzeichneten Waffenstillstands entsprechend befriedigt. Vgl. Chambrun, Betrayal, S. 74 bzw. S. 83. 6 Zit. n. Ingrimm, Auflösung, S. 208. 5
1. Die irrelevante Größe
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deutscher Sicht den Auftakt für einen Frieden auch mit England liefern und eben gerade nicht die Basis für weitere militärische Operationen gegen das Empire oder in andere Richtungen. Hitler hatte nicht zwingend die Absicht, Frankreich oder einen anderen der im Frühjahr und Sommer 1940 angegriffenen westeuropäischen Staaten dauerhaft zu besetzen.7 Dies alles war Verhandlungsmasse, die im Fall von deutsch-englischen Friedenskontakten zur Diskussion stand. Der militärische Rückzug aus Westeuropa gehörte daher zu den Angeboten, mit denen England friedensgeneigt gemacht werden sollte, denn die Existenz des Empire galt Hitler weiter „als bedeutender Gleichgewichtsfaktor in der Welt“ und eine weitere Kriegsführung gegen dieses Land ebenso militärisch schwierig wie politisch unerwünscht.8 Wie wir noch sehen werden, blieb der Rückzug aus Holland, Belgien und Norwegen auch Gegenstand des Friedensentwurfs vom September 19409 und gehörte zu den Äußerungen, die Rudolf Heß im Frühjahr 1941 in England persönlich vortragen sollte. Andererseits wollte Italien keine deutsche Präsenz im Mittelmeerraum sehen und tat alles, eine solche Entwicklung zu verhindern.10 Offensichtlich wurden diese Differenzen im direkten Gespräch der Diktatoren. Man traf sich einmal mehr am Brenner-Paß, am 4. Oktober 1940. Wie schon bei früherer Gelegenheit hatten beide Seiten nicht die Absicht, sich gegenseitig unbedingt die Wahrheit zu sagen. Dazu gehörte in diesem Fall, daß Mussolini seine Angriffsabsichten in Griechenland geflissentlich verschwieg. Aber auch die von wenig Tatsachen getragene Einleitung Hitlers war symptomatisch, in der er die Stationierung von „Ferngeschützen, die bis zu 130 km weit schießen könnten“ an der französischen Küste ankündigte, um den guten Glauben seines Gegenüber weiter reichlich in Anspruch zu nehmen, als er gleich darauf noch von schwimmenden Panzern sprach, die offenbar den englischen Kanal überqueren sollten.11 Dies alles sprach nicht wirklich dafür, daß der Krieg gegen England bereits gewonnen sei, zumal Hitler bald im Gesprächsverlauf die Angst vor einem Rückschlag 7 Eine explizite Ausnahme machte er im Gespräch mit Mussolini bei Norwegen, wo Trondheim zu einem deutschen Kriegshafen ausgebaut werden sollte. Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 149, S. 216, 4. Oktober 1940. 8 Vgl. Ciano, Tagebücher, S. 249, Eintrag 18./19. Juni 1940. 9 In den letztgenannten Staaten war allerdings an Stützpunktrechte in Trondheim bzw. an der Kanalküste gedacht. Vgl. Halder, KTB, II, S. 137, Eintrag 15. Oktober 1940. 10 Hillgruber spricht sogar davon, der Einsatz deutscher Truppen im Mittelmeerraum wäre „im Spätsommer ound Herbst 1940 nur unter Gewaltanwendung gegen Italien“ möglich gewesen. Das scheint allerdings eine überzogene Spekulation zu sein. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 275. 11 Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 149, S. 210 f., 4. Oktober 1940.
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III. Kriegsperspektiven
zugab, der „unter keinen Umständen irgendwo eintreten“ dürfe.12 So blieben die Ergebnisse vage: „Ergebnis Brenner: Neuordnung Europas (Türkei und Rußland sollen gehört werden). – Verteilung der afrikanischen Kolonien (Frankreich soll Tunis an Italien abtreten, im übrigen seine Kolonien behalten) Spanien in die Achse hineinholen, soll der Duce übernehmen (Spanien zunächst noch ziemlich abgeneigt).“13
Dies folgte der Strategie, die deutsche Hauptaufgabe durch die Erstikkung des Kriegs zu lösen. Es sollte auf irgendeine Weise gelingen, den in die Anarchie treibenden Kontinent im wechselseitigen Einverständnis der wichtigsten Staaten soweit zu stabilisieren, daß weitere englische Eskalationsversuche erfolglos bleiben würden. Dazu gehörte, wie hier erwähnt, ausdrücklich auch die Einbeziehung der UdSSR in eine Regelung, die auch auf deren Wünsche Rücksicht nahm. Um einen Anlauf für ein solches Gesamtkonzept zu machen, hatte Hitler sich „auf die Linie ‚mit Frankreich‘ . . . ziehen lassen, und es (ist) ihm gelungen, Italien zu bekehren. Grundgedanke des Planes ist, alles sich anbietende gegen England zu vereinen, aber zunächst ohne Spanien, dafür aber Rußland (Irak usw.). Frankreich soll zu einem verkappten Bündnis gewonnen werden, dafür schon Zusagen, welche weitgehend Friedensschluß vorwegnehmen. Italien stellt viele Forderungen zurück (Savoyen), will nur Tunis, evtl. Korsika. Wir sind bereit, Algier, Marokko (daher Spanien wieder abschreiben) und Westafrika zu garantieren. Auch im Mutterland müssen wir gewisse Wünsche abschreiben, wie weit ist noch fraglich. Verfahren: Besprechung mit Spanien auf neuer Grundlage, dann mit Franc¸oisPoncet, dann mit Pétain, dann mit Molotov.“14
Nach diesem Plan ist dann in den Folgewochen weitgehend verfahren worden, wobei es widersprüchlich war, Frankreich hier als Hauptzahler einzuplanen und doch auf ein Bündnis mit diesem Land zu hoffen. Dennoch lag hier der Plan für ein Gesamtkonzept vor, das für alle, inklusive Rußland akzeptabel sein sollte. Wie Hitler abschließend feststellte: „Krieg gewonnen, Rest ist eine Frage der Zeit. Bestreben, Krieg möglichst rasch zu beenden.“15
Die Hoffnungen Englands seien derzeit weggefallen, fuhr Hitler fort: „a) Amerika. Wird nun Material liefern. Großer Bluff (Arbeiterfrage, Aluminium, Motore) (sic). USA gewarnt durch Dreierpakt. Sorge vor Zweifrontenkrieg. 12
Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 149, S. 212, 4. Oktober 1940. Zit. n. Halder, KTB, II, S. 128, 7. Oktober 1940. 14 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 130, Eintrag 9. Oktober 1940. 15 So Hitler laut Etzdorf am Brenner, zit. n. Halder, KTB, II, S. 136, Eintrag 15. Oktober 1940. 13
1. Die irrelevante Größe
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b) Rußland. Rußlands Rechnung mißlungen. Wir stehen jetzt mit 40, später mit 100 Div. an russischer Grenze. Rußland würde auf Granit beißen;16 aber nicht wahrscheinlich, daß Rußland sich in Gegensatz zu uns setzt; „in Rußland regieren Männer mit Vernunft.“17
So standen mehrere widersprüchliche Äußerungen nebeneinander. Einerseits galt der Krieg gegen England als gewonnen, andererseits stellte schon ein kleiner Rückschlag dies angeblich in Frage. Einerseits tauchte Rußland als Macht auf, gegen die man sich zur Abwehr vorbereiten müsse und die man nur mit massivem militärischen Druck in Schach halten konnte, denn Hitler hielt in diesem Gespräch dafür einhundert Divisionen für nötig, darunter alle Panzerdivisionen. Andererseits sollte die UdSSR als Verbündeter für eine wünschenswerte Nachkriegsordnung gewonnen werden und doch hieß es, „daß die Russen selbst im schlimmsten Falle für Deutschland kein Problem darstellen“ würden.18 Zu den Vorstellungen über Frankreich und die Kolonien gab es ebenfalls Widersprüchliches zu lesen. Einerseits wurden sie ausformuliert, andererseits blieben sie im Ungewissen, Verhandlungsmasse eben: „Deutsche Forderungen: Elsaß-Lothringen mit Abrundungen;19 Koloniale Stützpunkte an der afrikanischen Westküste. Alte Kolonien mit gewissen Abrundungen, Französisch-Mittelafrika. Drontheim (Norwegen) (sic) bleibt deutscher Kriegshafen.“20
Von der Erfüllung solcher Wünschen konnte ein Kriegsende über den Weg einer gemeinsame Front gegen England allerdings nicht abhängig gemacht werden: „Es kommt darauf an, eine europäische Koalition gegen England zustande zu bringen. Deutschlands koloniale Forderungen werden kein Hindernis sein.“21 16
Dies galt wohl für den Fall eines russischen Angriffs. Dazu gleichlautend auch das offizielle Protokoll. „In diesem Zusammenhang bemerkte der Führer, daß Stalin vor einem Jahr sicherlich an einen langen europäischen Krieg mit einer allgemeinen Zermürbung Europas geglaubt habe. (Was nach den von Dimitroff gemachten Aufzeichnungen auch richtig war, d. Verf.) Er hätte daraus sicherlich eine Entlastung für Rußland sowie neue Perspektiven in einem ausgebluteten Europa erwartet und sei jetzt zweifellos über die schnelle Erledigung des Krieges enttäuscht. Der Kreml habe sich in dieser Hinsicht verrechnet. Deutschland fürchte Rußland nicht und habe alles zur Abwehr vorbereitet.“ Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 149, S. 212, 4. Oktober 1940. 17 So Hitler laut Etzdorf am Brenner, zit. n. Halder, KTB, II, S. 136, Eintrag 15. Oktober 1940. 18 Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 149, S. 213, 4. Oktober 1940. 19 Gemeint war das Erzbecken von Briey, vgl. Halder, KTB, II, S. 138. 20 So Hitler laut Etzdorf am Brenner, zit. n. Halder, KTB, II, S. 137, Eintrag 15. Oktober 1940. 21 Ebd. zit. n. Halder, KTB, II, S. 137, Eintrag 15. Oktober 1940. Als Begründung für das geringe Interesse an Kolonien gibt Hitler den Zeitfaktor von „200 Jahren“, den Holland gebraucht hätte, seine Kolonien produktiv zu machen.
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III. Kriegsperspektiven
Der Rückzug aus Frankreich sollte im Friedensfall dann offenbar – mit den genannten Ausnahmen im Elsaß plus „Abrundungen“ – vollständig sein. Die Niederlande sollten politisch selbständig bleiben, schon wegen des Kolonialbesitzes. Belgien sollte sich politisch für Deutschland entscheiden und Stützpunktrechte an der Küste einräumen, staatlich allerdings selbständig bleiben.22 In diesen Aufstellungen dominierte das Wunschdenken. Nicht einmal die Basisvoraussetzung war gegeben, da die beiden Achsenmächte sich gegenseitig mißtrauten, selbst wenn Frankreich oder Spanien nicht mit in die Kombinationen einbezogen worden wären. Das zeigte sich nur Tage nach dem Brenner-Treffen von Hitler und Mussolini. 2. Der italienische Angriff auf Griechenland „Griechenland: Italien hat jetzt 9 Div. in Albanien. Anscheinend ist Ciano wieder in Tätigkeit, um Besetzung Korfus und griechischer Küste nach Süden in Gang zu bringen. Führer hält das für Unsinn und will an Mussolini schreiben.“ Franz Halder23
Spätestens seit Anfang Juli 1940 trafen in Rom Meldungen darüber ein, daß englische Schiffe und Flugzeuge Griechenland als Basis für Aktionen gegen Italien nutzen konnten und auch nutzten.24 In Italien gab es Sorge darüber, die englische Luftwaffe könnte von Stützpunkten in Griechenland aus italienische Flotteneinheiten angreifen. Diese Sorge war auch durchaus berechtigt. Der gleichen Ansicht war man zudem in Berlin und sie ließ sich später belegen: „Aus den in Frankreich gefundenen Dokumenten, deren Echtheit jederzeit von Darlan, Laval und Pétain bestätigt werden würde, ergäbe sich eindeutig, daß die Griechen sich als Deckung für die Engländer hergegeben hätten.“25
Zu diesen hier genannten Dokumenten gehörte etwa der Beitrag des griechischen Generalstabschef Papagos, der dem französischen Militärattaché im Oktober 1939 zu verstehen gegeben hatte, Griechenland hätte den Nichtangriffsvertrag mit Italien ganz bewußt deswegen nicht erneuert, um „seine 22
Vgl. Halder, KTB, II, S. 137 bzw. S. 138. Zit. n. Halder, KTB, S. 148, 24. Oktober 1940. 24 Vgl. Ciano, Tagebücher, S. 255, 3. Juli 1940. Laut Ciano drohte Mussolini „tätlich“ zu werden, wenn dies so weiterginge. Vgl. auch Eintrag vom 10. August 1940 Die Zwischenfälle an der albanisch-griechischen Grenze häuften sich, die Haltung Griechenlands sei „zweideutig“ und eine Rechnung seit 1923 sowieso noch offen. 25 So Hitler am 15. Februar 1941 zu Cvetkovic. Er bezog sich dabei auf die im deutschen Weißbuch zum Angriff auf Jugoslawien und Griechenland später veröffentlichten Dokumente. Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 48, S. 75. 23
2. Der italienische Angriff auf Griechenland
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Handlungsfreiheit an der Seite der Alliierten zu bewahren“.26 Auch gab es zahlreiche weitere Dokumente, die eine Zusammenarbeit zwischen militärischen Dienststellen der Alliierten und Griechenland klar aufzeigten und in der Feststellung General Gamelins gipfelten, der Chef des griechischen Generalstabs hätte ihn wissen lassen, die Landung eines alliierten Expeditionskorps in Saloniki könnte durch die griechische Armee gesichert werden.27 Die Dinge waren 1939/40 bereits weit gediehen und es lag vorwiegend am ausgebliebenen Kriegseintritt Italiens, wenn sich die Alliierten im Frühjahr entschlossen, den Krieg zunächst nach Skandinavien auszuweiten und noch nicht auf den Balkan.28 Eigentlich wäre eine Aktion auf dem Balkan „viel vorteilhafter“ als eine in Skandinavien, schrieb Gamelin, „den Schlüssel zum Balkan hält jedoch Italien in der Hand“.29 Die Situation hatte sich seit Sommer 1940 gewandelt, denn Italien führte jetzt Krieg gegen England und die Nachbarstaaten sahen sich gezwungen, dazu irgendwie Stellung zu nehmen. Griechenlands Neigung zu England hin konnte als konstant angenommen werden. Die Benutzung einzelner griechischer Häfen und Stützpunkte zu Angriffen gegen Italien war ein nicht unwahrscheinliches Szenario. Dem gedachte man in Rom nun durch eine Besetzung der griechischen Ostküste zuvorzukommen. Dieser Plan war weniger ungewöhnlich, als er auf den ersten Blick erscheinen könnte. Zu besetzen, was vielleicht zur Gefahr werden könnte oder militärisch nützlich war, das entsprach etwa der gängigen Praxis der englischen Politik, 1940 in Skandinavien, aber auch im Mittelmeerraum und im Nahen Osten. 1941 wurde das damals französische Syrien von britischen Streitkräften gegen den Widerstand der dortigen Truppen des ehemaligen Verbündeten besetzt. Bald darauf traf es im gleichen Jahr mit Persien sogar einen neutralen Staat, der wegen der Gefahr politischen Mißverhaltens gleichzeitig von der Roten Armee und Streitkräften des Westens parallel besetzt wurde, damit Ölförderung und Waffentransfer störungsfrei ablaufen konnten. Insofern würde eine italienische Besetzung Griechenlands eine Praxis des Kriegsgegners widerspiegeln. Mit Widerstand mußte im Fall Griechenlands allerdings gerechnet werden, denn im sicheren Gefühl englischer Unterstützung und getragen vom fehlenden Respekt vor italienischen Militärs lehnte es die griechische 26
Mitteilungen des französischen Militärattachés in Athen an den französischen Ministerpräsidenten vom 30. und 31. Oktober 1939. Vgl. AA, Konflikt, S. 164 ff. 27 Aufzeichnung des Oberbefehlshabers des französischen Heeres Gamelin vom 4. Januar 1940. Vgl. AA, Konflikt, S. 183. 28 Dann zerstörten die weiteren Ereignisse solche Pläne: „Unter dem Druck der Ereignisse an der Nordost-Front sieht sich das französische Oberkommando gezwungen, . . . jede Landungsoperation in Saloniki . . . aufzuschieben.“ Zit. n. AA, Konflikt, S. 110, Aufzeichnung Weygand vom 27. Mai 1940. 29 AA, Konflikt, S. 101, Aufzeichnung Gamelin vom 10. März 1940.
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III. Kriegsperspektiven
Regierung ab, italienische Truppen ins Land zu lassen. Mussolini wartete denn auch gar nicht auf die Antwort der griechischen Regierung. Er ließ letztlich die italienischen Truppen einrücken und vermehrte damit den Aufgabenkatalog der deutschen Politik in diesem Raum. Vorher hatte es an deutschen Mahnungen und Warnungen vor diesem Schritt nicht gefehlt. Wie die anderen Balkanstaaten auch, sollte Griechenland nach Hitlers Vorstellungen eigentlich über den Beitritt zum Dreimächtepakt so weit an die Achsenstaaten gebunden werden, daß das Land wenigstens nicht auf der Gegenseite in den Krieg eintrat. Lediglich die englische Landung in Griechenland galt es zu verhindern, auch noch nach Beginn der italienischen Invasion: „Setzt der Grieche den Engländer hinaus, dann ist ein Angriff unsererseits nicht nötig. Für alle Fälle aber ist es notwendig, den Angriff ‚Marita‘ vorzubereiten.“30
Jede militärische Bewegung in Griechenland würde naturgemäß das deutsche Hauptziel stören, in dieser Region Ruhe zu halten. Als sich daher die griechische Regierung in Berlin über italienische Truppenkonzentrationen an ihrer Grenze beschwerte, bat Ribbentrop den italienischen Botschafter, „die italienische Regierung zur Ruhe zu mahnen.“31 Das galt nicht nur für Griechenland. Ribbentrop ließ die italienischen Partner auch wissen, daß „jedes Projekt eines Angriffs gegen Jugoslawien beiseite gestellt werden muß.“32 Man fügte sich in Italien scheinbar, zumal auch Hitler persönlich sicherheitshalber noch einmal nachlegte: „Den Italienern ist, anscheinend vom Führer persönlich, bedeutet worden, daß sie an der albanisch-griechischen Grenze Ruhe halten sollen.“33
Man schien sich darüber auch im Herbst noch einig zu sein: „Besprechung Florenz klar gelaufen. . . . Erweiterung des Krieges auf dem Balkan soll vermieden werden.“34
Trotzdem führte der Ärger über Hitlers und Ribbentrops Interventionen in Rom sofort wieder die Neigung zu großen Entschlüssen herbei, die sich aus den Verwicklungen auf dem Balkan ergeben könnten. Es sei „ganz 30 Hitler am 5. Dezember 1940 in einer Besprechung mit Halder, zit. n. Halder, KTB, II, S. 212. 31 Vgl. BA-MA RW 4/42, S. 20. Bericht des Verbindungsoffiziers Ausland an die Abteilung Landesverteidigung vom 21. August 1940. 32 Zit. n. Ciano, Tagebücher, S. 265, 17. August 1940. 33 Vgl. BA-MA RW 4/42, S. 30. Bericht des Verbindungsoffiziers Ausland an die Abteilung Landesverteidigung vom 31. August 1940. Im selben Sinn auch Ciano am 28. August: „Das einzige, was ihm (Hitler) am Herzen liegt, ist, daß der Friede auf dem Balkan erhalten bleibt und daß das rumänische Petroleum weiter in seine Reservois fließen möge.“ Ebd. Ciano, Tagebücher, S. 268. 34 Anmerkung zur Besprechung Hitlers mit Mussolini am 28. Oktober 1940, zit. n. Halder, KTB, II, S. 157, 1. November 1940.
2. Der italienische Angriff auf Griechenland
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gleich, ob man demnächst eine antirussische oder eine antideutsche Politik einschlagen würde“, notierte Ciano.35 Am Ende stand dann doch der Angriff auf Griechenland,36 der völlig scheiterte, was die italienischen Faschisten nicht daran hinderte, sich nach dem deutschen Sieg zu benehmen, als hätten sie ihn aus eigener Kraft errungen. Im Grunde blieb für Deutschland der einzige Nutzen des Bündnisses, Italien nicht als Gegner zu haben, wie Ribbentrop seinem Staatssekretär erklärte. Herr v. Ribbentrop meine, „es sei ein Glück, daß sie nicht auch noch militärische Erfolge aufzuweisen haben. Sonst wären sie ganz unerträglich. Ihr Land als Kriegsschauplatz zur Verfügung zu haben sei, was wir von ihnen brauchten, mehr nicht. Besser so, als wenn sie auf der Gegenseite ständen.“37
Ribbentrop durchschaute damit zwar den schrankenlosen Machiavellismus des italienischen Regimes, das bei jeder passenden Gelegenheit auf der Seite der Gegner wechseln könnte und dies 1943 schließlich auf spektakuläre Weise auch tat. Trotz noch geltender Bündnisverpflichtungen sprach die italienische Regierung mit den Alliierten einen fliegenden Wechsel ins andere Lager ab und wollte ihre Soldaten zwingen, den deutschen Verbündeten aus den von deutschen Truppen eroberten und an Italien übergebenen Stellungen praktisch buchstäblich in den Rücken zu schießen. Dieser letzte Schwenk führte allerdings wegen der beinah flächendeckenden Weigerung des italienischen Militärs, sich auf diese Weise mißbrauchen zu lassen, zum endgültigen Sturz der monarchisch-faschistischen Regierung. Mit dem 1940 von Ribbentrop formulierten Minimalanspruch an den nominal engsten Verbündeten, der noch dazu ständig durch weitere Gegenleistungen in militärischen Fragen sowie bei der Versorgung mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln gepflegt werden mußte, und der trotzdem in den italienischen Führungszirkeln immer wieder in Frage gestellt wurde, war das Dilemma der deutschen Bündnispolitik treffend beschrieben. Verbündete konnten nur gegen politischen Druck und/oder materielle Gegenleistungen gewonnen werden, wobei beides den Kriegsgegnern in höherem Maß zur Verfügung stand. Italiens schwankende Politik gehörte zu den extremen Schlüssen, die aus dieser Situation gezogen werden konnten. Paul Kennedys wie George Mandels Einschätzung trifft wohl zu, daß dies schließlich einer der wenigen Fälle in der Weltgeschichte war, in der ein Verbündeter keinen Gewinn, sondern ein bedeutendes Element der eigenen Niederlage bedeu35
Zit. n. Ciano, Tagebücher, S. 285, 11. November 1940. Ciano behauptet, bereits am 27. Oktober, also vor dem Treffen Hitler-Mussolini am 28. Oktober das geplante Ultimatum an spanische, ungarische, japanische und deutsche Diplomaten weitergeleitet zu haben, die „überrascht“ gewirkt hätten. Ciano, Tagebücher, S. 285, 27. Oktober 1940. 37 Zit. n. Weizsäcker, Papiere, S. 248, 21. April 1941. In diesem Sinn auch Ribbentrop in seinen Memoiren. 36
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III. Kriegsperspektiven
tete. Diesen Verbündeten „gewann“ die deutsche Politik noch in der Vorkriegszeit. Wenn dieses Bündnis bereits so wertlos war, mußte es um so schwerer sein, den politischen Kurs weiterer Neutraler oder Scheinverbündeter zu errechnen. 3. Deutschland: Wie löst man die Hauptaufgabe? „Hätte Großbritannien im Mai 1940 den Kampf eingestellt, dann hätte Hitler seinen Krieg gewonnen. . . . Spätestens im November 1941 wußte Hitler aber, daß dies nicht mehr im Bereich des Möglichen lag. Danach wurde seine Strategie ‚friederizianisch‘, sie erinnerte an jene Friedrichs des Großen: eine genügende Anzahl an Siegen zu erringen, um die unnatürliche Koalition seiner Gegner aufzubrechen – Anglo-Amerikaner und Russen, Kapitalisten und Kommunisten, Churchill, Roosevelt und Stalin – und so den einen oder anderen dazu zu bringen, sich mit ihm zu einigen. Dazu kam es nicht. Es hätte jedoch dazu kommen können.“ John Lukacs38 „Er, der Führer, sei immer bereit für den Frieden gewesen, sei aber zu diesem Krieg von Etappe zu Etappe gedrängt worden.“ Adolf Hitler39
a) Die Besprechung vom 21. Juli 1940 Ende Juli 1940 wurden in Berlin weitere Entscheidungen darüber gefällt, wie der Krieg politisch weiterzuführen sei, wenn er denn überhaupt weitergehen sollte. Zu Beginn der Debatte lag die Ablehnung des deutschen Kompromißvorschlags durch die englische Regierung nicht vor. In jener Besprechung am 21. Juli jedoch, in der über das Gespräch des englischen Botschafters in Washington mit dem deutschen Gesandten über einen möglichen Friedensschluß geredet wurde, kam neben den USA („Roosevelt unsicher“) auch das Verhältnis zu Rußland zur Sprache. Dies geschah in einem klaren Zusammenhang. Die Haltung der UdSSR gegenüber den Achsenmächten hatte sich verändert und zunehmend eine „feindliche Einstellung erkennen“ lassen.40 Doch trotz der jetzt bereits einen Monat zurückliegenden Affären um Bessarabien sowie die Bukowina und den immer noch andauernden russischen Aktivitäten, den Balkan als eigene exklusive Einflußzone zu etablieren, hielt Hitler die UdSSR potentiell auch weiterhin für 38
Zit. n. Lukacs, Tage, S. 168 bzw. S. 167. Zit. n. ADAP, XII/1, Dok. 215, S. 304, Gespräch Hitlers mit Szotaj am 28. März 1941. 40 Vgl. Ciano, Tagebücher, S. 255, Eintrag 3. Juli 1940. 39
3. Deutschland: Wie löst man die Hauptaufgabe?
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einen möglichen Verbündeten. Selbst die bereits vorliegenden Nachrichten über die Äußerungen Stalins gegenüber Stafford Cripps Anfang Juli 1940, er würde gern verdeckt mit England zusammenarbeiten, erst später aber offen gegen Deutschland auftreten, schienen hier noch nicht jede Möglichkeit verschüttet zu haben. Den Kurznotizen von Generalstabschef Halder nach, faßte Hitler die politischen Optionen, England unter Druck zu setzen, kurz zusammen: „Wenn England weiter Krieg führen will, dann wird versucht werden, alles politisch gegen England einzuspannen: Spanien, Italien, Rußland.“41
Damit ist beschrieben, was in den nächsten Monaten versucht wurde. Deshalb ist es kurios, gerade aus diesen Äußerungen einen apodiktisch geplanten Eroberungsfeldzug gegen ein Land wie Rußland ablesen zu wollen, das doch „politisch eingespannt“ werden sollte.42 Es muß Gewalt bei der Quellendurchsicht angewendet werden, um dies so sehen zu wollen. Immerhin waren Hitlers Äußerungen in Bezug auf Rußland, so wie Halder sie notierte, in jedem Fall etwas widersprüchlich: „Stalin kokettiert mit England, um England im Kampf zu erhalten und uns zu binden, um Zeit zu haben, das zu nehmen, was er nehmen will und was nicht mehr genommen werden kann, wenn Frieden ausbricht.“43
Aber: „Rußland-England: Beide wollen zueinander. Russen haben Angst, sich uns gegenüber zu kompromittieren, wollen keinen Krieg. Besprechungen Stalin-Cripps lassen offiziell eine erfreuliche Ablehnung Stalins gegen England erkennen. Rußland lehnt ‚Gleichgewichts‘-Politik Englands ab, lehnt englische Bedingungen für Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern ab. Es will nicht die Führung und Zusammenfassung auf dem Balkan in Anspruch nehmen, weil ein solcher Anspruch keine Macht ergeben könne.“44
Letzteres war angesichts des politischen Standes der Dinge allenfalls insofern richtig, als Stalin sich nicht ohne englische Gegenleistung und zum falschen Zeitpunkt zu einer Aktion gegen Deutschland hinreißen lassen wollte, während der an dieser Stelle bestrittene sowjetische Drang zu einer Führungsrolle auf dem Balkan als offensichtlich gelten mußte. Der bis dahin beste Zeitpunkt für einen Konflikt mit Deutschland lag jedoch bereits etwas zurück. Er hatte militärisch im Mai und Juni gelegen, als die deut41
Zit. n. Halder, KTB, II, S. 31. So etwa Hillgrubers Kommentar. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 216. 43 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 32. 44 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 34. Dahinter verbarg sich allerdings die Tatsache, daß Cripps den Sowjets eine solche Führungsrolle auf dem Balkan angeboten hatte, wie Molotov gegenüber Schulenburg durchblicken ließ. Vgl. Sommer, Memorandum, S. 37. 42
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III. Kriegsperspektiven
schen Truppen in Frankreich im Einsatz waren und die Rote Armee in Millionenstärke an der deutsch-russischen Grenze bereit gestanden hatte. Ein Konflikt, der sich aus dem sowjetischen Ultimatum an Rumänien ergeben hätte, wäre militärisch leicht zugunsten der Roten Armee entschieden gewesen. Jetzt, nach Ende der Kämpfe im Westen und der begonnenen Umgruppierung der deutschen Streitkräfte, war eine gewisse Beruhigung eingetreten. Das konnte den prinzipiellen Konflikt nicht völlig verdecken: „Die wirkliche Stimmung in Rußland kommt aber bei anderen Gelegenheiten (Gespräch Kalinin mit jugoslawischem Gesandten Gavrilovic´) zum Ausdruck. Hier wird zum Kampf gegen Deutschland aufgefordert. ‚In einem Block zusammenschließen‘.“45
Ob Stalin nun nur mit England „kokettierte“ oder wirklich zu England „wollte“, blieb bei den Ausführungen der beiden Militärs naturgemäß etwas unklar, ebenso, ob er keinen Krieg wollte und Angst vor Deutschland hatte oder ob er doch auf eine Gelegenheit zum Zuschlagen hoffte, wie es sich aus Cripps’ Aufzeichnungen ergab. Davon gingen jene Befürchtungen in Deutschland ja eigentlich aus, die an diesem Tag dazu führten, daß man Pläne in Angriff nahm, das russische Heer doch wenigstens so weit zurückzudrängen, damit Luftangriffe gegen Berlin, Oberschlesien und das rumänische Ölgebiet nicht mehr möglich seien. Gleichzeitig wurden politische Ziele in den Raum gestellt, die auch Hitler sich immer wieder zu eigen machte. Es ging um die Loslösung der Ukraine, Weißrußlands, Finnlands und des Baltikums aus dem sowjetischen Staatsverband bzw. Einflußbereich. Ob Hitler sie an diesem Tag genannt hat,46 oder ob Halder und Brauchitsch sie von sich aus konstatierten, ist vergleichsweise weniger wichtig. Sie gaben in jedem Fall Hitlers selbstentwickelte Ansichten wieder. Daraus zu folgern, „daß es sich bei dem Ostfeldzug um keine ausschließlich aus militärischen Gründen beabsichtigte Operation handelte,“47 ist jedoch banal. Noch nie ist ein Krieg ohne die Absicht begonnen worden, militärische Entscheidungen zur Durchsetzung politischer Ziele zu benutzen. b) Auf nach Polen Bereits Tage bevor Hitler zum ersten Mal über die Bedrohung durch Rußland und einen möglichen russisch-deutschen Konflikt sprach, war man 45 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 34. Dies ist wichtig festzuhalten, denn die Aktivitäten Gavrilovic´s stellten später eine wesentliche Begründung für den Vorwurf dar, die UdSSR hätte den Nichtangriffspakt gebrochen. Dies stellt also keinen Vorwand dar, sondern wurde in der deutschen Führung wirklich gedacht. 46 Wie Herausgeber Jacobsen in einer Anmerkung mutmaßt. Vgl. Halder, KTB, II, S. 33. 47 Zit. n. Hillgruber, Strategie, S. 219.
3. Deutschland: Wie löst man die Hauptaufgabe?
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in London zum gleichen Ergebnis gekommen. Der polnische Botschafter meldete am Samstag, den 27. Juli 1940 im Foreign Office den bevorstehenden Angriff Rußlands auf das deutsch besetzte Polen: „Raczynski kam gegen halb zehn und brachte Neuigkeiten von einer bevorstehenden russischen Okkupation weiter Teile des deutsch besetzten Polen. Es sieht nach einem deutsch-russischen Konflikt aus und als ob D. die russische Einmischung in seine Balkanpläne weggekauft hätte.“48
Wenige Wochen später trug Churchill diese Andeutungen in einer deutlich offensiveren Interpretation in die Öffentlichkeit. Seine Hoffnungen lagen demnach neben der Wirksamkeit der wirtschaftlichen Blockade auf einer sowjetischen Offensive, so stellte er es dem Parlament dar: „Winston hält im Unterhaus eine große Rede. . . . Es war eine maßvolle und wohlabgewogene Rede. Er versuchte nicht zu begeistern, sondern nur zu führen. Er gab einen merkwürdigen Hinweis auf die Möglichkeit eines russischen Angriffs auf Deutschland und sprach davon, daß wir ‚mit den Vereinigten Staaten verbunden‘ seien.“49
Der von Nicolson erwähnte „merkwürdige Hinweis“ Churchills spielte auf einen möglichen Angriff der russischen Luftflotte an, den Hitler im Fall weiterer Attacken auf England zu berücksichtigen habe. Da Marschall Shaposhnikov nach Angaben seiner Mitarbeiter solche Perspektiven für diesen Fall ebenfalls sah: „Die Strecke Kaunas-Berlin wird praktisch offen vor unserer Luftwaffe liegen, während der Landweg über Vilkovisky-KönigsbergBerlin für unsere bewaffneten Streitkräfte und die motorisierte Infanterie offen sein wird,“50 stellten Churchills vage Hinweise keine leere Drohung dar. Raczynski seinerseits gründete seine Andeutungen eines bevorstehenden sowjetischen Vormarschs Richtung Westen wohl auch auf eine Besprechung, die der Korrespondent der „Polish Telegraph Agency“, Litauer, bereits Anfang Juni mit seinem Kollegen von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS hatte.51 Litauer fertigte ein Memorandum an, das er Regierungschef Sikorski überreichte.52 Der TASS-Korrespondent hatte demnach eine polnisch-sowjetische Zusammenarbeit im bevorstehenden deutsch-russischen Konflikt angeregt, was konkret hieß, daß polnische Soldaten und 48 Zit. n. Cadogan, Diary, S. 317, 27. Juli 1940. Im Original „G.“ statt „D.“. „G.“ verwendet Cadogan laut Ansicht der Herausgeber der Tagebücher als Abkürzung für „Gromyko“, es steht hier aber offenkundig für Germany. 49 Zit. n. Nicolson, Tagebücher, S. 402, Eintrag vom 20. August 1940. 50 Vgl. Churchill, Reden, I, S. 396 bzw. Krylov, Officer, S. 6. 51 Die Aufstellung polnischer Einheiten war also nicht erst im Juni 1941 im Gespräch, wie dies Heinz Magenheimer meint, der darin aber ebenfalls selbst bei dieser Datierung eine „bedeutsame politische Entscheidung“ sieht. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 111. 52 Vgl. Raczynski, London, S. 57.
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III. Kriegsperspektiven
Offiziere an der Seite der Roten Armee kämpfen sollten. Während allein in der Westukraine bereits siebenhunderttausend Rotarmisten aufmarschiert waren, deren Existenz die sowjetische Regierung gegenüber dem deutschen Botschafter bestritt, machte man sich in Moskau offenbar bereits detaillierte Gedanken über den Empfang der eigenen Truppen in Polen. Beides ein Spiegelbild dessen, was im nächsten Jahr geschehen sollte, als zweieinhalb Wochen vor Kriegsbeginn die Aufstellung einer polnischen Armee beschlossen wurde.53 Das Ganze hatte schon 1940 mindestens halboffiziellen Charakter, und es wurden auch bereits Zahlen genannt, wobei die Schaffung einer Truppe von dreihunderttausend Soldaten im Gespräch war. Des weiteren sollte der nach Moskau reisenden Delegation von Stafford Cripps, der in diesen Tagen zum neuen englischen Botschafter in der UdSSR ernannt wurde, ein inoffizieller Beobachter der polnischen Regierung beigegeben werden.54 Raczynski stand der Sache skeptisch gegenüber, als Sikorski ihm darüber berichtete, aber Sikorski schnitt die Angelegenheit bei einem Treffen mit Churchill am 18. Juni 1940 an. Also wurde recht bald von sowjetischer Seite ganz konkret nicht nur die Unterstützung zur Aufstellung jener dreihunderttausend Mann starken Truppen in Aussicht gestellt, sondern mit diesem Angebot das viel entscheidendere Signal gegeben, daß die UdSSR in die militärische Auseinandersetzung auf Seiten der Westmächte eintreten wollte. Mit den Bestimmungen des deutsch-russischen Nichtangriffspakts vertrug sich das in keiner Weise, weder dem Buchstaben noch dem Geist nach. In jedem Fall nahmen diese Besprechungen zunächst einen konkreten Verlauf und am 19. Juni 1940 hielt Außenminister Halifax ein Memorandum der polnischen Regierung in Händen, das die Entsendung eines polnischen Beobachters nach Moskau billigte.55 Damit sei keine Anerkennung der Tatsachen verbunden, die durch die sowjetische Aggression im Vorjahr geschaffen worden waren, hieß es ausdrücklich. Dennoch sei die Schaffung einer polnischen Truppe ein Weg zur Besserung der „tragischen Situation“ der Bevölkerung im sowjetisch besetzten Ostteil der polnischen Vorkriegsrepublik, besonders zur Besserung der Lage der kriegsgefangenen polnischen Soldaten und Offiziere in sowjetischem Gewahrsam. Wegen der Einsprüche anderer Regierungsmitglieder konnte Sikorski sich mit diesem Angebot nicht durchsetzen. Es wurde zurückgezogen. So blieb der polnischen Exilregierung für gut drei Jahre noch die Erkenntnis erspart, daß den gefangenen polnischen Offizieren längst nicht mehr zu helfen möglich war. Anfang des 53 Am 4. Juni fiel dann die endgültige Entscheidung des Politbüros, eine solche Einheit aufzustellen. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 111. 54 Vgl. Raczynski, London, S. 57. 55 Vgl. Raczynski, London, S. 58 f.
3. Deutschland: Wie löst man die Hauptaufgabe?
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Jahres hatten die Sowjets sie in Katyn erschossen.56 Dahinter stand die prinzipielle Entscheidung der Sowjetregierung, eine Restauration Vorkriegspolens und seiner imperialen Ambitionen auf eine Führungsrolle in Ostmitteleuropa nicht einmal im Ansatz möglich werden zu lassen. Die neue polnische Armee sollte eine sozialistische Streitmacht werden, wie auch das noch zu erobernde Polen sozialistisch werden sollte. Hier stellten die bürgerlichen Offiziere eine Gefahr dar. „Wenn wir mit Hilfe dieser Männer Polen befreien, werden sie dort die Macht ergreifen“, lautete Vorošilovs und Shdanovs Argument für die Exekution dieser Offiziere.57 Die Entscheidung zur Hinrichtung der polnischen Offiziere und ihre Begründung ist daher ein weiterer deutlicher Hinweis, daß in der Sowjetführung bereits im Frühjahr 1940, als diese Diskussion über die Aufstellung polnischer Einheiten geführt wurde, ein sozialistischer Vormarsch Richtung Westen auf der Tagesordnung stand.58 Abgesehen von solchen Signalen in Richtung der Westmächte bereitete die UdSSR in der Zwischenzeit die Okkupation der baltischen Länder sorgfältig vor. Hintergrund war offensichtlich die Erwartung einer kriegerischen Auseinandersetzung im Westen, auf die man schnell und flexibel reagieren wollte. Am Ende kam der Zusammenbruch Frankreichs jedoch so schnell, daß die Besetzung der baltischen Länder überhastet durchgeführt werden mußte, wobei eine überaus große Zahl an Soldaten eingesetzt wurde. Eine Truppe, die zu allem bereit war und auch hätte weitermarschieren können: „Erfahre aus zuverlässiger Quelle, daß zwei betrunkene Sowjet-Offiziere im Gespräch mit Letten in hiesigem Sommerrestaurant gestern abend auf die Frage, warum so viele Truppen zur Besetzung Randstaaten notwendig waren, spontan geantwortet haben, daß die Hauptaufgabe Truppen Angriff auf Deutschland sei. Auf weitere Frage, wer sie geschickt habe, antworteten sie ebenso spontan: Cripps.“59
Die Ankunft von Stafford Cripps in Moskau und sein Treffen mit Stalin hatten die Phantasie der sowjetischen Offiziere offenkundig sehr beschäftigt. Der Schrecken eines weiteren sowjetischen Vormarschs erreichte auch 56
Auf Beschluß des Politbüros. Anwesend waren Stalin, Molotov, Mikojan und Vorošilov. 57 Man hatte in Moskau die polnischen Vorkriegspläne für ein Großreich von der Oder bis nach Weißrußland, von „Stettin bis Riga“ sorgfältig verfolgt und vergaß sie auch später nicht. Vgl. Laufer, Dokumente, I, S. 203, Aufzeichnung von Litvinov vom 9. Oktober 1943 über die Vorkriegspläne der „polnischen Assoziation zur Unterstützung von Feldzügen nach Westen“. 58 Vgl. Berija, Kremlin, S. 54 f. 59 Bericht des deutschen Gesandten in Riga, H. U. v. Kotze, vom 18. Juli 1940. Vgl. AA/Pol. Abt./Akten betr. politische Beziehungen Rußlands zu Deutschland Pol. V/456a Bd. 3 Rußland 2, hier zit. n. Fabry, Beziehungen, S. 184 f.
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III. Kriegsperspektiven
die Bevölkerung der möglicherweise betroffenen Regionen. In den deutsch besetzten polnischen Gebieten setzte wegen der russischen Aktionen sofort eine Fluchtbewegung nach Westen ein, da die Menschen einen verheerenden Eindruck hatten: „Um sich die Freundschaft Sowjetrußlands zu erhalten, wird der Führer zu weiteren Opfern schreiten müssen, auch vom Generalgouvernement ein entscheidendes Stück an Rußland abtreten müssen.“60 Das deutsche Besatzungsregime, das sich vorwiegend gegen die polnischen Eliten und die jüdische Bevölkerung richtete, konnte sich dennoch nicht mit den Massendeportationen von Zivilisten im sowjetisch besetzten Teil der Vorkriegsrepublik Polen messen. Das kam jetzt zum Ausdruck. 4. Die List der Besiegten „Daß Hitler einige Positionen falsch eingeschätzt hatte, mußte er bald erfahren. Obwohl General Huntziger versichert hatte, daß Pétain willens sei, die Briten in Afrika nicht nur abzuwehren, sondern auch anzugreifen, hatten die britische Regierung und sein Kabinett am 5. Dezember 1940 ein Geheimabkommen geschlossen, in dem vereinbart worden war, den Status quo in den Kolonien nicht anzutasten.“61
Marschall Pétain stand im Sommer 1940 vor einer schwierigen Aufgabe. Er fand sich nach jahrelanger Opposition plötzlich als Staatschef eines besiegten Landes wieder und hatte eine Niederlage abzuwickeln, die andere verschuldet hatten. Diese anderen hatten sich zu einem nicht kleinen Teil ins Ausland gerettet, sie trugen jedenfalls keine Verantwortung mehr. Sie wachten statt dessen kritisch über jeden Schritt des Marschalls, dessen politische Haltung ihnen immer suspekt gewesen war, der aber nun von ihnen selbst zum Konkursverwalter ausgewählt und durch das gewählte Parlament bestätigt worden war. Diese Umstände erinnern in gewisser Weise an die Situation im Deutschland der Jahre 1918/19. Dort hatte allerdings die Rechte das Land in vier Jahren Krieg in eine scheinbar ausweglose politische und militärische Lage geführt, um dann angesichts der Niederlage die Demokraten und die Linke herbeizurufen und ihren Repräsentanten die Unterzeichnung solcher unangenehmen Folgedokumente wie des Versailler Vertrags und deren Erfüllung zu überlassen. So kamen die auf diese Weise Benutzten dann in den Ruf, einen „Dolchstoß“ gegen das siegreiche Heer ausgeführt zu haben. Vorwürfe dieser Art konnte Pétain ignorieren, auch wenn sie sich bald erhoben.62 Noch war das Wort „Resistance“ ebensowe60
Zit. n. Präg, Diensttagebuch, S. 253. Zit. n. Maser, Wortbruch, S. 257. 62 Marc Bloch etwa sprach schon 1940 von einer „geistigen Niederlage“ gegen Deutschland und vom Anteil der französischen Rechten an dieser Niederlage, die im Lauf der Geschichte schließlich immer wieder zum Sturz der Republik das Ausland zu Hilfe geholt hätte. Vgl. Bloch, Niederlage, S. 81. 61
4. Die List der Besiegten
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nig erfunden wie der Begriff des „Kollaborateurs“. Allerdings setzte Winston Churchill in einer Unterhausrede am 20. August die Wendung „Männer von Vichy“ in die Welt und bezeichnete ihren Waffenstillstand mit Deutschland als Verbrechen.63 Ungeachtet dessen repräsentierte Pétain jedoch vorläufig den auf demokratischem Weg durch das Vorkriegsparlament eingesetzten,64 ebenso legitimen wie legalen Staatschef Frankreichs, diplomatisch anerkannt von Moskau bis Washington. In diesem Sinn hatte er außenpolitisch kein anderes Interesse als das des französischen Staates, und daraus ergab sich für ihn das allgemeine Ziel, die Folgen der Niederlage für dessen Besitz und Souveränität möglichst abzumildern. Die Chancen dafür waren höher, als es 1919 die der Weimarer Koalition gewesen waren, aus dem einsichtigen Grund, daß der Gesamtkonflikt noch nicht vorüber war. Deutschland hatte nach der eigenen Niederlage 1919 auf niemanden zurückgreifen können, der weiter gegen die Westmächte kämpfte und den Status quo so weit instabil hielt, daß für spätere deutsche Unterstützung vielleicht von der einen oder anderen Seite noch ein außenpolitischer Preis gezahlt würde, etwa eine Änderung des Versailler Vertrages. Vage Aussichten der deutschen Generalität, die frisch eingesetzten Demokraten bei Gelegenheit wieder absetzen zu können, um den Kampf selbst wieder aufzunehmen, erwiesen sich als illusorisch. Ob Deutschlands Sieg im Sommer 1940 dagegen von Dauer sein würde, mußte sich noch herausstellen. Die englische Regierung zeigte sich jedenfalls entschlossen, den Krieg weiterzuführen. Die Liste ihrer aktuellen und potentiellen Verbündeten war weiterhin lang und gewichtig. So ließ denn die Bereitschaft Pétains, die militärischen Ergebnisse des Sommers 1940 in einem politischen Abkommen mit Deutschland festzuschreiben, nach einer kurzen Phase der Unentschlossenheit schnell nach. Machiavelli bemerkte einmal, man müsse sich nach der Eroberung einer Burg mit den Besiegten verbünden, weil die eigenen Bundesgenossen sowieso nicht zufrieden zu stellen wären. Solche Erfahrungen machte die deutsche Führung in der Tat gerade mit den italienischen Verbündeten. Hitler hatte offenbar seinen Machiavelli gelesen und sprach ganz in diesem Sinn in einer Weisung davon, „mit diesem Land in einer für die zukünftige Kriegsführung gegen England möglichst wirkungsvollen Weise zusammenarbeiten“ zu wollen, damit sich später eine volle Teilnahme Frankreichs am Krieg entwickeln könne.65 Dies 63 Allerdings setzte Winston Churchill die Wendung „Männer von Vichy“ in die Welt und bezeichnete ihren Waffenstillstand als Verbrechen. 64 Bei einer gemeinsamen Sitzung von Senatoren und Abgeordneten erhielt Pétain am 10. Juli 1940 mit 569 gegen 80 Stimmen die uneingeschränkte Exekutivgewalt. Vgl. Kingston, Ideologen, S. 62. 65 So die Weisung Nr. 18 vom 12. November 1940, vgl. BA-MA N 431/262, Bl. 9.
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III. Kriegsperspektiven
war nicht das Ziel von Pétain. Der „Französische Staat“, wie sich Frankreich neuerdings nannte, da Pétain die Gelegenheit nicht ungenutzt ließ, das von ihm ungeliebte Wort „Republik“ zu entfernen, dieser französische Staat war für ein gemeinsames Manöver mit Deutschland nicht der geeignete Partner. Überhaupt machte Pétain aus seinem Herzen keine Mördergrube und ließ bereits bei Zeiten recht deutlich erkennen, daß er ganz im Gegenteil einen englischen Sieg wünschte.66 In diesem Punkt war Einigkeit mit der englischen Regierung herzustellen: „Vordergründig sollen wir den Anschein tiefgreifender Meinungsverschiedenheiten aufrechterhalten, um Laval und die Deutschen zu täuschen. Hinter diesem Schleier können aber Geheimverhandlungen stattfinden.“67
Im Herbst 1940 fanden denn auch bereits Verhandlungen statt, in deren Rahmen die englische Politik einen möglichen deutsch-französischen Ausgleich zu verhindern versuchte.68 Das deckte sich in gewisser Weise mit Vorgängen in Frankreich selbst. Dort hatte die Arbeit an der Revanche bereits begonnen. Die Geschichte gab Marschall Pétain und General de Gaulle sehr verschiedene, aber gleich lebenswichtige Rollen. Pétains Rolle war schwieriger und mehr Mißdeutungen ausgesetzt. Für das Jahr 1940 kann man davon ausgehen, daß es 1940 Pétain und nicht de Gaulle war, dessen Politik die Empfindungen der französischen Öffentlichkeit repräsentierte. Pétain hatte Frankreich im Ersten Weltkrieg vor einer Niederlage gerettet, als er 1917 die Soldatenmeutereien überwinden konnte und als Befehlshaber von Verdun. Das Parlament und die Bevölkerung trauten ihm jetzt zu, dies zu wiederholen. Schließlich hatte er die Distanz zur Vorkriegsrepublik eingehalten und konnte für deren Zusammenbruch zunächst nicht verantwortlich gemacht werden. Nicht wenige französische Journalisten, die nach London kamen, als Frankreich besiegt wurde, verkündeten laut, daß alles verloren sei und daß England die nächsten zwei Wochen nicht überleben werde. Sie fanden eine Station weiter in New York ihren Mut wieder und nannten Pétain einen Defaitisten. Ungerührt davon kalkulierte dieser Defaitist seine Schritte völlig in französischem Interesse, indem er sich aus dem Krieg gegen England heraushielt, obwohl ein solcher Schritt nach dem englischen Überfall auf die französische Flotte möglich gewesen wäre. Schließlich ließ Pétain später Französisch-Afrika als Sprungbrett für eine alliierte Invasion nutzbar wer66 So der Bericht des kanadischen Gesandten Dupuy über einen Besuch in Vichy, zit. n. Colville, Tagebücher, S. 242, 20. Januar 1941. 67 Zit. n. Colville, Tagebücher, S. 242, 20. Januar 1941. 68 Vgl. Launay, Geheimdiplomatie, S. 55 ff. und die Darstellung des Unterhändlers Rougier. L. Rougier: Les accords secrets franco-britanniques de l’automne 1940, Paris 1954.
4. Die List der Besiegten
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den. Zusammen mit Admiral Leahy und Robert Murphy, die den Kontakt zwischen ihm und dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt herstellten, gelang es ihm schließlich, die deutsche Politik in großem Stil zu betrügen. Es wurde Zeit gewonnen und genutzt. Pétain und seine Mitarbeiter, vor allem Admiral Darlan, General Weygand und Pierre Boisson, der Gouverneur von Dakar, halfen Frankreich die Zeit zu überbrücken, bis sich die Lage für Deutschland ungünstig entwickelt hatte. Diese Zeit wird gekennzeichnet durch General Weygands Bemerkung zu einem Amerikaner: „Wenn ihr nach Afrika mit zwei Divisionen kommt, lasse ich schießen; wenn ihr mir mit zwanzig kommt, werde ich euch umarmen.“69 So wurde denn auch geschossen, als vergleichsweise schwache englische und gaullistische Truppen in Dakar landen wollten. Selbst aussichtslose Positionen wie die der französischen Truppen in Syrien ließ Pétain im Folgejahr gegen die englischen Invasionstruppen formal korrekt verteidigen. Phasenweise konnte er mit seiner scheinbar entschlossenen Haltung in Berlin Eindruck machen, besonders im Herbst 1940, als sogar ein Kriegseintritt Frankreichs auf deutscher Seite erneut nicht unmöglich schien, nachdem es wieder zu englisch-französischen Kämpfen gekommen war: „Der Führer war bis in die letzten Tage den Franzosen gegenüber mißtrauisch. Erst durch die Ereignisse in Dakar hat er eine andere Einstellung bekommen. Er will den früheren französischen Botschafter Franc¸ois-Poncet kommen lassen und sich mit Pétain treffen.“70 So elegant dieses französische Komplott im nachhinein aber auch wirken mußte, es hatte sich doch auch zeitig bis nach Berlin herumgesprochen. Hitler konnte trotz mancher Stimmungsschwankungen sein Mißtrauen gegenüber der französischen Politik nicht völlig überwinden, und die sich scheinbar so hoffnungsvoll entwickelnde Stimmungslage kippte bald wieder ins Gegenteil: „Völlig negative Haltung des Führers gegenüber Frankreich; man traut Weygand nicht.“71 Zu diesem Mißtrauen bestand Grund. Weygand hatte kaum zwei Wochen vor dieser Feststellung seine Bereitschaft nach London signalisiert, den Waffenstillstandsvertrag mit Deutschland über Bord zu werfen und wieder auf englischer Seite in den Krieg einzutreten.72 69
Zit. n. Ingrimm, Auflösung, S. 206 f. Zit. n. BA-MA RW 4/42, OKW/WFST Abt. Landesverteidigung Handschriftliche Aufzeichnungen des Ministerialrats H. Greiner über die Lagebesprechungen bei der Abt. Landesverteidigung, S. 68, 26. September 1940, Bericht von Warlimont. 71 Zit. n. BA-MA RW 19/164, Bl. 130, Vortrag Oberst Becker, F.-Kpt. Koch vom 5. Februar 1941. Ein Vierteljahr später ließ Hitler den Admiral Darlan wissen, eine Ermordung von Pétain oder Darlan könnte die französische Politik endgültig ins antideutsche Lager treiben. Dies sahen die Gaullisten ähnlich. In der Tat wurde Darlan im Dezember 1942 von einem Anhänger de Gaulles ermordet. Vgl. ADAP, D, XII/2, Dok. 419, S. 641, 11. Mai 1941. 72 Vgl. Cadogan, Diaries, S. 350, 18. Januar 1941. 70
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III. Kriegsperspektiven
Konkret sahen die englisch-französischen Affären zuvor so aus, daß Marschall Pétain im Herbst 1940 mit Louis Rougier ohne Wissen seines Regierungschefs Laval einen Abgesandten nach London schickte, der dort am 22. Oktober eintraf und sofort mit Churchill ins Gespräch kam.73 Es war der erste „offizielle“ Kontakt der neuen Vichy-Regierung mit London und er wurde so brisant, daß Churchill ihn nach dem Krieg stets verleugnete.74 Dies war politisch nachvollziehbar. In den späteren Kriegsjahren hatte sich die englische Regierung mehr und mehr auf General de Gaulle gestützt, dessen „Freie Franzosen“ aber immerhin erst 1944 als französische Regierung anerkannt. Zur Zeit der Gespräche Rougiers in London, also im Herbst 1940, war die Regierung Pétain jedoch nichts anderes als die vom demokratisch gewählten französischen Vorkriegsparlament eingesetzte, legitime Regierung, auch wenn die britische Presse bereits lebhaft daran arbeitete, Pétain persönlich anzugreifen und als Handlanger des NS-Regimes zu diskreditieren. Ein Ende dieser Attacken gehörte zu den Verhandlungszielen der französischen Seite, wurde aber dadurch erschwert, daß sich Pétain gerade während der Londoner Verhandlungen am 24. Oktober in Montoire mit Hitler traf und dabei ein händeschüttelndes Foto zustande kam, das durch die Weltpresse lief und dauerhaft die Kitschvorlage für die angebliche Kollaboration Pétains mit Hitler lieferte.75 Hitler hatte bei dieser Gelegenheit in der Tat den Versuch gestartet, die Zusammenarbeit ein wenig konkret werden zu lassen und Pétains Zeitspiel damit zu beenden oder wenigstens zu erschweren. Inzwischen schrieb man immerhin Oktober 1940. Sollten die wenige Tage später angesetzten Gespräche mit Molotov erfolgreich sein und die UdSSR sich ebenfalls zu einer Zusammenarbeit bequemen, konnte der Krieg gegen England entweder politisch beendet oder militärisch mit neuen Mitteln weitergeführt werden. General Halder notierte zu diesem Schritt: „Führer hat Pétain eine Denkschrift übergeben, welche die Ansprüche Deutschlands umreißt. Sie ist aber sehr zurückhaltend in kolonialen und materiellen Forderungen. Kolonialreich soll Frankreich bleiben. Wir brauchen Frankreich im Kampf gegen England.“76 73 Vgl. Mehlman, Émigré, S. 125. Nach Hillgruber allerdings erst am 25. Oktober, also nach dem Treffen Hitler-Pétain. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 321. 74 Das galt nicht nur für Churchill. Merkwürdiges ereignete sich in diesem Zusammenhang auch in Washington. Kurz nach Roosevelts Tod erhielt Rougier Besuch von einem amerikanischer Offizier namens John Grombach, der ihn darum bat, seine Aufzeichnungen über diese Affäre erneut photographieren zu dürfen. Es habe zwar bei Roosevelt selbst und bei General Watson bereits zwei Akten darüber gegeben, beide seien aber verschwunden. Vgl. Mehlman, Émigré, S. 141 f. 75 Vgl. Mehlman, Émigré, S. 126. Dessen ungeachtet erreichte es Rougier, daß wenigstens die BBC angewiesen wurde, auf persönliche Attacken gegen Pétain zu verzichten. Ebd., Mehlman, Émigré, S. 139. 76 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 158, 1. November 1940.
4. Die List der Besiegten
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In dieser programmatischen Denkschrift war in vagen Worten festgelegt worden, daß Frankreich dem Erwerb deutscher Stützpunkte an der afrikanischen Atlantikküste gegen Erleichterungen an anderer Stelle wohlwollend gegenüberstehen würde, während die Regelungen über das französische Kolonialreich im Dunkeln blieben. Die deutschen Kriegsziele in Frankreich gehörten ohnehin zur Verhandlungsmasse: „Die Forderungen Deutschlands an Frankreich sind keineswegs feststehend: Anscheinend wird mit Elsaß-Lothringen und Teilen von Burgund gerechnet. Die Frage der Nord-Departements scheint innerlich keineswegs endgültig beantwortet zu sein. Man will aber die NO-Linie im Bewußtsein des Franzosen so einprägen, daß er schließlich froh ist, wenn er hier mit heiler Haut davonkommt.“77
Die hier als sichere deutsche Ziele genannten Regionen Elsaß-Lothringen und Luxemburg standen gleichfalls noch zur Diskussion. Für einen Abbruch des Krieges wollte die NS-Regierung weiterhin einen hohen Preis zahlen. Hitler entschied daher persönlich Anfang September, einige Wochen vor Halders Notiz, „deutsches Recht in Elsaß-Lothringen und Luxemburg“ sei „nicht gewünscht.“78 Gerade zu dieser Zeit wurden weitere Versuche gestartet, über den Umweg London in Verhandlungen mit der englischen Regierung einzutreten, wobei ein umfassender deutscher Rückzug aus den bisher besetzten Ländern angeboten wurde, inklusive der Wiederherstellung eines polnischen Staates. Alle übrigen europäischen Staaten, in denen derzeit wegen der Kriegssituation deutsche Truppen stünden, würden geräumt und wieder hergestellt werden.79 Dazu gehörte auch Frankreich. Es war von beiden Seiten in Montoire jedoch nichts Konkretes verlangt worden und Pétains doppeltes Spiel daher weitgehend aufgegangen.80 Der erstrebte Zeitgewinn konnte verbucht werden. „Es wird sechs Monate dauern, um dieses Programm zu diskutieren und weitere sechs Monate, um es zu vergessen“, sagte der Marschall einem Vertrauten.81 Hier zeigte sich eine bemerkens77 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 119, 30. September 1940. Über den Zweck der „Nord-Linie“ wurde zu dieser Zeit viel spekuliert. Sie folgte mehr oder weniger der deutschen Reichsgrenze vor 1648. Eine Rückkehr französischer Flüchtlinge in das Gebiet östlich dieser Linie war lange Zeit verboten. 78 Zit. n. BA-MA RW 4/42, S. 39, 5. September 1940. Auch am 25. November 1940 wies Keitel Forderungen zur Einrichtung eines Wehrkreises im Elsaß mit der Begründung zurück, die „neuen Reichsgrenzen“ stünden noch nicht fest. Vgl. Schramm, OKW, KTB, I, S. 189. Es blieb bei einem allgemeinen Erlaß vom 18. Oktober 1940, der vorsah, „die elsässischen und lothringischen Gebiete . . . in kürzester Zeit dem deutschen Volkstum zurückzugewinnen“. Vgl. Moll, Erlasse, S. 146 f. 79 Vgl. Gellermann, Wege, S. 39. 80 Zumal wenn Hitler wirklich, wie Hillgruber meint, die Überzeugung gewonnen haben sollte, mit Frankreich lasse sich zusammenarbeiten. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 321. 81 Zit. n. Langer, Gamble, S. 96.
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werte Inkonsequenz zwischen Denken und Handeln Hitlers, der die Feindschaft Frankreichs zu Deutschland immer wieder für eine Konstante der europäischen Politik erklärt hatte und sich nun gerade in dieser entscheidenden Situation mit unklaren Eindrücken über eine mögliche Zusammenarbeit zufriedengab, die auf nichts anderem als vermutetem Wohlwollen der französischen Seite beruhten. Wie wenig Substanz hinter diesen deutsch-französischen Gesprächen steckte, zeigte sich schnell, als Pétain wenige Wochen später Laval entließ, den Exponenten einer Zusammenarbeit mit Deutschland. Dies war eine direkte Folge der Londoner Verhandlungen.82 Lavals Hinauswurf führte zu einer nachhaltigen Verstimmung im deutschen Lager, wo man ohnehin bereits über Pläne einer englisch-französischen Zusammenarbeit informiert worden war.83 Laval wurde daher bald auf deutschen Druck wieder eingesetzt. Das tat jedoch dem internationalen Ansehen der Vichy-Regierung deutlichen Abbruch und konnte zudem an der aus deutscher Sicht fehlenden Vertrauenswürdigkeit der französischen Führung nichts ändern. Eine weitere Etappe deutsch-französischer Beziehungspflege war zu Ende, zumal inzwischen der Krieg auf dem Balkan zu eskalieren drohte und mit der Landung englischer Truppen in Griechenland und den Invasionsvorbereitungen der UdSSR in Rumänien bereits eine ganz andere Richtung genommen hatte. Um die Jahreswende 1940/41 spekulierte Admiral Darlan über den Lauf der Dinge. Eine Invasion in England sei den Deutschen unmöglich. Einzige Option, den Krieg zu gewinnen und eine neue Ordnung in Europa zu etablieren, sei ein Angriff auf Rußland, aber: „In dem Moment, in dem Deutschland das beginnt, wird es sein Untergang sein.“84 5. Die Vordertür zur Hegemonie Amerikanische Vorstellungen über eine europäische Friedensordnung
a) „First Things First“ Unter jenen Spielern, die seit dem Sommer 1940 nach Möglichkeiten zur Weiterentwicklung ihrer politischen Strategie mit dem Ziel einer praktikablen Friedensordnung suchten, kam Franklin D. Roosevelt die eigentümlich82
Dies meldete Rougier an Churchill. Vgl. Mehlman, Émigré, S. 126. Vgl. BA-MA RW 34/10, S. 271, Bericht der Verhandlungsdelegation bei der Waffenstillstandskommission vom 23. Januar 1941, Anlage 1. 84 Darlan am 21. Januar 1941 zu Admiral Leahy. Vgl. Langer, Gamble, S. 123 bzw. Langer/Gleason, War, S. 378. 83
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ste Aufgabe zu. Seit Anfang April 1940 sein Versuch gescheitert war, eine Eskalation der europäischen Auseinandersetzung zu verhindern und die Kriegsparteien auf dem Weg über die Sicherheitsfrage zu Diskussionen über eine mögliche gemeinsame Friedensordnung zu bewegen, hatten die Dinge mit dem Zusammenbruch Frankreichs und der Niederlage der Westmächte dort und in Norwegen einen denkbar radikalen Gang genommen. Als nun Großbritannien sich dazu entschloß, die deutschen Friedensbedingungen zurückzuweisen, die der englische Botschafter in Washington so „überaus befriedigend“ gefunden hatte85 und statt dessen den Krieg fortsetzte, stand auch weiterhin kein irgendwie gearteter Kompromißfriede in Europa in Aussicht. Es war eine jahrelange Auseinandersetzung zu erwarten, die England nach Meinung Roosevelts vielleicht sogar verlieren könnte,86 auch wenn er anders als manch anderer nicht damit rechnete, daß der Besetzung Frankreichs unbedingt sofort ein Zusammenbruch ganz Großbritanniens folgen würde. Eine Lagebeurteilung Roosevelts vom 13. Juni 1940 ging bereits von der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen aus, erwartete aber zutreffend die Fortsetzung des Kriegs durch England und das Commonwealth, sowie die weitere Neutralität der Türkei, Japans und der UdSSR. Das würde den USA die Möglichkeit geben, ihre militärischen Mittel auf dem Atlantik zum Einsatz bringen zu können.87 Allerdings erzeugte der schnelle Vormarsch der deutschen Truppen in Frankreich selbst beim Präsidenten der USA phasenweise Spuren von Resignation. Die einkommenden diplomatischen Hintergrundberichte trugen dazu einen Teil bei. Sein Londoner Botschafter Joseph Kennedy berichtete eher pessimistisch aus der englischen Hauptstadt. Lord Lothian, Englands Gesandter in Washington, ergänzte Kennedys düsteres Bild der englischen Lage aus dem naheliegenden Grund, die amerikanische Hilfsbereitschaft zu wecken. Als die Nachricht vom Übergang der deutschen Einheiten über die Seine kam, zweifelte Roosevelt denn auch an England: „Die Show ist vorbei. Ich denke wirklich, die Briten werden nicht standhalten können.“ Der anwesende René de Chambrun konnte ihn trösten. So lange England die Herrschaft über die See und wenigstens bei Tag auch über die Luft behielt, war eine Invasion der britischen Inseln unmöglich und England damit letztlich „unbesiegbar“, zumal überraschende Vorstöße von Panzergruppen, wie sie den Krieg in Polen und Frankreich jeweils entschieden hatten, durch die geographischen Gegebenheiten offenkundig ausgeschlossen waren.88 Selbst wenn es der deutschen Luftwaffe gelingen würde, die Landung von Trup85
Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 488. Englands Chancen „stehen ungefähr eins zu drei“ sagt er im Anfang Juli zu James A. Farley, vgl. Dallek, Roosevelt, S. 243, bzw. Farley, Story, S. 253. 87 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 96 f. 88 Vgl. Chambrun, Betrayal, S. 68 f. 86
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pen und die Eroberung einer englischen Hafenstadt zu sichern, würden die motorisierten und gepanzerten Einheiten dort erst mühsam ausgeladen werden müssen und sich nur in völlig überschaubaren Räumen entfalten können. Bekanntlich lösten die Alliierten dieses Problem ihrerseits vier Jahre später, in dem sie bei der Invasion in der Normandie künstliche Häfen mitbrachten und damit das Überraschungsmoment auf ihrer Seite hatten. Allerdings wurden zur Entwicklung und Umsetzung dieser Idee eben einige Jahre Vorbereitung und der Zugang zu den Reserven der gesamten Welt benötigt, zu denen sich als weitere Voraussetzung am Tag der Invasion die absolute See- und Luftherrschaft gesellte, alles Elemente, die einer möglichen deutschen Invasion Englands im Jahr 1940 abgingen. Mit seinen flammend vorgetragenen Reden nahm Chambrun nach seinem Eindruck erfolgreich Einfluß auf Roosevelts Entscheidungsfindung. Englands Botschafter in Washington dankte ihm Wochen später in einem Brief für den im „Alleingang“ (singlehanded) von ihm erreichten probritischen Meinungsumschwung in der amerikanischen Administration.89 Es war eine Frage der herrschenden Moral in Großbritannien, die immer noch bestehenden militärischen Optionen auch auszuspielen und zugleich eine Sache der politischen Klugheit, amerikanisches Geld und Material nicht in einer Auseinandersetzung zu opfern, die für englische Ziele geführt werden sollte. In dieser Lage mochte Roosevelt daran gedacht haben, wie viel ihn von den Überzeugungen der britischen Imperialisten trennte, die mit den Mitteln, wie sie ihnen das Empire gab, unter dem Premier Churchill gerade einen weiteren Krieg anstrengten. Da Roosevelt selbst Sympathien für die extreme Linke nicht fremd waren,90 billigte er diese Konzepte und die Ansichten ihrer Exponenten in letzter Konsequenz nicht. Vor diesem Hintergrund brachte er etwa Frankreichs Zusammenbruch mit der Ablösung der linken Volksfront und ihres Ministerpräsidenten in Verbindung: „Unter Leon Blum wäre Frankreich nicht auf diese Weise besiegt worden.“91 89 Vgl. den Brieftext in: Chambrun, Betrayal, S. 195, Lothian an Chambrun vom 9. August 1940. 90 Darin wurde Roosevelt offenbar von seiner Frau Eleanor und Harry Hopkins beeinflußt, die beide ihr Leben lang u. a. den Kontakt zur amerikanischen kommunistischen Partei und deren Chef Earl Browder pflegten. Möglicherweise vermittelte Hopkins 1936 eine damals nicht öffentlich bekannte Reise von Anastas Mikojan in die USA. Vgl. Chambrun, Betrayal, S. 148 ff. Einen noch weniger öffentlichen Einfluß in der amerikanischen Machtzentrale übte sowjetisches Gedankengut über Alger Hiss und Harry Dexter White aus, die beide als sowjetische Agenten arbeiteten. Als Assistent des Finanzministers Morgenthau war Harry Dexter White später entscheidend an der Ausarbeitung des Morgenthau-Plans zur Befriedung und Zerstückelung Deutschlands beteiligt. Vgl. Chambrun, Betrayal, S. 72 bzw. S. 113. 91 Zit. n. Chambrun, Betrayal, S. 72.
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Entkolonialisierung war für Roosevelt seit langem das Gebot der Stunde.92 Die europäischen Kolonialreiche mußten wenigstens ihren formellen Charakter verlieren, und sei es nur um des amerikanischen Eigeninteresses willen. Dies war einer der Punkte, an denen sich Konflikte ergaben zwischen den beiden europäischen Westmächten, die sich nach ihrer prinzipien- wie konzeptlosen Machtpolitik im östlichen Mitteleuropa in einen Krieg verwickelt sahen und der amerikanischen Vision einer wünschenswerten Welt- und Werteordnung. Zwar scheiterte der Versuch der deutschen Politik, diese unterschiedliche Interessenlage für die Abwehr der eigenen endgültigen Niederlage einzusetzen, aber es gab ein Bewußtsein für diese Differenz. Es könnte schon sein, daß Deutschland doch noch unterliegen würde, gab Hitler im Frühjahr 1941 zu und malte die Folgen aus: „Selbst wenn dieser Fall eintreten sollte, so würde dies keinen Gewinn für Europa bedeuten, weil man heute mit den Gesamtinteressen Europas rechnen müsse und in dem vorerwähnten Falle sicher sein könne, daß der Besitzstand Europas in der Welt verloren ginge. Dabei sei Deutschland noch nicht einmal in erster Linie bedroht. Länder wie Holland, Belgien, Portugal mit ihren großen Überseebesitzungen, selbstverständlich auch Frankreich mit seinem Kolonialreich und schließlich auch England selbst würden viel mehr betroffen sein. . . . Es entstehe ein amerikanischer Imperialismus, wobei daran erinnert werden müßte, daß Frankreich schon gewisse in Amerika gelegene Gebiete in früherer Zeit an die Vereinigten Staaten verloren habe. . . . Diejenigen Kreise in Frankreich, die immer noch auf England bauten, müßten sich darüber klar sein, daß die Initiative nicht mehr bei Großbritannien, sondern bei Amerika liege. Wenn schon das kleine England einen so großen Appetit entwickelt habe, daß es ein Viertel der Gebiete der Erde in sein Weltreich aufgenommen habe, wie groß würde dann erst der Landhunger der Vereinigten Staaten sein!“93
Wie bereits an anderer Stelle hatte Hitler hier zwar die weltweite Dimension der Ambitionen des amerikanischen Präsidenten erkannt, deren Inhalt aber nicht zutreffend eingeschätzt. Es war nicht „Landhunger“, was Roosevelt vorschwebte, sondern die indirekte Herrschaft der amerikanischen Prinzipien über den Globus. Dazu mußten allerdings in der Tat die westlichen Kolonialreiche liquidiert werden, insoweit war diese Analyse adäquat. Zu liquidieren waren zudem die deutschen Handelspraktiken, in einem abgeschlossenen Großraum eine devisenfreie Kreislaufwirtschaft zu etablieren. In England, das zu diesem Zeitpunkt nach dem Sommer 1940 als einziger Ansprechpartner übrig geblieben war, hatten sich die maßgebenden Personen entschieden, einen kompromißlosen Vernichtungskrieg gegen die Einheit des deutschen Reichs zu führen. Nun konnte Roosevelt in diesem Um92
Vgl. Bavendamm, Krieg, S. 406. Zit. n. ADAP, D, XII/2, Dok. 419, S. 638 ff., Hitler im Gespräch mit Admiral Darlan am 11. Mai 1941. 93
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stand zugleich die optimale Bedingung dafür gegeben sehen, das so wünschenswerte Ende des europäischen Imperialismus in Übersee zu fördern und zu beschleunigen. Zuvor mußte jedoch eindeutig festgestellt werden, wer die entscheidenden Personen in England waren, ob sie dies auch bleiben würden und über welche Mittel sie verfügten. Um in dieser Frage daher ganz sicher zu gehen,94 schickte Roosevelt in William Donovan einen früheren Studienkollegen nach England,95 der nur wenige Monate danach noch weitere wichtige Funktionen einnehmen sollte, auf die wir später zurückkommen. Er hatte sich bereits seit vielen Jahren mit den europäischen Affären beschäftigt. Dabei kam es unter anderem im Frühjahr 1923 zu einer Begegnung mit einem früheren Agenten der deutschen Streitkräfte, der sich als Parteipolitiker damals bereits einen gewissen Namen gemacht hatte und sich in ihrem Gespräch mit Christus verglich, der die Geldwechsler aus dem Tempel treiben würde: Donovan traf in Berchtesgaden mit Adolf Hitler zusammen.96 So gerüstet mit diesen und anderen Erkenntnissen aus dem offiziellen und weniger offiziellen Europa, konnte Donovan zu jenen Amerikanern gehören, die sich weitere Eindrücke zu verschaffen wußten. Daß Roosevelts Wahl 1940 auf ihn als Sohn irischer Einwanderer fiel,97 der es in den USA zu einem überaus erfolgreichen Anwalt gebracht hatte, konnte jedoch als eine gewisse Provokation des britischen Establishments gelten. Allerdings bestand in England kein Zweifel an der überwältigenden Wichtigkeit seiner Mission, die zur Empörung Joseph Kennedys ohne Beteiligung der amerikanischen Botschaft organisiert wurde.98 Also überwand man im Londoner Establishment die eigenen Vorurteile und ließ Donovan alles sehen, was er wollte: „Nie zuvor haben sich die wichtigen Türen so schnell geöffnet wie nach Donovans Ankunft. Leute von Bedeutung, die in Friedenszeiten nicht einmal im Traum daran gedacht hätten, mit einem amerikanischen Anwalt ein Wort zu wechseln, luden ihn zum Lunch, zum Dinner, zum Tee, zum Frühstück, zu Besprechungen, zu Abendgesellschaften in großen Häusern. . . . Donovan traf den Premier, den König, die Königin, die Prinzessin, die Minister, die Staatssekretäre, die Generäle, die Admiräle, die Chefs der Luftwaffe. Das gesamte Entscheidungszentrum der 94 Zur dieser Motivation und dem genauen Auftrag Donovans vgl. die Darstellung des ehemaligen OSS-Agenten Richard Dunlop, der auch einen 8-Punkte Fragekatalog bringt, den Donovan abarbeiten sollte. Vgl. Dunlop, Donovan, S. 205 ff. 95 Vgl. Cave Brown, Servant, S. 264. 96 Vgl. Dunlop, Donovan, S. 151. 97 Noch sein Großvater hatte im Untergrund gegen die englische Okkupation Irlands gekämpft. Vgl. Cave Brown, Servant, S. 265. 98 Unter anderem ausdrücklich deswegen reichte Kennedy am 16. Oktober 1940 seinen Rücktritt ein, der auch ohne Widerspruch angenommen wurde. Roosevelt forderte ihn jedoch auf, seinen Posten nicht vor der Präsidentschaftswahl Anfang November zu verlassen. Vgl. Dunlop, Donovan, S. 229.
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britische Militärmaschine, die Stäbe, die Geheimdienste und die Zivilverwaltung standen ihm offen.“99
Zwischen dem 18. Juli und dem 3. August 1940 verschaffte sich Donovan in einem Parforceritt einen Überblick über die englische Verteidigungsfähigkeit und den Willen dazu, dieses Potential zu nutzen. Der Eindruck war positiv und so konnte Donovan nach seiner Rückkehr in Washington auch Roosevelt persönlich überzeugen, sich mit der langen Wunschliste an Waffen und Gütern aller Art zu befassen, die man Donovan in London mitgegeben hatte. Donovan und Roosevelt verbrachten zweieinhalb Tage miteinander.100 Heraus kam unter anderem der bekannte Verkauf angeblich alter Zerstörer an die britische Flotte.101 Er ließ sich als „größter Immobilienverkauf aus Konkursmasse in der Geschichte“ verstehen, wie bald gespottet wurde,102 denn im Gegenzug trat England in großem Umfang seine Kolonien und Stützpunktrechte in Amerika und anderswo an die USA ab. Dabei blieb es auch in Zukunft, bevor die Briten von den USA finanzielle Hilfe erwarten konnten: „Großbritannien muß seine Besitzungen in der westlichen Hemisphäre liquidieren,“103 lautete die Botschaft. Und auch die eigenen Finanzen des Empire mußten natürlich angegriffen werden. Meldungen seines Londoner Botschafters, die Engländer könnten die Waffen nicht bezahlen, die sie bestellt hätten, wischte Roosevelt mit der Bemerkung vom Tisch, „die Engländer seien nicht pleite“. Nach seinen Informationen seien „dort Berge von Geld“.104 Für den amerikanischen Präsidenten, der nach Donovans Informationsresie entschlossen war, die politischen Fäden in dieser Zeit sowohl in den USA selbst als auch indirekt in Europa in der Hand zu behalten, ergaben sich zwei Kardinalprobleme: – Zum Eingreifen in einen heißen Krieg waren die Vereinigten Staaten aktuell weder politisch vorbereitet, noch mental bereit, noch von ihrem Rüstungsstand her in der Lage. – Unter den wichtigen Akteuren auf der internationalen Bühne war er der einzige, dem in wenigen Monaten das Ausscheiden aus dem Amt drohte, denn in den USA stand die nächste Präsidentenwahl an. 99
Vgl. Cave Brown, Servant, S. 266. Vgl. Cave Brown, Hero, S. 151. 101 Eigentlich war auch die Übergabe neueren Kriegsmaterials beabsichtigt. Sogar noch in Bau befindliche Schnellboote waren darunter, deren Transfer aber wegen des danach notwendigen Weiterbaus auf amerikanischem Boden auf unübersteigbare juristische Hürden traf. Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 10, S. 10 f. Bericht des deutschen Botschafters aus Washington vom 3. September 1940. 102 So Cave Brown, Servant, S. 268. 103 So Roosevelt am 25. November 1941 zum englischen Botschafter Lothian, vgl. Dallek, Roosevelt, S. 252 f. 104 So am 1. Dezember 1941, vgl. Dallek, Roosevelt, S. 253. 100
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Welches der Probleme vorrangig zu lösen war, daran gab es unter Roosevelts oft wiederholter Prämisse „First Things First“ keinen Zweifel.105 Er wollte und mußte wiedergewählt werden. Daraus ergaben sich Folgerungen für die weitere Politik der nächsten Monate: Der amerikanische Präsident durfte sich keinesfalls in den Ruf bringen, eine aktive Beteiligung der USA am Krieg in Europa anzustreben, dies konnte eine Wiederwahl unmöglich machen. Des weiteren ergab sich ein Zwang, die nötige Erweiterung der Rüstungsanstrengungen der USA bis dahin einigermaßen dezent anzugehen, damit sie nicht Gegenstand öffentlicher Kritik wurde. Gleichzeitig jedoch wollte Roosevelt den europäischen Kontinent nicht sich selbst überlassen und sich als Ordnungsfaktor in Erinnerung bringen, wie er dies seit dem Frühjahr 1939 immer wieder laut und unmißverständlich getan hatte. Am 14. April 1939 etwa schrieb Roosevelt einen offenen Brief, in dem er von Deutschland und Italien die Abgabe von Nichtangriffsgarantien gegenüber zahlreichen Staaten forderte, ohne diese Staaten vorher gefragt zu haben. Hitler antwortete öffentlich und spottete in einer Reichstagsrede über die Form des Briefs und dessen sachlich unzutreffende Behauptungen, da teilweise alliierte Kolonien unter den genannten Ländern waren. Roosevelt erreichte trotzdem sein politisches Ziel, wie Henry Kissinger später analysierte: „Er hatte die Note allein an Hitler und Mussolini gerichtet, um sie vor den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit – dem einzigen Publikum das in jenem Moment für ihn zählte – als Aggressoren zu brandmarken. Um die Amerikaner für die Unterstützung der europäischen Demokratien zu gewinnen, mußte er auch sprachlich über den Rahmen der vertrauten Gleichgewichtssymbolik hinausgehen. Fortan ging es nicht mehr um eine Balance zwischen mehr oder weniger gleichartigen Staaten sondern um einen Kampf zur Verteidigung unschuldiger Opfer gegen einen bösartigen Aggressor.“106
Es war für Roosevelt nicht leicht, diesen Spagat zu bewältigen, der in den Jahren 1940 und 1941 immer noch Bestand hatte. In einen Krieg einzugreifen, ohne über eigene Rüstung zu verfügen und dabei zudem noch in der Lage sein zu müssen, eine Nation mit Hilfe einer schrankenlosen Diffamierung des in Aussicht genommen Gegners langsam hin zur Kriegsbereitschaft zu führen, gleichzeitig aber jede politische Absicht in diese Richtung jederzeit öffentlich abstreiten zu können, dies ging nicht ohne Unwahrheiten und Fälschungen. Die radikalste Fälschung bestand darin, den Charakter der sowjetischen Diktatur und deren Verbrechen gegenüber der amerikanischen Öffentlichkeit zu verschweigen, denen zu dieser Zeit noch nichts an den nationalsozialistischen Verbrechen entsprach. Roosevelt wich von dieser 105 Zum Vorrang der innenpolitischen Basis vor außenpolitischen Visionen bei Roosevelt, vgl. Dallek, Roosevelt, S. 23 f. 106 Vgl. Kissinger, Vernunft, S. 408.
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Linie einmal ab, als er die sowjetische Aggression gegen Finnland verurteilte, aber dies blieb eine Ausnahme.107 Die nach dem Kriegsausbruch anspringende Konjunktur erhöhte Roosevelts Spielräume. Die kriegführenden Parteien, ganz besonders Großbritannien, hatten zahlreiche Aufträge in die USA vergeben. Der englische Staatshaushalt ruinierte sich förmlich mit diesem Auftragsvolumen.108 Dies zeigte Auswirkungen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt und deutete jene Entwicklung der Kriegskonjunktur an, die nach beinah einem Jahrzehnt der erfolglosen New-Deal-Politik Amerikas Arbeitslosigkeit endlich signifikant zurückdrängen sollte. Sie schuf eine positive Stimmung, war aber nicht genug und mochte die Abneigung der Wählerschaft, selbst in den Krieg zu ziehen, sogar noch verstärken. Roosevelt versuchte seinem Publikum daher einzureden, daß andere an seiner Stelle kämpfen würden. Er wählte zu diesem Zweck eine Mischung aus „beruhigt euch“ und einem ganz kleinen Schuß schlechten Gewissens, den das amerikanische Volk entwickeln sollte: „Wenn wir völlig ehrlich zu uns sind, müssen wir uns eingestehen, daß jeder mögliche Kurs seine Risiken enthält. Aber ich bin überzeugt, eine überwältigende Mehrheit wird mit mir übereinstimmen, mein Kurs enthält gegenwärtig das geringste Risiko und zugleich die größten Perspektiven für einen künftig dauerhaften Weltfrieden. Die Völker Europas, die sich selbst verteidigen, bitten uns nicht, für sie zu kämpfen. Sie bitten um die Kriegswerkzeuge, . . . die sie in die Lage versetzen, für ihre Freiheit und Sicherheit zu kämpfen. Wir müssen ihnen diese Waffen energisch zur Verfügung stellen, in ausreichender Menge und schnell genug, damit unsere Kinder vor der Agonie und dem Leid des Krieges bewahrt werden, das andere erdulden müssen.“109
Diese Ansprache, die Roosevelt im Dezember 1940 hielt, gilt als eine der erfolgreichsten seiner Amtszeit. Stolze 76 % der Befragten einer repräsentativen Umfrage hatten ihn direkt gehört oder kannten den Inhalt seiner Rede. Von Ihnen stimmten 80 % allgemein zu,110 was eine überwältigende Zahl darstellte. Noch immer behauptete der Präsident, niemand in der Regierung wolle Truppen nach Europa schicken, was sicher insofern zutraf, als er darin eine politische Gefahr sah, die er nach Möglichkeit vermeiden 107 Roosevelt stellte vor dem pro-sowjetisch eingestellten American Youth Congress am 10. Februar 1940 spektakulär richtig, daß die UdSSR eine Diktatur „wie jede andere“ sei, die gerade ein „unendlich kleineres“ Land überfallen habe. Vgl. Dallek, Roosevelt, S. 212. 108 Bis Januar 1941 hatte man 1,3 Milliarden Dollar in die USA bezahlt. Waren für 1,4 Milliarden sollten im Lauf des Jahres 1941 hinzukommen. Vgl. Dallek, Roosevelt, S. 258, Morgenthau an das Foreign Affairs Commitee. 109 Roosevelt in einem Kamingespräch Ende Dezember 1940. Zit. n. Dallek, Roosevelt, S. 256 f. 110 Ebd. Dallek, Roosevelt, S. 257.
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wollte. Für andere Regionen galt dies nicht, insbesondere nicht für den traditionellen Geltungsbereich der Monroe-Doktrin. Das von ihm zu dieser Zeit eingebrachte neue Wehrpflichtgesetz sah ausdrücklich vor, Wehrpflichtige nur in der westlichen Hemisphäre einsetzen zu wollen, ein Begriff der freilich dehnbar war und unter den bald auch Island sowie die dem europäischen Festland vorgelagerten Inseln fallen sollten.111 Gedacht war zunächst aber an eine Erweiterung der Interventionsmöglichkeiten in Amerika selbst. In den Wochen nach dem Fall Frankreichs schien aus amerikanischer Sicht die Gefahr zu bestehen, daß Deutschland in Lateinamerika allzu beliebt werden könnte. Dies hatte seinen Grund weniger in einer Fünften Kolonne, die von Deutschland in Marsch gesetzt worden war, sondern in einer Rückwirkung der englischen Blockadepolitik gegen Europa. In Friedenszeiten hatte Europa lateinamerikanische Waren abgenommen. Jetzt stapelten sie sich in den Häfen und die Exporteure forderten die Entscheidungsträger in Washington auf, zu helfen. Man wußte keine wirkliche Antwort.112 Hier konnte der endgültige Beginn einer Hysterie verzeichnet werden, die durch den Präsidenten tatkräftig gefördert wurde.113 Südamerika war als Auswanderungsregion zahlreicher Deutscher allgemein bekannt. Sie hatten dort anders als in den angelsächsischen Ländern auch die antideutsche Welle während des Ersten Weltkriegs in teilweise geschlossenen Milieus überstanden, ohne ihre Namen und die ihrer Wohnorte ändern zu müssen, ohne auf die Publikation deutschsprachiger Lektüre verzichten zu müssen und konnten vieles bewahren, was in den deutschen Milieus der angelsächsischen Länder zu dieser Zeit zerstört worden war. Dieses Südamerika war als potentielles Gebiet nationalsozialistischer Invasionsabsichten dem gewöhnlichen Amerikaner leichter zu vermitteln als irgend ein anderes. So begann Roosevelt zunehmend lauter zu behaupten, er hätte Beweise für solche Absichten, bis hin zu jenen frei erfundenen Landkarten, die ihm angeblich vorlagen und mit denen deutsche Invasionsabsichten dort eindeutig bewiesen werden würden.114 111 Unter anderem die Azoren. Vgl. Rosenman, Roosevelt, S. 289. Spötter unter den amerikanischen Isolationisten, wie Gerald P. Nye, sprachen davon, mit dieser Argumentation könnte man sogar den Mond der westlichen Hemisphäre zurechnen und besetzen. Vgl. Lübken, Nähe, S. 303. 112 Vgl. Dallek, Roosevelt, S. 234. 113 Vgl. Uwe Lübken „Bedrohliche Nähe“, der diese Legende von der nationalsozialistischen Bedrohung Amerikas allerdings eher noch weiter transportiert. und die verkündeten Befürchtungen Roosevelts durchaus ernst nimmt. Vgl. Lübken, Nähe, S. 73 ff. Eine wichtige Rolle, um diese Bedrohungsszenarien zu verbreiten, spielten auch in der amerikanischen Öffentlichkeit Hermann Rauschnings erfundene und vom französischen Geheimdienst bezahlte „Gespräche mit Hitler“. Vgl. Lübken, Nähe, S. 66 f.
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Vorläufig hielt sich Roosevelt bis zu seiner Wiederwahl im November 1940 noch zurück. An anderen Orten gingen die Dinge auch besser. Jahrelanger Krieg in China hatte die japanischen Verhältnisse so zerrüttet, daß Sumner Welles bereits gut gelaunt davon ausgehen konnte, „alles entwickelt sich prächtig“. Japan würde bald kommen und „unseren großen Zeh küssen“.115 In der Tat hatte sich Japan nun seit langem exponiert und konnte in wehrwirtschaftlicher Hinsicht als ausgebrannt gelten. Weiterer Druck auf die japanischen Importe aus den USA oder aus amerikanisch kontrolliertem Gebiet, jene Importe, von denen Japan noch abhängiger war als Deutschland von den Lieferungen aus der UdSSR, konnte ein übriges tun. So blieb Ostasien in jedem Fall die Hintertür, durch die Roosevelt die amerikanischen Optionen einigermaßen risikolos voll ausspielen konnte. b) „The Great Globe itself“ – die russisch-amerikanischen Beziehungen Molotov: „Roosevelt war ein Imperialist, der bereit war, jedem an die Kehle zu gehen. Chuev: Wie ein Genosse einmal angemerkt hat: behindert sein und doch Präsident der Vereinigten Staaten werden, und das gleich dreimal, was für ein Gauner muß man dafür sein! Molotov: Gut ausgedrückt.“116
Was an anderer Stelle zu den Themen gesagt wurde, die während der Reise von Sumner Welles nach Europa eine Rolle spielten, das galt auch weiterhin. Die UdSSR wurde in Washington als eine Macht eingeschätzt, an der man nicht vorbeikonnte. Roosevelt selbst machte sich wenig Illusionen über die diktatorische Natur des Sowjetregimes, seine Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus und seine Verantwortung dafür, daß Deutschland den Krieg gegen die Westmächte überhaupt führen konnte. Stalin habe Hitler die Eroberung Westeuropa „erlaubt“, stellte Sumner Welles lapidar fest.117 Aber es gab einen entscheidenden Unterschied zwischen Deutschland und der UdSSR, der bereits aus dieser Einschätzung klar erkennbar 114 Demnach sollten von den Staaten Lateinamerikas nach Hitlers angeblichen Plänen ganze fünf Länder übrig bleiben. Auch nach dem Krieg sah sich Präsidentenbrater Samuel Rosenman noch nicht in der Lage, diese Erfindung des englischen Geheimdiensts als solche einzuräumen und führte in seinem Bericht an, die Karten seien „Nazi-Dokumente“ gewesen, die „irgendwie in unseren Besitz gekommen waren“. Vgl. Rosenman, Roosevelt, S. 295. Tatsächlich handelte es sich um eine Fälschung des englischen Secret Intelligence Service. Vgl. Lübken, Nähe, S. 69 f. 115 Zit. n. Dallek, Roosevelt, S. 239. 116 Molotov zu Chuev, hier zit. n. Molotov, Politics, S. 51. 117 Vgl. Welles, Decision, S. 168.
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war: Die Sowjetunion und ihre Weltmachtrolle stellten eine Realität dar, gegen die ernsthaft etwas zu unternehmen außerhalb der Reichweite aktueller amerikanischer Außenpolitik lag. Nach dem Krieg würde das anders sein, erklärte Roosevelt beispielsweise der polnischen Delegation unter Regierungschefs Sikorski, die ihn im März 1942 aufsuchte. Russische Forderungen nach dem Baltikum etwa würden immer mit der deutschen Gefahr begründet und dieser Grund würde natürlich entfallen, wenn diese Gefahr erst beseitigt sei. Genaugenommen verwies Roosevelt bei dieser Gelegenheit die UdSSR in die Vorkriegsgrenzen zurück,118 ein Ziel, das die amerikanische Außenpolitik mit großer Konsequenz verfolgte. Während des Krieges blieb dies zunächst ein Randthema. Wirtschaftliche Boykottmaßnahmen waren nach 1939 in geringem Umfang ergriffen worden, als der sowjetische Überfall auf Finnland nach dem vertragswidrigen Einmarsch der Roten Armee in Polen den Ruf der UdSSR weiter diskreditiert hatte. Aber es gab kein Mittel, die UdSSR durch Boykott oder militärische Aktionen zu einem Kurswechsel zu zwingen. Ein selbstgeführter blutiger Landkrieg des Ausmaßes, wie ihn das deutsche Unternehmen Barbarossa später darstellen sollte, lag außerhalb der amerikanischen Optionen. Eine jahrelange Todesrate von durchschnittlich etwa zweitausend Soldaten pro Tag würde die Zivilgesellschaft nicht aushalten. So wären als einzige effektive Verbündete gegen die UdSSR letztlich ausgerechnet Deutschland und Japan in Frage gekommen, deren eventueller Sieg über die UdSSR dann aber für beide einen substantiellen Machtgewinn und eine Veränderung der Weltlage in eine Richtung bedeutet hätte, die Washington unter den 1939/40 bestehenden innenpolitischen Verhältnissen beider Länder nicht wünschen konnte. Man brauchte die UdSSR daher als potentielles Gegengewicht und möglichen militärischen Gegner Deutschlands. Je nach militärischer Lage würde einmal der eine, und mal der andere unterstützt werden, damit sich beide Staaten gegenseitig schwächen konnten, wie Vize-Präsident Truman bald nach dem Juni 1941 sagen sollte. Daher war es bereits während der Sumner Welles Reise im Frühjahr 1940 das klare Ziel der US-Außenpolitik gewesen, alles zu vermeiden, was die damals bestehende deutsch-sowjetische Zusammenarbeit festigen könnte. Über die UdSSR wurde in den Gesprächen des stellvertretenden amerikanischen Außenministers mit den Regierungen in Rom, Berlin, Paris und London ein beredtes Schweigen ausgebreitet. Zurück in Washington und unter dem Eindruck der deutschen militärischen Erfolge in Nord- und Westeuropa forcierte Welles dann mit Billigung Roosevelts eine kleine diplomatische Offensive mit dem Ziel, die russisch-amerikanischen Beziehungen zu verbessern und dabei die deutsch-russischen mög118
Vgl. Sikorski, Documents, S. 310 f.
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lichst zu verschlechtern. Je kürzer das seit 1939 bestehende Einvernehmen zwischen Stalin und Hitler andauern würde, desto besser für die USA.119 In insgesamt siebenundzwanzig Treffen mit dem sowjetischen Botschafter in Washington schuf Welles bereits im Sommer 1940 die Voraussetzungen dafür, daß ein Jahr später die amerikanischen Lieferungen nach Rußland schnell anlaufen konnten.120 Es ist von daher nicht überraschend, daß Roosevelt die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen manchmal sogar etwas wichtiger fand als die englisch-amerikanischen. Obwohl er seit Kriegsausbruch 1939 eine umfangreiche private Korrespondenz mit Churchill führte, machte der amerikanische Präsident doch auch immer wieder Anläufe, den englischen Regierungschef auszubooten. Roosevelts Ziel war es, Stalin davon abzubringen, daß „gute Beziehungen zwischen der UdSSR und den USA eine Zwischenschaltung Großbritanniens als freundlicher Makler“ erfordern würden. Roosevelt wollte Stalin wissen lassen, daß die Vereinigten Staaten stark waren, keine schleifenden Achsen hatten und in erster Linie am Sieg in diesem Krieg interessiert seien.“121 Im Juni 1943 versuchte Roosevelt im Vorfeld der Teheraner Konferenz dann ein Treffen mit Stalin zu arrangieren und ließ dem englischen Premier wahrheitswidrig mitteilen, dies sei nicht seine Idee gewesen. In Wahrheit hatte er das von den Sowjets vorgeschlagene Island als Treffpunkt sogar ausdrücklich mit der Begründung abgelehnt, es sei dort kaum möglich, Churchill nicht auch einzuladen.122 Der wachsende deutsch-russische Gegensatz und die aufkommenden deutschen Pläne, diese Spannung möglicherweise militärisch zu lösen, blieben der US-Regierung in den Jahren 1940/41 nicht lange verborgen. Wie schon 1939 exakte Informationen über das deutsch-russische Geheimprotokoll zum Nichtangriffspakt praktisch augenblicklich nach Washington gelangt waren, so wurde man in Washington auch diesmal zeitig über die Angriffspläne informiert. „Im letzten Monat des Jahres 1940 erreichte das Außenministerium aus zuverlässiger Quelle die Nachricht, daß ein deutscher Angriff auf die Sowjetunion bevorstand,“123 schrieb Sumner Welles noch 119
Vgl. Welles, Decision, S. 169. Botschafter Steinhardt in Moskau schickte eine geharnischte Stellungnahme gegen diese Gespräche, weil es öffentliches Thema geworden sei, daß eine amerikanisch-russische Allianz im Werden sei und sich seitdem in Moskau nichts mehr erreichen ließe. Joseph Lash sieht in diesen Gesprächen einen wichtigen Grund dafür, daß Molotov sich auch in Berlin so unnachgiebig zeigte. Vgl. Laurence Steinhardt an Loy Henderson am 20. Oktober 1940 in: FRUS, III, 1940, hier zit. n. Lash, Roosevelt, S. 252. 121 Vgl. Kimball, Correspondence, II, S. 278, vgl. auch MacLean: „Davies and Soviet-American-Relations“, S. 85 f. 122 Vgl. Kimball, Correspondence, S. 283 und FRUS, Teheran Conference, S. 4). 123 Zit. n. Welles, Decision, S. 170. Also noch im Dezember, zum Zeitpunkt der Weisung Barbarossa, war man in Washington informiert. 120
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während des Kriegs öffentlich. Worauf immer Welles sich hier bezog, tatsächlich war im Januar 1941 eine Kopie des Barbarossa-Erlasses vom 18. Dezember 1940 in die amerikanische Botschaft gelangt, genauer zu Handelsattaché Samuel E. Woods.124 Später versuchte Winston Churchill von London aus mit seiner absichtlich besonders dunkel formulierten und durch seine Eigendarstellung berühmt gewordenen „Warnung an Stalin“ Politik zu machen. In Washington hielt man nichts von solchen Kriminalspielen. Versuche, das Papier in Moskau an Molotov zu übergeben, scheiterten zwar. Das Washingtoner Regierungstrio Sumner Welles, Cordell Hull und Franklin D. Roosevelt entschied sich jedoch für mehrere klare diplomatische Schritte. Obwohl ihm bewußt war, wie er nicht ganz ohne Ironie schrieb, daß die UdSSR über die Vorgänge in Europa besser informiert sein würde als jede andere Regierung, ließ Welles nach Rücksprache mit Hull und Roosevelt und mit deren „herzlicher Zustimmung“ den sowjetischen Botschafter Umanskij zu sich kommen und teilte ihm seine Informationen offiziell mit, d.h. händigte ihm die Barbarossa-Vorlage aus.125 Umanskij wurde angeblich „blaß“, betonte ausdrücklich, genau verstanden zu haben und gab seine neugewonnenen Erkenntnisse sofort nach Moskau weiter. Einige Wochen später legte Welles noch einmal nach und gab inzwischen neu eingetroffene Details ebenfalls an Umanskij weiter. Wenn er Zweifel an der Nützlichkeit dieser Handlungen hatte, dann nur deswegen, weil er sie für überflüssig hielt, denn „zu dieser Zeit konnte jeder informierte Beobachter der Ereignisse in Osteuropa viele Anzeichen dafür sehen, daß das deutsche Oberkommando seine Strategie auf einer offensiven Kampagne an der Ostfront aufbaute.“126 In der Tat war man in Moskau nicht auf amerikanische Hilfestellung angewiesen. Stalin waren die wesentlichen Kriterien der Weisung „Barbarossa“ früh zugespielt worden.127 Samuel E. Woods, Handelsattaché an der amerikanischen Botschaft in Berlin, hatte die Informationen wie erwähnt unmittelbar nach dem 18. Dezember 1940 von dem früheren Zentrumsabgeordneten, Brüning-Anhänger und Hitlergegner Dr. Erwin Respondek erhalten, der mit General Franz Halder verkehrte. Woods informierte umgehend nicht nur das Weiße Haus, sondern auch einen Kollegen von der sowjetischen Botschaft in Berlin.128 In Moskau kamen diese Informationen an und wurden geglaubt, wie Werner Maser später klarstellte: 124 Dem sie im Kino während der Vorführung gesteckt worden sein soll. Vgl. Lash, Roosevelt, S. 354. 125 Ebd. Lash, Roosevelt, S. 354. 126 Zit. n. Welles, Decision, S. 171. 127 Nach Magenheimer bereits am 29. Dezember 1940. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 77. Magenheimer beruft sich auf einen Artikel von M. Messerschmidt in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 16. Februar 1996, S. 14. 128 Vgl. Maser, Wortbruch, S. 284.
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„Daß die sowjetische Führung im Juni 1941 vom deutschen Angriff überrascht worden sei, wie einige – schlecht informierte oder politisch korrumpierte – Historiker behaupten, ist eine Legende. Stalin und Molotov rechneten nach Molotovs späten Bekenntnissen ‚sowohl im Jahre 1939 als auch im Jahre 1940‘ bereits mit einem Krieg gegen Deutschland.“129
Am 29. Dezember 1940 hatte der Militärattaché in Berlin, General Tupikov gemeldet, Hitler hätte den Befehl zum Angriff auf die UdSSR gegeben und er sei für März geplant. Tupikovs Brief und eine Einschätzung dieser Nachricht als authentische Information wurden Stalin persönlich übergeben,130 womit dem Kremlchef bekannt sein konnte, daß Deutschland militärische Operationen gegen die UdSSR mindestens in Erwägung zog. Roosevelt seinerseits wurde von Winston Churchill erst relativ spät in Kenntnis gesetzt. Beinah ein halbes Jahr, nachdem der Barbarossa-Erlaß dem Präsidenten bekannt geworden war, informierte Churchill ihn am 14. Juni 1941 über den unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriff auf Rußland: „Aus jeder Quelle die mir zur Verfügung steht, darunter einige besonders vertrauenswürdige, kommt die Nachricht, daß ein umfangreicher deutscher Angriff an der russischen Front demnächst kommt. Nicht nur, daß die deutsche Hauptmacht von Finnland bis Rumänien stationiert ist, sondern auch die letzten Maßnahmen zur Heranziehung der Luft- und Landstreitkräfte sind abgeschlossen. . . . Sollte dieser Krieg kommen, sollten wir den Russen jede Ermutigung und alle Hilfe geben, die wir entbehren können, immer nach dem Prinzip, daß Hitler die Bedrohung ist, die es zu schlagen gilt. Ich erwarte hier keinen politischen Klassenkampf und vertraue darauf, daß ein deutsch-russischer Konflikt uns nicht irgendwie in Verlegenheit bringt.“131
Roosevelt fror am gleichen Tag (14.6.41) alle Guthaben Deutschlands und Italiens in den USA ein, teilweise auch solche spanischer, portugiesischer, schwedischer und schweizer Herkunft, eine Sache, die zuvor in Washington lange diskutiert worden war.132 Eine ausführliche Antwort an Churchill wurde von John Gilbert Winant persönlich überbracht, der eigens mit dem Flugzeug nach dem Landsitz des britischen Ministers in Chequers durchstartete und am 20. Juni rechtzeitig dort eintraf, um Churchill mitzuteilen, daß Roosevelt den Sowjets im Kriegsfall öffentlich Hilfe in Aussicht stellen wollte und um die dazu benötigten Kommuniqués aufeinander abzu129
Zit. n. Maser, Wortbruch, S. 293. Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 170. Bereits am 5. Dezember hatte die russische Botschaft in Berlin ein anonymer Brief mit einer solchen Warnung erreicht. Ebd. Gorodetsky, Täuschung, S. 169. 131 Churchill an Roosevelt am 14. Juni 1941, hier zit. n. Kimball, Correspondence, S. 208. 132 Ebd. Kimball, Correspondence, S. 209. 130
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stimmen.133 Tatsächlich wurden sie gar wortgleich, was etwas auffiel und die Öffentlichkeit unfreiwillig darüber informierte, daß ihre Regierungschefs bereits zuvor von der deutschen Attacke gewußt hatten.134 Die Stimmung in Washington blieb jedoch nüchtern. Auch das State Department hatte sich bereits ausführlich Gedanken über einen deutsch-russischen Krieg gemacht und gab am 21. Juni, dem Tag vor dem Angriff, ein längeres Statement über dessen politische Folgen heraus, in dem zu lesen war, man solle in einem solchen Fall auch künftig stets davon ausgehen, daß die UdSSR in keiner Weise für die politischen Prinzipien einstehen würde, die den USA so am Herzen liegen würden.135 Aber Franklin D. Roosevelt hatte wenig Alternativen. c) Wahlen in den Zeiten des Krieges Im Jahr 1940 wurde in den USA ein neuer Präsident gewählt. In jenen unruhigen Zeiten konnte dies als Ausnahme gelten. Neben den totalitären Diktaturen, die formal zwar ebenfalls an den Beifall der Massen appellierten und sich in Ausübung ihrer Herrschaft auf den Demos beriefen, aber dabei zweifellos undemokratisch, wenn auch nicht explizit antidemokratisch handelten, hatten selbst die Demokratien zu dieser Zeit das Wählen eingestellt. Es sollte 1945 werden, bis in England nach 1935 zum ersten Mal wieder eine demokratische Wahl die kommende Regierung legitimierte. Während des Kriegs wurde die Durchführung weiterer Wahlen gestoppt. So fand in den USA ein außergewöhnliches und vielbeachtetes Ereignis statt, das allerdings die begrenzte Entscheidungsmöglichkeit demokratischer Wähler gegenüber dem Kurs der eigenen politischen Führungsschicht anschaulich zeigte, zumindest was den Einfluß auf außenpolitische Aspekte betraf. Es war keineswegs so, daß es zwischen dem republikanischen Kandidaten Wendell Willkie und dem regierenden Demokraten Franklin D. Roosevelt unüberbrückbare Differenzen gegeben hätte, die etwa den weiteren Gang der amerikanischen Politik gegenüber Deutschland substantiell hätten ändern können. Die Wahl des Jahres 1940 stellte keine Richtungsentscheidung zwischen Isolationismus und Internationalismus dar, denn der Antrieb zur Entwicklung der Vereinigten Staaten hin zur Weltmacht und zur Hegemonialmacht Europas lag im Selbstverständnis des amerikanischen Verfassungssystems und seiner Wirtschaftsinteressen. Nach der Niederlage etwa genoß 133
Vgl. Lash, Roosevelt, S. 351. Sumner Welles verstieg sich später zu der Behauptung, diese Übereinstimmung sei zufällig zustande gekommen. Vgl. Welles, Decision, S. 171. 135 Vgl. Lash, Roosevelt, S. 356. 134
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Wendell Willkie durchaus das Vertrauen Roosevelts, der ihn mit den lobenden Worten einer Botschaft zu Churchill schickte, Willkie helfe „in jeder Weise, die Parteipolitik bei uns hier auszuschalten“.136 Willkie fand in London entsprechend freundliche Aufnahme, zumal er sich bald darauf lebhaft für Waffenlieferungen an England einsetzte.137 Man war sich im wesentlichen einig, was den Kurs gegenüber den Achsenmächten und Großbritannien anging. Roosevelt hatte Willkie, der nicht weniger internationalistisch dachte wie er selbst, was sich unter anderem in der Titelwahl seiner Autobiographie „One World“ ausdrückte,138 nach der Wahl nicht zufällig nach London geschickt. Er konnte sich sicher sein, mit dieser Aktion innen- wie außenpolitisch einen Gewinn zu erzielen. Vor diesem Hintergrund tritt auch der für die Jahre des Weltkriegs oft zu einem Zweikampf zwischen Hitler und Roosevelt stilisierte persönliche Konflikt etwas zurück. Hitler hatte diese inneramerikanischen Gemeinsamkeiten bereits zeitig erkannt und konnte vor diesem Hintergrund im Vorfeld der amerikanischen Wahl sogar der möglichen Wiederwahl Roosevelts positive Aspekte abgewinnen. Dabei unterschätzte er allerdings die Halbwertszeit von Wahlkampfaussagen: „Führer hat sich dahin geäußert, daß die Wahl Roosevelts für Deutschland besser wäre als die Willkies, da dieser wahrscheinlich die amerikanische Rüstungsindustrie noch höher treiben würde als Roosevelt, während beide sich gegen ein Eintreten in den Krieg festgelegt hätten.“139
Möglicherweise war dies nicht das letzte Wort des amerikanischen Establishments zur Kriegsfrage gegen Deutschland. In Berlin blieben in den nächsten Monaten zunehmend weniger Zweifel erhalten, ob die Vereinigten Staaten einen strengen Kriegskurs verfolgten. Tatsächlich änderte sich schnell nach Wahl der Roosevelts auch die Tonart seiner Minister. Die möglichen Differenzen in der amerikanischen Administration wurden zuvor von Deutschland aus sorgfältig beobachtet: „d) Amerika: Imperialistisch: Diplomatie und Marine. Dagegen: Berufsdiplomatie, Generalstab. 136
Zit. n. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 44. Sehr zum Ärger der Nationalsozialisten. Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 136, 11. Februar 1941. 138 Vgl. Ingrimm, Auflösung, S. 130. 139 Zit. n. BA-MA RW 4/42, S. 103, Bericht VO Ausland, 2. November 1940. In ähnlichem Sinn auch Harold Nicolson: „Hätte man mich gefragt, so hätte ich gesagt, daß es für uns nichts ausmache, wenn Willkie siegte, weil auch er auf unsere Unterstützung festgelegt war. Gewiß hätte ein Regierungswechsel einiges Durcheinander gegeben. Andererseits hätten wir mit Willkies Hilfe das Big Business fest auf unserer Seite gehabt.“ Zit. n. Nicolson, Tagebücher, S. 412, 6. November 1940. Auch Goebbels rang sich zu dieser Erkenntnis durch: „Er (Willkie, d. Verf.) vertritt Roosevelts Politik, nur noch etwas radikaler.“ Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 143, 14. Februar 1941. 137
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e) Führer: Ablehnend gegen jedes Entgegenkommen gegen Amerikaner, Schweizer. Dagegen mit Entgegenkommen einverstanden gegenüber Finnen, Bulgaren, Rumänen.“140 „Schwierige Lage Englands tritt immer mehr hervor. Roosevelt soll ausgesprochen haben, daß England in 6 Monaten erledigt sei und daß es keinen Sinn habe, Amerika für England in den Krieg zu hetzen.“141
Hier mochte der Wunsch der Vater des Gedankens sein. Immerhin schickte Roosevelt allerdings nicht zuletzt aus solchen Motiven gerade in den Tagen dieser Äußerungen William Donovan einmal mehr nach Europa, um die Lage zu prüfen und sich insbesondere über die englische Operationsfähigkeit im Mittelmeer und dem Mittleren Osten ein Bild zu machen. Er entschied sich dafür, die weitere Kriegsführung Englands zu fördern und aktiv zu unterstützen. Diese Möglichkeit bestand immer, das war auch in Berlin bekannt. In diesem Eventualfall würde in den USA der politische Wille letztlich stärker sein als das selbst proklamierte Völkerrecht, dies nahm man gleichfalls als gegebene Tatsache hin: „Führer schwankt noch in Haltung zu Amerika, da ‚man nicht in die Seele Roosevelts sehen könne‘. Will es Krieg, so findet es jedes Mittel, auch wenn juristisch wir im Recht. Japan ausschlaggebend. Wenn selbst noch schwankend, ist es besser, USA aus Krieg zu halten, als vielleicht einige 100.000 tons mehr zu versenken. Ohne USA Krieg dieses Jahr zu Ende. Mit USA noch lange Jahre.“142
Wie man die USA besiegen könnte, wisse er nicht, sollte Hitler später nach der juristischen Kriegserklärung an Washington zum japanischen Botschafter sagen. Daß es jedoch nicht in seinem Einflußbereich lag, die Vereinigten Staaten von einem „de facto“ Kriegseintritt abzuhalten, diese Einstellung kristallisierte sich im weiteren Verlauf des Jahres 1941 zunehmend deutlicher heraus, bis der symbolische Akt einer juristischen Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941 eine Option zu sein schien. Ohne dazu durch die Verträge mit Japan verpflichtet zu sein oder vorher jemanden in Deutschland zu konsultieren, tat Hitler im Dezember 1941 diesen Schritt, der unter die deutsche Außenpolitik für einige Jahre eine Art symbolischen Schlußstrich zog, zunächst jedoch die Versenkung von „einigen 100.000 tons mehr“ möglich machte. Daß die Unterlassung dieser Erklärung etwas wesentliches an den militärischen Anstrengungen der Vereinigten Staaten gegen Deutschland oder gar am Kriegsausgang geändert hätte, ist nicht anzunehmen. Neben der hohen Wahrscheinlichkeit, daß der amerikanische Kongreß diesen Krieg auch von sich aus erklärt hätte, bestand bereits Klarheit, daß die englische Strategie aufgegangen war, in Europa den ganzen verhungernden Kontinent gegen Deutschland aufzubringen und ei140 141 142
Zit. n. Halder, KTB, II, S. 188, 19. November 1940. Zit. n. Halder, KTB, II, S. 196, 26. November 1940. Zit. n. Hewel, Tagebuch, 22. Mai 1941.
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nen deutsch-sowjetischen Krieg zu provozieren. Zudem schossen längst amerikanische Schiffe auf deutsche Schiffe und wenig spricht dagegen, daß Berlin ebenso wie später Hanoi auch ohne formellen Kriegszustand von amerikanischen Bombern angegriffen worden wäre. Was das Verhältnis zwischen den Parteien und den beiden Präsidentschaftskandidaten des Jahres 1940 betrifft, so hatte Roosevelt für eine Art „nationalen Konsens“ gesorgt, als sich die militärische Situation so entwikkelte, daß ein aktives Eingreifen der USA nötig werden konnte. Noch während des sich abzeichnenden Zusammenbruchs Frankreichs berief er am 19. Juni 1940 den Republikaner Stimson als Kriegsminister und dessen Parteikollegen Knox zum Marineminister auf zwei entscheidende Posten seiner Administration.143 Am Ende stellte sich heraus, daß mit dem Kriegsthema wohl Wahlen zu verlieren, aber nicht zu gewinnen waren. Frühzeitig ließ sich dies bereits absehen. Ansichten potentieller Kandidaten wie Joseph Kennedy, die sich stärker in Richtung Isolationismus bewegten, konnten jedoch ebenso schwer in einen Wahlschlager verwandelt werden.144 Da die beiden schließlich angetretenen Kontrahenten das Wort Krieg wegen der möglicherweise wählerabschreckenden Folgen nur ablehnend verwendeten, wurde das Thema routiniert abgehandelt. Allerdings profitierte Roosevelt von einer Art Amtsbonus, denn in den sonst weitgehend ausgeglichenen Umfragen traute es eine große Mehrheit eher ihm als seinem Gegner Willkie zu, das Land durch einen Krieg zu führen, wenn er denn doch käme: 54,6 zu 36,4 Prozent.145 Da man davon ausgehen kann, daß das Volk allzeit klüger als die im öffentlichen Raum gemachten Äußerungen seiner Politiker ist, läßt sich in dieser Gegenüberstellung durchaus ein wahlentscheidender Faktor sehen. Die amerikanische Öffentlichkeit rechnete mehrheitlich mit Krieg und wählte Roosevelt wieder, nicht zuletzt auch wegen des größeren Zutrauens zu ihm in dieser Frage.146 Während Willkie sich nach der Wahl in London ein Bild machte und William Donovan sich auf seine Mission auf dem Balkan vorbereitete, fühlte sich Roosevelt frei, auch in Frankreich verstärkt Einfluß zu nehmen. Die rechtmäßige, von einem demokratisch gewählten Parlament installierte und allein international anerkannte Regierung Frankreichs saß zu dieser Zeit weiterhin in Vichy. Gleich nach seiner Wiederwahl schickte Roosevelt mit Admiral William Leahy einen persönlichen Bekannten als Botschafter 143
Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 97 f. Kennedy kehrte am 22. Oktober 1940 seinem Botschafterposten in London den Rücken und flog über Lissabon nach Washington zurück, wo er noch rechtzeitig eintraf, um sich nach einem Gespräch mit Roosevelt am 29. im Radio ebenfalls für dessen Wiederwahl einzusetzen. Vgl. Costello, Days, S. 394. 145 Vgl. Dallek, Roosevelt, S. 250. 146 Vgl. Dallek, Roosevelt, S. 250. 144
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dorthin, als Zeichen seiner fortdauernden Wertschätzung für Pétain und natürlich auch, um in Frankreich ebenfalls daran zu erinnern, daß die USA in diesem Krieg eine entscheidende Partei waren und entschlossen, auf die europäische Ordnung Einfluß zu nehmen.147 Das bedeutete nebenbei den Versuch, Frankreich von einer möglichen Neigung hin zu den Achsenmächten abzuhalten.148 Gleichzeitig zeigten die Anhörungen der künftigen Minister vor dem Kongreß, wie sehr sich die Dinge nach dem Ende des Wahlkampfs radikalisierten. Außenminister Cordell Hull, Kriegsminister Stimson und Marineminister Knox legten sich praktisch keine Schranken mehr auf, was die offenen Kriegsdrohungen gegen Deutschland anging und die abstrusen Behauptungen über die angebliche Bedrohung der USA. Regionale Konflikte gebe es auf der Welt nicht mehr, verkündete Hull. Man werde sich von der „Neutralität“ nicht zur Untätigkeit verdammen lassen. Auf den Hinweis eines Abgeordneten, die ins Auge gefaßten Gegner, gemeint waren Italien, Deutschland und Japan, seien „kleine Länder“ und außerdem durch Ozeane und eine vorzügliche Marine von den USA getrennt, entgegnete Hull nur lapidar: „Ich kann ihre Selbstzufriedenheit nicht billigen.“ Kriegsminister Henry Stimson phantasierte von möglichen Luftlandungen in den USA, und Marineminister Frank Knox wußte Zahlen zu präsentieren, nach denen die Neubauten der amerikanischen Marine bei einer Niederlage Englands hinter den Bauten der Achsenmächte zurückbleiben könnten.149 Es waren Produkte einer blühenden Einbildungskraft. Die wirklichen Verhältnisse sahen zu jener Zeit so aus, daß die Zahl der Neubauten von Großkampfschiffen auf Deutschlands Werften exakt Zwei betrug, die bereits zur Weimarer Zeit konzipiert worden waren und jetzt kurz vor der Fertigstellung standen.150 Andere vergleichbare Projekte waren bei Kriegsbeginn eingestellt worden. Demgegenüber hatten die Vereinigten Staaten bereits Dutzende neuer Überwasserschiffe auf Kiel gelegt, darunter etliche Schlachtschiffe und Flugzeugträger.151 Gleichzeitig nahm der Bau von Zivilschiffen zu, und „in der 147 Diese Taktik war erfolgreich. Pétain scheute vor einer Zusammenarbeit zurück, auch als dies im Frühjahr 1941 erneut zur Debatte stand. Pétain sicherte Leahy am 12. Mai 1941 zu, in keinem Fall militärische Unterstützung für Deutschland zu leisten. Entsprechend schickte man nach dem Beginn des Unternehmens Barbarossa den Entwurf für einen Friedensvertrag nach Berlin, der ein deutsches Entgegenkommen praktisch ausschloß. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 452; FRUS 1941, II, S. 160 ff.; Jäckel, Frankreichpolitik, S. 452. 148 Besonders diesen Aspekt verstand man in Deutschland als Gefahr. Vgl. Martin, Friedensinitiativen, S. 359. 149 Vgl. Time, 27. Januar 1941, S. 12 ff. 150 Die beiden Schlachtschiffe Bismarck und Tirpitz. 151 Nicht ohne abgründigen Humor war es, wenn „TIME“ einige Hefte später eine ganzseitige Werbeanzeige der Firma York brachte, die ein Bild vom Stapellauf der
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Tat produzierten allein die Vereinigten Staaten 1943–1944 jeden Tag ein Schiff und alle fünf Minuten ein Flugzeug“.152 Es lag völlig außerhalb der Möglichkeiten von Japan, Deutschland und Italien, mit diesem amerikanischen Bauprogramm mitzuhalten, selbst wenn die Kapazitäten der drei Länder, etwa die Stahlproduktion, für den Schiffsbau frei gewesen und in einem koordinierten Programm zusammengefaßt worden wären. Die amerikanische Innenpolitik störte solche Überlegungen nicht. Gegen diese von der kommenden Administration eloquent, mit dem Rückenwind des frischen Wahlsiegs und ohne Rücksicht auf Wahrheit oder Plausibilität der Fakten vorgetragenen Geschichten, konnten die demokratischen Kontrollmechanismen wenig ausrichten. Wer kritische Fragen stellte, wie es die Isolationisten taten, „verbreitete den Geruch von Männern, die gegen den Lauf der Zeit angehen,“ schrieb „Time“ zu Recht.153 Politischer Wille siegte über die Regeln der Verfassung. Das politische Washington wußte sich weitgehend darüber einig, das verfassungsmäßige System der „checks and balances“ für einige Zeit auszusetzen und Roosevelt zu ermächtigen, das zu tun, was er jetzt nach seiner Wiederwahl offenkundig tun wollte: den Weltkrieg zu einem für die USA siegreichen Ende zu führen. Es konnte keinen Verhandlungsfrieden geben, legte Knox zwei Wochen später in einer weiteren Anhörung noch einmal deutlich nach. Der einzige Weg zum Frieden der USA sei die Niederlage Deutschlands.154 d) Gartenschläuche und Strategien Bis es zu diesen öffentlichen Äußerungen kam, hatte sich seit dem Sommer 1940 Stück für Stück eine Verschlechterung der deutsch-amerkanischen Beziehungen und eine Parteinahme der USA an der Seite Englands angedeutet. Am 3. September 1940 wurde offiziell gemeldet, daß die amerikanische Regierung fünfzig im letzten Weltkrieg gebaute Zerstörer an Großbritannien übergeben würde. Dabei wurden gleich mehrere öffentliche persönliche Versicherungen Roosevelts hinfällig, daß die Verhandlungen über die Überlassung englischer Flottenstützpunkte nicht in Zusammenhang mit den parallelen Verhandlungen der vielbesprochenen Zerstörerfrage stünden. Zudem wurde, da der Kongreß nicht gefragt worden war, ein Gesetz aus dem Jahr 1917 gebrochen, das eine Kongreßzustimmung zwingend vorU. S. S. North Carolina zeigte, einem Schiff aus der neuen Serie „der 45.000 Tonnen Superschlachtschiffe“, und stolz vom Einbau ihrer Kühltechnik „in 170 der jetzt gerade in Bau befindlichen Schiffe“ berichtete. Vgl. TIME, 17. März 1941, S. 57. 152 Zit. n. Kennedy, Mächte, S. 530. 153 Vgl. Time, 27. Januar 1941, S. 14. 154 Vgl. Time, 10. Februar 1941, S. 17.
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gesehen hatte. Allerdings verfügte Präsident Roosevelt über einen willigen Justizminister, der die Nichtanwendbarkeit dieses Gesetzes für diesen Fall nachwies und dessen Rechtsauffassung später noch Weltgeschichte schreiben sollte: Robert H. Jackson übernahm es 1945, das Nürnberger Statut so zu verfassen, daß ein politischer Prozeß möglich wurde, der die Rooseveltsche Kriegspolitik bis Pearl Harbour weiß waschen sollte. 1940 gab er zunächst ein Gutachten in Auftrag, das die Übertragung der Zerstörer an Großbritannien legalisieren sollte.155 Parallel zu diesen Aktivitäten liefen die britischen Versuche weiter, Einfluß auf die amerikanische Politik zu nehmen. Stewart Menzies, Leiter des britischen Geheimdiensts MI6 und intern mit dem geheimnisumwitterten Alias „C“ bezeichnet, war von Churchill in die Vereinigten Staaten geschickt worden. Sein Auftrag lautete, die USA zur unbegrenzten Unterstützung der englischen Politik zu motivieren, am besten zum Kriegseintritt. Über verschiedene Etappen, von denen unter anderem die Balkanreisen von Roosevelts Sonderbeauftragtem William Donovans noch zur Sprache kommen werden, kamen die beiden Parteien soweit zueinander, bis Übereinkünfte militärischer Art getroffen werden konnten. Am 27. März 1941 fanden die englisch-amerikanischen Generalstabsgespräche ihren Abschluß mit der Übereinkunft über einen Grundkriegsplan. Es war just der Tag der Putsches in Belgrad, mit dem die Kriegsausweitung auf den Balkan besiegelt wurde, an dem der bereits 1939 andiskutierte Plan „Rainbow 5“ zur gemeinsamen alliierten Strategie wurde.156 Er enthielt im Grunde wenig neues, denn nach seinen Grundsätzen wurde der Krieg bereits seit eineinhalb Jahren von Seiten der Alliierten geführt. Jetzt sollte die bestehende Blockade des europäischen Kontinents effektiver gestaltet werden, eine stärkere Luftoffensive gegen Deutschland gestartet und zunächst Italien ausgeschaltet werden. Dann konnte der militärische Angriff auf die deutschen Streitkräfte selbst erfolgen. Da der Generalstab keine politischen Spekulationen einfügte, wurde die Sowjetunion in diesem Rahmen nicht als Partner, aber auch nicht als Gegner in Erwägung gezogen.157 Solange der Konflikt mit England nicht erfolgreich beendet sei, könnten durch einen 155 Vgl. Stettinius, Leih-Pacht, S. 52 und Cave Brown, Hero, S. 151. Nach Cave Brown war es schließlich ein Mitarbeiter aus Donovans Kanzlei, James R. Withrow, der auf den juristischen Zug verfiel, alte Dekrete aus den Kriegen der USA mit nordafrikanischen Piratenstaaten in den Jahren 1804 bis 1815 seien noch in Kraft und gäben Roosevelt das Recht zum Transfer der Zerstörer. 156 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 92 bzw. S. 407. 157 Was insofern, anders als Andreas Hillgruber schreibt, auch nicht besonders bemerkenswert ist. Natürlich spielte die UdSSR in den Kalkulationen Churchills und Roosevelts eine Rolle. Es war jedoch die Aufgabe des Militärs, einen Plan für die beschlossene gemeinsame Kriegsführung der beiden angelsächsischen Mächte zu entwickeln, ohne politisch zu spekulieren. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 408.
6. Die alliierte Strategie der Kriegsausweitung auf dem Balkan
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Konflikt auf dem Balkan schwierige Probleme entstehen. Es könnte vielleicht sogar soweit kommen, daß England und Rußland unter dem Eindruck dieser Ereignisse eine Gemeinsamkeit ihrer Interessen entdeckten,158 hatte Hitler im Sommer gegenüber Italiens Außenminister prophezeit. Die Balkanaffären brachten eine Klärung der russischen Einstellung. 6. Die alliierte Strategie der Kriegsausweitung auf dem Balkan „Diese ganzen Balkanstaaten sind Müll.“ Alexander Cadogan, Permanent Undersecretary for Foreign Affairs159 „Der Premierminister kam erst heute von Chequers zurück und empfing Colonel Donovan, der gerade vom Balkan zurückgekehrt ist. Die Bühne dort ist vorbereitet, und der Vorhang kann sich jederzeit heben.“ John Colville160
Die Niederlagen und Fehlkalkulationen der Westmächte waren zahlreich gewesen im ersten Kriegsjahr. Nicht nur, daß der Vertragsbruch gegenüber der Republik Polen nicht den erwünschten Effekt hervorgebracht hatte und die von ihren englischen und französischen Vertragspartnern im Stich gelassene Republik schneller als erwartet unterlegen war. Auch die Pläne, den finnisch-russischen Winterkrieg als Vorwand auszunutzen, um in Skandinavien einzumarschieren, die Hand auf die dortigen, für Deutschland existentiell wichtigen Eisenerz- und Nickelvorräte zu legen und „den Krieg nach Skandinavien umzulenken“,161 waren zu spät ausgeführt worden. Dann folgte noch die spektakuläre französische Niederlage, da auch die alliierten Pläne, den Landkrieg gegen Deutschland ins neutrale Belgien zu verlegen, eine unerwartete Nebenwirkung zeigten und den Weg zu einer einzigen umfassenden deutschen Militäraktion ebneten, dem bekannten „Sichelschnitt“ in den Rücken der alliierten Truppen, mit dem der Westfeldzug entschieden wurde. Von allen Regionen, in denen laut Planung der alliierten Regierungen für sie günstige deutsche militärische Verwicklungen vorgesehen waren, blieb in Europa nur noch der Balkan übrig. In den letzten Tagen der Niederlage Frankreichs wurden bekanntlich auf einem Pariser Vorortbahnhof jene Akten des französischen Außenministeri158
Hitler zu Graf Ciano, zit. n. ADAP, D, X, Dok. 129, 8. Juli 1940. Zit. n. Hehn, Decade, S. 288. 160 Gemeint ist William J. Donovan („Wild Bill“). Im 1. Weltkrieg mit der „Medal of Honour“ ausgezeichnet, wurde er später Rechtsanwalt und Gründer des amerikanischen Geheimdiensts, begründete die OSS und war einer der Gründerväter der CIA. Hier zit. n. Colville, Tagebücher, S. 255, 4. März 1941. 161 Zit. n. Cadogan, Diaries, S. 239, 22. Dezember 1939. 159
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III. Kriegsperspektiven
ums gefunden, die später vom Auswärtigen Amt veröffentlicht wurden und Beweise für die langfristig geplante Strategie der Kriegsausweitung auf dem Balkan lieferten. Bereits während des Norwegenfeldzugs hatte man in norwegischen Regierungsakten Hinweise sichergestellt, die britische Absichten in Richtung Balkan nahelegten.162 Nun war ausführlich zu lesen, daß die französische Regierung bereits kurz nach Kriegsausbruch einen Gutachter zur Erkundung nach Rumänien geschickt hatte, wie die rumänischen Ölfelder zu zerstören seien.163 Der Botschafter in Bukarest hatte ersatzweise eine Sperrung der Donau ins Gespräch gebracht,164 und der Oberbefehlshaber Gamelin schwelgte im März 1940 bereits in der Aussicht auf eine Balkanfront Churchillschen Zuschnitts, in der sich 100 Divisionen aus Jugoslawien, Rumänien, Griechenland und der Türkei für den alliierten Kriegseinsatz einspannen lassen würden. Was dabei mit den rumänischen Ölfeldern geschehen würde, „verteidigen oder zerstören“, war nur insofern wichtig, als sie auf keinen Fall mehr für Deutschland arbeiten dürften.165 Wenn es deutsche Befürchtungen über eine geplante Eskalation des Krieges auf den Balkan gab, dann waren sie nur zu gerechtfertigt. Churchill meldete Roosevelt diese Pläne am 27. Oktober 1940: „Wir arbeiten daran, eine sehr große Armee im Mittleren Osten aufzustellen und die Truppenbewegungen aus allen Teilen des Empire und besonders des Mutterlands waren umfangreich. Die Kampagne, die sich hier im neuen Jahr entwickeln wird und die wohl die Türkei und Griechenland involvieren wird, stellt Anforderungen an unsere Transportkapazitäten und die Munitionsproduktion, die enorm sind, und es übersteigt unsere eigenen Möglichkeiten, eine Unterstützung zusammen zu bringen, die den Sieg garantieren kann.“166 162 Vgl. AA, Kriegsausweitung, Martinsen an Colban am 2. Februar 1940. Bericht des Pressemitarbeiters der norwegischen Botschaft Martinsen vom 2. Februar 1940 über ein Hintergrundgespräch mit Winston Churchill, der demnach das rumänische Öl mit dem schwedischen Erz verglichen hatte, dessen Transport er stoppen wollte, indem die skandinavischen Länder in den Krieg hineingezogen würden. Churchill stellte allerdings fest, es sei „sehr schwierig“, das rumänische Öl „aufzuhalten“. In der Tat sollte dies trotz der gelungenen Entfesselung eines Balkankriegs letzten Endes nicht gelingen. 163 Léon Wenger traf am 16. September 1936 zu diesem Zweck in Bukarest ein. Vgl. AA, Geheimakten, Dok. 9, S. 30 ff. 164 Dies vor allem mit der Begründung, es seien dann auch Getreidelieferungen nach Deutschland betroffen. Vgl. AA, Geheimakten, Dok. 8, S. 29, 28. September 1939. 165 Vgl. AA, Geheimakten, Dok. 23, S. 51, 10. März 1940. Vor diesem Hintergrund war es nur natürlich, wenn ein Jahr später ebenfalls ein Angriff auf Rumänien geplant wurde, obwohl die militärischen Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen waren. Vgl. Cadogan, Diaries, S. 351, 23. Januar 1941. 166 Zit. n. Kimball, Correspondence, I, S. 79. Der Aufmarsch jedenfalls war in Deutschland nicht unbemerkt geblieben, die Engländer seien in Ägypten inzwischen „erheblich verstärkt“, notierte Generalstabschef Halder am 25. Oktober und rechnete
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Dies war eine Mischung aus Bittbrief und der Versicherung: „Ihr Geld ist gut angelegt“. Winston Churchill stellte diese Kriegsausweitung auf eine neutrale Region nach 1948 als sein eigenes Werk dar, eine Operation, für die er den Ruhm beanspruchte: „Man sagt, es sei falsch gewesen, 1940 nach Griechenland hineinzugehen. Aber das habe ich natürlich nicht einfach nur getan, um die Griechen zu retten. Natürlich, Ehre und all diese Dinge spielten eine Rolle. Aber ich wollte eine Balkanfront schaffen. Ich wollte Jugoslawien und ich hoffte auf die Türkei. Zusammen mit Griechenland hätte uns das fünfzig Divisionen gegeben, also für die Deutschen eine ganz schöne Nuß, die sie knacken mußten.“167
Als es gar nicht mehr anders ging, wurde diese „Nuß“ zwar von den deutschen Truppen mit weniger Mühe als von Churchill erhofft geknackt. Die Türkei griff nicht ins Geschehen ein und britische Landstreitkräfte griffen nicht in großem Stil ein, so daß Churchill sie im nachhinein nicht erwähnte. Andere sollten nach diesen Plänen das Opfer bringen und sich den Deutschen mit „fünfzig Divisionen“ entgegenstellen. Sie taten dies jedoch gar nicht, wie die Türkei, notgedrungen, wie das von Italien angegriffene und von England endgültig in den Krieg gegen Deutschland hineingezogene Griechenland oder nur formal, wie Jugoslawien, dessen Armee in weiten Teilen widerstandslos auseinanderfiel. Übrig blieben jedoch eine in Brand gesteckte Region, eine zähe Auseinandersetzung der Achsenmächte mit irregulären Verbänden und ein jugoslawischer Bürgerkrieg. Grund zur Zufriedenheit bestand auf englischer Seite im Nachhinein allenfalls wegen der angeblich erreichten Verzögerung des deutschen Angriffs auf Rußland.168 Völkerrechtliche Bedenken, eine ganze Kette neutraler Länder in eine militärische Auseinandersetzung mit Deutschland zu treiben, störten Churchill offenbar wenig. Sein Botschafter in Washington gab in einer Rede vom 25. April 1941 ohne weiteres zu, daß die englische Politik den Balkankrieg bewußt angezettelt und ihre griechischen Verbündeten wie Bauern auf dem Schachbrett geopfert hatte, nur um Deutschland in Schwierigkeiten zu bringen, das in dieser Region keinen Krieg gewollt habe: „Im Fall Griechenland waren wir uns sehr wohl bewußt, den tapferen Griechen keine Kräfte als Hilfe zur Verfügung stellen zu können, die mit der Stärke vermit „200.000 Mann“, wofür eine deutsche Panzerdivision denn doch nicht genüge. Vgl. Halder, KTB, II, S. 150 f., 25./26. Oktober 1940. 167 Zit. n. Hehn, Decade, S. 375. Churchill stand mit diesen Hoffnungen nicht allein. Die Haltung der Türkei blieb 1940 so undurchsichtig, daß die militärischen Planungen der Wehrmacht die Möglichkeit eines türkischen Angriffs auf deutsche Truppen in Bulgarien mit einbezogen. Vgl. Schramm, OKW, I, S. 224, 11. Dezember 1940. 168 Vgl. ebd. Hehn, Decade, S. 375. Ein nicht ganz unumstrittenes Thema. Spitzy spricht von einer Verschiebung vom 21. Mai auf den 21. Juni. Vgl. Spitzy, Bekenntnisse, S. 422.
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III. Kriegsperspektiven
gleichbar sein würde, die von den Deutschen gegen uns eingesetzt werden würde. Aber dieser Krieg wird noch lange andauern . . . und daher gab es vernünftige militärische Gründe für unsere Intervention. Wir wußten, daß Hitler bemüht war, Kämpfe auf dem Balkan zu vermeiden, um den stetigen Strom an Gütern aus diesen Ländern nicht zu unterbrechen, die so wichtig für ihn sind. Die Tatsache, daß ein Feind eine bestimmte Aktion vermeiden will, ist allgemein ein guter Grund dafür, ihn zu dieser Aktion zu zwingen.“169
Trotz aller Erfolge habe Hitler Einbußen an Mensch und Material hinnehmen müssen, die in Deutschland Eindruck hinterlassen würden, fuhr er fort. Diese Form der Selbstzufriedenheit prägte die Nachkriegsauseinandersetzung mit den Balkanaffären 1940/41. Auch hier gab es nach 1945 eine kuriose Umkehrung von Ursache und Wirkung, in der nun plötzlich der Eindruck erweckt wurde, es handelte sich hier um eine deutsche Agression gegen die Balkanstaaten. Dennoch war es bereits zuvor offensichtlich, daß die Alliierten auf diese Art der Eskalation hinzielten, um Deutschland damit entscheidend zu schwächen, denn: „Die Gewährleistung einer laufenden Ölversorgung Deutschlands aus Rumänien ist nur dann gegeben, wenn Rumänien aus jeder kriegerischen Verwicklung herausgehalten wird.“170
So meldete sich der deutsche Gesandte für Balkanangelegenheiten und spätere Botschafter in Preßburg, Manfred von Killinger, am 14. April 1940 aus Bukarest. Das sei auch den Engländern bewußt, die intensiv am Sturz der rumänischen Verhältnisse arbeiten würden: „Unsere Erfolge im Norden (d.h. die Besetzung Dänemarks und Norwegens vor der dort geplanten alliierten Invasion, d. Verf.) werden hier größtenteils verdunkelt durch die Angst vor Rußland. Daß diese mit allen nur erdenklichen Mitteln von den in Rumänien angesetzten englischen und französischen Kräften des Geheimdienstes planmäßig geschürt wird, steht fest. Der Aufmarsch russischer und rumänischer Truppen in Bessarabien gibt ihnen dazu eine willkommene Handhabe.“171
Zunächst scheiterten die Pläne der alliierten Fünften Kolonne an der französischen Niederlage im Mai und Juni 1940 und an der politischen Einflußnahme aus Deutschland auf die rumänische Regierung in der folgenden Zeit. Tatsächlich konnte die rumänische Regierung dazu bewogen werden, etwa zwei Monate später die Besetzung Bessarabiens durch sowjetische 169 Halifax am 25. April vor der Atlanta Bar Association in Atlanta, Georgia, hier zit. n. ADAP, D, XII/2, Dok. 419, S. 638. Hitler griff dies in seiner Rede vom 4. Mai 1941 prompt auf: „Es ist richtig, wenn Minister Halifax heute erklärt, daß es nicht die deutsche Absicht gewesen war, auf dem Balkan einen Krieg herbeizuführen.“ Zit. n. Domarus, Reden, II, S. 1701. 170 Vgl. Killinger an AA, zit. n. ADAP, D, IX, Dok. 116, S. 135, 14. April 1940. 171 Ebd. Killinger an AA, zit. n. ADAP, D, IX, Dok. 116, S. 135, 14. April 1940.
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Truppen widerstandslos zuzulassen und im August des gleichen Jahres noch einmal ein Gebiet von etlichen Tausend Quadratkilometern an Ungarn abzutreten. Als Gegenleistung erhielt Rumänien jene deutsche Garantie seines territorialen Restbestands, die in der sowjetischen Führung in Moskau für soviel Aufregung sorgen sollte. Generell waren diese balkanischen Affären jedoch der Ausdruck des vorübergehenden Zusammenbruchs der alliierten Positionen auf dem Balkan. In dem dadurch dort entstandenen Machtvakuum brachen naturgemäß alle alten Konflikte wieder auf, da sämtliche 1919 und danach durch alliierte Zwangsmaßnahmen entstandenen Regelungen naturgemäß in Frage gestellt wurden, als dieser Zwang entfallen war.172 Da man nach 1919 noch nicht flächendeckend Gebrauch von der ethnischen Säuberung zur Schaffung politischer Tatsachen gemacht hatte, wie es während des Krieges und nach 1945 der Fall werden sollte, beruhte der balkanische Status quo der Jahre 1939/40 auf Verträgen, die sich nicht an ethnischen Gegebenheiten orientierten. Und diese Regelungen der Nachkriegszeit berührten buchstäblich jeden Balkanstaat, manche davon sogar in ihrer Substanz. Jugoslawien etwa war in seiner damaligen Gestalt ohnehin eine Erfindung der Alliierten gewesen und litt bereits an jenen inneren Widersprüchen, die das Land in den Jahren nach 1941 zum erstenmal in eine Mischung aus Krieg und Bürgerkrieg stürzen sollten, bevor der zweite Zusammenbruch einer alliierten Nachkriegsordnung im Jahr 1989 diese Fronten wieder aufleben ließ und den Staat endgültig zum Auseinanderbrechen brachten. Das hatte auch für andere Staaten wie die Tschechoslowakei gegolten, die als weiteres Kunstprodukt alliierter Machtpolitik ebenfalls 1940 bereits zum erstenmal Geschichte geworden war. Aber selbst weniger substantiell betroffene Länder wie Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Griechenland hatten Differenzen zu begleichen, die in dieser Form sämtlich auf alliierte Beschlüsse zurückgingen, da Ungarn und Bulgarien als deutsche Verbündete für den verlorenen ersten Weltkrieg in Form von Land zahlen mußten, während Griechenland und Rumänien 1919 zu den Profiteuren zählten. Dies alles stand jetzt im Sommer 1940 auf einmal und zu gleicher Zeit mit der Niederlage Frankreichs und dem Rückzug Englands vom Kontinent wieder in Frage. Auf dem Balkan war ein Machtvakuum entstanden, und es drohte entweder ein regionaler Krieg, wie er bereits 1912/13 zum kompletten Rückzug der bis dahin jahrhundertelang als regionale und imperiale Ordnungsmacht fungierenden Türkei stattgefunden hatte, oder es drohte ein Eingriff von außen, durch irgendeine Macht, die sich hier zutraute, das Vakuum zu füllen. Der Balkan geriet folgerichtig ins Visier der Kriegsparteien. Prinzipiell kamen dabei drei Konkurrenten in 172 Zu den Revisionsansprüchen der Staaten im einzelnen, vgl. Olshausen, Zwischenspiel, S. 64 f.
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III. Kriegsperspektiven
Frage.173 Zum einen Italien, da Mussolini seit längerem den Balkan als eine Art bevorzugt italienischen Einflußgebiets betrachtete und im Frühjahrs des Vorjahres 1939 bereits Albanien okkupiert hatte. In einer zeitgemäß programmatisch gehaltenen und daher mit geostrategischen Notwendigkeiten ausgestatteten Analyse hatte er diese Ansicht eineinhalb Jahrzehnte früher einmal öffentlich bekundet. Italien kann sich „nur in einer östlichen Richtung bewegen, denn wir kommen um die Tatsache nicht herum, daß im Westen Nationalstaaten von endgültiger From bestehen, in die wir nichts als unsere Arbeit senden können, und selbst dieser Export kann jeden Tag verhindert oder beschränkt werden. Deshalb weisen alle Linien der friedlichen Expansion Italiens nach dem Osten.“174 Dabei knüpfte er allerdings an eine vorfaschistische Tradition an, denn bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte Italien bei seinem Drang nach Osten aus der Konkursmasse des Osmanischen Reichs eine Inselgruppe in der Ägäis erworben, den Dodekanes mit der Hauptinsel Rhodos. Dazu gesellte sich später ein nie realisierter Kolonialanspruch in Kleinasien, denn in ihrem Bestreben, einen Bündnispartner Italien in dem Krieg gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn zur Verfügung zu haben, hatten die Westmächte ein bedeutendes Stück Land an der gegenüberliegenden türkischen Küste per Geheimabkommen vor dem Kriegseintritt großzügig an Italien verkauft.175 Wenn diese Teilungsabsichten der Alliierten nach 1919 auch an dem aufkommenden aggressiven türkischen Nationalismus und der eigenen Kriegsmüdigkeit scheiterten, gab Mussolini diese Ziel dennoch nicht auf. Zeitgleich strebte die UdSSR in der Nachfolge zaristischer Großmachtpolitik auf die Dardanellen zu, appellierte vor allem in Bulgarien und Jugoslawien an gemeinsame kulturelle und panslawistische Traditionen, bot Ungarn und Bulgarien Teile Rumäniens und Griechenlands an und erhob selbst konkrete Ansprüche gegen Rumänien. Zuletzt mußte im Sommer 1940 natürlich England beachtet werden, das mit Griechenland und der Türkei noch Bündnisverträge besaß und Rumänien gegenüber eine ebensolche Garantie wie gegenüber Polen abgegeben hatte. Nach einer Phase der Reorganisation würde die englische Regierung zweifellos die Gelegenheit wahr173 Dies muß im Auge behalten werden etwa im Gegensatz zu Andreas Hillgrubers Interpretation, der die deutsche Balkanpolitik als Anwort auf die russischen Expansionsversuche deutet und somit das Spannungsfeld in diesem Raum auf zwei Parteien reduziert. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 232. 174 Vgl. Gathorne-Hardy, Politik, S. 185. 175 Dieses Londoner Abkommen von April 1915 gehörte zu den Abmachungen, die von der englischen Regierung gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Wilson geheimgehalten wurden und zu den Gründen, warum Franklin Roosevelt während des Zweiten Weltkriegs auf englischen Garantien bestand, solche Abkommen gebe es dieses Mal nicht. Vgl. Gathorne-Hardy, Politik, S. 138.
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nehmen, die lang geplanten Versuche wieder aufzunehmen, die Balkanstaaten in den Krieg hineinzuziehen, wobei es den englischen Strategen hier wie in Polen relativ gleichgültig war, wie dieser Krieg militärisch verlaufen würde, so lange er nur Deutschland schwächte. Womit wir bei derjenigen Großmacht wären, die auf dem Balkan keinerlei Interessen hatte außer dem einen, daß dort alles beim alten blieb. Völlig der Bismarckschen Devise verpflichtet, daß „der ganze Balkan nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ sei, hatte Hitler im deutsch-sowjetischen Geheimabkommen von 1939 das politische Desinteresse an der Region erklärt. Genaugenommen war Außenminister Ribbentrop sogar mit der Genehmigung nach Moskau gereist, notfalls alle Staaten bis hin zu Bulgarien politisch gesehen der sowjetischen Einflußspähre zuzurechnen und nur auf wirtschaftlichen Interessen Deutschlands zu bestehen.176 Das schien insofern nichts zu kosten, als diese Länder zu dieser Zeit im Genuß einer englisch-französischen Garantie und unter dem Einfluß der westalliierten Politik standen, so daß dieses Zugeständnis eigentlich bestens geeignet zu sein schien, etwa einen Konflikt der UdSSR mit den Westmächten zu fördern. Für die von Berlin in Aussicht genommene Konferenz unter Einschluß der UdSSR, auf der die Westmächte aus dem östlichen Mitteleuropa hinausgedrängt werden sollten, schien dies eine sinnvolle Präjudizierung zu sein. Deutsche Interessen waren eben nur so weit betroffen, als es wirtschaftliche waren. Zur Konferenz der Mächte kam es im August und September 1939 so wenig wie zur Ausdehnung der sowjetischen Interessensphäre auf den Balkan. Die Region blieb während der deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Moskau ein weitgehend ausgeklammertes Thema. Ribbentrop brachte den Nichtangriffspakt wieder mit nach Berlin, ohne daß der UdSSR dort irgendwelche Rechte zugesagt worden wären. Nun hatte sich aber später zur Überraschung der deutschen Führung herausgestellt, daß man in Moskau das Zugeständnis einer Einflußzone mit dem Recht zu deren völliger Sowjetisierung gleichsetzte, wozu sich noch die Liquidierung aller bisherigen Handelsabkommen und Besitzrechte gesellte und damit die in Berlin angedachte Trennung von Wirtschaft und Politik unmöglich geworden war.177 Es war einmal mehr die UdSSR, die den Stein ins Rollen brachte, als sie im Juni 1940 weite Teile von Rumänien besetzte. Am 8. Februar 1940 hatte der ungarische Botschafter in Berlin es schon deutlich ausgesprochen. Un176 Vgl. ADAP, D, X, Dok. 10, S. 10, 24. Juni 1940. Notiz Ribbentrop für Hitler. Ribbentrop beruft sich auf eine schriftliche Anweisung, die aber nicht ermittelt wurde. 177 Das deutsch-finnische Abkommen über die Lieferung von Nickel kündigte Molotov bereits bei den Berliner Verhandlungen.
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III. Kriegsperspektiven
garn würde zwar nicht zuerst zur Tat schreiten, aber es würde keine Veränderung des Statutes quo ohne Ungarn geben: „Ungarn (werde) Ruhe halten, solange nicht Bulgarien oder Rußland ihrerseits ihre territorialen Wünsche gegenüber Rumänien durchsetzten;“178
Er habe nicht den Eindruck, daß ein aktives Vorgehen der Sowjetunion gegen Rumänien bevorstehen würde, konnte sein Gesprächspartner Woermann damals noch beruhigend antworten. Dies war seit Juni 1940 vorbei. Damit wurde eine Entwicklung forciert, die u. a. Ungarn auf den Plan rief und zum Wiener Schiedsspruch führen sollte, die aber eine dauerhafte Ausweitung der Schwierigkeiten auf dem Balkan bewirken und einen deutschrussischen Konflikt über Rumänien herbeiführen konnte. Hier waren lebenswichtige deutsche Interessen unmittelbar berührt. Damit der Krieg noch in diesem Jahr 1940 beendet werden konnte, durfte dort weder eine lokale Auseinandersetzung unter den Staaten der Region entstehen, noch auf andere Art der Vormarsch der aktuellen und potentiellen Gegner Deutschlands gefördert werden. Die Tagebuchaufzeichnungen von Joseph Goebbels geben diese Haltung wieder: „Wir hoffen, einen zweiten Kriegswinter vermeiden zu können, bereiten uns aber darauf vor. Vor allem läßt der Führer eine Riesenbenzinreserve (sic) anlegen. Besser ist besser. Wegen der Ölfrage will er auch Ruhe auf dem Balkan. Er hat deshalb in Wien sehr drücken lassen. Die Ungarn bekommen zwar sehr viel, die Rumänen nehmen unter Protest an. Aber sie tuen es am Ende doch. Dafür aber garantieren wir und Italien ihre Grenzen. Auch gegen Rußland. Da wird Moskau ja bald der Appetit vergehen. Mit uns werden sie sich nicht anlegen wollen: Denn wir sind keine Engländer und auch keine Finnen.“179
Jede Art von Konflikt in diesem Raum würde eine Erleichterung für die englische Situation bedeuten. Darüber war sich etwa ein nüchterner Mann wie der frühere englische Außenminister und jetzige Botschafter in Spanien, Samuel Hoare schon Monate vor diesen Ereignissen im klaren. Wenn es gelingen würde, eine der Kontinentalmächte zu einem Schritt auf den Balkan zu provozieren, wäre das gut für die englische Strategie.180 Es war gleichgültig, welche und in welcher Kombination: „Wenn die Initiative von den Russen kommt – mit oder ohne den Beistand der Deutschen ist gleichgültig – können sie vollkommen sicher sein, daß die Deutschen die Russen nicht allein in diesem für sie lebenswichtigen Lebensraum ope178 Aufzeichnung Woermann, vgl. PA-AA, Botschaft Moskau, Geheimakten betr. Polit. Beziehungen der Sowjetunion zu den Balkanpakt-Staaten, Bd. 2, S. 208349– 208350. Vgl. Debski, Stosunki, S. 332. 179 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. S. 298, 31. August 1940. 180 Umgekehrt war es und blieb es das oberste Ziel der deutschen Diplomatie, einen Balkankonflikt „um jeden Preis zu vermeiden.“ Vgl. Ciano, Tagebücher, S. 267, 26. August 1940.
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rieren lassen. Da wir entschiedenermaßen im Fall einer deutschen Attacke mit oder ohne russischen Beistand dort nicht desinteressiert und inaktiv sein können, bin ich überzeugt, es ist um so besser, je eher wir begreifen, daß dies auch für einen Angriff von Rußland gilt, mit oder ohne deutsche Unterstützung.“181
William Donovan meldete dem Präsidenten am 19. Januar die Entschlossenheit der Briten zu einem solchen Balkanengagement nach Washington: „Die britische Strategie . . . hat immer darauf gesetzt, eine östliche Front zu schaffen, wenn möglich, um den Feind im Blockadekreis stärker einzuschnüren und zu erschöpfen. Konsequenterweise kam General Wavell direkt nach dem Rauswurf der Italiener aus Ägypten nach Athen, nicht nur, um mit den Griechen über die Unterstützung ihrer Armee zu sprechen, sondern um ihren Beistand bei der sofortigen Vorbereitung Salonikis für eine Aktion gegen Deutschland zu sichern, offensiv oder defensiv, je nachdem wie die Situation es erfordern würde. Zur selben Zeit arbeitete eine englische Militärdelegation in der Türkei daran, das Land zum unverzüglichen Kriegseintritt auf englischer Seite zu bewegen.“182
Wenn Deutschland also nicht schnell militärisch auf dem Balkan auftrat, um offensiv zu werden, beabsichtigten die Briten dort selbst zum Angriff überzugehen, unterstützt von Griechenland und möglicherweise auch der Türkei. Außenminister Eden vereinbarte am 22. Februar mit Griechenlands Generalstabschef Papagos die Unterstützung einer solchen Operation durch griechische Truppen.183 Um dieses Szenario für Griechenland abzuwenden, hielt sich Admiral Canaris kurz vor Donovan in Athen auf und bot der griechischen Regierung eine Garantie der Vorkriegsgrenzen an, angeblich gar eine Annexion der eroberten Teile Albaniens.184 Jedoch kam die deutsche Aktion rechtzeitig. Am 2. März überschritten die deutschen Armeen die Donau. Botschafter von Schulenburg erhielt die Mission, dieses Ereignis mit aller möglichen Schonung Herrn Molotov bekanntzugeben. Er bemühte sich, ihn zu überzeugen, daß Deutschland auf dem Balkan keinerlei politische Ziele habe, sondern „rein militärische Ziele“ verfolge. Molotov zuckte die Achseln und erwiderte nichts. Er kannte besser als irgend jemand den Wert solcher Versicherungen, denn er selbst hatte ja den baltischen Staaten versprochen, bei ihnen nur „rein militärische Ziele“ zu verfolgen.185
181 Vgl. PRO FO 371/24968, S. 64–66, 19. März 1940, Hoare an Nicolson, hier zit. n. Debski, Stosunki, S. 333. 182 Lincoln Mac Veagh übermittelte diese Analyse Donovans an das Weiße Haus. Zit. n. Dunlop, Donovan, S. 248. 183 Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 210, Nachricht von Churchill an Eden vom 6. März, die sich auf dieses Abkommen bezieht. 184 Vgl. Dunlop, Donovan, S. 248 f. bzw. Creveld, Strategy, S. 88. 185 Zit. n. Gafencu, Vorspiel, S. 184.
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III. Kriegsperspektiven
a) „Wild Bill“ im Südosten Im Frühjahr 1940 hatte Franklin D. Roosevelt mit Sumner Welles den einflußreichsten Mann nach Europa geschickt, den er für eine Mission dieser Art schicken konnte. Welles tourte durch die europäischen Hauptstädte, erkundigte sich nach den Ansichten und Zielen der Regierungen, stellte zugleich den amerikanischen Standpunkt vor und kam zum Schluß zu dem Ergebnis, eine Friedensinitiative Roosevelts sei nicht aussichtslos, wenn sie vor dem Ausbruch des heißen Krieges käme. Diese Initiative kam, blieb aber bald stecken. Als Roosevelt in der Tat versuchte, als ersten Ansatz den Westmächten eine Erklärung über die Bewahrung der deutschen Einheit zu entlocken, lehnten diese ab.186 Der Ausbruch des heißen Kriegs in Westeuropa und das amerikanische Wahlhalbjahr der zweiten Hälfte 1940 hatten die politische Landschaft verändert. Die alliierte Strategie, den Krieg von Stellvertretern wie Polen austragen zu lassen oder auf günstige Nebenschauplätze wie Skandinavien zu tragen, hatte keinen Erfolg gebracht. Deutschland hatte jeden Gegner auf dem europäischen Festland geschlagen. Das englische Militär war dabei selbst in Frankreich nur in geringer Zahl aufgetreten und vorwiegend durch den spektakulären Rückzug aus Dünkirchen aufgefallen, bis sein Überfall auf die eben noch verbündete französische Flotte das negative Bild abrundete. Die politischen Folgen für die englische Handlungsfähigkeit waren immens. Einen Kompromißfrieden, bei dem Deutschland mehr oder weniger auf die Grenzen von 1939 beschränkt geblieben wäre, hätte man in Washington wohl noch akzeptiert, auch wenn die dortigen Gegner des nationalsozialistischen Regimes nur in dessen Sturz eine wirkliche Lösung sehen konnten. Ein Kompromiß war mit jedem Tag schwerer zu erreichen, an dem Deutschland die Kontrolle über den Großteil Kontinentaleuropas ausübte. Im Gegenteil war das englische Prestige enorm angeschlagen und die militärische und politische Stärke des Empires unter dem Blickwinkel der jüngsten Ereignisse trotz des vorläufigen Sieges in der Luftschlacht um England immer noch höchst zweifelhaft. Ein literarisch veranlagter Premier wie Churchill, der Roosevelt stetig mit blumig ausgemalten Informationen über englische Raffinessen im aktuellen Kleinkrieg zu Wasser und in der Luft versorgte, konnte dies nicht verbergen. Das galt um so mehr, als auch er immer dringender nach militärischer Unterstützung verlangte. Unter diesen Umständen schickte Roosevelt im Winter 1940 nicht erneut einen bekannten Politiker nach Europa, sondern einen Agenten, den wir bereits kennengelernt haben. Die Wahl fiel auf William Donovan, einen Mann mit Zukunft, der 1941 Gründer des neuen Geheimdienstes OSS187 186
Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 419 ff.
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und bald darauf auch „Vater“ der CIA wurde. Er traf am 16. Dezember 1940 in Europa ein.188 Für die Entwicklung der Zusammenhänge auf dem Balkan wurde seine Reise beispiellos wichtig. Entsprechend wurde er als einflußreiches Schwergewicht lebhaft begrüßt.189 Alexander Cadogan stellte ihn seinem Außenminister folgendermaßen vor: „Menzies hat mich unterrichtet daß Mr. Stephenson,190 der mit Donovan gereist ist, den Eindruck gewonnen hat, Donovan habe eine Menge Einfluß in der Administration. Er soll Mr. Knox in der Tasche haben und mehr Gehör bei Roosevelt finden als Colonel House damals bei Wilson. Mr. Stephenson glaubt, wenn der Premier ihm offen entgegentritt, wird Donovan sehr stark dazu beitragen, daß wir alles erhalten, was wir von den USA wünschen.“191
Was England dringend von den USA brauchte, war neben materieller Hilfe vor allem politische Unterstützung, wenigstens „überall dort, wo sich Großbritannien durch eine unglückliche politische Taktik in der Vergangenheit mehr oder weniger selbst ausgeschaltet hatte.“192 Über die selbstverschuldeten Probleme hinaus war dies allerdings eine unvermeidliche Folge der seit dem Frühjahr 1939 verfolgten englischen Politik, andere Länder ins Feuer zu schicken ohne sich selbst nachhaltig zu engagieren. Das hatte sich herumgesprochen und dämpfte die Neigung weiterer Staaten, sich in dieser Weise benutzen zu lassen, wie Donovan später selbst erfahren sollte. Vor diesem Hintergrund nahm sich Churchill zwei Tage Zeit für seinen amerikanischen Gast. Um ihn zu beeindrucken, ließ er sogar am Tag vor Donovans Ankunft mit der Bombardierung des deutschen Binnenhafens Mannheim und dessen Industrieanlagen beginnen und dies während des Aufenthalts seines amerikanischen Gastes drei Nächte weiterführen.193 Was in dieser Zeit besprochen wurde, gehörte in jene Kategorie von Gesprächen, die man nicht aufzeichnet. Donovan machte sich keine Notizen, gab aber Otto C. Doering einen Überblick dessen, was Churchill gesagt hatte. Danach hatte der Premier offen zugegeben, daß sich Schwierigkeiten, wie sie im Ersten Weltkrieg aufgetreten waren, nicht wiederholen dürften. Gemeint waren die hohen Verluste der englischen Bodentruppen, die in Frankreich 187
Office of Strategic Services. Vgl. Cave Brown, Hero, S. 130, bzw. S. 211 ff. Anträge der Verteidigung im Nürnberger Prozeß, Donovan als Zeuge zu vernehmen, wurden abgelehnt. Vgl. IMT, Bd. 15, S. 625. 189 Tatsächlich hätte Donovan auch Minister werden können, lehnte ein entsprechendes Angebot Roosevelts im Sommer 1940 aber ab. Vgl. Cave Brown, Hero, S. 148. 190 Gemeint sind: Stewart Menzies, engl. Spionagechef, William Samuel Stephenson (Intrepid) und Frank Knox (Secretary of the Navy). 191 Donovan Collection, hier zit. n. Cave Brown, Hero, S. 152. 192 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 315. 193 Vgl. Cave Brown, Hero, S. 152. 188
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III. Kriegsperspektiven
gekämpft hatten. Statt dessen trat Churchill vor einen Globus und zeigte seinem Gast, wie er sich die Alternative vorstellte. Deutschland war doch von Osten oder dem Balkan her wesentlich verwundbarer als durch einen Frontalangriff in Westeuropa. Damit traf er bei Donovan auf Verständnis, der den Ersten Weltkrieg in Frankreich selbst als Frontsoldat erlebt hatte. Besonders gefiel ihm Churchills Idee, diese Angriffe von innen wie von außen vorzutragen. Rebellion in den besetzten Ländern und überraschende Koalitionen gegen Deutschland: Europa in Brand stecken („to set Europe alight“), so faßte Churchill seine Absichten einmal mehr kurz und präzise zusammen.194 Sollte Donovan dies noch nicht gekannt haben, erfuhr er es jetzt aus erster Hand. Nach solchen Ausführungen konnte man daran gehen, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Donovan war nicht nur nach Europa gekommen, um Zeuge Churchillscher Beredsamkeit zu werden. Er wollte und sollte sich außerdem ein eigenes Bild über die Fähigkeiten Englands machen, dazu möglichst auch selbst in Aktion treten. Das würde sicher im eben besprochenen Sinn sein, aber Donovans Aufenthalt behielt immer auch etwas von den Prinzipien der Sumner-Welles-Reise bei. Donovan sprach wie Welles offenbar oft im Allgemeinen. Er brachte zum Ausdruck, daß nach dem Krieg in Europa amerikanische Prinzipien herrschen und die Nachkriegsregelungen in jedem Fall amerikanischen Vorstellungen folgen würden, womit er bei seinen Gesprächspartnern oft auf Unglauben und nicht selten auf Ablehnung stieß. Auf Churchills Frage erklärte er jedenfalls seine Absicht, sich über die Lage im Mittelmeerraum vor Ort zu informieren. Dies zugesagt, bereiste er in Begleitung von Churchills Vertrautem Colonel Vivian Dykes und Angehörigen des englischen Geheimdienstes die nächsten zwei Monate den gesamten Mittelmeerraum. Madrid, Lissabon,195 Gibraltar, Malta, Kairo, Bagdad, Athen, Belgrad und Sofia hießen einige der Stationen. Auch englische Posten in der Türkei wurden nicht vergessen.196 Selbst die grie194 Vgl. Cave Brown, Hero, S. 152 f. Diese Parole hatte Churchill bereits ein Jahr zuvor ausgegeben. Vgl. Dalton, Years, S. 366 f. bzw. Hoptner, Crisis, S. 242. 195 In Lissabon hielt sich Donovan insgesamt drei Mal auf, zuletzt am 17. März 1941, wobei er mit Diktator Salazar, Harriman, dem dortigen Abgesandten Roosevelts, besonders aber auch mit dem englischen Botschafter Hoare sprach. Vgl. ADAP, XII/1, Dok. 171, S. 247, Bericht des deutschen Gesandten in Lissabon vom 17. März 1941. Eine Woche zuvor war Donovan schon einmal in der Stadt gewesen und hatte Salazar für eine Stunde gesprochen. Angeblich versuchte Donovan sowohl die Azoren von Portugal wie auch die Kanaren von Spanien zu pachten und außerdem Kontrolleure in den Häfen der iberischen Halbinseln zu plazieren. Vgl. ADAP, XII/1, Dok. 171, S. 247 f. Salazar sagte später jedoch, Donovan hätte ihn nur schulmeisterlich ausgefragt, wie er sich die politische Zukunft im weiteren Sinn und „unter den verschiedensten Konstellationen“ vorstellen würde. Vgl. ADAP, XII/2, Dok. 374, S. 492.
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chischen Truppen in Albanien besuchte Donovan.197 Wo es nützlich schien, so besonders in den Balkanstaaten, trat als amerikanischer Regierungsrepräsentant der höchsten Ebene auf. In Sofia versuchte er allerdings vergeblich, die bulgarische Regierung auf die Seite der Alliierten zu ziehen. Leichter hatte er es in Athen, wo er am 10. Januar ankam, sorgfältig beobachtet von deutschen Nachrichtendiensten, die seine Ankunft nach Berlin weitergaben, wo die Nachricht Hitler erneut persönlich vorgelegt wurde.198 Da das Land sich bereits seit langem zum bewaffneten Widerstand gegen die italienischen Besetzungsversuche entschlossen hatte und der Krieg in Gang war, stellte Griechenland aus anglo-amerikanischer Sicht einen Idealfall dar. Die sicher bedeutendsten Konsequenzen hatte aber Donovans Aufenthalt in Belgrad vom 23. bis 25. Januar 1941. Donovan traf dort unter anderem den Prinzregenten Paul,199 um ihn zu politischem Widerstand gegen die Achse zu ermuntern und auch dort den englischen Plan einer Balkanfront zu unterstützen.200 Es sei die „erklärte Politik“ der amerikanischen Regierung, jedes Land zu unterstützen, das seine Unabhängigkeit von Deutschland bewahren wollte. Insbesondere drohte er Jugoslawien unangenehme Konsequenzen für die Zeit nach dem alliierten Sieg an, sollte das Land den Durchmarsch deutscher Truppen gestatten. Paul hatte jedoch die Absicht, seine Unabhängigkeit von allen Großmächten zu bewahren und zeigte sich nicht bereit, gegen die Achsenmächte militärisch oder politisch Stellung zu beziehen, die schließlich nichts gefordert hatten, was die Integrität Jugoslawiens in irgendeiner Weise beeinträchtigen konnte, nicht einmal Transferrechte für Truppentransporte. Dies sollte auch so bleiben, wie weiter unten deutlich werden wird. Von dieser Perspektive aus fand sich in der Belgrader Regierung offenbar niemand, der aktuell eine Frontstellung gegen Deutschland für gewinnbringend hielt. Das mußte jedoch nicht so bleiben, wie der Chef der kroatischen Bauernpartei und zugleich stellvertretende Ministerpräsident Vladko Macˇek, seinen amerikanischen Gast Donovan wissen ließ. Die richtige Gelegenheit für einen Angriff auf Deutschland werde noch kommen: 196 In Ankara agierte als deutscher Botschafter ein weiterer Bekannter Donovans, Franz v. Papen. Donovan hatte ihn im Jahr 1932 nach der Reichspräsidentenwahl aufgesucht, um die Aussichten Papens auszuloten, eine Machtergreifung Hitlers zu verhindern. Vgl. Dunlop, Donovan, S. 179. 197 Vgl. Langer/Gleason, Undeclared War, S. 399. 198 Vgl. Hewel-Papiere, Vorlagen, 10. Januar 1941. Zwei Tage vorher war aus Lissabon ein Bericht über die Arbeit Donovans eingetroffen, der Hitler ebenfalls vorgelegt wurde. Vgl. ebd., 9. Januar 1941. 199 Vgl. Hehn, Decade, S. 365, Gesprächsbericht laut Hehn in UGFOD, Heeren, Belgrade, January 30, 1941, No. 72. 200 Vgl. die Gesprächsschilderung bei Hoptner, der Donovan direkt unterstellt, er habe Jugoslawien zum Kriegseintritt aufgefordert. Vgl. Hoptner, Crisis, S. 205.
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III. Kriegsperspektiven
„Dr. Macˇek gab seiner Überzeugung Ausdruck, daß Jugoslawiens Teilnahme am Krieg auch um den Preis weiterer Zugeständnisse an Hitler bis zu einem Zeitpunkt zurückgestellt werden sollte, zu dem seine Intervention effektiver sein würde. Er glaube, ein russisch-deutscher Konflikt sei wahrscheinlich und erst wenn er begonnen hätte, würde Jugoslawiens militärischer Beitrag seinen vollen Wert für die alliierte Sache entfalten können.“201
Mit dieser Argumentation gab Macˇek, ohne es zu wissen, Hitler recht, der Jugoslawien als einen „falschen Neutralen“ eingestuft hatte, der eine stete Gefahr sei und den er durch einen Beitritt zum Dreimächtepakt zu wirklicher Neutralität verpflichten wollte. Am anderen Donauufer traf Donovan zudem auf noch mehr Verständnis. Im Hauptquartier der jugoslawischen Luftwaffe, dem „geheimen Zentrum der Opposition gegen den deutschen Einfluß auf dem Balkan und gegen die Trägheit der jugoslawischen Regierung“,202 traf er General Dušan Simovic´, den späteren Führer des Putsches gegen die Regierung. Donovan brachte ein Telegramm von Roosevelt persönlich mit, das zu nicht näher spezifizierten Aktionen aufrief, in jedem Fall aber dazu, sich nicht „überrennen“ zu lassen und sei es nur für einige Wochen.203 So stritt Donovan später ab, direkt militärische Hilfe der USA versprochen oder zum Putsch aufgerufen zu haben, aber selbst sein wohlwollender Biograph Cave Brown hat keinen Zweifel daran: „Donovan stritt immer ab, Simovic´ irgendwelche Zusicherungen gegeben zu haben; trotzdem konnten die Protagonisten dieser Ansicht Beweise vorlegen, die jeden vernünftigen Zweifel daran ausschließen, daß Donovan Feuer an die Lunte gelegt hat, die zu Simovic´s Staatsstreich führte – jenem Staatsstreich, der zu Hitlers Einmarsch in Jugoslawien und Griechenland und zur Verschiebung des Unternehmens Barbarossa führte.“204
Auch alle anderen Darstellungen der Vorgänge in Jugoslawien stimmen soweit überein, der antideutsche Putsch sei Monate vorher vorbereitet worden.205 Eine interne Untersuchung der Belgrader Regierung206 fand ebenfalls Indizien für eine Hauptrolle Donovans.207 Das Ziel einer politischen Aktivierung Jugoslawiens behielt die Rooseveltsche Außenpolitik während 201
Zit. n. Fotic, War, S. 42 f. So Winston Churchill, hier zit. n. Cave Brown, Hero, S. 156. 203 Telegramm Roosevelt an Donovan vom 20. Januar 1941, vgl. Cave Brown, Hero, S. 156, sowie Dunlop, Donovan, S. 256. 204 Zit. n. Cave Brown, Hero, S. 158. 205 Vgl. Olshausen, Zwischenspiel, S. 47. 206 Die Untersuchungsergebnisse wurden zensiert und nur teilweise nach Deutschland geschickt. Vgl. Wuescht, Jugoslawien, S. 311. 207 Nach Aussage von Prof. Mirko Kosic ´ hatte Simovic´ ihm gesagt, Donovan hätte im Namen Roosevelts die kompromißlose Vernichtung des „deutschen Nazismus auch um den Preis eines Krieges“ angekündigt und einen ständigen Kontakt zu Simovic´ aufgebaut, der über einen in Belgrad lebenden amerikanischen Staatsbürger 202
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des Frühjahrs auch auf anderen Wegen bei. So stellte der amerikanische Präsident der Regierung in Belgrad im Februar Unterstützung nach dem Pacht-Leihgesetz in Aussicht und verordnete Außenminister Hull einen symbolischen Besuch beim jugoslawischen Botschafter in Washington.208 „Friedensprobleme auf dem Balkan. Die Jugoslawen wollen noch nicht so recht,“ vermerkte man in der deutschen Führung an diesem Tag.209 Am 22. Februar übermittelte der Präsident dem jugoslawischen Staatsoberhaupt gar persönlich eine Botschaft: „Ich habe den Eindruck, jede Nation, die sich gegen Angriffe zur Wehr setzt, ob sie diplomatisch oder militärisch vorgetragen werden, wird sich auf der Welt großer und wirklicher Sympathie erfreuen können. Zum Beispiel stieg Abessiniens Ansehen durch seinen kurzen, wenn auch nicht erfolgreichen Widerstand; Abessinien wird wieder hergestellt werden. China, dem man einen Widerstand im modernen Sinn nicht zugetraut hatte, leistet nach vier Jahren immer noch Widerstand, hat die Sympathie der Welt und eine großartige Chance, irgendwann auf irgendeine Weise seine Unabhängigkeit wieder hergestellt zu sehen. Die griechische Unabhängigkeit wird am Ende triumphieren, trotz der überwältigenden Stärke der italienischen Luft- und Landstreitkräfte, die seine Sache zunächst hoffnungslos aussehen lassen. Norwegen hat für einige Monate eine tapfere bewaffnete Reaktion gezeigt und die Restauration der norwegischen Unabhängigkeit ist eine Sache, für die wir alle arbeiten werden.“210
Paul dürfte dies mit Kopfschütteln gelesen haben. Die „Sympathie der Welt“ hatte keinem der genannten Länder geholfen, ja der häufige, aber folgenlose Gebrauch des Wortes durch Franklin D. Roosevelt hatte sogar dazu geführt, daß es in der Sprache der betroffenen Länder teilweise eine ironische Nebenbedeutung angenommen hatte, so etwa im von der UdSSR überfallenen Finnland.211 Auch hier in Jugoslawien liefen die genannten Beispiele auf die Forderung an den Prinzregenten heraus, um den Preis von amerikanischer „Sympathie“ und ungedeckter Wechsel auf die Zukunft zunächst einmal den Untergang seines Landes in Kauf zu nehmen, wie dies in Abessinien, Norwegen212 und in anderen, von Roosevelt nicht genannten namens Djordje Radin gehalten wurde. Nikitovic´-Cvetkovic´: Dokumenti o Jugoslaviji, Heft 10, S. 2–18, vgl. Wuescht, Jugoslawien, S. 308 f. 208 Vgl. FRUS, 1941, II, S. 949. (n. Hehn). 209 Vgl. Hewel, Tagebuch, 14. Februar 1941. 210 Zit. n. Fotic, War, S. 50. 211 Trotz aller internationalen Sympathie war jede Hilfe für Finnland ausgeblieben, an man dort fest geglaubt hatte. „Im Endeffekt erhielt das Wort Sympathie dort einen ironischen Beigeschmack.“ Vgl. Jakobson, Diplomatie, S. 214. 212 Die Ursachen der deutschen Besetzung Norwegens und der alliierten Politik habe ich an anderer Stelle beschrieben. Der norwegische Botschafter Munthe de Morgenstierne hatte keinen Zweifel an den Verursachern: „Er sagte, die Alliierten hätten diesen Krieg ins Land getragen und sei nun an ihnen, herzukommen und Norwegen zu retten.“ Zit. n. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 409.
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Ländern der Fall gewesen war. Nicht jedes Land hatte die unerschöpfliche Substanz Chinas, um bis „irgendwann und irgendwie“ zu kämpfen, selbst wenn die Staatsführung dies gewollt hätte. Im letzten Satz von Cave Browns weiter oben zitierter Einschätzung spielt das Unternehmen Barbarossa eine Rolle, beziehungsweise dessen Verschiebung um militärisch wichtige Wochen. Demnach wäre der Balkankrieg des Jahres 1941 eine angelsächsische Geheimdienstintrige gewesen, um Barbarossa zu verzögern. Es ist in der Tat von etlichen angelsächsischen Autoren behauptet worden, das Unternehmen Barbarossa sei wegen der Balkanaffären verzögert worden. In einer Besprechung stellte auch der deutsche Wehrmachtsführungsstab eine wahrscheinliche Verzögerung von vier Wochen fest.213 Das Kriegstagebuch der Seekriegsleitung sprach von fünf Wochen.214 Hitler war ebenfalls dieser Meinung, als er im Frühjahr 1945 über die Gründe für die absehbare endgültige Niederlage sinnierte: „Die Frage lautet demnach nicht: ‚Warum schon am 22. Juni?‘ sondern ‚Warum nicht früher?‘ Ohne die von den Italienern mit ihrem idiotischen griechischen Feldzug verursachten Schwierigkeiten hätte ich die Russen in der Tat schon um einige Wochen früher angegriffen. Es ging darum, sie solange hinzuhalten, und es war meine ständige Sorge während dieser letzten Wochen, Stalin könnte mir zuvorkommen. Ein Trauerspiel für mich, daß wir vor dem 15. Mai nicht angreifen konnten – aber um im ersten Ansturm Rußland zu überrennen, durften wir auf keinen Fall länger warten. Stalin dagegen konnte jeden Tag den Krieg starten. Während des ganzen Winters und ganz besonders in den ersten Frühlingstagen 1941 hat der Gedanke mir den Schlaf geraubt, die Sowjets könnten mir zuvorkommen. Hatte doch das italienische Versagen in Albanien und in der Cyrenaika auf dem Balkan eine ganz neue Lage geschaffen und eine Meuterei entfacht. Bei Freund und Feind schien der Ruf der Unbesiegbarkeit unsere Waffen getrübt. Keine andere Ursache hatte schließlich auch der Abfall Jugoslawiens, durch den wir gezwungen waren, den Balkan in den Krieg einzubeziehen. Eine Lage, die ich um jeden Preis habe vermeiden wollen. Nachdem der Krieg einmal diese Richtung genommen hatte, lag es nahe, nun auch weiter zu marschieren. Nur ein Bruchteil der für die Rußlandoffensive bereitgestellten Verbände hätte genügt, den Vorderen Orient zu befreien. Sollten wir uns jedoch so weit von unseren Kraftzentren engagieren und damit die Sowjets geradezu einladen, über uns herzufallen? Sie hätten das unweigerlich noch im Laufe des Sommers, spätestens aber im Herbst getan und dann unter so ungünstigen Bedingungen für uns, daß jede Hoffnung auf unseren Sieg naiv war.“215
Gegen die Verschiebung Barbarossas als Erfolg einer lang geplanten westlichen Geheimdienstoperation spricht, daß die Weisung Barbarossa 213 214 215
Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 217, S. 308, Besprechung in Anwesenheit Hitlers. Vgl. IMT, III, S. 384, Dok. C-170. Zit. n. Bormann, Diktate, S. 113 ff.
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noch gar nicht gegeben war, als Donovan seine Reise antrat. Wohl gab es englisch-russische Kontakte und längst hatte Stalin gegenüber Stafford Cripps deutlich werden lassen, daß er langfristig eine Politik im englischen Sinn verfolgen würde. Die machtpolitischen Absichten, die sich auf dem Balkan vielfach kreuzten, ließen aus der englisch-amerikanischen Perspektive jedoch in einem Balkankrieg einen prinzipiellen Gewinn sehen. Der endgültige Entschluß Hitlers zum Angriff auf Jugoslawien wurde dann nicht zuletzt von dem jugoslawisch-russischen Vertrag beeinflußt, der erst nach dem jugoslawischen Putsch geschlossen wurde und durch die Rolle der UdSSR beim Putsch selbst, die man schon vorher erkannt hatte: „Starker russischer Einfluß beim Regierungswechsel,“ meldete der mit dem Aufbau der jugoslawischen Wirtschaft beauftragte Generalkonsul Neuhausen am 3. April dem Chef des Wirtschaftsrüstungsamts,216 noch vor Abschluß des jugoslawisch-russischen Pakts. Dies wurde zeitig gesehen, ebenso wie Hitler die Sabotagepläne der Westmächte in diesem Bereich bereits vor dem Fund der entsprechenden Dokumente vorausahnte: „Balkanfrage. Der Führer betrachtet die Balkan- bzw. Rumänienangelegenheit als Abwehr gegen die Russen (Bessarabien), evtl. Unternehmungen des Generals Weygand und die (sic) Engländer (Erdöl-Sabotage).“217
Die Bedeutung der Donovan-Reise ist dennoch außerordentlich hoch einzuschätzen. In ihrem Umfeld wurde deutlich, wer die Initiative zur Eskalation der Balkanaffären ergriffen hatte und in wessen Interesse dies lag. Winston Churchill war offenbar der Ansicht, dem erwünschten europäischen Feuersturm näher gekommen zu sein und äußerte seine Anerkennung für Donovan in warmen Worten: „Ich darf Ihnen für die prächtige Arbeit danken, die Donovan während seiner langen Tour durch den Balkan und den Mittleren Osten geleistet hat. Er führte stets eine warmherzige und belebende Flamme mit sich.“218
In der Tat hatte er allen Grund zur Zufriedenheit. Am 4. März hatte Donovan ihm in London Vollzug gemeldet: „Der Premierminister kam erst heute von Chequers zurück und empfing Colonel Donovan, der gerade vom Balkan zurückgekehrt ist. Die Bühne dort ist vorbereitet, und der Vorhang kann sich jederzeit heben.“219
Es ist schwer vorstellbar, daß die Alliierten unter diesen Vorzeichen die Stirn hatten, ausgerechnet den deutschen Außenminister wegen des Angriffs auf Jugoslawien als sogenanntes „Verbrechen gegen den Frieden“ anzukla216
Vgl. BA-MA RW 19/165, Bl. 4, 3. April 1941. Zit. n. BA-MA RW 19/164, Bl. 46, 26. April 1940, KTB Stabsabteilung, Protokoll Vortrag General Thomas bei Keitel. 218 Zit. n. Cave Brown, Hero, S. 155. 219 Zit. n. Colville, Tagebücher, S. 255. 217
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gen und zu verurteilen, doch so ist es geschehen.220 Churchill schrieb es sich dagegen in seinen Memoiren stolz auf die Fahnen, mit der Anzettelung des Balkankonflikts das „Unternehmen Barbarossa“ um entscheidende Wochen verzögert zu haben. Donovan kehrte nach Washington zurück, in die große Öffentlichkeit. Dies war nicht vollständig neu, denn obwohl er kein Regierungsamt hatte, fand seine Europatour zuvor doch immer wieder auch im Blitzlichtgewitter der Journalisten statt und spiegelte sich in den Schlagzeilen der europäischen Presse wider. Nun steigerte sich dies noch, denn zur langen Karriere, die Donovan jene Gestalt des legendären „Wild Bill“ werden ließ, gehörte auch die Präsenz in der nationalen Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten. Wie es in bezug auf den deutsch-sowjetischen Konflikt der Fall war, so wurde auch über die Balkanaffären zu dieser Zeit längst ausführlich berichtet. Für Deutschland könnte dort der negative Wendepunkt des Krieges liegen, eine entscheidende Niederlage würde möglicherweise stattfinden, berichtete „Time“ am 24. März. Das Blatt sprach von bis zu dreihunderttausend bereitstehenden englischen Soldaten, wovon die ersten bereits in Griechenland gelandet seien. Es erzählte von der kochenden Atmosphäre in Belgrad und davon, daß der Konflikt dort nur für Deutschland vernichtende Konsequenzen haben könnte, für England aber schlimmstenfalls eine Niederlage wie in Narvik oder Dünkirchen darstellen könnte, nach der andernorts der Krieg weitergeführt würde.221 Die Menschen in Belgrad seien „hysterisch vor Glück“, da die Regierung jetzt eine härtere Haltung gegen angebliche deutsche Forderungen gezeigt hätte. So bereitete „Time“ seine Leser auf den geplanten jugoslawischen Kurswechsel im alliierten Sinn vor und da mußte es natürlich ernüchternd wirken, wenn nur einen Tag nach Erscheinen eben diese jugoslawische Regierung dann zunächst doch dem Dreimächtepakt zu den tatsächlich ausgehandelten Bedingungen beitrat, die aus Jugoslawien einen neutralisierten Staat werden ließen. Vor diesem Hintergrund erhielt Donovan einen weiteren Tag später, am 26. März, die Gelegenheit, seinen Reisebericht in einer Ansprache an die Nation zu präsentieren, die von allen drei Networks übertragen wurde.222 Sie stellte ein Meisterwerk an Desinformation dar. Ganz im Gegenteil zu allem, was er auf dem Balkan gesagt und getan hatte, und zu dem, was er über die englische Strategie der Kriegsausweitung dort und in Europa wußte, erweckte er nun den Eindruck, es sei Deutschland, das kurz davor stehe, weitere Länder anzugreifen, nicht nur in Europa, sondern gleich welt220 Vgl. IMT, I, S. 46, Anklageschrift, bzw. IMT, XXII, S. 605. Urteilsbegründung gegen Ribbentrop. 221 Vgl. Time, 24. März 1941, S. 22 f. 222 Vgl. Dunlop, Donovan, S. 275.
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weit, in Afrika, in Asien, ja sogar Amerika selbst sei bedroht.223 Nichts davon entsprach der Realität. Bezeichnenderweise beschlossen einen Tag später die alliierten Generalstäbe eine gemeinsame Kriegsstrategie, in der sich nichts dergleichen fand. Das Publikum aber durfte um so mehr dazu geneigt sein, dies zu glauben, als – ebenfalls wieder einen Tag später – am 27. März der Putsch in Belgrad stattfand, den Donovan durch seine Reise mit bewirkt hatte.224 Die balkanische Krise mit weiteren kriegerischen Verwicklungen Deutschlands konnte ausbrechen, sie war nun auch öffentlich vorbereitet.225 Diese Vor- und Nachbereitung wurde fortgesetzt, wobei gelegentlich sehr offen die Motive für den amerikanischen Eingriff auf dem Balkan genannt wurden, während gleichzeitig ein Blatt wie „Time“ einräumte, Deutschland wolle dort, „an seinem Solarplexus“, nichts als Frieden. Die von Donovan genannten Gründe, warum die USA dennoch aktiv in diesen Krieg eingreifen sollten, waren denn auch andere. Ein deutscher Sieg in diesem Krieg würde demnach für die USA einen steigenden wirtschaftlichen Druck bedeuten, vielleicht sogar die Schaffung von Zonen wirtschaftlicher Dominanz um die USA herum. Demnach könnten die USA ihre Interessen nur vertreten, indem sie zielstrebig auf Deutschlands Niederlage hinarbeiten.226 Donovans Aktivitäten waren in Berlin wie gesagt nicht unbemerkt geblieben.227 Das war auch nicht zu erwarten gewesen, denn weite Teile seiner Reise hatten einen offiziösen Charakter, den er selbst betonte: „Donovan, gestern vom Außenminister empfangen, ließ bei Beginn der Unterhaltung, über deren Verlauf mich Minister verständigte, durchblicken, daß, obwohl er anderer Partei als Roosevelt angehöre, doch gewissermaßen in seinem Auftrag reise. Er erklärte, Amerika werde alles tun, damit England den Krieg nicht verliere. Außenminister erwiderte, danach scheine also Amerika den Krieg verlängern zu wollen, er würde sich eine andere Rolle vorstellen, die Amerika spielen könne. Donovan beharrte darauf, daß Amerika Englands Niederlage nicht zugeben könne.“228 223
Vgl. Dunlop, Donovan, S. 275. Dies wurde von Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit auch so gesehen. In einem Interview versicherte Donovan jedoch treuherzig, dies sei nicht wahr. Wohl um den Wahrheitsgehalt dieser Äußerung sichtbar zu machen, fügte er hinzu, er habe auch nicht das Ohr des Präsidenten. Das tat seine Wirkung: „Donovans Dementis, er sei nicht verantwortlich für Donovans Krieg, konnten viele Menschen nicht überzeugen.“ schließt sein Biograph. Vgl. Dunlop, Donovan, S. 277. 225 Auch weitere Schritte gegen Deutschland konnten nun öffentlich erfolgen. Am 30. März 1941 ließ die US-Regierung alle Schiffe der Achsenmächte und Dänemarks in amerikanischen Häfen beschlagnahmen. Ein illegaler Akt, gegen den Deutschland nicht protestierte. Vgl. Weizsäcker, Papiere, S. 565. 226 Vgl. Time, 31 März 1941, S. 20. 227 Vgl. Ribbentrop, Erinnerungen, S. 224. 224
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III. Kriegsperspektiven
Diese Botschaft versuchte Donovan denn auch dem bulgarischen Ministerpräsidenten und schließlich dem König selbst zu vermitteln, der sich aber zumindest dem deutschen Gesandten gegenüber im nachhinein wenig von seinem amerikanischen Gast beeindruckt zeigte: „Donovan habe keine Ahnung von den politischen Verhältnissen und der Geschichte des Balkans; das interessiere ihn anscheinend auch gar nicht. Er habe an ihn die Forderung gestellt, neutral zu bleiben, sich einem Durchmarschversuch Deutschlands mit den Waffen zu widersetzen und sich auf Englands und Amerikas Großzügigkeit zu verlassen. . . . Es gehe jetzt um die Existenz Bulgariens; stelle es sich auf die falsche Seite, so werde es vernichtet werden. Für ihn, den König, sei diese Herumsendung von Emmissären und das Gerede dieser Herren ein Zeichen für die Schwäche Amerikas. Wenn Amerika stark wäre, würde es handeln, aber nicht drohen.“229
Über solche politischen Erklärungen hinaus – und gefälschte Dokumente über geplante englisch-amerikanische Militärhilfen für Bulgarien230 – hatte Donovan allerdings zunächst nichts anzubieten, ein Mangel, der ihm offenbar selbst zum Bewußtsein gekommen war, denn nach eigener Aussage hatte er bereits nach seinem Aufenthalt in Athen an Roosevelt telegraphiert, direkte Hilfe nach Griechenland zu schicken.231 In dieser Form war dies in der Tat zu kaum etwas anderem geeignet, als den Krieg zu verlängern, aber das war ja auch im englischen Sinn. Daß amerikanische Drohungen durchaus ernst zu nehmen waren, wußte man in Berlin dagegen schon.232 Minister Ribbentrop tat sein möglichstes, gegenüber der jugoslawischen Regierung den Eindruck von Donovans Äußerungen abzuschwächen, der nach seiner Informationslage offenbar große Perspektiven aufgezeigt hatte, die sich nicht nur auf Europa bezogen: „Die amerikanische Flotte würde sich nicht über die Zone der Hawaiischen Inseln hinauswagen, was auch immer der Oberst Donovan mit echt amerikanischer Naivität auf seiner Reise durch die Balkanhauptstädte erzählt haben möge.“233 228 Bericht des deutschen Gesandten in Sofia, Herbert Frhr. v. Richthofen, über Donovans Unterredung mit Bulgariens Außenminister Ivan Popoff. Zit. n. ADAP, D, XI/2, Dok. 685, S. 965, 22. Januar 1941. 229 Zit. n. ADAP, D, XI/2, Dok. 713, S. 1000, 31. Januar 1941. 230 Donovan trug solche Dokumente bei sich, die letztlich zur Desinformation deutscher Stellen gedacht und in England hergestellt worden waren. Ob er sie in Bulgarien gegenüber dortigen Regierungsstellen verwendet hat, ist nicht sicher. Sicher ist jedoch, daß die Dokumente tatsächlich in deutsche Hände gerieten, für echt gehalten wurden und der englisch-amerikanische Plan insofern gelang. Vgl. Dunlop, Donovan, S. 249 ff. 231 Vgl. ADAP, D, XI/2, S. 965. 232 Wie groß die Furcht vor Donovan war, zeigt eine Episode: Angeblich geht es auf Druck der deutschen Regierung zurück, daß Donovan seine Reisepläne für Rumänien absagen mußte. Die rumänische Regierung ließ ihn nicht ins Land. Vgl. Vogel, Eingreifen, S. 426.
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Cvetkovic´ deutete an, das von Donovan gegebene amerikanische Versprechen, jedem zu helfen, „der sich der Achse widersetzen würde“, sei ihm nicht konkret genug gewesen. Allerdings überstand er als Regierungschef den gegenteiligen Entschluß nicht, dem Dreimächtepakt beizutreten. b) Putsch und Kriegsdrohung „Auch Moskau scheint in Belgrad die Hand im Spiel zu haben.“234
Wie groß auch immer der Einfluß der USA auf die Belgrader Putschisten gewesen sein mochte, sie schlossen nicht als erstes einen Freundschaftsvertrag mit den Vereinigten Staaten, sondern einen mit der Sowjetunion. Das mochte besondere Gründe haben, denn natürlich hatte sich auch die UdSSR am Spiel in Jugoslawien beteiligt. Nach dem Krieg trat der übergelaufene russische Generalstabsoffizier Ivan N. Krylov mit der Behauptung auf, die UdSSR hätte sich an den Planungen zum Staatsstreich nicht nur beteiligt, sondern ihn geradezu angeregt: „Shaposhnikov schlug dem jugoslawischen Militärattaché vor, zwischen dem sowjetischen und jugoslawischen Generalstab ständige Beziehungen herzustellen, um die jugoslawische Regierung zu stürzen, sobald es bekannt sein wird, daß sie dem Pakt beigetreten ist. Der jugoslawische Militärattaché nahm diesen Vorschlag mit Begeisterung auf.“235
Das stimmt mit anderen Schilderungen überein, nach denen der Beitritt abgewartet werden und dann sofort der Staatsstreich folgen sollte. Damit war die gegenwärtige jugoslawische Regierung kompromittiert, ohne den Vertragsabschluß und seine Bedingungen gegenüber der jugoslawischen Öffentlichkeit erst erläutern zu können. Mit dieser Zusammenarbeit der Generalstäbe jedenfalls hatten die Sowjets angedeutet, den Jugoslawen militärischen Beistand leisten zu wollen.236 Es standen dahinter bedeutende Pläne, auch in bezug auf Rumänien und Bulgarien. „Am Ende wird Deutschland den Krieg verlieren und statt der Engländer werden wir den Balkan besetzen.“237 In einer langen nächtlichen Besprechung, die bis sieben Uhr früh 233 So Ribbentrop im Gespräch mit dem jugoslawischen Ministerpräsidenten Cvetkovic´ in Fuschl. Zit. n. ADAP, D, XII/1, Dok. 47, S. 69, 15. Februar 1941. 234 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 208, 28. März 1941. 235 Vgl. Krylov, Officer, hier zit. n. Wuescht, Jugoslawien, S. 172. 236 Dies auch die Einschätzung des deutschen Botschafters in der Schweiz, der nach vorausgegangenen Gesprächen im dortigen diplomatischen Corps den Putsch auf „unverkennbaren sowjetischen Einfluß“ zurückführte und Parallelen zu den vorhergegangenen Aktivitäten der Sowjetunion in Bulgarien und der Türkei zog. Alle drei Länder hätten gegen Deutschland in Stellung gebracht werden sollen. AA/Büro St. S./Akten betr. Jugoslawien Bd. 2, vgl. Fabry, Beziehungen, S. 292. 237 Zit. n. Krylov, Officer, S. 58.
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am Morgen des 6. April 1941 dauerte, dem Tag des deutschen Angriffs auf Jugoslawien, bekräftigte Stalin persönlich gegenüber Gavrilovic´ diesen Eindruck. Das zentrale sowjetische Ziel sei eine Schwächung Deutschlands, so weit wie irgendwie möglich. Daher versprach Stalin jetzt Gavrilovic´ auch Waffenlieferungen und sonstige Unterstützung, die am Beginn der deutschen Offensive dann auch wirklich zunächst geliefert wurde. Mit dem sich schnell abzeichnenden Zusammenbruch Jugoslawiens änderte sich die sowjetische Taktik jedoch.238 Zuvor ging in Moskau nicht nur Botschafter Gavrilovic´, sondern auch der persönliche Abgesandte des Putschführers Simovic´ von einer massiven und nachhaltigen Unterstützung der jugoslawischen Armee durch die UdSSR aus. Major Sima Bozˇic´ meldete aus Moskau, die UdSSR wolle mit Jugoslawien ein Militärbündnis abschließen. Beide sahen sich getäuscht und mußten nach dem Staatsstreich zur Kenntnis nehmen, daß die sowjetische Führung keineswegs bereit war, einen solchen Pakt zu schließen. Statt eines „Vertrags für gegenseitige Hilfe“ bot die UdSSR jetzt einen Neutralitätsvertrag an, genaugenommen einen bloßen Freundschaftsvertrag.239 Dies war „schäbig“,240 wertlos und eine reine Provokation Deutschlands, wie Gavrilovic´ im nachhinein feststellte: „Die sowjetische Regierung versuchte die deutsche Aktion auf dem Balkan durch ihre Zusicherungen an die Türkei zu fördern, durch ihre Erklärungen gegenüber Ungarn und Bulgarien und durch die Unterzeichnung des Nichtangriffspakts mit Jugoslawien . . . Die sowjetischen Führer dachten, der jugoslawische Widerstand würde die Deutschen für drei Monate auf dem Balkan beschäftigen, was der UdSSR dann wieder ein weiteres Jahr für militärische Vorbereitungen geben würde, weil es für einen deutschen Angriff auf die UdSSR für dieses Jahr dann zu spät sein würde.“241
Warum Gavrilovic´ diesen Vertrag dennoch unterschrieben haben sollte, wenn er nur eine Katastrophe für sein eigenes Land bedeuten würde, wird aus dieser Einschätzung nicht deutlich. Wahrscheinlicher als diese eigene ex post Einstufung, ein bloßes Bauernopfer gewesen zu sein, ist doch, daß man auch in Belgrad, ebenso wie in Moskau und in London, von einer längeren Dauer des eigenen Widerstands ausging und davon, ein Eingreifen englischer Truppen, weitere Erfolge Griechenlands in Albanien, Hilfe aus 238
Vgl. Barros, Deception, S. 74. Den Stalin mit jenem denkwürdigen Auftritt besiegelte, bei dem er sich nach orthodoxer Art bekreuzigte, als wolle er den jugoslawischen Minister segnen: „Im Eck des Raumes erblickte ich Mikojan, der durch sein schallendes Gelächter bekannt war, wie er sein Gesicht in einem Taschentuch verbarg, als ob ihn ein heftiger Husten schüttelte.“ Vgl. Krylov, Officer, S. 73 bzw. Wuescht, Jugoslawien, S. 173. 240 So die Einschätzung von John Erickson. Vgl. Erickson, Road, S. 75. 241 Zit. n. Erickson, Road, S. 75. 239
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der Türkei und wie von Vyšinskij versprochen, besonders auch der UdSSR, würden auf dem Balkan einen Sieg über die Achsenmächte ermöglichen. Dann hätte Jugoslawien auf der richtigen Seite gestanden. Die Jugoslawen seien „gute Kämpfer“ versicherte Arkadij Sobolev dem amerikanischen Botschafter Steinhardt. Ein weiterer deutscher Blitzsieg sei unwahrscheinlich. Die Jugoslawen würden sich in den Bergen verteidigen, mutmaßte Stalin ebenso wie Churchill. Die Deutschen, so setzte der Kremlchef hinzu, würden „in Jugoslawien einen stärkeren Gegner finden als in Frankreich.“242 Churchills Sonderbotschafter Cripps versuchte die Sowjetführung vor diesem Hintergrund ganz offen zu einem Angriff auf die deutschen Truppen zu überreden. Es sei ratsam, schrieb er an Vyšinskij, „die sowjetischen Streitkräfte mit den noch ungeschlagenen Armeen Griechenlands, Jugoslawiens und der Türkei zu vereinen, zu denen geringfügige britische Unterstützung mit Personal und Waffen käme. Diese Armee wäre zusammen über drei Millionen Mann stark und könnte eine große Zahl deutscher Truppen in schwerem Gelände binden.“243
Wichtiger als derartige Schmeicheleien über die zahlenmäßige Stärke der Roten Armee dürfte für die Sowjets jedoch das unfreiwillige Eingeständnis gewesen sein, die Briten würden sich einmal mehr nur „mit geringfügiger Unterstützung“ an einem solchen Unternehmen beteiligen. Unter diesen Umständen gab es keinen Grund zur Eile, was ein Eingreifen der Roten Armee betraf. Da auch die Türkei keine Neigung zeigte, sich in dieser Sache für englische Kalkulationen in die Schlacht führen zu lassen, sah die jugoslawische Putschregierung sich von allen scheinbaren Verbündeten verlassen und mußte erkennen, manipuliert worden zu sein. Der schnelle Zusammenbruch des jugoslawischen Militärs konnte vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Die militärische Schwäche des jugoslawischen Regimes hatte auch politische Ursachen. Die neue jugoslawische Regierung stand zunächst vor einem Problem. Von Churchill immer wieder auf die italienische Schwachstelle Albanien aufmerksam gemacht, wo den italienischen Streitkräften mit einem Angriff in deren Rücken leicht eine vernichtende Niederlage beigebracht werden könnte,244 war es doch nicht zu vermitteln, Italien nun gleich 242
Vgl. Barros, Deception, S. 75. Cripps an Vyšinskij, 9. April 1941, hier zit. n. Gorodetsky, Täuschung, S. 220. 244 Hitler forderte Mussolini am Tag des Staatsstreichs daher dringend auf, „keine weiteren Operationen mehr in Albanien vorzunehmen“ und „mit allen Mitteln und in höchster Eile“ die Kräfte an der italienisch-jugoslawischen Grenze zu verstärken. Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 224, S. 327, Schreiben Hitler an Mussolini vom 27. März 1941. „Hitler sah so klar wie wir, wo die Jugoslawen einen tödlichen Streich führen könnten,“ notierte Churchill mit Blick auf diese Stelle. Vgl. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 201. Vgl. auch Meldung des OKW an Hitler vom 4. April 1941: „Griechen-Jugosl. auf Albanien“ in: Hewel, Vorlagen, S. 54. 243
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den Krieg zu erklären, nachdem man zwei Tage vorher noch einen Pakt mit diesem Land geschlossen hatte. Ursprünglich hatte man in diplomatischen Kreisen allgemein erwartet, es würden während der Beitrittsverhandlungen von Seiten der Achsenmächte Forderungen gestellt werden, die den Bestand Jugoslawiens in Frage stellen könnten oder doch wenigstens als Verletzung der jugoslawischen Ehre einen mehr oder weniger plausiblen Kriegsgrund abgeben würden. Dies alles war ausgeblieben. Entschlossen, den Frieden auf dem Balkan in jedem Fall zu erhalten, hatte Hitler in allen Punkten nachgegeben und schließlich nicht nur den Bestand Jugoslawiens garantiert und einen völlig inhaltsleeren Beistandspakt akzeptiert, der keinerlei militärische Forderungen vorsah, sondern auf jugoslawischen Wunsch als Zugabe noch einen Mittelmeerzugang in Saloniki offeriert.245 Es blieb für die Belgrader Regierung nichts mehr zu fordern und jeder Grund, die Unterzeichnung des Pakts noch länger herauszuzögern, entfiel. Vor diesem Hintergrund standen die britischen Vertrauensmänner, die im Rahmen des Churchillschen Programms, „Europa in Brand“ zu stecken, bereits seit dem Vorjahr in Belgrad tätig waren,246 vor keiner leichten Aufgabe. Dennoch, als die Unterzeichnung des Dreimächtepakts sich abzeichnete, gab Hugh Dalton, den in diesem Fall keine Gewissensbisse plagten, die Anweisung nach Belgrad, alle zur Verfügung gestellten Mittel für einen sofortigen Staatsstreich einzusetzen. Er vertraute auf die lange Vorbereitung und gab sich zuversichtlich,247 zu Recht, wie sich bald herausstellte. Es fehlte dem neuen Regime jedoch trotzdem jeder vorzeigbare Grund für den Staatsstreich, besonders aber jeder Vorwand für eine bewaffnete Aktion gegen die Achsenmächte. Ein solches Motiv mußte erst geschaffen werden. Zwei Tage nach dem Putsch drohte Simovic´ dem italienischen Gesandten in Belgrad mit einem Angriff auf Albanien: Als Begründung gab er an, Jugoslawien würde bei einem deutschen Eingreifen in Griechenland mit der eventuellen Besetzung Salonikis durch die Achsenmächte eine Einkreisung drohen, was nicht geduldet werden könne.248 Wenn Hitler daher feststellte, auf „Loyalitätserklärungen“ der neuen Belgrader Regierung „könne nichts gegeben werden“,249 ging dies insofern ins Leere, als aus Belgrad eher Kriegsdrohungen zu hören waren250 und das Bild durch das Gerücht 245 Ein Bericht über entsprechende jugoslawische Wünsche war Hitler bereits am 11. November 1940 vorgelegt worden. Vgl. IfZ ED 100/80, Hewel-Liste der Vorlagen vor dem Führer, Bl. 72. 246 Vgl. Hoptner, Crisis, S. 242. 247 Vgl. Dalton, Years, S. 373 ff. 248 Vgl. Wuescht, Jugoslawien, S. 168. 249 Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 217, S. 308, 27. März 1941. 250 „In drei Tagen bin ich mit meiner Nordarmee in Wien“, zitierte Goebbels in seinem Tagebuch einen ungenannten serbischen General und verglich die Situation
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über den Empfang des englischen Außenministers Eden in Belgrad abgerundet wurde.251 Da die Eroberung Salonikis als eine beinah zwangsläufige Folge jeder Art militärischen Erfolges der Achsenmächte in Griechenland angesehen werden mußte, stand Italien nach Simovic´s Erklärung nun vor der Wahl, entweder den Krieg gegen Griechenland allein und rein passiv fortführen zu müssen, ohne vor weiteren Drohungen aus Belgrad geschützt zu sein, oder einen Konflikt mit Jugoslawien in Kauf zu nehmen. Mussolini ließ am nächsten Tag die Italiener in Jugoslawien evakuieren,252 während der deutsche Gesandte sich in Belgrad ergebnislos um Aufklärung bemühte, wie verbindlich Simovic´s Drohungen nun gemeint waren. Sie waren zweifellos ernst gemeint. Jugoslawiens neuer starker Mann bereitete den Krieg vor, wollte es jedoch aus innenpolitischen Gründen so erscheinen lassen, als hätte Deutschland ihn verursacht.253 Was die deutsche Seite anging, so war eine solche Entwicklung von vornherein nicht als unmöglich angesehen worden. Bereits das Protokoll der zwischen dem deutschen und bulgarischen Generalstab besprochenen Fragen vom 8. Februar 1940 ging von der Möglichkeit nicht nur eines türkischen, sondern auch eines jugoslawischen Angriffs auf Bulgarien aus.254 Wo der deutschen Politik einmal mehr die Mittel gegen die Aktivitäten der aktuellen und potentiellen Kriegsgegner fehlten, war – zum beinah letzten Mal – die militärische Antwort erfolgreich vorbereitet. c) Gewißheiten Am 1. Juni 1941 bestieg William Donovan wieder einmal ein Flugzeug nach Europa. In London eingetroffen, fand er sich gemeinsam mit Bill Stephenson fünf Tage später mit endgültigen Tatsachen konfrontiert. Reginald Leeper, „Chief of British Political Intelligence“ verkündete in einer höchst geheimen Konferenz die bevorstehenden Ereignisse: mit dem polnischen Anspruch von 1939, „uns vor Berlin zu zerhacken“. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 222, 3. April 1941. 251 „Eden in Belgrad. Er will natürlich Krieg. Kann er haben. . . . Belgrad dementiert die Anwesenheit.“ Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 218 f., 2. April 1941. In der Tat hatte Eden vor, nach Belgrad zu reisen, wie er selbst schreibt. Am Ende blieb es angeblich bei einem Besuch des Generals Dill, der mit Simovic´ militärische Vorbesprechungen führte und weitere Kontakte Simvovic´s mit dem griechischen und englischen Befehlshaber der Region vereinbarte. Vgl. Maiskij, Memoiren, S. 622. Die Nachricht von Edens Eintreffen in Belgrad wurde auch Hitler übermittelt. Vgl. Hewel, Vorlagen, 1. April 1941. 252 Vgl. Wuescht, Jugoslawien, S. 168. 253 Vgl. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 211. 254 Vgl. BA-MA N 431/262, Bl. 61 ff., 8. Februar 1941.
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„Ich bin vom Premier autorisiert, Ihnen eine Geheiminformation zu übermitteln, die Mr. Churchill und den Stabschefs bereits einige Wochen bekannt ist. Er gestattet mir, Ihnen – und nur Ihnen – zu sagen, daß Hitler Rußland angreifen wird, damit wir unsere Pläne abstimmen können. Die Invasion wird für Mitte Juni erwartet. Das Datum wird Sonntag, der 22. sein, also zwei Wochen und zwei Tage von heute an gerechnet. Sie machen sich bitte keine Notizen und werden bis zu diesem Tag keine speziellen Maßnahmen ergreifen.“255
Der Geheimdienst lag mit seiner Einschätzung bekanntlich richtig. Bezeichnenderweise glaubte die Mehrheit der Teilnehmer an diesem Treffen nicht, daß der Angriff für die Sowjets überraschend kommen würde. Zu offensichtlich waren die Vorbereitungen der letzten Monate gewesen. Donovan jedenfalls kehrte unverzüglich in die USA zurück und meldete Roosevelt sowohl das Angriffsdatum wie auch die Tatsache, die Briten seien keineswegs bereit, ihre Informationen mit den Sowjets zu teilen.256 Nach dem bald darauf begonnenen deutschen Angriff auf Rußland schrumpften die politischen Spielräume der Beteiligten noch einmal deutlich zusammen. Was immer Winston Churchill über die Aussichtslosigkeit der deutschen Lage selbst im Fall des Sieges in Rußland gesagt haben sollte, so stand doch offensichtlich fest, daß ein dort einigermaßen schnell erzielter deutscher Sieg die Aussichten der beiden angelsächsischen Mächte für eine erfolgreiche Rückkehr auf den europäischen Kontinent in die Nähe von Null gedrückt hätte. Die Millionen deutscher Soldaten, die das Unternehmen Barbarossa in den nächsten drei Jahren tot oder verwundet zurückließ, hätten eine englisch-amerikanische Invasion jederzeit verhindern können.257 Im Gegenteil hätte ein Zusammenbruch der UdSSR die Realisierung der deutschen strategischen Optionen in Richtung Naher Osten und Nordwestafrika möglich werden lassen und die beiden angelsächsischen Mächte dort zweifellos in die Defensive gedrängt. Im Vorgriff darauf liebäugelten beide kurz nach Beginn von Barbarossa mit der Besetzung der vorgelagerten Inseln, der Azoren und der Kanaren. Nur der ausbleibende Erfolg der deutschen Offensive im Osten ließ Churchill und Roosevelt das Unternehmen absagen.258 Der zweite Weltkrieg wurde in Rußland entschieden, letztlich zu Ungunsten Deutschlands ebenso wie zum Schaden Rußlands, denn die Invasionen der Alliierten in Italien und Frankreich erreichten es um einen vergleichsweise geringen Preis, die industriellen Zentren der Welt 255
Zit. n. Dunlop, Donovan, S. 282. Vgl. Dunlop, Donovan, S. 282 bzw. S. 289. 257 Insgesamt starben an der Ostfront von Sommer 1941 bis Dezember 1944 2,743 Millionen deutsche Soldaten, im Schnitt 2180 pro Tag. Die Verluste in den Zusammenbruchskämpfen des Jahres 1945 erreichten dann pro Tag teilweise die mehrfache Höhe. Vgl. Overmans, Verluste, S. 279. 258 Vgl. Dallek, Roosevelt, S. 285. 256
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ebenso dem Zugriff der angelsächsischen Mächte zu sichern, wie es bei den Rohstoffzentren bereits der Fall war und im Fall Japans bald ergänzt werden sollte. Die Hauptkriegsziele der USA in Europa wurden von William Averell Harriman in einem Memorandum an Roosevelt und Churchill 1943 definiert: „(1) Die deutsche Vorherrschaft über Europas zu beseitigen und (2) in Zukunft zu verhindern, daß Europa von irgendeiner einzelnen Macht (wie etwa der Sowjetunion) beherrscht wird, oder von irgendeiner Gruppe von Mächten, innerhalb deren wir keinen starken Einfluß haben. Wenn wir nicht beide Ziele erreichen, können wir davon ausgehen, daß wir den Krieg verloren haben.“259
Beides wurde erreicht. Um die Sowjetunion eindämmen zu können, deutete das Memorandum auch bereits eine mögliche Beteiligung Deutschlands an einer antisowjetischen Gruppierung unter amerikanischer Führung an. Mit diesen Ansichten schien Harriman der Geeignete für das Amt des USBotschafters in Moskau zu sein, das er 1943 übernahm. Stalin mochte daher zur Zeit der Erstürmung Berlins empört ankündigen: „In fünfzehn oder zwanzig Jahren werden wir uns erholt haben und dann werden wir es noch einmal versuchen.“260 Damit gestand er sich in Wahrheit ein, für diesesmal gescheitert zu sein. Letztlich blieb es bei diesem einen Versuch. Stalins Tod verhinderte einen weiteren Anlauf, aber auch die katastrophale Bilanz seiner Herrschaft. Übrig blieben als Hinterlassenschaft eine Wüste aus verrottenden Schwerindustrien, mehrere Dutzend Millionen von Todesopfern und eine deprimierte Bevölkerung, der als einzig greifbarer Erfolg der angebliche Triumph im „Großen Vaterländischen Krieg“ präsentiert werden konnte.261 Von diesem Erfolg erholte die UdSSR sich nicht mehr: „Am Ende trugen sie den Sieg davon: Sie vernichteten sich selbst und das Volk“, wie ein zeitgenössischer Autor feststellte.262 Das große Spiel war Stalin außer Kontrolle geraten. Der deutsche Angriff kam zu schnell und zu präzise, 259 Memorandum von Harriman an Roosevelt und Churchill, 24. August 1943, hier zit. n. Greiner, Morgenthau, S. 153 f. Hervorhebung im Original. 260 Zit. n. Djilas, Stalin, S. 147. 261 Die jüngst von Bogdan Musial vorgetragene Theorie, erst „Stalins Beutezug“ in Osteuropa nach 1945 habe die UdSSR zur Weltmacht werden lassen, verkennt Ursache und Wirkung. Die UdSSR gewann den Krieg militärisch, weil sie bereits 1941 eine Weltmacht war, und wurde nicht erst zur Weltmacht, weil sie militärisch gewann. Allerdings verschafften die beschlagnahmten Güter und Machinen, sowie die auch in den USA gestohlene Atomtechnologie dem Sowjetsystem für gewisse Zeit einen machtpolitischen Aufschwung, dem es angesichts der horrenden Verluste aber an der Nachhaltigkeit fehlte. Vgl. Musial, Beutezug, passim. 262 Sowjetischer Schriftsteller über Josef Stalin und die Stalinisten, zit. n. Conquest, Stalin, S. 409. Erstaunlicherweise erleben der Stalinismus und Stalin persönlich trotz der von ihnen hinerlassenen Wüste und Leichenberge immer wieder eine Renaissance in der Einstufung ihrer angeblichen „Effektivität“, so zuletzt bei Geoffrey Roberts. Vgl. Roberts, Wars, S. XI.
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um noch Raum für sowjetische Eroberungspläne zu lassen, aber er war doch nicht ausreichend, um Deutschland vor dem Untergang zu retten. Als Nutznießer dieser Angelegenheit stellte sich die anglo-amerikanische Kriegsführung heraus. So weit war es im Jahr 1940/41 jedoch noch nicht. Einstweilen lebten die Vereinigten Staaten immer noch in ihrer traditionellen Form als demilitarisierter Inselstaat, in dem die allgemeine Wehrpflicht so unbekannt war wie die landesweite Existenz von kasernierten Einheiten. Die amerikanische Weltmacht stützte sich auf die Unangreifbarkeit des eigenen Territoriums und das wirtschaftliche Potential, geschützt allerdings durch eine konkurrenzfähige Flotte, die sich bereits in einem weiteren Ausbauprogramm befand, dessen Dimensionen jeder künftigen Herausforderung mehr als gewachsen war. Er halte nichts von Pakten. Die Hauptgarantie sei eine starke Flotte, so hatte der Präsident bereits im Juni 1937 gegenüber dem sowjetischen Botschafter den Vorschlag eines „Pazifik Pakts“ zugunsten eines Rüstungswettlaufs mit Japan zurückgewiesen.263 Der drohende „KasernenStaat“ als Synonym für die Folgen einer großen Heimatarmee galt in der amerikanischen Öffentlichkeit dagegen zu dieser Zeit geradezu als das Schlagwort und die jedermann einleuchtende Bezeichnung für das Gegenteil des Wünschenswerten. Roosevelt persönlich mochte es für nötig halten, zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer von ihm für gut befundenen internationalen Ordnung eine bewaffnete Landstreitmacht aufzustellen. Der amerikanischen Tradition entsprach es nicht. Schon gar nicht entsprach es der Überlieferung, diese Streitmacht in Übersee gegen einen gleichwertigen Konkurrenten in ein Gefecht zu führen, das, siegreich oder nicht, mit wenigstens zehntausenden Toten zu bezahlen sein würde, wahrscheinlich aber mit bedeutend mehr Opfern. Deutschland auf dem europäischen Kontinent anzugreifen, stand für die amerikanische Öffentlichkeit deshalb außerhalb der Diskussion. Dies galt auch für das Deutschland des Jahres 1940. Selbst wenn es gelingen sollte, diese Stimmung in den Vereinigten Staaten kurzfristig zu überbrücken, war ein Rückschlag im Fall hoher militärischer Verluste der USA garantiert. Ausgeschlossen schien es jedoch, ein in Rußland siegreich gebliebenes deutsches Heer anzugreifen. Daraus zog Roosevelt im Jahr 1941 sehr verschiedene Schlüsse. Nach dem 22. Juni 1941 tat er alles, um die amerikanische Öffentlichkeit möglichst schnell gegen Deutschland aufzubringen, darunter griff er auch zu glatten Lügen über deutsche Angriffsabsichten auf Brasilien264 und Angriffe deutscher U-Boote auf amerikanische Schiffe. Gleichzeitig sagte er der UdSSR schnell konkrete Hilfe zu, denn eine Niederlage Stalins würde die Machtverhältnisse in Europa ebenso tatsächlich 263
Vgl. Slavinsky, Pact, S. 15.
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umgekehrt haben, wie sein Erfolg bei der Abwehr „Barbarossas“ den Sieg der Westalliierten zu einem annehmbaren Preis an Menschenverlusten praktisch sicherstellte.265 Den Krieg führten jetzt andere. Als letzten Baustein sorgte Roosevelt allerdings noch dafür, daß auch das britische Empire seinen Preis zu zahlen haben würde. Winston Churchill zeigte sich stolz, die USA in den Krieg „hineingezogen“ zu haben und dies de facto mit der Atlantik-Charta bestätigt zu bekommen. Roosevelt trat aber nicht aus Folge einer englischen Manipulation in den Krieg ein und auch nicht mit unverbindlichen Absichten. Dieser amerikanische Präsident gab nichts, ohne die Folgen genau zu kennen, auch die Atlantik-Charta nicht. Selbst während sich die Dinge auf dem Balkan zuspitzten, hatte Roosevelt stets die Perspektiven im Blick und ließ Halifax wissen, man müsse nach dem Krieg einen ökonomischen Rahmen schaffen, in dem die südamerikanischen Staaten ebenso wie, bei „gutem Benehmen“, auch Deutschland eine ökonomische Perspektive geboten werden könnte. Daran sollte bald und öffentlich gearbeitet werden, wovon sich Roosevelt einen Umschwung der Stimmung in Deutschland versprach. Gleichzeitig sicherte er Großbritannien Halifax gegenüber die Rolle eines Juniorpartners zu. Mit Hilfe von Seemacht und Luftstreitkräften werde man gemeinsam Ordnung in der Welt schaffen. Da gab Halifax zwar die Eigeninteressen des britischen Empire zu bedenken. An Roosevelts Zielen änderte das nichts, dort kamen englische Eigeninteressen so wenig vor wie die Sowjetunion, die an dieser Stelle ganz beiseite gelassen wurde.266 Bevor Roosevelt im August 1941 dieses Papier unterschreiben wollte, verlangte er von Churchill eine eindeutige Stellungnahme, daß von britischer Seite „bisher keine Nachkriegsversprechen über Gebiete, Bevölkerungen oder ökonomische Fragen gegeben wurden.“267 Besonders die baltischen Länder und Finnland hatten es der US-Regierung dabei angetan. Anders als der englische Premier, der entgegen allen Aussagen gegenüber Washington diese Länder der Sowjetunion durch seinen Sonderbotschafter Cripps durchaus längst angeboten hatte und seinen neuen Außenminister Eden dies auch bald noch einmal wiederholen lassen sollte, hatte sich Roosevelt nicht mit 264 Dies beruhte aber zum Teil auch auf Desinformationen englischer Geheimdienste, die Roosevelt hier mit gefälschtem Material belieferten, das er gern gebrauchte. Vgl. Persico, War, S. 127. 265 Einen Monat nach Beginn von Barbarossa schickte Roosevelt seinen Mitarbeiter Harry Hopkins nach Moskau, zusammen mit einer persönlichen Botschaft an Stalin, wo er „alles nur mögliche“ an Lieferungen zusagte. Vgl. Dallek, Roosevelt, S. 280. 266 Vgl. Dokumente, I/1, S. 308, Treffen Roosevelt-Halifax am 6. April 1941. 267 Kimball, Correspondence, I, S. 222, u. FRUS 1941 I, S. 342. hier zit. n. Kettenacker, Deutschlandplanung, S. 108.
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der Präsenz der UdSSR im Baltikum abgefunden. Die Unabhängigkeit der baltischen Republiken blieb ein dauerhaftes Ziel amerikanischer Politik, das im weiteren Verlauf des Weltkriegs mit zum Teil abenteuerlich erscheinenden Kombinationen verfolgt wurde. Als sich nach Stalingrad abzeichnete, daß die Wehrmacht keinen Sieg mehr über die UdSSR erreichen würde, konnte man in Deutschland registrieren, wie sich die amerikanische Regierung das weitere Vorgehen ausmalte: „In Stockholm sitzt als Sonderbeauftragter Roosevelts Bruns Hopper, der in ständiger Fühlung mit den früheren Gesandten der baltischen Länder in Stockholm steht. Er hat ihnen folgendes erklärt: Amerika wird den baltischen Staaten ihre Freiheit zurückgeben. Es wird zunächst Truppen in Finnland landen, wo die Amerikaner viel lieber gesehen werden als die Russen; von Finnland aus wird es über den finnischen Meerbusen hinaus ins Baltikum marschieren und verhindern, daß die Russen diese Länder wieder besetzen.“268
Mit solchen Versuchen, im Osten Mitteleuropas Fuß zu fassen, waren die USA einstweilen weniger erfolgreich als mit der klaren, schriftlichen Festlegung der englischen Regierung, in diesem Krieg keine geheimen Abkommen auf Kosten Dritter zu schließen. Neben dieser Forderung standen zentrale wirtschaftliche Fragen auf der amerikanischen Wunschliste, ganz besonders der Verzicht Englands auf das Zollabkommen von Ottawa, mit dem sein Architekt, der damalige Finanzminister und spätere Vorkriegspremier Neville Chamberlain 1932 so viele Hoffnungen verbunden hatte. Nicht weniger als eine neue Form der Einheit des britischen Empire sollte damals nach seinen Vorstellungen erreicht werden. Hier wurde im Jahr 1941 durch die Note der amerikanischen Regierung wieder einmal an den substantiellen britisch-amerikanischen Konflikt über die wünschenswerte Weltordnung erinnert, der von der Weltwirtschaftskrise ausgelöst worden war und bis in die Zeit vor Hitlers Machtergreifung zurückreichte. Gezielt wollte man in Washington die derzeitigen europäischen Verwicklungen nutzen, um diese Sache für sich zu entscheiden. Das Ende von „Ottawa“ sei, so Sumner Welles, der „Kern der Sache und die Verkörperung des Ideals, welches das State Department in den letzten neun Jahren angestrebt habe.“269 Mit den Sonderwirtschaftszonen der europäischen und ostasiatischen Konkurrenz sollte es demnach ein Ende haben. Dazu zählte neben den devisenfreien Handelspraktiken des nationalsozialistischen Wirtschaftsraums eben auch 268 Zit. n. BA-MA RW 4/325, 17. Mai 1943, ohne Paginierung. Bericht OKW Wehrmacht-Propaganda Fremde Staaten: Finnland. Zum Zweck einer Landung in Finnland hatte die US-Regierung zwei Wochen vorher versucht, das Land zu einem Sonderfrieden zu veranlassen. Allerdings ging die finnische Regierung nicht darauf ein und meldete dies nach Berlin, was nicht unbemerkt blieb und die Amerikaner „aufs stärkste verschnupfte“. Ebd. BA-MA RW 4/325, 3. Mai 1943. 269 Zit. n. Churchill, Weltkrieg, III/2, S. 74.
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die Zolleinheit des Empire. Als Churchill zögerte, hakte Sumner Welles solange nach, bis die gewünschte Erklärung drei Wochen später gegeben war und stellte gleich klar, daß dies auch für die Zukunft in einem umfassenden Sinn zu gelten hatte: „Die englische Regierung wird ohne Wissen und Zustimmung der Vereinigten Staaten keine Geheimabkommen mit irgendeinem seiner Alliierten treffen.“270
Erst nach dieser Verzichtserklärung der englischen Außenpolitik, mit der sich die englische Regierung eines ihrer wichtigsten Mittel beraubte, war der Weg zur Atlantik-Charta vom 14. August 1941 frei. Von den Zwängen und Einsichten dieses Sommers 1941 war die Londoner Regierung ursprünglich weit entfernt gewesen. Erst die Niederlagen in Norwegen, Frankreich und auf dem Balkan, das dabei verlorene Material und der inzwischen unmittelbar bevorstehende finanzielle Ruin hatten daran etwas geändert. Vor dem 22. Juni 1941 allerdings lagen die Dinge keineswegs so klar. Noch war nicht absehbar, wie sich die Dinge auf dem europäischen Kontinent weiter entwickeln würden. Trotz aller Versuche der amerikanischen Diplomatie, eine engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Rußland zu verhindern, konnte diese Entwicklung immer noch nicht als völlig ausgeschlossen gelten, erst die Gier der Stalinschen Anweisungen an Molotov gab in den Berliner Verhandlungen von 1940 einen wesentlichen Schub in diese Richtung. Roosevelt lag bald darauf die danach erlassene Weisung Barbarossa vor. Ob Hitler dieses Stichwort je auslösen würde, ließ sich daraus nicht zwingend schließen. Die Aktivitäten William Donovans hatten sich keineswegs zufriedenstellend entwickelt. Statt zu einer Balkanfront aus Jugoslawien, Griechenland, England und vielleicht gar der UdSSR und zu einer Schwächung Deutschlands, kam es zum Zusammenbruch des Krieges in dieser Region, kaum daß die Staaten dazu aufgestachelt worden waren. Das schuf Verwicklungen und Verzögerungen, die sich im nachhinein als wichtig oder entscheidend darstellen ließen, eine makellose Bilanz konnte man es nicht nennen.
270
Vgl. FRUS 1941, I, S. 351.
IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik „Unsere Beziehungen zu Deutschland, . . ., bleiben in vollem Umfang so erhalten, wie dies durch das sowjetisch-deutsche Abkommen festgelegt ist.“1 Vjacˇeslav Molotov
Es gehört zu den Standards der internationalen Politik, vor allem in Zeiten des Krieges, sich nicht unnötig zu exponieren, sondern die Dinge treiben zu lassen und sie still zu fördern, bis ihre Zeit gekommen ist. Zu den Standards der sowjetischen Außenpolitik zählte jedoch nicht nur die in diesem Sinn öffentlich erklärte Absicht Josef Stalins, keinesfalls für andere die Kastanien aus dem Feuer holen zu wollen, sondern auch, die eigene Außenpolitik mit einem geheimnisvollen Schleier zu umgeben, der nicht zuletzt aus zahlreichen Schuldzuweisungen an andere Länder bestand. Die sowjetische Staatsführung hatte seit Kriegsausbruch zunächst immer wieder erklärt, die Westmächte seien verantwortlich für diesen Konflikt. Im Lauf des Jahres 1940 verstärkten sich dann sowjetische Schuldzuweisungen an die deutsche Adresse. Nur wenige Monate nach der oben zitierten Äußerung erklärte Molotov schließlich das von ihm am 1. August 1940 noch bestätigte Abkommen mit Deutschland gegenüber Hitler für überholt und erschöpft.2 Damit standen die russisch-deutschen Beziehungen vor einem Umbruch, der ein Neuanfang oder ein Abbruch werden konnte. Da die nächste Etappe der sowjetischen Expansionspolitik begonnen hatte, wie es in Äußerungen Molotovs immer wieder einmal angekündigt worden war, wurde daraus letzeres. Die weltrevolutionäre Rhetorik sollte in politische Praxis umgesetzt werden. Während in bezug auf die Hitlersche Außenpolitik zum Beweis von expansiven Absichten regelmäßig auf die Schlüsseldokumente des Nürnberger Urteils verwiesen wird, die allesamt unautorisierte Mitschriften und Gedächtnisprotokolle zum Teil länger zurückliegender Äußerungen sind und in denen zu allem Überfluß an keiner Stelle von Rußland als Le1
So Molotov, zit. n. Pietrow, Stalinismus, S. 199. Vgl. Allard, Außenpolitik, S. 260. Allard hebt hervor, daß Molotov die Abmachungen von 1939 gekündigt hat, erfasst aber nicht ganz die politische Dimension, die einem solchen Schritt – kaum einem Jahr nach Vertragsabschluß und mitten während eines Krieges – zukommen mußte. Die rechtliche Frage, ob ein Geheimprotokoll auf diese Weise ohne Folgen für den Gesamtvertrag gekündigt werden kann, stellt er nicht. 2
IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
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bensraum die Rede ist, hatte Vjacˇeslav Molotov durchaus offen erklärt, was er als Hauptziel seiner Amtszeit verstand: „die Grenze des Vaterlands so weit vorzuschieben wie irgendwie möglich“.3 Wo es als bedeutendes Zeichen gedeutet wurde, daß Hitler auf die noch zu erbauende Große Halle in Berlin angeblich einen Adler mit der Weltkugel in den Krallen setzen lassen wollte, blieb es in der UdSSR nicht bei Absichtserwägungen für die Zukunft. Ihr 1940 aktuelles Staatswappen zeigte die ganze Erdoberfläche – ohne Grenzen. Nun ist die Expansion das klassische Ziel von imperialer Außenpolitik gewesen, seit Julius Cäsar der römischen Republik die Provinz Gallien zum Geschenk machte. Die maximale Ausdehnung der Grenzen, das bedeutete in imperialistischer Tradition auch einen prinzipiell unbegrenzten Anspruch, der durch keine ethnische Linie oder historische Tradition eingeschränkt wurde. In diesem Sinn hat sich Molotov an vielen Stellen geäußert, es entsprach ja auch der kommunistischen Ideologie, den allumfassenden Anspruch erheben zu können, der Maßstab zur Lösung der Menschheitsprobleme zu sein. Viktor Suworow hat vor diesem Hintergrund die Theorie populär gemacht, nach der Adolf Hitler als Eisbrecher der Weltrevolution bezeichnet werden könnte und von Josef Stalin zu diesem Zweck benutzt worden sei. Suworow hat diesen Ausdruck nicht erfunden. Er ist bereits zeitgenössisch in Gebrauch gewesen und wurde etwa von Robert Ingrimm verwendet: „Die Sowjets hatten einen anderen Plan: ‚Hitler‘, sagten sie, ‚wird unser Eisbrecher sein. Er wird die deutsche Demokratie zerstören, und wir werden den deutschen Kommunisten befehlen, ihm dabei zu helfen. Dann werden wir die Früchte seiner Anstrengung ernten. Das klingt heute (d.h. 1944, d. Verf.) weniger phantastisch als vor fünfzehn Jahren.“4
Genau so haben die deutschen Kommunisten in der Spätphase der Weimarer Republik auch agiert und sprachen dabei von der notwendigen Phase einer kurzen faschistischen Herrschaft über Deutschland zur Vorbereitung der letztlich kommenden sozialistischen Revolution. Wer hier nun eine Strategie der Sowjets vermutet, die in Moskau entworfen worden war, der hat wohl Recht.5 Provokation, Radikalisierung und Erschütterung der liberalen Verfassungsstaaten konnte den Zielen der kommunistischen Internationale nur nutzen und so wurde in dieser Richtung getan, was möglich war. Dieser Plan bezog sich aber nicht nur auf Hitler oder Deutschland, sondern auch auf andere Länder, wie Rußlands Außenminister Molotov im nachhinein noch mit Stolz erzählte: 3
Zit. n. Molotov, Politics, S. XIX. Zit. n. Ingrimm, Auflösung, S. 200. 5 Eine ausführlichere Darstellung dieser Strategie gebe ich im Kapitel „Wie man eine Mine unter Europa sprengt“ in: Scheil, Krise, S. 127 ff. 4
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
„Stalin trieb die Kapitalisten Roosevelt und Churchill in einen Krieg gegen Hitler.“6
Aus der Perspektive der Sowjets, also derjenigen, die am Ende 1945 doch für andere die „Kastanien aus dem Feuer“ geholt hatten, dies mit Millionen Toten bezahlten und statt der europäischen Hegemonialposition auf einem Schutthaufen im östlichen Europa beschränkt blieben, wirkt dieser Stolz etwas schwer nachvollziehbar. Provokation war allerdings ein gängiges und anerkanntes Mittel der Großmachtpolitik jener Zeit, der Stolz auf die wirkliche oder vermeintliche Manipulation anderer ein fester Bestandteil im Arsenal staatsmännischer Eitelkeiten. Bezeichnenderweise schrieb sich Winston Churchill selbst offen einen Anteil daran zu, Deutschland zum Angriff auf Rußland genötigt zu haben. Pläne solchen Zuschnitts gab es in vielen Ländern. „Rußlands Plan, Hitler als Eisbrecher zu verwenden, war das Gegenstück zu Englands Plan, ihn gegen den russischen Imperialismus einzusetzen.“7 Die europäische Wirklichkeit der 1930er und 40er Jahre mit ihrem allseits heiligen staatlichen Egoismus sah viele solcher Gedanken und Hintergedanken. Natürlich hatte Hitler ebenso die Idee, andere für sich das Eis brechen zu lassen, wobei er bis 1937 vorzugsweise an einen italienischenglischen Konflikt dachte,8 manchmal auch an einen sowjetisch-japanischen, allerdings im Sinn einer weit entfernten Mutmaßung, als die Außenpolitik nach dem englisch-deutschen Flottenvertrag keine aktuellen Krisen mehr zu bieten schien. Goebbels notierte die Pläne eines offenbar lauen Sommertags des Jahres 1935: „Führer ist glücklich. Gibt einen Abriß seiner außenpolitischen Pläne: mit England ewiges Bündnis. Gutes Verhältnis Polen. Kolonien in beschränktem Umfang. Dagegen nach Osten Ausweitung. Baltikum gehört uns. Ostsee beherrschen. Konflikte Italien-Abessinien-England, dann Japan-Rußland vor der Tür. Das heißt in einigen Jahren vielleicht. Dann kommt unsere geschichtliche Stunde. Wir müssen parat sein.“9
Die meisten solcher Pläne mußten davon ausgehen, den Gang der Dinge nicht vollkommen unter Kontrolle zu haben oder sie langfristig steuern zu können. Nichts von dem, was Hitler 1935 skizzierte, konnte er in die Wirklichkeit umsetzen, weder das Bündnis mit England noch das gute Verhältnis zu Polen oder die Kolonien. Auch wenn nach scheinbaren oder wirklichen Erfolgen von mehr oder weniger zufällig anwesenden politischen Entscheidungsträgern gerne betont wird, dies sei das Ergebnis eines lange gehegten 6
Zit. n. Molotov, Politics, S. 49. Zit. n. Ingrimm, Auflösung, S. 200. 8 So die Argumentation im Hoßbach-Protokoll. Vgl. ADAP, Serie D, Bd. I, Dok., S. 31. 9 Hitler im Gespräch mit Goebbels, zit. n. Goebbels, Tagebücher, I, 3/I, S. 279, 19. August 1935. 7
1. Stalins Rede vom 5. Mai 1941 und sein Regierungsantritt
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und sorgfältig ausgeführten Plans, wird man dies selbst für skrupellose und mit uneingeschränkter Macht ausgestattete Politiker nur in Grenzen ernst nehmen können. Dies gilt auch für die Rivalitäten der europäischen Politik der 1930er Jahre. Man schaffte sich Gelegenheiten, sah sich doch oft gezwungen, auf Unvorhergesehenes zu reagieren, man rüstete, schloß Pakte und brach sie wieder, sprach von kollektiver Sicherheit und ließ die kleineren Staaten trotzdem im Stich, man wollte sich gegenseitig manipulieren und hatte dabei oft nicht im geringsten verstanden, um was es dem jeweils anderen ging.10 Diese Doppelbödigkeit gab es in gewisser Weise auch in der atlantischen Welt, denn die Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts zeigte sich lange Zeit wenig resistent gegen machiavellistische Methoden und machte gerade deswegen selbst in Moskau bei den Verantwortlichen nachhaltig Eindruck, wie wir eingangs gesehen haben. Nach Roosevelts Wiederwahl und den jetzt völlig ungebremsten amerikanischen Kriegsankündigungen gegen Deutschland, nach dem Scheitern einer englisch-sowjetischen Militäraktion auf dem Balkan schien im Frühjahr 1941 für die sowjetische Führung die Zeit gekommen zu sein, aus dem Fahrwasser des Eisbrechers hinauszusteuern. Das Eis war vollständig gebrochen, um im Bild zu bleiben, die europäischen Affären vollständig im Fluß. Der bisherige Steuermann übernahm das Kapitänsamt. 1. Stalins Rede vom 5. Mai 1941 und sein Regierungsantritt „Ob Deutschland will oder nicht, der Krieg kommt.“ Josef Stalin11 „Der europäische Krieg, in dem England und Frankreich als seine Anstifter und eifrige Förderer hervortreten, ist noch nicht zu einer tobenden Brandstätte entflammt, aber die anglo-französischen Aggressoren, die keinen Willen zum Frieden aufweisen, tun alles für die Stärkung des Krieges, für seine Ausweitung auf andere Länder.“ K. Vorošilov12 10 Ein Musterbeispiel dürfte die bald einsetzende englische Aufregung über den deutschen Einmarsch in Böhmen und Mähren sein. Dies gehörte zu Hitlers 1937 skizzierten Expansionsplänen, die auf die Wiederherstellung des Reichsgebiets inkl. Österreichs und des deutsch-tschechischen Westens der Tschechoslowakei hinausliefen, und er hatte in München kaum einen Zweifel daran gelassen, „daß die Tschechoslowakei sowieso nach einiger Zeit nicht mehr bestehen würde,“ wie er Neville Chamberlain gegenüber deutlich sagte. Vgl. Scheil, Logik, S. 178. 11 Nach Aussagen mehrerer sowjetischer Offiziere in deutscher Gefangenschaft. Zit. n. Maser, Wortbruch, S. 315, Vgl. auch Hoffmann, Angriffsvorbereitungen, S. 374. 12 In einem Prawda-Artikel vom 7. November 1939, zit. n. Pietrow, Stalinismus, S. 151 f.
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
Am 6. Mai 1941 übernahm Josef Stalin den Vorsitz des Rates der Volkskommissare und stellte sich damit auch juristisch an die Spitze der sowjetischen Regierung. Obwohl er Gegenstand eines Personenkults gewesen war, hatte Stalin bis dahin kein Regierungsamt besessen, sondern die Geschäfte Kraft seiner Autorität geführt. Erst im Mai 1941 wurde er Regierungschef der UdSSR und dies galt dann dementsprechend als eine sensationelle Neuerung, über deren Bedeutung damals und später viel gerätselt wurde. Wie an anderen Stellen konnte auch hier der stete Trend der Geschichtsschreibung beobachtet werden, das Offenkundige wegzudiskutieren oder für irrelevant zu erklären. Eine der dürftigsten und unergiebigsten Quellen stellt in diesem Zusammenhang Andreas Hillgrubers Publikation „Hitlers Strategie, Politik und Kriegführung 1940/41“ dar: „Sein geschichtsfremder Schluß von 1965, daß nicht wesentlich sei ‚was Stalin am 5. Mai tatsächlich gesagt hatte . . . sondern welche Nahziele er verfolgte‘, erscheint so absonderlich, daß sich jeder weitere Kommentar erübrigt,“ so Werner Maser.13 Vielfach wurde Stalins Amtsantritt als weiteres Indiz für die geplante Offensive gegen Deutschland genommen und ihm unterstellt, mit der Regierungsübernahme seinen Anteil am sicher geglaubten Sieg besser herausgestellt haben zu wollen. Daß Stalin mit diesem Schritt „ein außenpolitisches Ziel von überragender Wichtigkeit . . . mit Einsatz seiner Person zu erreichen hofft“, meldete auch der deutsche Botschafter Schulenburg aus Moskau, allerdings zog er den entgegengesetzten Schluß und glaubte daran, daß „Stalin die Sowjetunion von (sic) einem Konflikt mit Deutschland bewahren will“.14 Die Sprachregelung des russischen Außenministeriums für den diplomatischen Gebrauch seiner Mitglieder trug dem spektakulären Element dieser Entscheidung ebenfalls Rechnung, denn sie lautete, daß „die Ernennung Stalins zum Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare das größte historische Ereignis der Sowjetunion seit ihrem Bestehen sei.“15 Allerdings blieb an dieser Stelle ungesagt, welchen konkreten Zielen dieses Ereignis dienen sollte. Einen Tag zuvor hatte Stalin dies deutlich formuliert. Er hatte zu den Absolventen der sechzehn Militärakademien gesprochen. Dabei stellte er 13
Zit. n. Maser, Wortbruch, S. 315, bezieht sich auf Hillgruber, Strategie, S. 432. Vgl. Suworow, Eisbrecher, S. 201 ff. und ADAP, D, XII, S. 661, Bericht Schulenburgs aus Moskau. Vgl. auch Hilger, Kreml, S. 306. Allerdings reagierte Stalin nicht auf Schulenburgs Aufforderung vom 9. Mai 1941, als Regierungschef die Lage durch einen persönlichen Brief an Hitler zu entspannen. Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 286 f. Zur allgemeinen Diskussion über den Regierungsantritt Stalins vgl. Gabriel Gorodetsky, der hier den Beginn einer „Appeasement-Strategie“ Stalins sehen will. Vgl. Gorodetsky, Täuschung, 261 ff., sowie Conquest, Stalin, S. 298 f. 15 So übereinstimmend der Erste Stellvertretende Außenkommissar Vyšinskij, der Generalsekretär des Außenkommissariats Sobolev und der Abteilungsleiter Kusnetzov. Vgl. ADAP, D, XII, S. 659. 14
1. Stalins Rede vom 5. Mai 1941 und sein Regierungsantritt
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die Situation Deutschlands als labil dar. Ähnlich wie dies nach dem Sieg von 1918 in Frankreich und England der Fall gewesen sei, seien der deutschen Armeeführung die Erfolge zu Kopf gestiegen. So erklärte sich Stalin den weiterhin bescheidenen Umfang der deutschen Rüstungsvorbereitungen: „Sie bilden sich ein, daß sie alles können, daß ihre Armee stark genug ist und daß es keinen Sinn macht sie nachzurüsten.“16 Die Folgerungen daraus waren klar: „Eine Armee, die sich für unbesiegbar hält, die meint, sie brauche keine Vervollkommnung, ist zur Niederlage verurteilt.“ Darin erschöpften sich die deutschen Probleme aber keineswegs, denn zu der Arroganz in der Leitung der bewaffneten Macht gesellte sich nach Stalins Analyse als weiteres Problem die wirtschaftliche und ideologische Überdehnung Deutschlands als Folge der bis dahin eingetretenen Militärerfolge: „Deutschland begann den Krieg unter dem Motto ‚Befreiung von Versailles‘. Und es gewann das Mitgefühl der Völker, die unter dem Versailles-System litten. Jetzt aber setzt Deutschland den Krieg unter der Flagge der Eroberung, der Unterwerfung anderer Völker, unter der Hegmonieflagge fort. Das ist ein großer Nachteil für die deutsche Armee. Sie hat nicht nur die Sympathie einer Reihe von Völkern und Ländern eingebüßt, sondern steht auch in Konfrontation mit vielen von ihr besetzten Ländern. Die Armee, die sich feindlichen Territorien und Massen gegenübersieht, ist einer richtigen Gefahr ausgesetzt.“17
In der Tat stellten die Besatzungsregime in den verschiedenen Ländern für die deutsche Armee eine militärische Belastung dar, ebenso wie die politische Ungewissheit über das weitere Schicksal den Widerstandswillen innerhalb der Bevölkerung eine ideologische Belastung wurde. Die deutsche Führung hatte nicht den Mut gehabt, die bis dahin gegenüber der englischen Regierung mehrfach gemachten Rückzugsangebote aus so gut wie allen besetzten Ländern – zu denen wir noch kommen werden – publik werden zu lassen. So entstand der Eindruck politischer Konzeptionslosigkeit und letztlich hegemonialen Zielen. Für Stalin waren die Folgerungen eindeutig, was die deutsche Armee anging: „Sie kann besiegt werden.“18 Dabei erwartete er nicht, es könnte vielleicht eine englisch-amerikanische Landung die Ursachen solcher Niederlagen sein. Die Rede vor dem sowjetischen Offiziersnachwuchs diente der Einstimmung auf einen kommenden Krieg gegen Deutschland. Wer das noch nicht verstanden hatte und weiterhin Trinksprüche auf die friedliche Außenpolitik der UdSSR ausbrachte, wie es ein Generalmajor der Panzertruppen tat, sah sich von Stalin zurechtgewiesen: „Gestatten Sie mir eine Korrektur. Die friedliche Politik hat für unser Land den Frieden gesichert. Die friedliche Politik ist eine gute Sache. Bis zu einer bestimm16 Aufzeichnung von Georgij Dimitroff über Stalins Rede vom 5. Mai 1941, hier zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 184. 17 Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 184. 18 Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 184.
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ten Zeit haben wir die Linie der Verteidigung vertreten, bis zum Zeitpunkt, bis wir unsere Armee noch umgerüstet haben, die Armee noch nicht mit modernen Kampfmitteln ausgerüstet haben. Jetzt aber, da wir unsere Armee umgestaltet haben, sie reichlich mit Technik für den modernen Kampf ausgestaltet haben, da wir stark geworden sind, jetzt muß man von der Verteidigung zum Angriff übergehen.“19
Es sollte Schluß sein mit der sozialistischen Friedenspolitik. Das war schon vier Wochen zuvor der Hintergrund für Stalins launige Bemerkung gewesen, die Deutschen „sollten nur kommen“, wenn sie sich über die sowjetische Jugoslawienpolitik geärgert hätten. Damit keine unkontrollierten Gerüchte über mögliche Inhalte dieser neuen Rede von Anfang Mai in Umlauf gerieten, hatte der sowjetische Apparat selbst kontrollierte Gerüchte erzeugt und unter anderem der deutschen Botschaft einen Bericht zugespielt, in denen davon die Rede war, Stalin hätte die Überlegenheit des deutschen Kriegspotentials betont und seine Zuhörer „ganz offensichtlich auf die Notwendigkeit eines Kompromisses mit Deutschland“ vorbereitet.20 So las man es in der deutschen Botschaft und hörte es gern, berichteten doch Schulenburg und Hilger genau in diesem Sinn ständig nach Berlin. Das war allerdings so permanent einseitig und auf Darstellung sowjetischer Harmlosigkeit berechnet, daß „Berlin jedes Interesse an Berichten aus Moskau verlor“, wie Hilger später feststellte.21 Hitler soll mehrfach erklärt haben, „die deutschen Diplomaten in Moskau seien die schlechtest unterrichteten der Welt.“22 In der Tat kam Hilger erst später der Gedanke, daß der ihm zugespielte Bericht über die Stalinrede eine Fälschung gewesen sein könnte, als er nach Beginn des deutschen Angriffs drei gefangene sowjetische Offiziere verhörte, die bei der Rede anwesend waren und übereinstimmend und ohne die Möglichkeit, sich abzusprechen, etwas ganz anderes aussagten: Stalin habe ausdrücklich mit dem Lob der deutschen Armee Schluß gemacht und das Ende der sowjetischen Friedenspolitik angekündigt.23 Damit hätte man zwar die Grenzen vorschieben und dreizehn Millionen neue Einwohner gewinnen können, aber jetzt sei die Zeit der Defensive vorbei. Es würde die gewaltsame Ausbreitung der sozialistischen Front bevorstehen.24 19
Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 141 f. Zit. n. Hilger, Kreml, S. 307. 21 Zit. n. Hilger, Kreml, S. 309. 22 Vgl. Liddell Hart, Weltkrieg, S. 200. 23 Vgl. Goebbels-Tagebuch am 28. Juni 1941: „Stalin hat bereits am 6. Mai eine Rede gehalten, in der er den Krieg gegen Deutschland prophezeite. So meldet I. N. S. Uns kommt das sehr gelegen.“ 24 Vgl. Hilger, Kreml, S. 307 f. Es gibt unabhängige Quellen, die auf diese Rede als Offensivrede hinweisen. Zu den bereits bekannten sei noch diese hier durch Oberstleutnant Hinterseer (Damals 1c/AO III AOK 4) genannt: „Ein junger russischer Offizier, später Kp. Führer in einem landeseigenen Verband, erzählte mir im 20
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Nun sind drei unabhängig und unvorbereitet voneinander gemachte Aussagen im allgemeinen zuverlässiger als ein einzelnes Dokument, das sich nur auf eine einzige gegenteilige Aussage stützt. Anders als die deutsche Botschaft in Moskau war man in Berlin nicht auf sowjetische Desinformation als alleinige Quelle für diplomatische Einschätzungen angewiesen, und auch das ist ein Grund, warum man sich für deren Berichte aus Moskau nicht länger interessierte. Zwei Agenten meldeten unabhängig voneinander den wahren Inhalt der Stalinrede an die deutsche Regierung weiter. Das ist keine Nachkriegsausrede des deutschen Außenministers, sondern ein Umstand, den Ribbentrop dem Mitglied des bulgarischen Regentschaftsrats Filoff am 19. Oktober 1943 mitgeteilt hat, in einer längeren Darstellung der deutschen Außenpolitik.25 Stalin habe davon gesprochen, „man muß zum Krieg übergehen, um die Revolution in ganz Europa zu verbreiten.“26 Dies entsprach teilweise den Berichten, die nach Kriegsausbruch in Moskau im Umlauf waren und von Alexander Werth in Erfahrung gebracht werden konnten. Demnach hätte Stalin am 5. Mai betont, eine Vorherrschaft Deutschlands in Europa sei „nicht normal“ und werde in einem „unvermeidlichen Krieg“ zwischen Deutschland und der UdSSR beendet werden, wobei die Rote Armee entweder einen deutschen Angriff abwarten oder selbst die Initiative ergreifen würde – dies aber erst 1942.27 Selbst diese Version der von Werth befragten sowjetischen Zeugen stützt also die Ansicht, der deutsche Angriff von 1941 sei einer durch Stalin für später angekündigten sowjetischen Attacke zuvorgekommen und erfülle damit im die Definition eines Präventivkriegs im weiteren Sinn.28 Wie im weiteren zu sehen sein wird, dachte Stalin jedoch bereits 1941 an einen eigenen Angriff. Einige Tage vor Stalins Rede und dem folgenden Regierungsantritt hatte sich Botschafter Schulenburg Ende April 1941 von Moskau nach Deutschland begeben. Das ging auf eine Initiative von Außenminister Ribbentrop zurück, der Anfang April von Hitler über dessen Angriffsabsicht auf die UdSSR in Kenntnis gesetzt wurde: Sommer 1942: „4 Wochen vor Kriegsausbruch war ich mit vielen Kameraden (Absolventen einer Kriegsschule) im Kreml eingeladen. Ich saß in der Nähe von Stalin und konnte sehr gut hören, daß er sagte, es werde schon in den nächsten Wochen Krieg mit Deutschland geben.“ Zit. n. BA-MA MSg 2/1285, Anlage 1. 25 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 432, der dem Vorgang eine beinah seitenlange Anmerkung widmet. (Aufzeichnung der Besprechung in: RAM 48/43, g.Rs, PAAA). 26 Ribbentrop zu Filoff, hier zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 135. 27 Vgl. Werth, Rußland, S. 106 f. 28 Weil dies so ist, aber natürlich nicht so sein darf, spekulierte Bianka PietrowEnnker über außenpolitische Motive der Zeugen und erklärt, diese Quellen könnten „unmöglich als Beweis dienen“. Vgl. Pietrow-Ennker, Aggression, S. 599.
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„Nach seinen Mitteilungen bestätigten alle ihm vorliegenden militärischen Nachrichten, daß die Sowjetunion große Vorbereitungen entlang der ganzen Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer treffe. Er sei nicht gewillt sich überraschen zu lassen, wenn er einmal eine Gefahr erkannt habe. Der Pakt, den Moskau mit der serbischen Putschregierung Simovicˇ abgeschlossen habe, sei ein klarer Affront gegenüber Deutschland und ein klares Abgehen vom deutsch-russischen Freundschaftsvertrag. Ich habe in dieser Unterredung den Empfang des Botschafters Graf Schulenburg empfohlen, der dann auch tatsächlich noch am 28. April in Wien stattfand. Ich selbst wollte unbedingt noch eine diplomatische Klärung in Moskau versuchen. Hitler lehnte aber jetzt jeden weiteren derartigen Schritt entschieden ab und verbot überhaupt, mit irgend jemand über diese Angelegenheit zu sprechen; alle Diplomatie werde an der ihm klar gewordenen russischen Haltung nichts mehr ändern, sie könne ihm aber bei einem Angriff das wichtige taktische Überraschungsmoment nehmen. Er bat mich, nach außen eine klare Haltung in seinem Sinne einzunehmen und sagte mir, das Abendland werde eines Tages verstehen, warum er die sowjetischen Forderungen abgelehnt habe und gegen den Osten vorgegangen sei.“29
Unter solchen Vorzeichen traf Schulenburg am 28. April 1941 mit Hitler zusammen. Was der Botschafter vorbringen konnte, bestätigte in erster Linie den schlechten Informationsstand der deutschen Botschaft in Moskau bzw. die Entschlossenheit Schulenburgs, einen Angriff auf die UdSSR in jedem Fall zu verhindern. Er zeichnete von der UdSSR ein günstiges und friedliches Bild und machte sich gewissermaßen zu ihrem Anwalt, gerade auch in der Frage des sowjetisch-jugoslawischen Vertrags, über den sich Hitler schon gegenüber Ribbentrop so sehr ereifert hatte:30 „Der Führer fragte mich . . ., was für ein Teufel die Russen geritten hätte, daß sie den Freundschaftspakt mit Jugoslawien abgeschlossen hätten. Ich vertrat die Auffassung, daß es sich dabei ausschließlich um die Anmeldung der russischen Interessen auf dem Balkan gehandelt habe. Rußland hätte jedesmal etwas getan, wenn wir auf dem Balkan etwas unternommen hätten. An sich seien wir durch die Konsultationsabrede doch wohl auch verpflichtet gewesen, die Russen zu informieren.31 Rußland hätte zwar kein spezielles Interesse an Jugoslawien, wohl aber grundsätzlich am Balkan.“32 29
Zit. n. Ribbentrop, Erinnerungen, S. 238 f. Nach Anweisung Ribbentrops hatte Schulenburg in diesem Gespräch seinen Standpunkt „von Moskau aus gesehen“ zu vertreten. Ernst v. Weizsäcker vermutete hier auch persönliche Interessen des von ihm ungeliebten und hintergangenen Außenministers: „Ribbentrop scheut im Grunde auch vor dem Krieg zurück wegen seiner noch warmen Reden für die Russenfreundschaft. Der Führer sah Schulenburg knapp eine halbe Stunde und stellte ihm seine militärischen Vorbereitungen als defensive hin.“ Vgl. Weizsäcker, Papiere, S. 251, 29. April 1941, Hervorhebungen im Original. Dazu auch Rudolf v. Ribbentrop, der die Meinung vertritt, Schulenburg habe Hitlers Mißtrauen gegen Rußland mit Billigung des Außenministers möglichst dämpfen sollen. Vgl. Ribbentrop, Außenpolitik, S. 376 f. 31 Vgl. ADAP, D, VII, Dok. 228. 30
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Anders als Schulenburg dies definiert wissen wollte, gehörte Jugoslawien nach Stalins Plänen allerdings durchaus zur exklusiven sowjetischen Einflußzone, wie er es Molotov schriftlich auf dessen Reise nach Berlin mitgegeben hatte. Diese damaligen Fehleinschätzungen Schulenburgs in der Dynamik der russischen Politik wie in der Frage von Ursache und Wirkung lassen ebenso wie manch spätere Mutmaßungen33 im nachhinein daran zweifeln, daß Schulenburg seine Aufgabe in Moskau dazu genützt haben könnte, um sich ein Bild von den Methoden des Sowjetsystems und den Zielen seiner Außenpolitik zu machen, das auf realistischen Annahmen beruhte. Seine Äußerungen waren alles in allem die offenkundig uninformierte Wiedergabe der jeweils für Deutschland ungünstigsten und die Rußland sympathischsten Annahme. Es sei ein „oberflächliches Gespräch über Rußland“ gewesen, notierte Hewel und dürfte seinem Außenminister in diesem Sinn berichtet haben. Vor diesem Hintergrund mutet Schulenburgs Deutung der Cripps-Aktivitäten, denen Hitler so viel Gewicht zuschrieb und über die er regelmäßig persönlich informiert wurde, geradezu amüsant an: „Ich (d.h. Schulenburg, d. Verf.) wies darauf hin, daß es Cripps erst 6 Tage nach Abschluß des russisch-jugoslawischen Vertrags gelungen sei, nur den Stellvertreter Molotovs Vyšinskij zu sprechen.“34
Vyšinskij war derjenige gewesen, der Cripps schon im Oktober zu dem Eindruck verholfen hatte, die UdSSR wünsche keine weiteren deutschen Erfolge und dem er schon damals ein Bündnisangebot gemacht hatte. Nun war ein paar Tage vor dem Hitler-Schulenburg-Treffen ein weiteres Schreiben von Cripps an Vyšinskij abgefangen und sein Inhalt nach Berlin übermittelt worden, in dem Cripps darauf hinwies, die Sache sei dringend, den deutschen Angriffstermin 22. Juni kannte er ja schon. Diese Berichte wurden Hitler regelmäßig vorgelegt: „Cripps stellt eingangs die Bemühungen Großbritanniens unmittelbar nach dem Zusammenbruch dar, die darauf hinzielten, die Sowjetunion für die Initiative zur Bildung eines Blocks der Balkanstaaten zu gewinnen, um einen deutschen Einmarsch zu verhindern. Da diese Bemühungen gescheitert seien, auch die Bemühungen der Sowjetunion, Bulgarien durch Gebietsversprechungen auf Kosten seiner Nachbarn auf ihre Seite zu ziehen, keinen Erfolg gehabt hätten, sei es zu dem gegenwärtigen Zustand auf dem Balkan gekommen, der eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit der Sowjetunion darstelle. Wenn die Deutschen auf dem Balkan blieben, sei es offensichtlich, daß sie sich gegen die Sowjetunion wenden würden. 32 Auch das ist eine Fehleinschätzung Schulenburgs. Vgl. Stalins „Speisezettel“ weiter oben im Kapitel Molotov-Besuch. 33 Schulenburg hatte prognostiziert, Leningrad und Moskau würden von der UdSSR im Konfliktfall evakuiert und zu offenen Städten erklärt (!) werden. 34 Zit. n. ADAP, D, XII/2, Dok. 423, S. 557.
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Für diese sei es daher höchste Zeit, die Initiative zu militärischen Maßnahmen gegen Deutschland, gegebenenfalls im Benehmen mit der Türkei zu ergreifen.“35
Deutschland hätte dann eine „dreifache Front“, womit Cripps auf ein Geschäft anspielte, das die Sowjets Bulgarien angeboten hatten.36 Militärische Maßnahmen gegen Deutschland sollten also ergriffen werden. Das hatte Cripps seinem sowjetischen Gesprächspartner in mehreren Gesprächen angetragen und Schulenburg wußte das auch.37 Diese Aktivitäten gegenüber Hitler so herunterzuspielen, dürfte ihn seine Glaubwürdigkeit gekostet haben, wie sich am Gesprächsende zeigte, als er die damit verbundenen sowjetischen Truppenbewegungen ganz nach sowjetischer Sprachregelung mit „Sicherheitsbedürfnissen“ abtat. Der Führer betont, daß die Russen mit den Aufmärschen angefangen hätten, indem sie unnötig zahlreiche Divisionen im Baltikum konzentriert hätten. Ich erwiderte, daß es sich hierbei um einen bekannten russischen Drang nach 300 %iger Sicherheit gehandelt habe. Wenn wir für irgendeinen Zweck eine deutsche Division entsenden würden,, entsendeten sie für den gleichen Zweck 10 Divisionen, um ganz sicher zu gehen. Ich könne nicht glauben, daß Rußland jemals Deutschland angreifen würde. Der Führer sagte, daß er durch die Vorgänge in Serbien gewarnt worden sei. Was dort geschehen sei, sei für ihn das Beispiel der politischen Unzuverlässigkeit eines Staates.“38
Mit einseitig überhöhten Truppenstationierungen läßt sich keine Sicherheit schaffen, da auf diese Weise die Unsicherheit des Gegenüber ebenso zunimmt wie seine Neigung, diesen Zustand durch eigene Truppenverschiebungen zu beenden. Dies ist ein Gemeinplatz der Sicherheitspolitik, der sich in diesem Fall dadurch bestätigt hatte, daß die angeblich aus „Sicherheitsgründen“ grenznah stationierten sowjetischen Truppen bald darauf für ein Epressungsmanöver gegenüber Rumänien benutzt worden waren. Ein 35
Zit. n. ADAP, D, XII/2, Dok. 383, vgl. auch Churchill, Weltkrieg Bd. III, Grand Alliance, vgl. auch Telegramm Steinhardts Nr. 818 vom 21.4.1941 an das Department of State, in: FRUS, 1941, Bd. I, S. 164–165. 36 Am 25. November 1940 erging ein russisches Angebot an Bulgarien, einen Beistandsvertrag abzuschließen, die territorialen Forderungen Bulgariens zu unterstützen und dann über Material und Flottenlieferung „Unterstützung“ zukommen zu lassen. Dann hätte man nichts gegen einen Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt und würde sogar selbst dort beitreten. Vgl. Dimitroff, Tagebücher, I, S. 320 f., sowie Antwort Molotovs in ADAP, 25. November 1940. Tatsächlich kam in der langen Forderungsliste auch das vor, aber insgesamt waren es „andere und wesentlich härtere Bedingungen, als Hitler sie annehmen konnte“. Vgl. Allard, Außenpolitik, S. 266. 37 Ernst Woermann hatte Schulenburg am 7. April 1941 davon unterrichtet, es gebe Nachrichten aus streng geheimer Quelle, nach denen „Cripps Ende März mehrere Unterredungen mit dem Stellvertretenden Außenkommissar Vyšinskij gehabt hat“. ADAP, D, XII/2, S. 504. 38 Zit. n. Seidl, Beziehungen, 379 ff. vgl. auch ADAP, D, XII/2, Dok. 423, S. 555 f.
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sowjetisches Sicherheitsbedürfnis in Gestalt einer Truppenzahl von 10:1 konnte fatale Folgen haben. Damit kehrte das Gespräch zwischen Hitler und Schulenburg dem Thema Rußland den Rücken und drehte sich noch etwas um die allgemeine Verführungsanfälligkeit der Völker. Hitler erklärte Schulenburg seine Version, wie es zu den Ereignissen der letzten Jahre gekommen sein könnte: „Die Völker ließen sich heute weniger durch Verstand und Logik als durch Haß und vielleicht auch Geldinteressen in ihrer Politik bestimmen, und so sei es gekommen, daß durch die englischen Versprechungen hintereinander die Polen, denen er die günstigsten Bedingungen gestellt habe, Frankreich, das den Krieg garnicht wollte, Holland und Belgien sich ins Unglück gestürzt hätten.“39
Rußland könne man vielleicht nicht in der gleichen Weise „kaufen“ wie diese Länder, aber Haß sei auch dort zurückgeblieben. Das war schon beinah deutlich und Schulenburg offenbar nicht mehr der Adressat für solche Informationen. Daher hielt Hitler es wohl auch für nötig, nach Gesprächsende ausdrücklich zu betonen: „Und noch eins, Graf Schulenburg, einen Krieg gegen Rußland beabsichtige ich nicht!“40
Das war gelogen, und Schulenburg hatte das auch mitbekommen. Bei der Ankunft in Moskau sagte er zu Hilger: „Die Würfel sind gefallen, der Krieg ist beschlossene Sache.“41 Schulenburgs Auftritt könnte dazu geeignet gewesen sein, nicht nur den Angriff nicht zu verhindern, sondern auch den genauen Termin dafür zu beeinflussen. Am gleichen Tag entschied Hitler die letzten zeitlichen Details über diese Dinge, zumal die militärischen Vorbereitungen der UdSSR ebenfalls weitergingen, wie eine Gesprächsnotiz vom 28. April 1941 zeigt: „1.) Zeitplan Barbarossa Der Führer hat entschieden: Beginn Barbarossa 22. Juni ab 23. Mai Höchstleistungsfahrplan . . . ‚3.) Russischer Aufmarsch: Weiterhin starke Truppenverlegungen an die deutsch-russische Grenze“.42
Es würden sich, so verkündete Hitler am folgenden Tag, „in der nächsten Zeit sich Ereignisse abspielen, die für viele unverständlich scheinen. Aber die Maßnahmen, die von uns geplant werden, sind aus staatlichen Gründen notwendig, weil der rote Pöbel sein Haupt über Europa erhebt.“43 Diese 39 40 41 42
Zit. n. Seidl, Beziehungen, 380. Zit. n. ADAP, D, XII/2, Dok. 423, S. 557. Ebd. ADAP, D, XII/2, Dok. 423, S. 557. Zit. n. BA-MA RW 4/575, S. 105.
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Ankündigung erreichte die Moskauer Regierung über einen Agentenbericht, so daß der zurückgekehrte deutsche Botschafter mit seiner nächsten Aktion gewissermaßen offene Türen einrennen konnte. Denn Schulenburg ging bald darauf bis an die Grenze des Landesverrats, als er die deutschen Angriffspläne seinen russischen Gesprächspartnern andeutete. Vor die Wahl gestellt, ob bei dem von ihm in keinem Fall mehr zu verhindernden Kriegsausbruch aufgrund des Überraschungsmoments wenigstens möglichst wenige deutsche Soldaten umkommen sollten, entschied er sich gegen diese Soldaten und für deren Gegner. Schulenburg war in diesem Fall eher der Regimegegner als der Vertreter seines Landes. Schulenburg und Hilger unternahmen angesichts ihrer schwachen Informationslage über die sowjetischen Angriffsvorbereitungen den Versuch, den inzwischen zum Leiter der Deutschlandabteilung im Außenkommissariat avancierten ehemaligen Dolmetscher W. N. Pavlov, bekannt für sein besonderes Vertrauensverhältnis zu Stalin,44 zusammen mit dem zufällig in Moskau anwesenden Dekanozov bei einem Frühstück von ernsthaften deutschen Angriffsabsichten zu überzeugen. Aber die Russen, so beklagte sich Hilger noch im nachhinein, hatten „für unseren guten Willen nicht das geringste Verständnis“.45 In der Tat war Dekanozov zweifellos erstaunt, hier mit dem Landesverrat der ranghöchsten Vertreter der deutschen Diplomatie in Moskau konfrontiert zu werden, die offen einräumten, nicht im Namen ihrer Regierung zu sprechen. Es war dennoch nicht unbedingt ein „in der Geschichte beispielloser Schritt“.46 Dekanozov zeigte sich jedenfalls keineswegs geneigt, auf seine Gesprächspartner einzugehen und Verhandlungen mit der deutschen Regierung einzuleiten. Eine Gesprächsaufzeichnung Dekanozovs von einem Gespräch zwischen ihm Hilger und Schulenburg datiert vom 5. Mai 1941. Sie wurde erst 1990 gefunden und veröffentlicht.47 Dekanozov hat diese Aufzeichnung nach Einschätzung russischer Historiker nicht an Stalin oder Molotov weitergeleitet, allerdings wurden beide mündlich über die Gespräche und deren Inhalt informiert. 43 Bericht eines russischen Agenten über Hitlers Äußerungen vor Offiziersanwärtern am 29. April 1941, hier zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 207. 44 Es wurde kolportiert, er sei ein unehelicher Sohn Stalins mit einer deutschen Wolgakolonistin. Seit dem Amtsantritt des Botschafters Shkvartzev in Berlin begleitete er jedenfalls dessen Aktivitäten und war der Hauptdolmetscher bei Verhandlungen mit der deutschen Seite. Vgl. Sommer, Memorandum, S. 63. 45 Zit. n. Hilger, Kreml, S. 309. 46 Vgl. Kynin, Unterredungen, S. 198. Man wird allerdings schon bis zu Fürst Talleyrand zurückgehen müssen, um Vergleichbares zu finden. Auch Talleyrand sabotierte die napoleonische Politik vor dem Angriff auf Rußland mittels Verrat. 47 Vgl. Fleischhauer, Kriegserklärung, S. 517 ff. Was Hilger vorher in seinen Erinnerungen über die Gespräche berichtet hatte, wurde von der offiziösen sowjetischen Geschichtsschreibung als Lüge abgetan. Vgl. Deborin, Falsifiers, S. 295.
2. Mutmaßungen über TASS
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Zudem blieb es nicht bei diesem einmaligen Kontakt. Es gab weitere Treffen Dekanozovs mit Schulenburg, bei denen Stalin und Molotov durchaus eingeweiht waren und deren Ergebnisse in Anwesenheit Stalins diskutiert wurden.48 Am 9. Mai sagte Schulenburg seinem sowjetischen Gesprächspartner direkt, Hitler sei mit den Aktionen der Sowjetregierung unzufrieden, erhielt aber nur die Antwort, die Sowjetregierung habe eher Grund, mit der Haltung der deutschen Seite unzufrieden zu sein.49 Man stritt sich einmal mehr um die Einflußzonen in Osteuropa und auf dem Balkan, wobei Dekanozov interessanterweise kein einziges Mal das 1939 geschlossene und im Vorjahr von Molotov als erschöpft bezeichnete Abkommen erwähnte. Auch die wiederholten Versuche Schulenburgs, Stalin als neuen Regierungschef zu einem persönlichen Schreiben an Hitler zu bewegen, blieben erfolglos. Stalin bestand durch Dekanozov auf der vorherigen Absprache eines Briefwechsels. Dazu hatte Schulenburg keine Vollmacht und ließ durchblicken, auch auf Anfrage in Berlin keine bekommen zu können. Dekanozov stellte am Ende in der letzten Besprechung vom 12. Mai 1941 ein Treffen mit Molotov in Aussicht.50 Besonders fest mußte dagegen der Eindruck auf sowjetischer Seite geworden sein, der Moskauer Botschafter Deutschlands repräsentiere nicht die entscheidenden politischen Kräfte in Deutschland, denn daran hatte er keine Zweifel gelassen: „Er sei sogar im Zweifel darüber, ob er einen solchen (Verhandlungs-, d.Verf.) Auftrag überhaupt erhalten würde.“51 Unter diesen Umständen griff die Sowjetführung zu anderen Kommunikationskanälen. 2. Mutmaßungen über TASS Die quasi-amtlichen Verlautbarungen „der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS“ haben die UdSSR bis zu ihrem Ende begleitet. Sie gehörten zu dem Schleier aus öffentlicher Desinformation, mit dem die Kremlherren ihre Entscheidungsfindung stets umgeben haben. Wofür die TASS-Kommuniqués jeweils ein Signal waren, darüber wurde deshalb unter Kreml-Astrologen stets vehement gestritten. Selbst gute Kenner der inneren sowjetischen Vorgänge wie der frühere Außenminister und bald neu ernannte Botschafter Litvinov konnten nur rätseln, als im Juni 1941 etwa ein TASSKommuniqué zur Mission vonStafford Cripps erschien: 48
Vgl. Kynin, Unterredungen, S. 202. Die Behauptung Molotovs bei der Übergabe des deutschen Memorandums am 22.6.1941, man habe zuvor nie Nachrichten über die Unzufriedenheit Deutschlands erhalten, war auch deshalb falsch. 50 Vgl. Kynin, Unterredungen, S. 210. 51 Vgl. Kynin, Unterredungen, S. 209. 49
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
„Merkwürdige TASS-Meldung über Sir Stafford Cripps. Ich verstehe es nicht. Alles riecht nach der Schwerfälligkeit von Molotov. Bedeutet es ein Signal an Hitler, um ihm zu erkennen zu geben, daß man bereit ist, mit ihm bis ans Ende zusammenzugehen? Oder ein Versuch, um von ihm nähere Erklärungen zu erhalten? Wer ist auf diesen Gedanken gekommen? Nur ein Losowskij52 oder eine ähnliche Leuchte. Eine Art, mit der die Zigeuner die Kolchosbauern auf dem Markt von Reschetikow betrügen. Dabei haben wir einen Botschafter in Berlin, und von der Schulenburg ist in Moskau. Wenn man durch sie nichts erfahren hat, was kann man von einem solchen Angeln erwarten? Wenn man ein Signal gibt, ist es unnütz, es so zu geben, daß es alle sehen. Wenn so etwas ‚Diplomatie‘ genannt wird, wie soll man dann ‚Dummheit‘ näher definieren?“53
In der Tat war ein solches offenes Signal weniger ein Teil konventioneller Diplomatie als ein Ausdruck von Öffentlichkeitsarbeit. Ein klares sowjetisches Signal, man wolle den Deutschen entgegenkommen, blieb bis zum Angriffsbeginn aus. Dabei fürchtete man in Berlin gerade einen solchen Effekt so sehr, daß Außenminister und Staatschef in den Tagen vor dem Angriff „unsichtbar“ gemacht wurden und für niemanden zu sprechen waren.54 Ein Stalinscher „Coup“, wie ihn Hitler erwartete, vielleicht durch den Vorschlag eines persönlichen Treffens oder ein Entgegenkommen auf bisher strittigem Gebiet, etwa eine öffentliche Erklärung über eine sowjetische Truppenreduzierung an der westlichen Grenze, hätte dem angriffsbereiten deutschen Heer das aktuelle Angriffsmotiv nehmen können. Die Folge hätten langwierige Verhandlungen über Details einer solchen Umgruppierung sein können, die sich leicht über die nächsten Wochen hätten hinziehen und den Angriff in diesem Jahr unmöglich machen konnten, es sei denn, man griff trotz laufender Verhandlungen an, was politisch unmöglich gewesen wäre. Am Ende stand zu befürchten, daß das zweite Halbjahr 1941 sich ohne Kriegsentscheidung hinzog und die deutschen Probleme im Jahr 1942 möglicherweise die gleichen sein würden. Sie wären nur stärker ausgeprägt, da die Rüstungsmaschinerie der Westmächte wie die der UdSSR längst angelaufen war. Nichts konnte die UdSSR dann hindern, den Konfrontationskurs wieder aufzunehmen. Da es aber sowjetische Truppen an der deutsch-russischen Demarkationslinie nach dem TASS-Dementi vom 13. Juni 1941 offiziell nicht in außergewöhnlichem Umfang gab, blieb dieser „Coup“ ebenso aus wie andere sowjetische Vorschläge, mit denen die Spannungen hätten vermindert werden 52 Gemeint ist Salomon Abramovic ˇ Losowskij. 1878 geboren, gelernter Schmied, seit 1901 Revolutionär, 1901–1917 in Paris, 1939 stellv. Außenkommissar der UdSSR, 1941 stellv. Direktor des sowjet. Informationsbüros. Vgl. Litvinov, Memoiren, S. 283. 53 Zit. n. Litvinov, Memoiren, S. 271, Eintrag vom 7. Juni 1941. 54 Vgl. Hewel, Tagebuch, 18. Juni 1941.
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können. Stalin hatte bereits Schulenburgs Anregungen abgelehnt, zu diesem Zweck an Hitler zu schreiben. Er plante etwas anderes, er wollte Forderungen provozieren. Diesen Aspekt des Kommuniqués erkannte Litvinov offenbar nicht in vollem Umfang, er hat aber seine Wirkung durchaus gezeigt, stützte sich doch später die Legende von der unprovoziert überfallenen UdSSR nicht zuletzt auf diese Kommuniqués – und tut es bis in diese Tage. Aufmerksame Beobachter konnten aber ohne weiteres die Hintergründe erkennen. Die Basler Nationalzeitung etwa kam der Wahrheit sofort recht nahe, als sie am 16. Juni 1941 berichtete: „Am interessantesten scheint uns der Satz der Moskauer Erklärung, in dem es heißt, daß Deutschland keine Forderungen an Rußland gestellt habe. . . . Daß Deutschland Brot und Erdöl von Rußland benötigt, weiß jedermann. Schüttet die amtliche russische Nachrichtenagentur nicht das Kind mit dem Bade aus, wenn sie behauptet, daß nicht einmal wirtschaftliche Wünsche der Reichsregierung in Moskau zur Beratung stehen? Die TASS will vielleicht Berlin warnen, allzu schwere Forderungen dieser Art zu erheben, ein waches Ohr könnte heraushören, dass zwischen solchen Zukunftsforderungen und den deutschen Truppenverschiebungen ein gewisser Zusammenhang besteht, aber um die Tatsache kommt man nicht herum, daß Deutschland solche Forderungen bisher nicht angemeldet hat. Im Licht der russischen Erklärung soll das beruhigend wirken, wir gestehen aber, daß es uns eher beunruhigend erscheinen will, wenn Deutschland auch keine wirtschaftlichen Forderungen gestellt hat.“55
Wie schlecht es mit den deutsch-russischen Beziehungen tatsächlich stand, hatte das TASS-Kommuniqué auch aus Sicht der englischen Regierung zu erkennen gegeben. Just am Tag seiner Veröffentlichung, dem 13. Juni 1941, sprach Anthony Eden mit Botschafter Maiskij und erklärte im Auftrag seines Regierungschefs Churchill, falls in naher Zukunft zwischen der UdSSR und Deutschland ein Krieg ausbrechen würde, sei seine Regierung bereit, die Sowjetunion im Nahen Osten durch die britischen Luftstreitkräfte voll zu unterstützen, eine Militärmission zu entsenden und die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder auszubauen.56 Daß ein solcher Krieg bevorstand, nahm international langsam den Rang einer Gewißheit ein, nur der exakte Tag stand noch nicht fest und es wurde weiter darum gerungen, wie der jeweilige Gegner als der eigentlich Angreifer dargestellt werden könnte. Für die russische Führung war diese Frage einmal mehr ein „Spiel“, wie Molotov in der Erinnerung mit Blick auf das Kommuniqué vom 13. Juni formulierte: „Es war, so weit ich weiß, Stalins Idee. . . . Es war ein diplomatisches Spiel. Natürlich ein Spiel. . . . Daß die Deutschen nicht antworteten zeigte uns, daß sie eine betrügerische Politik mit uns spielten. Sie wollten der ganzen Welt demonstrieren, 55 56
Zit. n. BA-MA RW 5/52, S. 115. Institut für Militärgeschichte, Weltkrieg, III, S. 423.
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
daß sie legitime Maßnahmen ergreifen würden. . . . Es war eine sehr verantwortliche Maßnahme. Sie zielte darauf, den Deutschen jede Entschuldigung für den Angriff zu nehmen.“57
Als Teil eines diplomatischen Spiels der Schuldzuweisung erfüllte das Kommuniqué nur begrenzt seine Aufgabe, die angesichts der Formulierung zu offensichtlich geworden war, um wachen Beobachtern zu entgehen. Was Molotov ihm abschließend als Wirkung zuschreibt, trifft allerdings zu: „So kam es, daß am 22. Juni Hitler in den Augen der Welt ein Aggressor wurde. Und wir bekamen Verbündete.“58
Insofern war das Kommuniqué nachträglich gerechtfertigt, denn es erfüllte langfristig seinen propagandistischen Zweck, wenn es auch seinen aktuellen politischen Zweck nicht erfüllte, denn eigentlich hätten die Deutschen darauf anspringen sollen, daß sie bisher keine Forderungen gestellt hatten und sollten solche Forderungen jetzt stellen: „Wir mußten sie testen! Natürlich, wenn man es mit derart scheußlichen Leuten zu tun hat, kann man reingelegt werden und nicht alles wird klappen, aber letztlich wurden keine Konzessionen gemacht und der bloße Test war allemal legitim.“59
Molotov empfing Botschafter Schulenburg am Vorabend des deutschen Angriffs noch einmal, um dies anzumahnen. Nach einem Lamento über zahlreiche Grenzverletzungen durch deutsche Flieger drückte er sein Unverständnis darüber aus, daß die deutsche Regierung auf die TASS-Meldung vom 13. Juni nicht reagiert habe. Das gäbe den Kriegsgerüchten neue Nahrung.60 Wie wir noch sehen werden, hatte die deutsche Regierung jedoch bereits informell reagiert, aber nicht mehr über ihren Botschafter. Dies war Teil der großen Kriegslist, mit der das Unternehmen Barbarossa getarnt wurde. Doch auch die UdSSR war nicht untätig geblieben und hatte seit dem Regierungsantritt Stalins alles nötige bereitgestellt, um eine deutsche Reaktion gebührend beantworten zu können. 3. „Sommermanöver“ Sowjetische Angriffsvorbereitungen nach Stalins Regierungsübernahme „Die gegenwärtig stattfindenden sommerlichen Einberufungen der Reservisten der Roten Armee und die bevorstehenden Manöver bezwecken nichts anderes als 57 58 59 60
Zit. n. Molotov, Politics, S. 31. Zit. n. Molotov, Politics, S. 31. Zit. n. Molotov, Politics, S. 32. Vgl. Hilger, Kreml, S. 311.
3. „Sommermanöver“
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eine Schulung der Reservisten und die Kontrolle der Arbeit des Eisenbahnapparats, was, wie bekannt, jedes Jahr erfolgt; infolgedessen erscheint es zum mindesten albern, diese Maßnahmen der Roten Armee als feindselige Aktion gegenüber Deutschland hinzustellen.“ TASS-Kommuniqué vom 13. Juni 194161 „Unter dem Anschein von Übungsmaßnahmen für Soldaten der Reserve ist eine geheime Mobilmachung der Truppe durchzuführen. Unter dem Anschein, in Ausbildungslager auszurücken, sind die Truppen geheim näher zur Westgrenze zusammenzuziehen, vorrangig sind alle Armeen der Reserve des Oberkommandos zusammenzuziehen.“ Aus dem Angriffsplan Marschall Shukovs vom 15. Mai 194162
Bereits im Sommer 1940 hatte sich an der deutsch-sowjetischen Grenze merkwürdiges getan. Während in Westeuropa die englisch-französischen Truppen an der Kanalküste den Rückzug antraten, füllten sich in der Ukraine die Bereitstellungsräume der Roten Armee. Warum nun tatsächlich eine so große Truppenzahl an der russischen Westgrenze stationiert wurde, darüber machten die Sowjets wie gewohnt ausweichende Angaben. Bevor man in diesem Fall auf die Formulierung „Sommermanöver“ kam, hieß es zunächst noch, es seien Vorsichtsmaßnahmen. Siebenhunderttausend Rotarmisten hatte die deutsche Aufklärung in der Ukraine festgestellt. Verwundert hatte man Botschafter Schulenburg gebeten, sich in Moskau den Grund erläutern zu lassen. Einmal mehr machte er sich nach einem Treffen mit Molotov die sowjetische Deutung zu eigen und wiegelte ab, was die Abteilung Fremde Heere Ost nicht überzeugen konnte: „Nach Angaben Molotovs gegenüber dem deutschen Botschafter sollen zwar nur defensive Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden sein. Ob es sich hierbei aber tatsächlich nur um defensive Maßnahmen oder um die Versammlung stärkerer Kräfte für einen offensiven Vorstoß handelt, läßt sich noch nicht übersehen.“63 Zu einer Zeit, in der in Westeuropa die Kämpfe auf dem Höhepunkt waren, konnte die von Schulenburg berichtete Deutung als originell gelten. Es waren die Tage von Dünkirchen. Gerade bewältigten die britischen Truppen einmal mehr einen Rückzug, während sich die deutschen Streitkräfte auf den zweiten Teil des Westfeldzugs vorbereiteten. Europas Staaten hatten ihre Heere mehr als tausend Kilometer entfernt von der russischen Grenze konzentriert. Gegen wen die sowjetische Armeeführung laut Molotov in diesen Tagen in der 61 Aus dem TASS-Kommuniqué vom 14. Juni 1941, zit. n. ADAP, D, XII/2, Dok 628, S. 856. 62 Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 190 f. 63 Zit. n. BA-MA RH 19 III/381, S. 6, Fremde Heere Ost, 27. Mai 1940. Nach einem anderen Bericht soll Molotov gegenüber Schulenburg die Anwesenheit sowjetischer Truppen in diesem Gebiet schlicht geleugnet haben. Vgl. ADAP, D, IX, Dok. 322, 26. Mai 1940.
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
Ukraine eine Dreiviertelmillion Soldaten „defensiv“ zusammenzog, wie Schulenburg treuherzig berichtete, mußte sein Geheimnis bleiben. Ohnehin stellte sich bald darauf heraus, daß die defensiven Maßnahmen den Auftakt zur Erpressung Rumäniens einen Monat später gaben, das nach sowjetischem Wunsch Bessarabien und die Bukowina abtreten sollte. Die Art und Weise, wie hier der sowjetische Außenminister und zu dieser Zeit höchste Regierungsrepräsentant den deutschen Gesandten die Unwahrheit sagte, dem er nach den Bestimmungen des deutsch-russischen Freundschaftsvertrags in Fragen, die das gegenseitige Verhältnis betrafen, eigentlich konsultationspflichtig war,64 ließ schon für 1940 nichts Gutes ahnen. Diese Geschichte wiederholte sich ein Jahr später. Als Teil des von Generalstabschef Shukov entworfenen Vernichtungsschlags gegen die deutschen Streitkräfte in Polen war erneut geplant, die dafür nötigen Truppen im Rahmen angeblicher Sommermanöver aufmarschieren zu lassen. Die Nachrichtenagentur TASS meldete diese Manöver offiziell und auch Vjacˇeslav Molotov bestand in einer ersten Reaktion auf den deutschen Angriff auf „Sommermanövern“ als Motiv für den sowjetischen Aufmarsch.65 Interessanterweise wurde dieses TASS- Kommuniqué etwa vom Kommandeur des Militärbezirks Moskau im nachhinein offen als „Desinformation“ bezeichnet. Man fühlte sich im Schatten dieser Desinformation offenbar sicher und das nicht ganz zu Unrecht. Seit dem Frühjahr liefen in Deutschland Meldungen ein, nach denen die angeblichen „Manöver“ der Roten Armee im Grenzbereich in Wahrheit „ein getarnter Aufmarsch zum Angriff auf Deutschland“ seien. Dies war eine Deutung, die nach Kriegsausbruch noch lange Gegenstand deutscher Analysen darüber war, wie denn die sowjetischen Kriegsvorbereitungen im einzelnen stattgefunden hatten, etwa aus der Perspektive des einfachen Soldaten: „Nur soviel wird allmählich wird auch den Dümmeren klar: Stalins Regierung betreibt ein doppeltes Spiel. Auf der einen Seite spricht sie vom Frieden und paktiert mit Hitler, auf der anderen gibt der Politruk deutlich zu verstehen: Eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus ist unvermeidlich, weil für beide Systeme nebeneinander kein Platz ist. . . . Es folgen große Truppenverschiebungen. Zweck: neue Manöver! Niemand weiß eine Erklärung, und der Politruk schweigt.“66
Und doch herrschte unter hohen Militärs der Wehrmacht im Frühjahr 1941 Skepsis, was die Meldungen über einen als Manöver getarnten sowje64 Nach den Bestimmungen von Artikel III des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags. Vgl. ADAP, D, VII, Dok. 228, S. 206. 65 So Molotov zu Schulenburg am 22. Juni, vgl. Hilger, Kreml, S. 313. 66 Zit. n. BA-MA RW 4/330, S. 15, Fremde Staaten: Rußland, Bericht über die Einstellung sowjet. Kriegsgefangener und die Indoktrination vor Kriegsbeginn, Vortrag, eingegangen am 23.12.41.
3. „Sommermanöver“
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tischen Angriff betraf, auch wenn diese Möglichkeit diskutiert wurde. Es sei „unglaubhaft“, daß die Rote Armee angreifen wolle, notierte Fedor v. Bock, notierte aber stetig weitere militärische Maßnahmen der Roten Armee an der Grenze67 und ging zwei Wochen später dazu über, um einen Befehl zu bitten, daß „im Falle eines russischen Angriffs die Grenze zu halten ist und die dazu nötigen Kräfte näher zur Grenze aufschließen dürfen.“68 Immer noch hielt er einen Angriff aber nicht für wahrscheinlich. So war die Selbstzufriedenheit in der Roten Armee über das angeblich gelungene Tarnmanöver gar nicht völlig unberechtigt: „Ja, wir, und besonders die höheren Militärkreise wußten, daß der Krieg nicht weit weg lauerte, sondern an unsere Türen klopfte. Und doch, so muß man ehrlicherweise zugeben, Desinformation wie das oben erwähnte TASS-Dementi, führte zusammen mit der ständigen Propaganda ‚wenn es morgen Krieg gibt, wenn morgen eine Kampagne sein wird, werden wir schon heute für die Kampagne bereit sein‘, zu einer gewissen Selbstzufriedenheit.“69
Diese Kampagne drückte sich in zahlreichen einzelnen Maßnahmen aus, von denen hier nur einige genannt werden können: – „Am 13. Mai wurden die Wehrkreise angewiesen, die Truppen aus den inneren Wehrkreisen nach Westen vorzuschieben. . . . insgesamt wurden 28 Schützendivisionen und 4 Armeekommandos . . . näher an die Westgrenze geschoben. – Ausländern und Sowjetbürgern, die nicht in Grenzgebieten beheimatet waren, wurde untersagt, in Grenzgebiete einzureisen. – Ende Mai wies der Generalstab sämtliche Befehlshaber des Grenzkreises an, ‚umgehend Befehlsstände einzurichten‘ und sie bis Ende Juni zu belegen. – Die Feldämter sollten zwischen dem 21. und 25. Juni in Paneweschis, ObusLesna, Tarnopol und Tiraspol Stellung beziehen.“70
Der komplette Aufmarschbefehl für den geplanten Südabschnitt der Front ist in der „Weisung des Volkskommissars für Verteidigung und des Chefs des Generalstabs der Roten Armee an den Befehlshaber der Truppen des Kiewer Sondermilitärbezirks“ enthalten.71 Die unterstellten Truppenteile hatten die Aufgabe: 67 Vgl. Bock, KTB, S. 177 f., 11. u. 15. März 1941. Aus Litauen wurden solche Berichte über „Truppenverschiebungen in größerem Umfang“ beispielsweise durch den Umsiedlungsbeauftragten für die Volksdeutschen bestätigt. Vgl. BA-MA RH 2/ 2736. Man mutmaßte im OKW, daß dies nur Teil eines noch nicht bekannten größeren Aufmarsches sei: „Die Div. Gruppen im Baltikum, deren Stärke nicht einwandfrei festgestellt ist, . . ., können als Sicherung von Kräften betrachtet werden, die auf die Venta-, Dubyssa-, Njemen-Linie aufschließen, deren Stärke aber noch unbekannt ist.“ Zit. n. OKW, II, S. 394. 68 Vgl. Bock, KTB, S. 180, 27. März 1941. 69 Zit. n. Nekrich, 22. June, S. 197 f. 70 Zit. n. Maser, Wortbruch, S. 331. 71 Sie datiert vom Mai 1941. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 91.
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
„Nach Anweisung des Oberkommandos rasche Angriffe zur Zerschlagung von Gruppierungen des Gegners zu führen, die Kampfhandlungen auf sein Territorium zu tragen und vorteilhafte Linien zu gewinnen.“72
Dies war im Sinn des Shukov-Plans formuliert. Dementsprechend erhielt diese Gruppierung auch Fernbomberkräfte zugeteilt, denen die Zerstörung der Eisenbahnknoten Breslau, Oppeln und Kreuzburg aufgetragen war.73 Nach Shukovs Vorstellungen sollte Oppeln innerhalb von dreißig Tagen dann von den sowjetischen Bodentruppen erreicht sein. An solchen Plänen arbeitete man bereits seit den dreißiger Jahren. Praktisch im gesamten mittleren und östlichen Teil Deutschlands konnten die Bomberziele seit langem als markiert gelten, wie Dokumente zeigen, die während des Rußlandfeldzugs erbeutet wurden: „Der Oberbefehlshaber der Luftwaffe Führungsstab Ic Nr. 10307/42 geh. (Pol)
H. Qu., den 22. April 1942
Betr.: Sowjetrussische Kriegsvorbereitungen An das Auswärtige Amt – Pol I M – (2x) OKW/Ausland (2x) Hier ist als Beute eine größere Zahl sowjetrussischer Zielunterlagen angefallen, die durchweg in den Jahren 1937 bis 1940 erstellt worden sind. Die überwiegende Mehrzahl der Unterlagen stammt aus dem Jahre 1937. Unterlagen sind für folgende Städte bisher hier vorhanden: Leipzig, Brandenburg, Beuthen, Warnemünde, Zossen, Güstrow, Gera, Deutsch Eylau, Kottbus, Küstrin, Kiel, Kreutz, Kösel, Lauchhammer, Lauta/O. S., Magdeburg, Neuruppin, Neubrandenburg, Nienhagen, Halle, Celle, Stargard, Erfurt, Elbing. Für jedes Stadtgebiet sind 2 bis 8 deutsche Karten im Maßstab 1:100000 bis 1:25000 mit russischen Namensaufdruck für die wichtigeren Stadtteile und umgebenden Orte vorhanden, ferner zum Teil russische Spezialkarten, insbesondere für die Lage von Flugplätzen, sowie Reproduktionen von Lichtbildern von Brücken, Kraftwerken, Rüstungswerken, Flugplätzen und Hafenanlagen. In den Karten sind militärisch und rüstungswirtschaftlich wichtige Objekte eingerahmt und nummeriert. Genaue Zielbeschreibungen liegen gedruckt den meisten Zielunterlagen bei. Das gesamte Material ist ein eindeutiger Beweis für Kriegsvorbereitungen der Roten Armee im Jahre 1937. Das Material kann auf Wunsch zur Einsicht übersandt werden. i. A. (Unterschrift)“74 72 73 74
Zit. n. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 91. Ebd. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 93. Zit. n. BA-MA RW 4/330, S. 249.
3. „Sommermanöver“
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So standen auf der sowjetischen Seite die nötigen Kräfte bereit und waren soweit instruiert, einen deutsch-russischen Konflikt mit einem Militärschlag beginnen zu können. Daß die Luftstreitkräfte der Roten Armee hier eine Schlüsselrolle spielen könnten, hatten deutsche Militärbeobachter im Herbst 1940 im Rahmen eines Manöverberichts gemeldet. Die sowjetische Luftwaffe habe vielleicht aus den Fehlern des Finnland-Krieges gelernt, bereite sich jedenfalls auf neue Ziele in „Westeuropa“ jetzt ganz anders vor: „Jetzt geben die Bolschewiken den Luftstreitkräften der RKKA andere Ziele als im sowjetisch-finnischen Kriege. Das geht klar hervor aus einem Vergleich der Aufgaben, die damals den Luftstreitkräften gestellt worden sind . . ., mit den Aufgaben, die jetzt den Luftstreitkräften bei den letzten Septembermanövern der Luftverteidigung der Stadt Kijew (sic) von den Bolschewiken gestellt worden sind. . . . Die Bolschewiken haben offenbar schnell eingesehen, daß das Belegen der großen, dicht bevölkerten Städte von Westeuropa unmittelbare militärische Ergebnisse haben (kann), da hierdurch die Versorgung zerstört wird und die Arbeiter und Angestellten ermüdet werden, die nicht mehr schlafen können und deshalb bei Tage schlecht arbeiten.“75
Diese Drohung durch die sowjetische Luftwaffe war bereits einige Wochen zuvor erkannt worden und bildete einen hochrangigen Punkt in den ersten Gesprächen über einen Militärschlag gegen die UdSSR: „Russisches Heer schlagen oder wenigstens so weit russischen Boden in die Hand nehmen als nötig ist, um feindliche Luftangriffe gegen Berlin und schlesisches Industriegebiet zu verhindern“ wurden im Juli 1940 als erste mögliche Ziele genannt.76 Hier firmierte die Abwehr der Bedrohung durch die sowjetische Luftwaffe sogar noch vor dem Sieg über die russischen Landstreitkräfte. Es war eine Frage der politischen Führung der UdSSR, den richtigen Zeitpunkt für das Vorgehen gegen Deutschland zu bestimmen. In diesem Bereich hat die stalinsche Entscheidungsfindung wesentliche Fehler begangen, die das Konzept insgesamt verdorben haben, auch wenn wenigstens die Eroberung Berlins, nicht zuletzt dank des Versagens der amerikanischen Militärführung in dieser Frage, noch gelingen sollte.77 Um die Frage, inwieweit sich die russische Führung dabei durch deutsche Kriegslisten täuschen ließ, soll es nun gehen. 75 Zit. n. BA-MA RH 2/2731, S. 166, Bericht „Fremde Heere Ost“ vom 27. September 1940. 76 Vgl. Ueberschär, Angriff, S. 220 und Halder, KTB, II, S. 33. 77 Dwight D. Eisenhower, zu dieser Zeit Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, schenkte Stalin diesen Erfolg ohne Not. Er schrieb im März 1945 persönlich nach Moskau, um ihm mitzuteilen, er würde Berlin nicht sofort angreifen, sondern sich nach Süden wenden. Stalin antwortete, „zweifellos erstaunt, daß ein General sich, noch dazu in einer so wichtigen Frage, an ein Staatsoberhaupt wandte“, er betrachte Berlin auch als zweitrangiges Ziel. Er schickte diese Nachricht an Eisenhower ab, befahl aber der Roten Armee augenblicklich, den Schlag gegen Berlin schnell und mit allen Mitteln zu führen, der eigentlich erst einen Monat später geplant war. Vgl. Kissinger, Vernunft, S. 444 f.
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
4. War Stalin uninformiert? „Alles, was über den ‚Überraschungsangriff‘ geschrieben wurde, ist falsch. Wir kannten den Barbarossa-Plan, bevor er ausgeführt wurde. . . . Alle Geheimdienstberichte zeigten, daß der Konflikt 1941 kommen würde. Mein Vater hatte die deutschen Pläne und Vasilevskij, damals der Chef der Planungsabteilung beim Generalstab, kam oft zu uns nach Hause, um diese Pläne gemeinsam mit ihm zu studieren. Er blieb beinah einen Monat beim NKWD, um ‚Barbarossa‘ zusammen mit einer Gruppe von Offizieren zu studieren. . . . In diesem Zusammenhang zeigte sich Stalin extrem pikiert über die Zusammenarbeit meines Vaters mit dem Militär. Einmal, nachdem er vergeblich versucht hatte, Vasilevskij zu erreichen, während der beim NKWD war, sagte er ihm später: Warum mischt sich das NKWD in Angelegenheiten ein, die nur den Generalstab etwas angehen?“ Sergo Berija78 „Hitler soll Stalin hereingelegt haben? Als Ergebnis dieser Täuschung mußte Hitler sich vergiften, und Stalin wurde Herr der halben Welt!“ Vjacˇeslav Molotov79
Molotov irrte sich im nachhinein in der Beurteilung des sowjetischen Erfolgs. So groß die militärischen Anstrengungen und Erfolge der UdSSR auch gewesen waren, Stalin wurde 1945 nicht der „Herr der halben Welt“. Was ihm blieb, war nüchtern betrachtet lediglich eine Okkupationszone im weitgehend verwüsteten östlichen Mitteleuropa. Die industriellen Zentren dieser Welt in Westeuropa und Deutschland verblieben ebenso unter der Ägide des angelsächsischen Kapitalismus wie Japan, wie die Rohstoffzentren des Planeten im Nahen Osten, in Asien und Afrika, wie die Verkehrswege und die Meerengen. Vereinfacht gesagt, blieb die Welt 1945 so angelsächsisch dominiert wie 1919 und die UdSSR weiterhin lediglich eine große Kontinentalmacht ohne freien Zugang zu den großen Meeren, die nicht ohne weiteren Terror gegen die eigene Bevölkerung eine Herausforderung an den Westen darstellen konnte. Ihre Niederlage in der Auseinandersetzung mit einem vielfach überlegenen Westen war vorgezeichnet.80 Stalins Erfolg blieb damit in vielen Details deutlich hinter dem zurück, was Molotov selbst in Berlin im November 1940 angeboten worden war. Kö78
Zit. n. Berija, Kremlin, S. 64. Zit. n. Molotov, Politics, S. 23. 80 Henry Kissinger spricht der amerikanischen Regierung zur Zeit des KoreaKriegs die Fähigkeit ab, dies so nüchtern analysiert und gesehen zu haben: „Die Vereinigten Staaten trieben keine Realpolitik.“ Vgl. Kissinger, Vernunft, S. 539. Angesichts der Eindämmungsszenarien gegenüber der UdSSR, wie sie bereits während des Weltkriegs entworfen und nach 1945 in Gang gesetzt wurden, scheint dies nicht zutreffend zu sein. Allerdings schuf die Entwicklung von Atomwaffen und Trägerraketen in jenen Jahren einen neuen Rahmen, dessen Drohpotential die Möglichkeiten von Realpolitik genrell in Frage zu stellen schien. 79
4. War Stalin uninformiert?
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nigsberg war ein schwacher Ersatz für einen Hafen am indischen Ozean. Auch Finnland konnte der UdSSR nicht angegliedert werden, wie es Hitler für die Nachkriegszeit in Aussicht gestellt hatte. Im Gegenteil wurde sogar die Okkupation der baltischen Länder von den USA niemals anerkannt, so daß der Bestand des sowjetischen Territoriums 1945 immer noch in Frage stand. Andernorts stand es nicht besser. Persien mußte von sowjetischen Truppen wieder geräumt werden. Die Türkei mit ihren so wichtigen Meerengen wurde Mitglied eines gegen die UdSSR gerichteten Militärbündnisses, so daß sich auch hier die russische Position gegenüber 1940 eher verschlechtert hatte. Dennoch steckt in diesem Irrtum Molotovs ein Stück Wahrheit. Die Behauptung trifft nicht zu, Stalin sei vom deutschen Angriff überrascht worden. Daß dieser Eindruck entstehen konnte, daran war die von Winston Churchill in der Nachkriegszeit verbreitete Legende beteiligt, Stalin habe eine „Warnung“ von ihm ausgeschlagen. Churchill drängte seinen Außenminister und seinen Sonderbotschafter Cripps vehement, das von ihm selbst mit Absicht besonders dunkel und vage formulierte Papier an Stalin zu übergeben, was dann auch geschah. Damit stand der späteren Churchillschen Selbstdarstellung nichts im Weg. Nötig war diese Komödie nicht. Stalin verfügte über zahlreiche Quellen. Pavel Fitin, Chef der sowjetischen Auslandsaufklärung versorgte Stalin permanent mit Informationen über die deutschen Angriffspläne. Über einhundert Warnhinweise von Fitin an Stalin im ersten Halbjahr 1941 sind gezählt worden, wozu noch weitere Meldungen des militärischen Aufklärungsdienstes kamen.81 Nimmt man dazu noch die Hinweise der amerikanischen Administration auf hoher Regierungsebene und die ganz konkreten Warnungen des jugoslawischen Gesandten, nachdem Hitler beim Empfang des jugoslawischen Prinzregenten im April 1941 offen einen Angriff auf die UdSSR angedroht haben soll,82 dann hat Stalin so gut wie täglich einen entsprechenden Hinweis erhalten.83 Es zeugt nach Ansicht mancher Autoren vielleicht von „hoher Charakterstärke“ etwa Pavel Fitins, wenn er dem sowjetischen Diktator ständig solche Berichte lieferte, die dieser angeblich nicht hören wollte und mindestens ignorierte.84 Wahrscheinlich scheint dies jedoch nicht zu sein. Allein die hohe Zahl der Berichte deutet darauf hin, daß Stalin Nachrichten in dieser Richtung sehr wohl hören wollte und angefordert haben muß. Über Gavrilovic´s Hinweis wurde im Kreml offen diskutiert. Sie sollen nur kommen, die Deutschen, 81
Vgl. Andrew, Stalinism, S. 78. Vgl. Barros, Deception, S. 77. 83 Also noch erheblich mehr als die 84 Warnungen, die Heinz Magenheimer angibt. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 88. 84 So die Beurteilung durch Christopher Andrew und Juli Elkner, vgl. Andrew, Stalinism, S. 78. 82
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
reagierte Stalin. „Wir sind bereit“, ergänzte Molotov. Die sowjetische Botschaft in Berlin verbrannte bereits in großem Umfang Dokumente, und die „Abwehr-Nachrichten aus Kreisen der SU-Botschaft“ in Berlin wußten zu berichten, warum: „Die Sowjetunion rechne mit Bestimmtheit mit einem deutsch-russischen Krieg; einer der Russen habe gesagt, dieser Krieg sei unvermeidlich und so sicher wie ‚2 mal 2 (gleich) 4‘ ist.“85 Das Problem der sowjetischen Entscheidungsfindung lag in keinem Fall darin, prinzipiell nicht mit einem deutschen Angriff im Jahr 1941 gerechnet zu haben. „Die Sowjetrussen hätten gesagt, daß sie genau darüber orientiert wären, daß der Führer einem evtl. russischen Angriff zuvorkommen wolle. Auf der anderen Seite aber glaubten die Russen, daß die Chancen für sie als Angreifer günstig sein könnten, da ein sehr starker Teil der deutschen Wehrmacht gegen England gebunden sei.86
Man registrierte diese gute Informationslage auch in der nationalsozialistischen Führung. Der sonst so selbstgewisse Joseph Goebbels zeigte sich getroffen: „Bericht T. O. aus Moskau: darin stehen unsere tiefsten militärischen und diplomatischen Geheimnisse. Ich lasse ihn gleich vernichten. Unsere ganze Tarnung nutzt also doch nicht viel. Stalin wird alles längst wissen.“87
Angesichts dieser Überfülle an Informationen, die Stalin mit Sicherheit vorgelegt hat, kann die Vermutung ad acta gelegt werden, er sei von dem Angriff 1941 überrascht worden. Er war nicht schlechter informiert als die polnische Putzfrau Fedor v. Bocks oder der durchschnittliche Leser der europäischen Tagespresse. Als Gegenargument lassen sich keinesfalls die pünktlichen russischen Lieferungen nach Deutschland anführen, wie das regelmäßig geschieht.88 Dies ist kein stichhaltiges Argument gegen Angriffsabsichten, sondern kann sogar auf das exakte Gegenteil hindeuten, wie ein Blick über die Grenze auf den kommenden Feind sofort anschaulich beweist: „Von Seiten des Führers war die Weisung gegeben worden, daß zur Tarnung des deutschen Aufmarsches die Russenaufträge in Deutschland pünktlichst erfüllt werden müssen.“89
In dem Josef Stalin des Frühjahrs 1941 aufgrund von Schulterklopfen und termingenauen Getreidelieferungen einen friedensgeneigten Menschen 85
Zit. n. BA-MA RW 4/575, S. 39, 2. April 1941. Zit. n. BA-MA RW 4/575, S. 39, 2. April 1941. 87 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 260, 20. April 1941. 88 Klassisch in diesem Sinn und später ungezählte Male „kopiert“ Golo Mann, Vgl. Mann, Geschichte, S. 928. 89 Aus General Thomas’ Entwurf „Grundlagen für die Geschichte der deutschen Kriegs- und Rüstungswirtschaft“, Nürnberger Dokument 2353-PS, hier zit. n. IMT, III, S. 407. 86
4. War Stalin uninformiert?
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zu sehen, mutet vor diesem Hintergrund unbegründet an. Was hier als Argument allzu oft angeführt wird, hatte zwar auf manche Zeitgenossen nachhaltig Eindruck gemacht. Es konnte jedoch ein beliebiges Manöver sein. Die „Umarmung“ Stalins, auf die sich später auch Hitler in den „Tischgesprächen“ noch einmal bezog, fand am 13. April 1941 statt, bei der Verabschiedung des japanischen Außenministers Matsuoka durch Stalin.90 Der Kremlchef ging auf den deutschen Militärattaché Hans Krebs zu, fragte sicherheitshalber noch, aus welchem Land er kommen würde und drückte ihm dann mit beiden Händen die Hand, verbunden mit der Bemerkung: „Wir werden immer Freunde sein, was auch geschehen sollte.“91 Nun war es von Stalin nicht wirklich ein Akt unter Freunden gewesen, kaum eine Woche vorher die jugoslawische Putschregierung zum militärischen Schlag gegen die Achsenmächte zu ermutigen und eine mögliche deutsche Reaktion lachend mit den Worten „sie sollen nur kommen“ in Kauf zu nehmen. Diese Art Schulterklopfen eines vielfach vertragsbrüchig gewordenen – und offenbar betrunkenen92 – Tyrannen für den Ausdruck einer verläßlichen politischen Überzeugung zu nehmen, wie dies in der Literatur zu diesem Thema oft geschehen ist, ist absurd und illustriert mehr die krassen methodischen Defizite der Geschichtsschreibung als die Verhältnisse des Jahres 1941.93 Zuvor waren die mit Stalins Balkanstrategie verbundenen militärischen Kalkulationen nicht aufgegangen. Jugoslawien wurde in diesen Tagen schnell besiegt und die sowjetische Führung hatte insofern Anlaß, sich nun wieder wenigstens plakativ auf eine Freundschaft zu berufen, die durch ihr Verhalten seit dem Sommer 1940 längst zur Farce geworden war. Der Krieg sollte nach Stalins Willen möglichst universell werden.94 Wenn das systematische Anzetteln weiterer Kriege auf dem Balkan daher 90 „Vgl. Rahn, Pazifik, S. 207. Wie alle anderen Pakte dieser Art, brach Stalin allerdings auch diesen. 91 Vgl. Brief Irene Reichenaus mit dem russischen Wortlaut vom 15. April 1941 in: BA-MA MSg 1/1207. 92 Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 257. Nach Einschätzung des bulgarischen Botschafters war Molotov von allen an der Szene Beteiligten noch am wenigsten betrunken. Stalin, den in diesem Zustand offenbar die Glückseligkeit übermannte, ging mit unsicheren Schritten und drückte jedem „Reisenden und den Beamten auf dem Bahnsteig die Hand.“ Vgl. Gafencu, Vorpsiel, S. 211. Bevor Krebs an die Reihe kam, war Stalin dabei so plump auf den japanischen Gesandten eingedrungen und hatte diesem mit breitem Grinsen und unartikulierten „Ah . . . Ah“-Lauten so fest auf die Schulter geklopft, daß er mehrere Schritte zurückstolperte. Matsuoka selbst konnte kaum noch stehen. Vgl. Molotov, Politics, S. 21. 93 Ein Beispiel aus der Memoirenliteratur ist etwa Hans von Herwarth, lange Zeit an der deutschen Botschaft in Moskau, der Stalins Aktion als „dramatischen Beweis seiner friedlichen Absichten“ wertet. Vgl. Herwarth, Zeitgeschichte, S. 214. Aber auch Alan Bullock weist der Szene eine entsprechende Bedeutung zu. Vgl. Bullock, Leben, S. 936.
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
nicht zum erwarteten Ergebnis geführt hatte, ließ es sich möglicherweise in einer anderen Region mit mehr Erfolg praktizieren. Um den Krieg zu einem Weltkrieg werden zu lassen, in den die UdSSR so spät wie möglich eingreifen könnte, stand in Ostasien ein weiterer Konfliktherd bereit. Hier ließen sich zwei Effekte gleichzeitig erzielen, wenn Japan zu einem Krieg gegen die anglo-amerikanischen Positionen in der Region ermutigt wurde. Damit würde Japan zugleich auf diese Richtung festgeschrieben und eine mögliche japanische Invasionsdrohung in Sibirien weitgehend ausgeschaltet sein. Vor diesem Hintergrund hatte Stalin Grund, an jenem Tag gut gelaunt zu sein, an dem er Krebs umarmte. Japans Außenminister Matsuoka, den er am Bahnhof in Richtung Tokio verabschiedete, war auf der Durchreise von Berlin nach Japan gewesen. In Deutschland war ihm in Gesprächen mit Hitler und Ribbentrop deutlich gesagt worden, wie schlecht die Dinge mit der UdSSR gingen und daß ihr Beitritt zum Dreimächtepakt nach den von Stalin vorher gestellten Forderungen nicht in Frage käme. Ribbentrop hatte Matsuoka auf dessen Nachfrage auch ausdrücklich darum gebeten, auf der Rückreise durch Moskau nicht über einen japanisch-sowjetischen Neutralitätspakt zu sprechen.95 Stalin reagierte. Wohl unter dem Eindruck des aktuellen Balkandesasters seiner Politik96 verzichtete er auf die bisher immer wieder gestellte Forderung nach dem japanischen Verzicht auf Rohstoffkonzessionen im sowjetischen Norden der Insel Sachalin.97 Matsuoka konnte mit diesem Ergebnis nach eigener Einschätzung nicht unzufrieden sein und schloß den Neutralitätspakt,98 trotzdem mit dem deutschen Außenminister das Gegenteil besprochen worden war. Japan kehrte dem Kontinent den Rücken zu und bereitete sich auf die Auseinandersetzung mit den angelsächsischen Seemächten vor, gegen deren Einfluß laut Matsuoka auch der japanische Krieg in China ge94 So fast gleichlautend die Bemerkung des sowjetischen Marineattachés in Ankara und die Leon Helphands vom 14. April 1941. Er war 1939/40 sowjetischer Geschäftsträger in Rom und floh später in die USA. Vgl. Barros, Deception, S. 79 bzw. Ciano, Tagebücher, 14. Juli 1940. 95 Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 230, S. 336, Unterredung zwischen Ribbentrop und Matsuoka vom 29. März 1941. Matsuoka bestritt dies später. Ribbentrop habe seiner Ansicht zugestimmt, auf sowjetische Angebote reagieren zu müssen, falls solche kommen sollten. Vgl. ADAP, D, XII/2, Dok. 332, S. 447, 13. April 1941, Unterredung zwischen Matsuoka und Schulenburg. 96 In der japanischen Botschaft in Berlin vertrat man gar die Ansicht, die sowjetische Verhandlungsbereitschaft sei „ausschließlich“ auf die Ereignisse auf dem Balkan zurückzuführen. Vgl. ADAP, D, XII/2, Dok. 408, 26. April 1941. 97 Vgl. Barros, Deception, S. 78. 98 Einem förmlichen sowjetisch-japanischen Nichtangriffsvertrag stand eine entsprechende Verbotsklausel im sowjetisch-chinesischen Vertrag von 1937 entgegen, so daß diese Formel gefunden wurde. Vgl. Slavinsky, Pact, S. 33.
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richtet war. Von Anfang an war diese Neutralisierung der UdSSR das Hauptziel von Matsuokas Reise durch die UdSSR und Europa gewesen. Das hatte er in Moskau verkündet und dort durch einen werbenden Wortschwall über den prinzipiellen „moralischen Kommunismus“ der Japaner bereits auf der Hinreise glaubwürdig werden lassen wollen. Mit dem Neutralitätsabkommen hatte sich die Drohung eines Zweifrontenkriegs für die UdSSR wesentlich verringert. Nach Einschätzung von Beobachtern vor Ort konnte dies als Ziel der sowjetischen Diplomatie während der letzten Wochen gelten. Matsuoka hatte demnach mit seinem Auftritt offene Türen eingerannt. Stafford Cripps notierte Mitte Januar über die Absichten der Sowjetführung: „Im Moment geben sich diese Leute hier noch mehr als undurchschaubare Sphinx wie sonst, und ich zweifle sogar, daß die Deutschen wissen, was sie denken. Es gibt Anzeichen einer neuen Entwicklung mit Japan. Ich denke an einen Versuch, Japan zu einem Krieg mit Amerika zu ermutigen, damit Japan besiegt wird und diese Gefahr beseitigt ist.“99
Konnte Japan sich befreit gegen die USA wenden, standen der UdSSR die Türen Richtung Westen offen. Seit dem 13. April 1941 hatte die UdSSR den Rücken für militärische Operationen gegen Europa frei. „Das neue Abkommen wird der Sowjetunion und Japan erlauben, ihre besonderen historischen Missionen zu erfüllen“, schrieb die Prawda.100 Die von der sowjetischen Verhandlungsführung allein ins Spiel gebrachte Form des „Neutralitätspakts“ war in gewisser Weise sogar noch bindender als ein Nichtangriffspakt, da die Frage des Angreifers ausgeklammert wurde. Dies ergab für beide Parteien eine größere Sicherheit, so weit von Verträgen mit der UdSSR überhaupt noch so etwas wie Sicherheit vor einem russischen Überfall geboten werden konnte. Seit dem Angriff auf das von einem kurz vorher erneuerten polnisch-sowjetisch Nichtangriffspakt geschützte Polen konnte an der fehlenden Vertragstreue der sowjetischen Außenpolitik kein Zweifel mehr bestehen. Das galt um so mehr, als der Nichtangriffspakt mit Polen begleitende Protokolle über die „Definition des Angreifers“ enthalten hatte, die jeden der üblichen Vorwände für eine Agression ausdrücklich ausschlossen.101 99 Cripps in seinem Tagebuch Mitte Januar, hier zit. n. Estorick, Cripps, S. 267. Weitere Einträge in diesem Monat bestätigen diese Beobachtung. 100 Vgl. Gafencu, Vorspiel, S. 214. 101 In den „Londoner Konventionen über die Bestimmung des Angreifers“ hatten 1933 u. a. sowohl Polen wie auch die UdSSR den Angreifer so definiert, daß jeder „Einfall“ oder „Angriff mit Land-, See-, oder Luftstreitkräften, wenn auch ohne Kriegserklärung“ als Aggression zu werten sei und außerdem „keine Erwägungen politischer, militärischer, wirtschaftlicher oder anderer Natur als Entschuldigungsoder Rechtfertigungsgrund . . . gelten“ könnte. Sicherheitshalber hatten die Parteien damals außerdem einen erläuternden Anhang formuliert, der ausdrücklich „die in-
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
Es stand theoretisch keine Unterstützung Deutschlands durch Japan im Fall eines russischen Angriffs zu erwarten. Bereits vorher hatte es zwischen Deutschland und Japan keine Bündnisautomatik gegeben, sondern nur die Abmachung von Konsultationen für den möglicherweise eingetretenen Fall. Jetzt konnten diese Konsultationen nicht mehr ergebnisoffen ablaufen. Sollten die Sowjetunion oder Japan „zum Objekt kriegerischer Handlungen seitens einer oder mehrerer dritter Mächte werden“, dann mußte der andere während der ganzen Dauer des Konflikts Neutralität“ einhalten.“102 Wie alle anderen Pakte dieser Art, brach Stalin allerdings auch den Neutralitätspakt mit Japan, als die Zeit gekommen war. Die Ermutigung der Vereinigten Staaten, die er für diesen Vertragsbruch im Sommer 1945 genießen konnte, warf ebenso wie die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki noch einmal ein abschließendes Blitzlicht darauf, welchen Wert das Völkerrecht „zum Krieg“ und „im Krieg“ in den Augen der Alliierten tatsächlich hatte. Wenn es einen Beweis geben sollte, daß die UdSSR eine ernstgemeinte Entspannungspolitik gegenüber Deutschland verfolgt hat, dann ist er wie gesagt über Ereignisse wie den Auftritt Stalins am Moskauer Bahnhof ganz sicher nicht zu liefern.103 Wenige Tage vorher hatte Stalin den jugoslawischen Botschafter als Zeichen slawischer Solidarität nach orthodoxer Art gesegnet und damit bei seinen Getreuen eher einen Lachanfall ausgelöst. Sein Versprechen, Jugoslawien zu unterstützen, hatte er trotzdem gebrochen. Nützlicher zur Beurteilung der sowjetischen Haltung scheint hier doch ein Blick auf die sowjetische Propaganda gegenüber der eigenen Armee zu sein, denn hier erfolgte die Umsteuerung nach den aktuellen Vorgaben gewohnt schnell. Bald nach der später so berühmten Bahnhofszene übernahm Stalin die Leitung der Regierung und kündigte in einer bekannten Rede vor den Offiziersabsolventen der Streitkräfte einen politischen Kurswechsel gegen Deutschland an. Zwischen dieser Stalin-Rede vom Mai 1941 und der anschließenden Propaganda innerhalb der Roten Armee besteht ein Zusammenhang.104 Für die Beurteilung ihres Inhalts ist es überaus wichtig, nere Lage“ eines Staates, wie „z. B. seine politische, wirtschaftliche oder soziale Ordnung“ und „angebliche Mängel seiner Verwaltung“ als Angriffsgründe ausschloß. Außerdem waren diese Konventionen als Präzisierung des Briand-KelloggPakts gedacht, der daher deren Teil war und damit ebenfalls verletzt wurde. Am 26. November 1938 hatten Polen und die UdSSR in einem gemeinsamen Kommuniqué die Weiterexistenz des Nichtangriffspakts auch unter den veränderten Verhältnissen nach dem Münchener Abkommen ausdrücklich bestätigt. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 71. 102 Vgl. Rahn, Pazifik, S. 207. 103 Es entbehrt deshalb nicht der unfreiwilligen Komik, wenn die Nürnberger Anklage, unmittelbar nachdem sie das deutsche Liefergebaren als bloße Taktik dargestellt hat, mit dem gleichen Argument die Glaubwürdigkeit der russischen Politik wegen pünktlicher Lieferungen beweisen wollte. Vgl. IMT, III, S. 407 f.
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daß unmittelbar nach der Rede, mit Wissen und daher mit der Billigung Stalins, die öffentliche Darstellung der kommenden Dinge umgestellt wurde, um die Öffentlichkeit auf eine bevorstehende militärische Offensive der Roten Armee einzustellen.105 Diese Kampagne wurde unter direkter Federführung der Sekretäre des Zentralkomitees erstellt, Shdanov und Scˇerbakov. Unmittelbar nach der Rede, am 8. und 9. Mai 1941 kamen die führenden Pressevertreter des Landes zu einer Konferenz im Sekretariat des Zentralkomitees unter Leitung Shcherbakovs zusammen. Was Scˇerbakov dabei als neue Linie ausgab, das entsprach vollkommen dem Inhalt von Stalins Vorgaben, so daß dieses Fazit aus Scˇerbakovs Notizen zutreffend ist: „Seit bereit für eine Kriegspolitik.“106 Dazu folgten kurz nach der Instruktion der Printmedien auch gleichlautende Weisungen an Film und Funk. Dabei führte Shdanov im einzelnen folgendes aus: „In ihrer Außenpolitik kombiniert die bolschewistische Führung Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit mit einer Expansion der ‚Front des Sozialismus, jederzeit und überall‘, ‚wenn es die Umstände zulassen‘. An diesem Punkt, um ihn zu unterstreichen, gab er einige graphische Beispiele, forderte das Publikum auf, sich an die Ereignisse 1939–1940 zu erinnern, als die baltischen Länder, die westliche Ukraine und West-Weißrußland und die nördliche Bukowina in die UdSSR eingegliedert wurden. ‚Sie verstehen, . . . wenn sich die Gelegenheit ergibt, werden wir die Grenze des Sozialismus noch weiter ausdehnen.‘ In diesem Zusammenhang formulierte er den Schlüsselsatz: es ist wichtig, den Menschen die Intoleranz gegenüber den ‚Feinden des Sozialismus‘ einzupflanzen und die Bereitschaft, einen ‚entscheidenden Schlag gegen jedes bourgeoise Land zu führen und gegen jede bourgeoise Koalition‘ und die Menschen darüber hinaus ‚in einem Geist der aktiven, kämpferischen, militärischen Offensive‘ zu erziehen.“107
Auch dies ist fast wörtlich das, was Stalin selbst formuliert hat. Es gibt auch einen ausdrücklichen Bezug auf die Rede. Am 26. Mai 1941 schickte A. I. Saporoshets den Sekretären des Zentralkomitees „ein kurzes Papier 104 Über den Vladimir Nevezhin Interessantes veröffentlicht hat. Vgl. Nevezhin: The Syndrome of Offensive War – Soviet Propaganda on the Treshold of „Holy War“, 1997. Dieser Sprachwechsel fand seinen Niederschlag in der Diplomatie. Der am 25. April 1941 neu in Moskau eingetroffene französische Botschafter Gaston Bergery hatte Anfang Mai gegenüber Kalinin für eine Integration der UdSSR in eine europäische Ordnung geworben. Einen Tag später suchte ihn sein sowjetischer Kollege Bogomolov auf und teilte ihm mit, daß die UdSSR sich nicht in ein Europa eingliedern würde, wenn dort ein Land das Sagen habe, in dem die „Arbeiter und Bauern nicht die gleichen Rechte und Vorrechte hätten wie in Rußland“. Vgl. Gafencu, Vorspiel, S. 261. 105 Vgl. Nevezhin, Making, S. 157. Ähnlich auch bereits Volkogonov, Stalin, S. 557. 106 Zit. n. Nevezhin, Making, S. 158. Nevezhin betont, daß Stalins Rede offensichtlich die Vorlage für diese Notiz geliefert hat. 107 Zit. n. Nevezhin, Making, S. 158.
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über die Aufgaben der politischen Propaganda in der Roten Armee, wie sie sich aus der Ansprache des Genossen Stalin vom Mai des Jahres ergeben, wie sie in die allgemeine Direktive des Zentralkomitees eingearbeitet eingefügt worden sind“. Zur Ergänzung schickte drei Tage später der Leiter des Direktorats der politischen Propaganda der Roten Armee108 an Shdanov, Scˇerbakov und Aleksandrov einen darauf beruhenden Redetext über die gegenwärtige außenpolitische Situation der UdSSR. Er bat um Bestätigung, daß der Text den Vorgaben des neuen Kurses entsprach und für Schulungen und Reden im Rahmen der ideologischen Orientierung der Roten Armee verwendet werden könne.109 Damit lagen Anfang Juni die ersten Vorgaben vor, wie die Rote Armee und die Öffentlichkeit auf den von Stalin kürzlich ausgerufenen Offensivkrieg vorzubereiten waren.110 Das gewünschte politische Trainingsprogramm sollte bei den Soldaten den Eindruck erwecken, „als ob wir morgen im Krieg sein werden“.111 Diese Umsteuerungen in der sowjetischen Darstellung blieben in Deutschland nicht unbemerkt, zumal sie auch deutschsprachige Sendungen umfaßten.112 Allerdings konnte die Absicht hinter diesen Programmen nur indirekt erschlossen werden. Anfang Juni hatte der sowjetische Rundfunk eine Kampagne begonnen, die sich gegen das nationalsozialistische System richtete, indem sie verstärkt die angeblichen Vorteile der Sowjetunion hervorhob. Ein Bericht der Wehrmacht gab an, die UdSSR würde in deutscher Sprache als Paradies dargestellt, direkte Angriffe auf Deutschland unterblieben demnach aber zusammen mit den militärischen Aspekten: „Auffallend ist, daß die in den russischen113 Sendungen außerordentlich zahlreichen Berichte über militärische Ereignisse und damit verknüpfte Probleme und die Vorträge militärischer Sachverständiger über irgendwelche Fragen in den deutschsprachigen Sendungen völlig fehlen.“114 Den Ruf, ein Militärstaat zu sein, wollte sich die UdSSR offenkundig vorläufig noch ersparen. Am 20. Juni 1941 schließlich lag der fertige Text für die interne Propaganda der Roten Armee vor und wurde am gleichen Tag 108
Zit. n. Nevezhin, Making, S. 159. Ebd. Nevezhin, Making, S. 159. 110 Nach Berlin drang ein Echo dieses Tonwechsels. Goebbels notierte am 1. Juni, man müsse in der UdSSR wohl in der Klemme sitzen: „Moskau redet plötzlich von der neuen Ethik des Bolschewismus, die in der Verteidigung des Vaterlandes beruhe.“ Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 348, 1. Juni 1940. 111 Formulierung von Malenkow am 4. Juni 1941. Vgl. Erickson, Road, S. 96. 112 Es trifft nicht zu, diese Umsteuerung der Propaganda sei nur „hermetisch“ erfolgt, wie Benno Ennker schreibt. Vgl. Ennker, Lähmung, S. 139 f. 113 Gemeint sind die Sendungen in russischer Sprache für die UdSSR. 114 Bericht über den „Beginn einer russischen Rundfunkpropaganda-Kampagne gegen Deutschland am 2.6.41“, zit. n. BA-MA RW 4/251b, S. 72. Hervorhebung im Original. 109
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zu Georgij Malenkov, Sekretär des Zentralkomiteés, weitergeleitet, sowie zu Timošenko, dem Volkskommissar für Verteidigung und zu Saporoshets. Ebenfalls am gleichen Tag leitete Malenkov die Ausarbeitung dann an den eigentlichen Adressaten weiter: Stalin:115 Dieser Text nun redet von nichts anderem als von einer militärischen Offensive, und zwar einer Offensive der Roten Armee. Auf Basis der Ansicht, der Krieg mit der kapitalistischen Umwelt sei ohnehin unvermeidlich und die Rote Armee, wie Stalin am 5. Mai geschrieben hatte, sei jetzt eine moderne Offensivarmee, war alles vorbereitet, um auf die Ziele des Gründers der UdSSR zurückzukommen, den „Endsieg des Sozialismus“: „Der Leninismus lehrt uns: das sozialistische Land muß von sich aus die militärische Initiative ergreifen und mit dem Ziel der Erweiterung der Grenzen des Sozialismus gegen die kapitalistische Umgebung vorgehen, wann immer es die Umstände erlauben.“116
Dies war sehr deutlich, zumal ein ausdrücklicher Bezug auf Lenins Ansichten über den Endkampf gegen den Imperialismus folgte: „Dies schließt natürlich die Möglichkeit eines Angriffs der UdSSR gegen einzelne kapitalistische Länder nicht aus, so weit sie unsere Sicherheit bedrohen, auch dann, wenn es aktuell keine revolutionäre Situation in diesen Ländern gibt. Aber in jedem Fall wird die UdSSR die Offensive gegen imperialistische Mächte beginnen, um den Sieg des Sozialismus zu verteidigen und die Mission des ersten Arbeiter- und Bauerstaats auszuführen, die kapitalistische Welt um uns herum zu zerstören.“117
Noch konkreter wurde die Direktive des Zentralkomitees über die gegenwärtigen Anforderungen an die Propaganda, die eine ausdrücklichere Rechtfertigung für einen bevorstehenden Angriffskrieg darstellte, da die militärische Schwäche der UdSSR der Vergangenheit angehöre und außerdem die militärische Gefahr „näher als je zuvor“ gerückt sei. Unter diesen Umständen müsse die Leninsche Devise, die UdSSR auf fremdem Boden zu verteidigen, als Maßstab für eine praktische Aktion genommen werden.118 Man müsse, hatte Stalin am 5. Mai. gesagt, „zur bedingungslosen Zerschlagung des deutschen Faschismus“ bereit sein. Die neue Direktive der Hauptverwaltung für politische Propaganda nahm dies und außerdem den ShukovPlan119 in unmißverständlichen Worten auf: 115
Vgl. Nevezhin, Making, S. 159. Zit. n. Nevezhin, Making, S. 160. 117 Rossiskii tsentr khraneniya i izuchenia dokumentov noveishei istorii (The Russian Center for the Preservation and Study of Documents of Contemporary History, cited as RTsKhIDNI) f. 17, op. 125, d. 27, I. 84, hier zit. n. Nevezhin, Making, S. 160. 118 Vgl. Nevezhin, Making, S. 160 f. 119 So ausdrücklich Volkogonov, Stalin, S. 557. 116
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„Die neuen Bedingungen, unter denen unser Land lebt, die jetzige internationale Lage, die voller unvorhersehbarer Möglichkeiten ist, fordern eine revolutionäre Entschlußkraft und eine ständige Bereitschaft, zu einem zerschmetternden Vormarsch gegen den Feind übergehen zu können.“120
Daher sollten die Soldaten im Geist „aktiven Hasses auf den Feind“ erzogen werden, um jederzeit einen ebenso plötzlichen wie vernichtenden Schlag gegen einen im vorhinein bereits zum Haßobjekt stilisierten Gegner führen zu können. „Ständige Bereitschaft wegen der unvorhersehbaren internationalen Lage“ zu zeigen, das bedeutete für die Millionen bereits aufmarschierten Rotarmisten ein klares Signal: es könnte bald losgehen und auch die Richtung stand bereits fest. Die Situation trieb demnach auf den Krieg zu. Die seit der Stalin-Rede im Mai begonnene Stimmungspropaganda gegen Deutschland hatte in der Roten Armee Wirkung hinterlassen, meldete ein Geheimbericht aus Bukarest am 9. Juni 1941. Unter den russischen Offizieren „ist eine ganz starke Deutschfeindlichkeit zu beobachten. In einzelnen Fällen haben in der politischen Schulung russischer Soldaten die Offiziere Hetzreden gegen Deutschland gehalten und dabei einen nahe bevorstehenden Krieg gegen Deutschland angekündigt. Gleichzeitig drohten sie, Sowjetrußland würde ganz Rumänien besetzen und bis Bukarest marschieren.“121 Für sich genommen, wäre dies bereits ein bedenkliches Signal über die Absichten der sowjetischen Führung mit einer derartig eingestellten Armee, aber kein entscheidendes. „Die Truppe ist von Angriffsgeist erfüllt“, gehörte zu den allgemein lobenden Feststellungen, wie sie nach einer gelungenen Übung in der Wehrmacht ebenfalls zu hören waren. Diese Sowjetpropaganda ging jedoch wegen der konkreten Ausrichtung auf Deutschland als Feindbild darüber hinaus und wurde von flankierenden Maßnahmen begleitet. Ganz im Sinn dieser neuesten Direktiven machten sich die Verantwortlichen vor Ort ihre Gedanken. Die Aufzeichnungen des Chefs der politische Propaganda der 5. Sowjetarmee, Uronov wurden später von deutschen Truppen erbeutet. Sie enthielten einen „Plan für die politische Sicherung der Armee-Operationen beim Angriff.“122 Uronovs Überlegungen geben deutlich den Einfluß der stalinschen Formulierungen vom Mai wieder, gerade dort, wo Mutmaßungen über den ins Auge gefaßten Gegner angestellt werden. Er wird als schwer zu schlagen geschildert, aber seine in diesem 120
Zit. n. Volkogonov, Stalin, S. 557. Zit. n. BA-MA RW 5/52, S. 53, 9. Juni 1941. 122 Zit. n. BA-MA RW 4/251b, S. 162. Hervorhebung im Original. Schreiben aus dem Armee Oberkommando 6 Ic/AO Nr. 243/41 A. H. Qu., den 10.7.41. Darin „Übersetzungen von Aufzeichnungen des Chefs der polit. Propaganda der 5. Sowjetarmee. Original wurde unter A. O. K. 6 Ic/AO Nr. 2422/41 dem OKH, GenSt d H, Abt. Fremde Heere Ost vorgelegt.“ 121
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Krieg bisher bereits erzielten großen Erfolge könnten ihm auch zum Nachteil werden: „Die Truppen der Roten Armee werden einem starken, organisierten und disziplinierten Feind begegnen. Es ist notwendig, dem Feind einen starken, blitzartigen Schlag zu versetzen, um die moralische Widerstandskraft der Soldaten rasch zu erschüttern, die im ersten Jahr des Krieges künstlich gehoben worden ist durch die erfolgreichen, blitzartigen Operationen auf den einzelnen Kriegsschauplätzen (Polen, Norwegen, Dänemark Holland, Belgien, Frankreich). Ein blitzartiger Schlag durch die Rote Armee wird zweifellos ein Anwachsen und Vertiefen der bereits sich bemerkbar machenden Zersetzungserscheinungen im feindlichen Heer zur Folge haben.“123
Diese angenommenen Zersetzungserscheinungen hatte Stalin kurze Zeit vorher am 5. Mai als deutsche Arroganz gekennzeichnet und einen wesentlichen Teil seiner Argumentation darauf aufgebaut. Wie Frankreich nach dem Sieg im ersten Weltkrieg zu selbstsicher und nachlässig gewesen sei, sollte nun Deutschland nach den militärisch glanzvollen Erfolgen von 1940 seinem eigenen Übermut zum Opfer fallen. Zieht man den Leichtsinn mit in Erwägung, der in Formulierungen wie jener im Operationsentwurf von Generalmajor Erich Marcks zum Ausdruck kommt, „die Russen“ würden „uns nicht den Liebesdienst eines Angriffs erweisen“, lagen die sowjetischen Theoretiker mit ihren Spekulationen gar nicht völlig falsch. In den Planungen der Wehrmachtsführung blieb neben Respekt vor der Zahl des Gegners und der Weite des Raums immer ein Selbstvertrauen kennzeichnend, das wie sich zeigen sollte, nicht ganz gerechtfertigt war. Man hatte auf sowjetischer Seite durchaus die Absicht anzugreifen und verstand das keineswegs als Dienst am deutschen Gegner, sondern als entscheidenden Vorteil, militärisch wie in moralischer Hinsicht. Uronov rechnete mit dem Wohlwollen der Bevölkerung: „Im Allgemeinen werden die Kampfhandlungen sich auf dem Gebiet des Feindes abwickeln und zwar unter für die Rote Armee günstigen Voraussetzungen, besonders dort, wo die ukrainische und jüdische Bevölkerung vorherrscht (Bezirk Cholm und nördlich davon).“124
Lublin zählte Regierungskommissar Uronov ebenfalls zum von ihm zu betreuenden sowjetischen Operationsgebiet und kalkulierte Schwierigkeiten wegen der dortigen ukrainischen Nationalisten mit ein.125 Er traf bereits Vorbereitungen für die Gefangenenlager und plante als Auflage für Zeitungen in den „ersten Tagen“: 123 124 125
Zit. n. BA-MA RW 4/251b, S. 162. Hervorhebung im Original. Zit. n. BA-MA RW 4/251b, S. 162. Ebd. BA-MA RW 4/251b, S. 162.
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
„russisch 200.000 deutsch 50.000“126
Zur Unterstützung auch solcher Maßnahmen im neu eroberten Gebiet waren nahe der Grenze bereits gesonderte Einheiten stationiert worden, wie die deutsche Aufklärung kurz vor dem Angriff feststellte. Luftlandetruppen sollten den Weg bereiten, meldete ein Agent aus dem sowjetisch besetzten Teil Vorkriegspolens: „Fallschirmjäger tragen Zivil oder Uniform . . . etwa 1500 Mann in Zivil mit Pistolen größeren Kalibers bewaffnet, Sprengmaterial und teilweise Fahrräder. Es sind junge Leute, auch Juden aus dem ehemaligen Polen, die deutsch und polnisch sprechen und in Rußland geschult wurden. . . . Es ist bekannt, daß alle die Aufgabe haben, Militärobjekte, Brücken, Bahnstrecken und Straßen zu vernichten, Wälder abzubrennen, Deutsche und solche, die für sie gearbeitet haben, zu erschießen.“127
Es fehlte jedoch noch ein wesentliches Detail. Man hatte in Berlin bisher Stalins Provokationen auf dem Balkan ignoriert und auch jede andere diplomatische Sondierung soweit zurückgefahren, daß es nicht zu Mißverständnissen kommen konnte. Mit einem Hinweis auf die deutschen Truppenkonzentrationen hätte Stalin im Prinzip ebenso ein Argument für einen „Präventivkrieg“ präsentieren können, wie dies später Teil der deutschen Begründung für den Angriff war. Dennoch war es besser, einen sichtbaren Bruch des deutsch-sowjetischen Verhältnisses zu provozieren, um einen Krieg für die Öffentlichkeit einsehbarer zu machen. Dazu würde ein vorgeblicher Erpressungsversuch der deutschen Seite gut geeignet sein. Am deutschen Aufmarsch gab es in der sowjetischen Führung längst keinen Zweifel mehr. Nicht nur Stalin sprach gut gelaunt davon, sie möchten ruhig kommen, auch Mikhail Kalinin malte sich bereits künftige Erfolge aus: „Die Deutschen machen sich fertig, um uns anzugreifen, aber wir sind bereit. Je eher sie kommen, desto besser: Wir werden ihnen die Hälse umdrehen.“128
Man ging auf russischer Seite davon aus, für den optimalen militärischen Sprung an der Grenze bis zu zwei Wochen Vorbereitung zu benötigen.129 Der Zeitpunkt, an dem diese Frist beginnen sollte, war schwer zu bestimmen und dies stellte das zentrale Problem dar. Für ein Anlaufen dieser Frist würde ein absehbar präsentierbarer Kriegsgrund nötig sein. Man wartete daher auf ein deutsches Ultimatum, auf irgendwelche Forderungen, die in die126 Zit. n. BA-MA RW 4/251b, S. 163. Vgl. auch BA-MA RW 4/329, dort weitere Übersetzungen des Schriftstückes. 127 Vgl. BA-MA RW 4/328, OKH/GenStdH/OQuIV/Fremde Heere Ost, Sowjetrußland, 9. Juni 1941, hier zit. n. Arnold, Besatzungspolitik, S. 434. 128 Kalinin am 5. Juni 1941, zit. n. Petrov, Historians, S. 253. 129 Vgl. Volkogonov, Stalin, S. 547.
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sem Sinn verwertbar wären. Unter dem Schutz des TASS-Kommuniqués waren die Truppen an der Grenze aufmarschiert. Sie sollten zu geeigneter Zeit angreifen. Den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, würde Aufgabe der Politik sein. Das oft strapazierte Argument, die sowjetische Truppenstationierung selbst hätte den Angriff unvermeidlich gemacht, weil Mensch und Material in diesen Stellungen im kommenden Winter nicht zu versorgen gewesen seien, kann hier nicht entscheidend sein. Zweifellos bedeutete die Stationierung einer Millionenarmee in den wirtschaftlich schwach entwikkelten Ostgebieten der polnischen Vorkriegsrepublik angesichts der mangelnden Verkehrsinfrastruktur eine große logistische Herausforderung. So wurde denn auch Material nicht rechtzeitig geliefert und bereits vor dem Ausbruch des Krieges litten sowjetische Einheiten an Hunger und Unterversorgung.130 Dies war nicht das erstemal der Fall. Schon während früherer Kriege nahm die sowjetische Armeeführung auf die eigenen Soldaten keine Rücksicht. Im Januar 1940 meldete die Abteilung ‚Fremde Heere Ost‘, es habe während des gerade geführten finnisch-russischen Winterkriegs bei der Roten Armee allgemein extreme Versorgungsschwierigkeiten gegeben: „Bei einer Division sind Todesfälle durch Hungerschwellungen eingetreten.“131 Dies geschah wohlgemerkt bei einer Roten Armee im Angriff, die den Krieg gegen Finnland zu einem selbstgewählten Zeitpunkt eröffnet hatte. Der deutsche Angriff des Sommers 1941 und die sowjetische Abwehrtaktik der „Verbrannten Erde“ ruinierte die Verkehrswege im Grenzgebiet dann völlig. Die Versorgung war somit noch weiter erschwert und die meisten Rotarmisten gerieten in unterernährtem Zustand in Kriegsgefangenschaft.132 Dies alles kann jedoch kein Beweis für einen Zwang zum sowjetischen Angriff vor dem Winter sein. Abgesehen davon, daß die Unterversorgung der eigenen Soldaten sich in die allgemeine Kriegsführung der Roten Armee einfügte, die auf das Leben der Untergebenen generell wenig Rücksicht nahm, hatte die Führung der UdSSR in der Vergangenheit sogar mit absichtlich erzeugten Hungerkatastrophen Politik im eigenen Land betrieben. Hohe Verluste, die für den Fall einer Überwinterung in diesen Positionen gegebenenfalls zu erwarten gewesen wären, konnten in Stalins Sicht si130 Im April 1941 wandten sich Mitglieder des Kiewer Militärbezirks an den Generalstabschef Shukov und erklärten, daß die für die Mobilmachung vorgesehenen Depots der westlichen Gebiete der Ukraine über keinerlei Nahrungsmittelvorräte verfügten. Vgl. Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums (ZAMO) F. 131, op. 12 516, d. 2, 1.10–11, hier zit. n. Stoecker, Koloß, S. 166. 131 Zit. n. BA-MA RH 19 III/380, S. 74, Bericht vom 19. Januar 1940. 132 Dies hat das Massensterben unter den sowjetischen Kriegsgefangenen mit verursacht, das wegen der logistischen Katastrophe der deutschen Versorgung trotz gegenteiliger Anordnungen Hitlers nicht vermieden werden konnte. Vgl. Arnold, Besatzungspolitik, S. 408 f.
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IV. Die Sowjetunion als Eisbrecher der Weltpolitik
cher kein Argument abgeben, sich von diesen Stationierungen zu einer Angriffsentscheidung zwingen zu lassen, die er nicht auch aus anderen Gründen für richtig befunden hatte. Zudem müssen auch – und gerade – kämpfende Armeen in jedem Fall im Winter versorgt werden können und diese Jahreszeit notgedrungen im Freien verbringen. Dennoch hatte die sowjetische Führung offenkundig die Absicht, diese Truppen den Winter 1941/42 nicht in ihren Bereitstellungsräumen verbringen zu lassen, sondern weiter westlich. Dies ist bisher bereits deutlich geworden und die weitere Darstellung wird diesen Eindruck verstärken. Folgen wir aber zunächst den Aktivitäten der anderen Kriegsparteien, denn der deutsch-russische Krieg von 1941 wurde nicht nur durch Spannungen zwischen beiden Ländern verursacht, sondern spielte eine Rolle innerhalb des großen Gesamtkriegs, den Deutschland nicht beenden konnte, trotz der Anläufe dazu, die hier im weiteren geschildert werden.
V. Friedensfühler 1. Der Literat als Premier „Ich halte es aber gar nicht für ausgeschlossen, daß Churchill nach irgendeinem Ereignis, . . . genau das Gegenteil von dem tut, was er bisher getan hat. Ein Hemmnis in dieser Richtung ist, daß die Akteure das Staatsgerichtsverfahren vor Augen haben, wenn das Spiel aus ist. Sowie erst einmal publik wird, was wir angeboten haben, gibt es in England einen Aufruhr sondergleichen!“ Adolf Hitler1
Wie bereits erwähnt, entsprach die spätere Stilisierung der britischen Situation von 1940/41, „allein“ gestanden zu haben, keineswegs der aktuellen Realität dieses Jahres. Das wußte der englische Premier. Jedes der Dominien des Empire stellte im Gegensatz zu den mit Deutschland verbündeten Staaten, die dem Land hauptsächlich Kosten verursachten, einen echten Gewinn dar. Die englische Präsenz in den sonstigen Besitzungen und den anderen Teilen der Welt rundete das Bild eines Landes ab, dem praktisch die gesamten Hilfsquellen des Globus zur Verfügung standen. Reichte dies immer noch nicht aus, so gab es weitere Optionen. Churchill war gerade eine Woche im Amt und der Zusammenbruch Frankreichs noch keine mit letzter Klarheit beschlossene Sache, als er bereits verkündete, wer noch in den Krieg hineingezogen werden könnte, um die englische Sache zum Sieg zu führen. Es waren dies die Vereinigten Staaten.2 Eine Niederlage konnte England aus eigener Kraft vermeiden, für einen Sieg über Deutschland aber konnten die Hilfstruppen gar nicht groß genug sein. Als sich Ende Mai 1940 bereits deutlicher anzudeuten begann, Frankreich würde den Krieg nicht durchstehen, stellten die britischen Stabschefs dem Kabinett ein Memorandum vor, in dem zwei Bedingungen für einen englischen Sieg genannt wurden: Der erfolgreiche Ruin der deutschen Ökonomie durch eine Blockade Europas und die rückhaltlose finanzielle und ökonomische Unterstützung durch die USA.3 Auch wenn seine persönlichen Kontakte mit Roosevelt zeitig begonnen hatten und obwohl eine Koalition der beiden angelsächsischen Mächte im 1
Zit. n. Hitler, Monologe, S. 383, 2. September 1942. „Ich werde die Vereinigten Staaten mit reinziehen,“ ließ er seinen Sohn Randolph am 18. Mai 1940 als ein Rezept für den Sieg wissen. Vgl. Cave Brown, Servant, S. 257. 3 Vgl. Hill, Decisions, S. 183. 2
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V. Friedensfühler
nachhinein wie eine ganz natürliche, ja beinah vorprogrammierte Angelegenheit wirken sollte, blieb Churchill doch immer mißtrauisch genug, um den Erfolg seiner Bemühungen nicht nur den Beziehungen zum Präsidenten oder der Eigendynamik kultureller Verbundenheit anzuvertrauen. Dramatische Kriegsereignisse müßten die Stimmung in den USA zusätzlich nach oben treiben. So reagierte der Premier ehrlich enttäuscht, als die abgefangenen Nachrichten aus Deutschland die Gewißheit brachten, daß auf Anordnung Hitlers in Großbritannien vorläufig keine zivilen Ziele angegriffen werden sollten. „Ich sehe ihn heute noch“, erinnerte sich Charles de Gaulle, „wie er eines Tages im August in Chequers die Faust gegen den Himmel hob und rief: ‚Sie kommen also nicht!‘ – Haben Sie es so eilig, sagte ich, Ihre Städte in Trümmern liegen zu sehen? – Begreifen Sie, erwiderte er, daß die Bombardierung von Oxford, Coventry und Canterbury in den Vereinigten Staaten eine solche Woge der Empörung aufpeitschen wird, daß sie in den Krieg eintreten werden!“4 Von solchen Sorgen sah sich Churchill dann befreit, als der Fehlwurf eines einzelnen deutschen Flugzeugs endlich den propagandistischen Anlaß zur Auslösung angeblicher Vergeltungsflüge auf Berlin lieferte. Sie fanden Ende August 1940 statt, und obwohl die deutsche Seite eine Zeit lang nicht reagierte, gelang es später doch, die Mythen über den Zweiten Weltkrieg auch um die Legende zu bereichern, die deutsche Luftwaffe hätte mit dem Bombardement ziviler Ziele begonnen. Churchill selbst bezeichnete den von ihm sehnlichst erwarteten und befohlenen Angriff auf Berlin als „Vergeltungsangriff“,5 ungeachtet dessen, daß die englische Regierung die Bombardierung deutscher Städte bereits einen Tag nach seinem Regierungsantritt am 11. Mai genehmigt hatte. Churchill vertraute zusätzlich zu diesen öffentlichkeitswirksamen Schachzügen einem umfangreichen Agentennetz in den USA, das die vorhandenen Isolationistischen Neigungen möglichst dämpfen sollte.6 Auch auf offizieller Ebene war es selbstverständlich, der Roosevelt-Administration gegenüber in keinem Fall ein objektives, sondern ein möglichst „düsteres“ Bild von Deutschland und dessen Absichten zu zeichnen, damit der gewünschte 4
Vgl. de Gaulle, Memoiren, S. 94/94, sowie Schmidt, Heß, S. 115. Vgl. Churchill, Weltkrieg, II/2, S. 34. Vor dem Parlament gab er am 5. September eine Schilderung seines Mitgefühls für das Leid der englischen Bevölkerung, die angesichts dessen, was er wenige Tage vorher zu de Gaulle gesagt hatte, besonders zynisch wirkt: „Es ist für mich sehr schmerzlich, wenn ich, wie mir das auf meinen Reisen durch das Land geschehen ist, ein kleines englisches Haus oder ein Geschäft vom Feinde zerstört sehe.“ Zit. n. Churchill, Weltkrieg, II/2, S. 43. 6 Dieses Agentennetz entbehrte nicht manchem pittoresken Detail, so etwa dem, den späteren James-Bond-Erfinder Ian Fleming als Mitarbeiter zu haben. Churchill verfolgte die Geheimdienst-Angelegenheiten generell mit Leidenschaft und ließ sich jeden Morgen um neun Uhr von „C’ (Stewart Menzies) über den Stand der Dinge informieren. Vgl. Cave Brown, Servant, S. 291 bzw. S. 317. 5
1. Der Literat als Premier
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Effekt erzielt werden konnte und Amerika in den Krieg eintreten würde. In diese Operationen wurden auch die Hohen Kommissare der Dominien eingespannt.7 So konnte es kommen, daß Churchill die wirkliche Situation gerade gegenüber dem jugoslawischen Ministerpräsidenten angemessener darstellte als gegenüber dem amerikanischen Präsidenten: „Daß Hitler und Mussolini am Ende unterliegen werden, ist sicher. Kein klarsichtiger und weitblickender Mensch wird dies angesichts der von den Demokratien Großbritannien und Nordamerika bekanntgegebenen festen Entschlüsse bezweifeln. . . . Die Völker des Britischen Reichs und der Vereinigten Staaten zählen allein in den Mutterländern und den englischen Dominien 200.000.000 Menschen. Wir beherrschen unangreifbar die Meere, und die unbedingte Luftüberlegenheit wird mit Hilfe der Vereinigten Staaten in Kürze errungen sein. Das britische Reich und die Vereinigten Staaten verfügen über größeren Reichtum und weit mehr Rohstoffe, ihrer beider Stahlproduktion übertrifft die der ganzen übrigen Welt.“8
Diese Betrachtungen sollten als Propaganda dienen, um Jugoslawien in eine Einheitsfront gegen Deutschland mit einzubeziehen, aber sie spiegelten die tatsächliche Lage wider. Nur einen Tag später traf Franklin Roosevelts Sondergesandter William Donovan in Belgrad ein, um klarzustellen, daß die USA dies genauso sehen würden.9 Hitler seinerseits war dies ebenfalls bewußt. Er kalkulierte die teuren Kosten für einen englischen Sieg über Deutschland als alleiniges Abschreckungsmerkmal für die englische Politik ein und hob gleichzeitig auf allen Ebenen hervor, nichts von den englischen Interessen gefährden zu wollen. Churchill wußte dies, wie er in seinen Memoiren mit Bezug auf Rudolf Heß schrieb. Heß kenne „Hitlers innerste Gedanken: den Haß auf Sowjetrußland, die Besessenheit, den Untergang des Bolschewismus herbeizuführen, die Bewunderung für Großbritannien verbunden mit dem ernsten Wunsch, mit dem Britischen Reich Freundschaft zu schließen, und schließlich die Verachtung für fast alle anderen Völker.“10
Zur Beurteilung von Churchills politischem Wollen ist dabei weniger wichtig, ob er Hitlers Gedankenwelt an dieser Stelle vollständig oder richtig erfaßt hat.11 Wichtiger ist die zutreffende Feststellung, daß der englische Premier von einem „ernsten Wunsch“ Hitlers nach Verständigung mit Eng7 Vgl. Colville, Tagebücher, S. 111, 31. Mai 1940 und Cave Brown, Servant, S. 258. 8 Churchill an Zwetkovic am 22. März 1941, hier zit. n. Churchill, Weltkrieg, III/ 1, S. 195. 9 Donovan hatte sich diesbezüglich auch mit Churchill abgesprochen. 10 Zit. n. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 70. 11 An dieser Stelle hat Churchill indirekt auch zugegeben, daß Heß vom bevorstehenden Konflikt mit der UdSSR gesprochen hat, was von englischer Regierungsseite immer wieder bestritten worden ist. (s. u.) Die in Nürnberg vorgelegte, gekürzte Aufzeichnung über die Aussagen von Heß in der Woche nach seiner Landung am 10. Mai 1940, erwähnt Rußland beispielsweise nicht. Vgl. Castello, Days, S. 440.
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V. Friedensfühler
land ausging und sein Land selbst außerdem für in der Lage hielt, Deutschland selbst nach einer Niederlage der UdSSR immer noch mit der Aussicht auf einen Sieg entgegentreten zu können. Er befand sich also nach eigener Ansicht in einer Position der Stärke. Daß es dennoch keine Möglichkeit gab, seine politischen Ziele auf anderem Weg als über einen Krieg zu erreichen, lag in der Natur von Churchills Zielen selbst. Er wollte das Einzige erreichen, was die deutsche Regierung ihm nicht anbieten konnte: die Möglichkeit zur völligen Neugestaltung der mitteleuropäischen Verhältnisse über eine Neuregelung der bestehenden Grenzen. Das lief auf eine Auflösung Deutschlands hinaus, die von keiner politisch relevanten Kraft in Deutschland akzeptiert wurde, auch nicht von den Oppositionskreisen verschiedener Couleur. An dieser Absicht Churchills änderte sich nichts, wenn später nach dem Heß-Flug die deutsche Bombardierung Englands für zwei Monate eingestellt wurde, ob als Geste des guten deutschen Willens gegenüber dem Empire, wie Josef Stalin dachte,12 oder um Munition für größere Aufgaben zu sparen. Es gab keine denkbaren Angebote, auf die der Premier Churchill eingehen wollte. Am 6. Juni 1940, mitten während der Diskussionen um einen möglichen französischen Waffenstillstand mit Deutschland, verkündete er wahrheitsgemäß, „die englische Regierung würde unter keinen Umständen an Gesprächen über Waffenstillstand oder Frieden teilnehmen.“ Daran hielt sich Churchill auch, hierin Neville Chamberlain nicht ganz unähnlich, der als sein Vorgänger im Regierungsamt deutsche Friedensangebote mehr gefürchtet hatte als Luftangriffe und nur einmal im Frühjahr 1940 gegenüber dem stellvertretenden amerikanischen Außenminister Sumner Welles in diesem Punkt schwankend geworden war. Welles hatte die englische Regierung damals mit der Perspektivlosigkeit ihrer zentralen Forderungen konfrontiert. Statt darauf zu warten, bis eine deutsche Regierung vom Himmel fiel, zu der man in London Vertrauen entwickeln könnte, sollte nach seinen Vorstellungen an konkreten Friedensschritten gearbeitet werden. Chamberlain hatte zwei Tage über Welles Denkansätze sinniert, sich mit Außenminister Halifax abgesprochen und war seinerzeit bereit gewesen, wesentliche Teile davon zu akzeptieren und teilweise darüber hinauszugehen. Dies betraf drei Komplexe: die Rüstungsfrage in einem umfassenden Sinn, die Möglichkeit gegenseitiger Vertrauensbildung und die territorialen Notwendigkeiten. Was letzteres anging, so skizzierte Chamberlain die Umrisse einer Friedensregelung nahezu in den gleichen Konturen, wie sie auch Göring und Hitler gegenüber Welles gezeichnet hatten. Er drückte die Überzeugung aus, ein dauerhafter Friede könne den Einschluß Danzigs und der wirklich deutschen Minoritäten innerhalb des alten Polen umfassen und gab auch zu erkennen, den Status quo in Österreich und dem Sudeten12
Vgl. Brown, Field, S. 557.
1. Der Literat als Premier
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land akzeptieren zu wollen.13 Dies blieb eine Ausnahme, da die Regierung Chamberlain diesen Worten keine Taten folgen ließ, eine in diesem Sinn folgende Friedensinitiative Roosevelts ablehnte und mit der Invasion Nordnorwegens versuchte, über die militärische Eskalation doch noch zum leichten Sieg über Deutschland zu kommen.14 Diese Sorgen über mögliche Kompromisse mit Deutschland blieben auch nach dem öffentlichen Friedensangebot Hitlers vom 19. Juli erhalten, das parallel von der Übermittlung detaillierter Friedensbedingungen über den englischen Botschafter in Washington begleitet worden war. Duff Cooper, einer der Hardliner in der englischen Regierung, hielt eine fortgesetzte deutsche Friedensoffensive wenige Tage nach Hitlers Rede vor dem Kabinett für „gefährlicher als eine Invasion“. Duff Cooper gehörte zu jenem Kreis, denen in Deutschland schon länger die Absicht zu einem Krieg gegen Deutschland unterstellt worden war. „Es braucht nur in England statt Chamberlain Herr Duff Cooper oder Herr Eden oder Herr Churchill zur Macht kommen, so wissen wir genau, daß es das Ziel dieser Männer wäre, sofort einen neuen Weltkrieg zu beginnen,“15 hatte Hitler kurz nach dem Münchener Abkommen öffentlich erklärt. Man müsse dem englischen Volk dringend irgend etwas bieten, was als ein Kriegsziel erscheinen könnte, das mehr als die Restauration der Verhältnisse nach dem Vertrag von Versailles bedeuten würde, sagte Cooper jetzt. Es könne sich sonst schlimmstenfalls gegen die Regierenden wenden, ebenso wie die neutralen Staaten in einem attraktiven deutschen Angebot zur Neustrukturierung Europas vielleicht eine Option sehen würden, die daher dringend von einer englischen Erklärung über die eigene Vorstellung bezüglich eines europäischen Verbunds öffentlich gekontert werden müßte. Dies gestaltete sich dann gar nicht so leicht, denn die vom deutschen Wirtschaftsminister Funk vorgestellten Planungen über den gemeinsamen europäischen Großraum sahen dem zum Verwechseln ähnlich, was der berühmteste Wirtschaftsfachmann Großbritanniens, John Maynard Keynes für empfehlenswert hielt. Als ihm Harold Nicolson einige Presseberichte über Funks Neuordnungspläne zuspielte und ihn zu einer negativen Stellungnahme aufforderte, erhielt er von Keynes eine überraschende Antwort: „Nimmt man ernst, was Funk vorgeschlagen hat, dann ist das ein exzellenter Plan und in der Tat genau das, was wir selbst planen sollten. Will man also Kritik daran üben, dann kann es nur um die Glaubwürdigkeit gehen“, demnach nicht um den Inhalt.16 13 14 15 16
Vgl. FRUS 1940, I, S. 88/89. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 367. Zit. n. Domarus, Reden, I, S. 964, 9. Oktober 1938. Vgl. Kettenacker, Friedenssicherung, S. 95.
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V. Friedensfühler
Auch wegen solcher Erkenntnisse blieb die englische Propaganda in der nächsten Zeit sehr darauf fixiert, die Vertrauenswürdigkeit der deutschen Regierung in Zweifel zu ziehen und wo das nicht reichte, zu Volksverhetzung überzugehen, wie Robert Vansittart dies besonders befürwortete. Haß sollte die Brücke sein, auf der man das englische Volk zum Sieg über Deutschland führen konnte. Jede Diskussion über die tatsächlich ständig vorgebrachten deutschen Friedensfühler konnte aus Sicht Churchills in eine politische Katastrophe münden, würde doch ohne jeden Zweifel sichtbar werden, daß die von ihm ständig suggerierte Alternativen der Art „Sieg oder Tod“ bzw. „Standhalten oder Sklaverei“ eher seiner eigenen Phantasie entstammten, als daß sie einen realen politischen Hintergrund hatten. So beobachtete Churchill mit ausgesprochenem Widerwillen eine unter Mitarbeit von Duff Cooper und Lord Halifax erarbeitete Kabinettsvorlage, in der die möglichen Inhalte eines Kompromißfriedens skizziert waren. Am 23. August 1940 lag sie auf dem Tisch. Man sprach darin von „vier europäischen Großmächten“, die den Kontinent dominieren sollten. Das entsprach den langgehegten Plänen eines Viererdirektoriums aus England, Frankreich, Italien und Deutschland, das vor gut zwei Jahren im Münchener Abkommen zum Tragen gekommen war. Um dieses Direktorium gruppierten sich dann nach Auffassung des englischen Außenministeriums drei Gruppen kleinerer Staaten in Nord- und Mitteleuropa, sowie auf dem Balkan.17 Churchill tat, was im Fall solch unangenehmer Vorlagen die Kardinalstugend erfolgreicher Politik ist. Er lobte die Vorlage, sprach vom Zeitmangel seiner Minister, die an einer weiteren Ausarbeitung wohl nicht mitwirken könnten und richtete danach eine kurzlebige Kommission ein, in der die Sache schnell und unauffällig im Sand verlaufen konnte.18 Die Neuauflage jener Vorkriegskonzeption, die der Chamberlainschen Appeasementpolitik zugrunde gelegen hatte, gehörte nicht zu seinen Zielen. Eine Mitwirkung Deutschlands und Englands an der Gestaltung Europas auf gleicher Ebene stand für ihn daher nicht zur Diskussion, wie überhaupt keine Diskussion auf der Tagesordnung stand, die Churchills eigentliches Kriegsziel in Frage stellen könnte, den vollständigen Sieg über Deutschland und dessen „bedingungslose Kapitulation“. Diese Formel war in der Gedankenwelt des Premiers implizit bereits vorhanden, lange bevor der Begriff öffentlich geprägt wurde. Churchill verzichtete denn auch auf eine Teilnahme an Debatten der von ihm eingerichteten Kommission. Ihre Beratungen konnten politisch nur brisant werden, wenn sie auf einen Kompromißfrieden hinauslaufen 17
Vgl. Hill, Decisions, S. 195 f. Als Mitglieder waren Chamberlain, Duff Cooper, Attlee, Sinclair, Ernest Bevin und Halifax vorgesehen. Das Komitee trat in dieser Zusammensetzung nie zusammen und beendete seine Arbeit ergebnislos noch im Jahr 1940. Vgl. Hill, Decisions, S. 196 f. 18
2. Die Weißauer-Mission
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könnten. Dies zu verhindern, daran arbeitete Churchill auf ganz anderen Feldern. Als er den Eindruck gewann, Lord Halifax könnte dem Kriegszielkomiteé in diese Richtung Substanz verleihen, gehörte das zu seinen Motiven, ihn Ende 1940 als Außenminister abzulösen und als Botschafter in die USA zu schicken. Übrig blieb als Ergebnis der Kommissionsarbeit ein Papier voll vagem Gerede, wie Churchill Ende Januar nicht ohne Befriedigung zu Roosevelts Sonderbotschafter Harry Hopkins sagte. Es sei „absurd“, jetzt über Kriegsziele reden zu wollen.19 Was nach dem Endsieg zu tun war, würde man zu gegebener Zeit sehen und konnte in einer solchen Kommission gar nicht besprochen werden. Im Frühjahr 1941 stellte der Premier fest, das Thema erfolgreich unterdrückt zu haben. Doch sehen wir, welche konkreten Friedensangebote von Deutschland im Herbst 1940 noch einmal vorgelegt wurden und wie der englische Premier darauf reagiert hat. 2. Die Weißauer-Mission „Wir sind es doch, die aus wohlfeilen Gründen für die Weiterführung des Krieges verantwortlich sind.“ Frank Roberts20
Adolf Hitler traute der höheren Beamtenschaft Deutschlands nicht und das aus seiner Sicht nicht ohne Grund. Gerade im Auswärtigen Amt gab es verbreitete, grundsätzliche Vorbehalte gegen das Regime, was dazu beitrug, daß dieses Regime auf informelle Kommunikationswege auswich und hier wie an anderen Stellen ein Konkurrenzverhältnis zwischen verschiedenen alten und neugegründeten Institutionen entstand. Nicht immer fiel Hitlers Verdacht dabei auf den Richtigen. So stellte es sich als Fehlgriff heraus, den Abwehrchef Canaris wegen des möglichen Kriegseintritts nach Spanien zu schicken, der sich dort nach Kräften bemühte, das Gegenteil zu erreichen. Wie in manch anderen wichtigen Fällen wurde jedoch der nächste Kontaktversuch mit England am Auswärtigen Amt und den zuständigen Instanzen vorbei geknüpft,21 das erst im nachhinein informiert wurde. Am 23. Oktober teilte das Reichssicherheitshauptamt dem Außenministerium lapidar mit, der englische Gesandte in Schweden hätte im kleinen Kreis ein Interesse an Nachrichten darüber erkennen lassen, ob Deutschland zu infor19
Vgl. Hill, Decisions, S. 210. Stellungnahme des Mitarbeiters von William Strang im Januar 1941, vgl. PRO, Doc. No. FO 371/26542, hier zit. n. Allen, Friedensfalle, S. 181 f. 21 Vgl. etwa die Hesse-Mission am 2. September 1939, die auf Hitler und Ribbentrop persönlich zurückging und den Kriegsausbruch quasi zurücknehmen wollte. 20
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mellen Friedensgesprächen bereit sei.22 Dies stellte keine Aufforderung zu besonderen Aktivitäten dar, sondern war eine Mitteilung darüber, daß zur Prüfung der Angelegenheit ein Vertrauensmann des Sicherheitsdienstes nach Stockholm unterwegs war. Dieser hieß Ludwig Weißauer und arbeitete derzeit zur Tarnung angeblich für das Luftfahrtministerium.23 Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein ganzer Monat vergangen, seit Weißauer über einen schwedischen Bekannten den Kontakt zu Victor Mallet gesucht hatte, eben dem erwähnten englischen Gesandten in Stockholm.24 Mallet sah angesichts des Kontaktversuches keinen anderen Weg, als zunächst in London um Genehmigung für ein Treffen nachzufragen. Das rief dort die üblichen Verdächtigen auf den Plan, allen voran Robert Vansittart, der sich in seiner Position als „diplomatischer Chefberater“ des englischen Außenministers zwar gern als ein Verbannter stilisierte, dem man die wichtigen Dinge nicht mehr vorlegen würde,25 der aber in Wahrheit zu allen Fragen gehört wurde.26 Auch hier landete Mallets Anfrage sofort bei ihm und die Reaktion kam ebenso prompt: „Ich hoffe, Sie weisen Mr. Mallet an, daß er unter keinen Umständen Dr. Weißauer treffen darf. Die Zukunft der Zivilisation steht auf dem Spiel. Es geht jetzt um unser oder deren Überleben, und entweder das Deutsche Reich oder unser Land muß untergehen, und zwar nicht nur untergehen, sondern völlig vernichtet werden.“27 22 SS-Brigadeführer Jost an den Gesandten Luther, vgl. Chef der Sipo u. d. SD/ VI G AZ:5767, 23. Oktober 1940/ PA, Inl. II g, Bd. 476, hier zit. n. Gellermann, Wege, S. 10. 23 Ähnlich wie Hesse besaß er direkten Kontakt zu Hitler und Ribbentrop. Der schwedische Gesandte in Berlin stufte dieses Vorgehen am Ministerium vorbei als „typisch“ für Ribbentrop ein. Vgl. Gellermann, Wege, S. 22. 24 Vgl. Gellerman, Wege, S. 31. Birger Ekeberg. der Präsident des schwedischen Hofgerichts, fragte im Auftrag Weißauers am 5. September bei Mallet nach, ob er ein Gespräch mit Weißauer führen wolle. 25 Vgl. Später, Vansittart, S 125 f. 26 Auch die Initiative Roosevelts, der die englische Regierung im Frühjahr 1940 aufgefordert hatte, öffentlich auf die Zerschlagung Deutschlands als Kriegsziel zu verzichten, war u. a. Vansittart zur Begutachtung vorgelegt worden und wurde von ihm natürlich abgelehnt. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 420. Vansittarts Haß und sein Rassismus, der sich gegen alles Deutsche richtete, nicht nur gegen die als Vorwand vorgeschobene „Reichsidee“, hatten weiter maßgeblichen Einfluß auf die englische Außenpolitik. Wenige Monate später brachte er ihn in Radiosendungen vor einem Millionenpublikum zur Darbietung, und ließ ihn im Januar 1941 in einer Broschüre drucken, dem „Black Record“. Insofern blieb Hitler an der Oberfläche hängen, als er Ende des Monats behauptete, „sie hassen diesen unseren Staat, ganz gleich . . . ob nationalsozialistisch, demokratisch oder autoritär.“ Zit. n. Domarus, Reden, II, S. 1659 f., 30. Januar 1941. 27 „It is a question of we or they now, and either the German Reich or this country has to go under, and not only under, but right under.“ Vansittart an Halifax, 6. September 1940, Faksimile in Gellermann, Wege, S. 88.
2. Die Weißauer-Mission
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Eine skurrile Geschichtskonstruktion, nach der die „deutsche Reichsidee seit 75 Jahren der Fluch der Welt“ sei, sollte diesen Wutausbruch argumentativ untermauern. Und Vansittart hatte Erfolg. In der Tat wurde Mallet vom englischen Kriegskabinett angewiesen, sich nicht persönlich mit Weißauer zu treffen, allenfalls indirekt dessen Mitteilungen entgegenzunehmen. So ausgerüstet, gelang es Weißauer, über den eingeschalteten Zwischenträger Ekeberg wenigstens klarzustellen, daß er im Namen Hitlers und Ribbentrops persönlich sprechen würde und folgendes anzubieten habe, was Mallet am 7. September nach London meldete: Hitler fühle sich für die Zukunft der „weißen Rasse“ verantwortlich und wolle also allein deswegen weiterhin Freundschaft mit England. Vor diesem Hintergrund müssten die wirtschaftlichen Voraussetzungen für das Leben dieser Rasse beurteilt werden, wobei sich zwei ökonomische Einheiten ergeben würden. Eine europäische wirtschaftliche Einheit mit dem Zentrum Deutschland und die ganze restliche Weltwirtschaft mit den Zentren Amerika und dem britischen Empire. Militärisch sei es so und solle so bleiben, daß die Vereinigten Staaten und England die größten Flotten und die Herrschaft über die Weltmeere hätten. Im Detail sei nach Hitlers Vorstellungen 1. das Empire in allen seinen Bestandteilen zu erhalten 2. die kontinentale Oberhoheit Deutschlands anzuerkennen 3. jede Diskussion über Fragen bezüglich des Mittelmeers, der französischen und belgischen Kolonien offen 4. ein polnischer Staat zu schaffen 5. die Tschechoslowakei als zu Deutschland gehörend zu betrachten. Alle übrigen europäischen Staaten, in denen derzeit wegen der Kriegssituation deutsche Truppen stünden, würden geräumt und wieder hergestellt werden. Italien sei kein Problem, heiß es lapidar, Mussolini würde tun, was Hitler anordnete. Die UdSSR sei ein potentieller Gegner dieser „weißen“ Konstellation,28 aber offenbar kein aktueller. Den Gefahren von Übergriffen der gelben Rasse könne man gemeinsam entgegentreten, womit die leise Bereitschaft angedeutet war, das Bündnis mit Japan fallen zu lassen. Sollte dieses Angebot abgelehnt werden, so würde der Krieg eskalieren und gezielt auf Positionen des englischen Empires ausgedehnt werden, wie etwa in Richtung Ägypten, Suez-Kanal und später nach Indien und Südafrika.29 28 Mehr steht dort nicht. Auch hier steht ebensowenig wie sonstwo ein Wort davon, Hitler habe davon gesprochen, der UdSSR Land abzunehmen, wie Gellermann dennoch schreibt. Vgl. Gellermann, Wege, S. 39.
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Es ist kühn, dies als Appell an den britischen „Jingoismus“ zu bezeichnen, also als Angebot an England, sich am westeuropäischen Kolonialbesitz schadlos zu halten.30 Auch widersprechen diese Details deutlich der gelegentlich geäußerten Ansicht,31 die Rückgabe deutscher Kolonien sei Bestandteil deutscher Friedensbedingungen gewesen. Ähnlich wie der später über den päpstlichen Nuntius an den in Spanien als englischem Botschafter residierenden Samuel Hoare übermittelte Vorschlag, bedeutete diese Nachricht von Weißauer das Angebot einer kampflosen Räumung sämtlicher seit September 1939 eroberten Gebiete – mit Ausnahme des annektierten Teils Polens, wie man annehmen darf. Als Alternative zu einer Annahme solcher Vorschläge stand der englischen Regierung hauptsächlich Vansittarts Vernichtungskurs zur Auswahl, so lange der englische Imperialismus sowohl das wiederholt angebotene Bündnis mit Deutschland als auch ambitioniertere Konzepte wie diejenigen kollektiver Sicherheit, gesamteuropäischer Abrüstung oder eines Welthandelssystems aus seinen aktuellen Gedankenwelten verbannt hatte. Es blieb die Idee, mit dem Sieg über Deutschland seien die Probleme zu lösen. Das hieß, einen längeren und umfassenden Krieg zu erwarten, und selbst wenn die Regierung in London die eigenen Aussichten zweifellos besser einschätzte und vor deutsch-italienischen Vorstößen in Ägypten nicht den Respekt hatte, den man in Berlin erwartete, blieb doch kein Zweifel, daß die Alternative zur Annahme dieses Angebots nicht ohne die Verwüstung des ganzen Kontinents durchgesetzt werden konnte. Nur so, durch eine totale Niederlage, war die deutsche „Reichsidee“, die in dieser Perspektive eigentlich der Idee der deutschen Einheit selbst höchst ähnlich sah, zu vernichten, ein Ziel, das Premier Churchill mit seinem Chefberater teilte. Darüber hinaus gab es keine wirklichen Gründe, die eine weitere, vorsichtige Sondierung hätten verhindern können. Am 11. September lag jedoch trotzdem eine negative Antwort vor, gebilligt vom englischen Kriegskabinett. Das Angebot zum Rückzug aus den besetzten Ländern wurde mit 29 Vgl. Mallet an Cadogan, 7. September 1940, PRO FO 371/24408/XC 1973, Faksimile in: Gellerman, Wege, S. 90–95. 30 Dazu ist es bemerkenswert, daß der Bericht des Sicherheitsdiensts an das Auswärtige Amt beschreibt, die Diskussion über den fremden Kolonialbesitz sei von britischer Seite angeregt worden. (SS-Brigadeführer Jost an den Gesandten Luther, vgl. Chef der Sipo u. d. SD/VI G AZ:5767, 23. Oktober 1940/ PA, Inl. II g, Bd. 476, vgl. Gellermann, Wege, S. 106.) Sollte dies zutreffen, ließe sich dies im Gegenteil als Appell an den deutschen Jingoismus deuten, bzw. als Versuch, Hitler Forderungen zu entlocken, die den Widerstand der Dominien stärken könnten. In der Tat enthielt der Bericht der englischen Regierung an die Dominien dann zahlreiche Manipulationen in diese Richtung (s. u.), die ihn offenbar für sie brisanter machen sollten. 31 So von Andreas Hillgruber, vgl. Hillgruber, Strategie, S. 144.
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dem überaus originellen Argument ausgeschlagen, England führe den Krieg nicht für „selbstlose Ziele“, sondern für „große und allgemeine Angelegenheiten, die Freiheit und Unabhängigkeit vieler Staaten in Europa angehen“. Es läge an der deutschen Regierung, die Voraussetzung für weitere Verhandlungen zu schaffen, dazu seien „effektive Garantien nötig, gegeben durch Taten, nicht durch Worte. Leider schwieg sich der Text einmal mehr darüber aus, wie solche Taten aussehen könnten, die der Regierung seiner Majestät genehm wären.32 Er klagte auch deutsche Verbrechen an, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob den wirklichen und vermeintlichen Opfern mit einer auf dem Verhandlungsweg erreichten Räumung ihrer Länder nicht vielleicht besser gedient sein könnte, als damit, den Rest Europas auch noch in Brand zu stecken und als Höhepunkt einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland zu erreichen, der den Gesamtkrieg auf Jahre hinaus verlängern und die Zahl der Toten in die Millionen ziehen würde. Wenn dies deshalb alles als Antwort etwas pathetisch klang und perspektivlos argumentierte,33 lag dies auch am Verfasser, der eben diese Absicht verfolgte. Churchill hatte den Text selbst geschrieben und drückte ihn Halifax und Cadogan erst in die Hand, nachdem er ihn zunächst salopp mit dem Morgenmantel im Bett liegend vorgetragen hatte, eine beeindruckende Szene, wie Alexander Cadogan fand.34 Wieder einen Tag später sah sich die englische Regierung genötigt, die Regierungen der Dominien über den Vorgang zu orientieren. Dies ließ sich generell schwer vermeiden, da nicht ganz ausgeschlossen werden konnte, daß Deutschland nach der Ablehnung für ein Durchsickern des Angebots in weitere Kreise sorgen könnte.35 Überhaupt ging während der Kontakte Weißauers die propagandistische Auseinandersetzung darüber weiter, wer denn eigentlich den Frieden angeboten hatte und zu welchen Bedingungen. Noch bevor er etwas Konkretes in den Händen hatte, verkündete Churchill Anfang September, er hätte ein „sehr weitgehendes“ deutsches Friedensangebot abgelehnt.36 Hitler antwortete wenige Tage später, indem er davon 32
Vgl. Gellermann, Wege, S. 96 f. Weißauer zeigte sich in einer an Mallet übermittelten Reaktion „über die feierliche Sprache sehr überrascht“. Vgl. Gellermann, Wege, S. 37. 34 Vgl. Cadogan, Diaries, S. 325 f., 11. September 1940. 35 Ein Schritt in diese Richtung folgte Ende des Jahres. Am 19. November 1940 traf sich Weißauer in Berlin mit dem finnischen Gesandten, um ihn darum zu bitten, das Angebot über „den engen Kreis der britischen Regierung hinaus auch anderen interessierten Gruppen in England“ bekannt zu machen. Vgl. Gellermann, Wege, S. 45. Auch Washington wurde benachrichtigt. Vgl. Telegramm an Lothian zur Information Roosevelts, PRO FO C 9598/89/18, sowie Martin, Friedensinitiativen, S. 344. 36 „Der Stolze!“ trug Goebbels höhnisch in sein Tagebuch ein. Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 300, 1. September 1940. 33
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sprach, er hätte „neulich“ das letzte Mal „die Hand zur Verständigung“ gereicht.37 Die Information der Dominien geschah jedoch mit bemerkenswerten Auslassungen. Genaugenommen erreichten die Änderungen einen Grad, der aus Information eher Desinformation werden ließ. Wo das deutsche Angebot den „Wirtschaftsraum Europa“ als deutsch dominierte Einheit reklamiert und dagegen die „Welt“ den beiden angelsächsischen Weltmächten überlassen wollte, behauptete die britische Regierung jetzt wahrheitswidrig, Hitler habe die Teilung der Welt zwischen England und Deutschland gefordert. Anders als oft kolportiert, entsprach dies nicht seinen Intentionen, nicht einmal später, als im Folgejahr der Sieg über die UdSSR erreichbar schien: „F. Sind alles Zweckbündnisse. Das Volk weiß z. B., daß das Bündnis mit Italien nur ein Bündnis zwischen mir und Mussolini ist. Sympathien haben wir Deutsche nur zu Finnland, könnten es (sic) mit Schweden haben und natürlich mit England. Ein Deutsch-Englisches Bündnis wäre ein Bündnis von Volk zu Volk. Die Engländer brauchten nur ihre Finger vom Kontinent zu lassen. Ihr Empire und die Welt könnten sie behalten!“38
Churchill trieb viel Aufwand, dies anders darzustellen, durch Fehldarstellung ebenso wie mit Hilfe von Verschweigen. Obwohl den Vereinigten Staaten in dem von Weißauer vorgelegten Papier eine außerordentlich große Rolle zugewiesen worden war, tauchten sie im Statement der englischen Regierung gar nicht auf, ebensowenig die ausdrücklich ausgesprochene Anerkennung der weltweiten Seeherrschaft beider Länder. Kein Wort auch über die deutschen Avancen, das japanische Bündnis vielleicht zu kündigen oder wenigstens herunterzustufen. Kein Wort darüber, daß es um das Sagen auf dem Kontinent ging. Deutschland wolle angeblich „Kompensationen“ an anderer Stelle für die Anerkennung des englischen Besitzstands, fuhr das Papier der englischen Regierung fort – nichts davon hatte Weißauer gesagt.39 Unter solchen Voraussetzungen gab es kaum eine Möglichkeit, wie die überbrachten Kontakte zur politischen Unruhe unter den Dominien führen konnten. Es blieb Wunschdenken, was man in der deutschen Führung einige Wochen später zu erkennen glaubte: „Berichte Sieburgs über England lassen eine Wendung in der Haltung Englands nicht wahrscheinlich erscheinen, wenn auch in der Intelligenz offenbar Stimmen laut werden, welche erkennen, daß Fortsetzung des Krieges ein schlechtes Ge37 Gemeint war offenbar die Rede vom 19. Juli 1940, die allerdings nicht selbst das Friedensangebot enthalten hatte, sondern nur die Ankündigung darstellte, daß ein solches gegeben werden würde. da „kein Grund“ für die Fortsetzung des Krieges mehr vorhanden sei. Vgl. Domarus, Reden, II, S. 1578. 38 Zit. n. Hewel, Tagebuch, 8. September 1941. 39 Leider wiederholt Ulrich Schlie diese Fehldarstellung der englischen Regierung. Vgl. Schlie, Friede, S. 223.
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schäft sei. Vorläufig sei aber die Arbeiterschaft noch die stärkste Stütze des konservativen Churchill.“40
Noch immer galt Churchills wesentliche Sorge aber einer möglichen unkontrollierten Wirkung weiterer deutscher Friedensfühler. Öffentlich ließ sich zwar behaupten, es gäbe solche Angebote, aber sie liefen alle mehr oder weniger auf eine Kapitulation hinaus. Dies wurde ein Bild, an dem die Öffentlichkeit nach Krieg auch weiter festhalten sollte.41 Eine andere Bedrohung stellte jedoch die Möglichkeit dar, daß sich in der Regierung eine Fronde bilden könnten, die den wirklichen Inhalt kannte und ihn so befriedigend finden könnte wie der mittlerweile verstorbene Lord Lothian, dessen Tod – an einer Niereninfektion,42 wie berichtet wurde – politisch günstig fiel. Am 20. Januar 1941, Außenminister Halifax war eben auf seinen neuen Botschafterposten in den USA abgereist und Anthony Eden sein Nachfolger geworden, schrieb Churchill an Eden deshalb über das Verhalten gegenüber deutschen Friedensfühlern: „Ich gehe davon aus, daß Sie darauf ein Auge haben. Ihr Vorgänger war im Dezember 1939 ganz irregeleitet.43 Unser Verhalten gegenüber diesen ganzen Anfragen und Vorschlägen muß absolute Stille sein. Es mag gut sein, daß eine neue Friedensoffensive uns eine Alternative zu Bedrohungen durch Invasion und Giftgas eröffnen wird.“44
Hintergrund der Aufregung war die bloß vage Aussicht, Hermann Göring sei einmal mehr über eine schwedische Verbindung an einem Kontakt zu 40
Zit. n. Halder, KTB, II, S 124. 3.10.1940. Symptomatisch für diese Einstellung schreibt Max Domarus: „Während und nach dem Krieg wurde häufig die Ansicht vertreten, Hitler hätte England am 19. Juli doch etwas diplomatischer behandeln und z. B. hinsichtlich der besetzten Gebiete in Polen, Frankreich usw. einige Konzessionen machen sollen. Wer solche Auffassungen vertritt, verkennt sowohl Hitler als auch England!“ Nachdem nun bekannt ist, daß solche Konzessionen tatsächlich wiederholt gemacht wurden, muß man wohl sagen, daß derjenige nur England verkennt. Denn wie Domarus dann richtig weiter anführt: „Die Engländer . . . waren nicht gewillt, mit Hitler Frieden zu schließen und wenn er ihnen noch so großzügige Angebote gemacht hätte.“ Zit. n. Domarus, Reden, II, S. 1559. 42 Er starb am 12. Dezember 1940 an einer „Nieren-Infektion“. Vgl. Costello, Days, S. 403. Sein Bekannter Rene de Chambrun schreibt von „acute uremic poisoning, and his life would have beend saved had he not refused treatment because of his strong Christian Science convictions.“ Vgl. Chambrun, Betrayal, S. 81. Öffentlich bekanntgegeben wurde offenbar Herzanfall als Todesursache. Goebbels notierte Herzschlag als Todesursache. Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 50, 13. Dezember 1940. 43 Vgl. dazu Summary of Principal Peace Feelers, September 1939-March 1941, in: Kettenacker, Deutschland, S. 170. 44 Zit. n. Dokumente 1/I, S. 269, Churchill an Eden am 20. Januar 1941. Später wiederholte er dies am 10. September 1941 noch einmal fast wörtlich. Vgl. ebd. S. 269. 41
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britischen Stellen interessiert, wie der englische Gesandte in Bern, David Kelly, am 17. Januar gemeldet hatte. Damit es nicht länger solche überforderten und schlecht informierten Beamten waren, die in Kontakt mit deutschen Mittelsmännern gerieten, war Churchill allerdings längst auf einen sehr eleganten Ausweg verfallen. Jede politisch unerwünschte Bewegung läßt sich mit einiger Sicherheit unterdrücken, wenn man sich an ihre Spitze setzt. Um ganz sicher zu gehen, daß deutsche Friedensangebote keinen Schaden anrichten konnten und für die von Churchill geplante Eskalation des Krieges mit Sicherheit folgenlos blieben, war es doch am besten, den Kontakt zur deutschen Führung einfach selbst herzustellen, über informierte und absolut zuverlässige Mitarbeiter. Um Hitlers Bemühungen ins Leere laufen zu lassen, mußten sie zu Churchill selbst laufen. Die Idee einer „H-H-H-H-Operation“ war frühzeitig geboren worden. Unter diesem Stichwort fanden im Lauf der nächsten Monate zahlreiche Manöver statt, mit denen die englische Regierung politische Kontakte zur deutschen Führung simulierte und die schließlich im Heß-Flug gipfelte. Die Codierung als „H-H-H-H“-Operation spiegelte dabei die Beziehungen zwischen vielen Personen, deren Nachnamen nun gerade zufällig mit diesen Buchstaben begannen. Neben Rudolf Heß, Karl und Albrecht Haushofer, Heinrich Himmler und Adolf Hitler galt dies ebenso für Lord Halifax, Samuel Hoare und den Herzog von Hamilton. a) Die Ausbeutung der deutschen Führung Bei jedem Friedensangebot einer Kriegspartei besteht die Möglichkeit, daß es vom Gegner und den Neutralen als Zeichen von Schwäche aufgefaßt wird. Wer den bewaffneten Kampf einstellen will, zeigt zunächst einmal nur, daß er sich von weiteren Auseinandersetzungen keine Verbesserung seiner Lage mehr verspricht. Da nun einmal jede Offensive entweder zum Sieg führen oder in der Verteidigung enden muß,45 gibt dies dem Gegner das Signal, daß sein Widerpart entweder nicht mehr an den eigenen militärischen Sieg glaubt, oder ihn aus allgemein politischen Gründen nicht für wünschenswert erachtet und daher in eine passive Phase des Krieges eintritt. Besonders solche allgemein politischen Gründe dämpfen meistens die Konsequenzen von Entscheidungen, die auf militärischer Ebene gefallen sind, denn ein Krieg, der von der militärisch überlegenen Partei bis zur vollständigen Vernichtung des Gegners weitergeführt wird, ist nicht die Regel. So ist ein Friedenssignal, wie gesagt, zwar ein politisch bedenklicher, aber dennoch nicht unüblicher Vorgang, wenn man auch sagen muß, daß 45 Clausewitz dehnt den Begriff weit aus und spricht von Verteidigung auch in dem Fall, daß „die feindlichen Streitkräfte zerstört“ sind, also einer Verteidigung des erreichten Status quo. Vgl. Clausewitz, Kriege, S. 593.
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vielleicht noch öfter der bequemere Weg begangen wurde, einen Krieg ohne eindeutige Willenserklärung im Sand verlaufen zu lassen. Was nun das deutsch-englische Verhältnis betraf, so war es im Sommer 1940 und auch später in erster Linie das zweite Element, also die politischen Bedenken, die in Hitlers wiederholten Versuchen zum Ausdruck kamen, mit England einen Ausgleich zu finden. Ein militärischer Sieg über England dagegen galt zwar als schwierig, aber nach den gerade in Norwegen und Frankreich erlebten Möglichkeiten der Luftkriegsführung inklusive der Möglichkeit von Luftlandungen nicht als völlig ausgeschlossen. Zumindest die Eroberung der britischen Inseln lag vielleicht nicht völlig außerhalb der Möglichkeiten der deutschen Wehrmacht. Zwar war auch dafür, wie für einen Krieg dieses Ausmaßes überhaupt, nichts vorbereitet worden. Deutschland verfügte weder über die Flotteneinheiten noch über die Flugzeugtypen, die für einen Krieg gegen die britischen Inseln eigentlich angemessen gewesen wären. Ein militärischer Erfolg wäre eine erfolgreiche Improvisation gewesen, nicht das Ergebnis längerer Planung. Die deutschen Verlustzahlen hätten unter diesen Umständen das bis dahin erreichte Niveau ebenfalls sicher deutlich überschritten. Dennoch war eine Invasion prinzipiell möglich, und der Krieg wäre im Fall der Besetzung der englischen Inseln wahrscheinlich beendet gewesen. Zwar konnte sich die englische Regierung theoretisch nach Kanada zurückziehen, wie Premier Churchill auch drohte. Ohne den Bombenkrieg gegen Deutschland von den englischen Luftstützpunkten aus, ohne die ständige Drohung einer Invasion irgendwo an der europäischen Küste, in Norwegen oder Spanien, ohne die Aussicht einer Landung wie die 1944 tatsächlich von England aus erfolgte Invasion in Frankreich wäre der Krieg im Westen praktisch zu Gunsten Deutschlands entschieden gewesen. Aber gerade dieser maximale Erfolg hatte in Hitlers Vorstellungswelt nicht nur den zweifachen Makel, sowohl unwahrscheinlich zu sein als auch mit Sicherheit teuer zu werden. Er war zum Dritten nicht einmal wirklich wünschenswert. Brach das englische Empire zusammen, würden die USA es im wesentlichen beerben, wenn nicht große Teile davon überhaupt unter japanische Kontrolle kämen oder anderweitig dem Einfluß westlicher, „weißer“ Länder entzogen werden würden. Die Funktion, die England beispielsweise in Indien zugunsten des „Germanischen“ ausübte, konnte Deutschland nicht übernehmen. Eine Weltmacht USA aber, die den deutschen wirtschaftlichen Einfluß in Südamerika, Afrika oder anderswo entschlossen zurückdrängte, war weniger in deutschem Interesse als ein englisches Empire mit französischem Anhängsel, das weiterhin seine globalen Interessen wahrnahm und dabei eventuell auf deutsche Unterstützung zurückgriff. So war es denn zutreffend, als Teile der englischen Politik Hitlers Friedenssignale frühzeitig auch als Hinweis dafür begriffen, daß der Gegner den Sieg nicht riskieren wollte. Diese Erkenntnis mußte sich nutzen lassen, dachte
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sich unter anderem Winston Churchill und bat um Vorschläge. Im August 1940 stellte der Chef der Abteilung Spezialoperationen 1 (SO1) bereits fest: „Es wird Sie vielleicht interessieren zu erfahren, daß ich, einer Idee der B(lack) P(ropaganda) Ingrams folgend, dem Premierminister den Vorschlag unterbreitete, der die Empfindung hatte, daß die deutsche Führung jetzt reif sei zur Ausbeutung. Ich bin sicher, daß der Schlüssel zur Schwarzen Propaganda in Hitlers kürzlichem Versuch, einen Ausgleich zu finden, liegt.“46
Anders als sein deutsches Gegenüber dachte der englische Premier an den vollständigen militärischen Sieg. Politische Bedenken hinsichtlich der Folgen der angestrebten Zerschlagung Deutschlands plagten ihn wenig, so wenig wie Zweifel, ob zum Erreichen dieses Ziels wirklich alle Mittel gerechtfertigt sein würden. Unter den Kontrahenten des Jahres 1940 war diese im Grunde unpolitische Fixierung auf den Erfolg, ohne Bedenken, was aus ihm folgen würde oder wie er zu erhalten sei, bei Churchill besonders ausgeprägt.47 Unter diesen Umständen wurden die deutschen Friedenssignale von ihm als politische Bedrohung und potentielle Gefahr für seine Stellung im Regierungsamt gesehen, während sich der Kreis denkbarer englischer Reaktionen auf Schachzüge im kriegsdiplomatischen Spiel beschränkte. Was immer Churchill in dieser Richtung sagte oder schriftlich hinterließ, es mußte vor allem den Krieg am Laufen halten und idealerweise noch zitierfähig für die Nachwelt sein. Hier hatte er bald einen Ansatz gefunden. Um unerwünschte politische Wirkungen deutsch-englischer Kontakte möglichst auszuschließen, mußte ein Draht zur deutschen Führung hergestellt werden, d.h. letztlich zu Hitler selbst. Wenn Churchill selbst ohne dessen Wissen mit Hitler vorgeblich attraktive Scheinverhandlungen über einen Frieden führte, würde der deutsche Diktator politisch neutralisiert sein. Im Idealfall würden weitere Verbotsschreiben an die britische Diplomatie in ganz Europas überflüssig werden. b) Englands Hoffnung „Englands Hoffnung ist Rußland und Amerika.“ Adolf Hitler48 „Winston hält im Unterhaus eine große Rede. . . . Es war eine maßvolle und wohlabgewogene Rede. Er versuchte nicht zu begeistern, sondern nur zu führen. Er 46
PRO, Kew. Doc. No. FO 837/593, hier zit. n. Allen, Friedensfalle, S. 121. In weiser Voraussicht über die Notwendigkeiten der Verteidigung eines eventuell von der Roten Armee eroberten Kontinentaleuropa ließ etwa Josef Stalin bereits eine entsprechende Flotte vorbereiten, die angelsächsische Invasionsversuche abwehren konnte und eine „Schlacht im Atlantik“ gegebenenfalls zu sowjetischen Gunsten entscheiden würde. 48 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 49, 31. Juli 1940. 47
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gab einen merkwürdigen Hinweis auf die Möglichkeit eines russischen Angriffs auf Deutschland und sprach davon, daß wir „mit den Vereinigten Staaten verbunden seien.“ Harold Nicolson49
Es ist viel Zeit darauf verwendet worden, den angeblich axiomatischen Hintergrund des deutschen Angriffs auf Rußland als Teil von Stufenplänen und Konsequenz rassistischer Vorurteile darzustellen. In den Äußerungen Hitlers über den geplanten Angriff dominieren jedoch zu jedem Zeitpunkt die machtpolitischen Überlegungen, wie sie sich aus Kriegssituation des Jahres 1940 ergaben.50 Das muß insofern kein unvereinbarer Widerspruch sein, als Ideologie immer ein Teil von Machtpolitik ist und der Bolschewismus von Hitler ganz klar als Mittel zur Machtentfaltung wahrgenommen wurde, mit spezifischen Vor- und Nachteilen, jedenfalls als eine politische Größe, die unauslöschbare Spuren hinterlassen hatte: „Dieser kommende Feldzug ist mehr als nur ein Kampf der Waffen; er führt auch zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen. Um diesen Krieg zu beenden, genügt es bei der Weite des Raums nicht, die feindliche Wehrmacht zu schlagen. Das ganze Gebiet muß in Staaten aufgelöst werden mit eigenen Regierungen, mit denen wir Frieden schließen können. Die Bildung dieser Regierungen erfordert sehr viel politisches Geschick und allgemeine wohlüberlegte Grundsätze. Jede Revolution großen Ausmaßes schafft Tatsachen, die man nicht mehr wegwischen kann. Die sozialistische Idee ist aus dem heutigen Rußland nicht mehr wegzudenken. Sie kann allein die innerpolitische Grundlage für die Bildung neuer Staaten und Regierungen sein. Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger ‚Unterdrücker‘ des Volkes, muß beseitigt werden. Die ehemalige bürgerlicharistokratische Intelligenz, so weit sie vor allem in Emigranten noch vorhanden ist, scheidet ebenfalls aus. Sie wird vom russischen Volk abgelehnt und ist letzten Endes deutschfeindlich. Dies gilt auch in besonderem Maß für die ehemaligen baltischen Staaten. Außerdem müssen wir unter allen Umständen vermeiden, an Stelle des bolschewistischen nunmehr ein nationales Rußland treten zu lassen, das, wie die Geschichte beweist, letzten Endes wieder deutschfeindlich sein wird. Unsere Aufgabe ist es, mit einem Minimum an militärischen Kräften sozialistische Staatsgebilde aufzubauen, die von uns abhängen. Diese Aufgaben sind so schwierig, daß man sie nicht dem Heere zumuten kann.“51 49
Zit. n. Nicolson, Tagebücher, S. 402, Eintrag vom 20. August 1940. Zu weit geht allerdings Heinz Magenheimer, der die erste Äußerung Hitlers, die sich als ideologisches Motiv für den Angriff bezeichnen läßt, in den Februar 1941 verlegt. Vgl. Magenheimer, Kriegswenden, S. 38. 51 So Jodls Zusammenfassung von Hitlers Äußerungen vom 3. März 1941, hier zit. n. Betz, Landkriegsvölkerrecht, S. 109. 50
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Das sind konkrete und ausführliche Gedanken darüber, wie nicht nur die Rote Armee, sondern das Sowjetsystem als ganzes im Kriegsfall zum Zusammenbruch zu bringen sei. In ihnen ist die Bekämpfung des „Bolschewismus“ durch teilweise Übernahme seiner sozialistischen Elemente kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, den Krieg insgesamt zu gewinnen. Daß ideologische Gedankengänge das eigentliche Motiv für den Angriff gewesen seien, ist vor diesem Hintergrund eine hoch spekulative Annahme etlicher Autoren.52 Selbst wenn Hitler den Bolschewismus jederzeit als ideologische Bedrohung wahrgenommen haben sollte, den Nichtangriffspakt von 1939 mit unguten Gefühlen abschloß und sich erst nach dem Entschluß zum Angriff auf die UdSSR wieder mit sich im reinen fühlte, wie er Mussolini schrieb, heißt dies keineswegs, daß dies das zentrale Motiv für den Angriff selbst gewesen sein muß. Hitler hatte Bedenken, die „dunkle Tür“ UdSSR zu öffnen, von der niemand wisse, was sich dahinter befand. Er hatte etliches getan, um den Krieg mit dem Westen vor dessen Eskalation und auch danach überhaupt zu beenden und gleichzeitig mit der UdSSR zu einem machtpolitischen Kompromiß zu kommen. Deutschland war 1941 auf das Kommende so wenig vorbereitet wie 1939, als die Munition kaum für den Polenfeldzug reichte und eine Offensive der Westmächte allein schon deswegen niemals hätte aufgehalten werden können. Es kann vor diesem Hintergrund daher auch nicht unterstützt werden, was Ernst Nolte an einer Stelle sehr deduktiv ausführt, daß eine „Industriemacht (gemeint ist Deutschland, d. Verf.) in Hitlers Epoche nichts anderes wollen konnte als den Krieg, wenn sie sich einer totalitären Anstrengung unterzog. . . . Der spezifische Totalitätscharakter der deutschen Gestalt des Faschismus mußte also mit äußerster Entschiedenheit der militärische sein, und die ganze ungeheure Schlagkraft mußte sich vor allem gegen den großen Nachbarn im Osten und seinen ‚notwendigen‘ (sic) Totalitarismus richten.“53 52
Der hier entwickelten Argumentation kommt Jürgen Förster recht nah, der von der Symbiose von „Dogma und Kalkül“ spricht, allerdings den Entschluß für den Angriff auf den 31. Juli 1940 verlegt, was sich nicht halten läßt, wie im Verlauf der Darstellung deutlich werden wird. Es hilft dabei nur wenig weiter, wenn Förster einen ausführlichen Exkurs auf „Mein Kampf“ einfügt, verbunden mit einer etwas undurchsichtigen Zitatenreihe, die in der Aussage kulminiert, Hitler habe in den Schlüsselansprachen von 1937 und 1939, die im Nürnberger Prozeß präsentiert wurden, sowie in der Denkschrift zum Vierjahresplan diese axiomatischen Ziele vertreten, die in „Mein Kampf“ entwickelt worden waren. Tatsächlich ist in keiner dieser Ansprachen vom Lebensraum in Rußland die Rede, wie Förster dann später hinzufügt. Vgl. Förster, Entscheidung, S. 16 bzw. S. 18 ff. Zur Darstellung der Entwicklung in Hitlers politischen Zielen vgl. Scheil, Logik, und Entfesselung, Unverständlich ist daher auch Andreas Hillgrubers Ansicht, Hitler habe „immer wieder“ den „Eroberungszug gegen die Sowjetunion“ als „nächste Etappe seiner Expansion“ bezeichnet. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 724.
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Deutschland war vor dem Angriff auf Rußland wie vor dem Angriff auf Polen weit davon entfernt, eine „totalitäre“ militärische Anstrengung zu machen. Erst im Jahr vor dem Untergang produzierte die deutsche Rüstungsindustrie 1944 annähernd in solchen Stückzahlen, wie es die UdSSR schon längst vor Kriegsbeginn tat – und das teilweise in besserer Qualität als die damalige deutsche Produktion. Die Sowjetführung hatte vor den deutschen Rüstungsanstrengungen wenig Respekt, zumal die Deutschen auf ganz naive Weise ihrerseits von sich überzeugt zu sein schienen. Stalins Vorwurf der Arroganz gegenüber der Wehrmachtsführung beruhte auch auf seiner Kenntnis der deutschen Rüstungspolitik. Im März 1941 kam eine sowjetische Delegation und begutachtete deren Stand: „Die Artillerie- und Panzerkonstrukteure, die mit der Delegation angereist waren (berichteten), man habe ihnen die Rüstungsbetriebe gezeigt und sogar die Türen der Konstruktionsbüros geöffnet. Unsere Fachleute konnten die neuesten Modelle der Flugzeuge von Messerschmidt und Heinkel, der Panzer Geschütze und anderer Waffen besichtigen. ‚Das ist eine psychologische Attacke. Sie wollen uns mit dem hohen Niveau ihrer Militärtechnik schrecken. Im Grunde haben wir aber nichts Neues gesehen. Wir sind Hitler in der Entwicklung der Militärtechnik ein ganzes Stück voraus, nur werden unsere Modelle noch nicht in Serie produziert.‘ ‚So werden wir Stalin auch berichten‘, flüsterte mir ein Delegationsmitglied ins Ohr.“54
Stalin konnte also davon ausgehen, die Rote Armee würde der Wehrmacht zumindest in ihrem Waffenarsenal qualitativ wie quantitativ überlegen sein. Vergleichbares wie den T-34 Panzer oder die Katjuscha-Raketenwerfer gab es in Deutschland nicht. Bezeichnenderweise kam in Moskau jedoch niemand auf die Idee, diesen Rüstungsvorsprung etwa für eine Friedenspolitik durch Abschreckung einzusetzen. Umfang wie Qualität der russischen Rüstung wurden dem potentiellen Gegner sorgfältig vorenthalten, allenfalls aus der frohgemuten Erpressungspolitik selbst gegenüber dem Deutschland der Jahre 1940/41 ließ sich indirekt ablesen, daß dieses Potential vorhanden war. Da es nicht politisch verwertet wurde, bleibt im Grunde nur der Schluß, das es von Stalin bewußt zum Verfolgen einer bloß militärischen Aggressionspolitik vorgehalten wurde. Es gab die „ungeheure Schlagkraft“ der deutschen Wehrmacht im Vergleich mit dem sowjetischen Gegner so wenig wie den „unprovozierten Überfall“ auf die Sowjetunion. Beide Schlagworte halten einer Bewertung der Fakten nicht stand. Sie gehören in den Bereich moderner Mythen. Was zwischen 1940 und 1941 stattfand, läßt sich als rivalisierende Machtpolitik um die Hegemonie in Europa vollständig erklären. Hitlers ideologische Vorstellungen, oder allgemeiner gespro53 54
Zit. n. Nolte, Faschismus, S. 471. Zit. n. Semjonov, Mission, S. 101 f.
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chen, die nationalsozialistische Ideologie kann aus der Vorgeschichte des Unternehmens Barbarossa komplett weggedacht werden, ohne daß an der diplomatischen Vorgeschichte und den militärischen, wirtschaftlichen Zwängen, die sich in ihnen spiegeln, etwas wesentliches unberücksichtigt bliebe. Die Zeitgenossen bewerteten den Ablauf vor diesem Hintergrund vielfältig in historischen Analogien, vor allem des napoleonischen Zeitalters, so etwa Harold Nicolson im Herbst 1940: „Wie sich die Geschichte wiederholt! Erst die großen Schlachten von Jena und Austerlitz. Dann die drohende Invasion in England und das Feldlager bei Boulogne. Dann der Krieg in Spanien. Und dann, so wollen wir hoffen, Moskau (sic), Leipzig und Waterloo.“55
Daran ist, wie an historistischem Denken allgemein, zu kritisieren, daß sich die Zeiten immer wieder ändern und die volle Analogie nicht gegeben ist. Aber dennoch waren allzu viele Äußerungen vollkommen prophetisch, um ausschließen zu können, daß historische Analogie ein praktikabler Leitfaden für die internationale Politik sein kann und als solche auch zu treffenden Prognosen benutzt wurde, so von Winston Churchill: „Wenn ich darüber nachdenke, wie wir den Krieg gewinnen können, sehe ich nur einen sicheren Weg. Wir besitzen keine Armee auf dem Kontinent, die in der Lage ist, die deutsche Militärmacht zu besiegen. Die Blockade ist gebrochen, und Hitler steht Nachschub aus Asien und eventuell auch aus Afrika zur Verfügung. Sollten wir seine Invasion abwehren oder sollte er sie gar nicht erst versuchen, wird er sich bestimmt nach Osten wenden, und wir haben nichts, um ihn aufzuhalten. Es gibt nur ein Mittel, das ihn von dort zurückbringen und in die Knie zwingen wird, und das ist eine totale Verwüstung, eine Ausrottung der Nazi-Heimat durch massive Bombenangriffe von hier aus.“56
Trotz der einen oder anderen Ungenauigkeit, etwa was die Wirksamkeit der Blockade des europäischen Kontinents anging, traf Winston Churchills Prognose zu: Deutschland wagte die Invasion Englands nicht, war gezwungen, sich nach Osten zu wenden und wurde unter einem Bombenhagel „von dort zurückgebracht“. Zuvor jedoch gab es einen weiteren spektakulären deutschen Versuch, dies zu verhindern. c) Der Heß-Flug Als sich Rudolf Heß im Mai 1940 von seiner Frau verabschiedete, soll er gesagt haben, er käme in zwei Tagen wieder. Seine Absichten schlugen fehl. Aus Tagen der Abwesenheit wurden bekanntlich Jahre der Internierung in England, später die Haft in Spandau, am Ende ein lebenslanger 55 56
Zit. n. Nicolson, Tagebücher, S. 411, Eintrag vom 23. Oktober 1940. Winston Churchill am 8. Juli 1940, zit. n. Colville, Tagebücher, S. 140.
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Freiheitsverlust. Die politischen Hintergründe dieser Angelegenheit erwiesen sich als so sperrig, daß es für ihn als den Hauptbeteiligten das bürgerliche Weiterleben unmöglich machte. Was für die Geheimdiplomatie dieser Zeit generell zutrifft, kulminiert daher im Fall Heß in besonderem Ausmaß. Über die verborgenen Motive dieser Affäre ist sehr viel geschrieben worden, sie sind jedoch durch intensive Bemühungen aller Beteiligten, diese Hintergründe unsichtbar werden zu lassen, dauerhaft verdeckt worden. Öffentlich sah sich Heß von der deutschen Führung innerhalb von dreißig Stunden als geistig verwirrt deklariert, eine Ansicht, der sich die englische Regierung bald ebenso öffentlich anschließen sollte. Heß hatte dies offenbar vorausgesehen und Hitler eine solche Erklärung für den Fall des Scheiterns seines Flugs selbst vorgeschlagen. Er wurde jedoch darüber hinaus ein Mittel im diplomatischen Spiel aller gegen aller, wie er es selbst nicht vorausgesehen hatte. Diese Dinge sind, wie gesagt, bereits intensiv beackert worden. Hier kann es nicht um eine vollständige Darstellung des Englandflugs gehen, sondern um den diplomatischen Aspekt der Angelegenheit innerhalb der anderen vergeblichen Versuche der NS-Führung, den Krieg zu stoppen. Denn in welchem Zusammenhang die Heß-Initiative zu den anderen Versuchen steht, mit der englischen Regierung ins Gespräch zu kommen, dies wird erst auf der Basis klar, den Krieg und seine weitere Eskalation zu diesem Zeitpunkt vorwiegend als englisches Projekt zu sehen. Die Affäre begann im September 1940, nachdem eine direkte Kontaktaufnahme zur englischen Regierung über Schweden gescheitert war. Während Ludwig Weißauer in Stockholm noch die Antwort auf seine, dann indirekt übermittelte Nachricht nach London erwartete, machte man sich in Berchtesgaden Gedanken darüber, warum auch dieses Mal keine Gespräche zustande gekommen waren und erinnerte sich an die Familie Haushofer. Albrecht Haushofer, seinerzeit Professor für politische Geographie und Geopolitik an der Berliner Universität, galt als guter Kenner der englischen Mentalität. Er hatte einige Jahre mit der „Dienststelle Ribbentrop“ eine der Nebenagenturen nationalsozialistischer Außenpolitik beraten und wurde jetzt als Ratgeber zu Heß beordert. Dort traf er am 8. September mit Rudolf Heß zusammen, der gleich zum Thema kam: „Ich wurde sofort nach Möglichkeiten einer Übermittlung ernsten Friedenswunsches an führende Persönlichkeiten Englands gefragt.“57
Haushofer nahm dies zum Anlaß, zu einem weiten Exkurs darüber auszuholen, warum seiner Meinung nach die Vertrauenswürdigkeit der deutschen Außenpolitik in den letzten Jahren so gelitten hatte. Er nahm dabei einen Standpunkt ein, wie er sich in der Argumentation englischer Regierungskreise mittlerweile herausgebildet hatte und wies als Gründe auf „die 57
Zit. n. ADAP, D, XI/1, Dok. 61, S. 69 ff.
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zehnjährige Laufdauer unseres polnischen Vertrags, auf den erst vor einem Jahr unterschriebenen Nichtangriffspakt mit Dänemark, auf die ‚endgültige‘ Grenzziehung von München hin.“58 Dies seien, so deutete Haushofer sehr deutlich an, Vertragsverletzungen gewesen, mit denen der Kredit des gegenwärtigen Regimes untergraben worden sei. Er zog nicht in seine Betrachtungen mit ein, daß der Einmarsch in Prag 1939 auch von der englischen Regierung damals gar nicht als Vertragsbruch gesehen worden war,59 oder die Besetzung Dänemarks auf nichts anderes als die nicht weniger völkerrechtswidrige englische Invasionsabsicht in Skandinavien zurückzuführen war, so daß gerade in London objektiv sehr wenig Grund bestand, sich hier über mangelnden deutschen Stil zu beschweren. Das gebrochene Londoner Garantieversprechen über militärische Unterstützung für die Republik Polen rundete das Bild einer Zeit ab, in der internationale Verträge nicht den selbstverständlichen Wert hatten, der ihnen prinzipiell zukommen sollte.60 Gerade die englische Regierung hatte diese Entwicklung mit eingeleitet, als sie 1935 mit dem deutsch-englischen Flottenabkommen eigenmächtig eine eklatante Verletzung des Versailler Vertragssystems beging, ohne die anderen Mächte zu einer formellen Änderung des Vertrages aufzufordern oder auch nur zu konsultieren. In der internationalen Politik waren immer einige gleicher als andere, so auch zu dieser Zeit. Damit wäre die Tür für eine Betrachtung offen gewesen, die das Problem richtigerweise darin erkannt hatte, daß die aktuellen Probleme Deutschlands mit dem Londoner Establishment nicht auf begangene Verletzungen allgemeinen internationalen Rechts zurückzuführen waren, sondern darauf, daß wesentliche Teile der englischen Elite die Ebenbürtigkeit Deutschlands auf dieser Ebene grundsätzlich bestritten. Daß englische Politiker souverän und ohne Rücksprache mit den Betroffenen über das Land anderer entschieden, wie es zuletzt in München geschehen war, galt jederzeit als verträglich. Als jedoch über das Land anderer entschieden wurde, ohne englische Politiker zu fragen, wurde dieser Vorgang von Teilen des politischen England zum Skandal stilisiert, ganz gleich wie der Wortlaut des in München unterzeich58
Zit. n. ADAP, D, XI/1, Dok. 61, S. 69. Erklärung des Parlamentarischen Unterstaatssekretärs für Auswärtige Angelegenheiten auf Anfrage des Abgeordneten Henderson in der Unterhaussitzung vom 23. März 1939. Vgl. AA, Vorgeschichte, Dok. 264, S. 254. Zu den Motiven der deutschen Aktion, die letztlich durch Meldungen von der Absetzung der slowakischen Regierung und der militärischen Besetzung der Slowakei durch tschechische Truppen ausgelöst wurde, vgl. IFZ, ED 100/78, Handschriftl. Aufzeichnung Hewels über den Morgen des 10. März 1939. 60 Ob der Angriff auf Polen als Bruch des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts gewertet werden konnte, daran zweifelten englische Juristen ebenfalls und klammerten dies bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses aus. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 108 f. 59
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neten deutsch-englischen Konsultationsabkommens nun gelautet haben mochte. Immerhin, Heß ließ sich diese Ausführungen bieten und Haushofer, der ohnehin die doppelte Absicht hatte, nicht nur den deutsch-englischen Frieden zu vermitteln, sondern nebenbei auch die deutsche Regierung durch eine andere zu ersetzen, konnte fortfahren. Nach dem Hinweis, Hitler werde in der angelsächsischen Welt geradezu „für den Stellvertreter des Satans“ angesehen, entwarf er – nach eigener Darstellung – unmittelbar ein Bild einer künftigen europäischen Einheit. Europa sei „für seine bisherige anarchische Lebensform zu klein geworden“, formulierte Haushofer und sprach von wechselseitigen Bedrohungsmöglichkeiten durch Luftwaffe bzw. Flotte. Nur eine deutsch-englische Zusammenarbeit am Rande der staatlichen Fusion könnte seiner Meinung nach eine Perspektive gegen die aktuelle und immer weiter ausgebaute Koalition der angelsächsischen Mächte bieten. Das war, wenn es in diesem Zusammenhang so gesagt worden wäre, kaum etwas anderes als die Aufforderung zum Sturz Hitlers, denn daß man in England mit dem „Stellvertreter des Satans“ fusionieren würde, stand wenig zu erwarten.61 Allgemein gesprochen, hörten sich Haushofers Äußerungen jedoch auch nicht wesentlich anders an als die wiederholten Bündnisangebote, die von Hitler persönlich ausgesprochen worden und von englischer Seite mit Schweigen oder Ablehnung übergangen worden waren. Die Regierung Churchill gedachte das Problem der wechselseitigen deutsch-britischen Bedrohungsmöglichkeiten weder durch Rüstungsbegrenzung noch durch Zusammenarbeit oder gar Fusion mit dem deutschen Reich zu lösen, sondern durch dessen Liquidierung. Wenn Haushofer parallel dazu sagte, die Engländer würden „eher den USA Stück für Stück das Empire überschreiben“ als eine Verbindung mit Deutschland einzugehen, lag er richtiger. Diese Stimmung saß tief und die bei den Kritikern der deutschen Regierung verbreitete Vorstellung, es müßte nur jemand anders als Hitler ein entsprechendes Angebot unterbreiten, darf man mit den Worten des italienischen Vorkriegsbotschafters in Berlin, Attolico als „dumm wie Vorstellungen von Kadettenschülern“ bezeichnen.62 Im Grunde gehörte auch Haushofer zu jenem deutschen Establishment, dem der Krieg Churchills eigentlich galt. Im weiteren Gesprächsverlauf ließ Haushofer nach eigener Darstellung der Attacke auf die Person Hitler noch die unverblümte Aufforderung zum Sturz Ribbentrops folgen, denn, „bestimmte Persönlichkeiten, die wir beide 61
Die Aufzeichnung Haushofers wird durchgehend als authentisch anerkannt, was allerdings die Frage offen läßt, für wen sie verfaßt wurde und warum. Sie ist auf den 15. datiert, also eine Woche nach dem Gespräch. 62 Vgl. Burckhardt, Meine Danziger Mission, München 1962, S. 232 f.
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gut kennen, hätten mit Sicherheit die falsche Sprache gesprochen“, was auf Ribbentrop gewissermaßen buchstäblich zutraf, denn er hatte sich in den letzten Verhandlungen vor dem 1. September 1939 geweigert, mit dem englischen Botschafter auf englisch zu verhandeln. Allerdings sei die negative allgemeine Grundstimmung in England derzeit wichtiger als einzelne Personalfragen. Haushofer empfahl noch einige Persönlichkeiten als mögliche Ansprechpartner deutscher Angebote, so den englischen Gesandten in Ungarn, Owen St. Clair O’Malley,63 sowie die Botschafter in Madrid, Samuel Hoare und in Washington, Lord Lothian. Er nahm den Eindruck mit, das Gespräch wäre nicht ohne Vorwissen Hitlers geführt worden.64 Insgesamt läßt sich dies kaum als Ermutigung hinsichtlich weiterer Kontakte nach England interpretieren. Bemerkenswert ist jedoch, daß mit Lothian und Hoare die beiden hochrangigsten Genannten bald darauf in Friedensangebote mit einbezogen wurden. Für Lothian war dies ohnehin nichts neues, wußte er doch schon seit Mitte Juli 1940 von den deutschen Friedensbedingungen und empfahl sie seinem Außenminister als „höchst befriedigend“.65 Überhaupt gehörte Lothian zu denjenigen in der englischen Politik, die über eine mögliche Einbindung eines Großdeutschland mit einer eigenen Einflußzone in ein europäisches Mächtesystem nachgedacht hatten und hatte dies auch zeitig ausgesprochen, wobei er schon damals so etwas wie ein Tabu brach. Dieser Meinung war jedenfalls die Times: „Lord Lothian sagte vor dem Oberhaus etwas, wessen man sich nicht immer erinnert hat, nämlich, daß man gar nicht anders kann, als Deutschland eine Stellung einzuräumen, die einer Nation gemäß ist, welche normalerweise der mächtigste Staat Europas ist. Eine Ordnung, die Deutschland irgendeine andere Stellung zuspräche, könnte nichts als künstlich sein.“66
In dieser Zeit und in dieser Angelegenheit traf Lothian auch mit Hitler zusammen und hörte dessen Ansichten über die UdSSR an. Hitler sagte dabei laut englischem Protokoll: „Die instabilste Größe ist Rußland. Heute, weil die Schwierigkeiten im Fernen Osten Rußland dazu bewegen könnte, in Europa die Kooperation mit so vielen Staaten wie möglich zu suchen, die den Status quo erhalten wollen, weil man freie Hand in Ostasien braucht. Aber in dem Moment, in dem die Dinge in Asien abgeschlossen sind, wird man sich nach Westen wenden, wie im Jahr 1905, als man nach der Niederlage gegen Japan Kompensationen in Europa suchte. Er, Hitler, wisse wovon er spreche, wenn es sich um Kommunismus handle. Niemand kenne diese Frage besser als 63 Mit Owen O’Malley empfahl Haushofer einen langjährigen Bekannten seines Sohnes Albrecht Haushofer. Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 58 f. 64 Vgl. Spitzy, Bekenntnisse, S. 416. 65 Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 487 ff. 66 Lothian im Mai 1935, hier zit. n. Ingrimm, Auflösung, S. 185.
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er, er habe ihre Auswirkungen in Deutschland gesehen und viele Jahre lang bekämpft. Der Kommunismus sei keine Idee, die in 10 oder 20 Jahren verschwunden sein würde. Er sei kein kurzlebiges Parteiphänomen. Er sei eine welterobernde Idee, vergleichbar mit der Gründung einer neuen Religion, Christentum, Bolschewismus und so weiter. Man könne sie nicht staatlich eingrenzen und es wäre eine Illusion, dies zu glauben. Wo immer sie Fuß fassen könnte, würde sie Wurzeln schlagen. Amerika, Spanien und so weiter. Sie muß von einer anderen Philosophie bekämpft werden. Dazu müsse man die Macht, Größe und das Potential des Landes bedenken, das zur Heimat des Kommunismus geworden sei. Die ungeheure Ausdehnung des Landes bringe es mit sich, daß der Verlust eines Teils davon kaum einen Effekt haben könne. Seine Industrie sei im Inland gelegen, weit entfernt und sicher vor jedem Angriff. Die Bevölkerungszahl sei so groß, daß sie an drei Fronten gleichzeitig kämpfen könne. Die Fruchtbarkeit und der Rohstoffreichtum des Landes sei so groß, daß Rußland über eine unvergleichliche Fähigkeit verfüge, einem Angriff zu widerstehen. Weder England noch Deutschland verfügten über ähnliche Widerstandskraft. Die deutsche Industrie liege im Westen an der Ruhr und im Osten in Schlesien vergleichsweise grenznah und die Stärke der deutschen Armee betrage nur ein Viertel oder ein Fünftel der russischen. Zu den materiellen Stärken käme die Kraft der kommunistischen Idee, die einen ähnlichen Effekt haben dürfe wie die Ideale der Französischen Revolution. Was dies bedeute, sei klar. Wenn Deutschland gegen England oder umgekehrt Krieg führen sollte, würde das Volk jeweils vereint hinter der Regierung stehen. Sollte aber Rußland zum Krieg gegen ein anderes Land antreten, würde ein großer Teil der Bevölkerung den Erfolg des Kommunismus auf Kosten des eigenen Landes wünschen.“67
Das Gespräch gab im wesentlichen die Gedankengänge wieder, die Hitler ein Jahr später in der Denkschrift zum Vierjahresplan erneut formulierte. Aus dem Land, das er in Mein Kampf als „Reif zum Zusammenbruch“ bezeichnet hatte, war ein Jahrzehnt später eine zum Sturm auf Europa fähige und willige Großmacht geworden, die stetig und erfolgreich an sich arbeitete: „Die militärischen Machtmittel dieses (des sowjetischen d. Verf.) Angriffswillens steigern sich dabei in rapider Schnelligkeit von Jahr zu Jahr.“68 Diese in einem geheimen Papier zum Ausdruck gebrachte Überzeugung wurde vom früheren amerikanischen Botschafter in Moskau geteilt. Joseph Davies las Hitlers Äußerungen und hielt sie für wahrscheinlich: „Trotzdem ich nicht mehr in Moskau bin, interessiere ich mich noch sehr für alles, woraus man Schlüsse auf die militärische Stärke der Sowjets ziehen kann. Folgendes ist Hitlers Einschätzung: 1. In Rußland hat man es mit einer Nation von 180 Millionen zu tun. 2. Rußland ist territorial gegen Angriffe geschützt. 67 68
Zit. n. Butler, Lothian, S. 331, Gespräch vom 29. Januar 1935. Zit. n. VfZ 1955, S. 204/205. Hervorhebung im Original.
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3. Rußland kann nie durch Blockade besiegt werden. 4. Seine Industriezentren sind gegen Luftangriffe gesichert, weil die wichtigsten Industriezentren sich 4000 bis 6000 km von jeder Grenze entfernt befinden. „Diese vier Tatsachen“, sagt er weiter, sollten genügen, um die gefährliche Macht dieses Landes deutlich zu machen. Zu alledem kommt noch die Stärke der revolutionären Idee und der entschlossene Versuch der Machthaber, eine Weltrevolution ins Werk zu setzen. Zu diesem Zweck ist eine Armee von der denkbar größten technischen Vollkommenheit geschaffen worden. Dem gleichen Ziel dient eine gefährliche Dumping-Politik mit Sklavenlöhnen, um so die Wirtschaftssysteme anderer Länder zu untergraben.“ „Die jetzige Entwicklung Rußlands gibt zu denken“, fährt er fort. „1917 war Rußland am Letzten, 1920 war es vom Bürgerkrieg zerrissen. In den Jahren 1924–25 zeigten sich die ersten Anzeichen der Genesung mit der Erschaffung der Roten Armee. 1927 wurde der Erste Fünfjahrplan aufgestellt und später durchgeführt. 1932 folgte der Zweite Fünfjahrplan, der jetzt voll im Gang ist. Rußland hat einen soliden Handel, die stärkste Armee, die stärksten Tank-Korps und die stärkste Luftwaffe der Welt. Dies sind Tatsachen, über die man nicht hinweg kann. Dies fand ich in einem Buch, das der Marquis von Londonderry eben in London veröffentlicht hat. Ich halte nicht viel von Londonderrys Haltung gegenüber Deutschland. Aber ich bin sicher, wenn er angibt, Hitler habe dies wirklich gesagt, so ist es wahr.“69
Interessant ist, daß diese Einschätzung nach einem halben Jahr Krieg im Frühjahr 1940 vom Deutschen Informationsbüro erneut publiziert und in der sowjetischen Presse wiedergegeben wurde.70 Deutschland hatte damit offen zu erkennen gegeben, daß seine Führung ihr Land für schwächer hielt – oder sich wenigstens öffentlich als schwächer eingestuft wissen wollte – als die UdSSR. Inwieweit das ein Signal von Kontinuität in Hitlers Denken war, das kann – wenn überhaupt – nur aus anderen Zusammenhängen erschlossen werden. Als Fazit der Unterhaltung mit Hitler zog Lothian damals die Einschätzung, Hitler sei „besessen vor Angst wegen Rußland“.71 An Lothians Einstellung in bezug auf die deutsche Position in Osteuropa hatte sich auch 1940 insoweit nichts geändert, als er dazu entschlossen war, den europäischen Kontinent nicht in Brand stecken zu lassen, nur um zu verhindern, was „normal“ war und statt dessen mit einer deutschen Niederlage ein Machtvakuum in diesem Bereich zu erzeugen. Er teilte die Obsessionen des gegenwärtigen Premiers nicht. Wenn Deutschland sich im wesentlichen aus dem eroberten Westeuropa zurückzog und auch im Osten weitreichende Zugeständnisse machte, die nun bereits wiederholt angeboten worden waren, 69
Zit. n. Davies, Botschafter, S. 333, 6. September 1938. Vgl. Pietrow, Stalinismus, S. 155. 71 Vgl. Butler. Lothian, S. 203. Lothian schreibt über das Gespräch am 30. Januar 1935 einen Brief an Sir John Simon, den „Foreign Secretary“. 70
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würde er eine Verständigung auf dieser Basis auch 1940 nicht ablehnen. Mit Samuel Hoare verband Lothian eine Freundschaft, die sich unter anderem in einem ständigen politischen Briefwechsel ausdrückte, so daß sich dies zu diesem nach Madrid herumgesprochen haben dürfte.72 Hoare hatte sich selbst bereits vor einigen Wochen als Friedensvermittler ins Spiel gebracht.73 Insofern stellten beide die „ersten Adressen“ für diplomatische Kontakte dar. Da traf es sich gut, wenn Haushofer für einen Kontakt zu Hoare auf einen seiner ehemaligen Schüler zurückgreifen konnte, Herbert W. Stahmer, der jetzt als Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Madrid tätig war. Haushofer zog Stahmer ins Vertrauen, zeigte ihm Briefe von Heß an Hamilton und beauftragte ihn, den Kontakt mit Hoare zu suchen, den Stahmer auch bald darauf fand. Haushofer skizzierte zwei miteinander verbundene Pläne: einmal das deutsche Angebot einer Friedenskonferenz auf Basis des Status quo von 1939, ergänzt durch Verhandlungen über eine wirtschaftliche Neustrukturierung des Kontinents. In diese Pläne eingeschlossen war einmal mehr ein sofortiger deutscher Rückzug von der Kanalküste, gefolgt von der Räumung des übrigen Westeuropa. Als Preis dafür sollte England eine deutsche Interessensphäre im Donauraum und auf dem Balkan anerkennen.74 Hoare ging auf diese Angebote denn auch ohne großes Zögern ein, hatte er doch in dieser Angelegenheit die Rückendeckung des Premiers. Er ließ sogar verlauten, ein Rücktritt Churchills sei nicht unmöglich. Dann sei auch ein Kompromißfrieden in Reichweite, den er gern persönlich vermitteln würde, wie er formulierte. Man kam nach einiger Zeit an den Punkt, ein Treffen zu vereinbaren, an dem Halifax und Hoare für die englische, Heß und Haushofer für die deutsche Seite teilnehmen sollten. Diese Scheinverhandlungen wurden wie gesagt mit Wissen und Billigung Churchills geführt, um die Friedensbemühungen der innersten deutschen Führung kontrollieren und ins Leere laufen lassen zu können. Haushofer sondierte ebenfalls in andere Richtungen und empfahl letztlich jenen Lord Hamilton als einzig möglichen Kontaktmann, den Rudolf Heß neun Monate später auch ansteuern sollte, nachdem alle anderen Versuche im Sand verlaufen waren, Lothian bereits gestorben und Hoare nicht willens oder nicht fähig, in der englischen Regierung einen Sinneswandel zu erzeugen. Hamilton hätte an72 Vgl. Hoare, Years, S. 369. Dort sind auch einige Briefe aus dem Winter 1939/ 40 veröffentlicht. 73 Er hatte dem spanischen Außenminister auf die Anregung, Hoare sei doch der „berufene Vermittler“ eines Friedens zwischen England und Deutschland, die Antwort gegeben: „Es ist möglich, daß es einmal so kommen wird.“ Vgl. ADAP, D, X, Dok. 160, S. 165, 12. Juli 1940. 74 Vgl. Schmidt, Heß, S. 183. Da dies im Kern den wiederholt mit Hitlers Kenntnis vorgetragenen deutschen Absichten entsprach, ist nicht nachvollziehbar, warum Schmidt vermutet, daß Heß von diesen Bedingungen im einzelnen keine Kenntnis hatte.
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geblich jederzeit Zugang zu allen wichtigen Persönlichkeiten, so zum König und zu Ministerpräsident Churchill, sagte er und schrieb persönlich an Hamilton, wegen der Kontaktaufnahme.75 Daß Rudolf Heß letztlich einer englischen Intrige aufsaß, ist seit langem bekannt, auch wenn es in der Nachkriegszeit zunächst verschwiegen wurde.76 Diese Intrige verfolgte in erster Linie die Absicht, die Bildung einer möglichen Friedensfraktion innerhalb der englischen Politik zu verhindern. Als Nebeneffekt mochte es möglich sein, durch die Manipulation der deutschen Führung die Wahrscheinlichkeit eines deutsch-russischen Krieges zu erhöhen. Just während Heß später nach England flog, trafen sich Dalton, Eden, Vansittart und Robert Bruce Lockhart bei einem streng geheim gehaltenen Treffen in Woburn Abbey.77 Der ganz harte Kern der Kriegsentschlossenen wartete auf die Ankunft eines deutschen Bevollmächtigten und damit auf den erfolgreichen Abschluß der nächsten Etappe einer in monatelanger Arbeit gesponnenen Intrige. Es gab zum Fördern des englischen Maximalziels etliche Wege, wie Deutschland zum Angriff auf die UdSSR genötigt werden konnte, oder umgekehrt die UdSSR zum Angriff auf Deutschland. Der Plan, einen Krieg weiterer Parteien gegeneinander zu provozieren oder ihn wenigstens zu nutzen, gehörte zu den gewöhnlichen Eisbrechertaktiken dieser Zeit. Es blieb dabei eine Frage gelungener Tarnung, die Welt nicht mit letzter Klarheit wissen zu lassen, ob nun der Antikommunismus oder die Abneigung gegen Hitler das politisch entscheidende Element in der englischen Elite sein würde, ob England generell zum Frieden bereit sei oder sich hinter der angeblichen Verhandlungsbereitschaft nur eine Verzögerungstaktik versteckte. Um solche Fragen zu klären, wagte Heß seine aus späterer Sicht so spektakuläre Aktion. Allerdings gibt es Indizien dafür, daß die jahrzehntelange Aufregung darüber eine Folge des Scheiterns von Plänen war, die ursprünglich von beiden Seiten wesentlich bescheidener angelegt waren. So wurden auf dem Flugfeld des Landsitzes von Lord Hamilton Ersatzteile für eine Messerschmidt-Maschine bereitgehalten.78 Dies ergibt nur einen Sinn, wenn ein Botschafter aus Deutschland erwartet wurde, besonders aber: nur wenn man ihn wieder zurückfliegen lassen wollte. Für diesen Fall standen dann 75
Trotz anderslautender Darstellungen erreichte dieser Brief Hamilton offenbar auch und wurde nicht vom englischen Geheimdienst abgefangen. Dies wurde in der Nachkriegszeit dementiert, da es die Hintergründe des Heß-Flugs hätte offenlegen können. Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 160 f. 76 Mit Hugh Dalton zog es einer der Hauptverantwortlichen für den Flug vor, den Namen Heß in seinen Memorien lieber nicht zu erwähnen. Vgl. Dalton, Years, passim. 77 Vgl. Rainer Schmidt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 2.9.2004. 78 Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 300.
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vor Ort Möglichkeiten bereit, ein eventuell bei der Landung oder durch uninformierte englische Abfangjäger beschädigtes Flugzeug wieder instandsetzen zu können. Heß selbst ging offenkundig davon aus, sein Flugzeug landen zu können, wozu mitten in der Nacht eine beleuchtete Landebahn nötig gewesen wäre. In der Tat wurden die Lichter auf dem Zielflugplatz des Heß-Flugs auch pünktlich angeschaltet, dann aber nach einigen Minuten wieder gelöscht.79 Kurze Zeit später traf Heß mit seiner Maschine ein und konnte die Landebahn nun nicht finden. Nach einigen orientierungslosen Minuten blieb ihm mangels Treibstoff nicht anderes übrig, als improvisiert mit dem Fallschirm abzuspringen und seine Maschine abstürzen zu lassen. Damit hatte sich die Möglichkeit eines heimlichen Rückflugs ebenso erledigt wie die gegenüber der Ehefrau ausgesprochene Erwartung, Montags wieder in Deutschland zu sein. Eine Tarnung der Operation konnte nicht mehr gewährleistet werden. Heß wurde Gefangener und geriet ins Netz politischer Interessen innerhalb der englischen Regierung, zumal die Situation auch aus englischer Sicht undurchsichtig blieb. Ebenso konnte die deutsche Regierung nicht mehr als eineinhalb Tage abwarten, bis sie eine öffentliche Erklärung zum Heß-Flug abgeben mußte. Da man schlecht zugeben konnte, der englischen Regierung mehr als ein halbes Jahr mit spektakulären Friedensangeboten praktisch nachgelaufen zu sein, um schließlich den zweiten Mann im Staat auf eine derart abenteuerliche Weise in die Hand des Feindes zu verlieren, wurde die öffentliche Bekanntmachung des Flugs verbunden mit der beinah einzig möglichen Erklärung, Heß sei geistig verwirrt. Die erwartete weitere Etappe der H-H-H-H-Operation hatte sich als ihr ungewolltes Finale entpuppt.80 79 Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 298. Leider bringt Allen diese beiden wichtigen Hinweise, ordnet sie aber nicht in seine Darstellung ein. 80 Ob dies auf gezielte Sabotage durch Dritte zurückzuführen ist oder die Folge einer Verkettung unglücklicher Umstände aus fehlender Koordination und dem Problem war, daß mit Heß keine gewöhnliche Person in die Hand der englischen Regierung fiel, kann hier nicht behandelt werden. Trotz zahlloser Untersuchungen ist beispielsweise nicht bekannt, wer sich am Abend auf Hamiltons Landsitz aufgehalten hat und daher beispielsweise die Flugplatzlichter ausgeschaltet haben könnte. Eine dritte Partei, der deutsch-englische Friedenskontakte unangenehm gewesen sein könnten, läßt sich leicht finden. Jeder Kompromiß würde etwa die Ambitionen der polnischen Regierung besonders treffen, zu deren Repräsentanten wie Sikorski und Retinger mit Hugh Dalton einer der Hauptakteure so gute Beziehungen unterhielt, daß er vergangene Weihnachten bei Regierungschef Sikorski in Schottland verbracht hatte. Vgl. Dalton, Years, S. 372. Ungeklärt ist die Rolle eines Roman Battaglia, Mitarbeiter beim polnischen Konsulat in Glasgow und früherer bei der polnischen Vertretung in Danzig. Als einziger Anwesender deutschsprachig, konnte er Heß nach seiner Ankunft zwei Stunden lang verhören. Wie er aber von der Landung erfahren hatte, vermochte der MI5 nicht aufzuklären. Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 310 bzw. PRO Kew. Doc. No. 19093/11 30.5.41, Bericht des MI5 Edinburgh nach Oxford. Zu Battaglias Tätigkeit in Danzig, James McKillop, in: The Herald, 27. Januar 1999.
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Der verhaftete Heß wurde später während des Krieges von der englischen Regierung gern als Druckmittel eingesetzt, um der UdSSR die Möglichkeit eines deutsch-englischen Ausgleichs zu suggerieren. Im September 1940 versuchte die deutsche Führung jedoch zunächst ihrerseits, ein Aufweichen der englischen Haltung zu erzielen. Albrecht Haushofer selbst knüpfte Kontakte über Carl J. Burckhardt, den früheren Danziger Repräsentanten des Völkerbunds, der in Zürich als Leiter des Roten Kreuzes fungierte und dort zu den zentralen Anlaufstellen für Kontakte zwischen den Feindparteien gehörte. Sogar ein Emissär Heinrich Himmlers war im Frühjahr 1941 bei ihm, um sich nach Möglichkeiten zu erkundigen, ob England vielleicht mit dem Reichsführer-SS als Staatschef statt mit Hitler Frieden machen würde.81 Die Verhaftung Haushofers nach dem Englandflug im Mai 1941 unterbrach dann auch die Linie der deutschen Opposition, über Burckhardt die eigenen Vorstellungen nach London zu übermitteln. Die vieldiskutierte Frage, ob Heß schließlich mit dem detaillierten Wissen Hitlers über Datum und Plan nach England flog, wofür vieles spricht, geht in gewisser Weise an entscheidenden Tatsachen vorbei. Denn sicher ist, daß Heß durchaus die Vorstellungen Hitlers über einen Friedensschluß formulierte, als er in England seine Aussagen gegenüber Regierungsvertretern machte, zu denen auch Außenminister Eden gehörte. Sicher ist auch, daß die englische Regierung Churchill diese Angebote aus zahlreichen anderen Quellen längst kannte und damit als echt identifizieren konnte. Im weiteren hätte sie daher darauf eingehen können, wenn dies in ihrem Interesse gelegen hätte. Nun schien diese Regierung in den Tagen vor dem Flug ins Wanken geraten zu sein, aus Sicht der NS-Führung ein lang ersehntes Zeichen. In den Wochen vorher waren die Niederlagen an vielen Orten gleichzeitig zu spektakulär gewesen, um keine Spuren zu hinterlassen. Die Presse der angelsächsischen Länder schrieb zu Beginn ganz offen über die Verantwortung der englischen Politik für den eskalierten Krieg auf dem Balkan, der nach nur wenigen Wochen Ende April erneut mit einer drastischen englischen Niederlage zu Ende ging. Wie aus Norwegen und Frankreich, mußte sich die englische Armee auch aus Griechenland geschlagen zurückziehen, selbst in Nordafrika stand eine Räumung des Suezkanals angesichts des Vormarschs deutscher Truppen nicht mehr völlig außerhalb des Bereichs des Denkbaren. Scheinbar als Folge davon mußten mit Beaverbrook und Cross zwei Mitglieder des englischen Kabinetts den Hut nehmen. „Churchill macht sie zu Sündenböcken“, notierte Goebbels und sah dies als „einen Beweis, wie schlecht es um England steht.“82 81
Jedenfalls wenn man dem Hassell-Tagebuch glauben will, vgl. Hassell, Deutschland, S. 207, Eintrag 18. Mai 1941. 82 Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 287, 3. Mai 1941. Dies war eine Fehleinschätzung der Affäre. Beaverbrook, den Churchill vom Journalisten zum Minister
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Und wirklich schätzte Churchills Sekretär die fehlende Motivation nach einem entsprechenden Bericht der Zensurbehörde erstmals „etwas alarmierend“ ein und fand Churchill selbst in der „finstersten Stimmung“, die er je erlebt hatte. Der Premier malte sich bereits die Folgen aus, sollten die Deutschen die Kontrolle über den Suezkanal und die Ukraine gewinnen.83 Nachgeben wollte er persönlich aber auch in diesem Fall nicht. Der Krieg würde dann eben nur länger dauern. Gleichzeitig griff Lloyd George den Premier wegen seiner Kriegsführung an. In der Tat stand es also innenpolitisch mit Churchill nicht zum besten, auch wenn die Regierung bei einer Vertrauensabstimmung immer noch nur drei Gegenstimmen bekam.84 Aus Sicht von Heß mochte es in dieser Situation zusätzlich aussichtsreich erscheinen, noch einmal zu wiederholen, was vor dieser erneuten Niederlagenkette als deutsches Friedensangebot übermittelt worden war. Ob das mit Wissen Hitlers geschehen ist, ist umstritten. Jedenfalls erweckte Heß diesen Eindruck, unter anderem bei seinem Vertrauten Ernst Wilhelm Bohle, der zu Goebbels später sagte, er wäre in diesem Glauben beinahe mitgeflogen: „Er glaubte, der Führer mache durch Heß Frieden mit England ohne Ribbentrop.“85 Ribbentrop selbst sinnierte lange darüber nach und hielt es nicht für unmöglich, hier von Hitler und Heß mit einer Geheimaktion hinter seinem Rücken konfrontiert worden zu sein. Mit Heß und Ribbentrop sind zwei Personen genannt, von deren Rolle in der Außenpolitik des Dritten Reichs in der neueren Zeitgeschichtsschreibung wenig mehr als ein Zerrbild übrig geblieben ist. Während Ribbentrop von zahlreichen Seiten eine wirkliche oder gespielte Arroganz vorgeworfen wurde, hinter der jeder Ansatz seiner außenpolitischen Strategie heruntergespielt wurde, versank das Gewicht von Heß spätestens seit den SpeerMemoiren in der weiteren Öffentlichkeit zu einer angeblichen Bedeutungslosigkeit innerhalb des Machtapparats.86 Daß er sich der Nürnberger Gerichtsbarkeit durch beinah vollständige Mißachtung entzog und dabei auch solche Lieblingsprojekte der Alliierten wie die Herabsetzung der Angefür Flugzeugbau gemacht hatte, blieb auch nach dem Wechsel auf ein Ministerium ohne Aufgabenbereich dem inneren Kreis um den Premier erhalten. Vgl. Schmidt, Heß, S. 204 sowie Chambrun, Betrayal, S. 122. 83 Vgl. Colville, Tagebücher, S. 267 ff., 23. April und 2. Mai 1941. 84 Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 298, 8. Mai 1941. 85 Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 328, 22. Mai 1941. Bohle war von Heß zum Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP im Rang eines Gauleiters ernannt worden und 1933–1945 Mitglied des Reichstags. Vgl. Schmidt, Heß, S. 81. 1937–45 Staatssekretär im AA, 1949 im Wilhelmstraßenprozeß zu fünf Jahren Haft verurteilt. Im „Black Record“ stellte Vansittart die von Bohle betriebene Organisation der Auslandsdeutschen als Nachfolgeorganisation der „Hanse“, die ebenfalls eine „Fünfte Kolonne“ gewesen sei! Vgl. Vansittart, Record, S. 22. 86 Während er andererseits zur Symbolfigur aufstieg.
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klagten durch angeblich notwendige psychiatrische Betreuung mit einbezog, ließ ihn als wunderlichen Außenseiter erscheinen, der seine skurrilen Eigenschaften durch den Englandflug nur auf die Spitze getrieben habe. Dies trifft sicher nicht zu, auch wenn die persönliche Opferbereitschaft, die in dem riskanten Flug zum Ausdruck kam, in England nur einen schrillen Eindruck hinterließ. Als in der englischen Führung 1945 über das mögliche Schicksal Hitlers diskutiert wurde, sprach Churchill von einer möglichen Wiederholung des Falles Heß: „Hitler (könnte) den Trick von Heß wiederholen (also einen Alleinflug nach England wagen, d. Verf.) und etwa folgendes sagen: Ich bin verantwortlich. Übt Rache an mir, aber verschont mein Volk.“87
Derartige Aktionen konnten die Kriegsentschlossenheit des Premiers wenig beeinflussen. Spekulationen über eine Außenseiterrolle von Heß können sie nicht stützen. Die Auslandsorganisation der NSDAP, für die er mitverantwortlich war und die zahlreichen anderen Ämter machten ihn zusammen mit dem persönlichen Vertrauen Hitlers zu einer wichtigen Figur innerhalb des Machtapparats der NSDAP. Heß wurde nach Kriegsausbruch öffentlich zum Nachfolger Hitlers ernannt. Er hatte Zugang zu dessen Gedanken und Plänen, wie Churchill in diesem Punkt später korrekt feststellte. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß Molotov bei seinem Berlinaufenthalt zum Erstaunen diplomatischer Kreise auf einem Treffen mit Heß bestanden hat. Damit zeigte er sich über das Innenleben des Regimes informiert, das nicht zuletzt auf dem Vertrauen unter Revolutionären beruhte. Der persönliche Nachrichtendienst von Heß versorgte ihn mit Quellenmaterial allererste Güte, so auch mit dem Originalschriftwechsel der britischen, französischen, amerikanischen und russischen Botschafter in London, Paris und Moskau. Beispielsweise las Heß praktisch die gesamten Berichte mit, die Joseph Kennedy aus der amerikanischen Botschaft in London nach Washington schickte.88 Der während der Vorbereitung des Englandflugs ins Vertrauen gezogene Ernst Wilhelm Bohle gehörte zu jenen, die immer an ein Mitwissen Hitlers in dieser Angelegenheit geglaubt hatten und auch weiterhin glaubten.89 Als Leiter der Auslandsorganisation 87 Zit. n. Colville, Tagebücher, S. 422, 8. April 1945. In diesem Fall müsse man Hitler wieder mit dem Fallschirm über Deutschland abwerfen, lautete der Antwortvorschlag der Herzogin von Marlborough. 88 Symptomatisch für das Heß-Bild, das sich die Forschung trotzdem macht, ist die Beurteilung von Rainer Schmidt, der dies ebenfalls anführt und unerfindlicherweise dennoch urteilt, Heß sei aus der Machtzentrale abgedrängt worden und habe sich vorwiegend mit „randständigem Kleinkram“ beschäftigt. Vgl. Schmidt, Heß, S. 85. 89 Vgl. dazu seine Nachkriegsaussagen in: Costello, Days, S. 422. Ähnlich lauteten auch Agentenberichte des sowjetischen Nachrichtendiensts. Sowohl aus engli-
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der NSDAP hielt er zahlreiche Kontakte nach England aufrecht, teilweise von ihm selbst geknüpft, teilweise durch Beziehungen von Außenminister Ribbentrop entstanden, wie etwa die „Anglo-German Fellowship“, die durch den Bankier Ernest Tennan, einen persönlichen Freund Ribbentrops, 1936 gegründet worden war. Er sollte, ebenso wie der „Link“, den Sir Barry Domvile, ehemaliger Direktor des „Departments of Naval Intelligence“ ein Jahr später folgen ließ,90 die englisch-deutschen Beziehungen auf allen Ebenen verbessern, nicht zuletzt auf der wirtschaftlichen. Der „Link“ brachte es zu mehr als viertausend Mitgliedern. Zur Anglo-German Fellowship hielt auch Lord Hamilton Kontakt, dessen Landsitz das Ziel des Heß-Flugs war. Für die englische Regierung stellte die Anwesenheit von Heß ebenso ein Problem wie ein Geschenk dar. Einerseits konnte sein Flug als Riß in der deutschen Führung dargestellt werden und würde damit einen Ausgleich für die schlechte Lage in England selbst darstellen. Der eben noch angeblich geschaßte Beaverbrook gab persönlich die Weisung an die Presse aus, über den Heß-Flug „so viele Spekulationen, Gerüchte und Gerede zu verbreiten, wie nur möglich“. Dabei sollte der Eindruck erweckt werden, Heß wäre wegen eines Streits in der deutschen Führung aus Angst um sein Leben nach England geflohen.91 Dies versprach aber nur für den Fall Erfolg, daß die englische Moral im Kern selbst unangetastet blieb. Ansonsten mochten diese Andeutungen, wie jede politische Bewegung, auch da und dort den Wunsch wecken, in Gespräche über politische Chancen einzutreten und den Krieg zu beenden. Überhaupt erwies sich das Volk wieder einmal als schwer zu täuschen. Trotz aller Desinformation meldete das Informationsministerium zahlreiche Briefe, in denen völlig richtig Mutmaßungen darüber angestellt wurden, daß Heß nicht ohne plausiblen Grund nach England geflogen sei und es in Wahrheit vorher eben doch Kontakte zwischen englischen und deutschen Stellen gegeben hatte. Die Nervenanspannung zeigte Wirkung. Churchill hielt eine Rede, in der er ein wenig zu viel sagte und erstmals in der Öffentlichkeit zugab, das Wohlfahrtsministerium würde sich mit Propaganda befassen. Dies traf Hugh Dalton, der mit diesen Angelegenheiten befaßt war und sich ohnehin mit Gewissensbissen wegen des subversiven Kriegskurses der englischen Regierung plagte. schen Regierungskreisen, wo mit Kim Philby ein sehr guter Informant saß, wie auch aus Deutschland kamen Berichte, die von einem Mitwissen Hitlers ausgingen und von einem konkreten deutschen Friedensangebot zu erzählen wußten. Ebd. Costello, Days, 435 ff. 90 Vgl. Schmidt, Heß, S. 82. 91 Zit. n. Costello, Days, 431. Darauf sind noch etliche Nachkriegsautoren hereingefallen, so etwa Max Domarus, der davon schrieb, Heß habe „Hitlers Schergen entkommen“ wollen. Vgl. Domarus, Reden, II, S. 1710.
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Churchill konnte ihm nicht in die Augen sehen und weigerte sich, ihn zu sprechen.92 In Deutschland gab man sich erst nach einigem Zögern entsetzt über die Angelegenheit. Dreißig Stunden ließ sich Hitler für eine öffentliche Reaktion Zeit. In diesem Zeitraum war es immerhin möglich, daß Heß von interessierten Kreisen ein Friedensangebot unterbreitet werden würde, oder er von seinem Flug zurückkehrte. Joseph Goebbels erfuhr demgemäß erst am Abend des 13. Mai davon und gab dann das Kommuniqué heraus, mit dem Heß als geistig umnachtet dargestellt wurde. Inwieweit Hitler selbst über den Flug informiert war, darüber ist viel spekuliert worden. Es ist in jedem Fall klar, daß er dem Unternehmen einige Chancen gab, sowohl dem Flug selbst als auch der möglichen Wirkung in England. Die hektischen Diskussionen am Tag danach zeigten dies deutlich. Hitler folgte den Vorgaben von Heß selbst und drückte gegen den Widerstand Görings und Udets eine entsprechende Formulierung im Protokoll durch: „Sehr erregter Tag. Untersuchungen über Heß-Flug. Der Führer entschließt sich zur Veröffentlichung. Passus, daß es sich um Wahnsinnstat handelt, vom Führer durchgesetzt.“93
Allerdings gedachte Hitler nicht, dies sofort zu veröffentlichen. Anders als seine Umgebung glaubte er sowohl an den erfolgreichen Abschluß des Flugs an sich als auch an einen möglichen Erfolg der politischen Kontakte. Dies wurde spätestens dann klar, als man in England bereits die Ankunft seines Stellvertreters meldete: „Führer glaubt an Heß’ Können . . . 0 Uhr veröffentlichen Engländer die Fallschirmlandung von Heß. . . . Führer will den nächsten Tag abwarten.“94
Dieser nächste Tag würde eine Vorentscheidung darüber bringen, ob Heß etwas erreichen konnte oder nicht. Sollte bis dahin keine Reaktion zu verzeichnen sein, mußte jedoch der eigenen Bevölkerung und der Partei95 eine Stellungnahme angeboten werden, was es mit den zu erwartenden Behaup92
Vgl. Colville, Tagebücher, S. 275, 15. Mai 1941. Dalton war nicht einzige, dem die Methoden der Churchillschen Strategie unangemessen schienen. Lord Halifax, 1940 Außenminister und seit Jahreswechsel Botschafter in Washington, teilte diese Einstellung. „Gangster lassen sich nicht erzeugen“ stellte Lord Lloyd mit Blick auf Halifax fest. Vgl. Cadogan, Diaries, S. 313, sowie Dalton, Years, S. 367. 93 Zit. n. Hewel, Tagebuch, 11. Mai 1941. 94 Zit. n. Hewel, Tagebuch, 11. Mai 1941. 95 Bereits für den 13. Mai waren alle Reichsleiter und Gauleiter nach Berchtesgaden bestellt. Hitler behielt bei diesem Treffen die Linie bei, Heß für nicht ganz normal zu erklären, deutete aber auch die politischen Hintergründe an: „Dramatische Versammlung. . . . Führer spricht sehr persönlich, analysiert Tat als solche und beweisst (sic) Geistesgestörtheit. . . . Hoare in Madrid etc. . . . ‚Dem Führer bleibt auch nichts erspart‘.“ Vgl. Hewel, Tagebuch, 13. Mai 1941.
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tungen der englischen Verantwortlichen auf sich hatte. Damit dürfte geklärt sein: Hitler entwickelte mindestens vage Vorstellungen, Heß könnte die englische Regierung in der beabsichtigten Weise ins Wanken bringen. Dies mußte nicht zwingend sofort geschehen. Stalin war zweifellos nicht der einzige, dem die Anwesenheit von Heß in England während der gesamten Kriegszeit eine politische Größe zu sein schien und die in diesem Sinn von der englischen Regierung auch benutzt wurde. Wenigstens für Tage und Wochen gab es auch in Berlin und Berchtesgaden ebenso die Aussicht, er könnte ein politisches Tauziehen bewirkt haben, das vielleicht doch noch zu einer Veränderung führen würde. Heß hatte ein „Sonder-Friedensangebot“ nach England übermittelt,96 beziehungsweise mit seinem spektakulären Flug die Bereitschaft der deutschen Regierung demonstrieren wollen, englische Bedingungen jederzeit anzuhören. Er sei bereit, so sagte er zu Hamilton, die Friedensvorschläge der führenden Mitglieder von dessen Friedenspartei entgegenzunehmen. Das blieb letztlich folgenlos. Die Geschichte endete in gegenseitiger Resignation. In Deutschland wurden mögliche Mitwisser und Pseudoverantwortliche inzwischen von harten Maßnahmen getroffen, so etwa die astrologischen Berater von Heß. Über das Mitwissen der Staatsführung und die Initiative Hitlers bei der Affäre läßt auch dies keine letzten Schlüsse zu, wie Ernst Jünger richtig notierte, der selbst von „Kniébolos“ – Jüngers Deckname für Hitler – Beteiligung an dieser Angelegenheit überzeugt war und nach dem Beginn des Rußlandfeldzugs erinnerte, wie die Düsternis auch ein halbes Jahr zuvor schon in der Luft gelegen hatte. „Mit der Wiederentdeckung der Staatsraison (ist) auch die Mitwisserschaft an bestimmten Geheimnissen wie früher objektiv gefährlich geworden. Und sicher ist das hier der Fall. Zugleich gibt dieser Husarenstreich ein Bild vom Geist des Hasardspiels, der regiert. Die Wiederkunft der Formen des absoluten Staates, doch ohne Aristokratie, will sagen: ohne innere Distanz, macht Katastrophen möglich, von deren Umfang man noch keine Vorstellung besitzt. Doch werden sie mit einem Gefühl der Furcht geahnt, das selbst die Triumphe noch schattiert.“97
Auf den britischen Inseln zeigten sich die Hasardeure der H-H-H-H-Operation ihrerseits mit der Ankunft des hochrangigen Gesandten überfordert und konnten sich längere Zeit auf keine Strategie einigen, wie mit ihm umzugehen sei. Heß hatte wie gesagt erwartet, man würde ihm ein englisches Angebot vorlegen. Als dieses Angebot nicht kam und er registrieren mußte, wenigstens vorerst von politischen Kreisen umgeben zu sein, die an alles andere als an Verhandlungen interessiert waren, gab er keine weiteren Erklärungen ab, die über das hinausgehen würden, was der englischen Regie96 97
Vgl. Halder, KTB, II, S. 414, 15. Mai 1941. Zit. n. Jünger, Erstes Pariser Tagebuch, 25. Oktober 1941.
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rung bereits bekannt war: Interessen Deutschlands außerhalb Europas gebe es nicht, ein Bündnis Deutschland-England sei das beste für beide Staaten. Die Einzelheiten in Bezug auf Europa ließ er gegenüber verschiedenen Gesprächspartnern im Unbestimmten.98 In wechselnden Anläufen versuchten etliche englische Regierungsvertreter dennoch, mehr aus ihm herauszulokken, aber im Großen und Ganzen blieb dies der Stand der nächsten Jahre und Jahrzehnte, wobei ihm in der Spandauer Haft ohnehin verboten wurde, über die Hintergründe des Flugs zu sprechen.99 Schließlich bat der amerikanische Präsident selbst noch Ivone Kirkpatrick um ein weiteres Verhör mit Heß. Vielleicht äußerte der Stellvertreter Hitlers ja doch einige Sätze, die auf eine geplante Bedrohung Amerikas durch die Nationalsozialisten hindeuten würden und sich öffentlich ausschlachten ließen. Was immer die Roosevelt-Administration hier bisher behauptet hatte, völlig überzeugt war die Öffentlichkeit bisher nicht. Dagegen hatte die Nachricht des Heß-Flugs elektrisiert wie nichts mehr dieser Art, „seit dem Lindbergh-Flug“. Allein, Heß konnte nicht mit Bedrohungsszenarien dienen. Hitler wollte nichts von den USA, stellte er schlicht und den Realitäten entsprechend fest. Hier war für die Öffentlichkeitsarbeit der US-Regierung kein Gewinn zu machen, wollte man nicht zur reinen Erfindung übergehen, die in diesem Fall nicht von Enttarnung bedroht sein würde, denn was Heß nach Agenturmeldungen angeblich gesagt habe oder nicht, würde er weder bestätigen noch dementieren können. Unterdessen ging der Streit in der englischen Regierung darüber, was man öffentlich zum Thema Heß verkünden sollte, ungebrochen weiter. Am 15. Mai konnte Churchill vor dem Parlament noch immer nur andeuten, es werde bald „authentische Nachrichten“ geben,100 womit wegen der großen Zeitverzögerung jedem wohl einsichtig war, daß diese Nachrichten bei ihrem späteren Eintreffen alles sein würden, nur nicht authentisch. Da von ehrlichen Verhandlungen mit Heß nicht die Rede war, er also weiterhin vergeblich darauf warten mußte, das von ihm erwartete englische Angebot entgegennehmen zu können, blieb es beim bloßen Streit um die Außendarstellung der englischen Haltung. Am Ende setzten sich mit Eden und Beaverbrook diejenigen durch, die alles in der Schwebe lassen wollten, um sowohl die Sowjets als auch die US-Regierung mit einer möglichen deutsch-englischen Aussöhnung zu erschrecken, was im ersten Fall zweifellos besser gelang als im zweiten. 98 Es ist schwer nachzuvollziehen, warum zahlreiche Darstellungen diese Äußerungen für den Beweis einer allzu simplen Geistesstruktur bei Heß nehmen. Sie waren eine Rückzugsposition auf das, was in einer Umgebung überhaupt gesagt werden konnte, die ihn offenkundig, bis dahin über Mittelsmänner und jetzt fortgesetzt auch persönlich, ausnahmslos belog. 99 So die Auskunft von Wolf Rüdiger Heß. Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 376. 100 Vgl. Schmidt, Heß, S. 213.
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d) Ein Botschafter redet zuviel „Wenn jetzt Churchill zu Stalin geht, der zieht ihm die Haut herunter. Er wird Churchill sagen: ich habe zehn Millionen Menschen verloren. Der Cripps hat mich in die Lage hereingebracht: Hätte er nicht geredet, wären die Deutschen nicht daraufgekommen!“ Adolf Hitler101 „Beim Abendessen ließ sich der Chef über das politische Intrigenspiel der Sowjets in den letzten Jahren vorm Kriege aus. Das Bestreben der Sowjets sei ganz offensichtlich das gewesen, den Balkan in ihrem Sinne anzukurbeln und auf diese Weise eine günstige Absprungbasis gegen uns und damit gegen Gesamteuropa zu erhalten. Bis zur Erreichung dies Zieles hätten sie versucht, uns durch wundervoll scheinende Handelsverträge hinzuhalten, um dann, sobald die Vorbereitungen zum Losschlagen gegen uns abgeschlossen seien, den Ölhahn abzudrehen. Daß dem so gewesen sei, bestätige ihr Verhalten während des Krieges. Ihr Überfall auf Finnland im Winter 1939 habe kein anderes Ziel gehabt als die Gewinnung von Ostsee-Stützpunkten gegen uns. Rumänien als unseren einzigen Öllieferanten wollten sie im Sommer 1941 kaputtmachen. Ihr heimtückisches Konzept sei ihnen aber durch die schnelle Durchführung des Westfeldzuges erschüttert und durch den Blitzfeldzug gegen Jugoslawien endgültig verdorben worden. Deshalb hätten sie sich da auch demaskiert und, während Stalin unseren Botschafter mit den Worten: ‚Wir bleiben ewig Freunde‘ umarmt habe, ihre gegen uns gerichteten Verhandlungen mit Mr. Cripps zum Abschluß gebracht.“102
Seit Stafford Cripps im Sommer 1940 nach Moskau geschickt worden war, waren seine Aktivitäten mit Aufmerksamkeit verfolgt worden, seine Berichte abgefangen und in Berlin gegengelesen worden. Ihre Bedeutung für den Entschluß zum Angriff auf die UdSSR läßt sich kaum überschätzen. Bereits das erste Zusammentreffen zwischen ihm und Stalin veränderte die Haltung Hitlers gegenüber der UdSSR, war doch bereits hier eindeutig zu entnehmen, in welchem Umfang die UdSSR ein doppeltes Spiel spielte. Sie spekulierte auf die Schwäche Deutschlands, faßte ein offensives Vorgehen 101
Hitler am 7. August 1942, zit. n. Jochmann, Monologe, S. 333. Die Zahl von 10 Millionen Toten auf sowjetischer Seite taucht in einem Bericht vom Frühsommer 1942 auf (nicht genau datiert, aber nach Ende April entstanden) und wurde von einem nicht namentlich genannten, „aus Petersburg geflüchteten Ingermannländer“ genannt, der eine umfangreiche und durch handgezeichnete Karten unterstützte Analyse der strategischen Möglichkeiten der UdSSR im weiteren Kriegsverlauf vorbrachte. Danach sei der Krieg erst durch Erreichen der Wolga-Linie strategisch zugunsten Deutschlands entschieden. Vgl. BA-MA RW 4/330, S. 335 ff. 102 Hitler am 27. Juli 1942, zit. n. Picker, Tischgespräche, S. 678. Ein Bericht über ein wichtiges Gespräch zwischen Cripps und Vyšinskij wurde Hitler am 17. März vorgelegt. Vgl. Hewel, Vorlagen, 17. März 1941. Die „Umarmung“ fand am 13. April statt. (s. o.).
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gegen Deutschland ins Auge und war nicht bereit, den nach der Niederlage Frankreichs bestehenden Status quo mit ihrem politischen Einfluß zu stützen. In Berlin lagen Informationen über einen Verhandlungsabschluß Vyšinskij-Cripps offenbar vor.103 Das wird dadurch bestätigt, daß der gleiche Vyšinskij zum jugoslawischen Botschafter Gavrilovic´ bereits im Februar 1941 davon gesprochen hat, die Sowjetunion würde Deutschland angreifen, wenn die Briten eine Balkanfront gegen Deutschland gelingen würde. Auch Gavrilovic´s Berichte nach Belgrad wurden regelmäßig abgefangen. Zuvor bereits gab es in den Berichten immer wieder neues zu bemerken, was auf eine beginnende sowjetisch-englische Interessengemeinschaft schließen ließ. Stafford Cripps meldete im Herbst nach London, daß die Sowjets zu behaupten begännen, daß ihre „Übereinkommen“ mit Deutschland auch Großbritannien nützen würden. Cripps gewann im Oktober 1940 dann nach Gesprächen mit dem Außenkommissar Vyšinskij den Eindruck, daß die Sowjetunion keinen deutschen Sieg im Westen wünsche, weshalb Großbritannien der UdSSR ein attraktives Angebot unterbreiten solle.104 Auch das meldete er natürlich und machte kurz darauf entsprechende Vorschläge. Sie wurden der Sowjetregierung am 22. Oktober überreicht und liefen darauf hinaus, den Sowjets ganz Osteuropa inklusive der baltischen Staaten zu überschreiben. Mit ihnen in der Tasche fuhr Molotov nach Berlin. Jetzt, wo die Anerkennung der sowjetischen Okkupationen der letzten zwei Jahre sowohl von deutscher wie von englischer Seite vorlag, war erreicht, was die UdSSR seit 1939 verlangt hatte. Damit war das deutsch-sowjetische Abkommen „überholt und erschöpft“, wie sich Molotov gegenüber der deutschen Regierung im November 1940 in Berlin ausdrückte. Daher konnte darüber hinaus gegangen werden. Man kann nicht wirklich sagen, „der britische Versuch vom 22. Oktober 1940, die UdSSR für einen Pakt zu gewinnen, scheiterte an Stalins Hoffnung auf bessere Angebote Hitlers.“105 Das Verhalten Molotovs läßt eindeutig den Schluß zu, daß ihn deutsche Teilangebote wenig interessierten, sondern er mit der Rückendeckung des englischen Gebotes aufs Ganze ging. Es entfaltete also seine Wirkung im Rah103 In den Akten des Auswärtigen Amts befinden sich mehrere Berichte oder Auszüge aus Berichten, die im Lauf des Juli 1940 vom den griechischen und jugoslawischen Gesandten in Moskau an ihre Regierungen geschickt wurden. Sie wurden von italienischer Seite abgefangen. Vgl. ADAP, D, X, S. 263 (z. B. Aktenzeichen 270/175 374-79, Aktenzeichen 270/175 381-82, Aktenzeichen 270/175 45152) Vgl. auch die umfangreichen Aufzeichnungen über die englisch-russischen Beziehungen und Cripps“ Aktivitäten in: PA-AA Geheime Reichssache Ref. VLR Schliep, 21. März 1941 Pol. V. Nach Hillgruber zutreffend. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 439. 104 Vgl. Shukov, Erinnerungen, S. 190 ff. 105 Zit. n. Maser, Wortbruch, S. 217.
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men der allgemeinen englischen Absicht, den deutsch-sowjetischen Konflikt zu verschärfen. Josef Stalin hielt – in richtiger Einschätzung der Verhältnisse, wie man sagen muß – eine deutsche Hegemonie über Europa selbst nach dem Sieg über Frankreich für eine „physische Unmöglichkeit“, wie er Cripps im Sommer 1940 wissen ließ.106 Tatsächlich war die UdSSR bereits im Frühjahr des gleichen Jahres zum Zeitpunkt der Europareise des stellvertretenden amerikanischen Außenminister Sumner Welles insofern vorübergehend eine konservative Macht geworden, als Stalin eine weitere Ausdehnung des laufenden Krieges zwar durch die Invasion in Finnland gefördert hatte, aber nach der Ankündigung der Welles-Reise zunächst vorsichtig agierte und mit dem derzeit erreichten territorialen Status quo offenbar einverstanden war, wenn es zu einem Kompromißfrieden zwischen den Kriegsparteien kommen sollte. Ein weiterer Ausbau der direkten oder indirekten Herrschaft der UdSSR in Osteuropa war ja nicht völlig ausschlossen. Die sowjetischen Stützpunkte in den baltischen Staaten gaben jederzeit die Möglichkeit zur völligen Okkupation, die dann ja auch während der nächsten Phase des heißen Krieges im Westen prompt stattfand, vielleicht sogar damals bereits als Auftakt zu weiterem Vormarsch der Roten Armee ins deutsch besetzte Polen und weiter in Richtung Deutschland selbst. Allerdings würde sich Stalin nicht mit weniger als dem Erreichten zufriedengeben, wie er Cripps im gleichen Atemzug beizubringen versuchte, als dieser ihn im Juli 1940 sprechen konnte. Der Zustand vor August 1939 würde nicht wieder hergestellt werden. Was zwischenzeitlich sowjetisch geworden war, sollte sowjetisch bleiben: „Die Grundlage des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts sei das gemeinsame Bestreben gewesen, das alte, in Europa bestehende Gleichgewicht zu beseitigen, das Großbritannien und Frankreich vor dem Krieg aufrechtzuerhalten bestrebt gewesen seien. Wenn der Premierminister das alte Gleichgewicht wiederhergestellt haben möchte . . ., so können wir ihm nicht zustimmen.107
Mit dem erneuten Rückzug Rußlands aus der europäischen Politik, wie ihn Lloyd George und Churchill im März phasenweise erwartet hatten, war also nur in einem beschränkten Sinn zu rechnen. Aber dennoch war hier die Botschaft kaum zu überhören, daß sich die UdSSR einem neuen Gleichgewicht nicht in den Weg stellen würde, ja daß Stalin dieses Gleichgewicht durch die Entwicklung bereits gegeben sah. In dem nun entstandenen Ensemble heterogener und souveräner Mächte würde Moskau wieder offiziell 106
Brügel, Pakt, Dok. 88, zit. n. Ahmann, Bewertung, S. 106. Vgl. auch Pietrow, Stalinismus, S. 197. 107 Brügel, Pakt, Dok. 88. Der Premier hieß zum Zeitpunkt der Äußerung bereits Churchill.
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einer der Mittelpunkte der europäischen Politik sein, nicht nur der Unbekannte im Hintergrund, wie dies in den dreißiger Jahren der Fall gewesen war. Damit war nicht zwangsläufig eine russische Hegemonie über den ganzen Kontinent verbunden, die – wie Stalin wohl wußte – nur durch den ganz großen Krieg zu erreichen und schwer dauerhaft zu sichern war, wenn nicht tatsächlich die Revolution umfangreich durchgesetzt werden würde.108 Wenn eine solche Auseinandersetzung unter den europäischen Staaten stattfinden sollte, stand die UdSSR allerdings für den Versuch zur Umsetzung solcher Maximalziele bereit. Die Stalinsche Rüstungspolitik des letzten Jahrzehnts machte es möglich. Tatsächlich trat diese Situation 1940/41 ein. Bis dies geklärt war, handelte es sich bei der Stalinschen Okuppationspolitik in Osteuropa zunächst jedoch eher um die Rückkehr Rußlands in eine Position, die es Ausgangs des 19. Jahrhunderts erreicht hatte, die einer regionalen Vormacht in Südosteuropa und einer festen Größe im kontinentalen Maßstab Eurasiens. Mit dieser Perspektive konnten Politiker wie David Lloyd George und Winston Churchill wohl leben, ebenfalls im 19. Jahrhundert sozialisiert wie sie waren, zumal damit garantiert war, daß Deutschlands Expansion an ihr Ende gestoßen war und die Sowjetunion als Garant des neuen Gleichgewichts sich jedem deutschen Angriff darauf widersetzen würde. In diesem Sinn stellten der deutsche Sieg über Frankreich und die englische Entscheidung, den Krieg dennoch fortzusetzen, das frühe Ende dieses neuen Gleichgewichts dar. Das hatte die Folge, daß die Sowjetunion nicht von einer längeren Dauer dieses Zustands ausgehen konnte. „Konservativ“ zu sein, das konnte und wollte sich die Moskauer Führung nun nicht mehr leisten.109 Die Mission Cripps’ in Moskau wurde wie gesagt von deutscher Seite von Anfang an mit Argusaugen verfolgt. Das Auswärtige Amt kannte seine persönlichen Beziehungen in Moskau aus abgefangenen Telegrammen seines Vertrauten und jetzigen Kollegen, dem jugoslawischen Botschafter Gavrilovic´ .110 Ende Juli wurde Hitler so ein Bericht von Gavrilovic´ vorgelegt, nachdem die UdSSR laut Cripps angeblich mit einem deutsch-russischen Konflikt rechnen würde, ihn aber nicht in nächster Zeit erwarte. Immerhin, 108 Die sowjetische Führung behielt dieses Ziel allerdings im Auge. Im Januar 1944 leitete Botschafter Maiskij einen Kriegszielentwurf an Stalin und Molotov weiter, der es als notwendig für die „Sicherheit der UdSSR“ bezeichnete, „zumindest das kontinentale Europa“ sozialistisch werden zu lassen. Vgl. Laufer, Dokumente, I, S. 244, 11. Januar 1944. 109 Vgl. dazu den Eintrag bei Litvinov aus dieser Zeit. Es „herrscht Verwirrung bei uns. Man diskutiert darüber, welcher Taktik man folgen soll. Man möchte alles nehmen, was schlecht geschützt oder exponiert ist.“ Zit. n. Litvinov, Memoiren, S. 268 f. 110 Vgl. Gorodetsky, Mission, S. 58 und Irving, Forschungsamt, S. 92.
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so Gavrilovic´, baue die UdSSR ihre Militärmacht stetig aus und verfüge bereits jetzt über 180 Divisionen, die „alle gegen Deutschland gerichtet“ seien. Zunächst jedoch kamen aus Talinn (Reval) erste Gerüchte über Cripps Aktivitäten nach Berlin. Der dortige Gesandte Frohwein meldete Interessantes über die Aktivitäten der westlichen Botschaften, und schob Cripps indirekt eine Mitverantwortung für die schnelle sowjetische Expansion ins Baltikum zu. Dem estnischen Staatspräsidenten seien Nachrichten aus Moskau zugegangen, wonach Cripps wiederholt lange Gespräche mit Molotov hatte: „Von hiesigem Umkreis englischer und französischer Gesandtschaft wird verbreitet, Sowjetbesetzung Baltenstaats richte sich gegen Deutschland; Sowjetunion lasse drei Millionen Soldaten an Ostgrenze deutschen Einflußgebiets aufmarschieren, um Deutschland zu Truppenabziehungen im Westen zu veranlassen und damit Westmächten zu helfen.“111
In der Tat gehörte letzteres zu den offensichtlichen Wirkungen der sowjetischen Aktionen. Das deutsche Oberkommando konnte die Grenze zur sowjetischen Einflußzone nicht mehr länger unbewacht lassen und verlegte jetzt seinerseits Truppen in größerem Umfang in Bereitstellungsräume östlich von Berlin, um einen sowjetischen Angriff abfangen zu können. Der in Diplomatenkreisen genannte politische Effekt war erreicht. Berichte aus der Ukraine hatten im Vormonat bereits von wenigstens siebenhunderttausend russischen Soldaten gesprochen, die zum Vormarsch bereitstünden. Dem hatte die deutsche Armee in diesem Raum zu dieser Zeit nichts entgegen zu setzen, da gerade die Kämpfe um Dünkirchen und die anschließende Schlacht um Frankreich stattfanden. Letztlich dienten diese sowjetischen Truppen Ende Juni 1940 als Drohkulisse für die Okkupation von Teilen Rumäniens. Zweifellos hätten sie jedoch auch in Richtung Deutschland marschieren können, sollten die Kämpfe im Westen sich hinziehen und vielleicht doch noch in einem Unentschieden enden. Dann würde die deutsche Ostgrenze bis in den Herbst praktisch unverteidigt bleiben müssen. Dies galt allgemein als das wahrscheinlichste Szenario. Niemand in den Generalstäben hatte damit gerechnet, daß die französische Armee die Auseinandersetzung mit der deutschen Wehrmacht derart vollständig und schnell verlieren würde. Diese Niederlage änderte auch die sowjetischen Einschätzungen der Lage. Sollte man in Moskau daran gedacht haben, bei einem Scheitern der Westoffensive zu militärisch gestütztem, politischen Druck auf Deutschland überzugehen oder gar eine Offensive einzuleiten,112 dann war dies zunächst schwieriger geworden. Das änderte allerdings nichts an der prinzi111
Gesandter Frohwein am 20. Juni 1940 an das AA, zit. n. ADAP, D, IX, Dok. 494, S. 518. 112 Man hatte in der Tat daran gedacht, dazu an anderer Stelle mehr. Vgl. Krylov, Officer, S. 16 ff.
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piellen Schwäche von Deutschlands Position, die aus sowjetischer Sicht nach wie vor gegeben war und eine deutsche Hegemonie über Europa nach Stalins Ansicht unmöglich machte. Die Version des Berichts über das Gespräch zwischen Stalin und Cripps, die Stalin nach Berlin weiterreichen ließ, formulierte das wohl auch mit Blick auf den deutschen Adressaten deutlich. Cripps äußerte sich bei Halifax so: „Mein allgemeiner Eindruck nach diesem Interview war, daß Stalin im Moment bereit ist, deutsche Proteste zu ihrem Nennwert zu nehmen um sich selbst dafür zu entschuldigen, daß er jetzt nicht gemeinsam mit uns gegen Deutschland arbeitet. Er fühlt wahrscheinlich, daß die UdSSR noch nicht bereit ist und tut alles nötige um eine deutsche Attacke soweit hinauszuzögern, bis es für dieses Jahr zu spät ist und vor dem nächsten Frühling keine solche Attacke mehr möglich ist. (. . .) Stalin setzt auf unsere Seeherrschaft, die Deutschland eine Hegemonie über den Kontinent unmöglich machen wird, bis die UdSSR bereit ist. Aber er will auch freundlich zu uns sein und uns in unserem Kampf gegen Deutschland unterstützen, vorausgesetzt, wir revanchieren uns in dieser Hinsicht so weit wir das können.“113
Der russische Aufmarsch hatte bald weitere Wirkungen. Zu den Motiven, die im Sommer 1941 als Grund für den deutschen Angriff gegeben wurden, zählte die politische Bedrohung durch die russische Truppenstationierung an der deutsch-russischen Einflußgrenze. Sie begrenzte und behinderte jeden deutschen Versuch, in Südosteuropa etwas gegen die drohenden Entwicklungen zu unternehmen. Dort kamen die Dinge zusehends ins Rutschen, unter anderem durch den türkisch-russischen Gegensatz, denn die sowjetische Führung hatte die Türkei bereits ernsthaft als Ziel der eigenen Expansion ins Auge gefaßt. „Unterdessen scheinen sich die Russen mit den Türken wegen der Dardanellen anlegen zu wollen,“114 notierte Churchills Sekretär am 9. Juli 1940. Dies blieb in den nächsten Monaten ein Thema der sowjetischen Außenpolitik bis hin zum Vorschlag, die Achsenmächte sollten gemeinsam mit der Roten Armee in der Türkei einmarschieren, um der UdSSR dann die Stützpunkte an den Dardanellen zu überlassen. Aber im sicheren Gefühl, im umworbenen Zentrum einer Dreiecksauseinandersetzung zu stehen, also die Wahl zu haben, spielte die türkische Regierung das sowjetische Militär bald auch gegen Deutschland aus. Der türkische Generalstabschef Asim Gunduez setzte die Rote Armee im Vorfeld des Molotov-Gipfels offen als Druckmittel ein. Da sich die Dinge zu Ungunsten der Achsenmächte entwickelt hatten, drohte er mit einem Angriff auf Bulgarien, wie deutsche Diplomaten aus Ankara berichteten: „Andeutung türkischer Offensivabsichten gegen Bulgarien für Fall bulgarischen Vorgehens gegen Griechenland und Möglichkeit zum mindesten indirekter russi113 Cripps an Halifax, 2. Juli 1940, FRO 371/24842, S. 248, hier zit. n. Debski, Stosunki, S. 392. 114 Zit. n. Colville, Tagebücher, S. 140, Eintrag 9. Juli 1940.
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scher Unterstützung Türkei für Fall deutschen Angriffs auf diese. . . . Türkei besitze heute fünfzig Divisionen. Deutschland werde weiterhin mit zweihundertachtzehn russischen Divisionen an russischen Westgrenzen rechnen müssen.“115
Gunduez lagen offenbar genauere Nachrichten über den Stand der sowjetischen Rüstung vor. Die Nachricht spielte auf eine Möglichkeit an, die sich im Frühjahr 1941 tatsächlich konkretisieren sollte: eine gemeinsame Operation der UdSSR zusammen mit einigen Balkanstaaten gegen die beiden Achsenmächte. Zunächst entnahm die deutsche Führung den abgefangenen Berichten Cripps über Stalins derzeitige Vorsicht und seinen Plan, erst später gegen Deutschland aufzutreten, jedoch die Erwartung, den Krieg vielleicht stoppen zu können. Am 14. September 1940 hatte Hitler mit Generalstabschef Halder, Großadmiral Erich Raeder und General Hans Jeschonnek eine Besprechung aller drei Waffengattungen, die das zum Ausruck brachte: „Der Feind wird sich darüber klar sein, daß die von ihm angestrebten Voraussetzungen nicht eingetreten sind. Das von Rußland erwartete ‚Ausbluten‘ (Deutschlands im Westfeldzug) kam nicht. Wir haben größte Erfolge erzielt ohne große Verluste. Daraus ergibt sich für den Feind eine neue Beurteilung der Lage. Moskaus bisherige Rechnung war schief. Diese Erkenntnis hat bereits eine bremsende Wirkung im Vorgehen Rußlands gegen Finnland und auf dem Balkan zur Folge gehabt. Wir sind daran interessiert, eine Veränderung der Lage auf dem Balkan zu verhindern. Auch im Ostseeraum sind wir daran interessiert, eine Lage zu verhindern, die unsere strategische Lage im Ostseeraum erschweren könnte.“116 „Lange Dauer des Krieges nicht erwünscht. Was für uns praktischen Wert hat, haben wir erreicht.“117
Stafford Cripps, der auf seiner Moskauer Mission solche Entwicklungen nach Kräften förderte, brachte die Moskauer Diplomatie phasenweise etwas in Schwierigkeiten, da er darauf bestand, nur hochrangige Regierungsvertreter (senior officials) sehen zu wollen. Da Molotov ihn des öfteren nicht vorließ, schon aus Rücksicht auf die Deutschen, denen solche Kontakte natürlich besonders suspekt waren, verfiel man auf die höchst elegante Lösung, ein neues Amt zu schaffen. Andrej Vyšinskij, der Richter und Organisator der Schauprozesse von 1937 und künftiger Tabuwächter im Nürnberger Prozeß von 1945 wurde zum stellvertretenden Außenminister befördert.118 Vyšinskij war also bestens qualifiziert für seine Aufgabe, als er 1945 zu entscheiden hatte, was in Nürnberg alles nicht zur Sprache kommen sollte. 115 Bericht des deutschen Diplomaten H. Kroll vom 6. November 1940, in: AA/ Büro St. S./Akten betr. Türkei Bd. 2, zit. n. Fabry, Beziehungen, S. 234. 116 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 98, 14. September 1940, Besprechung ab 15.00 Uhr. 117 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 98, 14. September 1940, Besprechung ab 15.00 Uhr. 118 Vgl. Gorodetsky, Mission, S. 72.
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In den nächsten Monaten vertrat er eine der beiden Linien der sowjetischen Außenpolitik, da Stalin die personelle Trennung mit einer politischen verband und „beide Spiele“ gleichzeitig spielen wollte, das mit den Deutschen ebenso wie das mit den Engländern, „dabei eins Molotov überlassend und das andere Vyšinskij!“.119 Trotz solcher Probleme blieb Stafford Cripps in Moskau scheinbar nicht erfolglos, da der deutsch-russische Konflikt auf eine Auseinandersetzung zutrieb, die Cripps stets förderte. Anfang April forderte er die Rote Armee direkt zum Angriff auf dem Balkan auf.120 Dies Vorgänge wurden in Berlin ebenfalls beobachtet. Wenn Hitler in den „Tischgesprächen“ darauf hinwies, die russischen Verhandlungen mit Cripps seien abgeschlossen worden, während Stalin dem deutschen Militärattaché noch so wohlwollend auf die Schulter geklopft habe, dann spiegelt sich dies in den Meldungen wider, die ihm in diesen Tagen vorgelegt wurden. Wurden ihm einmal die Details über Matsuokas Abschied auf dem Bahnhof bei Stalin bekannt, so lagen drei Tage später die Berichte über die „Behandlung Cripps“ und die „Englische Aufhetzung Moskaus“ auf seinem Tisch.121 Gerüchte über mögliche Forderungen Deutschlands und einen wirtschaftlichen Hintergrund des Streits zwischen Deutschland und der UdSSR gab es zu dieser Zeit ebenfalls reichlich. Ende April etwa konnte Cripps von seinem italienischen Kollegen sowie von Diplomaten neutraler oder Großbritannien freundschaftlich gesinnter Staaten erfahren, Deutschland strebe wahrscheinlich eine Einflußnahme auf Schlüsselbereiche der sowjetischen Volkswirtschaft an.122 Die englische Regierung hatte auch andere Quellen, die ein eindeutigeres Bild vermittelten. Der polnische Untergrund arbeitete intensiv an einer Analyse der Situation. Am 23. Mai 1941 schrieb Polens aktueller Regierungschef General Sikorski schon sehr konkret über den bevorstehenden deutschen Angriff an Churchill. Da der größte Teil der deutschen Einheiten auf dem polnischen Vorkriegsterritorium stationiert war, verfügte die polnische Regierung über recht gute Informationsquellen darüber. Sikorski konnte Churchill melden, daß die Vorbereitungen praktisch abgeschlossen seien, bis auf die motorisierten Einheiten und die Luftwaffe, 119
So Cripps am 23. Oktober 1940 in einem Brief an Sir Hugh Knatchbull-Hugessen, den englischen Botschafter in der Türkei, nachdem er einmal mehr nicht zu Molotov vorgelassen worden war. Zit. n. Gorodetsky, Mission, S. 79. 120 Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 220, Schreiben von Cripps an Vyšinskij vom 9. April 1941. 121 Vgl. Hewel, Vorlagen, S. 62, 12. April bzw. 15. April 1941. 122 Zit. n. Pietrow, Stalinismus, S. 235. Pietrow bezieht sich auf Cripps to Foreign Office (26. April 1941) in: PRO Northern-1941-Soviet-Union, File 78, Sign. 371/29480, ebd. Halifax (Washington) to FO, File 78, Sign. 371/29481. Ähnlich auch Weizsäcker, Berlin den 22.5.1941. AA, PA Büro des Staatssekretärs, Akten betr. Rußland.
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die der deutsche Generalstab – wegen der Geheimhaltung und der Gefährdung durch sowjetische Angriffe – natürlich erst in der letzten Minute in die Bereitstellungsräume transportieren werde.123 Auch wegen dieser logistischen Feinheiten sei der deutsche Aufmarsch nicht so klar erkennbar wie der russische, setzte Sikorski hinzu. Am 18. Juni 1941 traf Sikorski dann selbst mit Stafford Cripps zusammen und hatte ein längeres Gespräch mit ihm.124 Jetzt, drei Tage vor dem Angriff, waren auch die deutschen Panzertruppen und die Luftwaffe an der Grenze versammelt, wie Sikorski berichten konnte. Cripps stimmte zu, daß die Attacke unmittelbar bevorstehe und in den nächsten Tagen zu erwarten sei. Seiner Meinung nach sei es nur einen Monat her, daß Hitler sich „auf Görings Seite gestellt“ und die endgültige Entscheidung zum Angriff auf Rußland getroffen habe. Noch nach der Rückkehr Schulenburgs aus Berlin sei dies nicht sicher gewesen, wie Schulenburg einem Bekannten von ihm gesagt habe.125 Sikorski entgegnete, die Entscheidung müsse unmittelbar vor dem Flug von Heß nach England am 10. Mai gefallen sein, womit beide den Zeitkorridor ungefähr gleich und weitgehend richtig eingeschätzt hatten, denn Hitler hatte die Entscheidung zum Angriff ja am 28. April formuliert, da die Sowjets „sich da auch demaskiert und, während Stalin unseren Botschafter mit den Worten: ‚Wir bleiben ewig Freunde‘ umarmt habe, ihre gegen uns gerichteten Verhandlungen mit Mr. Cripps zum Abschluß gebracht“ hatten. Verhandlungsführer Cripps bestätigte im nachhinein die deutschen Motive, mit dem Angriff eine ständige Bedrohung beseitigen zu wollen: „Hitler will Krieg und nicht bloß eine Verständigung mit Stalin unter militärischem Druck. Dies ist kein Fall von Erpressung, sondern der Wunsch, Rußlands Militärmacht zu zerstören, da das doppeldeutige Verhalten Rußlands gegenüber dem Reich eine ständige Bedrohung für Deutschland darstellt. Er ist nicht länger an wirtschaftlichen Verhandlungen oder Zugeständnissen interessiert, da sie Forderungen militärischer Natur nicht ersetzen können. Hitler will die militärische Bedrohung ein für allemal beseitigen, um damit die Möglichkeit eines russischen Angriffs zum Zeitpunkt seines Endkampfs gegen England auszuschließen.“126
Auch Stafford Cripps war damit letztlich bei der Meinung angekommen, die kommende deutsche Attacke würde ein von den Sowjets erzwungener, ein Präventivkrieg sein. Er mußte es wissen, hatte er doch seit einem Jahr daran gearbeitet, die UdSSR zu einem „doppeldeutigen Verhalten“ gegen123 GSHI, PRM 39-a, hier zit. n. Sikorski, Documents, Doc. 84, S. 102 f., Sikorski an Churchill am 23. Mai 1941. 124 GSHI, PRM 39-b, hier zit. n. Sikorski, Documents, Doc. 84, S. 103 ff., Anwesend auch ein Dr. Józef Retinger, polnischer Chargé d’Affaires in Moskau. 125 Zit. n. Sikorski, Documents, Doc. 84, S. 104. 126 Zit. n. Sikorski, Documents, Doc. 84, S. 104 f.
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über Deutschland zu veranlassen und die stete Drohung eines russischen Angriffs im Bewußtsein der deutschen Führung zu verankern. Rußland würde jedoch erst angreifen, wenn der Sieg aus eigener Kraft gesichert sei fuhr Cripps fort: „Rußland glaubt nicht an eine kommunistische Erhebung in Deutschland und plant keinen kommunistischen Kreuzzug im Westen. Man wartet auf den Zeitpunkt, wenn Deutschland von seinem Krieg gegen den Westen geschwächt sein wird und wird seine Aktionen nicht früher beginnen. In der Zwischenzeit, so lange Hitler nicht die Seeherrschaft hat, kann er nicht siegen. Das war auch Stalins Meinung, die er vor kurzem geäußert hat.“127
Dies ist in der Tat eindeutig. Nun hatte Cripps keine wirkliche Vorstellung vom Umfang der sowjetischen Militärvorbereitungen, die den Zeitpunkt weit vorverlegten, an dem die deutsche Wehrmacht im Vergleich zur Stärke der Roten Armee relativ geschwächt sein würde. Dieser Zeitpunkt wurde ebenso durch die immer noch erstaunlich geringe deutsche Rüstungsproduktion vorverlegt. Der ideale Zeitpunkt mußte zudem – wie oft übersehen wird – idealerweise auch damit korrespondieren, daß andere Mächte zwischenzeitlich nicht zu stark geworden waren und etwaige von der Roten Armee in Kontinentaleuropa geschaffene Tatsachen gleich wieder in Frage stellen konnten. Je stärker die englische Rüstung sich wieder erholt haben würde oder der Einfluß der USA sich auf dem Kontinent geltend machen würde, desto geringer waren die Erfolgschancen für den ganz großen und dauerhaft erfolgreichen sowjetischen Schlag gegen Kontinentaleuropa. Unter diesem Aspekt konnte das Jahr 1941 als gute Wahl für einen sowjetischen Angriff gelten. Nicht zuletzt die Äußerungen von Stafford Cripps dürften es gewesen sein, die Hitler, wie in den Tischgesprächen eingestanden, letztlich zur eigenen Angriffsentscheidung motiviert haben, um diese Möglichkeit auszuschließen.
127
Zit. n. Sikorski, Documents, Doc. 84, S. 105.
VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht 1. Propaganda und Tatsachen „Obwohl die Verfassung das Recht, Krieg zu erklären, dem Kongreß zuschreibt, ist es in der Hand des Präsidenten, eine Lage zu schaffen, in der es mitunter keine andere Lösung als Krieg gibt.“ Foster Rhea Dulles1 „Es wäre Selbstmord zu warten, bis sie (die Feinde) sich in unserem Vorgarten befinden.“ Franklin D. Roosevelt2
Als Vjacˇeslav Molotov am frühen Morgen des 22. Juni 1941 die sowjetische Führungselite über den gerade begonnenen deutschen Angriff unterrichtete, meinte er zur deutschen Begründung nur lapidar, sie sei Standard – die Deutschen hätten angeblich einem russischen Angriff zuvorkommen wollen. Damit könnte er gemeint haben, es sei russischer Standard, denn auch die Angriffe auf Finnland und die Militarisierung des Baltikums wurden offiziell mit eben dieser Begründung von sowjetischer Seite vorangetrieben, was gerade im Fall Finnlands von kaum noch zu überbietender Lächerlichkeit gewesen war. Er konnte mit dieser Bemerkung aber ebenso gut darauf anspielen, daß etliche deutsche Angriffe auf andere Länder so begründet worden waren, etwa die Besetzung Norwegens und der Einmarsch in die Benelux-Länder. Molotov konnte schließlich ganz allgemein auf einen geschichtlichen Standard rekurrieren, denn schon Cäsar hatte die Invasion Englands damit gerechtfertigt, daß von dort Gefahren für das römische Reich drohten. Es sind viele Kriege der Weltgeschichte mit diesem Standardargument gerechtfertigt worden. Wer zuerst die Grenze überschreitet, ist in einem weiteren Sinn nicht immer der Angreifer. Internationale Verträge unterscheiden deshalb wohlweislich zwischen dem „Angriffskrieg“ und dem „provozierten Angriffskrieg“. Dazu gibt es weitere Möglichkeiten, einen Krieg zu beurteilen, etwa nach 1
Dulles in seinem 1937 erschienenen Buch: „Forty Years of American-Japanese Relations“, hier zit. n. Ingrimm, Auflösung, S. 165. 2 Roosevelt in einer Rundfunkrede am 27. Mai 1941, hier zit. n. Churchill, Weltkrieg III/1, S. 179.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
seinen Zielen und seinem Verlauf. Im Zusammenhang mit dem deutschen Angriff auf die UdSSR hat sich der Begriff „Präventivkrieg“ zum Reizwort entwickelt, die Debatte um die „Präventivkriegsthese“ zu einer Art Gretchenfrage nicht nur der Zeitgeschichte, sondern des deutschen Selbstverständnisses.3 Über die Definition des Präventivkriegs wird daher auch unter moralischen Gesichtspunkten gestritten, wobei offen oder stillschweigend vorausgesetzt wird, bei Vorliegen eines Präventivkriegs sei dieser Krieg moralisch zu billigen oder jedenfalls als Gewissensentscheidung nachvollziehbar. Technisch gesehen, stehen sich zwei Präventivkriegsbegriffe gegenüber. Ein engerer Begriff, der einen Präventivkrieg nur gegeben sieht, wenn der Gegner selbst unmittelbar vor dem Angriff steht, steht einem erweiterten Begriff gegenüber, der militärische Schläge gegen einen potentiellen Gegner und erklärten Feind auch dann als präventiv bezeichnet, wenn der Gegner selbst aktuell nicht zu einem Angriff bereit war, wohl aber als prinzipieller Feind betrachtet werden kann, der zu einem späteren Zeitpunkt angreifen wird. Dies ist jederzeit die gängige Präventivkriegsdoktrin amerikanischer Präsidenten seit Franklin D. Roosevelt gewesen und stellte auch letztlich die Rechtfertigung der Administration Bush für den Angriff auf den Irak im Jahr 2003 dar. Zwischen beiden Begriffen gibt es eine erhebliche Grauzone, da der genaue Rüstungsstand des ins Auge gefaßten Gegners, die Dislozierung seiner Waffen und letztlich seine wirklichen Absichten niemals vollständig bekannt sind und auch nie bekannt sein können. So kann es geschehen, daß der Präventivschlag gegen Massenvernichtungswaffen infolge von deren Nichtexistenz ins Leere läuft. Andererseits besteht die Möglichkeit, daß ein öffentlich verkündeter Präventivschlag gegen eine militärische Bedrohung den Umfang der Gefahr sogar unterschätzt hat – was für den deutschen Angriff auf die UdSSR galt. Wirft man einen Blick in die Tradition des preußisch-deutschen Generalstabs und des Politikverständnisses im Auswärtigen Amt, so findet man dort den erweiterten Präventivkriegsbegriff in Gebrauch, der im Prinzip dem eben skizzierten amerikanischen Verständnis entspricht.4 Zeitgenossen 3 Um diese Frage ranken sich deshalb Anekdoten wie etwa die, der damalige Bundespräsident Richard v. Weizsäcker, Egon Bahr und andere hätte einem russischen Fernsehteam Anfangs der 1990er Jahre erklärt, selbst wenn Hitler seinem Kontrahenten Stalin nur zuvorgekommen sei, dürfe das nicht öffentlich werden, weil Hitler damit entlastet sei. Vgl. Strauss, Historikerstreit, S. 45. Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung verbreitet in ihrem Internetauftritt die abwegige Information, erst nach Kriegende sei unter dem Eindruck der Niederlage die „Legende“ eines deutschen Präventivkriegs aufgekommen, was wie eine Bestätigung der Richtigkeit solcher Anekdoten wirkt. Vgl. http://www.bpb.de/publikationen/ D91UVE,0,0,Pr%4ventivkrieg_gegen_die_Sowjetunion.html, zuletzt eingesehen am 27.4.2010.
1. Propaganda und Tatsachen
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des deutschen Angriffs auf die UdSSR ziehen einen weiteren Begriff des „praevenire“ vor. Ernst v. Weizsäcker etwa, Staatssekretär im Auswärtigen Amt und wohlgemerkt ein Gegner des deutschen Angriffs auf die UdSSR von 1941, schrieb über den Zweck des von ihm abgelehnten Unternehmens: „Zweck eines solchen Feldzuges müßte jedenfalls ein, Sowjetrußland als Zünglein an der Waage auszuschalten für den Fall, daß die gegenseitige Erschöpfung zwischen Deutschland und England immer mehr und immer länger fortschreitet, so daß Deutschland Gefahr liefe, das Opfer einer bolschewistischen Bedrohung von Osten her zu werden. Dieser Ostkrieg wäre also ein Präventivkrieg.“5
In diesem Begriff ist nicht die Überlegung enthalten, ein Angriff der UdSSR würde unmittelbar bevorstehen. Präventiv verhindert werden soll ein möglicher späterer Angriff, stillschweigend angenommen, die UdSSR würde ihn bei Gelegenheit führen.6 Dies ist vom erweiterten Präventivkriegsbegriff zunächst abgedeckt. Als Hitler am 22. Juni den Angriff auf die UdSSR öffentlich begründete, argumentierte er ausführlich mit wirklichen und vermeintlichen russischen Vertragsverletzungen. Dies wirkte auf manche Beobachter überraschend passiv und sehr um eine Rechtfertigung bemüht. Den deutschen Soldaten, denen nach dem Überschreiten der Grenze ein an Zahl mehr als gleichwertiger und mit unübersehbaren Mengen an Kriegsmaterial ausgestatteter Gegner entgegentrat, erschien diese Argumentation wenigstens im nachhinein gerechtfertigt. In jedem Fall hat Hitlers Erklärung die jahrzehntelange Debatte um die Präventivkriegsfrage entsprechend beeinflußt. Seine Argumentation war weit davon entfernt, es sich vergleichbar einfach zu machen wie der amerikanische Präsident, als dieser drei Monate später der US-Flotte den Schießbefehl auf deutsche U-Boote gab und dies dem amerikanischen Volk in einem seiner schlichten Bilder verständlich machte: „Wenn man einer Klapperschlange gegenübersteht, dann wartet man nicht, bis sie sich erhebt. Man zertritt sie vorher.“ 4 Es ist anachronistisch, wenn etwa Manfred Messerschmidt diesem Präventivkriegsverständnis die Berechtigung absprechen will, sich „Präventiv“ zu nennen. Vgl. Messerschmidt, Präventivkrieg?, S. 31. 5 Zit. n. Weizsäcker, Papiere, S. 232, 16. Januar 1941. 6 Weizsäcker beschäftigte sich in den Tagen zwischen 16. und 19. Januar offenbar intensiv mit den Folgen und dem Nutzen eines Kriegs gegen Rußland. Er sah unter keinen Umständen einen Sinn, befürchtete erhöhten Rohstoffverbrauch, ausbleibende Nahrungsmittellieferungen, das Scheitern einer Auflösungsstrategie gegen das Land und möglichen „zaristischen“ Revisionismus. „Auch bei weiterer Überlegung kehre ich zu meiner Ansicht zurück, daß wir nicht mit Rußland anbinden sollten. Das könnte nur tun, wer gewissermaßen einem Automatismus u. dem Worte folgte: L’Allemagne s’ennuie, oder wer sich einbildet, die geschichtliche Regie unserer Zeit besser zu durchschauen, als es uns Menschen von heute zusteht.“ Vgl. Weizsäcker, Papiere, S. 233, Eintrag vom 19. Januar 1941.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
Dies klang dem amerikanischen Publikum in seiner Mehrheit plausibel.7 Allerdings gab es auch Kritik, denn das hier offensichtlich gemeinte Deutschland hatte keine Möglichkeit, die USA zu bedrohen. Auch im Fall Japan mußte Roosevelt die amerikanische Flotte erst mehrere tausend Kilometer Richtung Japan verlegen, um sie für den Gegner erreichbar zu machen. Das wichtige daran war nicht einmal die fehlende Absicht, denn Absichten können sich ändern und kein Staatschef kann dies sicher voraussagen. Es fehlten jedoch die Mittel, besonders im Fall Deutschland. Die deutschen Streitkräfte konnten nicht einmal den englischen Kanal überqueren, wie ein zeitgenössischer Beobachter anmerkte. Keine Flotte lag bereit, die in Richtung Westen auslaufen konnte. Sie existierte nicht, auch war sie in absehbarer Zukunft nicht in Bau. Kein deutsches Flugzeug konnte den Atlantik überwinden und Landtruppen ebenfalls nicht. An den Grenzen der USA standen keine zehntausend Panzer, wie sie das deutsche Oberkommando in den Händen der UdSSR vermutete,8 auch keine 160 Divisionen Infanterie, die man in Berlin im westlichen Teil der UdSSR erkannt zu haben glaubte. Deutsche Streitkräfte bedrohten keine für die USA wichtigen Rohstoffquellen irgendeiner Art. Amerikanische Nickelgruben und Rohölförderstationen lagen außer der Reichweite des deutschen Militärs. Es gab auch keine Rohstoff- oder Nahrungsmittellieferungen, die Deutschland zum Schaden der USA hätte stoppen können, während Deutschland auf die Lieferungen aus der UdSSR dringend und entscheidend angewiesen war. Wie man die USA besiegen könne, wisse er nicht, meinte Hitler nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour zum japanischen Botschafter. In seinen Händen jedenfalls gab es keine Mittel, die einen Angriff ermöglicht hätten. Nichts was Deutschland unternahm oder unterließ, konnte die Sicherheitslage der Vereinigten Staaten ernsthaft beeinflussen. Dennoch nahm Roosevelt hier das Recht auf präventive Selbstverteidigung für die USA öffentlich in Anspruch. Will man dies auch für eine bloße Propagandabehauptung halten, wofür manches spricht, dann bleibt immer noch die Tatsache, daß diese Argumentation geschichtsmächtig ge7
Hierin besteht auch Kontinuität, wie die breite Zustimmung der amerikanischen Öffentlichkeit zum 2003 geführten Irak-Feldzug zeigt, der praktisch mit einer identischen Begründung geführt wurde. 8 „Panzerzahl im ganzen . . . sehr groß (bis zu 10000 gegenüber 3 1/2 Tausend dt. Pz. Kampfwagen), aber voraussichtlich überwiegend geringwertig. Immerhin Überraschungen nicht ausgeschlossen.“ Zit. n. Halder, KTB, II, S. 267, 2. Januar 1941. Die Überraschungen kamen dann tatsächlich: „Die Zahl der feindlichen Panzerwagen wurde ursprünglich auf 10000 geschätzt, wird jetzt aber mit 20000 angenommen. . . . Vielleicht ist es aber gut, daß wir das alles nicht gewußt haben; denn sonst hätten wir uns unter Umständen von einem Präventivkrieg abhalten lassen und müßten dann doch in einem wesentlich ungünstigeren Augenblick die Zeche bezahlen.“ Vgl. Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 191, 8. August 1941.
1. Propaganda und Tatsachen
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worden ist und auch nicht zum letzten Mal von einer amerikanischen Regierung gebraucht wurde. Zusätzlich garniert mit einigen Mutmaßungen über deutsche Angriffspläne über den Atlantik hinweg führte Roosevelt sein Land mit dieser Argumentation eine deutliche Stufe auf der Eskalationsleiter hinauf. Der Präventivkrieg galt ihm als selbstverständliches Recht. Ähnlich argumentierte auch ein anderer Zeitgenosse, der sowjetische Außenminister Molotov. Der sowjetische Angriff auf Finnland sei eine vorausschauende Reaktion auf finnische Kriegsvorbereitungen, so begründete er den Krieg im nachhinein vor dem Nationalitätenrat.9 Nicht weil Finnland selbst die unmittelbare Absicht gehabt habe, die UdSSR anzugreifen, sondern wegen der Befestigung der finnischen Grenze nördlich von Leningrad, sagte er: „Kurz gesagt, die Kriegshandlungen in Finnland zeigten, daß Finnland und vor allem die karelische Landenge bereits gegen 1939 in ein fertiges Kriegsaufmarschgebiet für dritte Mächte zum Überfall auf die SU verwandelt worden waren. . . . Die Rote Armee hat nicht nur das zum Überfall auf Leningrad vorbereitete finnische Kriegsaufmarschgebiet vernichtet, sondern auch gewisse sowjetfeindliche Pläne, die in den letzten Jahren von einige dritten Ländern gehegt wurde, liquidiert.“10
So konnten also selbst Befestigungen kleinerer Länder zur Begründung für einen Angriff auf diese herangezogen werden. Abgesehen von dem konkreten Fall, daß dies gegenüber Finnland angesichts der Größenordnung beider Länder doch ein wenig an den Haaren herbeigezogen wirkte, ist die Begründung an sich durchaus folgerichtig. Ähnliche Überlegungen haben im Verhältnis Deutschland-Tschechoslowakei eine große Rolle gespielt. Die tschechischen Befestigungsanlagen an der Grenze zu Deutschland, verbunden mit einer modern gerüsteten Streitmacht und engen Militärbündnissen mit anderen Mächten, machten die Tschechoslowakei zu einem militärischen Problem, das beispielsweise durch russische Verstärkung schnell unterfüttert werden konnte.11 Nicht nur gegen Befestigungsanlagen, sondern auch gegen die Rüstung potentieller oder wirklicher Gegner wurden im 20. Jahrhundert bewaffnete Schläge geführt. Inwieweit der Anlaß dafür aktuell sein konnte, blieb einer Analyse des Einzelfalls überlassen. Der israelische Überraschungsangriff von 1967 traf die Nachbarn des Landes und ihre Luftwaffe offenbar in einem Moment konkreter Kriegsplanung. Ein Jahr vor 9
Vgl. BA-MA 19 III/381, S. 21–28, 29. März 1940. Zit. n. BA-MA 19 III/381, S. 22, 29. März 1940. 11 Im deutschen Offizierskorps wurde der Einmarsch in das künftige Protektorat im März 1939 teilweise unter diesem Aspekt begrüßt. Das sei „die Ausschaltung Rußlands aus Europa“ notierte der spätere Generalquartiermeister Wagner in seinem Tagebuch. Vgl. Wagner, Generalquartiermeister, S. 82, hier zit. n. Arnold, Besatzungspolitik, S. 64. 10
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
Hitlers Proklamation über die sowjetische Bedrohung hatte Winston Churchill allerdings einen Angriff auf die eben noch verbündete französische Flotte durchführen lassen, die überfallartig und um den Preis Tausender Toter versenkt wurde, ohne mehr als eine theoretische Bedrohung Großbritanniens darzustellen. 2. Völkerrecht als Teil von Machtpolitik „Weshalb sie ihn (den Vertrag) brachen, die Anschuldigungen und Streitpunkte habe ich zuerst behandelt, damit nicht einmal jemand fragt, woher denn ein so gewaltiger Krieg unter den Hellenen ausbrach. Den letzten und wahren Grund, von dem man freilich am wenigsten sprach, sehe ich im Machtzuwachs der Athener, der den Spartanern Furcht einflößte und sie zum Krieg zwang.“ Thukydides12
Im Rahmen der innerdeutschen Diskussion über wirkliche und angebliche „Verbrechen der Wehrmacht“, die in den Jahren nach 1995 intensiv geführt wurde, trat über den Begriff des „Verbrechens“ auch die Frage nach den 1941 gültigen rechtlichen Normen in den Vordergrund. Wo Verbrechen begangen worden sein sollen, mußte gegen geschriebene oder wenigstens ungeschriebene Gesetze verstoßen worden sein. Die Protagonisten der Anklage haben den Merkmalen des internationalen Völkerrechts dabei relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zu den Besonderheiten dieses Rechts zählt jedoch insbesondere seine außergewöhnliche politische Formbarkeit. Bereits in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, daß etwa dem Nürnberger Prozeß umfangreiche Absprachen der Siegermächte vorausgingen. Sie führten während des Prozesses zur Ausblendung weiter Teile des Völkerrechts und zahlreicher alliierter Vertrags- und Normenverstöße. Hier zeigte sich in der gerichtlichen Anwendung des Völkerrechts sein substantieller Makel, keine unabhängige Justiz und keine Polizeikraft zu seiner Durchsetzung zur Verfügung zu haben. Völkerrecht ist daher integraler Teil von Machtpolitik. Gerade der deutsche Angriff auf die Sowjetunion zeigt, wie wenig geeignet das internationale Vertragsrecht zur neutralen rechtlichen Beurteilung solcher kriegerischen Konflikte ist. Es gab damals und gibt bis heute keine überstaatliche Macht, die einen Rechtsbruch feststellen oder die Einhaltung rechtlicher Maßstäbe erzwingen könnte, es gibt kein unabhängiges „Gericht“ und keine „Polizeistreitkraft“. Eine Weltordnung mit „international gültigen Gesetzen . . . hat zu keiner Zeit der Geschichte existiert“.13 Vor diesem Hintergrund ist das Völkerrecht lediglich der Versuch, den Naturzu12 13
Zit. n. Thukydides, Der peloponnesische Krieg, S. 57. Zit. n. Kissinger, Vernunft, S. 13.
3. Gab es einen Begründungsversuch für den Angriff?
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stand zwischen den Staaten einzuschränken, ihre Handlungen berechenbarer zu machen und den Ausbruch von Feindseligkeiten gewissen Regeln zu unterwerfen. Diese Regeln, die etwa in der Völkerbundsatzung und im Briand-Kellogg-Pakt festgeschrieben waren, wurden bereits im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges von allen machtpolitisch aktiven Staaten vielfach gebrochen, wozu wir gleich kommen werden. Man muß daher weder Zyniker noch „Schmittianer“ sein, um den Grad staatlicher Macht unter anderem an den Fähigkeiten eines Staates ablesen zu können, das geschriebene Völkerrecht ohne politischen Schaden entweder übergehen14 oder nach Belieben neu prägen zu können.15 Darüber hinaus soll im Folgenden untersucht werden, wie es mit der Einhaltung der Bestimmungen des Völkerrechts beim deutschen Angriff auf die UdSSR bestellt war. Ob er einen Bruch des damals geltenden Völkerrechts darstellte, lautete unter anderem die Frage des Nürnberger Gerichtshofs. Die alliierten Siegermächte wünschten dies auf der juristischen Ebene selbstgesetzten Rechts zu diskutieren. Wir wollen ihnen wie bereits im Fall des Balkankriegs darin folgen. 3. Gab es einen Begründungsversuch für den Angriff? „Es ist sehr leicht, mein lieber Marquis, zu sagen: man muß den Krieg defensiv führen; aber ich habe eine so große Zahl von Feinden, daß ich notwendig die Offensive ergreifen muß.“ Friedrich der Große16
In einer ausführlichen Rede hatte Hitler den Angriff nach dessen Beginn öffentlich mit einer bevorstehenden sowjetischen Agression begründet. Die UdSSR wolle an der Seite Englands das deutsche Reich erwürgen, wahrscheinlich zunächst mit einem Angriff auf Rumänien. Er hatte seitenweise – und inhaltlich korrekt – aus dem Protokoll seiner Verhandlungen mit Rußlands Außenminister Molotov im November 1940 berichtet, in denen Molotov Forderungen auf sowjetische Stützpunkte bis nach Bulgarien, die Türkei und Dänemark erhoben hatte, einen deutschen Rückzug aus Rumänien forderte und durchblicken ließ, die Sowjetunion werde demnächst Finnland an14 In diesem Rahmen sei darauf hingewiesen, daß die Charta der Vereinten Nationen diesen Sachverhalt institutionell festschreibt. Völkerrechtlich verbindliche Verurteilungen von Rechtsbrüchen können nur durch den Sicherheitsrat festgestellt werden. Da die Angeklagten aber in eigener Sache mit abstimmen, also die eigene Verurteilung jederzeit verhindern können, ermöglicht die Charta der UN die fünf Großmächte de facto zum Bruch jeder völkerrechtlichen Bindung. 15 Carl Schmitt definiert Imperialismus in seiner Schrift über den „Begriff des Politischen“ als Fähigkeit „von sich aus den Inhalt politischer oder rechtlicher Begriffe zu bestimmen.“ Vgl. Schmitt, Begriff, S. 67 f. bzw. Herbert, Best, S. 98. 16 Zit. n. Kannengießer, Briefe, S. 225.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
greifen.17 Zeitgenössische Beobachter wie Grigore Gafencu, der frühere rumänische Außenminister und damals Botschafter in Moskau, konnten es schwerlich glauben. Es sei „doch wenig wahrscheinlich, daß Molotov, der mit Recht als klug und verschwiegen galt, in dieser Weise einem so gefährlichen Partner sein Herz geöffnet hätte.“18 Dies alles sollte Deutschland der sowjetischen Politik zugestehen, was zusammengenommen die Aufforderung zu einer strategischen Kapitulation bedeutete. Wie bereits erwähnt: Nebenbei und in diesem Zusammenhang besonders wichtig, hatte Molotov auch das deutsch-sowjetische Geheimprotokoll von 1939 als „überholt“ bezeichnet und damit auch den deutschsowjetischen Nichtangriffspakt in Frage gestellt, der durch dieses Protokoll überhaupt erst möglich gemacht worden war. „Präventivkrieg“: Das wurde also von deutscher Seite als Grund für den Angriff genannt und von ungezählten Soldaten geglaubt, die bald danach Augenzeuge der russischen militärischen Vorbereitungen geworden waren.19 Darüber wird heute mehr diskutiert denn je. Die Präventivkriegsthese wird in immer weiteren Details bestätigt. Ein Angriffsplan des russischen Generalstabschefs Shukov wurde gefunden, der nach 30 Tagen in Oberschlesien sein wollte,20 und die Rote Armee stand in der Tat zum Angriff bereit: der Angriffsbefehl hätte „ab dem 10. Juli 1941 gegeben werden können – falls Stalin ihn wirklich geben wollte oder gegeben hätte und falls Hitler mit seinem Angriffsbefehl dem nicht zuvorgekommen wäre.“21 Die militärische Bedrohung durch die UdSSR fand ihren Eingang in zahlreiche Äußerungen Hitlers und schließlich gar in die Berichte sowjetischer Agenten aus der deutschen Führungsspitze: Hitler ist der Initiator des Angriffsplans auf die Sowjetunion. Er meint, daß ein Präventivkrieg gegen die UdSSR nötig sei, um nicht in eine Falle des stärkeren Feindes zu geraten.22 17 Hitler Proklamation zum Angriff auf die UdSSR vom 22. Juni 1941, vgl. Domarus, Reden, II, S. 1726 ff. 18 Gafencu dachte sich eine wesentlich mildere Form der Gespräche aus, als er 1942 in der neutralen Schweiz, ohne mehr als persönliche Dokumente aus seiner Zeit als Außenminister und Botschafter in Moskau zur Verfügung zu haben, eine Darstellung des „Vorspiels zum Krieg im Osten“ schrieb. Er konnte sich aber dabei auf Augenzeugenberichte der deutschen Teilnehmer um Dolmetscher Hilger stützen, die er offenbar in Moskau selbst gesprochen hatte. Dieses Verhalten der deutschen Botschaft ist ein Punkt, auf den wir noch zurückkommen werden, Vgl. Gafencu, Vorspiel, S. 150 ff. 19 Vgl. etwa den Feldpostbrief von Walter F.: „Wenn diese verhurten Soldatenhaufen über Deutschland hergefallen wären, es wäre vorbei gewesen mit allem was deutsch ist.“ Zit. n. HIS, Verbrechen, S. 632. 20 So Shukov am 15. Mai 1941, vgl. Ueberschär, Angriff, S. 187. 21 Zit. n. Bonwetsch, Kriegsvorbereitungen, S. 185. Bonwetsch spricht im übrigen von russischen „Präventivkriegsabsichten“ und fügt hinzu, daß eine endgültige Klärung noch aussteht.
3. Gab es einen Begründungsversuch für den Angriff?
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So berichtete der sowjetische Agent mit dem Decknamen „Doyen“ am 14. April 1941 nach Moskau, acht Tage, nachdem Hitler gegenüber Goebbels vom bevorstehenden Angriff Rußlands gesprochen hatte. All dies und die zahlreichen weiteren Belege, die bisher angesprochen wurden und im folgenden im Rahmen dieser Darstellung noch vorgelegt werden, lassen es wahrscheinlich erscheinen, daß der Angriff auf die UdSSR ein Akt der Selbstverteidigung gewesen ist. Interessant gerade an der eben zitierten Äußerung Hitlers ist im Zusammenhang mit dem Kriegsbeginn und der Rolle der Wehrmacht zunächst jedenfalls die klare und richtige Zuweisung der Initiative: Hitler ist der Initiator. Es war seine Entscheidung, einen Angriff auf die UdSSR zu führen. Daher ist es nötig, sich über seine Informationslage zu orientieren, die eine solche Entscheidung begründen konnte oder nicht. Daß Hitler persönlich der Ansicht war, die sowjetische Regierung hätte über den englischen Sonderbotschafter Cripps ihre Absicht erkennen lassen, auf englischer Seite in den Krieg einzutreten, wurde oben bereits aufgezeigt. Im folgenden wird im Detail dargestellt, welche Vorwürfe von der deutschen Regierung öffentlich an die Adresse der UdSSR gerichtet wurden, ob diese Vorwürfe begründet sind und schließlich ob sie geeignet sind, einen Vorwurf wie den Bruch des Nichtangriffspakts durch die UdSSR zu rechtfertigen und darüber hinaus einen Angriff zu begründen. Angriffe auf fremde Länder sind der eigenen Öffentlichkeit leichter zu vermitteln, wenn sie als Reaktion auf fremde Attacken dargestellt werden können. Zu den Gründen, die Hitler in seiner Rechtfertigungsproklamation für den Angriff auf die UdSSR nannte, gehörte wohl deshalb auch ein Grenzzwischenfall vom 17./18. Juni 1941: „In der Nacht vom 17. zum 18. Juni haben wieder russische Patrouillen auf deutsches Reichsgebiet vorgefühlt und konnten erst nach längerem Feuergefecht zurückgetrieben werden.“23
Er stützte sich dabei auf den von Generaloberst Jodl am 20. Mai an das Auswärtige Amt gerichteten Bericht über die neuesten sowjetrussischen Grenzverletzungen und den Aufmarsch der russischen Armee, der mit den Worten endete. „Die Sicherheit des Reichs macht es erforderlich, diese Bedrohung unverzüglich zu beseitigen.“24
Vorher hatte der Text mehrere Details des russischen Aufmarschs der jüngsten Zeit ausgeführt und unter anderem das Vordringen „bewaffneter russischer Soldaten“ am 17. Juni gemeldet, die sich „sichernd auf deutschem 22
Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 204. Zit. n. Domarus, Reden, II, S. 1731. 24 Vgl. BA-MA RW 4/675, Berichte des OKW an die Reichsregierung über den russischen Aufmarsch gegen Deutschland, S. 24605. 23
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
Gebiet“ bewegt hätten, sich auch auf ein Feuergefecht mit deutschen Truppen eingelassen hatten – allerdings nur ein „kurzes“ – und sich dann zurückgezogen hätten. Mit den Grenzzwischenfällen im Vorfeld der Auseinandersetzungen während des Zweiten Weltkriegs hat es seine eigene Bewandtnis. Die Aufzeichnungen Jodls blieben unberücksichtigt und gingen nicht in die Literatur ein.25 Hitler zog es vor, nicht öffentlich von einem unmittelbar geplanten russischen Angriff auf Deutschland selbst zu sprechen. Die Berichte Jodls lagen ihm vor, wie anhand der beinah wörtlichen Erwähnung des dort beschriebenen Grenzzwischenfalls zu sehen ist. In seiner öffentlichen Proklamation beließ er es jedoch bei der Anschuldigung, die UdSSR hätte einen Krieg auf dem Balkan anzetteln wollen, um den Aufmarsch ihrer Armeen in Ruhe vollenden zu können und „dann gemeinsam mit England und unterstützt durch die erhofften amerikanischen Lieferungen das Deutsche Reich und Italien ersticken und erdrücken zu können.“26 4. jus ad bellum – das Recht zum Krieg und der deutsche Angriff Um auf Rechtsfragen zurückzukommen: Es handelte sich beim Streit der UdSSR und Deutschland über die Einflußzonen in Nord-, Mittel-, Ost- und Südosteuropa um einen Konflikt zweier rivalisierender Mächte, der zwar spezifische Merkmale des totalitären Zeitalters trug, sichtbar etwa in den ethnischen Säuberungen und Deportationen in den von beiden Staaten besetzten Gebieten, der sich aber in traditionellen Begriffen beschreiben läßt. Totalitäre Machtpolitik bleibt in vieler Hinsicht den Methoden und Zwängen verbunden, die allgemein mit Machtpolitik verbunden sind. Was Molotov und Hitler im November 1940 ergebnislos unter sich aufzuteilen versuchten, war im August und September 1939 Verhandlungsgegenstand der sowjetischen Gespräche mit den Westmächten gewesen und noch während des Krieges fuhr Winston Churchill nach Moskau, um erneut über das Land anderer Leute in dieser Region zu verhandeln. Als Ergebnis wurde der britisch-sowjetische Einfluß dort in Prozentzahlen aufgeteilt.27 Dies ist während des imperialistischen Wettrennens die Praxis aller beteiligten Staaten gewesen und man zögert, diese Art der Machtausübung mit dem Wort „Recht“ in Verbindung zu bringen. Dennoch gibt es keinen Zweifel, daß die heute bestehenden internationalen Strukturen und Grenzziehungen ihre Existenz zu einem wesentlichen 25 Was u. a. dazu führte, daß Max Domarus in seiner Edition von Hitlers Reden den Vorfall fälschlicherweise für „frei erfunden“ erklärte. Vgl. Domarus, Reden, II, S. 1731. 26 Zit. n. Domarus, Reden, II, S. 1731. 27 Vgl. Kissinger, Vernunft, S. 440.
4. jus ad bellum – das Recht zum Krieg und der deutsche Angriff
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Teil genau solchen Geschäften verdanken. Sollten sich die streitenden Parteien dabei nicht einigen, so gab es traditionell für solche zwischenstaatlichen Konflikte eine mögliche und rechtlich zulässige Lösung: den Griff zu den Waffen, oder völkerrechtlich gesprochen, das „jus ad bellum“. Bis zum Ersten Weltkrieg galt es als selbstverständliches Recht jedes souveränen Staates, zur Wahrung seiner selbstdefinierten Interessen Krieg zu führen, was auch einen Angriffskrieg prinzipiell erlaubte. Erst die Völkerbundsatzung änderte das nach dem Ersten Weltkrieg und schränkte dieses Recht durch Vorgaben ein, nach denen vor einem Krieg internationale Verhandlungen und Schlichtungen stattzufinden hatten und ein Staat, der eine einstimmige Entscheidung des Völkerbunds über den Streitfall akzeptiert hatte, nicht mehr angegriffen werden durfte.28 Einige Jahre später wurde 1928 der Briand-Kellogg-Pakt geschlossen, der das „jus ad bellum“ noch weiter einschränkte und dem auch Staaten beitraten, die nicht Mitglied im Völkerbund waren, wie etwa die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion. Allerdings entwickelte der Briand-Kellogg-Pakt niemals ein allgemeines Kriegsverbot, da sich die Großmächte das Recht zur militärischen Intervention in ihren Einflußgebieten ausdrücklich vorbehielten. So war die Unterzeichnung des Paktes für die US-Amerikanische Regierung beispielsweise kein Hinderungsgrund, 1935 militärisch in Nicaragua zu intervenieren und dort ein diktatorisches Regime zu hinterlassen, das erst mehr als vierzig Jahre später gestürzt wurde. In ähnlicher Weise schützten sich auch die Kolonialmächte vor einer Wirkung des Vertrags, der sie in ihren Militäroperationen einschränken könnte. Völkerrechtlich wurde die UdSSR im Jahr 1941 gegen einen Angriff von deutscher Seite prinzipiell durch zwei Verträge geschützt: den erwähnten Briand-Kellogg-Pakt von 1928 und den deutsch-russischen Nichtangriffspakt von 1939. Diesen Verträgen waren beide Staaten beigetreten. Die Bestimmungen des Völkerbunds über Schlichtungsfragen und ähnliches konnten zwischen beiden dagegen keine Anwendung finden. Mitglied im Völkerbund waren sie beide nicht, Deutschland war 1933 aus eigenem Antrieb ausgetreten, nachdem der Völkerbund die Abrüstungsproblematik nicht in den Griff bekam. Die Sowjetunion war nach ihrem Überfall auf Finnland Ende 1939 wegen der Verletzung der Völkerbundsatzung ausgeschlossen worden.29 Dies hatte zwangsläufig Folgen auch für die Gültigkeit des 28
Vgl. Betz, Landkriegsvölkerrecht, S. 52. Daher geht Manfred Messerschmidts Hinweis auf den Völkerbund und seine Satzung als rechtliche Norm für den Krieg von 1941 ins Leere, ebenso wie seine weiteren Verweise auf das Genfer Protokoll von 1924, das die UdSSR nicht unterzeichnet hatte oder das Nürnberger Statut, das noch gar nicht existierte. Vgl. Messerschmidt, Präventivkrieg?, S. 33. 29
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
Briand-Kellogg-Pakts. Er verbot überhaupt jeden Krieg gegen einen anderen Staat und hatte bei Verbotsübertritt als ebenso einzige wie drastische Strafe vorgesehen, daß der Vertragsbrecher den Schutz des Vertrags verlieren sollte. Er war danach „Vogelfrei“ und durfte von jedem anderen Staat angegriffen werden.30 Dies traf auf die Sowjetunion nach ihrem Ausschluß aus dem Völkerbund wegen des Angriffskriegs gegen Finnland zu. Die internationale Gemeinschaft hatte sie rechtskräftig als Aggressor verurteilt. Wenn der Briand-Kellogg-Pakt zu diesem Zeitpunkt noch gültig und rechtswirksam war, und das war nach Auffassung etwa des Nürnberger Gerichtshofs der Fall, dann war ein Angriffskrieg gegen die UdSSR nach seinen Bestimmungen eindeutig erlaubt.31 Diesem Sachverhalt trugen auch die alliierten Juristen bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses Rechnung. Eine Vorlage der britischen Delegation vom Juli 1945 etwa sprach nicht davon, es sei mit dem deutschen Angriff auf die UdSSR ein internationaler Vertrag gebrochen wurden, nur ein bilateraler Vertragsbruch wurde gesehen.32 Die Nürnberger Anklageschrift schloß sich dieser Ansicht an.33 5. Die Gültigkeit des Nichtangriffspakts und des Geheimprotokolls Der Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR war von allen anderen völkerrechtlichen Bindungen losgelöst, eine besondere und außergewöhnliche Eigenschaft dieses Vertrags.34 Seine Bestimmungen sahen 30 Vgl. Betz, Landkriegsvölkerrecht, S. 95 f. und Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 98 ff. 31 An der Wirksamkeit des Vertrags bestehen Zweifel. Keine der streitenden Parteien hat sich 1939/40 darauf berufen. Dies hätte Deutschland theoretisch etwa wegen der polnischen Kriegsvorbereitungen und der Sabotage jeder Verhandlung durch die polnische Regierung tun können, oder andererseits die Westmächte wegen des deutschen Angriffs auf Polen. Auch die französischen und englischen Pläne für einen Angriff auf den sowjetischen Kaukasus und seine Ölfelder wären ein mögliches Einsatzfeld für den Vertrag gewesen. Eine andere Frage ist es, ob auch Deutschland sich für den Angriff auf die UdSSR auf seine Bestimmung hätte berufen können. Wie das Nürnberger Tribunal 1946 entscheiden sollte, hatte Deutschland mit dem Angriff auf Polen und seinen militärischen Vorbereitungen den Pakt bereits gebrochen. Nach dieser Auffassung wäre er 1941 sowohl für Deutschland und als auch die UdSSR nicht mehr wirksam gewesen, so daß aus ihm weder ein Recht noch ein Verbot eines Angriffskriegs abzuleiten gewesen wäre. Zwischen beiden Staaten herrschte danach Naturzustand. 32 Vgl. Jackson, Conference, S. 259 f. 33 Beklagt wurde nur der Bruch des Nichtangriffspakts durch den Angriff vom 22. Juni 1941, nicht der Bruch internationaler Verträge. Vgl. IMT, I, S. 43. 34 Als einziger Bezugspunkt wurde der deutsch-russische Vertrag von 1926 genannt. Der deutsch-polnische Nichtangriffspakt von 1934 beispielsweise bezog sich
5. Die Gültigkeit des Nichtangriffspakts und des Geheimprotokolls
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unter anderem vor, beide Seiten hätten „Streitigkeiten und Konflikte ausschließlich auf dem Wege freundschaftlichen Meinungsaustauschs oder nötigenfalls durch Einsetzung von Schlichtungskommissionen (zu) bereinigen“.35 Nun war es eine riskante Sache, mit der UdSSR einen Nichtangriffspakt abzuschließen. Jedes europäische Nachbarland der Sowjetunion, das dies getan hatte, wurde zwischen 1939 und 1941 zum Opfer einer sowjetischen Aggression. Nacheinander traf es Polen, Finnland, Estland, Lettland und Litauen. Alle bilateralen oder multilateralen Zusicherungen der UdSSR hatten sich in kurzer Zeit als wertlos herausgestellt. Später kam außerhalb Europas etwa noch Japan hinzu, das sich entgegen den mit Moskau getroffenen Vereinbarungen 1945 angegriffen sah. Nicht nur deshalb stellt sich die Frage, ob der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag 1941 noch gültig war, oder, wie von der deutschen Seite behauptet, aufgrund sowjetischer Vertragsverletzungen als hinfällig betrachtet werden konnte. Diese Möglichkeit der Nichtigkeit des bestehenden Vertrags aufgrund vorhergegangener Vertragsverletzungen stellt eine von drei Möglichkeiten dar, wie völkerrechtliche Abmachungen hinfällig werden können.36 Ein beliebiger Vertragsverstoß reichte nicht aus. Damit der Nichtangriffsvertrag ungültig und der deutsche Angriff legal geworden wäre, mußte die sowjetische Seite gegen substantielle Vertragsbestimmungen verstoßen haben.37 Dies wurde von der deutschen Regierung in der Tat behauptet, einmal in der „auffallend politisch gehaltenen, langatmigen“ Proklamation Hitlers,38 zum anderen in einem Memorandum, das dem sowjetischen Botschafter am frühen Morgen des 22. Juni 1941 übergeben wurde. Nach diesen Darstellungen hatte die UdSSR mit folgenden Aktionen gegen den Vertrag verstoßen:39 – durch die weitere und sogar intensivierte Tätigkeit der Komintern in Deutschland, den mit Deutschland befreundeten oder neutralen Staaten und in den von Deutschland besetzten Gebieten unter zentraler Leitung des GPU-Kommissars Krylow – durch systematische Beteiligung der sowjetischen Botschaften und Gesandtschaften an solchen Spionage- und Geheimdienstoperationen dagegen ausdrücklich auf den Briand-Kellogg-Pakt und damit auf internationales Recht. Vgl. Berber, Locarno, S. 65 ff. bzw. S. 88 f. 35 Zit. n. ADAP, D, VII, Dok. 228, S. 206. 36 Als andere Gründe kommen einmal die Beendigung nach einer vereinbarten Frist in Frage, was in diesem Fall vorgesehen war, aber erst 1949 eingetreten wäre. Des weiteren kann die Unmöglichkeit seiner Erfüllung einen Vertrag zwischen Staaten beenden, was hier ebenfalls nicht zutraf. Vgl. Gornig, Pakt, S. 87 ff. 37 Vgl. Gornig, Pakt, S. 91. 38 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 459, 20. Juni 1941. 39 Vgl. Hamburger Monatshefte für Auswärtige Politik, H. 7, 1941, zit. n. Sommer, Memorandum, S. 344 ff.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
– durch Aufruf zum und aktive Beteiligung an dem gegen Deutschland gerichteten Putsch in Jugoslawien – durch geheime Waffenlieferungen an Jugoslawien – durch Politik unter dem „Leitgedanken“, die „nichtbolschewistischen Staaten zu schwächen, um sie leichter zersetzen und zu gegebener Zeit niederschlagen zu können“ – durch Okkupation der baltischen Staaten und Bessarabiens, sowie dem Krieg gegen Finnland, was im Gegensatz zu Zusicherungen stünde, die Ribbentrop 1939 in Moskau gemacht worden seien – durch Liquidierung der deutschen wirtschaftlichen Interessen in den genannten Ländern, was ebenfalls im Gegensatz zu den getroffenen Abmachungen stünde – durch Ausweitung der sowjetischen Gebietswünsche über die 1939 getroffene Abmachung hinaus, etwa in der Bukowina und in Litauen – durch einen Plan, die in Rumänien stationierten deutschen Truppen mit englischer Unterstützung und gemeinsam mit türkischen Verbänden überraschend von Bessarabien aus anzugreifen – durch immer umfangreichere Truppenstationierungen am gesamten Verlauf der deutsch-russischen Grenzlinie – durch die laufende Generalmobilmachung der Roten Armee – durch die von Molotov bei seinem Besuch in Berlin erhobenen Ansprüche, die auf die Sowjetisierung Bulgariens, Finnlands und der Türkei hinausliefen. Dies war eine lange Liste. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß in dieser Liste nicht das zu finden ist, was in der Diskussion über die Präventivkriegsthese merkwürdigerweise die Hauptrolle spielt. Hier wird nicht behauptet, es hätte ein russischer Angriff auf Deutschland selbst unmittelbar bevorgestanden. Auch dafür gab es Indizien, aber in den Augen der NS-Regierung augenscheinlich keine ausreichenden, um diese Anklage vorzubringen. Insofern geht ein bedeutender Teil der Diskussion um den Präventivkriegscharakter des „Unternehmens Barbarossa“ ins Leere, der sich darum dreht, man könne nicht von Präventivkrieg sprechen, weil in den deutschen Akten zu wenig davon die Rede sei, Deutschland werde direkt militärisch bedroht. Es war in den Augen des Auswärtigen Amts nicht nötig, daß Stalin aktuell einen direkten Angriff auf Deutschland selbst plante, um eine deutsche Offensive als prinzipiellen Verteidigungsschritt zu rechtfertigen. Dazu reichte dazu eine geplante Attacke der Roten Armee gegen Ziele aus, die für Deutschland lebenswichtig waren.
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Es stellt sich die Frage, was an diesen Punkten zutreffend war. Wer diese Frage oder gar eine Antwort darauf jedoch für das selbstverständliche Interesse von Historikern hält, sieht sich einmal mehr eines schlechteren belehrt. „Die Forschung hat diese deutsche Propagandaversion jedenfalls nie ernst genommen“, stellt Bernd Bonwetsch zutreffend fest.40 Das Vor-Urteil über axiomatische fixierte nationalsozialistische Überfallpläne blieb auch an dieser Stelle dominierend. Ein Versuch, die Behauptung von einer bloßen deutschen „Propagandaversion“ argumentativ zu stützen, ist konsequenterweise unterblieben. Stellen wir also jetzt diese bisher versäumte Frage nach dem Verhältnis von Propaganda und Tatsachen in der Zusammenstellung des Auswärtigen Amts. An der Tätigkeit der Komintern etwa gab es keinen Zweifel, ob nun unter Leitung eines Kommissars „Krylov“ oder nicht. Unter dem Namen „Ivan Krylov“ suchte allerdings später ein hoher sowjetischer Offizier den publizistischen Weg in den Westen, der mit den Operationen gegen Deutschland auf höchster Ebene betraut gewesen war. Er war unter anderem derjenige, in dessen Anwesenheit der jugoslawisch-sowjetische Vertrag unterzeichnet worden war und der intensiven Kontakt mit dem deutschen Militärattaché Köstring pflegte. Über zahlreiche geheime Vorgänge im politischen Spiel dieser Zeit zeigte er sich bestens informiert. In einem 1951 veröffentlichten Buch bekannte er unter anderem, daß die Vorwürfe der deutschen Regierung wegen der sowjetischen Truppenstationierungen, die mit einem Angriffs im Augenblick einer deutschen Invasion in England drohten, zutreffend waren. Tatsächlich war dies nach seinen Angaben bereits im Frühling 1940 beschlossen worden, ebenso die Tarnung des eigenen Aufmarschs als „Manöver“ und die Anlage von zahlreichen Flugplätzen in Grenznähe.41 Nach dem deutschen Sieg über Frankreich konkretisierten sich diese Pläne bei Marschall Shaposhnikov: „Deutschland wird bald eine flächendeckende Luftoffensive gegen Großbritannien beginnen, als Vorbereitung einer anschließenden Invasion. Der Kampf wird schwerer werden und länger dauern als die Deutschen annehmen und ein großer Teil ihrer Luftstreitkräfte wird zerstört werden. Am Tag der Invasion wird das deutsche Oberkommando wahrscheinlich über nicht mehr als dreißig Prozent der 40
Zit. n. Bonwetsch, Kriegsvorbereitungen, S. 171. Vgl. Krylov, Officer, S. 6. Weil dies aus militärischer Sicht ausschließlich für einen Angriff günstig war, man dies in der UdSSR aber nach 1941 schlecht zugeben konnte, verfiel die offizielle Geschichtsschreibung des „Großen Vaterländischen Krieges“ auf die Ausrede, es habe sich bei der Auswahl der Standorte um Sabotage gehandelt. Geheimdienstchef Berija sollte nach dieser Version der Verantwortliche sein. Wie bei anderen Behauptungen fanden sich westliche Berichterstatter, die diese Legende kritiklos transportierten, so etwa Alexander Werth, dessen Berichte allerdings seiner Protektion auf alliierter Regierungsebene sichtlich Rechnung tragen. Vgl. Werth, Rußland, S. 120. 41
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Stärke seiner Luftwaffe verfügen können, mit der die Schlacht um Frankreich begonnen wurde. Deutschlands gesamte Luftwaffe wird für drei bis fünf Wochen ohne Ruhepause über England eingesetzt werden, dazu die besten Einheiten, die Fallschirmtruppen und die Artillerie. Die Strecke Kaunas-Berlin wird praktisch offen vor unserer Luftwaffe liegen, während der Landweg über Vilkovisky-Königsberg-Berlin für unsere bewaffneten Streitkräfte und die motorisierte Infanterie offen sein wird. Zusätzlich zu den 166 Flugplätzen, die das Politbüro genehmigt hat, will Shaposhnikov weitere 54 ergänzend im deutschen Grenzgebiet bauen lassen. Für unsere bewaffneten Einheiten wurde neue Dispositionen getroffen. Ab dem 1. September werden annähernd 75 Prozent unserer Panzer in der Nähe der deutschen Grenze stehen. Am einem Tag unserer Wahl, wird die Invasion Deutschlands durch die Rote Armee beginnen.“42
Es bestanden beste Perspektiven, Deutschland mit einem solchen Schlag ein für alle Mal zu vernichten: „Wir werden eine gute Chance haben, einen Teil von Deutschland zu besetzen, besonders aber die Satellitenstaaten. Wir kommen in die Tschechoslowakei hinein, schneiden durch Rumänien und vereinen uns mit Jugoslawien . . . . Deutschland wird uns nicht stoppen können. Es wird seine Ölreserven verlieren und damit die Möglichkeit, einen Luft- und Panzerkrieg zu führen. Damit hat Deutschland den Krieg verloren. Es wird auf eigenem Territorium geschlagen werden und wir können in Berlin die Friedensbedingungen diktieren.“43
Daraus wurde letztlich nichts, denn die entsprechenden sowjetischen Vorbereitungen fanden die Aufmerksamkeit der deutschen Führung. Die deutsche Invasion in England fand auch aus anderen Gründen nicht statt, denn Hitler konnte sich von dem Wunschgedanken eines Bündnisses mit England nicht völlig lösen und hoffte weiter auf einen Kompromißfrieden. Die angebliche Fähigkeit des kommunistischen Untergrunds, die Kriegsführung anderer Staaten unterminieren zu können, gehörte zum Stolz der kommunistischen Moskauer Führung und zu den selbstverständlichen Elementen ihrer Taktik. Bereits unmittelbar nach Abschluß des Nichtangriffspakts hatten die französischen Kommunisten im Parlament für den Krieg gegen Deutschland gestimmt, was ohne Einverständnis Stalins undenkbar gewesen wäre und natürlich auch von der deutschen Propaganda vermerkt wurde.44 Kurz nach Kriegsausbruch gingen dann Berichte ein wie dieser: „Die Komintern erklärt sich nach wie vor als schärfster Gegner des Nationalsozialismus, wie überhaupt aller imperialistischen Mächte. Der deutsch-russische Pakt werde von den Kommunisten dabei als ein Manöver in diesem Kampf gegen den Imperialismus gewertet . . . Führende kommunistische Funktionäre erklären, der russische Druck werde bald von größerem Einfluß sein, als derjenige der Alliier42 43 44
Zit. n. Krylov, Officer, S. 16 f. Zit. n. Krylov, Officer, S. 17 f. Vgl. „Warum Krieg gegen Stalin?“, S. 25 ff.
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ten. Die Linie der Moskauer Politik sei unverändert; in den führenden Kadern der Partei hätte es deshalb auch nie eine Verwirrung gegeben.“45
Dabei blieb es während der ganzen Zeit bis zum Beginn des Krieges im Juni 1941. Anders als für die Westmächte, denen zuliebe Stalin die Komintern 1943 formal auflöste,46 forderte die Sowjetführung gegen Deutschland die fortgesetzte Agitation. Molotov war im November 1940 kaum aus Berlin zurück, als er entsprechende Anweisungen bestätigte: „Dimitroff: Wir streben die Zersetzung der deutschen Okkupationstruppen in verschiedenen Ländern an, und diese Aktivitäten, wollen wir, ohne es an die große Glocke zu hängen, noch verstärken. Wird das die sowjetische Politik nicht behindern? Molotov: Selbstverständlich muß man das tun. Wir wären keine Kommunisten, wenn wir diesen Kurs nicht einhalten würden. Nur muß es lautlos geschehen.“47
Das war sinnigerweise am gleichen Tag, als Molotov den deutschen Botschafter empfing, um ihm die angebliche Bereitschaft der UdSSR für einen Beitritt zum Dreimächtepakt zu signalisieren.48 Das doppelte Spiel der russischen Führung erreichte einen Höhepunkt. In der Tat entsprach der von der deutschen Regierung im Juni 1941 erhobene Vorwurf der fortgeführten, vertragswidrigen Zersetzung der von Deutschland besetzten Staaten durch die Komintern auf Anweisung der Moskauer Regierung den Tatsachen. Molotovs Einschätzung, andernfalls kein Kommunist mehr zu sein, traf darüber hinaus ungewollt einen zur Bewertung der sowjetischen Politik insgesamt wichtigen Punkt. Nach eigenem Selbstverständnis konnte die sowjetische Führung gar nicht anders handeln, als den Kriegsbeginn unter den kapitalistischen Mächten zu fördern, den Konflikt weiter anzuheizen und zur eigenen Expansion zu nutzen. Der Weg zu einer echten Neutralitätspolitik, der für die UdSSR so leicht zu gehen gewesen wäre, war aus diesem Blickwinkel prinzipiell verschlossen. Die Sowjetunion blieb ein Unsicherheitsfaktor, der für beide Kriegsparteien klar erkennbar auf die Gelegenheit zum nächsten offensiven Schritt wartete. „Säkulare Lösungen“ konnten auf dieser Basis schwerlich verhandelt werden. „Diktiert vom Bedürfnis nach Krieg in Europa“ habe man den Nichtangriffsvertrag mit NS-Deutschland geschlossen, so behauptete eine Anweisung des Moskauer Außenministeriums an die sowjetische Botschaft in Tokio zehn Monate nach dessen Unterzeich45 Vgl. BA-MA RW 5/357, OKW, Abteilung für Wehrmachtpropaganda, Laufende Informationen Nr. 29, 9.9.1939, hier zit. n. Debski, Stosunki, S. 133. 46 Am 15. Mai 1943. 47 Unterredung Dimitroff-Molotov am 25. November 1940, zit. n. Dimitroff, Tagebücher, S. 320. 48 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 404, S. 597, Schulenburg an AA.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
nung.49 Diesem Bedürfnis folgte die russische Außenpolitik, ganz besonders in den Anweisungen an die Komintern. Die sowjetischen Botschaften sind während der Existenz der UdSSR immer Spionagezentren gewesen, und wie ich an anderer Stelle zeigen werde, wurde in der Berliner Niederlassung bereits Material zusammengestellt, für den Fall, daß „die Rote Armee einmal nach Deutschland kommt“. Es waren Gebiete besetzt worden, die nicht zur sowjetischen Sphäre gehören sollten, auch hatte Molotov noch Forderungen nach weiteren Gebieten angemeldet. Der Putsch in Jugoslawien war nicht zuletzt durch sowjetische Hilfe zustande gekommen, die Waffenlieferungen hatte es ebenfalls gegeben und daß sie vor Deutschland geheimgehalten wurden, zeigte ihren Zweck.50 Den „Leitgedanken“ Stalins, die am Krieg beteiligten Länder zu schwächen, hatte man richtig erkannt. Eine Woche nach Kriegsausbruch erläuterte Stalin diese Taktik am 7. September 1939 gegenüber Georgij Dimitroff: „Der Krieg wird zwischen zwei Gruppen kapitalistischer Staaten (armen und reichen in bezug auf Kolonien, Rohstoffe usw.) um die Aufteilung der Welt und um die Weltherrschaft geführt. Wir haben nichts dagegen, wenn sie ordentlich gegeneinander Krieg führen und sich gegenseitig schwächen. Es wäre nicht schlecht, wenn durch die Hand Deutschlands die Position der reichsten kapitalistischen Länder (besonders Englands) zerrüttet werden würde. Ohne es zu wissen und zu wollen untergräbt Hitler das kapitalistische System. . . . Wir können manövrieren und die eine Seite gegen die andere aufhetzen, damit sie sich um so heftiger gegenseitig zerfleischen. Der Nichtangriffspakt hilft Deutschland in gewisser Weise. Bei nächster Gelegenheit muß man die andere Seite aufhetzen. . . . Wir hätten ein Abkommen mit den sogenannten demokratischen Ländern vorgezogen und haben deshalb Verhandlungen (mit ihnen) geführt. Aber die Engländer und Franzosen wollten uns in Knechtschaft halten und nichts dafür bezahlen.“51
Dieser Leitgedanke hat den Buchstaben des Nichtangriffspakts von Anfang an substantiell widersprochen.52 Seine Existenz und seine deutsch49
Vgl. Hildebrand, Reich, S. 805/806. Am 31. März 1941, kurz nach dem Militärputsch, meldete der deutsche Militärattaché in Belgrad das Eintreffen eines geheimnisvollen Zugs aus der UdSSR am 27. März „wahrscheinlich Waffen und Munition“. Vgl. Fabry, Beziehungen, S. 293, bzw. AA/Büro St. S./Akten betr. Jugoslawien Bd. 3. Ribbentrop behauptete vor der Presse, der sowjetrussische Generalstabschef habe bereits im November 1940 unbeschränkte Lieferungen zugesagt, wenn die Geheimhaltung gegenüber Deutschland gewährleistet sein würde. Wortlaut in: Stuttgarter NS-Kurier, Nr. 171, 23. Juni 1941, S. 6. Hitler wurden die Meldungen über Waffenlieferungen persönlich vorgelegt. Vgl. Hewel, Vorlagen, 5. April 1941, „Gerücht russ. Waffen Jugoslawien“. 51 Zit. n. Bonwetsch, Politik, S. 146. 52 Als Indiz eines ähnlichen „Leitgedankens“ auf deutscher Seite gibt es den von Carl J. Burckhardt überlieferten „allermerkwürdigsten Ausspruch“ Hitlers: „Alles 50
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feindliche Ausrichtung werden durch zahlreiche andere Quellen belegt,53 was ihn auch nach der sowjetischen Völkerrechtstheorie von Anfang nichtig machte.54 Zudem hatte die deutsche Führung dies zeitig erkannt und fand sich bald nach Kriegsbeginn darin bestätigt: „Eine maßgebende französische Zeitung entlarvt mit dokumentarischen Unterlagen die Politik, die Stalin seit dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffs- und Konsultativpakts eingeschlagen hat. Er ist offenbar, wie wir auch schon immer vermuteten, darauf ausgegangen, den Krieg zuerst einmal beginnen zu lassen und dann nach Möglichkeit zu verlängern. . . . Er hat diesen Standpunkt in ausführlichen Darlegungen vor der Komintern gleich nach Abschluß des deutsch-russischen Paktes präzisiert.“55
Tatsächlich hatte Stalin mit Georgij Dimitroff gleich nach Abschluß des deutsch-russischen Pakts in genau diesem Sinn gesprochen, so daß in einem entscheidenden Punkt, ob dies die sowjetische Politik auch zutreffend wiedergibt, positive Klarheit herrscht. Diese Einschätzung von Goebbels wurde durch die deutsche Abwehr geteilt, die zur gleichen Zeit feststellte: „Diese Rede Stalins vom 19. August 1939 wurde vom damaligen Genfer Vertreter der Agentur HAVAS, Henry Ruflin, nach Paris gemeldet. Die Richtigkeit dieser Information steht außer Zweifel. Ruflin veröffentlicht diese Rede jetzt im „Journal de Geneve“ vom 12.7. d. J. Weshalb schloß Stalin den Pakt mit was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet; wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann nach seiner Niederlage mich mit meinen Versammelten Kräften gegen die Sowjetunion zu wenden. Ich brauche die Ukraine, damit man uns nicht wieder wie im letzten Krieg aushungern kann.“ Zit. n. Burckhardt, Mission, S. 348. Anders als das Dimitroff-Tagebuch ist dies keine zeitnahe Aufzeichnung. Sie ist zudem offenkundig widersprüchlich und anachronistisch. Man kann Paul Stauffer zustimmen, daß dieses Zitat seine Karriere nur gemacht hat, weil „man sich auf dieses Kronzeugnis recht eigentlich angewiesen fühlte“. Es stellt den einzigen authentisch erscheinenden Beleg dar, daß Hitler bereits zum Zeitpunkt der Paktschließung die Absicht hatte, ihn wieder zu brechen. Vgl. Stauffer, Burckhardt, S. 178 ff. 53 Vgl. etwa den Eintrag bei Litvinov: „Niemand verpflichtete uns, an den Raubzügen Hitlers teilzunehmen. Wenn man auf diese Weise die strategischen Ziele Deutschlands aufzudecken glaubt, wohlan! Ich versuchte mit Klim (d.h. Vorošilov, d. Verf.) zu sprechen, der in meiner Gegend jagt. Er lachte rätselhaft, ohne zu antworten. Plötzlich erklärte er: ‚Warten Sie nur, Papascha. Eines Tages werden wir der Hitlerschen Kanaille die Mutter Kusjkas zeigen. Lassen Sie uns nur Zeit. Wenn sie (die Deutschen) glauben schlau zu sein‘.“ Zit. n. Litvinov, Memoiren, S. 267. 54 Der sowjetische Völkerrechtler Talalaev verwendete als Beispiel dafür das Münchener Abkommen, das von Deutschland unehrlich gemeint und deshalb von Anfang an nichtig gewesen sei. Vgl. Schweisfurth, Völkerrechtstheorie, S. 201. 55 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 56. Vgl. BA-MA RW 5/52, OKW/Amt Ausland/Abwehr/Länderberichte UdSSR, 22. Juli 1940, hier zit. n. Debski, Stosunki, S. 10.
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dem Deutschen Reich? Um den Krieg unvermeidbar und Europa für den Kommunismus reif zu machen.“ Dies folgte der zeitgenössischen Einstellung, Verschwörungen und Manipulationen als das Übliche anzunehmen. Gestützt wird die Information über die oft angezweifelte Entscheidung des Politbüros vom 19. August 1939, den Krieg in Europa zu fördern, von der damals unmittelbar folgenden Reaktion in der Sowjetpresse, denn einen Tag später wurde am 20. August die Mobilmachung der Roten Armee „in allen Zeitungen bekanntgemacht. Der Kriegszustand wurde erklärt in der Moldowskaja Republik, in der ganzen ukrainischen Republik, Weißrußland und dem Bezirk Orel.“56 Eine Woche vorher hatte Marschall Vorošilov während der sowjetischen Verhandlungen mit den Westmächten über ein militärisches Bündnis betont, daß die geplanten Operationen der Roten Armee in Ostpreußen und Galizien das „Ende Deutschlands“ bedeuten würden.57 Zurück zum Jahr 1941. Als zutreffend stellte sich auch die deutsche Behauptung heraus, die Generalmobilmachung der Roten Armee laufe bereits seit Frühjahr. Richtig ebenso die Angaben über die Truppenstationierungen an der deutschen Grenze, die sogar noch deutlich umfangreicher waren, als man dies erkannt hatte, die aber auch nach den bereits erkannten Zahlen den deutschen Aufmarsch zahlenmäßig übertrafen. Zweifelhaft mutet dagegen die Klage über die angeblich vertragswidrige Enteignung deutschen Eigentums in den russisch besetzten Gebieten an und beim ersten Hinsehen zweifelhaft auch die unterstellte Absicht einer konzertierten Aktion Rußlands mit England, der Türkei und Serbien-Griechenland gegen die deutschen Truppen in Rumänien.58 Beim zweiten Blick stellt man allerdings fest, daß die englische Regierung seit Oktober 1940 einen Putsch in Belgrad plante, was der deutsche Botschafter auch nach Berlin gemeldet hatte.59 In der Tat fanden 56
Zit. n. BA-MA RH 2/2790, S. 234, 10. Mai 1940. So Vorošilov in der gemeinsamen Sitzung mit der englisch-französischen Militärmission am 14. August 1939. Vgl. Hofer, Entfesselung, S. 213. 58 Vgl. dazu Raczynskis Bericht über ein Gespräch Churchill-Sikorski vom 14. März 1941. Dort bestreitet Churchill zwar, Griechenland und Jugoslawien gegen Deutschland und Italien aufgestachelt zu haben (was nicht der Wahrheit entsprach, wie wir gesehen haben), hebt jedoch die Vorteile ihres Vorgehens gegen Deutschland und Italien kräftig hervor, betont die Qualität der bereitstehenden britischen Truppen und weist darauf hin, daß besonders die Nachrichten aus der Türkei sehr befriedigend seien: „Was die Russen betrifft, hat Großbritannien von ihnen eine Zusicherung erhalten – so weit man ihnen überhaupt trauen kann – die von Vyšinskij gestern Cripps mitgeteilt wurde. Wenn die Türkei sich genötigt sehe, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, würde die UdSSR „Verständnis“ zeigen und ihren eigenen Nichtangriffspakt mit der Türkei respektieren.“ Also war auch die Beteiligung der Türkei an einer Aktion gegen die Achsenmächte in der Tat abgesprochen worden und eine Beteiligung der Russen nicht ausgeschlossen. Zit. n. Raczynski, London, S. 83. 59 Vgl. Hehn, Decade, S. 369. 57
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seit dem 13. Januar 1941 in Ankara Generalstabsgespräche unter britischer, türkischer und offenbar auch griechischer Beteiligung statt.60 Jugoslawische Offiziere waren seit Januar bereit, zusammen mit ähnlich eingestellten Militärs in Bulgarien und der Türkei einen Block gegen die Achsenmächte zu bilden.61 Winston Churchill betrieb Werbung für diese Art Koalition und hatte den jugoslawischen Ministerpräsidenten am 22. März 1941 direkt aufgefordert: „In der Kriegsgeschichte (hat) sich selten eine großartigere Gelegenheit geboten als die, die heute den jugoslawischen Armeen offen steht, falls sie sie nutzen, solange Zeit bleibt. Wenn Jugoslawien und Türkei mit Griechenland zusammenstehen und das Britische Reich alle Hilfe gewährt, die es leisten kann, wird die deutsche Geissel aufgefangen und der Endsieg ebenso bestimmt und entscheidend gewonnen werden wie das letzte Mal.“62
An eben diesem Spiel würde sich die UdSSR ebenfalls beteiligen, das hatte Vyšinskij dem jugoslawischen Botschafter Gavrilovic´ ganz deutlich gesagt: „Er machte klar, sollte England eine Balkanfront eröffnen, würde die Sowjetunion sich am Krieg gegen Deutschland beteiligen.“63
Dies war eine offene und daher unmißverständliche Ankündigung eines russischen Angriffs auf Deutschland. Sie stammte vom stellvertretenden sowjetischen Außenminister, was um so brisanter ist, als gerade Vyšinskij die Verhandlungen mit Stafford Cripps zu führen hatte. Diese Äußerung Vyšinskijs entpuppte sich als folgenreiche Fehlleistung, denn sie ist nach Deutschland gelangt, ebenso wie einige Wochen später die Nachricht, der englische Außenminister Eden hätte sich in Ankara mit dem sowjetischen Botschafter Winogradow getroffen.64 Dazu gesellte sich die weitere Information, Eden hätte den Einsatz von zweihundertfünfzigtausend britischen Soldaten an der Seite der Türkei zugesagt, wenn sie in den Krieg eintreten sollte.65 Außerdem hatte Eden den Chef des englischen Generalstabs, Sir 60
Vgl. Fabry, Beziehungen, S. 277. So Dušan Simovic´ in einem Gespräch im Foreign Office am 27. Juni 1941, in: FO 371/R7011/1195/92, hier zit. n. Hehn, Decade, S. 369. 62 Churchill an Zwetkovic ˇ , 22. März 1941, zit. n. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 196. 63 Gavrilovic ´ an das Jugoslawische Außenministerium, 13. Februar 1940, hier zit. n. Hoptner, Crisis, S. 605. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 309 bzw. S. 437. Alle Szenarien widersprechen den Bestimmungen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts, besonders aber selbstverständlich die Kriegsdrohung, die hier unverblümt ausgesprochen ist. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 437. 64 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 440, sowie PA-AA Geheime Reichssache Ref. VLR Schliep, 21. März 1941 Pol. V, S. 3. 65 Vgl. Hewel, Vorlagen, 28.2.41, Ankara „Edenbesuch und militärische Absichten“. Hitler sprach gegenüber Admiral Darlan bald darauf davon, „kürzlich hätten 61
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John Greer Dill, bei sich und zur Abrundung auch niemanden anderen als eben Stafford Cripps,66 der den türkischen Behörden in direktem Gespräch Nachricht darüber geben konnte, was er in Moskau in Erfahrung gebracht hatte: den bevorstehenden sowjetischen Kriegseintritt: Hier bahnte sich eine ganz große Koalition an. Was Gavrilovic´ nach Belgrad berichtete, landete mit großer Regelmäßigkeit bei der italienischen Abwehr. Erkennbar ist das in diesem Fall an den Vorwürfen gegen die UdSSR, die im Memorandum vom 22. Juni 1941 erhoben wurden und die exakt das Szenario wiedergeben, das Vyšinskij hier entwickelt hat. Es gab Gründe für ihn, auch die „Balkanfrage“ auf die Tabuliste für den Nürnberger Prozeß zu setzen, als er nach seinem Intermezzo in der Außenpolitik wieder zur politischen Justiz zurückkehrte, wie er sie bereits in den Moskauer Schauprozessen 1937 gestaltet hatte. Seine Wahl macht deutlich, als was die UdSSR die Nürnberger Verhandlungen ansah, seine Akzeptanz durch die Westmächte schließt diesen Kreis. Es sei hier ein kurzer Blick auf die Geschichtswissenschaft gestattet, denn die Verarbeitung von Vyšinskijs Kriegsdrohung in den historischen Darstellungen ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Offensichtliche übersehen oder wegdiskutiert werden kann. Denn Jacob Hoptner hat diese Szene bereits 1962 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, in einer von niemandem bezweifelten Darstellung. Das Übersehen folgte dennoch, auch dort, wo Hoptner im Verzeichnis der eingesehen Bücher angegeben ist.67 Eine andere Variante ist das Wegdiskutieren. Hier ist beispielhaft, wie Andreas Hillgruber die Sache zunächst nur kurz streifte und dann nur eine weitere Option anführte, die Vyšinskij gegenüber Gavrilovic´ eröffnet hatte: Die Westmächte könnten Deutschland auf anderem Weg schlagen, dann würde die UdSSR in jedem Fall in Rumänien und Ungarn einmarschieren. Dies war ein Beweis der Kontinuität des sowjetischen Imperialismus, wie Hillgruber so weit ganz richtig feststellte.68 Vyšinskijs Angriffsdrohung verbannte er schließlich jedoch in die Fußnoten und gab den Inhalt verzerrt wieder.69 die Engländer versucht, die Türken in den Krieg hineinzuziehen.“ Vgl. ADAP, D, XII/2, Dok. 419, S. 638, 11. Mai 1941. 66 Vgl. Time, 10. März 1941, S. 23. 67 So etwa bei Gabriel Gorodetsky, der ebenfalls Hoptner als Quelle angibt, jedoch in einer einzigen, völlig nachgeordneten Stelle direkt darauf Bezug nimmt. Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 456. Die Einbeziehung Hoptners hätte ihn vor dem Fehlurteil bewahren können, der „Truppenaufmarsch im Südwesten (hätte) nichts mit einem vorgefaßten Plan zu tun, die rumänischen Ölfelder zu überrennen, wie gelegentlich vermutet wird.“ Zit. n. Gorodetsky, Täuschung, S. 169. 68 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 309. 69 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 437.
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So entwickelte er unter Berufung auf Vyšinskijs Ankündigung, „in den Krieg gegen Deutschland einzutreten“, die Theorie, die UdSSR hätte einen Krieg gegen Deutschland vermeiden wollen. Aus dem angekündigten sowjetischen Angriff auf Bulgarien, auf dem Weg durch das strategisch wie wirtschaftlich für Deutschland existentiell wichtige, daher durch politische Erklärungen gegenüber der UdSSR, vom Dreimächtepakt, einer deutschen Garantie und einer massiven deutschen Truppenpräsenz geschützte Rumänien, machte Hillgruber „eine begrenzte militärische Aktion auf dem Balkan“.70 In der Tat sagte Vyšinskij seinem jugoslawischen Gesprächspartner Gavrilovic´ den verdeckten Aufbau aller Balkanstaaten gegen Deutschland zu, ohne sie dadurch in einen Krieg mit Deutschland hineinzubringen. Er stellte aber schon im nächsten Satz „klar“, daß die UdSSR den Nichtangriffsvertrag mit Deutschland brechen und Deutschland überfallen wolle, wenn die Briten eine Balkanfront zustande bringen würden. Dazu paßte auch, daß Gavrilovic´ von sowjetischen Militärs angesprochen wurde, beide Staaten hätten in Deutschland einen „gemeinsamen Feind“ und sollten sich baldmöglichst über diplomatische Kanäle verbinden. Gavrilovic´ legte seiner Regierung im März mehrfach den Gedanken nah, die UdSSR würde früher oder später in jedem Fall in den Krieg eintreten, schon allein um ihre Ansprüche bei den Friedensgesprächen durchsetzen zu können.71 Das geplante Szenario war offensichtlich dies: Von beiden Seiten, aus London wie aus Moskau gedrängt, sollte sich Jugoslawien der Balkanfront aus Griechenland und der Türkei anschließen,72 was zusammen mit dem Eingreifen der UdSSR einen Großkonflikt in der Region auslösen würde, den Deutschland und zuerst besonders Italien schwer überstehen könnten.
70 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 436. Dazu kommt ein Anachronismus, denn Hillgruber hält selbst fest, „mit dem Einmarsch starker deutscher Kräfte in die Norddobrudscha ab Ende Januar“ seien „die Voraussetzungen für regional begrenzte sowjetische Militärunternehmungen in Südosteuropa entfallen.“ (Ebd., S. 437) Vyšinskijs Äußerungen datieren aber vom Februar, so daß ihm völlig klar gewesen sein muß, daß er von einem Angriff auf große deutsche Truppenteile sprach. Selbst dann, wenn man annimmt, die sowjetische Führung hätte zu einem früheren Zeitpunkt geglaubt, eine Militäraktion gegen alle von Deutschland erst Wochen vorher ausgesprochenen Garantien sei „begrenzt“ zu führen (wofür nichts spricht), war diese Interpretationsmöglichkeit längst Vergangenheit. Was Vyšinskij hier ankündigte, bedeutete nicht weniger als den Krieg gegen Deutschland. 71 Gavrilovic ´ am 8. und 14. März 1941 an das jugoslawische Außenministerium, vgl. Hoptner, Crisis, S. 208. 72 Um dieser Konstellation zu begegnen und besonders die Türkei von einem Eingreifen auf alliierter Seite „abzuschrecken“, wollte Hitler den deutschen Angriff auf Jugoslawien so weit wie möglich beschleunigt sehen. Gleichzeitig sei es die Hauptaufgabe Rumäniens, für etwas Deckung gegen Rußland zu sorgen. Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 217, S. 308.
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Erst nach einigen militärischen Vorbereitungen war man in Berlin soweit, daß man einem russischen Angriff einigermaßen gelassen gegenüberstehen konnte. Die deutsche Heeresmission hatte dem rumänischen Generalstab bereits im Dezember 1940 vorgeschlagen, die Ost- und Nordostgrenzen der Moldau-Provinz mit Ausnahme der Nordostecke zu verteidigen, um einen „feindlichen Durchbruch bei Galatz und einen Vorstoß aus der Bukowina“ unbedingt zu verhindern. Die deutschen Lehrtruppen würden die rumänische Wehrmacht hierbei unterstützen. Sie sollten im Fall eines drohenden russischen Angriffs zur offensiven Abwehr russischer Angriffe bei Galatz oder eines russischen Vorstoßes aus der Bukowina bereitgestellt werden.73 „Wenn es (Rußland, d. Verf.) schon angreifen will, je eher, desto besser,“ notierte Goebbels später die optimistischen Ausführungen Hitlers am 6. April. Aber dennoch gab es angesichts der latenten Drohung dieses Angriffs und nach dem gescheiterten Versuch, mit einem Ausbau des Dreimächtepakts den Frieden in der Region zu stabilisieren, keine Möglichkeit mehr, den Militärputsch und die anschließenden jugoslawischen Drohgebärden zu ignorieren. Die deutsche Führung hatte die Absichten der Alliierten gut erkannt: „Handelten wir jetzt nicht, dann käme eventuell der ganze Balkan inklusive der Türkei ins Rutschen. Dem muß vorgebeugt werden.“74
Es wurde dabei in Kauf genommen, daß die anderen Bündnisse mit den Balkanstaaten belastet wurden. Der Krieg gegen Jugoslawien und Griechenland bedeutete eine neue Qualität des Krieges auch für ein Land wie Ungarn, das seit dem Münchener Abkommen von 1938 im Windschatten der deutschen Politik weite Teile der Tschechoslowakei und Rumäniens erwerben konnte. Das geschah ohne Beteiligung an Kampfhandlungen und hatte bisher keine Formen angenommen, die das Land in den Augen der Westmächte als Verhandlungspartner unmöglich gemacht hätten. Bis zum Frühjahr 1941 konnte man in Budapest hoffen, die Gewinne vielleicht auch über eine deutsche Niederlage hinwegretten zu können. Der deutsche Angriff auf Jugoslawien machte dem ein Ende, da die britische Regierung am 2. April wissen ließ, jede direkte oder indirekte ungarische Unterstützung würde die englische Kriegserklärung nach sich ziehen.75 Die unmittelbare Folge war zunächst, daß Regierungschef Graf Teleki Selbstmord beging, ein Ausdruck der Verzweiflung und des Patriotismus, wie der immer noch in London residierende ungarische Botschafter seinem Kollegen Raczynski schrieb.76 73
Zit. n. Schramm, OKW, I, S. 235. Zit. n. Goebbels, Tagebücher I/9, S. 230, 6. April 1941. 75 Vgl. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 204. 76 Vgl. Raczynski, London, S. 88. Teleki hatte den ungarischen Freundschaftsvertrag mit Jugoslawien selbst geschlossen und glaubte daher, einen Angriff auf das 74
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Vor dem oben erwähnten Hintergrund, einem seit Jahresanfang geplanten Krieg der UdSSR mit Deutschland, erschließt sich auch leicht, warum der überaus freundliche Tonfall plötzlich völlig verstummte, in dem erst kurz zuvor die deutsch-sowjetischen Verhandlungen geführt worden waren. Dem mit großen Hoffnungen geschlossenen Handelsvertrag folgte zunächst nichts. Im Gegenteil verhängte die UdSSR eine Woche vor dem Gespräch Vyšinskij-Gavrilovic´, genau am 5. Februar, eine Sperre für den deutschen Warenverkehr mit dem Fernen Osten. Derselbe Vyšinskij weigerte sich persönlich eine Woche später gegenüber Botschafter Schulenburg, diese Sperre aufzuheben.77 Im März folgte darüber hinaus eine Drosselung der sowjetischen Öllieferungen,78 und zudem stoppte die UdSSR den Transfer von Kautschuk aus Ostasien.79 Dem großzügigen deutsch-sowjetischen Handelsabkommen vom 10. Januar 194180 folgte daher unmittelbar eine politische Erpressung, die der Auftakt zu einem geplanten Kriegseintritt sein sollte. Die Interpretation, die Hitler diesem Vorgang im Nachhinein gab, trifft daher offenbar zu: „Das Bestreben der Sowjets sei ganz offensichtlich das gewesen, den Balkan in ihrem Sinne anzukurbeln und auf diese Weise eine günstige Absprungbasis gegen uns und damit gegen Gesamteuropa zu erhalten. Bis zur Erreichung dieses Zieles hätten sie versucht, uns durch wundervoll scheinende Handelsverträge hinzuhalten, um dann, sobald die Vorbereitungen zum Losschlagen gegen uns abgeschlossen seien, den Ölhahn abzudrehen.“81
Er nahm dieses Abkommen allerdings auch bereits zum Zeitpunkt seiner Unterzeichnung mit Skepsis auf. Die russische Angriffsdrohung war in Berlin erkannt worden. Es sollten Kräftegruppen bereitgestellt werden, „um einen eventuellen konzentrischen Angriff der Russen von Norden und Osten mit dem Zielpunkt Galatz zu verhindern, ordnete er am 21. Januar an.82 Land nicht verantworten zu können. Horthy zeigte sich beeindruckt, zog daraus aber lediglich einen zeittypisch pragmatischen Schluß, mit einem Angriff zu warten, bis eine kroatische Unabhängigkeitserklärung erfolgt war, damit der Staat Jugoslawien nicht mehr existiere, mit dem man den Freundschaftsvertrag geschlossen hatte. Vgl. auch Halder, KTB, II, S. 348 f., 4./5. April 1941. 77 Dies sei ein „schwerer Schlag“ gegen die deutsche Wirtschaft, hatte Schulenburg zugegeben. Vgl. Schwendemann, Zusammenarbeit, S. 273 f. 78 Vgl. Weizsäcker, Papiere, S. 240, 6. März 1941; sowie Halder, KTB, II, S. 311, 13. März 1941; Arnold, Besatzungspolitik, S. 77 und Schwendemann, Zusammenarbeit, S. 272. Im Vorjahr waren die sowjetischen Getreide- und Öllieferungen ebenfalls im März gestopt worden, im Vorfeld der alliierten Skandinavieninvasion. Vgl. Bullock, Leben, S. 876. 79 Vgl. BA-MA RW 19/164, Bl. 191 f., 1. März 1941, Besprechung Jehle mit Amtschef Gen. Thomas. 80 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 637, S. 887 f., 10. Januar 1941. 81 Hitler am 27. Juli 1942, zit. n. Picker, Tischgespräche, S. 678.
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Die ganze Anlage des Vorgehens auf dem Balkan „sei durch das Verhalten Rußlands bestimmt“: „Einer ernsten russischen Bedrohung könne Deutschland im Augenblick gegenüber den an der rumänischen Grenze konzentrierten russischen Divisionen nicht standhalten. Eine Entlastung an anderen Stellen der deutsch-russischen Grenze83 sei bis Mai nicht möglich. Über diese Sachlage wären sich die Russen absolut klar.“84
Dieser Analyse entsprechend wurden Vorkehrungen so weit wie möglich getroffen und im Vorfeld des Jugoslawienfeldzugs fühlte sich Deutschlands Diktator deswegen einigermaßen sicher, wie in den bereits erwähnten, von Goebbels überlieferten Sätzen zum Ausdruck kommt: „Vor Rußland hat der Führer keine Angst. Er hat sich ausreichend abgeschirmt. Und wenn es schon angreifen will, je eher, desto besser.“85
Dies klang ganz anders als bei Unterhändler Schnurre, der die Verhandlungen in Moskau geführt hatte und im Überschwang des Erfolgs der Meinung war, man habe jetzt „den Krieg gewonnen“, weil die englische Blokkade sinnlos geworden sei.86 In Moskau hätten ihm dies der amerikanische Botschafter Steinhardt und sein japanischer Kollege Togo anerkennend zu verstehen gegeben. Schnurre konnte nicht wissen, daß gerade während seiner Verhandlungen im Januar die beiden Kriegsspiele der Roten Armee liefen, in denen ein für die Sowjetunion erfolgreicher militärischer Schlagabtausch mit Deutschland simuliert wurde.87 In einem Gespräch mit Hitler und Ribbentrop in Berchtesgaden erläuterte er das Ergebnis seiner Bemü82 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 679, S. 952, 21. Januar 1941, Besprechung Hitler, Ribbentrop, Mussolini, Ciano, sowie u. a. Keitel und Jodl. Die Sorge vor einem Angriff der UdSSR auf Rumänien beschäftigte die deutsche Führung kontinuierlich. Immer wieder gab es Aufforderungen an Rumänien, die Deckung gegen einen russischen Angriff zu verstärken und die Abwehrbereitschaft an der russischen Grenze zu erhöhen. Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 217, bzw. Dok. 249. 83 D.h. heißt ein Gegenangriff im Fall einer russischen Offensive, wie er auf russischer Seite in Rechnung gestellt worden war. Zu diesem Kalkül vgl. die Aussage Vlasov in: Hillgruber, Strategie, S. 437. 84 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 679, S. 953, 21. Januar 1941. 85 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 230, 6. April 1941. Einen Tag vorher hatte Hitler auch in einem Brief an Mussolini davon geschrieben, „im Osten auf das höchste bereit“ sein zu müssen. Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 281, S. 394. 86 Mit den Worten: „Sie haben den Krieg gewonnen“, hat sich Schnurre nach eigener Aussage bei Ribbentrop zurückgemeldet. Vgl. Ribbentrop, Außenpolitik, S. 372. 87 Zu diesen Kriegsspielen s. u. Allerdings vermerkte auch Schnurre im nachhinein, daß nach dem 10. Januar trotz aller scheinbar günstigen Abmachungen „eine merkliche Zurückhaltung gegenüber der praktischen Verwirklichung“ bei den Sowjets zu beobachten gewesen sei. Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 280, S. 392, 5. April 1941.
5. Die Gültigkeit des Nichtangriffspakts und des Geheimprotokolls
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hungen, und sprach von einer „festen Grundlage für einen ehrenvollen und großen Frieden für Deutschland.“88 Mit Blick auf die militärische Situation auf dem Balkan zweifelte Hitler dies an.89 Er hatte Grund dazu. Gerade aktuell hielt sich William Donovan in Belgrad auf, um die große Balkankonstellation gegen Deutschland zustande zu bringen. Einige Tage vorher hatten die USA auch das „moralische Embargo“ gegen die UdSSR aufgehoben, das seit deren Überfall auf Finnland bestanden hatte.90 Ein politisches Signal erster Ordnung war dies, mit dem die UdSSR wieder zum akzeptierten Verhandlungspartner geworden war. Es zeigte offen, wie brüchig die Lage zwischen Deutschland und der UdSSR tatsächlich war. Die Westmächte umwarben die UdSSR und die nahm es gern hin, was auch an einer anderen Episode wenige Tage vorher deutlich wurde. Der russische Botschafter suchte das Auswärtige Amt auf. Er überreichte ein merkwürdiges Papier, auf dem zu lesen war, Deutschland würde durch seine Aktionen ein englisches und damit ein anschließendes russisches Eingreifen auf dem Balkan provozieren: „Nach allen Angaben habe sich die deutschen Truppen in großen Mengen in Rumänien konzentriert und sich bereits zum Einmarsch in Bulgarien fertiggemacht, indem sie als ihr Ziel die Besetzung Bulgariens, Griechenlands und der Meerengen haben. Es kann kein Zweifel sein, daß England versuchen wird, den Aktionen deutscher Truppen vorzubeugen und die Meerengen zu besetzen, im Bündnis mit der Türkei die militärischen Operationen gegen Bulgarien zu eröffnen, Bulgarien in ein Feld der militärischen Operationen zu verwandeln. Die Sowjetregierung hat der Deutschen Regierung mehrere Male erklärt, daß sie das Territorium Bulgariens und der beiden Meerengen für die Sicherheitszone der UdSSR hält, wodurch sie nicht teilnahmslos zu den Ereignissen, die den Interessen der Sicherheit der UdSSR drohen, bleiben kann. In Anbetracht von diesem Allem, hält die Sowjetregierung es für ihre Pflicht zu warnen, daß das Erscheinen irgendwelcher Streitkräfte auf dem Territorium Bulgariens und der beiden Meerengen sie für eine Verletzung der Sicherheitsinteressen der UdSSR halten wird.“91
An diesem Text hatte man im Außenministerium offensichtlich lange gefeilt und ihn schließlich so kryptisch gestaltet, daß Dekanozov ihn schriftlich mitbringen mußte. Damit der Inhalt auch ganz sicher wahrgenommen wurde, trug Molotov ihn am gleichen Tag in Moskau dem deutschen Bot88
Vgl. Ribbentrop, Außenpolitik, S. 375. Allerdings gab er Weisung, „Russenvertrag müsse auf jeden Fall erfüllt werden.“ Vgl. BA-MA RW 19/164, Bl. 130, 5. Februar 1941. 90 Brief Welles an den sowjetischen Botschafter vom 21. Januar. Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 701, S. 982 f. 91 Zit. n. ADAP, D, XI/2, Dok. 668, S. 934 f., 17. Januar 1940. Ein weiteres sowjetisches Kommuniqué über die „vermehrte Kriegsgefahr“ nach der Besetzung Bulgariens führte Goebbels zu der Bemerkung, man müsse sich „Moskau gegenüber vorsehen“. Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/9, 5. März 1941, S. 171. 89
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
schafter vor.92 Zunächst war erstaunlich, daß der deutschen Regierung hier die Verantwortung für eine Zuspitzung der Krise auf dem Balkan zugeschoben wurde. Englische Truppen waren schließlich bereits seit langem in Griechenland und beim Gipfelgespräch in Berlin hatte Molotov sogar behauptet, diese englischen Truppen in Griechenland seien eine Bedrohung der UdSSR. Wer den Balkan zum Kriegsschauplatz machen wollte, daran konnte wenig Zweifel bestehen. Erstaunlicher noch als dies ist jedoch der Hinweis auf das Erscheinen „irgendwelcher“ Streitkräfte, bzw. „irgendwelcher ausländischer bewaffneter Kräfte“.93 Der Formulierung nach konnte man hier theoretisch herauslesen, daß die UdSSR auch im Erscheinen englischer Truppen auf dem Gebiet der Türkei eine Verletzung ihrer Interessen sehen würde. Molotov unterstellte ja entsprechende Absichten. Das könnte im weiteren theoretisch bedeuten, daß die Rote Armee gegen solche Truppen vorgehen würde und im Zusammenhang mit der von Molotov ebenfalls vorgetragenen Anregung, man solle sich doch einmal wieder über den sowjetischen Vorschlag vom 25. November 1940 unterhalten, auf den die UdSSR bisher noch keine Antwort erhalten hätte, bekommt dies eine weitere Nebenbedeutung, denn damals hatte die UdSSR ja verlangt, Bulgarien und die Dardanellen mit sowjetischen Truppen belegen zu können und die widerspenstige Türkei bei Bedarf gemeinsam mit Deutschland und Italien militärisch zwingen zu wollen. Es könnte sich hier also um die Forderung handeln, eine solche Aktion jetzt durchzuführen. Das hätte bedeuten können, Bulgarien und die Meerengen doch der UdSSR überlassen zu müssen, aber es war eine klare „Warnung“ an Deutschland, nichts zu unternehmen. Einen Tag später hatte Hitler bereits reagiert und behielt sich jetzt „wegen eines nicht näher bekannten Schrittes“ der Sowjetregierung alle Genehmigungen für deutsche Truppenbewegungen persönlich vor. Man glaube im Führerhauptquartier zwar nicht, daß wegen des „Unternehmens Marita“ der Krieg gegen Rußland ausbrechen würde, halte es „aber für möglich, daß Rußland die Türkei zu feindlichen Handlungen gegenüber Deutschland veranlassen und England insgeheim unterstützen könne.“94 Im Berliner Aus92 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 669, S. 935 f, 17. Januar 1940. Da die Gespräche parallel stattfanden, ist es wenig wahrscheinlich, daß Dekanozov auf Anregung Schulenburgs zu Weizsäcker ging, wie Gorodetsky behauptet. Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 140. 93 So die Formulierung von Molotov. Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 669, S. 936. 94 Vgl. Schramm, OKW, KTB, I/1, S. 268, 18. Januar 1941. Chef L (Warlimont) weist an, es sei die Flugabwehr östlich der Linie Danzig-Breslau-Wien zu verbessern, die „Abwehrbereitschaft gegenüber Rußland“ sei aber gewährleistet. Drei Tage später traf die Nachricht ein, die türkische Ministerpräsident hätte den Regierungen der USA und Großbritanniens den Kriegseintritt der Türkei zugesagt, wenn Deutsch-
5. Die Gültigkeit des Nichtangriffspakts und des Geheimprotokolls
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wärtigen Amt lagen Nachrichten vor, nach denen die Sowjetunion Waffenlieferungen an die Türkei in Aussicht gestellt hatte, und im Fall eines Kriegseintritts für die Türkei in etwa die Rolle übernehmen wollte, die Amerika für England spielte.95 Zudem geht aus Stalins Anweisungen an Molotov klar hervor, daß der ganze Balkan in der Tat der sowjetischen Interessensphäre zugerechnet und damit nach den bisherigen Erfahrungen früher oder später sowjetisiert werden sollte. Die zusammenfassende Feststellung des deutschen Memorandums, die russische Politik „laufe auf eine Beherrschung des Balkans durch die UdSSR hinaus“, war insofern zutreffend.96 Alles in allem bestand kein Zweifel, daß die UdSSR den Nichtangriffspakt gebrochen hatte und die Feststellung des deutschen Memorandums zutreffend war. Es war nicht nur der „freundschaftliche Meinungsaustausch“ zwischen Deutschland und der UdSSR im November 1940 gescheitert. Die UdSSR hatte die Bestimmungen des Nichtangriffspakts mehrfach gebrochen. und beispielsweise Teile Litauens wie auch Rumäniens besetzt, die eindeutig nicht in ihre Interessensphäre gehörten. Deutsche Proteste nutzten nichts, die Gebiete blieben besetzt, die Konsultationen erwiesen sich einmal mehr als fruchtlos. Schlimmer noch, der Nichtangriffspakt war von russischer Seite von vornherein mit der Absicht geschlossen worden, ihn als Mittel zur Entfesselung eines Krieges und zum Schaden Deutschlands zu nutzen und damit seine Bestimmungen zu brechen. Sein Artikel II legte fest: Falls einer der Vertragschließenden Teile Gegenstand kriegerischer Handlungen einer dritten Macht werden sollte, wird der andere Vertragschließende Teil in keiner Form diese dritte Macht unterstützen.97
Tatsächlich beabsichtigt war von russischer Seite etwas anderes, wie oben bereits geschildert wurde. Eine Woche nach Kriegsausbruch erläuterte Stalin seine Taktik am 7. September gegenüber Georgij Dimitroff: „Wir können manövrieren und die eine Seite gegen die andere aufhetzen, damit sie sich um so heftiger gegenseitig zerfleischen. Der Nichtangriffspakt hilft Deutschland in gewisser Weise. Bei nächster Gelegenheit muß man die andere Seite aufhetzen.“98 land in Griechenland eingreifen sollte. Vgl. Schramm, OKW, KTB, I/1, S. 271, 21. Januar 1941. Der Militärattaché in Ankara, Generalmajor Rhode, trug in einem Vortrag bei Keitel am 7. Februar die Ansicht vor, „man dürfe sich nicht fest auf ein Nichteingreifen verlassen,“ sah aber die Möglichkeit, das durch politische Erklärungen zu verhindern. Vgl. BA-MA RW 19/164, Bl. 136. 95 Notiz Woermann in AA/Büro St. S./Akten betr. Türkei Bd. 2, bzw. Fabry, Beziehungen, S. 278. 96 Vgl. dazu auch die oben entwickelte Neukonzeption der sowjetischen Außenpolitik nach der französischen Niederlage. 97 Zit. n. ADAP, D, VII, Dok. 228, S. 205. 98 Zit. n. Bonwetsch, Politik, S. 146.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
Man wird vor dem Hintergrund solcher Äußerungen und der folgenden sowjetischen Politik zögern, dem „Nichtangriffspakt“ für 1941 noch rechtliche Bedeutung zukommen zu lassen. Er war durch die politischen Ereignisse in der Tat überholt. Zudem muß- dies sei zum Schluß noch angefügt – jede Argumentation, die dem Abkommen rechtliche Wirkung zuweist, auch das geheime Zusatzprotokoll mit einbeziehen, in dem eine mögliche Teilung Osteuropas zwischen Deutschland und der UdSSR für den Fall eines Kriegs verabredet worden war. Dieses Abkommen war Teil des Vertrags. In diesem Zusammenhang von „Recht“ zu sprechen, heißt auch, die Teilung Osteuropas und Polens für rechtens zu erklären. In diesem Zusammenhang von „Unrecht“ zu sprechen, heißt letztlich auch, den Nichtangriffspakt insgesamt als obsolet zu definieren. Da der UdSSR diese Konsequenz bekannt war, kämpfte die sowjetische Justiz im Nürnberger Prozeß auch entschieden darum, die Existenz des Geheimprotokolls zu leugnen. Das gelang damals ebenso weitgehend,99 wie auch die Völkerrechtsbrüche der Westmächte während dieser Veranstaltung weitgehend unerwähnt blieben. Vorgeschobene völkerrechtliche Standards bildeten die bloße Kulisse eines aus politischen Gründen geführten Prozesses, der sich als abschließender Teil der Kriegsführung begreifen läßt. 6. Kriegsspiele Während in Moskau einerseits freundliche Wirtschaftsverhandlungen stattfanden, andererseits aber offen vom Krieg gegen Deutschland gesprochen wurde, war dieser Krieg bereits militärisch vorbereitet worden. Anfang Oktober 1940 legten Timošenko und Shukov, der damals Oberbefehlshaber des Kiewer Militärbezirks war, Stalin einige Änderungen der bis dahin gültigen Einsatzpläne vor und machten die „Südwestfront“ zum künftigen Hauptkriegsschauplatz.100 Es wurden Maßnahmen getroffen, im besetzten Teil Polens die Verteidigung zu verstärken, um mehr Truppen für den Süden frei zu haben, denn man erwartete in Moskau für den Fall eines russischen Angriffs auf Rumänien einen deutschen Gegenstoß in Richtung Minsk.101 Das neue Schwergewicht des Truppenaufmarschs ermöglichte es durchaus, die „rumänischen Ölfelder zu überrennen“.102 Dies stellte auf den 99 Zeugenaussagen zum Thema ließen sich nicht vermeiden, aber die Versuche der Verteidigung, das Geheime Zusatzprotokoll als Dokument in den Prozeß einzuführen, wurden vom Gericht zurückgewiesen. Vgl. IMT, Bd. 114, S. 315 ff. 100 Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 169. 101 Vgl. Aussage Vlasov in Hillgruber, Hitlers Strategie, S. 437. 102 Oder auch zu überraschen. Seit Sommer 1940 wurden die sowjetischen Fallschirmspringer samt den dazugehörigen Transportkapazitäten in der Ukraine zusammengezogen. Vgl. Erickson, Road, S. 65. Gabriel Gorodetsky will in dieser Trup-
6. Kriegsspiele
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wahrscheinlich nächsten Kriegsschauplatz ab. Es war jedoch zugleich ein bemerkenswerter Akt, einen Angriff auf ein Land zu planen, das sich einer deutschen Garantie erfreute. Die Jahreswende 1940/41 brachte in vieler Hinsicht einen Wechsel der Methoden und Ziele, mit denen die aktuelle politisch-militärische Auseinandersetzung geführt wurde. Nach dem Scheitern der zahlreichen Verhandlungsversuche rückte das Militär in den Vordergrund. Auf dem Berghof bei Berchtesgaden fanden Anfang Januar in großem Rahmen mehrtägige Militärbesprechungen statt.103 Zuvor hatte am 2. Januar 1941 in Moskau ein erstes Kriegsspiel begonnen, in dem die Flexibilität der russischen Streitkräfte und ihre Fähigkeit zu weitreichenden Angriffsoperationen getestet wurde. Als Thema des Planspiels wurde genannt: „Eine offensive Operation der Front zum Durchbruch durch befestigte Regionen.“104 Es fand in Gegenwart Shdanovs statt.105. Er dürfte diese Übung mit besonderer Spannung erwartet haben, bot doch nach seiner Einschätzung der gegenwärtige Krieg zwischen Deutschland und England für die UdSSR eine Chance, zu tun was immer ihr zu tun beliebte.106 Sämtliche hohen Militärs waren daran beteiligt, unter diesen Vorzeichen eine Simulation durchzuspielen, in der die sowjetischen Streitkräfte innerhalb weniger Wochen die Weichselmündung zu erreichen hatten.107 Politische Umstände des Kriegsausbruchs waren nicht Gegenstand der Analyse, der Operationsraum denkbar weit abgesteckt. Die durchgespielten Szenarien umfaßten auch Rumänien. In der abschließenden Besprechung wurde zur Rolle der Luftwaffe demgemäß lapidar festgestellt: „Alles zerstören, dann kann man versuchen, über die Karpathen zu gehen.“108 Bemerkenswert war, daß in beiden Kriegsspielen die Rote Armee ausschließlich in der angreifenden Rolle agierte, so daß am Gesamtcharakter der Planungen wenig Zweifel blieb. Die „östlichen Streitkräfte“, wie sie im Szenario genannt wurden, agierten in Wahrheit als Angreifer.109 Erst die Einzelheiten dieser Geschichte lassen den ganzen Umfang der Ambitionen erahnen. Dem ersten Kriegsspiel lag der Form halber ein fiktives Szenario zugrunde, daß westliche Angreifer am 15. Juli 1941 die penumgruppierung jedoch nur defensive Absichten erkennen. Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 169. 103 Vgl. Hewel, Tagebuch, 7.-9. Januar 1941. 104 Vgl. Bobylev, War, S. 56. 105 Vgl. Erickson, Road, S. 50. 106 Vgl. Barros, Deception, S. 9. 107 Vgl. Bobylev, War, S. 56. 108 Aufzeichnungen des russischen Majors Murat. Vgl. BA-MA RH 24-24/335, hier zit. n. Hoffmann, Vernichtungskrieg, S. 366. 109 Vgl. Bobylev, War, S. 56.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
Grenze überschritten hätten, teilweise 70–120 Kilometer in Weißrußland und Litauen eingedrungen, aber bereits am 1. August 1941 auf ihre Ausgangspositionen zurückgeworfen worden waren. Wie dies geschehen sein mochte, spielte in den Überlegungen keine Rolle. Erst jetzt, zu diesem Zeitpunkt startete die Übung, und sie startete mit einem sowjetischen Angriff, der jener Linie folgte, die der bald darauf zum Generalstabschef ernannte Shukov später in seinen „Überlegungen“ anstellen sollte. Das zweite Kriegsspiel, von einem ähnlichen Optimismus beseelt, setzte den Fall voraus, daß feindliche Streitkräfte am 1. August 1941 in die Ukraine eingedrungen seien. Bereits am 8. August hatten sie jedoch zwanzig Divisionen verloren und sich auf eine befestigte Linie zurückziehen müssen, deren Durchbrechung dann das Ziel der durchgespielten Übung war.110 Die östlichen Truppen hatten demnach bereits die Weichsel erreicht, als das Kriegsspiel begann.111 Wenige Wochen später erreichten sie Krakau und Kattowitz, dabei ebenfalls exakt der Linie folgend, die Shukov in seinen „Überlegungen“ für die Operationen im Süden ausführte. Dieser Punkt muß hier betont werden, denn formell gingen die entsprechenden Szenarien zwar von einer „Agression“ der westlichen Seite aus, was in vielen Veröffentlichungen auch stets betont wird. Die Vorgaben für die Kriegsspiele widmeten aber dem in einem solchen Fall naheliegenden Problem keinerlei Aufmerksamkeit, wie auf einen solchen Angriff militärisch reagiert werden sollte. Sie gingen statt dessen davon aus, er sei bereits zurückgewiesen worden und das nicht nur erfolgreich, sondern auch schnell.112 Die Kriegsspiele beschäftigten sich ausschließlich mit einem sowjetischen Angriff. Nachdem ursprünglich offenbar wenigstens die Möglichkeit angedacht worden war, man könne auch Details einer Verteidigung durchspielen, fand dies nicht statt, obwohl man nach eigener Einschätzung in einer Zeit lebte, „in der mit Krieg gerechnet werden mußte“.113 Schlußfolgerungen aus diesem Vorgehen lassen sich ziehen. Was nicht geübt wird, ist auch nicht vorgesehen. Stalin opferte daher keine Zeit für überflüssige Proben. Er führte seine Truppen auf der Landkarte in überlegener Ausrüstung an die Grenze und gab ihnen das fiktive Signal zur Attacke. Angenommen wurde in den Kriegsspielen im ersten Fall eine Überlegenheit der östlichen Seite von 2,5:1 bei Panzern und 1,7:1 bei Flugzeugen, im zweiten 3:1 bei Panzern und 1,3:1 bei Flugzeugen.114 Das Fazit Stalins in 110
Vgl. Bobylev, War, S. 54. Bobylev weist darauf hin, daß dies exakt einer Phase in den „Überlegungen“ Shukovs vom Mai entsprach. Vgl. Bobylev, War, S. 55 bzw. S. 57. 112 Vgl. Bobylev, War, S. 55. 113 So Marschall Vasilevskij, zit. n. Bobylev, War, S. 55. 114 Vgl. Bobylev, War, S. 55 f. 111
6. Kriegsspiele
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der abschließenden Besprechung lautete konsequenterweise: „Eine zweifache Übermacht ist Gesetz. Eine dreifache ist besser.“115 Die Generalität der Roten Armee übte ganz pragmatisch einen Angriff auf den „westlichen Gegner“, ohne mit einem vorhergehenden deutschen Angriff zu rechnen.116 Auch in den weiteren Monaten spielte der Gedanke an einen deutschen Angriff in den sowjetischen Militärplanungen keine Rolle. Es gab offenbar kein Kriegsspiel, das sich mit diesem Fall beschäftigte. Wer dies für einen „Fehler“ hält und davon spricht, hier seien die entsprechenden Lehren aus dem deutschen Polen-Feldzug von 1939 nicht gezogen worden,117 verkennt sowohl die näheren Umstände des Polen-Feldzugs als auch die hinter den sowjetischen Plänen stehende Absicht. Eine kurze Betrachtung zum Kriegsausbruch im September 1939 zeigt klar, warum die Moskauer Führung von einer gewissen Vorwarnzeit ausging. Auch wenn sich unter nachgeborenen Historikern und in der Öffentlichkeit der Eindruck verbreitet hat, der deutsche Angriff auf Polen sei ein „Überfall“ gewesen, so wußten doch informierte Zeitgenossen und insbesondere die Leiter von Außen- und Militärpolitik der UdSSR samt und sonders, daß von einem Überfall nicht gesprochen werden konnte. Gerade das Überraschungsmoment, das zu einem „Überfall“ gehört, und dessen Relevanz die Rote Armee aus diesem Fall theoretisch hätte lernen sollen, fehlte hier fast vollständig. Beide Staaten, Deutschland und Polen, hatten zuvor über Monate hinweg militärische Vorbereitungen getroffen. Polen hatte nicht nur als erstes mit der Mobilmachung begonnen, sondern auch zuerst das Wort Krieg in den Mund genommen und die Kriegsdrohung im August 1939 sehr konkret mit der Forderung verbunden, Deutschland habe sich nicht in Danziger Angelegenheiten einzumischen. Die dabei eingesetzte Wortwahl entsprach exakt der im französisch-polnischen Beistandsvertrag für den Kriegsfall vorgesehenen Formel, in welchem Fall Polen mit dem französischen Kriegseintritt rechnen konnte: „im Falle einer Bedrohung seiner Lebensinteressen in Danzig, die eine bewaffnete Aktion von seiten Polens hervorrufen würden.“118
Damit konnte eine Besetzung Danzigs durch polnisches Militär zu jedem beliebigen Zeitpunkt einen Zweifrontenkrieg auslösen. In den zunehmenden 115
Vgl. BA-MA 24-24/355, hier zit. n. Hoffmann, Vernichtungskrieg, S. 366. Haltlos daher das von Manfred Messerschmidt im Zusammenhang mit dem Kriegsspiel gegen Walter Post vorgetragene Argument, man könne vom „Angegriffenen bei seinem Gegenschlag nicht verlangen, an der Grenze haltzumachen.“ Man sollte doch verlangen können, daß er den gegnerischen Angriff bei der Übung wenigstens berücksichtigt. Vgl. Messerschmidt, Präventivkrieg?, S. 32. 117 So Bobylev, War, S. 60 ff. 118 Zitat aus dem im Mai 1939 abgeschlossenen polnisch-französischen Vertrag. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 97. 116
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
Spannungen, die diesem Abkommen folgten, waren von deutscher Seite zahlreiche politische Manöver und Verhandlungsvorschläge lanciert worden, in denen die Republik Polen öffentlich als der Unruhestifter erscheinen sollte. Dazu zählten die berühmten 16-Punkte, die unter anderem über den Weg von Volksabstimmungen die Klärung der strittigen Fragen sowie eine Anerkennung und die internationale Garantie der damals bestehenden deutsch-polnischen Grenze vorsahen. Sie wurden sowohl dem englischen wie dem polnischen Botschafter zur Kenntnis gegeben, der allerdings meinte, sich nicht dafür interessieren zu müssen.119 So hatte es ihm seine Regierung vorgegeben. Wichtig an diesem Vorgehen in bezug auf die deutsch-sowjetische Situation von 1941 ist die Lehre, die der sowjetische Generalstab daraus tatsächlich ziehen konnte und offensichtlich gezogen hat: Ohne ausgiebige, monatelange politische und militärische Vorbereitungen hatte Deutschland diesen Krieg nicht begonnen. Gerade wer Analogien zu kommenden Ereignissen ziehen wollte, mußte davon ausgehen, dies würde gegebenenfalls auch im Fall Rußland so sein. Anderslautende Analysen wies die Führung der Roten Armee offenbar bereits im Dezember 1940 zurück.120 Aus den bisherigen Kämpfen ergebe sich im Prinzip nichts neues, erklärte Timošenko und hatte bis dahin durchaus Recht. Daraus ergab sich eine Vorwarnzeit, die in den sowjetischen Dokumenten regelmäßig mit mindestens zehn bis fünfzehn Tagen angenommen wurde. Diese Vorwarnzeit galt es für eine optimale Dislozierung der sowjetischen Militärkraft zu nutzen, und man hatte sich bereits auf dieser eben erwähnten Dezemberkonferenz geeinigt, in welcher Weise dies geschehen sollte: Mit einer präzise terminierten Offensive. Defensive Maßnahmen waren folgerichtig weder Gegenstand der Besprechung noch der späteren Übungen.121 Die Kriegsspiele bildeten die Grundlage der sowjetischen Planungen und auf diesem Weg wurden sie auch zunächst bekannt, denn wie manches andere, so fanden sich in der Beute während der Frühphase der deutschen Angriffsoffensive auch Unterlagen zu diesem Punkt: „Anliegend wird eine im 119 Lipski habe gesagt, so faßte der anwesende englische Diplomat Forbes zusammen, „daß er in keiner Weise Anlaß habe, sich für Noten oder Angebote von deutscher Seite zu interessieren. Er kenne die Lage in Deutschland nach seiner fünfeinhalbjährigen Tätigkeit als Botschafter gut und habe intime Verbindung mit Göring und anderen aus den maßgebenden Kreisen; er erklärte, davon überzeugt zu sein, daß im Fall eines Krieges Unruhen in diesem Land ausbrechen und die polnischen Truppen erfolgreich gegen Berlin marschieren würden.“ Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 45. 120 Georgij Samojlovic ˇ Isserson hatte 1940 eine schriftliche Analyse vorgelegt, die von einem Angriff ohne Vorwarnzeit ausging (Novye formy bor’by – Neue Formen des Kampfs), wurde aber kritisiert und setzte sich nicht durch. Vgl. Bobylev, War, S. 62. 121 Dazu die Erinnerungen von Generalleutnant P. S. Klenov, in: Russkii arkhiv: Velikaia Otechestvennaia, vol. 12 (1), Moscow, 1993, S. 153 ff.
6. Kriegsspiele
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Stabsquartier der russischen 4. Armee in Kobryn vorgefundene Karte vorgelegt, der anscheinend ein operatives Kriegsspiel im Januar 1941 zu Grunde lag“,122 konnte der Chef des Generalstabs der 24. Armee einige Tage nach Angriffsbeginn melden. Am 22. Juni wußten die Soldaten der Roten Armee dann folgerichtig nicht, was sie tun sollten. Für die Abwehr eines deutschen Angriffs gab es keine Befehlsvorlagen. „Es war ein großer Fehler, daß wir unser Militär nur zum Angriff vorbereitet haben und nicht zur Verteidigung,“123 das sahen nach dem 22. Juni 1941 bald alle ein. Warum kein Verteidigungsplan ausgearbeitet wurde, dafür gibt es, wie bereits angedeutet, prinzipiell mehrere Möglichkeiten der Erklärung: – entweder man zog einen deutschen Angriff überhaupt nicht in Erwägung, d.h. die Rote Armee gedachte den Krieg zu einem selbstgewählten Zeitpunkt mit einem Überfall beginnen zu können – oder man war sich sicher, einen deutschen Angriff rechtzeitig erkennen und mit einer Offensive abwehren zu können. Zwischen beiden Plänen gibt es verschiedene Mischformen, und die am plausibelsten erscheinende Erklärung scheint auch eine dieser Mischformen zu sein. Es mußte aus Sicht der Moskauer Führung möglich sein, einen deutschen Angriff – oder ein politisches Erpressungsmanöver, das als Angriff gewertet werden konnte – zu erzwingen. Damit war das Zeitfenster relativ klein, die letzten militärischen Planungen zu bewältigen, die vorweisbaren „Gründe“ aber politisch eindeutig genug, um einen eigenen Angriff auf Europa öffentlich rechtfertigen zu können. Die Prawda zeichnete dieses Szenario Mitte Mai bereits vor, wobei das Zahlenverhältnis interessanterweise ebenfalls den Vorgaben Stalins folgte: „Das Sowjetvolk nimmt am Kriege nicht teil. Die Regierung der Sowjetunion unter Führung von Stalin führt eine feste Außenpolitik, die unabhängig und selbständig ist und von den Interessen des Brüderbundes der Völker der UdSSR und den Interessen des Sozialismus ausgeht. Die unzerstörbare Stütze dieser Politik ist die Macht unserer Heimat, die Kraft der Roten Armee und der Kriegsflotte und die Bereitschaft unseres Volkes, jeden Schlag eines beliebigen Feindes doppelt und dreifach zu erwidern.“124
Ein „Schlag“ des Feindes, und sei er nur virtueller Natur, war zur Begründung des eigenen Angriffs vorgesehen, wie er auch den Kriegsspielen zugrunde lag. Angebliche Vertragsbrüche hatten ja auch beim sowjetischen 122 Zit. n. BA-MA 21-2/646, S. 61, Meldung Generalkommando (mot.) XXIV. A. K. Ic, 25. Juni 1941. 123 Eintrag im erbeuteten Tagebuch eines offenbar gefallenen sowjetischen Kommissars vom 21. Juli 1941, zit. n. BA-MA 2-24/335, ohne Paginierung. 124 Zit. n. BA-MA RW 5/52, S. 113.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
Angriff auf Finnland die Rechtfertigung dafür geben müssen, daß die UdSSR den bestehenden Nichtangriffspakt mit diesem Land gebrochen hatte. Im strategischen Plan für den Aufmarsch der sowjetischen Armee, den Marschall Shukov entworfen hat, wird betont, „der Aufmarschtermin der deutschen Armee an unseren Westgrenzen ist der 10.-15. Tag nach dem Beginn der Truppenkonzentration“.125 Das spricht eindeutig für die zweite Möglichkeit. Diese Möglichkeiten lassen weitere Varianten zu, denn neben der militärtaktischen Aufgabe, einen Aufmarsch zum bevorstehenden Angriff rechtzeitig zu erkennen, war es auch eine Frage der politischen Analyse, den dahinter stehenden politischen Willen korrekt einzuschätzen. Daß eine Truppenstationierung einen Angriff möglich macht, läßt noch nicht zwingend schließen, daß er auch beabsichtigt ist. Generalstabschef Halder beschrieb dieses Problem, als er sich für die deutsche Seite notierte, wenn man sich vom Vorurteil frei machen würde, daß „der Russe“ nur Friede will, würde man sehen, daß sein Aufmarsch sehr wohl einen schnellen Übergang zum Angriff möglich machen würde. Ähnlich gelagert galt dies auch für die Sowjetunion. Wie wir sehen werden, wurde der deutsche Aufmarsch durch die sowjetische Aufklärung zweifelsfrei erkannt und es standen der Armeeführung vollständige Informationen zur Verfügung, die den Generalstabschef zur Einsicht bewegten, die deutsche Seite drohe den russischen Absichten zuvorzukommen. Als Shukov dies unterstrich und damit den deutschen Aufmarsch beiläufig als präventiven kennzeichnete, beantwortete er damit nicht die Frage, welcher politische Wille hinter diesem Vorgang steckte. Ein deutsches Erpressungsmanöver zur Förderung der sowjetischen Lieferbereitschaft war ebenso möglich wie eine Kriegsabsicht. Jedoch gab es, und dies sollte sich als entscheidend herausstellen, eine vollkommene Fehleinschätzung auf sowjetischer Seite, denn man konnte sich nicht vorstellen, daß der deutsche Angriff ohne jedes vorherige politische Manöver stattfinden würde. Daher glaubte man es sich auch leisten zu können, auf eine exakte Ausarbeitung möglicher Verteidigungsmaßnahmen für diesen Fall verzichten zu können. Das Kriegsspiel des Januar 1941 selbst zeigte trotz großer Erfolge, bei denen die angreifenden sowjetischen Einheiten bis zu 120 Kilometer auf deutsches Gebiet vordringen konnten, die Schwierigkeiten eines Angriffs auf Ostpreußen. Gegenangriffe der von Shukov kommandierten „deutschen“ Truppen brachten die Offensive zum stehen und die Angreifer in schwierige Situationen. Erfolgversprechender ließ sich dagegen im zweiten Kriegsspiel die von Shukov selbst kommandierte Offensive im Süden an. Die direkten Folgen bestanden in Shukovs Ernennung zum Generalstabschef und der sowjetischen Truppenstationierung im Süden, die im Sommer 1941 tatsächlich 125
Vgl. Ueberschär, Angriff, S. 180. Hervorhebung im Original.
6. Kriegsspiele
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bestand. Der geänderte Plan für die strategische Entwicklung der sowjetischen Streitkräfte, der im März 1941 verfaßt wurde, sah jedoch nur pauschal eine Schwerpunktbildung im Westen vor.126 Insgesamt ließen die Äußerungen Stalins und der anwesenden Kommandeure auf der abschließenden Kommandeurstagung keine Zweifel daran, daß hier der Krieg gegen Deutschland geplant worden war. „Die Deutschen sind keine Dummköpfe“, ermahnte der Kremlchef seine Offiziere, wies noch einmal auf die unbedingt nötige Überlegenheit in der Zahl hin und darauf, nur ja kein Material für Nebenoperationen zu verschwenden. Dazu gehörte der Hinweis auf die begrenzte Wirkung von Fernbombern, die den Krieg nicht entscheiden würden.127 Entschieden würde der Krieg nach Stalins Meinung durch eine Operation, eine Welle von Angriffen durch „zwei bis drei Tiefenstaffeln“, die während der Angriffsbewegung ständig erneuert werden konnten. Diese Staffeln standen im Sommer 1941 bereit. Anfang Januar 1941 fanden nicht nur in Moskau Kriegsspiele statt. Während Stalin darauf hinwies, die Deutschen seien keine Dummköpfe, machten sich diese Köpfe beinah zeitgleich intensive Gedanken darüber, wie einem eventuellen sowjetischen Angriff begegnet werden könnte. Formulierte Stalin den Plan, mit Hilfe von Fernbombern die Infrastruktur des Feindes zu zerschlagen und dann entscheidend gegen das rumänische Ölgebiet vorzugehen, wurden genau diese Schritte auf deutscher Seite erwartet. Hitler selbst zeigte sich Anfang Februar „betroffen über die Nachrichten über die sowjetische Luftwaffe“,128 erwartete aber bereits einige Wochen früher aus Moskau weitere Reaktionen, wenn die deutschen Anstrengungen fortgesetzt werden sollten, eine englische Landung auf dem Balkan zu verhindern: „Chef L berichtet dem Chef WFSt sodann über den Stand und die Möglichkeiten des Flakschutzes für das rumänische Ölgebiet und des Küstenschutzes für den Hafen Constanza. Chef WFSt teilt hierbei mit, daß der Führer sich infolge eines nicht näher bekannten Schrittes der Sowjetregierung die Genehmigung für alle erkennbaren Vorbereitungen zum Donauübergang vorbehalten habe. Das OKH solle entsprechend angewiesen werden. . . . Chef L weist darauf hin, daß in dem Raum ostwärts der Linie Danzig-BreslauWien z. Z. kein Flakschutz gegen Rußland und ebensowenig kampfkräftige Flie126 Laut Bobylev enthielt er die Vorgabe, es wäre sinnvoll, die Hauptmasse der sowjetischen Truppen südlich der Pripjet-Sümpfe zu entfalten. Dies steht dort jedoch nur als Mutmaßung über die deutschen Pläne, detaillierte Vorgaben für die sowjetische Seite enthielt dieser strategische Plan nicht. Vgl. Bobylev, War, S. 59, der sich auf Gorkov beruft. Der Plan dokumentiert in: Ueberschär, Angriff, S. 177 ff. 127 In diesem Zusammenhang gewinnt auch die von Viktor Suvorov vorgetragene, etwas abenteuerliche Geschichte an Glaubwürdigkeit, nach der Stalin im November 1940 bewußt auf strategische Luftstreitkräfte verzichtet hätte. Vgl. Suworow, Tag, S. 30. 128 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 283, 17. Februar 1941.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
gerverbände vorhanden seien. Er berichtet in diesem Zusammenhang an Hand einer Karte über den Stand der Küstenbefestigungen der Ostsee, die sich entsprechend den Befehlen für das Unternehmen „Barbarossa“ im planmäßigen Aufbau befinden, und meldet, daß die Abwehrbereitschaft des Heeres gegen Rußland ständig gewährleistet sei.“129
Hitler hatte für den 8./9. Januar eine Konferenz mit führenden deutschen Militärs in Anwesenheit von Außenminister Ribbentrop einberufen. Er gab dabei im zweiten Teil der Konferenz eine allgemeine Einschätzung der Lage ab, die nach manchen Aufzeichnungen recht ambivalent ausfiel. Das Kriegstagebuch des Wehrmachtsführungsstabes formulierte elegant: „Stalin, der Herr Rußlands, sei ein kluger Kopf; er werde nicht offen gegen Deutschland auftreten, man müsse aber damit rechnen, daß er in für Deutschland schwierigen Situationen in wachsendem Maße Schwierigkeiten machen werde. Er wolle das Erbe des verarmten Europa antreten, habe auch Erfolge nötig und sei von dem Drang nach dem Westen beseelt.“130 So wurde Stalin zwar von Hitler prinzipiell die offensive Absicht unterstellt „das Erbe des verarmten Europa anzutreten“, andererseits wurde ihm kein „offenes Auftreten“ zugetraut und der Wert der russischen Armee im weiteren als zweifelhaft eingestuft. Das große Potential würde gegenwärtig nicht ausgeschöpft. Insofern ergab sich ein zwiespältiges Gesamtbild. Deutlicher wird die Argumentationskette in den Tagebucheinträgen des Generalstabschefs Halder zum selben Thema, in denen Hitler mehrfach auf diesen Punkt zurückkommt: „Rußland: hat bestimmte Forderungen gestellt, an die es früher nicht dachte: Finnland. – Balkan. – Mariampol. . . . Rußland: Stalin: klug und schlau; wird immer mehr fordern. Sieg Deutschlands für russische Ideologie untragbar. Entschluß: Rußland so früh wie möglich zu Boden zwingen. Engländer können in 2 Jahren 40 Divisionen haben. Könnte Rußland zum Zusammengehen mit England reizen. . . .“131
Ob dies in zwei Jahren der Fall sein würde, oder bereits früher, das war noch unbekannt. Die prinzipielle Entscheidung schien nach Meinung Hitlers in Moskau bereits gefallen zu sein. Sein persönlicher Eindruck von Stalins Absichten kommt vielleicht in dem Zitat am besten zum Ausdruck, das die Seekriegsleitung aus dieser Besprechung notierte: „Stalin sei als eiskalter 129 Zit. n. Schramm, OKW, KTB, I, S. 268 f., 18. Januar 1941, Hervorhebungen im Original. 130 Zit. n. ADAP, D, XI/2, S. 881 f., vgl. auch Halder, KTB II, S. 243. 131 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 243 f. Besprechung des Führers mit dem ObdH in Gegenwart des Chefs OKW, Chefs WFSt. u. a. Halder selbst war nicht anwesend, er faßte nur zusammen was Paulus, der ihn vertreten hatte, ihm berichtet.
7. Der Shukov-Plan und seine Vorläufer
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Erpresser anzusehen“.132 Aus den Papieren und Botschafterberichten, die Hitler regelmäßig vorgelegt wurden, gingen die sowjetischen Absichten ebenso wie aus den Erklärungen Molotovs eindeutig hervor. Die nächsten Monate sollten während der Eskalation der Balkanaffären klar aufzeigen, wie sehr sich die sowjetische Haltung versteifte und wie nah die militärische Auseinandersetzung rückte. Parallel zu den eben zitierten Überlegungen der deutschen Führung hatten im Kreml die oben erwähnen Kriegsspiele stattgefunden. Als ihr Ergebnis war Shukov zum Generalstabschef ernannt worden, der sich in der Simulation als der erfahrenste Spezialist der Roten Armee für offensive Schläge qualifiziert hatte. Er trug diesen Ruf zu Recht und konnte ihn auch später bestätigen. Shukov war bereits der Stratege des Überfalls auf die japanische Armee in der Mandschurei von 1939 gewesen, er galt später als der Sieger von Stalingrad und der Eroberer von Berlin. Er war der richtige Mann für den überraschenden Angriff auf Deutschland. Er legte den Plan vor, der von der militärischen Seite her die sowjetischen Angriffsabsichten eindeutig beweist. 7. Der Shukov-Plan und seine Vorläufer „Beim Abendessen . . . bemerkte der Chef, daß gerade unsere Auseinandersetzung mit Rußland am nachdrücklichsten beweise, daß ein Staatschef von sich aus losschlagen müsse, wenn er den Krieg für unvermeidbar halte. Ein Brief, der bei dem Sohn Stalins gefunden und von einem seiner Freunde kurz vor unserem Angriff geschrieben worden sei, habe wörtlich die Wendung enthalten, daß er ‚vor dem Spaziergang nach Berlin‘ seine Anuschka noch einmal sehen wolle. Wenn er, Hitler. auf seine schlecht informierten Generäle gehört und gewartet hätte und die Russen uns, diesen ihren Planungen entsprechend, zuvorgekommen wären, hätte es auf dem wohlausgebauten mitteleuropäischen Straßensystem für ihre Panzer kaum mehr ein Halten gegeben.“133
Eingangs habe ich festgestellt, es seien in den letzten Jahren und Jahrzehnten neue Dokumentenfunde zu verzeichnen gewesen, die hier in eine Gesamtdarstellung eingearbeitet werden sollen. Zu ihnen gehört der aktualisierte Plan des sowjetischen Generalstabschefs Shukov für einen sowjetischen Offensivkrieg gegen Deutschland, der Stalin am 15. Mai 1941 vorgelegt wurde.134 Nachdem Stalin zehn Tage zuvor gegenüber einer etwas grö132
Vgl. IMT, Dok. C-170. Hitler gegenüber Albert Speer und Walter Schieber. Zit. n. Picker, Tischgespräche, S. 444 f., 18. Mai 1942 abends. 134 Stalin hat demnach den Shukov-Plan gelesen und mit seinem Monogramm versehen, was im allgemeinen Gebrauch seine Billigung bedeutete. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 76. Vgl. auch den Artikel in der ÖMZI (Österreichi133
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
ßeren Öffentlichkeit, dem Offiziersnachwuchs, verkündet hatte, es sei jetzt Schluß mit der Friedenspolitik und man müsse zum Angriff übergehen, hatte er die Regierung übernommen, um diese Politik persönlich zu exekutieren. Nun legte sein Generalstabschef die aktuelle Lage aus militärischer Sicht dar, wobei er sich der Billigung von höchster Stelle so weit sicher sein konnte, daß er im Text darauf hinwies, es seien „von mir bereits Anordnungen ergangen“, um „den Aufmarsch der eigenen Truppen zu decken und ihren Übergang zum Angriff vorzubereiten“.135 Tatsächlich kursierte der Shukov-Plan bereits einen Tag vor der Übermittlung an Stalin in den Militärbezirken.136 Im Rahmen dieses Übergangs zum Angriff waren in der Roten Armee am 29. Mai bereits Wörterbücher ausgegeben worden, mit denen Verhöre im neu eroberten Gebiet erleichtert werden sollten. Die vorgegebenen deutschen Fragefloskeln, etwa „Wie heißt dieser Fluß?“ oder „Wohin führt dieser Schienenweg?“ zeigen deutlich den erwarteten Vormarsch in unbekanntes, zuvor deutsch besetztes Gelände.137 Wie die vorhergehenden Pläne des sowjetischen Militärführung, betitelte Shukov auch diesen ganz bescheiden und unaufgeregt als „Überlegungen für den strategischen Aufmarschplan der Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krieges gegen Deutschland.“138 Dies war beinah identisch mit dem Titel früherer „Überlegungen“ oder „Erwägungen“, in denen auch bereits ganz ähnlich davon gesprochen worden war, die „Hauptaufgabe“ der sowjetischen Streitkräfte sei es, „den in Ostpreußen und im Raum Warschau konzentrierten deutschen Truppen eine Niederlage beizubringen; durch Nebenstoß sind die Gruppierungen des Gegners im Raum Ivangorod, Lublin, Grubezow, Tomazow, Sadomir zu besiegen“.139 Dahinter stand die von Marschall Shaposhnikov zu dieser Zeit formulierte Überlegung, im Fall einer deutschen Landung in England die Gunst der Stunde für einen Überraschungsangriff auf Deutschland zu nutzen.140 Diese Pläne modifizierte Shukov insoweit, als er den Hauptstoß von Norden nach Süschen Militärzeitschrift 1/1995, S. 120–122, wo die Sowjetoffiziere Jurij Solnyschkov und Ivan Kusmin die Monogrammierung bestätigen. 135 Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 191. 136 Vgl. Weeks, War, S. 152. Spätestens dieser Hinweis schließt einen Zweifel an der Genehmigung Stalins für den Plan und seine Umsetzung aus. Es ist undenkbar, daß der Generalstabschef der Roten Armee in Eigeninitiative Angriffspläne ausarbeitete und ihre Ausführung einleitete, um den Staatschef dann schriftlich vor vollendete Tatsachen zu stellen. 137 Vgl. Maser, Wahrheit, S. 240 f. 138 Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 186. 139 „Erwägungen hinsichtlich der Grundlagen des strategischen Aufmarsches der Streikräfte der UdSSR“ vom Juli 1940, verfaßt von Schaposchnikow und Timošenko, hier zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 162. 140 Vgl. Krylov, Officer, S. 16 f.
7. Der Shukov-Plan und seine Vorläufer
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den verlegte. Das erste strategische Ziel sei es nun, „die Hauptkräfte des deutschen Heeres, die südlich vom Frontabschnitt Brest, Demblin aufmarschiert sind, zu zerschlagen und bis zum 30. Tag der Operation die allgemeine Frontlinie Ostrolenka, Fluß Narev, Lowitsch, Lodz, Kreuzburg, Oppeln und Olmütz zu erreichen.“ Damit stand man nach Shukovs Vorstellungen in einem Monat in Schlesien und hatte den Einbruch ins Mährische Becken bereits geschafft. Dies sei mit einem Angriff aus dem Raum Kattowitz fortzusetzen und letztlich „das Territorium des ehemaligen Polen und Ostpreußen in Besitz zu nehmen.“141 Weitere Angriffe etwa auf Rumänien sollten diesen Vorgang dann abrunden. So würde Deutschland besiegt werden. In der bald nach dem Fund dieses Dokuments losbrechenden Diskussion hat sich erstaunlicherweise die Bezeichnung „Präventivkriegsplan“ für dieses Papier weitgehend durchgesetzt, was man wohl als weiteres Indiz für den Wortwitz historischer Debatten werten kann und für die Neigung nicht weniger Historiker, sich am Bestreiten des Offensichtlichen zu versuchen. Tatsächlich sind diese Ausführungen Shukovs gewissermaßen der „rauchende Colt“ in der Hand des sowjetischen Generalstabschefs, der Beweis einer bereits vor den deutschen Truppenbewegungen und daher unabhängig von ihnen geplanten sowjetischen Großoffensive. In zwei Sätzen gesagt: – In Shukovs Angriffsplan ist mit keinem Wort von einem „Präventivkrieg“142 gegen Deutschland die Rede. – Shukov geht von einem möglichen deutschen Präventivkrieg gegen die sowjetischen Absichten aus. Beginnen wir mit letzterem. Shukov begründet den Plan nicht damit, man müsse dem Gegner zuvorkommen, der dauernd rüste, sondern damit, der deutsche Aufmarsch drohe dem russischen zuvorzukommen: „Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein gesamtes Heer einschließlich rückwärtiger Dienste mobilisiert hat, so besteht die Möglichkeit, daß es uns beim Aufmarsch zuvorkommt und einen Überraschungsschlag führt.“143
Den Anlaß zu dieser Feststellung gaben Berichte des sowjetischen Geheimdiensts, die den deutschen Aufmarsch sehr genau verfolgt haben. Am 15. Mai 1941, also dem Tag, an dem Shukov seinen Plan verfaßt hat, meldete der Report eine andauernde Verstärkung der deutschen Streitkräfte in der ersten Maihälfte und schätzte die Zahl der gegen die UdSSR sofort ein141
Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 187. Was die Herausgeber von Texteditionen nicht daran gehindert hat, diese Überschrift darüber zu setzen. Vgl. Ueberschär, Angriff, S. 186. 143 Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 187, Hervorhebung im Original. 142
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
setzbaren Einheiten auf 114 bis 119 Divisionen.144 Die Hauptkräfte seien neben Ostpreußen im südlichen Teil des Generalgouvernements, der Slowakei und Moldawien konzentriert. Versehen mit diesen Informationen und gestützt auf frühere Berichte, nach denen seit Ende Januar 1941 eine zunehmende Stationierung deutscher Truppen an der Grenze zu beobachten gewesen sei,145 faßte Shukov eine Aktion ins Auge, die schneller als bisher geplant verlaufen sollte. Man war auf der sowjetischen Seite gut über den deutschen Aufmarsch orientiert. Deshalb sollten die eigenen Vorbereitungen jetzt beschleunigt und baldmöglichst angegriffen werden. Es erhebt sich deshalb die Frage, welcher Natur der ursprünglich geplante russische Aufmarsch war. Ein Wechsel in der Aufgabenstellung der sowjetischen Streitkräfte läßt sich dabei jedoch nicht feststellen. Lesen wir dazu in der operativen Planung der Führung der Roten Armee vom 18.9.1940: „Die Hauptkräfte der Roten Armee im Westen können – abhängig von der jeweiligen Lage – entfaltet werden entweder: Südlich von Brest-Litowsk, um mit einem machtvollen Schlag in Richtung auf Lublin und Krakau und weiter auf Breslau, um bereits im ersten Kriegsstadium Deutschland von den Balkanstaaten abzuschneiden, es so seiner wichtigsten wirtschaftlichen Basis zu berauben und einen entscheidenden Einfluß auf die Balkanstaaten in der Frage ihrer Teilnahme am Krieg auszuüben; oder nördlich von Brest-Litowsk mit dem Auftrag, die Hauptstreitkräfte des deutschen Heeres innerhalb (!) der Grenzen von Ostpreußen zu zerschlagen und letzteres in Besitz zu nehmen.“146
Das ist alles, von Verteidigung ist nirgendwo die Rede. Es wird davon ausgegangen, die deutsche Armee entweder bis Breslau zu treiben oder in Ostpreußen zu zerschlagen, also ausschließlich offensiv zu sein. Damit wären die militärischen Möglichkeiten Deutschlands auch bereits im wesentlichen erschöpft gewesen, denn wie man sich in der Führung der Roten Armee ausgerechnet hatte, diente der bei weitem größte Anteil an mobilisierbaren Männern bereits in der Wehrmacht und weitere Divisionen, die nachBerechnungen höchstens weitere drei Millionen Soldaten umfassen würden, konnten nicht aufgestellt werden, ohne daß in gleicher Zahl Zwangsarbeiter, etwa Kriegsgefangene in der deutschen Industrie eingesetzt werden mußten.147 Diesem Szenario drohte der deutsche Aufmarsch zuvor144 Special Report of the Intelligence Directorate of the Red Army Staff, 15 May 1941, Generalleutnant Golikov an Shukov. Vgl. Dvoinykh/Tarkhova, Intelligence, S. 88 ff. Ein weiterer Bericht Golikovs vom 1. Juni meldete dann 120–122 deutsche Divisionen in Grenznähe, dazu weitere 12–16 in Pommern und Schlesien und etwa 6 weitere, die im nördlichen Norwegen einsatzbereit stünden. Ebd. Dvoinykh/Tarkhova, Intelligence, S. 91 f. 145 Vgl. Dvoinykh/Tarkhova, Intelligence, S. 84. 146 Zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 169. 147 So der Bericht von Generalmajor Dronov über die deutschen Mobilisierungskapazitäten vom 1. April 1941. Vgl. Dvoinykh/Tarkhova, Intelligence, S. 88.
7. Der Shukov-Plan und seine Vorläufer
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zukommen, der sich aus dieser Perspektive als reine Präventivaktion erkennen läßt, wie es Shukov ja selbst formuliert hat. Der Shukov-Plan setzte die offensive Tradition der bereits früher ausgearbeiteten russischen Generalstabspläne fort: „Die Richtung, in der sich die Hauptanstrengungen konzentrierten, wurde von der sowjetischen Führung nicht im Interesse einer strategischen Verteidigung gewählt (eine derartige Operation war einfach nicht in Betracht gezogen und auch nicht geplant worden . . .), sondern im Hinblick auf gänzlich andere Möglichkeiten des Handelns. Der Hauptstoß im Südwesten führte über ein vorteilhaftes Gelände und schnitt Deutschland von seinen Hauptverbündeten und dem Erdöl ab und brachte unsere Truppen in die Flanke und den Rücken der Hauptgruppierungen des Gegners.“148
Bereits den Generalstabsplänen der UdSSR vom September 1940 lagen keine „operativen Pläne eines möglichen Gegners Deutschland“ zugrunde. Der Text stellte im Gegenteil ausdrücklich fest, daß operative Pläne des Gegners nicht bekannt seien.149 Das muß auch allein schon deswegen so gewesen sein, weil es im September 1940 noch keine ausgearbeiteten deutschen operativen Pläne gab. Wenn Shukov in den „Erwägungen“ von einem deutschen Vorstoß nach Minsk schreibt, ist dies lediglich eine Spekulation, die ihm plausibel scheint. Shukov hat den deutschen Angriff erwartet und deshalb am 15. Mai einen beschleunigten Offensivplan präsentiert. Das ergibt sich aus dem Text selbst. Die Schlußfolgerungen sind deutlich. Derselbe Shukov hat wenige Wochen später seinen Truppen befohlen, sich von den befestigten Verteidigungsstellungen zu „lösen“ und sich „in unmittelbare Nähe der Grenze“ zu begeben, wie Gabriel Gorodetsky schreibt. Dies dürfte militärisch nur einen einzig sinnvollen Zweck gehabt haben: Shukov wollte seinen Plan vom 15. Mai ausführen, da sich die Dinge zwischen Deutschland und der UdSSR immer mehr verschärft hatten und ein deutsches Ultimatum unmittelbar bevorzustehen schien. Andernfalls hätte er niemals den Befehl zum Verlassen der Verteidigungsstellungen und zum Vormarsch an die Grenze geben können, wo sie „quod erat demonstrandum“ einem deutschen Angriff schutzlos ausgeliefert waren, von dem Shukov ja wie gesagt wußte, daß er bald kommen würde. Diese militärischen Maßnahmen Shukovs geben nur in Verbindung mit einem unmittelbar bevorstehenden russischen Angriff einen Sinn. Auch dafür gibt es eine weitere unabhängige Bestätigung in der Aussage des Generals Vlasov nach seiner Gefangennahme 1942, der davon gesprochen hat, es sei eine russische Großoffensive im Süden aus dem Raum Lemberg ge148 Einschätzung des russischen Generals Machmut Garejev in „Krasnaja Svesda“, 27. Juli 1997, hier zit. n. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 108. 149 Vgl. Ueberschär, Angriff, S. 166.
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VI. Der deutsche Angriff auf die UdSSR und das Völkerrecht
plant gewesen, während die russischen Truppen im Raum Minsk einen eventuellen deutschen Gegenstoß auffangen sollten.150 Vlasovs oft bezweifelte Aussage wird durch die Lektüre von Shukovs Angriffsplan und die Truppenbewegungen voll bestätigt. Man wußte über die eigene materielle Überlegenheit Bescheid,151 als nach der Rückkehr Molotovs aus Berlin wurden die oben bereits dargestellten Kriegsspiele abgehalten wurden, die sich nicht der Frage widmeten, einen deutschen Angriff abzuwehren, sondern sofort zum Durchspielen einer Offensive übergingen.152 Dieser Angriff mußte zu einem vollständigen Sieg führen. An der Lösung der Frage, was dann zu tun war, arbeitete die sowjetische Diplomatie an anderer Stelle bereits intensiv.
150
Vgl. Hillgruber, Hitlers Strategie, S. 437. Deutschland habe erheblich weniger Panzer („considerably less“) als die UdSSR zur Verfügung, urteilte Generalleutnant Romanenko auf der großen Strategietagung im Winter 1940/41 im Beisein von Shukov und Timošenko. Dies blieb offenbar unwidersprochen. Vgl. Erickson, Road, S. 42. 152 Das Gegenteil behauptet Gorodetsky, Täuschung, S. 173 f. 151
VII. Falls die Rote Armee einmal nach Deutschland kommt . . . „Warum 1941? Weil es galt, keinen Augenblick länger als notwendig zu warten, um so weniger als unsere Gegner im Westen unaufhörlich rüsteten. Übrigens blieb auch Stalin nicht untätig.“ Adolf Hitler1 „Mit Sicherheit nicht!“ Vjacˇeslav Molotov2
1. Die sowjetische Rüstung 1939–1941 „Während des Krieges und danach brachte Stalin die These auf, die Tragödie, die unsere Nation während der ersten Kriegsphase erlebte, sei das Ergebnis des ‚Überraschungsangriffs‘ der Deutschen auf die Sowjetunion gewesen. Aber Genossen, das ist vollkommen unwahr.“ Nikita Chrušcˇov3
Wenige historische Tatsachen dürften mit soviel Wortwitz interpretiert worden sein, wie der Stand der sowjetischen Rüstung, ihre Dislozierung und die operativen Fähigkeiten der Roten Armee im Jahr 1941. Wortwitz deshalb, weil es für jede daran interessierte Geschichtsschreibung eine wohl beispiellose Herausforderung dargestellt hat, das wegzudiskutieren, was die Sowjetregierung im Zuge angeblicher „Sommermanöver“4 1941 an der deutsch-russischen Demarkationslinie zusammengezogen hatte: eine nach Zahl und technischer Ausrüstung beispiellos große und ausschließlich offensiv ausgerichtet Millionenarmee, die in allen Bereichen über die mehrfache Stärke jedes denkbaren Gegners verfügte, so auch im Vergleich mit der deutschen Wehrmacht, der praktisch einzigen Streitmacht, die sich einem sowjetischen Durchmarsch an den Rhein entgegenstellen konnte, wo ja nach Molotov die „Entscheidungsschlacht zwischen dem Proletariat und der 1
Zit. n. Trevor-Roper, Hitlers politisches Testament, Hamburg 1981, S. 79. Kommentar Molotovs zu dieser Stelle in Hitlers politischem Testament. Zit. n. Molotov, Politics, S. 33. 3 Aus der Rede Nikita Chrušc ˇ evs vor dem XX. Parteikongreß in Moskau am 25. Februar 1956. 4 So Molotov zu Schulenburg am 22. Juni, vgl. Hilger, Kreml, S. 313. 2
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VII. Falls die Rote Armee einmal nach Deutschland kommt . . .
degenerierten Bourgeoisie stattfinden“ würde.5 Diese Armeebewegung war nach Hitlers Ansicht bereits „der größte Aufmarsch der Geschichte“, obwohl ihm sein wahres Ausmaß nicht bekannt war, das über mitteleuropäische Vorstellungswelten deutlich hinausging. Er rechnete beispielsweise offenbar mit lediglich zehntausend sowjetischen Panzern, was etwa eine dreifache deutsche Unterlegenheit bedeutet hätte. Dies ist jedenfalls die Zahl, die im Jahr 1941 genannt wurde. Allerdings war Mitte der 1930er Jahre bereits absehbar, daß die UdSSR solche Produktionsziffern erreicht hatte. Deutschland würde den Rüstungswettlauf dieser Zeit mit einiger Sicherheit verlieren, zumal von einem vergleichsweise niedrigen Level ausgegangen werden mußte und gerade die UdSSR längst einen uneinholbaren Vorsprung hatte, wie Hitler zu dieser Zeit feststellte:6 „Der Kanzler fragte, eher ironisch, ob England jetzt zu einer Begrenzung bereit sei? Haben wir angefangen?, fragte er. Deutschland begann seine Wiederbewaffnung von einem Hügel so hoch wie der Berliner Kreuzberg . . . England aber von der Zugspitze aus. . . . Der Kanzler fuhr damit fort, wie viele wichtige Angebote zur Rüstungsbegrenzung er gemacht habe . . . Dann ging er auf die immense russische Bewaffnung ein, die zum Beispiel siebentausend Panzer umfassen würde. Allein England hätte wenigstens eins dieser Angebote in einem Bereich akzeptiert, in der Flottenrüstung.7
Vor diesem Hintergrund spricht wenig dagegen, daß Hitler für 1941 auch von einer weitaus höheren Zahl als den öfter genannten zehntausend ausgegangen sein kann. Tatsächlich waren es über zwanzigtausend sowjetische Panzer. Über den exakten Stand dieser Dinge war die deutsche Führung auf Mutmaßungen angewiesen, sah aber den erkannten Teil der russischen Mobilmachung als Bedrohung an. Wozu Stalin diesen größten Aufmarsch nutzen würde, ob, wann und wo die Rote Armee sich nach Westen in Bewegung setzen würde, war niemandem als ihm selbst bekannt. Bekannt war jedoch, daß ein defensiver Aufmarsch militärisch anders ausgerichtet sein muß, aber auch, daß man ihn publik machen muß, wenn er eine abschrekkende Wirkung haben soll. Anders als später, als zu Zeiten des Kalten Krieges die Paraden der Roten Armee geradezu ein Hauptmittel wurden, um neue sowjetische Rüstungsartikel aller Art zu Prestige- und Abschreckungszwecken vorzustellen, hatte Stalin die Stationierung, die Zahl und überhaupt die Existenz der neuen sowjetischen Waffen sorgfältig geheimgehalten. Sollte er, wie gelegentlich immer noch behauptet, einen deutschen Angriff gefürchtet haben, bestand die naheliegende Antwort eben darin, den Mantel 5 So Molotov gegenüber Kreve-Mickevic ˇ ius, zit. n. Sommer, Memorandum, S. 116. 6 Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 168 ff. 7 Zit. n. Butler, Lothian, S. 343, Dialog beim Treffen Lothian mit Hitler im Jahr 1937.
1. Die sowjetische Rüstung 1939–1941
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der Geheimhaltung ein wenig zu lüften und auch die deutsche Botschaft sehen zu lassen, was umgekehrt einer sowjetischen Delegation in Deutschland gezeigt worden war: die neuesten Waffen. Darauf verzichtete Stalin allerdings, ebenso wie auf eine klare Auskunft über den Zweck der russischen Offensivvorbereitungen, die als „Sommermanöver“ wohl nur vor einer wenig informierten Öffentlichkeit bestand haben konnten. Weil der Befund so völlig eindeutig war, verlegte sich die sowjetische Geschichtsschreibung zunächst schlicht auf Desinformation. Telpuchowskis offiziöse „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges“ etwa sprach von einem „Mangel an Panzern“ für das Jahr 1941.8 Tatsächlich verfügte die UdSSR aber über mehr Panzer als der Rest der Welt zusammen, wie gesagt nicht weniger als siebenmal so viele wie die deutsche Armee und dies bei gleicher und höherer Qualität. Den neuen Typen T-34 und KW stand auf deutscher Seite kein Pendant gegenüber, aber auch die älteren wie der massenhaft vorhandene BT 7 konnten sich mit den deutschen Typen in Hinblick auf Panzerung und Bewaffnung durchaus messen.9 Wenn Telpuchowski von „Mangel“ sprechen konnte, so deshalb, weil über den gigantischen Bestand hinaus im Jahr 1940 die Neuaufstellung von weiteren mechanisierten Korps beschlossen worden war, die nicht weniger als noch einmal sechzehntausend moderne Panzer erhalten sollten, „eine Zahl die beim besten Willen nicht in einem Jahr gebaut werden konnte“, wie Shukov in seinen Erinnerungen schreibt.10 Das konnte sie wohl wirklich nicht. Aber die Produktion dieser Waffen wie dem T-34 war längst angelaufen und so konnten die russischen Verluste des Jahres 1941 später ausgeglichen werden. Trotzdem solche Größenverhältnisse eine eindeutige Interpretation zulassen, sind unproportionale Einschätzungen wie die von Telpuchowski zitierte kein Einzelfall. Sie ziehen sich so oder ähnlich durch einen wesentlichen Teil der Darstellungen. Doch betonte die sowjetische Geschichtsschreibung gleichzeitig, wie früh man die Rüstungsanstrengungen auf ein spektakulär neues Niveau gehoben hatte und kam den Tatsachen damit bereits näher: „Um die Verteidigungskraft des Landes zu stärken, gab das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 26. Juni 1940 die ‚Verordnung über den Übergang zum achtstündigen Arbeitstagstag und zur siebentägigen Arbeitswoche und über das Verbot des eigenmächtigen Verlassens der Betriebe und Büros durch die Arbeiter‘ heraus.“11 8
Vgl. Telpuchowski, Geschichte, S. 43. Vgl. Hoffmann, Vernichtungskrieg, S. 30. Hoffmann gibt einen Bestand von 9000 BT 7 an. Von den insgesamt vorhandenen 23106 Panzern waren 18691 oder 80,9 Prozent einsatzbereit. Vgl. Samuelson, Plans, S. 195. 10 Vgl. Shukov, Gedanken, S. 197. 11 Zit. n. Telpuchowski, Geschichte, S. 32. 9
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VII. Falls die Rote Armee einmal nach Deutschland kommt . . .
Am 26. Juni also, wenige Tage nach dem Waffenstillstand in Frankreich und sogar noch vor der politischen Entscheidung in London, den Krieg fortzusetzen,12 erreichte die Mobilisierung in der UdSSR einen Stand, wie ihn die deutsche Wirtschaft während des Krieges nie nachvollziehen konnte. Sieben Tage die Woche und sechsundfünfzig Stunden im ganzen zu arbeiten, das war in Deutschland damals vollkommen undenkbar.13 Entsprechend diesem Aufwand fiel auch das Ergebnis aus: „Die sowjetische Luftwaffe erhielt beispielsweise vom 1. Januar 1939 bis zum 22. Juni 1941 17.745 Kampfflugzeuge14 und die Artillerie 99.578 Geschütze, Kanonen und Granatwerfer15 – gegen 7.184 Geschütze der deutschen Artillerie im Juni 1941 – von der Rüstungsindustrie, die 1941 43,4 Prozent des gesamten sowjetischen Staatshaushalts beanspruchte16 und zwischen 1928 und 1941 von 9 Millionen ‚Werktätigen‘ auf 23 Millionen angewachsen war. . . . Hatte die Friedensstärke der Roten Armee 1933 885.000 Mann betragen, waren es 1937 1.433.000, 1939 – 2.100.000 im Januar 1941 – 4.200.000 und im Juni 1941 rund 5.000.000 Mann.“17
Im gleichen Zeitraum erhielt die Rote Armee nach Angaben Shukovs im 7000 Panzer, allein im Jahr 1941 waren es 5500. So ausgerüstet, berechnete sich das Potential der Roten Armee im Sommer 1941 auf „rund 350 Schützen-, motorisierte und Kavalleriedivisionen sowie 68 Panzerdivisionen“.18 Bereits aufgestellt waren davon am 22. Juni 1941 insgesamt 303 Divisionen.19 Die Behauptungen, die dabei im Rahmen der Diskussion über den Präventivkrieg von den Gegnern der These selbst in vorgeblich seriösen Sammelbänden aufgestellt werden, sind teilweise verwegen, und kommen einer reinen Apologie stalinscher Außenpolitik recht nah. Ein Beispiel sei genannt. Um ihre These ins rechte Licht zu setzen, „die Rote Armee sei 1941 zu einem Militärschlag gegen Deutschland objektiv nicht in der Lage“ gewesen, griff etwa Sally Stoecker zu den bemerkenswerten Sätzen, Stalin habe durch die Okkupation der baltischen Länder im Jahr 1940 lediglich sein (!) inneres (!) Reich gebändigt (!).20 Diese These, aus den baltischen 12
Einen Tag später, am 27. Juni 1940 erklärte Großbritannien die Blockade Europas vom Nordkap bis nach Spanien. Vgl. Dokumente, I/1, S. LIX. 13 Ein wenig bekanntes Kapitel aus der sowjetischen Rüstungspolitik ist die Verwendung chinesischer Arbeitskräfte. Da, wie in Deutschland auch, Millionen Arbeiter zu den Streitkräften eingezogen worden waren, mußten sie ersetzt werden. Entsprechende Meldungen, die 1945 in Berlin einliefen, sprachen von sechs Millionen Chinesen in der russischen Rüstungsindustrie. Vgl. Doerries, Schellenberg, S. 287. 14 Vgl. Shukov, Erinnerungen, S. 201. 15 Vgl. Shukov, Erinnerungen, S. 197. 16 Vgl. Volkogonov, Stalin, S. 503. 17 Zit. n. Maser, Wortbruch, S. 137. 18 Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 115. 19 Vgl. Meltjukov, Documents, S. 91. 20 Zit. n. Stoecker, Koloß, S. 150.
1. Die sowjetische Rüstung 1939–1941
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Ländern habe eine Gefahr gedroht, die gebändigt werden müsse, ist nichts anderes als die Übernahme der Muster stalinistischer Geschichtsschreibung, die eben dies immer behauptet hatte. Stoecker schreibt dies noch extremer fort, wenn sie dann die erpresste Abtretung von Teilen Finnlands durch die sowjetische Politik verschweigt.21 Statt dessen spricht sie lediglich von Stalins Versuch, „von Finnland die Insel Suursaari und vier andere kleine Inseln für 30 Jahre zu pachten. . . . Die Indizien legen nahe, daß Stalin eine Invasion Finnlands zu vermeiden suchte, doch wurden seine Versuche von der finnischen Regierung als „Feilschen“ um ein größeres Territorium verstanden.“22 So waren denn die Finnen nach Stoeckers Ansicht praktisch selbst schuld, als der Mietanwärter dann unter Bruch des finnisch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags eine militärische Aggression startete, wegen der die UdSSR aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde. Eine politische Erpressung so herunterzuspielen, die obendrein von einem Angriffskrieg gefolgt wurde, macht weitere Darstellungen nicht sehr vertrauenswürdig. Nach einem Exkurs über die Rote Armee unter Berücksichtigung allerhand „weicher“ Kategorien wie Einsatzbereitschaft oder Moral, etwa den Folgen des Terrors der 1930er Jahre für die Kampfmoral, von denen zu keinem einzigen Punkt mehr als Behauptungen aufgestellt werden, ist erst der Punkt wieder interessant, der sich mit der Rüstung beschäftigte. Die Rote Armee, so ist bei Stoecker zu lesen, litt unter ihrer übermäßigen Vergrößerung Ende der dreißiger Jahre, durch die notwendig ihre Qualität für einen gewissen Zeitraum beeinträchtigt wurde.23 Auch das, was andernorts als Ausweis aggressiver Absichten gedeutet wird, nämlich die Rüstung, wird damit hier zu einem Indiz für die prinzipielle Schwäche der UdSSR umgedeutet. Am Ende folgt ein kleiner Exkurs über die inneren Streitigkeiten der Armeeführung, die zu jener „einseitig offensiven“ Ausrichtung der Roten Armee führten, wie sie im Sommer 1941 unbestritten vorlag. Auch Stoecker kann dabei an den zentralen Fakten nicht vorbeigehen, die immer wieder als Belege für die Annahme eines bald bevorstehenden russischen Angriffs herangezogen werden. Ja, so räumt sie ein: es gab militärtheoretisch eben eine ausschließlich offensive Ausrichtung der Roten Armee.24 Ja, es wurde aller industrieller 21
Finnland sollte etwa 2761 Quadratkilometer eigenes Gebiet hergeben, auf denen unter anderem sämtliche Befestigungsanlagen zu finden waren, die das Land gegen einen russischen Angriff schützen könnten. Vgl. Jakobson, Diplomatie, S. 145 f. Zu den Einzelheiten des Vorgangs vgl. auch Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 321 ff. 22 Ebd. Stoecker, Koloß, S. 150 f. 23 Vgl. Stoecker, Koloß, S. 158 f. 24 Es gibt Berichte, nach denen der damalige Generalstabschef Boris Schaposchnikow die Stationierung der sowjetischen Hauptstreitkräfte weitgehend an der
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Eifer auf die Produktion moderner Waffen verwendet und die Rote Armee explosionsartig ausgedehnt. Ja, alles was geliefert werden konnte, „die besten Truppen, Flugzeuge und die beste Ausrüstung wurde frontnah in den Grenzmilitärbezirken bereitgestellt“.25 Damit noch nicht genug, auch „die Materialreserven (wurden) zu nahe an der Grenze gelagert“, wo sie „in den ersten Tagen der deutschen Invasion entweder vom Gegner erbeutet oder zerstört“ wurden.26 Stoecker schließlich weiter: „In den Monaten vor der Invasion Rußlands verdeutlichten zahlreiche Berichte aus den Baltischen, Westlichen und Kiewer Militärbezirken in erschütterndem Detail, wie langsam die Mobilmachung vorankam.“27
Sie kam langsam voran, aber sie wurde stetig betrieben und führte die besten Truppen direkt an die Grenze. Dies mußte auch so sein, denn es entsprach der sowjetischen Militärdoktrin, wie Generalleutnant K. F. Telegin nach dem Krieg ausführte: „Da man davon ausging, daß der Krieg auf dem Territorium des Gegners geführt werden würde, waren die in der Vorkriegszeit innerhalb des Militärbezirks angelegten Mobilmachungsvorräte an Bewaffnung, Versorgungsgütern und Munition in die Grenzbezirke verlagert worden.“28 Grenze von 1939 belassen wollte, wo Essen, Munition und Befestigungen vorhanden seien. In den 1939/40 neuerworbenen Gebieten der UdSSR war demnach nur hinhaltender Widerstand vorzubereiten, damit „bei einem überraschenden Angriff“ keine wertvollen Truppen verlorengehen könnten. Stalin selbst soll dies abgelehnt haben, eine Darstellung die allerdings den Nachkriegsbemühungen geschuldet sein kann, alle Verantwortung auf ihn abzuladen und die im Widerspruch zu den bereits erwähnten sonstigen Ansichten Schaposchnikows steht. Vgl. Erickson, Road, S. 68 und Cynthia A. Roberts: Planning for War: The Red Army and the Catastrophe of 1941, in: Europe-Asia Studies, Bd. 47, Nr. 8, 1995, S. 1298 ff. 25 Zit. n. Stoecker, Koloß, S. 165. 26 Dies wird übrigens auch in der sowjetischen Memoirenliteratur zugegeben, so etwa von Aleksandar Vasilevskij. Vgl. Vasilevskij, Sache, S. 96. Erbeutet wurden bei Brest-Litowsk u. a. 10 Millionen Liter Benzin. Vgl. BA-MA 21-2/646, S. 43, Meldung vom 25.6.1941, sowie Heydorn, Aufmarsch, S. 19. Das war eine nicht unbedeutende Entlastung der kritischen Treibstofflage in Deutschland, wo für den Krieg gegen die UdSSR etwa 30 Millionen Liter Benzin (30.000 To.) fehlten. Vgl. BA-MA RW 19/165, Bl. 17, KTB WiRüAmt, 10. April 1941 bzw. Bl. 113, 23. Juni 1941 und Bl. 127, 1. Juli 1941. Erbeutet wurden auch Karten und Unterlagen über die sowjetische Mobilmachung, und zwar im Bereich der 4. Armee. Vgl. BA-MA MSg 2/1285, S. 4, Aufzeichnung Erich Helmdach über die Präventivkriegsfrage. Auch in der Zitadelle von Dubno fanden sich im „Korps-Hauptquartier des XXVII. Schützekorps unter dem Kommandanten Smirnoff, fertig zur Ausgabe verpackt, „ausschließlich Karten, die die Gegend westlich der Reichsgrenze bis in die Gegend Krakau betreffen“, d.h. genau die nach dem Shukov-Plan vorgesehene Stoßrichtung der Roten Armee. Vgl. BA-MA RH 24-28/198, S. 19 und BA-MA RH 24-24/335, Meldung des AK 24 vom 23.6.41, die Akten der sowjetischen 4. Armee seien in Kobrny vollständig gefunden, „anbei 6 wichtige Karten“. 27 Zit. n. Stoecker, Koloß, S. 166, Hervorhebung des Verfassers.
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Auf diese Weise bereitet man keine Verteidigung vor. So wurden denn auch gar keine Befehle für eine solche Verteidigung ausgegeben: „Natürlich besaßen wir ausführliche Pläne und Anweisungen für das, was am Tage „M“ zu geschehen hatte . . . alles war bis auf die Minute und im Detail vorgezeichnet. . . . Alle diese Pläne hat es gegeben. Aber leider war nichts darüber gesagt, was zu geschehen hatte, falls der Gegner plötzlich zum Angriff übergehen sollte.“29
Dies ist eine klare Aussage. Sie rundet das Bild ab: Die UdSSR plante 1941 eine Großoffensive. Der aktuelle Generalstabschef Shukov entwarf einen entsprechenden Operationsplan. Das sowjetische Militär entwarf aber nicht nur einen militärischen Offensivplan, sie verfügte über die dafür nötige Rüstung, zog Truppen ein, machte sie mobil und verlegte sie an die Grenze, einschließlich des Nachschubs. Es kann auch keinen Zweifel daran geben, daß die UdSSR zu weitreichenden Angriffsoperationen in der Lage war, wie sie 1939 in der Mandschurei stattgefunden hatten und im Winter 1941/42 bald wieder stattfanden. Die Rote Armee war eine „moderne Armee“, wie Stalin im Mai 1941 proklamiert hatte.30 Was fehlte, das war die politisch-diplomatische Vorbereitung, zu der wir noch weiteres hören werden. Etwas anderes wurde bereits projektiert: die künftige Sowjetisierung Deutschlands. 2. Vladimir Semjonov und die sowjetischen Angriffsvorbereitungen Für einen totalitären Eroberungskrieg zwischen modernen Industriegesellschaften ist nicht nur der Sachverstand von Diplomaten zuständig. Ein solcher Krieg erfordert umfassende Vorbereitungen auf das Kommende, denn die besiegte Macht soll ja nach den Vorstellungen des Siegers umfassend umgestaltet werden. Man will nicht nur militärisch siegen, sondern den Gegner auch um seine soziale, wirtschaftliche und politische Basis bringen. Dies ist ein Aspekt, der sich in den westalliierten Planungen für einen Sieg über Deutschland nachweisen läßt, aber auch in den deutschen Planungen zu einer Aufspaltung der UdSSR gefunden werden kann. Wenig überra28 Kriegsgeschichtliche Zeitschrift 1/1962, S. 36, hier zit. n. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 125. 29 Generalmajor M. Grezow in: Kriegsgeschichtliche Zeitschrift 9/1965, S. 84, hier zit. n. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 125. 30 Der Einsatz etwa der Panzer in „schnellen Keilen“ glich durchaus dem deutschen Konzept. Das hatte das OKW auch bemerkt Vgl. Halder, KTB, II, S. 132, 11. Oktober 1940: „Interessanter russischer Originalbefehl über Einmarsch in Bessarabien. Ansatz eines schnellen ‚Keiles‘. – Grundlagen der sowjetrussischen Wehrkraft (Ausarbeitung OKW).“
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schend ist daher, daß auf sowjetischer Seite ebenfalls frühzeitig mit den Überlegungen begonnen wurde, wie ein erobertes Zentraleuropa zu sowjetisieren sei. In der sowjetischen Botschaft in Berlin war mit Vladimir Semjonov ein hochrangiger und erst im Sommer 1940 nach Deutschland geschickter Mitarbeiter damit beschäftigt, Pläne für die Sowjetisierung Deutschlands auszuarbeiten. Semjonov hatte Erfahrung mit sozialistischen Umwälzungen, denn er kam gerade aus Litauen, wo eben im Sommer 1940 mit seinem Zutun, nach langer Vorbereitung, eine „demokratische“ Umgestaltung nach sowjetischer Art stattgefunden hatte. Das hieß dort wie überall sonst, daß unter anderem eine Einheitsliste mit „95,5 Prozent der Stimmen gewählt“ worden war, die eine Diktatur einführte, eine Landreform vornahm und viele zehntausend Menschen zunächst einmal deportierte. Diese Methoden, die zunächst zu einer Art Enthauptung der seit 1919 entstandenen spärlichen litauischen Oberschicht führten, bis sie später nach dem Willen der Moskauer Zentrale in über weitere Deportationen und einer Russifizierung das Ende des ethnischen Litauen einleiten sollten, ließen neben den anderen vorliegenden Informationen in Berlin deutliche Zweifel an der Dauer des deutsch-russischen Nichtangriffspakt entstehen. „Wir (d.h. Goebbels und Hitler, d. Verf.) sprechen über die baltischen Staaten, in denen die Russen ein Schreckensregiment entfalten. Aber brauchen kein Mitleid mit ihnen haben und ohne Intelligenz sind sie ungefährlicher für uns. Rußland wird uns doch immer fern bleiben. Wir stellen das auch an den Moskauer Wochenschauen fest. Wir müssen eine unübersteigliche Mauer zwischen Moskau und uns errichten. Der Bolschewismus ist doch der Weltfeind Nr. 1. Irgendwann werden wir doch einmal mit ihm zusammenprallen. Der Führer meint das auch.“31
Die weitere Entwicklung in den frisch sowjetisierten Ländern verstärkte diesen Eindruck noch: „Die Russen hausen schauderhaft in Kowno. Alles, was etwas über den Durchschnitt herausragt, wird einen Kopf kleiner gemacht. Das ist der Bolschewismus, wovor wir unser Volk bewahren müssen.“32
Dann aber erreichte Semjonov mitten in diesem Geschehen ein Anruf des Außenministers und zu dieser Zeit höchsten sowjetischen Regierungsrepräsentanten Molotov persönlich, seine Arbeit in Litauen abzubrechen, denn es gebe dringenderes zu unternehmen. Diese dringendere Mission bestand in einer Reise nach Berlin, wo der amtierende Botschafter Shkvartzev aufgrund mangelnder Information und begrenzter Eignung die Politik nicht im Sinn Moskaus steuern konnte und von der Ankunft Semjonovs offenbar tief beun31 32
Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 262, 9. August 1940. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. S. 295, 29. August 1940.
2. Vladimir Semjonov und die Angriffsvorbereitungen
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ruhigt war.33 Semjonovs Verbindung zu Dekanozov und zum sowjetischen Geheimdienst dürfte ihm bekannt gewesen sein und Shkvartzevs besorgte Frage bei der ersten Begegnung, ob „jetzt Köpfe rollen“ würden, bezog sich wohl nicht zuletzt und nicht zu Unrecht auf seinen eigenen Kopf. Shkvartzev wurde tatsächlich bald abgelöst und Semjonov konnte seiner Aufgabe nachgehen, sich mit den inneren Verhältnissen Deutschlands zu beschäftigen. Er beobachtete die deutschen Vorbereitungen für einen Krieg, der „sowohl in Moskau wie auch in Berlin bereits für unvermeidlich gehalten“ wurde.34 Er betrieb also Spionage, mit einem klaren langfristigen Ziel, denn wenn „die Sowjetarmee einmal nach Deutschland käme, müßten wir doch wissen, wie hier eine Bodenreform unter Berücksichtigung der Bodenverhältnisse in den verschiedenen Gebieten durchzuführen sei.“35 Das war etwas, was auch in Litauen der sowjetischen Okkupation um Monate vorausgegangen war.36 Der Botschafter Shkvartzev war von diesen Plänen in Bezug auf Deutschland überrascht gewesen, aber Semjonov betonte in seinen Erinnerungen vielsagend, nicht allein solche Gedanken gehabt zu haben.37 Statt Shkvartzev nahm Vladimir Dekanozov, den Molotov bei seinem Berlinbesuch im November 1940 mitbrachte, an den Verhandlungen teil. Er fungierte bald als neuer Botschafter in Berlin, womit ein erfolgreiches Team wieder komplett war, denn auch Dekanozov kam wie Semjonov aus 33
„Die sowjetischen Botschafter in Berlin, Alexej Merekalow, (vom 1. Juli 1939 bis zum 2. September 1939) und Aleksandar Shkvartzev (3. September 1939 bis 18. Dezember 1940) (waren) gänzlich unbeschriebene Blätter, die auch nach ihren Abberufungen niemals eine auch nur subalterne Rolle gespielt haben.“ Zit. n. Maser, Wortbruch, S. 128. Semjonov macht Shkvartzev in seinen Memoiren ausgesprochen lächerlich. Stalin habe Shkvartzev im Herbst 1939 zu sich kommen lassen und gefragt, was er für den derzeit gefährlichsten Ort der Welt halte. „Litauen“, habe Shkvartzev prompt gesagt. „Nun, worauf warten wir noch“, soll Stalin zu Molotov gesagt haben. „Da hast du den Botschafter.“ Vgl. Semjonov, Mission, S. 83 f. 34 Zit. n. Semjonov, Mission, S. 84. 35 Zit. n. Semjonov, Mission, S. 107. 36 Vgl. Sommer, Memorandum, S. 125. 37 Naturgemäß wurde die Sowjetbotschaft auch das Objekt von deutscher Gegenspionage. Mit Orests Berlings, einem früheren litauischen Zeitungskorrespondenten, konnte der deutsche Geheimdienst einen Vertrauensmann in der Botschaft gewinnen, der regelmäßig Berichte lieferte. Hitler persönlich, so eine Aufzeichnung Hewels, „wünscht, daß derartige Nachrichten von der Sowjetbotschaft laufend gesammelt werden.“ Vgl. Sommer, Memorandum, S. 127 ff. Sommer berichtet von Aufzeichnungen des Legationsrats Rudolf Likus aus dem persönlichen Stab des RAM. Sie wurden dann auch laufend gesammelt, bis zu einem letzten Bericht vom 17. Juni 1941, in dem Berlings berichtete, daß der „TASS-Vertreter Filippow ihm in beherrschter Haltung mitgeteilt habe, daß „die Möglichkeit eines deutsch-russischen Konflikts bei weitem noch nicht gegeben sei“, er solle feststellen, „ob zwischen Deutschland und England tatsächlich Friedensverhandlungen geführt würden“. Hitlers Randbemerkung dazu hieß: „Schwindler“. Ebd., Sommer, Memorandum, S. 130.
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dem frisch sowjetisierten Litauen. Bei diesem Vorgang hatte er sogar eine wichtige Rolle gespielt. Durch seine Ankunft verstärkte sich der Trend zu verdeckten Operationen in der Berliner Sowjetbotschaft beträchtlich. Ein bezeichnendes Signal in diese Richtung setzte es beispielsweise, wenn Dekanozov des Deutschen mächtig war, ohne dies seinen deutschen Gesprächspartnern in irgendeiner Weise mitzuteilen. Solche kleinen Vorteile zu nutzen, gehörte aus Moskauer Sicht offenbar zum neuen Stil zwischen beiden Staaten. Dekanozov war, da dem NKWD-Chef Berija unmittelbar unterstellt, zweifellos besser eingeweiht als sein Vorgänger und behielt außerdem auch als Botschafter seine weitere Funktion als stellvertretender sowjetischer Außenminister bei.38 Mit ihm kam jemand nach Berlin, der mit den Vorgängen und Absichten des Kremlchefs in großem Umfang vertraut war. So kommt seinen Äußerungen gegenüber dem litauischen Ministerpräsidenten und Außenminister Kreve-Mickevicˇius – den Dekanozov selbst eingesetzt hatte – eine hohe Bedeutung zu. Kreve-Mickevicˇius warf ihm vor, mit seinem Vorgehen in Litauen nur die alte großrussische Politik zu betreiben. Dekanozov verteidigte sich, indem er die Weltrevolution als angebliches Ziel in den Vordergrund schob: „Das ‚einige und unteilbare Rußland‘ geht uns überhaupt nichts an, wohl aber die gesamte Menschheit, das Proletariat der ganzen Welt. Wir müssen alle Welt unter der roten Fahne vereinigen, und wir werden dies tun. Der Zweite Weltkrieg wird ganz Europa in unseren Schoß fallen lassen, wie eine reife Frucht. Und der Dritte Weltkrieg, der nicht zu vermeiden ist, wird uns den Sieg in der ganzen Welt bescheren.“39
Wie dies nun genau geschehen sollte, darüber waren sich die Sowjets nicht wirklich im klaren. Dekanozovs Mitarbeiter Vasiljev erklärte gleichzeitig: „Zur Zeit haben wir nur zwei echte Feinde: Deutschland und Japan. Aber die Deutschen werden ohne unser Zutun verprügelt und erobert werden, und auch Japan wird geschlagen.“40
Es blieb die Frage unbeantwortet, wer die Deutschen verprügeln und ihr Land erobern sollte, wenn nicht die Rote Armee. Frankreich war zum Zeitpunkt der Äußerung (3. Juli 1940) bereits geschlagen, hatte einen Waffenstillstand unterschrieben und „wird sich als Militärmacht nie mehr erheben“.41 Andererseits war man sich in Moskau sicher, die USA vom Kriegseintritt entweder ganz abhalten oder ihn auf subversive Weise unwirksam machen zu können. Molotov hatte das am Tag vorher so formuliert: 38 39 40 41
Vgl. Semjonov, Mission, S. 92, bzw. S. 98. Zit. n. Sommer, Memorandum, S. 119. Zit. n. Sommer, Memorandum, S. 120, Hervorhebung von mir. So Wassiljew, zit. n. Sommer, Memorandum, S. 121.
2. Vladimir Semjonov und die Angriffsvorbereitungen
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„Uns ist gut bekannt, daß die Vereinigten Staaten ihren Kriegseintritt betreiben, aber wir sind im Zweifel, ob es uns gelingen wird, sie davon abzuhalten. Dies soll aber am wenigsten unsere Sorge sein. . . . Wir werden schon Mittel und Wege finden, um die amerikanische Führung zu Fehlentscheidungen zu bringen, die für uns von Vorteil sind. Daher sind wir über den Kriegseintritt Amerikas keineswegs besorgt. Alle diejenigen, die Amerika allzusehr vertrauen, werden enttäuscht sein.“42
Vassiljew bestätigte dies unabhängig davon einen Tag später, ohne vom dabeisitzenden Dekanozov Widerspruch zu ernten und zeigte sich wesentlich optimistischer über die Aussichten bolschewistischer Subversion in den USA: „Wir haben kein Verlangen mit Amerika Krieg zu führen. Sollte dort aber irgendjemand davon träumen, gegen uns in den Krieg zu ziehen, wir werden dies zu verhindern wissen. Wenn aber die Zeit gekommen ist, werden wir auch diese Nation mit den Händen ihrer eigenen Bürger vernichten . . .“43
Wenn aber nun Frankreich bereits geschlagen war und die USA in den Gedankengängen der Moskauer Politstrategen keine Rolle spielten, wer sollte dann „die Deutschen verprügeln und erobern“? Die Briten wohl kaum, denn: „Was die Briten anbelangt, so sind diese weder heute noch irgendwann fähig, gegen uns zu kämpfen. Deutschland allein könnte uns Kummer bereiten, aber es wird aus eigenem Antrieb in unsere Arme sinken und zertreten werden.“
Daran war soviel richtig, daß man im britischen Außenministerium die Sowjetisierung Europas sogar eher in Kauf nahm als eine deutsche Hegemonie und sie als kleinere Gefahr betrachtete: „Ein kommunistisches Europa würde wahrscheinlich eine kurzlebige Struktur annehmen, die sich leicht aufbrechen lassen würde, einen englischen Sieg vorausgesetzt“, hieß es in einer Stellungnahme des Außenministeriums im Sommer 1940.44 In Moskau wurde dennoch auf ein solches Ziel der sozialistischen Hegemonie in Europa gesetzt, dies war nicht unbekannt. Diese möglichen Folgen eines bewaffneten Vorgehens gegen Deutschland zeichneten sich früh ab. Sie ließen Harold Nicolson bereits kurz nach der Rheinlandbesetzung über die Folgen eines Kriegs gegen Deutschland sinnieren: 42 Molotov am 2. Juli 1940 zu Kreve-Mickevic ˇ ius, zit. n. Sommer, Memorandum, S. 116. 43 Bericht von Kreve-Mickevic ˇ ius, hier zit. n. Sommer, Memorandum, S. 121. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß Kreve-Mickevicˇius seine Aussage in den USA machte und daher ausgeschmückt haben kann, um entsprechende Reaktionen zu fördern. 44 F. K. Roberts am 30. Juli 1940 in einer Stellungnahme zum Memorandum des Abgeordneten Stokes an Außenminister Halifax vom Juli 1940. Da stimmte R. M. Makins ohne Einschränkung zu. Zit. n. Dokumente, I/1, S. 185.
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„Natürlich werden wir ihn gewinnen und in Berlin einziehen. Aber was nützt uns das? Es würde nur den Kommunismus in Deutschland und Frankreich bedeuten und deshalb sind die Russen so scharf darauf.“45
Auch Amerikas Botschafter in Warschau hatte es bereits im Vorjahr notiert und richtig erkannt, daß die Sowjetunion nicht nur die stärkere unter den beiden totalitären Mächten war, sondern zugleich als erste Quelle der totalitären Herrschaftsstrukturen gesehen werden mußte und von deren Bündnis am meisten profitieren würde: „Kooperation mit Deutschland bei der Eroberung und Besetzung von Zentral- und Osteuropa würde die russische Ideologie näher an Deutschland heranbringen und sap theirs, würde interne Schwierigkeiten beschleunigen, den Nazismus liquidieren und eine Evolution hin zu größerer Nähe zum Stalinismus und weniger gefährlich für Moskau. Sowohl in Deutschland wie in Rußland hat die Staatsführung den Weg zu neuen Experimenten freigegeben, die auf der Unterdrückung des Individuums basieren, auf der Herrschaft eines einzigen, der sich als alleiniger Herr über Schicksal und Seele seines Volks begreift, auf der Doktrin der rassischen Überlegenheit, und der daraus gezogenen Konsequenz, die Weltherrschaft anzustreben – in Deutschland und Rußland liegt das gleiche Phänomen vor, auch wenn es nach außen hin Unterschiede gibt. Alles in allem ist der nationalsozialistische Totalitarismus nach meiner Ansicht eine Übernahme des Bolschewismus, der als kommunistischer Totalitarismus eine Politik der Weltherrschaft ausführt, durch Eroberung im Namen eines militarisierten Nationalsozialismus.“46
Diese Frühform einer Theorie, nach der die Ursache für den Nationalsozialismus in Rußland zu finden war, gipfelte in ihren Schlußfolgerungen in einer klaren Schuldzuweisung, wer die letzte Verantwortung für den gerade ausgebrochenen Krieg zu tragen hatte. Stalin verfolge grundsätzlich die Politik Lenins: „Moskau hatte einen russisch-deutschen Block anvisiert, schließlich unter russischer Führung, so daß die Russen nicht vorhaben, Deutschland anzugreifen, sondern durch die Westmächte schwächen zu lassen, dann im psychologisch richtigen Augenblick hineinzugehen, das deutsche Volk zu befreien, Deutschland aufzulösen und zu bolschewisieren.“47
Die oft diskutierte Frage über den „Präventivkriegscharakter“ des deutschen Angriffs vom Sommer 1941 läßt sich daher über dem Problem zuspitzen, wo denn genau der Unterschied zwischen „planen keinen Angriff“ und „planen hineinzugehen“ zu bestimmen war. Dies zeigte sich als identisch mit der Differenz zwischen „in die Arme sinken“ und „zertreten werden“, die Vasiljev in den oben zitierten Ausführungen hervorgehoben hatte. 45 46 47
Zit. n. Nicolson, Tagebücher, S. 212, 12. März 1936. Zit. n. Biddle, Papers, S. 187. Zit. n. Biddle, Papers, S. 181.
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Der spätere Gang der Dinge zeigte, daß beides möglich und geplant war und in gewisser Weise das gleiche bedeutete. An der tatsächlichen Absicht der Sowjetführung, die politische Kontrolle über Deutschland zu erreichen und das Land auf einen de facto Satellitenstatus zu beschränken, kann es kaum begründete Zweifel geben. Einen letztlich gewaltfreien Sprung des Bolschewismus nach Deutschland hinein konnte aber niemand im Ernst erwarten. Daß es keine handlungsfähige kommunistische Opposition in Deutschland mehr gab, war auch in Moskau bekannt. So blieb als Option in erster Linie die realpolitische Schwächung Deutschlands in einem weiteren Kampf gegen die Westmächte, bis man sich in Berlin genötigt sah, den außenpolitischen Vorgaben aus Moskau zu folgen, oder bis, wenn die „hungrigen Massen der kriegführenden Völker ihre Illusionen verloren“ haben, die Stunde der gewaltsamen Übernahme Deutschlands durch die Rote Armee gekommen war, so Molotov: „In diesem Augenblick werden wir ihm (dem Proletariat, d. Verf.) zu Hilfe eilen, mit frischen Kräften, gut vorbereitet und auf dem Boden Westeuropas. Ich glaube, daß die Entscheidungsschlacht zwischen dem Proletariat und der degenerierten Bourgeoisie irgendwo in der Nähe des Rheins stattfinden und das Schicksal Europas für alle Zeiten entscheiden wird.“48
Einmal mehr siegten letztlich an dieser Stelle die Zwänge zwischenstaatlicher Interaktion über ideologische Vorgaben. Selbst wenn sich Männer wie Molotov oder Dekanozov auf die Weltrevolution beriefen, so glich die tatsächliche Politik der UdSSR eben doch der großrussischen, griff auf deren traditionelle Ziele wie das Baltikum und die Dardanellen zurück und appellierte zusehends an panslawistische Emotionen. Man mag darin eine List des Weltgeistes sehen, der ausgerechnet die angeblichen Anti-Hegelianer aus Moskau unterlagen, bezeichnenderweise während sie den Vereinigten Staaten Geistlosigkeit und „Materialismus“ vorwarfen.49 Auch Stalin gebrauchte diese Art Argumentation regelmäßig, um militärische Gewalt gegen Nachbarländer zu rechtfertigen, die mit dem Begriff der Weltrevolution buchstäblich grenzenlos begründet werden konnte. Vor diesem Hintergrund sind die späteren Forderungen nach vollkommener Aufgabe jedes deutschen Einflußbereichs in Europa als eine Etappe eines lange geplanten politischen Kurses zu sehen. Um diesen Kurs zu exekutieren, begab sich Dekanozov also nach den wahrlich desillusionierenden Forderungen Molotovs gegenüber der deutschen Regierung, zu denen wir gleich kommen werden, Ende 1940 als neuer Botschafter nach Berlin. Die sowjetische Botschaft entwickelte sich 48 So Molotov gegenüber Kreve-Mickevic ˇ ius, zit. n. Sommer, Memorandum, S. 116. 49 So Molotov gegenüber Kreve-Mickevic ˇ ius, vgl. Sommer, Memorandum, S. 117.
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weiter zum Spionage- und Subversionszentrum. Semjonov hatte zweifellos Recht, als er sagte, er habe nicht allein den Gedanken an die Sowjetisierung Deutschlands gehabt. Zwei Monate vor dem deutschen Angriff wurde die russische Botschaft aufgefordert, ihr Archiv und auch die dort verbliebenen Spuren von Semjonovs Tätigkeit zu verbrennen.50 Das wäre um den Monatswechsel April/Mai 1941 gewesen, also eben zu dem Zeitpunkt, als sich der Kurswechsel der stalinschen Politik aufgrund vieler Indizien abzuzeichnen begann, die bereits geschildert wurden und von denen im einzelnen noch weiter zu berichten sein wird.51 Warum es nur Indizien sind und sein können, dafür liefert Semjonov jedoch eine Begründung, die bereits an dieser Stelle interessant zu lesen ist: Die absolute Konspiration der sowjetischen Führung und besonders Stalins: „Stalin war ein Meister der Konspiration, er enthüllte seine Gedanken selbst Molotov oder Vorošilov seinen Gefährten aus Verbannung und Gefängnis, niemals ganz. . . . In seiner Verschlossenheit ging Stalin soweit, daß er selbst den Generalstab nicht lange vorher in Details der Vorbereitung Moskaus auf die Verteidigung einweihte. . . . Die große Politik gegenüber Deutschland konzipierte Stalin ganz allein, wie das seinerzeit auch Lenin getan hatte. . . . (Er) zog doch, ohne seine Gedanken zu enthüllen, wie der Adler am Himmel einsam seine Kreise“52
Das ist eine beinah lyrische Beschreibung. Nun hätte der Adler dank des deutschen Angriffs ja beinahe eine Bruchlandung erfahren, aber 1944 war Stalin doch in der Lage, die Sowjetisierung Deutschlands in Angriff zu nehmen und zu diesem Zweck eine Regierungskommission aus „jungen Diplomaten, die vor dem Krieg in Deutschland tätig gewesen waren“ einzusetzen. Leiter der Kommission und späterer Hochkommissar war niemand anderer als – Vladimir Semjonov. So machte sich lange Planung bezahlt: „Nun schlug die Stunde, da ich meine Gedanken aus den fernen Vorkriegsjahren in praktische Schritte umsetzen mußte.“53
50 Vgl. Semjonov, Mission, S. 107. Stalin erhielt seinerseits am 9. Juni die Nachricht, auch die deutsche Botschaft in Moskau habe jetzt mit dem Verbrennen von Dokumenten begonnen und Vorbereitungen zur Evakuierung getroffen. Vgl. Andrew, Stalinism, S. 79. 51 Beispielsweise schickte auch Botschafter Dekanozov zu dieser Zeit seine Familie nach Moskau zurück. Vgl. Beria, Kremlin, S. 64. 52 Zit. n. Semjonov, Mission, S. 115. 53 Zit. n. Semjonov, Mission, S. 236, vgl. auch Laufer, Dokumente, S. 664.
3. Der Hitler-Molotov-Gipfel
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3. Der Hitler-Molotov-Gipfel a) Die Voraussetzungen Es mußte eine außenpolitische Katastrophe eintreten, bevor Vladimir Semjonov seine Vorstellungen über die innenpolitische Gestaltung Deutschlands teilweise umsetzen konnte. Erst der deutsch-russische Krieg führte zu diesem Resultat. Zuvor wurden jedoch ganz andere außenpolitische Kombinationen durchgespielt, die ihren Höhepunkt in den Berliner Verhandlungen zwischen Molotov und Hitler haben sollten, die im November 1940 stattfanden. Die Auswahlmöglichkeiten Deutschlands, was Strategien zur angepeilten Beendigung des Kriegs mit England betraf, waren noch nicht erschöpft. Da England an dem wiederholt angebotenen Bündnis kein Interesse zeigte und offenbar entschlossen war, eher den Krieg um den Preis weiterzuführen, in einem von den USA dominierten Block der beiden angelsächsischen Mächte aufzugehen, gab es noch eine weitere Orientierungsmöglichkeit. Das Gewicht der Sowjetunion konnte zusammen mit Deutschland eine Alternative und ein Gegengewicht bilden. Das Stichwort vom „Kontinentalblock“ von Lissabon bis Tokio machte seit längerem die Runde. So würde der Eurasische Kontinent im Idealfall einen geschlossenen strukturierten Raum bilden können, der die USA und England ausgrenzen konnte. Auch diese Möglichkeit sollte sich zerschlagen, aber sie stellte nicht nur eine aus strategischer Not entstandene Laune nationalsozialistischer Außenpolitik dar. Der Kontinentalblock gehörte zu Außenminister Ribbentrops Konzepten.54 Er hatte ihn als Alternative zu einem Bündnis Deutschlands mit England entwickelt, das eigentlich von Hitler favorisiert wurde, der Ribbentrop gerade deswegen mit den Worten: „Bringen Sie mir das englische Bündnis“ nach London geschickt hatte. Ribbentrops Mission war in dieser Hinsicht gescheitert. Die englische Führungsschicht hatte keine große Neigung, sich mit konkreten Verpflichtungen auf ein einzelnes Land auf dem europäischen Kontinent festzulegen, und sofern dies doch ins Auge gefaßt wurde, galt das nationalsozialistische Deutschland nicht als erste Wahl. Nach seiner Rückkehr aus London begann der frisch zum deutschen Außenminister ernannte Ribbentrop 1937 über strategische Alternativen zum englischen Bündnis nachzudenken55 und geriet dabei, ob aus Begeisterung für die geopolitische Gedankenwelt Karl Haushofers oder aus der Tradition Bismarck54
Wolfgang Michalka hat dies in seiner Dissertation herausgearbeitet. Vgl. vor allem Michalka, Ribbentrop, S. 284 ff. 55 Nach Michalka wird die neue Konzeption zum ersten Mal im August 1939 klar sichtbar. Vgl. Michalka, Ribbentrop, S. 284.
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scher Rückversicherungsverträge mit Rußland heraus, an den Gedanken eines Bündnisses mit der UdSSR. Laut der gängigen geopolitischen Theorien hätte dies vorteilhaft sein können. Nach den Lehren von Haushofer, Makkinder und anderen lag die UdSSR auf dem „Herzland“ der Erde, Moskau auf dem Mittelpunkt Eurasiens und Afrikas, von dem aus alle drei Kontinente gleichzeitig beherrschbar seien und damit ein unangreifbares Imperium aufzubauen wäre, demgegenüber die „Inselstaaten“ Amerikas, Australiens und ggf. auch England selbst in die zweite Reihe verwiesen wären. Dies las sich merkwürdig spekulativ, denn es blieb eine Tatsache, daß diese Herzland-Theorie historisch unzutreffend. war. Noch nie war von der Region Moskau aus ganz Asien oder Europa beherrscht worden, geschweige denn Afrika. Dazu ignorierte diesas Konzept weitgehend die historischen, ideologischen oder ethnischen Gegebenheiten, die sich in Gestalt von Mentalität und Tradition dagegen auswirken könnten. Es setzte vorwiegend auf Verkehrswege, Warenströme und militärstrategische Zweckmäßigkeiten. Schließlich aber blieb vor allem eindeutig, daß in einem solchen Ansatz für Deutschland buchstäblich nur ein Platz am Rand bleiben würde. Was dies bedeutete und warum ein deutsch-russisches Bündnis deshalb seiner Ansicht nach keine gute Alternative für Deutschland sei, hatte Hitler in „Mein Kampf“ sinngemäß so beschrieben, daß in einer solchen Kombination nur Deutschland die Opfer bringen müßte, weil es in einem Krieg gegen die angelsächsischen Mächte der Frontstaat werden würde. Die UdSSR könnte in der Hinterhand bleiben. Dies war eine pragmatische Argumentation. Sie galt für jedes russische Regime, das jemals gemeinsam mit Deutschland einen Konflikt mit den Westmächten führen würde. Ungeachtet solcher Überlegungen und des etwas überspannten geopolitischen Beiwerks blieben die Vorteile eines solchen Bündnisses offensichtlich Der Punkt der deutschen Politik, auf den es allein ankäme, sei Rußland, so hatte bereits Bismarck einmal festgestellt. Ohne Krieg – oder die Aussicht auf Krieg, muß man wohl ergänzen – zwischen Deutschland und Rußland würden weder Frankreich noch England einen Angriff auf Deutschland unternehmen. Dieser Überlegung verpflichtet, hatte man sich in Deutschland vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 eine Wirkung versprochen, die nicht eingetreten war. Das Jahr 1939 hatte im Gegenteil dazu geführt, daß Deutschland trotz des Nichtangriffspakts mit der UdSSR nach der Kriegserklärung der Westmächte in eine ähnliche Situation geraten war. Dies hatte sich auch mit der Niederlage Frankreichs nicht wirklich geändert, da Deutschland wegen des andauernden Konflikts mit England weiterhin Substanz ließ, die UdSSR statt dessen ständig stärker wurde. Deutschland konnte den Status quo in Europa nicht allein sichern und befand sich strategisch auf dem absteigenden Ast. Hier gab es nach Ribbentrops Ansicht einen Ausweg, der das so-
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wjetische Gewicht für Deutschland nutzbar machte, aber eine echte Verbindung eigentlich vermied. „Säkulare Maßstäbe“ sollten dabei angewandt werden. Das steuerte auf einen regional strukturierten Imperialismus zu, auf direkte oder indirekte Herrschaft über Einflußgebiete, Rohstoffe und Menschen. Es passte zu den Wirtschaftskonzepten, die im nationalsozialistischen Denken angelegt waren. Da sie zum Hintergrund der Planungen gehören, wie ein Angriff auf die UdSSR angelegt sein müsse und zudem einen wesentlichen Grund für die prinzipielle Feindschaft amerikanischer Regierungskreise gegen den Nationalsozialismus darstellten, soll ein kurzer Blick hierauf nicht fehlen. b) Globalisierungsgegner? Neben der Diskussion all dessen, was der Nationalsozialismus im Rahmen seiner Rassenideologie letztlich angerichtet und verbrochen hat, sind seine wirtschaftlichen Konzepte lange Zeit in den Hintergrund getreten. Das galt in ganz besonderem Maß für die Vorstellungen Hitlers selbst, neben dessen Rasse- und Lebensraumtheorien die wirtschaftstheoretischen Aspekte seines Denkens als zu willkürlich und archaisch eingestuft wurden, um Beachtung finden zu können. Hitler, so schrieb Alan Bullock einmal, „dachte über die Wirtschaft völlig opportunistisch. Im Grunde war er überhaupt nicht an der Wirtschaft interessiert.“56 Dieser Ansicht ist mittlerweile vor allem von Rainer Zitelmann deutlich und mit guten Gründen widersprochen worden. Hitler griff an vielen Punkten wesentliche Elemente zeitgenössischer Gedankengänge auf, um sie zuzuspitzen und zu einem eigenen Weltbild zusammenzusetzen. Dabei spielte die Wirtschaft eine zentrale Rolle und hatte Verbindungen sowohl zur Rasse- als auch zur Lebensraumtheorie. Im folgenden will ich kurz darauf eingehen. Es wird deutlich werden, daß Hitler und das nationalsozialistische Umfeld dabei einige Formulierungen gebrauchten, die sich an zeitgenössische Imperialismuskritik anschließen und daß sich sein Lebensraumkonzept auch als Antwort auf eine extrapolierte Globalisierungstendenz verstehen läßt. Zu den Zeitgenossen, deren Gedankengänge sich auch in Hitlers Überlegungen spiegeln, gehörte Karl Haushofer. Daß Europa als ganzes mit einer schrumpfenden Rolle in der Welt zu kämpfen habe, darüber theoretisierte er 1934 vorwiegend in Auseinandersetzung mit Richard Coudenhouve-Kalergis „Paneuropa“-Ideen. Graf Coudenhouve-Kalergi hatte den Vorschlag ausgebreitet, der kleiner werdenden Rolle Europas durch eine Vereinigung der 56 Zit. n. Bullock, Studie, I, S. 410. Vgl. auch Rainer Zitelmann, der weitere Beispiele für solche Ansichten verschiedener Historiker aufführt. Zitelmann, Hitler, S. 228.
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kontinentalen Länder unter Ausschluß Englands zu begegnen. Das war nicht nur als ausgleichende Lösung der innereuropäischen Probleme gedacht, sondern trug von Anfang an einen imperialistischen Grundzug, der sich besonders darin ausdrückte, daß zu „Paneuropa“ eben auch der umfangreiche französische, holländische, belgische, spanische und italienische Kolonialbesitz gehören sollte, und dies nicht nur als zufälliges, weil ohnehin bestehendes Anhängsel, sondern ganz bewußt als dauerhaftes Teil eines Konzepts, das Paneuropa mit Amerika, der UdSSR, China und dem britischen Weltreich konkurrenzfähig machen sollte. Coudenhouve-Kalergi schloß sich mit seinen Vorstellungen an Paneuropa-Ideen an, die in dieser Form auch schon vor dem Ersten Weltkrieg zu hören gewesen waren, so etwa vom früheren Sozialdemokraten Gerhard Hildebrand, der 1910 die „Vereinigten Staaten von Westeuropa“ propagiert hatte, und zwar zum Zusammenschluß gegen „. . . Neger Afrikas, gegen eine „islamitische Bewegung großen Stils“ (!), zur Bildung einer Heeresund Flottenmacht allerersten Ranges, gegen eine chinesisch-japanische Koalition“ und andere Dinge mehr.57 Europa fand sich in diesem Rahmen schon als Rentnerkontinent dargestellt, umlagert von wachsenden armen, farbigen Gesellschaften und damit von den neuen Bedrohungen, die Hildebrand hier mit teilweise modernem Vokabular umschrieb, da sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch die Schlagzeilen liefern. Haushofer lehnte das Paneuropakonzept dieser Art mit zum Teil überraschenden Begründungen ab. Anders als Coudenhouve-Kalergi und im Gegensatz etwa auch zu Oswald Spengler schloß er es nahezu aus, daß die Europäer diesen Kolonialbesitz längerfristig halten könnten, allein schon deshalb, weil er den älteren „Kulturvölkern“ wie den Bewohnern Indiens, Chinas und Ägyptens jene Renaissance zutraute, die Spengler in den nach seinem Denksystem „untergegangen Fellachenvölkern“ ausgeschlossen hatte. Das konnte in Haushofers Denksystems allein schon deswegen nicht sein, weil dann ja auch das fast „tausendjährige“ Deutschland ebenfalls am Ende gewesen wäre. Was bei Spengler die Kultur und bei Coudenhouve die machtpolitische Notwendigkeit naheliegend gemacht hatten, schloß bei Haushofer gerade sein spezieller Rassismus aus, der sich eher einem biologistisch erweiterten Kulturbegriff näherte. Wobei er eben manchmal überraschende Aussagen produzierte und es, obwohl „vorerst eine Rassen-Emanzipationsfrage“, nicht für ausgeschlossen hielt, daß auch in „Panafrika“ eine lebensfähige und weltpolitisch wichtige Komponente der Zukunft zu suchen sein könnte.58 Im übrigen erwartete er die bestehenden Bündnismächte 57 Hildebrand, Gerhard: „Die Erschütterung der Industrieherrschaft und des Industriesozialismus, 1910, S. 229 ff., hier zit. n. Lenin, W. I.: Ausgewählte Werke, Moskau 1987, S. 239.
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USA und UdSSR als Dominanten der Welt in näherer Zukunft, während die „werdenden Großmachtkerne in China, Indien, Südamerika“ erst nach längeren Fristen zum Zug kommen würden. Die Zukunft gehörte in jedem Fall dem „Großraum“, was in ähnlicher Form auch schon Friedrich Ratzel in seinem 1897 erschienen Buch „Politische Geographie“ formuliert hatte, dem „Gesetz der wachsenden politischen Räume“. Programmatisch ausgefeilt standen diese Gedanken im Jahrbuch der Nationalsozialistischen Wirtschaft von 1937, beschrieben von Ernst Posse, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Um „ein Abbild des gesamten wirtschaftlichen Wollens des Nationalsozialismus“ zu geben, ging er auch auf den Trend zur wirtschaftlichen Entwicklung der Welt ein und sagte dort, was Hitler – wie wir noch sehen werden – bereits früher geschrieben hatte und was sich an vielen Stellen von anderen Nationalsozialisten ebenfalls wiedergegeben findet. Die Entwicklung der europäischen Staaten und das Wachstum ihrer Wirtschaft mußte angeblich zwangsläufig in einer Sackgasse enden: „Deren Aufblühen gab den europäischen Staaten einen unerreichbar erscheinenden Vorrang an technischer Leistung; es machte sie so zur Ausbildung gerade der großen Fertigwarenindustrien für die ganze Welt geeignet. Daß man sich auf diese Weise den Wettbewerber großzüchtete, der einen mit Sicherheit in der Zukunft den Absatz streitig machen mußte, kümmerte den Europäer jener Tage wegen des Augenblickserfolges zu wenig, wie es ihm auch heute noch nur recht geringe Sorge macht. . . . Mit den Überschüssen der europäischen Produktion wurde die übrige Welt erst wirtschaftlich erschlossen.“59
„Kaufe bei deinem Kunden“ lautete das Schlagwort, mit dem Posse die nationalsozialistische Antwort darauf umschrieb. Daß auf diese Weise das Handelsverhältnis Fertigwarenproduzent-Rohstofflieferant bis in alle Zeit zementiert werden sollte, sprach er nicht direkt aus. Es war nach diesem Denkansatz allerdings eine unvermeidliche Konsequenz. Daß es zudem eine zunächst richtige Antwort auf die Probleme eines Deutschland ohne Kapital darstellte, schreibt beispielsweise John Lukacs: „In den dreißiger Jahren bewirkte Hitler eine wirtschaftliche und politische Revolution in Mitteleuropa. . . . Vieles davon wurde durch die unorthodoxe, aber vernünftige Methode erreicht, das deutsche Volk zu verstaatlichen, nicht die deutsche Industrie, und durch die Betonung der Tatsache, daß der Wohlstand Deutschlands von seiner Industrieproduktion und nicht von seinen Goldreserven abhinge.“60
Herbert Backe, Staatssekretär in Walther Darrés Landwirtschaftsministerium und später von Hitler persönlich damit beauftragt, die Wirtschaft in 58 59 60
Vgl. Haushofer, Weltpolitik, S. 239. Zit. n. Posse: Ziele, S. 373. Zit. n. Lukacs, Entmachtung, S. 15.
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den besetzten Gebieten der Sowjetunion zu organisieren, formulierte es 1938 so. Der Globalisierungsprozeß sei gewissermaßen abgeschlossen und deshalb müsse die dahinterstehende Dynamik kontrolliert zurückgefahren werden. Backe bestritt dabei nicht grundsätzlich die Existenzberechtigung des liberalen Wirtschaftssystems: „Voraussetzung der Erschließung der Welt – wie sie geschah – war die Loslösung des Menschen aus allen einengenden Bindungen wirtschaftlicher, sozialer und nationaler Art, die Loslösung des Menschen von Blut und Boden. In der Einmaligkeit dieses geschichtlichen Vorgangs lag aber auch seine Begrenzung und sein Ende. Solange diese Erschließung der Welt andauerte, solange war auch der ihm dienende Wirtschaftsgrundsatz nicht nur notwendig, sondern zwangsläufig. Mit der Beendigung dieses Prozesses jedoch verlor auch der ihm dienende Wirtschaftsgrundsatz seine Daseinsberechtigung. Denn auch er war einmalig, auf ein einmaliges Ziel und eine einmalige Aufgabe abgestellt und mußte mit dem Fallen seiner Voraussetzung selbst fallen.“61
Das versuchte Backe anhand von Beispielen nachzuweisen und brachte es dabei auch fertig, den Sklavenhandel als Ausdruck globalisierten, liberalen Wirtschaftens bei mangelndem völkischem Bewußtsein zu verurteilen: „Im ersten Abschnitt dieser Entwicklung gehen die sogenannten extensiven landwirtschaftlichen Erzeugungszweige über die Grenzen des wachsenden Industrielandes . . . und legen sich als erster Ring um das Gebiet. So geht uns beispielsweise die Schafzucht allmählich vollständig verloren . . . . Dann wird der nächste Erzeugungszweig unrentabel, wie beispielsweise der Anbau von Flachs, und wandert ebenfalls über die Grenzen nach dem billigeren Arbeitslohn . . . . Gleichzeitig wird die Wollerzeugung noch weiter herausgedrängt. . . . Also wird der Ring noch weiter hinausgeschoben in bisher noch jungfräuliches Land. Die Baumwolle, die bisher im vorderen Orient ein kümmerliches Dasein fristete, wandert in die unerschlossenen Prärien Nordamerikas, eröffnet den entscheidenden Wettbewerb gegen Wolle und Flachs und zieht, ihrerseits in eine harte Wettbewerbslage gedrängt, schwarze Negersklaven nach Nordamerika – ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie (sehr völkische oder rassische Belange hinter den Gesichtspunkten reiner Rentabilität zurücktreten.) Die Schafe wurden nun, um noch die Rentabilität der Wollerzeugung zu halten, in die äußersten Winkel der südlichen Erdhälfte abgeschoben: nach Südamerika, Südafrika und Australien. . . . Damit sehen Sie bildhaft, daß wir jetzt an den Grenzen der Welt angelangt sind.“62 61
Zit. n. Backe, Ende, S. 29, Hervorhebung im Original. Zit. n. Backe, Ende, S. 31 f., Hervorhebung im Original. Zur Stellung des Sklavenhandels im Rahmen der Globalisierung vgl. Mücke, Globalisierung, S. 77 ff. Mücke betont, abgesehen von der moralischen Verurteilung, es sei die Sklaverei „eine durchaus effiziente und betriebswirtschaftlich erfolgreiche Arbeitsform“ gewesen und ein „zentraler Bestandteil der europäischen Expansion und der mit ihr beginnenden Globalisierung“. Ebd., S. 99 f. 62
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Die Erdoberfläche war nicht unendlich groß und mußte eines Tages voll erschlossen sein.63 Was Backe hier beobachtet hatte und mit dem angeblich zwingend notwendigen Ausstieg aus der verflochtenen Weltwirtschaft sowie der Reaktivierung verdrängter Produktionszweige kompensieren wollte, lag auf einer Linie unter anderem mit den Gedanken Adolf Hitlers, die schon in „Mein Kampf“ entwickelt worden waren. Nur hatte Hitler dies, wie bei anderen Themen auch, noch weit radikaler zu Ende gedacht. „Der Absatzmarkt der heutigen Welt ist kein unbegrenzter. Die Zahl der industriell tätigen Nationen hat dauernd zugenommen. Fast alle europäischen Länder leiden unter dem ungenügenden und unbefriedigenden Verhältnis ihres Bodens zur Volkszahl und sind deshalb auf Weltexport angewiesen. In letzter Zeit kommt zu ihnen noch die amerikanische Union, im Osten Japan. Damit beginnt von selbst ein Kampf um den begrenzten Absatzmarkt, der um so härter werden wird, je zahlreicher die industriell tätigen Nationen werden und je mehr umgekehrt die Absatzmärkte sich verengen.“64
Je mehr die Welt sich ökonomisch entwickelte, desto mehr mußte die Rolle der bereits entwickelten Länder der Konkurrenz ausgesetzt sein, schrumpfen und mußte also besonders die Rolle Europas sich vermindern. Das war nun ein Gedanke, der bereits damals seit langer Zeit durch die Köpfe politisierender Europäer spukte. Die darin enthaltene Grundidee, daß ein dynamisches Element, in diesem Fall die industrielle Entwicklung, irgendwann in einen unlösbaren Konflikt mit einem tendenziell statisch oder jedenfalls deutlich weniger dynamisch gedachten Element, in diesem Fall der industriellen Absatzmöglichkeiten geraten würde, entsprang einer simplen Logik. Thomas Malthus dürfte der erste gewesen sein, der sie im 18. Jahrhundert auf einen wirtschaftlichen Bereich ausdehnen wolle, indem er dem dynamischen Bevölkerungswachstum die vergleichsweise statische Möglichkeit der Nahrungsmittelproduktion gegenübersetzte und auf zukünftig unvermeidliche Verelendung schloß. Mit Friedrich Engels griff ein weiterer prominenter Denker diese Denkfigur auf. Er kritisierte sie zunächst mit messerscharfer Logik als zu undynamisch und deshalb unrealistisch, weil Malthus die künftigen Entwicklungen der Wissenschaft vernachlässigt habe: „Die Wissenschaft aber vermehrt sich mindestens wie die Bevölkerung“65 (!) Nachdem er Malthus auf diese Art als „überwunden“ abqualifiziert hatte, griff er aber auf einen gedachten Gegensatz zwischen Dynamik und Statik zurück, weil ohne eine solche Denkfigur auch die marxistische Theorie nicht funktionierte, innerhalb der die Produktionsverhältnisse die dynamische Rolle übernommen hatten und der geistige Überbau die relativ 63 „Die Erde ist nun doch einmal verteilt“, stand in der Ausgabe 4 (1900), der Socialistischen Monatshefte zu lesen. Zit. n. Schöllgen: Imperialismus, S. 437. 64 Zit. Hitler, Zweites Buch, S. 60 f. Vgl. auch Zitelmann: Hitler, S. 313 ff. 65 Vgl. Engels, Kritik, S. 191.
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statische. Im frühen 20. Jahrhundert waren solche Gedanken in marxistischen Texten ebenfalls zu finden, etwa bei Rosa Luxemburg: „So breitet sich der Kapitalismus dank der Wechselwirkung mit nichtkapitalistischen Gesellschaftskreisen und Ländern immer mehr aus, indem er auf ihre Kosten akkumuliert, aber sie zugleich Schritt für Schritt zernagt und verdrängt, um an ihre Stelle selbst zu treten. Je mehr kapitalistische Länder aber an dieser Jagd nach Akkumulationsgebieten teilnehmen und je spärlicher die nichtkapitalistischen Gebiete werden, die der Weltexpansion des Kapitals noch offen stehen, umso erbitterter wird der Konkurrenzkampf des Kapitals um jene Akkumulationsgebiete, um so mehr verwandeln sich seine Streifzüge auf der Weltbühne in eine Kette ökonomischer und politischer Katastrophen: Weltkrisen, Kriege, Revolutionen.“66
Auch hier gab es kein Entkommen aus der Zwangsläufigkeit, so daß die Parallelen in den Gedankengängen Hitlers und Rosa Luxemburgs offensichtlich sind, „sieht man von den gravierenden Unterschieden der Ausgangspositionen, der moralischen Haltung, der Diktion und den Schlußfolgerungen ab“.67 In der Tat sind die Unterschiede beachtlich, wenn auch die Schlußfolgerung in beiden Fällen einen revolutionären Charakter und eine Kampfansage an das liberale Modell der Weltwirtschaft in sich trug. Wo Rosa Luxemburg die Weltrevolution erwartete, hielt Hitler dies aus rassistischen Gründen weder für möglich noch für wünschenswert, sondern geradezu für eben jenes „völkervernichtende“ jüdische Projekt, das er mit allen Mitteln bekämpfen wollte. Die Differenz in der Zielsetzung könnte also größer nicht sein. Hitler wollte die von der Weltrevolution erwartete Aufhebung der Trennung von Völkern, Rassen und Nationen verhindern. Er begriff diese Tendenz als den eigentlichen Gegner seiner Auffassungen und als das Element, das die gemeinsame Eigenschaft des Kommunismus und des Kapitalismus sei und das er letztlich bis zur schrecklichsten Konsequenz mit den Juden zu identifizieren entschlossen war. So deutete er später, nach dem Scheitern aller politischen Bemühungen um ein Kriegsende, auch den Zweiten Weltkrieg als kompromißlose Auseinandersetzung dieser zwei Prinzipien, etwa gegenüber Außenminister Ribbentrop, der doch einen Versuch machen wollte, den aussichtslosen Krieg durch irgendeinen Vergleich mit den Westmächten zu beenden und von Hitler darauf die Antwort bekam: „Das ist eine völlige Verkennung des Problems und eine naive Auffassung. Dieser Krieg ist ein Weltanschauungskrieg zwischen der jüdisch-bolschewistischen und der nationalen Welt und dieser Kampf kann nicht mit außenpolitischen Mitteln gewonnen werden, sondern hier müssen die Waffen entscheiden.“68 66 67 68
Zit. n. Luxemburg, Werke, 5, S. 430. Zit. n. Zitelmann, Hitler, S. 314. Zit. n. Ribbentrop, Erinnerungen, S. 275.
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Dies fügt sich in Hitlers sonstige programmatische Äußerungen und erläutert die in der nationalsozialistischen Propaganda gängige, ansonsten vollkommen unverständliche Gleichsetzung der kommunistischen Sowjetunion mit dem kapitalistischen Westen. Beide repräsentierten in dieser Deutung nur verschiedene Formen des Internationalismus, die Hitlers als gleichermaßen aggressiv empfand und deren gemeinsamen Urheber er, was angesichts seiner rassistischen Grundeinstellungen nahe lag, ausgerechnet in der angeblich wurzellos internationalisierten „jüdischen Rasse“ gefunden haben wollte. Das bedeutet nicht, daß Hitler sich den Überlegungen hinsichtlich der zwangsläufigen Erschließung der Welt und der möglicherweise katastrophalen Folgen infolge von Übervölkerung und Ernährungsmangel prinzipiell verschlossen hätte. Er sah es nur noch nicht soweit gekommen: „Sicherlich wird zu einem bestimmten Zeitpunkt die gesamte Menschheit gezwungen sein, infolge der Unmöglichkeit, die Fruchtbarkeit des Bodens der weitersteigenden Volkszahl noch länger anzugleichen, die Vermehrung des menschlichen Geschlechts einzustellen und entweder die Natur wieder entscheiden zu lassen, oder durch Selbsthilfe, wenn möglich, dann freilich schon auf dem richtigeren Wege als heute, den notwendigen Ausgleich zu schaffen. Allein dieses wird dann eben alle Völker treffen, während zur Zeit nur diejenigen Rassen von solcher Not betroffen werden, die nicht mehr Kraft und Stärke genug besitzen, um für sich den nötigen Boden auf dieserWelt zu sichern. Denn die Dinge liegen doch so, daß auf dieser Erde zur Zeit noch immer Boden in ganz ungeheuren Flächen ungenützt vorhanden ist und nur des Bebauers harrt.“69
Das war eine Betrachtung, die verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten offen ließ und in der Tat mündete dieser Ansatz im Hoßbach-Protokoll des Jahres 1937 bei Hitler in die Proklamation eines unter nationalsozialistischen Prinzipien erneuerten Deutschen Reichs, das unter Einschluß Österreichs und des deutsch-tschechischen Westens der Tschechoslowakei für mehrere Generationen ausreichend Lebensraum bieten sollte. Das war eine neue Entwicklung, denn in den Jahren 1920/21 hatte Hitler den deutschen Vorkriegsimperialismus der wilhelminischen Zeit noch lautstark als „unumgänglich gewordene wirtschaftliche Expansion“ bezeichnet.70 In einem Redeentwurf vom August 1920 findet sich der Satz: „Not zwing(t) zum Welthandel und Weltindustrie zwingt zur Geltendmachung in der Welt.“71
Hitler setzte sich damals deutlich von den Vorstellungen ab, Handelskonkurrenz könnte auf Dauer friedlich existieren, und zog im Gegenteil den 69 70 71
Zit. n. Hitler, Kampf, S. 147. So am 26. August 1920, vgl. Jäckel, Aufzeichnungen, S. 217. BA NS 26/1929-2698(22-22 h), zit. n. Jäckel: Aufzeichnungen, S. 208.
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Schluß, das gerade aus dieser Konkurrenz der Krieg zwangsläufig folgen müßte. Es könnte nur zwei Wege geben: „Man könnte entweder neuen Boden erwerben, um die überschüssigen Millionen jährlich abzuschieben, und so die Nation auch weiter auf der Grundlage einer Selbsternährung zu erhalten.“
oder „. . . durch Industrie und Handel für fremden Bedarf . . . schaffen, um vom Erlös das Leben zu bestreiten. Also: entweder Boden- oder Kolonial- und Handelspolitik“72
Wo dieser Boden liegen sollte, von dem Hitler hier sprach, das ist bekannt und muß hier nicht weiter ausgeführt werden. Hitler ging in „Mein Kampf“ noch davon aus, daß mit England ein politisches „Geschäft“ zu machen sei,73 in dem Rußland, bzw. die UdSSR die Rechnung in Form von Landabtritt zahlen sollte. Damit nahm er in gewisser Weise Pläne auf, die vom langjährigen englischen Premier Palmerston befürwortet worden waren, als er während des Krimkriegs daran dachte, das Baltikum zu Preußen und die Ukraine an Österreich-Ungarn zu schlagen, um Rußland von der Ostsee und dem Schwarzen Meer abzudrängen. Dieswar allerdings vor der deutschen Einigung gewesen und zweifellos daran gebunden, daß in Mitteleuropa auch nach der Expansion der beiden Monarchien eine Pufferzone aus Kleinstaaten erhalten blieb, zu der von Hannover bis nach Bayern auch der größte Teil Westdeutschlands gehören sollte. Bedeutende Teile des politischen London waren daher von den Ereignissen zwischen 1864 und 1871 unangenehm überrascht worden und – wie sich zeigen sollte – keinesfalls bereit, einem vereinten Deutschland ähnliches zuzugestehen wie den Königreichen Preußen und Österreich-Ungarn zusammen.74 Zurück zu Hitlers Ablehnung des Welthandels, die drastisch ausfiel: „Nein, wenn wir diesen Weg beschritten, dann mußte eines Tages England unser Feind werden. Es war mehr als unsinnig, sich darüber zu entrüsten – entsprach aber ganz unserer eigenen Harmlosigkeit –, daß England sich die Freiheit nahm, eines Tages unserem friedlichen Treiben mit der Rohheit des gewalttätigen Egoisten entgegenzutreten.“75 72
Zit. n. Hitler, Kampf, S. 151. Ebd. Hitler, Kampf, S. 155. 74 Benjamin Disraeli empörte sich vor dem Parlament. „Das Gleichgewicht der Macht (ist) völlig zerstört und das Land, welches am meisten leidet und die Wirkung dieser großen Veränderung am meisten spürt (ist) England.“ Zit. n. Hildebrand, Reich, S. 15. Es gehörte zu den Standards von Robert Vansittart, der bis 1941 formell der oberste Diplomat des Vereinigten Königreichs war, man müsse den Zustand vor 1864 wieder herstellen. Für Vansittart stellte das Jahr 1864 den Zeitpunkt dar, ab dem „die Welt abzugleiten begann“, Vgl. Dokumente, I/1, S. 143. Zu Palmerstons Plan vgl. Baumgart, Krimkrieg, S. 204. 73
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In den Reden vor 1924 hatte er diesen Punkt des öfteren wiederholt und das Verhältnis zu England noch stärker zugespitzt: „Weil es Tatsache ist, daß unsere Produkte nicht nur die besten, sondern auch die billigsten der ganzen Welt waren, weil niemand mehr einen Gebrauchsgegenstand kaufte, der nicht mit „Made in Germany“ gezeichnet war, weil alle Schutzzölle und Vorzugszölle und alle sonstigen Finessen umsonst waren, weil der Aufstieg der deutschen Wirtschaft einfach nicht zu verhindern war, deshalb mußte der Krieg kommen.“76
Die ökonomische Rivalität und die wechselseitige Bedrohung der Wirtschaftsmächte spielen in Hitlers Argumentationsgang also eine große Rolle und es ist schwer nachvollziehbar, wieso dies in der Forschung doch so weitgehend nicht rezipiert worden ist.77 Diese Stelle und etliche andere lesen sich passagenweise wie eine Übernahme der leninschen Imperialismuskritik, denn auch Lenin begriff den Welthandel als Kampfform zwischen Mächten und war ganz selbstverständlich der Meinung, dieser Kampf könne jederzeit in kriegerische Auseinandersetzung übergehen, und zwar ebenfalls durchaus zugespitzt auf das deutsch-englische Verhältnis: „England wird ebenfalls vom Monopol, ebenfalls vom Imperialismus, nur dem eines anderen Landes (Amerikas, Deutschlands) geschlagen. . . . Wenn Deutschlands Handel mit den englischen Kolonien sich schneller entwickelt als der Englands, so beweist das lediglich, daß der deutsche Imperialismus frischer, kräftiger, organisierter ist und höher steht als der englische, es beweist aber keineswegs die ‚Überlegenheit‘ des freien Handels, denn hier kämpft nicht Freihandel gegen Schutzzollsystem und koloniale Abhängigkeit, sondern Imperialismus gegen Imperialismus, Monopol gegen Monopol, Finanzkapital gegen Finanzkapital.“78
Der Konflikt zwischen diesen Imperialismen sei notwendig vorhanden und durch kein Bündnis und durch keinen Vertrag aufzuheben, auch nicht mittels der vereinten Ausbeutung fremder Länder durch mehrere imperialistische Staaten, wie sich das phasenweise etwa in China abzeichnete: „Ist die Annahme ‚denkbar‘, daß beim Fortbestehen des Kapitalismus solche Bündnisse nicht kurzlebig wären, daß sie Reibungen, Konflikte und Kampf in jedweden und allen möglichen Formen ausschließen würden? Es genügt, diese Frage klar zu stellen, um sie nicht anders als mit Nein zu beantworten. Denn unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen- und 75
Zit. n. Hitler, Kampf, S. 157. Rede am 6. März 1921 in München, nach dem Bericht im „Völkischen Beobachter“ wiedergegeben bei Jäckel, Aufzeichnungen, S. 336. 77 So stellt auch Sönke Neitzel fest, „die ökonomische Bedrohung nahm bei Hitler allenfalls eine zweitrangige Bedeutung ein.“ Zit. n. Neitzel: Weltmacht, S. 21. Dies läßt anhand zahlreicher Zitate widerlegen, die sich durch Hitlers politische Äußerungen ziehen und deren Wert für eine Interpretation von Hitlers Selbstverständnis und seinen Zielen Rainer Zitelmann hervorgehoben hat. Vgl. Zitelmann: Hitler, S. 228 f. 78 Zit. n. Lenin: Werke, S. 246. 76
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Einflußsphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten . . . nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig.“79
Eben wegen dieser Dynamik müsse es zwangsläufig zu den erwähnten Konflikten kommen, die mit allen Mitteln, also auch dem Krieg ausgetragen werden würden. Dies war Lenins Ansicht und es dürfte anzunehmen sein, daß Hitler wenn nicht Lenins Text selbst, so doch wenigstens dessen Gedankengang gekannt hat, richtete er doch seine Agitation nicht zuletzt gegen die damals aktuellen marxistisch-leninistischen Argumente, in denen Lenins Imperialismuskritik zu Beginn der zwanziger Jahre eine Schlüsselrolle einnahm. Es dauerte denn auch nur eine vergleichsweise kurze Zeit, bis Hitler öffentlich eine Alternative zu dem imperialistischen Welthandelssystem zu präsentieren wagte, das er im Zusammenhang mit seiner Verteidigung der deutschen Vorkriegspolitik bis dahin implizit und nicht selten explizit als notwendig verteidigt hatte. Als klare Frage von „Zwei Wegen“ findet sie sich offenbar zum erstenmal in einem Redeentwurf vom 31. Mai 1921: „Zweierlei: entweder Kolonisation oder Welthandel-Auswanderung.“
Das deutete bereits auf den allbekannten Schluß hin, der in „Mein Kampf‘ gezogen wurde und der in Verbindung mit einer rassistischen Bevölkerungspolitik Deutschlands Ausstieg aus dem Welthandel und vorläufig auch aus der Weltpolitik rechtfertigen sollte. „Nur unbedingte klare Einstellung allein konnte zu einem solchen Ziele führen: Verzicht auf Welthandel und Kolonien, Verzicht auf eine deutsche Kriegsflotte. Konzentration der gesamten Machtmittel des Staates auf das Landheer.“80
Das sollte so sein, bis irgendwann – an dieser Stelle rechnete Hitler in Jahrhunderten – die Verhältnisse sich änderten, denn: „Das Ergebnis wäre wohl eine augenblickliche Beschränkung . . ., wohl aber eine große Zukunft.“81 Dabei blieb es, insbesondere bei der Ablehnung des Welthandels, wenn sich auch die russischen Visionen angesichts der Entwicklung der UdSSR umkehrten und aus dem ins Auge gefaßten Kolonialgebiet eine bedrohliche Militärmacht wurde, was dazu beitrug, daß Hitler den deutschen Lebensraum jetzt nur noch „inmitten Europas“ sah und die so proklamierten Ziele 1939 praktisch erreicht hatte. Noch während seines Treffens mit dem stellvertretenden amerikanischen Außenminister Sumner Welles im März 1940 gab es über Wirtschaftsfragen eine längere Debatte, aus der die Kontinuität dieser Vorstellungen in Hitlers Gedankenwelt hervorgeht. Eine beson79 80 81
Zit. n. Lenin, Werke, S. 250. Ebd. Hitler, Kampf, S. 154. Ebd. Hitler, Kampf, S. 154.
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dere Note ergab sich daraus, daß die USA nach Hitlers Ansicht gerade über diese Fähigkeiten in wirtschaftlicher Hinsicht verfügten, die er für Deutschland erst beschaffen wollte. Schon 1924 waren die Vereinigten Staaten und ihre „unerhörte innere Kraft“ für ihn das Vorbild gegenüber der „Schwäche der meisten europäischen Kolonialmächte“ gewesen.82 Daher konnte Hitler auch im Frühjahr 1940 die Argumente Welles’ für freien Welthandel nicht nachvollziehen: „Amerika erzeuge einen Überfluß an Lebensmitteln, Rohstoffen und Industrieprodukten, Deutschland leide an einem Mangel an Lebensmittel und Rohstoffen, habe aber einen Überschuß an Industrieprodukten. Amerika würde sicher gern Deutschland aus seiner überschüssigen Lebensmittel und Rohstoffproduktion entsprechende Mittel zur Verfügung stellen, könne aber die als Gegenleistung gedachte deutsche Industrieausfuhr deshalb nicht bei sich aufnehmen, weil es ja eine eigene überschüssige Industrieproduktion habe. So sei es unmöglich, auf diesem Wege den mitteleuropäischen Lebensraum mit allem Nötigen zu versorgen; daher müsse dieser Raum in sich selbst die Grundlagen für seine Rohstoff- und Lebensmittelversorgung schaffen. Wenn dies nicht geschähe . . . würde der mitteleuropäische Raum zum Unterbieten und Dumping gezwungen sein, oder es würde ein gefährlicher Spannungszustand entstehen.“83
Das war in jedem Fall ein zu grobes Raster und traf nur unter der Voraussetzung ausschließlich bilateralen Handels zwischen Staatswirtschaften teilweise zu.84 In Hitlers Denken hatten eben, wie Lothar Kettenacker zutreffend formuliert, „subtilere Formen des Kapitalismus keinen Platz.“85 In der Tat glaubte er, daß diese Formen des Kapitalismus den Ersten Weltkriegverursacht hatten und wollte sie gerade deshalb vermieden sehen.86 Auch boten solche Subtilitäten in Krisenzeiten keinen Schutz davor, von fremden Staaten ausgehungert zu werden, wie es Deutschland während des Ersten Weltkriegs erfahren hatte und wie es die Nationalsozialisten um buchstäblich jeden Preis verhindern wollten. Sumner Welles, dem kapitalistisches Denken ohne Zweifel näher lag, akzeptierte Hitlers Gedanken denn auch nicht, als er auf die besseren Zeiten des deutsch-amerikanischen Handels hinwies und darauf, daß „Deutschland trotz seiner eigenen Agrarpro82
Vgl. Hitler, Kampf, S. 153. ADAP), D, VIII, Dok. 469, S. 463 f. Diese Argumentation führte Hitler in wichtigen Gesprächen häufig an. Vgl. etwa auch das Gespräch mit dem polnischen Außenminister Beck, in: ADAP, D, V, Dok. 119, S. 128. 84 Immerhin waren zur gleichen Zeit auch in den USA ökonomische Modelle im Gespräch, in denen aus pragmatischen Gründen die Rolle des Unternehmers den einzelnen Volkswirtschaften statt den Individuen zugewiesen wurde. Prominente Befürworter einer solchen Neudefinition hatten einen gewissen Einfluß auf Präsident Roosevelt gewonnen. Vgl. Williams, Tragödie, S. 208 ff. 85 Vgl. Kettenacker, Herausforderung, S. 174. 86 Vgl. Zitelmann, Hitler, S. 309 ff. 83
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duktion auch aus Amerika landwirtschaftliche Produkte einführte. Die verbleibenden Teile des Ausfuhrüberschusses müßten eben auf dem Wege des mehrseitigen Handels untergebracht werden und hier sei die Liberalisierung des Welthandels von großer Bedeutung.“87 Außerdem seien viele deutsche Produkte für den südosteuropäischen Markt zu teuer und gleichzeitig so speziell, daß sie in den Vereinigten Staaten sehr wohl zu verkaufen seien.88 Es gab mehr zu differenzieren als „Agrarprodukte“ und „Industrieprodukte“, aber dies war ein Punkt, den Hitler augenscheinlich zeitlebens nicht einsah. Diese mangelnde Differenzierungsfähigkeit und die Folgerungen, die er daraus zog und an die er offenbar wirklich glaubte, waren in der Tat der Hintergrund von Hitlers Absicht in wirtschaftlicher Hinsicht seit den zwanziger Jahren gewesen. Er hielt auch 1942 daran fest, als er einer Großversammlung junger Offiziere erklären wollte, wie die Weltpolitik funktioniert und wie er Deutschlands Rolle sah: „Man kann nicht sagen, es sei da die Frage des Handels, um diese Probleme (der Ernährung, d. Verf.) zu lösen. Ich will Ihnen hier Einblick in die Wirklichkeit geben. Eine andere Welt baut sich langsam in ganz geschlossenen Wirtschaftskörpern auf. Ich will nur einen Staat herausnehmen: die nordamerikanische Union. Diese Union könnte uns natürlich reichlich Getreide liefern. Allein wir sind nicht in der Lage das irgendwie zu bezahlen. Gold oder Devisen besitzen wir nicht. Auch wenn wir sie hätten, würde das bald ein Ende nehmen; denn Geschäfte kann man nur machen durch den Austausch dauernder gegenseitiger Arbeitsleistungen. Die Arbeitsleistung aber, die wir Amerika geben könnten, würde in Industrieprodukten bestehen. Allein Amerika selbst hat 13 Millionen Erwerbslose in seiner Industrie gehabt. Es ist Selbstversorger. Wir können also mit dem Land gar keine Geschäfte machen. Es ist nicht imstande, deutsche Gegenleistungen anzunehmen. . . . Mit anderen Worten: Wenn uns ein solch geschlossener Wirtschaftskörper entgegentritt, wie es Amerika ist oder wie es seit der Ottawa-Konferenz England ist oder wie es auch Rußland ist, sind wir – ich möchte es sagen – arme Bettler.“89
Aus dieser Situation sah Hitler seit der Vorkriegszeit prinzipiell nur den Ausweg eines schnellstmöglichen Ausstiegs aus der Weltwirtschaft.90 Er verarbeitete damit auf spezifische Weise ein Element des klassischen Imperialismus: die bewußte Projektion künftiger Geschichte aufgrund angeblich 87
ADAP, D, Bd. VIII, Dok. 469, S. 463. Welles, Sumner: The Time for Decision, Cleveland/New York 1944, S. 106. 89 Hitler am 30. Mai 1942 in einer Geheimrede vor dem deutschen Offiziersnachwuchs, d.h. ca. zehntausend Leutnants, zit. n. Picker, Tischgespräche, S. 717. 90 Die Einsicht in politische Realitäten und taktische Zwänge führte dazu, daß Hitler sein damit verbundenes Lebensraum-Programm zwischen „Mein Kampf“ und dem „Hoßbach-Protokoll“ deutlich reduzierte. Als er im November 1937 dort seine Ziele skizzierte, die ggf. durch Krieg erreicht werden müßten, war vom Lebensraum im Osten nur noch Österreich und die Tschechoslowakei übrig geblieben, was für „ein bis drei Generationen“ reichen müsse. Vgl. Scheil, Logik, S. 117 ff. 88
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klar erkannter Notwendigkeiten und Trends und den daraus geschlossenen angeblichen Zwang zum ständigen territorialen Wachstum, um in einem gedachten Rahmen globaler Mächtekonkurrenz bestehen zu können. Dies beinhaltete einen Rückzug aus der Welthandelspolitik. Die konkrete Situation des Jahres 1940 sorgte im Herbst dafür, daß die deutschen Aktivitäten in Richtung auf eine Bündniskonstellation der Kontinentalmächte erheblich verstärkt werden mußten, wenn der Krieg wie gewünscht eingeschränkt und beendet werden sollte. Anfang September hatte die englische Regierung erneut ein weitreichendes Entgegenkommen Deutschlands zurückgewiesen, daß Weißauer im Namen Ribbentrops an Churchill selbst übermittelt hatte. Damit war dieser Weg in Richtung deutsch-englische Verständigung derzeit nicht mehr gangbar, wenigstens so lange nicht, wie die Regierung Churchill selbst stabil stand und an ihrer Einstellung festhielt. Da andere politische Wege demnach dringend gesucht werden mußten, erhielt Ribbentrops Vision vom eurasischen Kontinentalblock neue Aktualität, zumal das als Bündnispartner ins Auge gefaßte Japan neuem Druck von Seiten der USA ausgeliefert war und Unterstützung benötigen konnte.91 Wenige Tage nach dem britischen Nein reiste der deutsche Außenminister daher nach Rom, um zur Überraschung92 der dortigen Regierung einen Militärpakt zwischen Deutschland, Italien und Japan vorzuschlagen. In Rom legte man auf die Verhandlungen über europäische Einflußzonen und andere balkanische Affären derzeit den größeren Wert, zeigte sich aber letztlich nicht abgeneigt. So konnte schon nach kurzer Verhandlungszeit ein Abkommen zwischen den drei Ländern unterzeichnet werden, das gegenseitigen Beistand zwischen ihnen versprach, falls ein Partner von einer Macht angegriffen werden sollte, „die gegenwärtig nicht in den europäischen Krieg oder in den chinesisch-japanischen Konflikt verwickelt ist.“ Damit konnten vorwiegend die USA gemeint sein und waren es wohl auch, aber die UdSSR erfüllte diese Kriterien durchaus ebenfalls. Viel Gewinn ergab sich aus dieser japanischen Karte jedoch nicht, die Ribbentrop hier ausgespielt hatte. Konnte Deutschland also im Fall eines sowjetischen oder amerikanischen Angriffs eventuell auf japanische Hilfe hoffen, so stellte dies den einzigen theoretischen Gewinn dar, den Berlin hier eventuell im Kriegsfall machen konnte. Eine Bündnisautomatik gab es nicht, Besprechungen waren vorgeschaltet. Keine Vertragspartei war zwingend verpflichtet, der anderen zu Hilfe zu 91 Am 26. Juli hatte Roosevelt den Export von Schrott und Flugzeugbenzin nach Japan eingeschränkt, drei Tage vor Unterzeichnung des Dreimächtepakts folgte dann ein völliger Lieferstop, als japanische Truppen in Nordindochina einmarschierten. Vgl. Rahn, Pazifik, S. 204 f. 92 Vgl. Schreiber, Südosteuropa, S. 368.
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kommen. Als einziges Land sicherte Deutschland einseitig Japan in einem geheimen Zusatzabkommen militärische Unterstützung für den Fall eines amerikanischen oder englischen Angriffs zu.93 Da diese Bestimmungen insgesamt sehr undeutlich und interpretierbar blieben, entwickelte sich schließlich auch der Dreimächtepakt zu einem jener etwas kurzatmigen Produkte, die den tagesaktuellen Zweck zu sehr in sich trugen, um eine langfristige Perspektive entwickeln zu können. Mehr als den zwiespältigen öffentlichen Erfolg, ein Abkommen weltpolitischer Dimension abgeschlossen zu haben, leistete der Dreimächtepakt in dieser Form nicht. Ihn mit Leben zu erfüllen, mußte noch geleistet werden.94 Dies geschah später in unerwarteter Weise, als nach dem Berliner Hitler-Molotov-Gipfel in rasantem Tempo eine größere Zahl europäischer Staaten mit ihrem Beitritt eine für Deutschland wohlwollende Neutralität im englisch-deutschen Krieg signalisierten. Hier erhielt der Dreimächtepakt eine weitere tagesaktuelle Funktion, die ihm ursprünglich gar nicht zugedacht worden war. Erste Beitrittswünsche etwa Ungarns wurden denn auch zunächst noch abgewiesen. Dagegen war von Anfang an eine Mitarbeit der UdSSR ins Auge gefaßt worden. Stalin wurde vom bevorstehenden Abkommen informiert: „Die politischen Entwicklungen sind noch ganz in der Schwebe. Das Dreier-Abkommen drängt an sich zu einem politischen Schluß. Man muß auch mit Frankreich endlich zu einer bestimmten politischen Linie kommen. Z. Z. ist aber das politische Spiel noch in der Schwebe: Ergebnis nicht vorauszusehen. Der Führer hat an Stalin 24 Stunden vor dem Japanabkommen eine dieses Abkommen betreffende Nachricht gegeben. Jetzt ist an ihn geschrieben worden, um ihn an der Erbschaft Englands zu interessieren und zum Mitmachen anzuregen. Wenn das gelingt, dann glaubt man, mit England aufs Ganze gehen zu können.“95
Hier zeigte sich die ganze Ambivalenz der politischen Entwicklungen dieser Zeit, denn am gleichen Tag trug der deutsche Generalstabschef auch wichtige Notizen in bezug auf eine mögliche Eskalation des deutsch-russischen Verhältnisses ein: „Die Nachrichten, daß Rußland im Jahre 1941 mit einem bewaffneten Konflikt mit uns rechnet, mehren sich. Die Vorbereitungen in der Ausbildung der russischen Truppe treten stark hervor.“96 93
Die Einhaltung stieß bald auf Schwierigkeiten, denn die UdSSR ließ den Transport von deutschem Kriegsgerät nach Japan nicht zu und blockierte gar den Transfer von Werkzeugmaschinen. Vgl. BA-MA RW 19/164, Bl. 167, 18. Februar 1941, Vortrag Major Radtke. 94 Das Auswärtige Amt versuchte dies auf kultureller Ebene durch die Herausgabe aufwendig gestalteter und teilweise dreisprachiger Illustrierter über „Rom-Berlin-Tokio“ zu leisten. 95 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 118 f., 30. September 1940. 96 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 118, 30. September 1940.
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Schließlich gelang es der deutschen Politik nicht, mit dem Beitritt der UdSSR den Schlußstein unter die Konzeption zu setzen und man scheiterte ebenfalls mit dem Versuch, die englische oder amerikanische Außenpolitik durch diesen Schritt zu beeinflussen. Die sowjetische Führung gab statt dessen ihren Ambitionen auf weitere Ausdehnung des Sowjetsystems in Richtung Westen freien Lauf. c) Das Treffen von Berlin „Antwort Stalins auf Brief des Führers: Er stimmt den Ausführungen des Führers zu. Molotov wird nach Berlin kommen. Dann erwartet man Eintritt Rußlands in den Dreierpakt.“ Franz Halder97
Über den oben bereits erwähnten Besuch des russischen Außenministers Molotov in Berlin ist viel geschrieben worden, wenn auch mit schwankender Intensität und nicht selten mit einem erkennbaren Zug von Desinformation. Zunächst wurde diese erste Auslandsreise eines sowjetischen Regierungsoberhaupts, was Molotov offiziell ebenfalls war, in der sowjetischen Öffentlichkeit aufwendig inszeniert und in der Presse teilweise von einer außergewöhnlichen Betonung der angeblichen Deutschfreundlichkeit sowjetischer Politik begleitet.98 In den nur wenig später geschrieben Darstellungen aus russischer Feder allerdings findet der Berlinaufenthalt Molotovs sich plötzlich praktisch gar nicht mehr wieder,99 dann später allenfalls mit 97 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 148, Eintrag 24. Oktober 1940. „Man“ ist hier wohl Hitler persönlich und der Brief Ribbentrops ist nach Ansicht Halders ganz offensichtlich ebenfalls von Hitler persönlich verfaßt worden. Wenn dies geschafft sei, sei Rußland nach Hitlers Worten „ausgeschaltet“ (wohl als politische Bedrohung) und die Türkei könne „mit Hilfe Rußlands in Ruhe gehalten“ werden. Vgl. Halder, KTB, II, S. 165, 4. November 1940. Aber dennoch, so Hitler weiter: „Bleibt Rußland das ganze Problem Europas. Alles muß getan werden, um bereit zu sein zur großen Abrechnung.“ Vgl. ebd. Halder, KTB, S. 165. 98 Unter anderem wurde bald darauf in der Sowjetpresse eine Hitler-Rede veröffentlicht. Auch die Dankestelegramme Molotovs für den Empfang in Berlin wurden publiziert und waren in durchaus herzlichem Tonfall gehalten. Vgl. Pietrow, Stalinismus, S. 220 f. Umgekehrt galt auch für deutsche Presseverlautbarungen, daß sie vor dem Besuch voller Lob auf die Politik der Sowjetunion waren. Vgl. Gafencu, Vorspiel, S. 145. 99 So etwa in G. A. Deborins Standardwerk über den Zweiten Weltkrieg, der die sowjetische Staatskunst zu würdigen weiß, nicht mit Japan und der Türkei in Streit geraten zu sein, sich über deutsch-sowjetische Gespräche aber vollständig ausschweigt. Auch Telpuchowskis Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges unterschlägt den Molotov-Besuch – schon bevor Molotovs Name als Opfer von Nikita Chrušcˇevs Entstaliniserungskampagne aus den späteren Ausgaben ganz gestrichen wurde. Telpuchowski und Deborin opponnierten 1966 denn auch heftig gegen Alek-
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nichtssagenden Bemerkungen versehen, aus denen sich der Inhalt der Gespräche kaum erschließen läßt.100 Um jede Spur der Unterhaltung zu verwischen, suchten die Sowjets 1945 sicherheitshalber in Berlin sogar nach möglichen Tonaufnahmen der Unterhaltung Molotovs mit Hitler.101 Erst seit dem Ende der UdSSR wird in Rußland ausführlicher darüber diskutiert. In westlichen Darstellungen spielte der Besuch dagegen stets eine größere, aber dennoch immer umstrittene Rolle. Zunächst einmal entlarvten die Berlinreise und der Inhalt der dortigen Besprechungen die sowjetische Politik als machiavellistische Unternehmung. Zeitgenössische Beobachter wie Grigore Gafencu oder David Dallin konnten das schon 1942 und 1944 nur aus den veröffentlichten Quellen nachweisen.102 Später eigneten sie sich zunächst bestens als politische Waffe des beginnenden Kalten Krieges.103 Noch während des Nürnberger Prozesses veröffentlichte die „North American Newspaper Alliance“ einen Bericht über angebliche sowjetische Versuche, mit Deutschland 1941 ein imperialistisches Offensivbündnis abzuschließen. Er erschien in der „New York Times“ und mußte den Eindruck erwecken, die UdSSR hätte in ihren Zielen und Methoden den Nürnberger Angeklagten näher gestanden, als sich dies mit ihrer jetzigen Rolle als der eines Anklägers vertrug.104 Gleichzeitig wurde aber während des Prozesses noch darauf geachtet, daß der Besuch kaum zur Sprache kam,105 hätte er sandr Nekrichs Darstellung, in der u. a. Molotovs Berlinaufenthalt erwähnt war, obwohl Nekrich den ganzen Vorgang völlig falsch, d.h. in sowjetpatriotischem Sinn dargestellt hatte. Er schrieb ganze vier Sätze über dies Thema, sprach darin nur von deutschen Forderungen wegen Einflußzonen, die Molotov zurückgewiesen habe. Vgl. Nekrich, 22. June, S. 147, bzw. Deborin, Falsifiers, S. 277 ff. Auch Molotovs Diplomatenkollege Maiskij, damals sowjetischer Botschafter in London, vergaß in seinen weitschweifigen Memoiren die Berliner Verhandlungen. Vgl. Maiskij, Memoiren, passim. 100 So etwa in der zwölfbändigen „Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ des Instituts für Militärgeschichte des Verteidigungsministeriums der UdSSR, die Molotov nur nach Berlin reisen, aber keinerlei Forderungen stellen läßt. Man habe seitens der UdSSR eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der „Abgrenzung von Interessensphären eingenommen.“ Da der Text noch aus der Zeit stammt, als das Geheimabkommen von 1939 über eben solche Interessensphären noch geleugnet wurde, mußte die offiziöse Geschichtsschreibung des realen Sozialismus dies notgedrungen behaupten. Vgl. Bd. III, S. 417 f. 101 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 306. 102 Vgl. Dallin, Policy, S. 270 ff. 103 Der damals anwesende Gustav Hilger wurde nach seiner Gefangennahme auch zu diesem Punkt vernommen. Vgl. BA-MA MSg 1/1425. Verhörprotokoll von Hilger („Veracity: believed reliable“) vom 17. Oktober 1945, Zum Molotov-Besuch vgl. S. 20–24. 104 NYT 19. März 1946, vgl. Ingrimm, Auflösung, S. 203. Der Bericht von L. S. B. Shapiro gab die russischen Forderungen mit: Finnland, Bulgarien, den Dardanellen, Irak, Persien, den Persischen Golf, dem Roten Meer, und einem Stütz-
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doch wie viele andere unerwünschte Fakten ganz klar sichtbar werden lassen, wie absurd die Anklage einer einseitigen und unprovozierten deutschen Aggression war und wie richtig dagegen die spontane Einschätzung des diplomatischen Corps von Moskau im November 1940, daß die UdSSR „von neuem in den Kreis der dynamischen Mächte“ eingetreten sei.106 Folgerichtig stand der Besuch auf jener Tabuliste des Prozesses, deren Existenz Lew Bezymenskij 1991 enthüllt hat. Umstritten blieb der Vorgang auch in den deutschen Darstellungen. Das begann ebenfalls mit einer Desinformation, denn führende Mitglieder der deutschen Botschaft in Moskau verbreiteten nach ihrer Rückkehr aus Berlin bei Kollegen aus anderen Staaten den Eindruck, die deutsche Seite hätte Molotov zu konkreten Forderungen gedrängt. Der Volkskommissar sollte demnach aber keine solchen Forderungen genannt haben, nicht einmal in bezug auf die Dardanellen. Dies war von den „autorisiertesten Mitgliedern“107 bewußt falsch dargestellt, wie man heute weiß, und daß sich die russische Seite in ähnlichen Varianten äußerte, erweckte bei anderen Diplomaten den ebenso verfälschten Eindruck, die UdSSR sei nur zu einem imperialistischen Teilungsabkommen aufgefordert worden, habe aber ihre passive Politik fortgesetzt. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein, wie wir noch sehen werden.108 Was die Diplomaten begannen, setzten die Historiker fort. Während Ernst Topitsch Molotovs Berliner Äußerungen zum zentralen Dokument der russischen Langzeitstrategie und zu einem wesentlichen Grund für den späteren deutschen Angriff erhob,109 hatte Andreas Hillgruber in ihnen zwar ebenfalls den Ausdruck russischer Langzeitstrategie gesehen, hielt die Gespräche aber für politisch vergleichsweise weniger wichtig, da Hitler wie Stalin seiner Meinung nach beide eine axiomatische Politik verfolgten, beruhend auf gegenseitiger Geringschätzung, die solche diplomatischen Schachzüge überlagerte: „Die wechselseitige Unterschätzung des Gegenspielers gab auch den Gesprächen zwischen punkt in Dänemark fast vollständig und korrekt an, verlegte die Verhandlungen aber ins Frühjahr 1941. 105 Als die Verteidigung Ribbentrops das Gespräch darauf brachte, meldete sich wie üblich der Vorsitzende des Gerichtshofs mit der Bemerkung, dies sei irrelevant. Vgl. IMT, Bd. 10, S. 380. 106 Vgl. Gafencu, Vorspiel, S. 143. 107 So Gafencus Ausdruck über die Informationsquelle. Gemeint sein dürften damit Botschafter Schulenburg und Hilger, die Gafencu während des Kriegs wohl nicht nennen durfte, um sie nicht zu gefährden. 108 Allerdings hatte sich der Gesprächsinhalt doch herumgesprochen Ivan Krylov, der sich gegenüber dem türkischen Botschafter Haydar Aktay ebenfalls an der Version versuchte, in Berlin sei nicht über die Dardanellen gesprochen worden, erhielt zur Antwort, dies sei nicht wahr. Vgl. Krylov, Officer, S. 46 f. 109 Vgl. Topitsch, Krieg, S. 133 ff.
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Hitler und Molotov im November 1940 das entscheidende Gepräge“, meinte er.110 Nun wird gerade an diesen Passagen von Hillgrubers Studie der Mangel deutlich, nur mit axiomatischen Annahmen zu arbeiten und den damals auch schon vorliegenden Protokollen und den Berichten der Augenzeugen nicht wirklich Beachtung geschenkt zu haben. Augenzeugen wie Paul Schmidt oder Gustav Hilger berichteten von einem allerhöflichst bittenden Hitler,111 der sich von Molotov während der Gespräche in einem bis dahin von keinem Gast gehörten Tonfall mit Fragen und Forderungen überschütten sah, ohne einmal die Geduld zu verlieren.112 Immerhin, auch Hillgruber kam einige Seiten später zu dem Fazit, daß „die Enthüllung dieser (sowjetischen, d. Verf.) Fernziele auf den deutschen Gesprächspartner schockierend wirken“ mußte.113 Hitlers Ziel war einmal mehr das Kriegsende,114 wofür er die politische Unterstützung der UdSSR brauchte, um die in London verbreitete Annahme, man könne früher oder später die UdSSR auf der eigenen Seite in den Krieg ziehen, zuwiderlegen. „Englands Hoffnung“, wie er es nannte, war auf diese Art zu zerstören. Er brauchte also den oben erwähnten „Kontinentalblock“, den Beitritt der UdSSR zum frisch unterzeichneten Dreimächtepakt Japans, Deutschlands und Italiens, der die zerrissene Koalition erst zu einer wirklichen Größe machen würde. Es kann keine Rede davon sein, daß man die UdSSR in Berlin „unterschätzt“ habe, wie Hillgruber schreibt. Hitler wie Ribbentrop wußten um ihren politischen und strategischen Wert im gegenwärtigen Tauziehen um Europa und warben um sie. Zugleich waren sie sich bewußt, wie verhängnisvoll sich eine politische Kurskorrektur der UdSSR auf die deutsche Lage auswirken konnte. Entsprechend erwartungsvoll sah man Molotovs Aufenthalt entgegen, denn „was im Osten werden soll, ist eine offene Frage; die Verhältnisse können 110
Zit. n. Hillgruber, Strategie, S. 302. „Hitler war still und kompromißbereit.“ Vgl. BA-MA MSg 1/1425, S. 22, Aussage Hilger. 112 Vgl. Schmidt, Statist, S. 521 bzw. Hilger, Kreml, S. 302. Zum Verlauf der Gespräche vgl. auch die Aufzeichnungen Hasso v. Etzdorfs, in: PA/AA, Handakten Etzdorf, Vertrauliche Aufzeichnungen, Nr. III. 113 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 306 f. 114 Dieses Ziel ist vielfach belegt. Es gab zahlreiche Bemühungen um einen Kompromißfrieden mit den Westmächten, was ich u. a. in meiner Studie „Fünf plus Zwei – die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ nachgewiesen habe. Dort konnte ich auch zeigen, daß nach dem Sieg über Frankreich auf diplomatischen Kanälen ein solches konkretes Angebot gemacht wurde, nicht nur vor dem Reichstag, wie es in der historischen Literatur regelmäßig zu lesen ist. Völlig unverständlich, aber symptomatisch ist daher die Einschätzung Rolf-Dieter Müllers, Hitler habe in dieser Zeit „stets alles auf eine Karte gesetzt und bewußt alle Brücken hinter sich abgebrochen.“ Es waren die Westmächte, die jedes Angebot ungelesen zurückschickten und damit jede Brücke abbrachen. Vgl. Müller, Krieg, S. 35. 111
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uns dort zum Eingreifen zwingen, um einer gefährlicheren Entwicklung zuvorzukommen“.115 Molotovs Besuch sollte deutlich werden lassen, was von Moskauer Seite beabsichtigt war. Goebbels erwartete wenig und sah Molotovs Zurückhaltung: „Mittags Frühstück beim Führer für Molotov. In kleinem Kreise. Molotov macht einen klugen, verschmitzten Eindruck, ist sehr zugeknöpft, das Gesicht von einer wächsernen Gelbheit. Man bekommt kaum etwas aus ihm heraus. Er hört aufmerksam zu, mehr aber auch nicht. Auch beim Führer. Das Resultat der Besprechungen wird erst in einiger Zeit zum Vorschein kommen. Molotov ist so eine Art Vorposten von Stalin, von dem doch alles abhängt. Im Übrigen ist Rußland in einer außerordentlich günstigen Position, die es wohl kaum verlassen will. Jedenfalls genügt uns schon seine Neutralität.“116
Molotov wußte sich in der überlegenen und günstigen Position, die Goebbels hier andeutete. Er spielte diese Stärke mit der Kündigung des gerade vor einem Jahr geschlossenen Abkommens über die Interessensphären aus.117 Er tat dies ausdrücklich im Auftrag des Kremlchefs, denn „Stalin habe ihm genaue Weisungen erteilt, und alles, was er in der Folge mitteilen würde, sei mit der Ansicht Stalins identisch“, wie er zu Hitler sagte.118 Es mußte daher schon während der Abfassung von Hillgrubers Habilitationsschrift nicht „offenbleiben“, ob es sich vielleicht um eine „Fehlleistung“ Molotovs gehandelt haben könne.119 Erst recht gilt das nach dem Ende der UdSSR. Wie an so vielen Stellen hat auch hier der Zerfall der Sowjetunion neue Dokumente ans Tageslicht befördert, in diesem speziellen Punkt eine Quelle, von der man gar nicht vermuten konnte, daß es sie überhaupt gibt. Vjacˇeslav Molotov selbst hat handschriftliche Notizen darüber hinterlassen, was ihm Josef Stalin vor seiner Abreise für die Gespräche in Berlin aufgetragen hat. Der Inhalt ist spektakulär. Er ist der Beweis dafür, daß Stalin jetzt weit über den bisher in den Jahren 1939 und 1940 erreichten Gebietsgewinn hinausgehen wollte und zielstrebig auf die Sowjetisierung ganz Europas östlich Deutschlands hinarbeitete. Als Basis der gesamten Verhand115 So Hitler zu Fedor von Bock am Vorabend von Molotovs Ankunft. Vgl. Bock, Kriegstagebuch, S. 169, 11. November 1941. 116 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. S. 418, 14. November 1940. 117 Es verdreht Ursache und Wirkung, aus diesem Anlaß von einer „Abneigung“ Hitlers zu sprechen, „sowjetische Interessen in Europa anzuerkennen“, wie dies etwa Hilger tut. Die sowjetische Seite kündigte das bestehende Abkommen, erhob neue und weitergehende Forderungen. Sie erkannte damit die deutschen Interessen nicht mehr an. Vgl. Hilger, Kreml, S. 302. 118 Zit. n. ADAP, D, XI/1, Dok. 326, S. 460. 119 Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 406. Als unzutreffend ist daher auch Jürgen Försters Einschätzung einzustufen, es hätte sich nur um ein „taktisches Manöver“ gehandelt. Vgl. Förster, Entscheidung, S. 30.
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lungsstrategie sollte Molotov – nach Stalins Formulierung – davon ausgehen, daß das vor kaum mehr als einem Jahr geschlossene Abkommen aus dem Nichtangriffspakt über die Abgrenzung der Interessensphären zwischen Deutschland und der UdSSR „ausgeschöpft“ sei und „bei den Verhandlungen anstreben, daß der Interessensphäre der UdSSR folgendes zuzurechnen“ ist.120 Dann folgte eine Liste, auf der zu finden waren: – Finnland – die Donau – Rumänien – Ungarn – Bulgarien (Hauptfrage der Verhandlungen) – Türkei – Iran – Griechenland – Jugoslawien – der große und kleine Belt, Öresund, Kattegat und Skagerrak – Spitzbergen. Gleichzeitig sollte Molotov auch das russische Interesse an Polen zur Sprache bringen, aber nun wieder auf Basis des Abkommens von 1939. Dazu paßte es, daß unmittelbar vor seiner Abreise aus Moskau der Geheimdienstchef Berija dort bereits den Vorschlag unterbreitet hatte, aus polnischen Kriegsgefangenen einen Großverband zum Kampf gegen Deutschland aufzustellen.121 Es verging bis zur Realisierung dieses Vorschlags noch ein halbes Jahr, als im Rahmen der russischen Kriegsvorbereitungen und der propagandistischen Überlegungen darüber, wie der geplante Vormarsch durch Polen politisch nützlich gestaltet werden konnte, eine solche Einheit aufgestellt wurde.122 Die Moskauer Vorstellungen über die künftige Rolle Deutschlands ließen sich in Stalins Papier bereits im November deutlich ablesen. Zusammengefaßt hieß dies auf den ersten Blick nichts geringeres, als daß es eine deutsche Interessensphäre in Europa nicht mehr geben sollte. Deutschlands Einflußbereich reichte im Osten gerade bis Preßburg, alles andere sollte nach Stalins Vorstellungen der UdSSR zufallen. Sollten die Vereinigten Staaten gleichzeitig daran festhalten, den Rhein als „ihre Grenze“ 120
Vgl. Bezymenskij, Besuch, S. 114 f. Berija soll den Vorschlag am 2. November 1940 an Stalin übermittelt haben. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 11. 122 Am 4. Juni fiel dann die endgültige Entscheidung des Politbüros, eine solche Einheit aufzustellen Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 111. 121
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zu betrachten, wie Roosevelt dies im Januar 1939 einmal ausgedrückt hatte, dann blieb für ein Deutschland als eigenständigem Machtfaktor im internationalen Spiel buchstäblich kein Platz mehr. Was Molotov in Berlin zurückhaltend freundlich, dann wieder offen zynisch, immer aber unnachgiebig verlangte, war nicht weniger als eine strategische Kapitulation.123 In der Konsequenz hieß das nichts anderes, als daß der Angriff auf Rußland „im Rahmen des Gesamtkrieges in der Situation des Spätherbstes 1940 tatsächlich wohl unvermeidbar war, wenn Hitler nicht ‚kapitulieren‘ wollte.“124 Daß Molotov den eben erwähnten Aufgabenzettel umfassend abarbeitete und dies die deutsche Führung dauerhaft beschäftigte, bestätigt Ribbentrops Äußerung gegenüber Rumäniens Diktator Antonescu aus dem Jahr 1944: „Molotov (hätte) bei seiner Besprechung in Berlin unter vier Bedingungen dem Dreimächtepakt beitreten wollen: Es sollte Rußland freie Hand gegenüber Finnland, Rumänien, Bulgarien und in der Meerengenfrage gegeben werden. Der Führer habe das damals abgelehnt und diese Ablehnung sei wohl der tiefste Grund zum deutsch-russischen Krieg gewesen. Die Unterhaltung habe damals wenig angenehmen Charakter getragen, weil die Russen sehr aggressiv waren, zum Beispiel habe Molotov, als er mit ihm, dem RAM in dessen Luftschutzkeller eine Besprechung hatte, von Rußlands Bestrebungen in Richtung auf Kattegatt und Skagerrak, also den Ausgang in den westlichen Ozean gesprochen.“125
Bereits im Sommer 1940 war ein solcher Besuch Molotovs geplant gewesen. Er kam nicht zustande, möglicherweise wegen Sicherheitsfragen,126 wahrscheinlich aber wohl eher, weil die UdSSR zu diesem Zeitpunkt kurz nach der Niederlage Frankreichs kein so starkes politisches Signal geben wollte, das in London als Zeichen der Übereinstimmung mit Deutschland hätte gedeutet werden können und den Widerstand der Regierung Churchill möglicherweise hätte schwächen können. Dies stand im November 1941 nicht mehr zu erwarten. In den vergangenen Monaten war außerdem bereits deutlich geworden, und dies verstärkte die Brisanz dieser Formulierung, daß die UdSSR unter dem Begriff „Interessensphäre“ ganz konkret jene Länder und Regionen verstand, die besetzt und in die Sowjetunion einge123
Vgl. Scheil, Logik, S. 228. Hitler schob dies auch auf die Jahreszeit: „Von Oktober bis März wäre Deutschland gewissermaßen wehrlos jeder russischen Erpressung ausgesetzt. Das wüßte Stalin ganz genau. Daher sei auch der Sommer die Saison russischer Höflichkeit, während im Winter sich die russische Haltung ins Gegenteil verwandle.“ Zit. n. ADAP, D, XII/1, Dok. 208, S. 295, 25. März 1941, Gespräch Hitler-Ciano. Der gleiche Gedanke des Schwankens Winter-Sommer bereits beim Gespräch Hitler-Ciano am 19. Januar 1941. Vgl. BA-MA, N 431/262, Bl. 51. 124 Zit. n. Hillgruber, Strategie, S. 393. 125 Gesprächsaufzeichnung Ribbentrop-Antonescu vom 7. August 1944, hier zit. n. ADAP, E, VIII, Dok. 149, S. 279 f. 126 Nach William Shirer scheiterte er an der Diskussion über Fragen persönlicher Sicherheit der russischen Delegation. Vgl. Shirer, Tagebuch, S. 529 f. 9. November 1940.
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gliedert werden sollten. Alle Gebiete, die der UdSSR 1939 zugestanden worden waren, teilten zum Zeitpunkt des Molotov-Besuchs bereits dieses Schicksal. Die einzige Ausnahme Finnland sollte in Kürze folgen, daran ließ Molotov in Berlin keinen Zweifel. Deutsche Verträge mit der finnischen Regierung über die für Deutschland unverzichtbaren Nickellieferungen aus Finnland bezeichnete er schon jetzt als nichtig.127 Was den geplanten Krieg gegen Finnland anging, so war er zu keinem Kompromiß bereit, auch dann nicht, als der deutsche Reichskanzler während des Gespräch so in die Ecke gedrängt war, daß er nur noch um einen Aufschub der Angelegenheit bis nach Kriegsende bat. Wenn Molotov diese neuen, von Stalin formulierten Punkte jetzt wieder unter dem Stichwort „Interessensphäre“ in Berlin getreulich vortrug, dann bedeutete das nichts anderes als ein Eroberungsprogamm und konnte in den Augen der deutschen Regierung auch gar nichts anderes bedeuten,128 zumal die militärische Okkupation weiterhin ein bevorzugtes Mittel sowjetischer Politik blieb. Um demonstrativ zu zeigen, wie wertlos die deutsch-italienische Garantie für Rumänien war, fand man in Moskau eine Militäraktion für angemessen: Am 26. Oktober besetzte die Sowjetunion einige Inseln im rumänischen Donaudelta, so daß sie jetzt die Flußmündung kontrollieren konnte.129 Im unmittelbaren Vorfeld von Molotovs Ankunft unternommen, hätte dies im Prinzip zu einer Ausladung führen können. Jedoch fanden sich auch hier später wohlmeinende Interpreten: „Die Bindung Deutschlands im Krieg gegen Großbritannien hatte die Stalinsche Führung erst Ende Oktober 1940 dazu ermutigt, in der Frage der Kontrolle der Donauschiffahrt eine harte Position einzunehmen und ihrer Haltung durch die Besetzung der Kilia-Inseln Nachdruck zu verleihen. Dies geschah, obwohl es das außenpolitische Ziel des Stalin-Regimes war, jedem Sicherheitsrisiko für das eigene Land aus dem Weg zu gehen.“130
Es gibt wohl nichts, was Stalin getan hat, das nicht von willigen Historikern zum Teil einer Verteidigungsstrategie umgeschrieben worden wäre. In diesem Fall ist es die widerrechtliche Besetzung fremden Territoriums und der damit verbundene Bruch des Donauabkommens, die hier zum Gegenstand der Darstellung wird. Bereits im Vormonat war die UdSSR plötzlich mit Forderungen nach Auflösung der bestehenden Donaukommissionen 127 Am 8. Oktober 1940 waren im Außenministerium bereits Nachrichten eingetroffen, die UdSSR hätte den Druck auf Finnland erhöht und wolle die finnischen Verträge mit Deutschland kassieren. Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 162, S. 230. 128 Sehr unzuverlässig sind hier die Angaben Gustav Hilgers, der die sowjetischen Forderungen weitgehend verschweigt. Vgl. Hilger, Kreml, S. 302. 129 Diesen Bruch der Garantie übersieht Fabry, der nur von einem „Handstreich“ spricht. Vgl. Fabry, Beziehungen, S. 230. 130 Zit. n. Pietrow, Stalinismus, S. 212.
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– sie gehörte keiner dieser Kommissionen an131 – und Gründung einer einheitlichen neuen aufgetreten, aus der unter anderem England, Frankreich und Italien ausgeschlossen sein sollten. Das sollte nichts geringeres bedeuten als eine Revision der russischen Niederlage im beinahe einhundert Jahre zurückliegenden Krimkrieg, dies setzte Molotov dem deutschen Botschafter auseinander. In jedem Fall gefährdete die Militäraktion gegen die Donauinseln neben dem Affront gegen die deutsche Garantie Rumäniens ganz sachlich den deutschen Warenverkehr in Richtung Türkei. Wie wichtig die UdSSR ihre militärische Expansion nahm, wurde um so deutlicher, als Molotov in Berlin ausdrücklich jedes Abkommen zurückwies, das etwa die Durchfahrt durch die türkischen Meerengen zugunsten der UdSSR neu geregelt hätte und statt dessen auf „tatsächlichen“ Garantien, nämlich einer sowjetischen Militärpräsenz in der Türkei bestand.132 Dies war bereits der Inhalt des angeblich von Stafford Cripps an Stalin gemachten Angebots gewesen, das im Juli 1940 nach Berlin übermittelt wurde. Ganz Südosteuropa und mindestens der halbe Nahe Osten sollten demnach sowjetisch werden.133 Die Begründung für solche Forderungen ließ sich in bekanntem sowjetischen Stil aus einer vorgeschobenen Bedrohung ableiten. Dafür war kaum ein Vorwand zu weit hergeholt. Molotov behauptete später in Berlin beispielsweise auch, die englischen Truppen in Griechenland seien eine Bedrohung der UdSSR. Ebenfalls auf diesem Weg, einer angeblichen Bedrohung begegnen zu wollen, hatte Molotov seine Forderungen nach Expansion in Richtung Süden und Südwesten zeitig in Umlauf gebracht. Gegen die Türkei, so hatte Molotov bereits im Juni 1940 dem italienischen Botschafter Rosso erklärt, hege die Sowjetunion stärkstes Mißtrauen. Neben der Anlehnung dieses Staates an Großbritannien und Frankreich mißfalle der sowjetischen Regierung, daß die Türken eine dominierende Rolle im Schwarzen Meer spielen und die Meerengen allein beherrschen wollten. Zudem empfinde die UdSSR eine Bedrohung ihrer südlich von Batum, dem Erdölgebiet, gelegenen Region.134 Nun gab es diese Bedrohung tatsächlich, allerdings ging sie weniger von der Türkei selbst aus, als davon, daß dieses Land dem geplanten Überfall 131 Am 14. September legte Molotov dem deutschen Botschafter eine entsprechendes Forderung vor. Die Kommissionen waren nach dem Ersten Weltkrieg bzw. nach dem Krimkrieg geschaffen worden. Vgl. Gafencu, Vorspiel, S. 92 ff. 132 Hitler reagierte „augenscheinlich erstaunt auf Molotovs offene Demonstration des russischen Standpunkts“. BA-MA MSg 1/1425, S. 22, Aussage Hilger. 133 Im Fall der Türkei war dazu sogar eine völkische Begründung im Gespräch, denn wie Stalin – der Georgier – ausführte, lebten in der Türkei zwei Millionen weitere Georgier und überhaupt sei die Türkei weder eine nationale noch ethnische Einheit. 134 Zit. n. Pietrow, Stalinismus, S. 206.
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der Westmächte auf die sowjetische Ölproduktion wenig entgegen zu setzen hatte und deren Bombern den Überflug türkischen Territoriums wohl nicht verweigert hätte. Das war eine Formulierung Molotovs, die bereits die russischen Ansprüche auf die Region insgesamt und speziell auf die Türkei andeutete. Obwohl die türkische Regierung zweifellos das türkische Staatsgebiet „beherrschen“ wollte, zu dem nun einmal auch die Meerengen gehörten, konnte man dies schwer als eine Bedrohung anderer Länder oder gar der UdSSR auslegen. Auch wenn dies später zu den Dingen gehörte, die in der juristischen Aufarbeitung auf allgemeinen Wunsch der Alliierten vergessen werden sollten, gehörte der sowjetische Forderungskatalog im zweiten Halbjahr 1940 zu den offenen Geheimnissen des diplomatischen Markts. Churchills Sekretär notierte am 9. Juli 1940 lapidar: „Unterdessen scheinen sich die Russen mit den Türken wegen der Dardanellen anlegen zu wollen.“135 Hitlers späteres Angebot an Molotov über eine Ausweitung der sowjetischen Einflußzone nach Süden griff dessen eigene Äußerungen bis in die Einzelheiten der Formulierung hinein auf. An diesen Punkten wird das Selbstbewußtsein der stalinistischen Außenpolitik sichtbar, ebenso wie ihre Kurzsichtigkeit. Schon die nur noch als Bauernschläue zu bezeichnende Argumentation, mit der Stalin meinte, ohne den Nichtangriffspakt in Frage zu stellen, das Abkommen über die Interessensphären kündigen zunächst zu können,136 um sich im Fall Polens und besonders Finnlands dann doch wieder darauf zu berufen, kann nur Kopfschütteln hervorrufen.137 Besonders unverständlich war die Meinung, jenes Abkommen für hinfällig zu erklären zu können, ohne dabei gleichzeitig den Nichtangriffspakt, dessen Basis es doch gewesen war, zu beschädigen.138 Molotov selbst bezeichnete sogar einige Wochen später den veröffentlichten Teil des Nichtangriffspakts als vergleichsweise unbedeutend. Um das Abkommen richtig einzuschätzen, müsse man verstehen, daß sein „Wesen“ nicht in dem zum Ausdruck komme, was veröffentlicht worden sei, ließ er den japanischen Außenminister auf dessen 135
Zit. n. Colville, Tagebücher, S. 140, Eintrag 9. Juli 1940. Molotov stellte beim zweiten Gespräch mit Hitler klar, daß seine Bemerkung über die Erschöpfung des Abkommens von 1939 sich „nicht nur (sic) auf die deutsch-russische Vereinbarung selbst, sondern vor allem auch auf die Geheimprotokolle bezogen habe.“ Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 328, S. 462. 137 Die Kündigung des Abkommens wird in Standardwerken regelmäßig nicht berücksichtigt. Vgl. etwa die Schilderung des Molotov-Besuchs durch Jürgen Förster, in MGFA, Weltkrieg, Bd. IV, S. 30 f. Litvinov führt dies auf Molotov zurück, dessen Methoden er in seinen Memoiren mehrmals mit den von Bauernfängern auf einem ländlichen Markt vergleicht. Vgl. Litvinov, Memoiren, S. 283. 138 Stalin wies Molotov angeblich in einer zweiten Instruktion während der Verhandlungen extra darauf hin, diesen Unterschied gegenüber den Deutschen zu betonen. Das deutsche Protokoll gibt dies (s. o.) anders wieder. 136
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Durchreise durch Moskau nach Berlin wissen.139 Just diesen „wesentlichen Teil“ hatte er jedoch selbst für überholt erklärt. Wenn der Nichtangriffspakt als ein klassisches imperialistisches Teilungsabkommen in irgendeiner Form „Recht“ gesetzt haben sollte, dann konnte er nur in Kraft bleiben, indem seine Bestimmungen wenigstens von den beiden Seiten für gültig erachtet wurden, die ihn geschlossen hatten. Andere Staaten hatten dieses „Recht“ ohnehin nicht anerkannt. Ernst Topitsch hat die Meinung vertreten, das Vorgehen Molotovs sei kein „diplomatischer Schnitzer“ Stalins und Molotovs gewesen, sondern eine bewußte Provokation, um einen deutschen Angriff auf die UdSSR herbeizuführen. Das klingt nicht unplausibel, verfehlt aber wegen der offenbar ausschließlich offensiven Vorbereitung der Roten Armee ein wenig die Vorstellung der russischen Führung über den anvisierten Kriegsausbruch. Die Provokation sollte einen Krieg erzeugen, einen deutschen Angriff gedachte man jedoch vermeiden zu können. Im Licht des neugefundenen MolotovDokuments erscheint eine weitere Möglichkeit plausibel zu werden. Wohlwissend um seine strategische Überlegenheit und seine spektakulär überlegene Armee nahm Stalin auf den deutschen Gesprächspartner und die deutsche Militärmacht kaum noch Rücksicht. Er hatte sich seine Ziele neu gesetzt und war gewillt, sie zu erreichen, ob es den Deutschen nun paßte oder nicht.140 Molotov gab dies später implizit zu, als er sich an die Berliner Gespräche erinnerte und wie er Hitler zum Reden provoziert habe: „Ich zog ihn in das Gespräch, gab ihm die Gelegenheit, sich auszusprechen. Für mich war das keine ernsthafte Unterhaltung, aber Hitler fuhr immer weiter fort mit bombastischen Ausführungen, wie England zu liquidieren sei und die UdSSR ihren Weg durch den Iran nach Indien nehmen könnte.“141
Da nutzte es wenig, wenn Hitler alle Überredungskünste versuchte, um die UdSSR zu einem Abkommen zu bewegen: „Er wollte mich auf seine Seite ziehen, und beinah schaffte er es. (Molotov lächelte ironisch). Jeder drängte mich dort, wir sollten doch zusammenstehen, Deutschland und die Sowjetunion, wir sollten unsere Anstrengungen gegen England doch kombinieren.“142 139
Vgl. Slavinsky, Pact, S. 41. Von englischer Seite lagen entsprechende Angebote vor. Es ist daher richtig, wenn Fabry schreibt, Molotov sei „nicht als Bittsteller“ nach Berlin gereist. Vgl. Fabry, Beziehungen, S. 235. Allerdings, so Hillgruber, setzten diese Forderungen auch bereits Deutschlands Niederlage in gewisser Weise voraus und waren im Prinzip bereits gegen England gerichtet. Es scheint also plausibel, wenn sowjetische Offiziere im Sommer 1941 auch England als den Hauptfeind bezeichnet haben sollten. Vgl. BA-MA MSg 2/1285, S. 4, Aufzeichnung Helmdach. 141 Zit. n. Molotov, Politics, S. 15. 142 Zit. n. Molotov, Politics, S. 17. 140
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Seit 1939 war der sowjetische Einflußraum sehr sorgfältig erweitert worden, immer mit Blick auf die Kriegsereignisse. Zuletzt wurde die französische Niederlage gegen Deutschland im Sommer 1940 von der schnellen Okkupation der baltischen Länder und von Teilen Rumäniens begleitet, ganz offensichtlich in der Erwartung, es würde möglicherweise bald der Frieden ausbrechen und die Zeit für derartige Abenteuer ungünstig werden. Nun kämpfte England weiter, suchte aber Unterstützung. Seit dem Regierungsantritt Churchills am 10. Mai war Sir Stafford Cripps für eine Sondermission in der Sowjetunion im Gespräch gewesen, wofür er als ehemaliger Labourpolitiker des äußersten linken Flügels besonders geeignet schien und ganz besonders auch deswegen, weil ihn die Labourpartei ausgeschlossen hatte, als er schon im Vorjahr 1939 für eine „antifaschistische Front“ gemeinsam mit der UdSSR geworben hatte.143 Nach seiner Analyse sei die Ablehnung einer solchen Front in den westlichen Regierungen sogar für deren Kriegskurs von 1939 mit verantwortlich gewesen. In einer Rede in Chungking erklärte er, „Frankreich und Großbritannien haben es abgelehnt, das Friedensspiel zu spielen, weil es sie zu einer äußerst unwillkommenen Partnerschaft mit Rußland gezwungen hätte.“144 Mochte dies so gewesen sein oder nicht, es war eine riskante Entscheidung, einen Querdenker wie Cripps mit einer schwierigen diplomatischen Aufgabe zu betrauen.145 Man hatte dem frisch eingetroffenen Cripps in Moskau signalisiert, wenn er „gute Ware“ mitbringe, sei alles möglich. Denn Deutschland habe seine „Hauptaufgabe“, den Krieg zu beenden, nicht gelöst, hatte Molotov im Sommer richtig festgestellt. Einige Monate später war sie noch immer nicht gelöst, auch wenn die Führung in Berlin gegenüber Molotov diesen Eindruck zu erwecken versuchte. Der Krieg sei nicht aus, so lautete die russische Antwort, die sich in den Berliner Gesprächen in teilweise offenem Spott Molotovs über seine deutschen Gesprächspartner äußerte: „In seiner Erwiderung sagte Molotov, daß die deutsche Seite von dem Gedanken ausginge, der Krieg gegen England sei tatsächlich schon gewonnen. Wenn daher in einem anderen Zusammenhange davon gesprochen worden sei, daß Deutschland einen Krieg gegen England auf Leben und Tod führe, so könne er das nur so auffassen, daß ‚Deutschland auf Leben‘ und ‚England auf Tod‘ kämpfe.“146 143
Vgl. Gorodetsky, Täuschung, S. 42 f. Zit. n. Estorick, Cripps, S. 247, Rede von Cripps im Februar 1940. 145 In einem Artikel in der „Tribune“ hatte Cripps im Oktober 1939 die Auflösung sämtlicher Kolonialreiche inklusive des Empire in einem gemeinsamen Pool gefordert, aus dem sich alle Industriestaaten einschließlich Deutschlands bedienen könnten. Premier Chamberlain winkte in einem Dankesbrief höflich ab. Vgl. Estorick, Cripps, S. 185. 146 Zit. n. ADAP, D, XI/1, Dok. 329, S. 478. 144
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Überhaupt sei er den englischen Bombenfliegern über Berlin nicht böse, die für solche Gespräche doch erst die richtige Atmosphäre schaffen würden.147 Es war diese Mentalität, die Stalin ein paar Monate später den antideutschen Putsch in Jugoslawien fördern und mit der Putschistenregierung sofort einen Beistandspakt abschließen ließ. „Und wenn die Deutschen sich über euch ärgern und euch angreifen?“, fragte der jugoslawische Gesandte Gavrilovic´ ihn besorgt: „Sie sollen nur kommen“, antwortete Stalin erheitert.148 Auch Molotov lachte nur lakonisch, als Gavrilovic´ ihn auf dieses Thema ansprach: „Wir sind bereit.“149 In diesem Sinn arbeitete auch die sowjetische Botschaft, denn Dekanozov ließ nicht nur von seinem treuen Mitarbeiter Semjonov für alle Fälle die Sowjetisierung Deutschlands vorbereiten, sondern hatte eine Fülle weiterer Aufgaben mitgebracht. Als überzeugter Stalinist konnte Semjonov in seinen Memoiren nicht ausdrücklich einen geplanten Angriff auf Deutschland schildern und damit das bestätigen, was die „Faschisten“ immer gesagt hatten. Aber er ging so weit er konnte, um Stalin zu rechtfertigen und die Legende zu widerlegen, dieser wäre vom deutschen Angriff wirklich überrascht gewesen. Dekanozov genoß das Vertrauen Stalins und informierte ihn umfassend: „Er (d.h. Dekanozov, d. Verf.) führte eine neue Art von Informationsberichten ein, so z. B. über die Methoden zur Tarnung von Gebäuden, Verkehrsmitteln, Industrieanlagen usw. . . . Diese Berichte unterzeichnete der Botschafter selbst. . . . Viele Materialien wurden nach diesen Mustern in sowjetischen Betrieben kopiert und produziert. . . . Die Intensität, mit der die Botschaft sich diesen Aufgaben widmete, zeigt, daß sie von Stalin persönlich ausgingen und die sowjetische Führung keinen Zweifel daran hatte, daß Hitler den Nichtangriffspakt brechen würde und eine Aggression gegen die Sowjetunion vorbereitete. Wie heute bekannt ist, kamen die meisten Nachrichten über die Kriegsvorbereitungen des Reiches von der sowjetischen Botschaft in Berlin. Berija, der im NKWD unmittelbarer Vorgesetzter Dekanozovs war, forderte im Mai 1941, diesen aus Berlin abzuberufen, weil er ‚Desinformationen‘ über einen geplanten Überfall Deutschlands auf die UdSSR verbreite. Stalin teilte diese Meinung Berijas jedoch nicht, und Dekanozov erfreute sich während des ganzen Krieges seines persönlichen Wohlwollens.“150
Man muß dies mehrfach lesen, um auch alles zu erfassen, was hier zwischen den Zeilen gesagt wird. Stalin persönlich hatte also Dekanozov nach Berlin geschickt, um einen deutsch-russischen Krieg detailliert vorzuberei147 Ebd. ADAP, D, XI/1, Dok. 329, S. 478. Das Gespräch zwischen Ribbentrop und Molotov mußte wegen eines Bombenangriffs im Bunker stattfinden. 148 Zit. n. Gafencu, Vorspiel, S. 199, vgl. auch Topitsch, Krieg, S. 146. 149 Vgl. Barros, Deception, S. 76. 150 Zit. n. Semjonov, Mission, S. 98.
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ten.151 Er glaubte Dekanozovs Berichten über den bevorstehenden Krieg, und er förderte ihn auch nach dem deutschen Angriff, war also mit dessen Arbeit in der sowjetischen Botschaft von Berlin durchaus zufrieden. Aus all dem geht einmal mehr hervor, daß die Sowjets sich gezielt auf diese Auseinandersetzung vorbereiteten und auch von der Art des Ausbruchs der Kampfhandlungen nicht wirklich überrascht wurden. Stalin reagierte in der Nacht des 22. Juni 1941 nicht mit einem Nervenzusammenbruch, wie es die Legende wissen will, sondern zwar verärgert, aber durchaus beherrscht, wie inzwischen bekannt ist. Wohl hatte man sich in Moskau um einige Tage verschätzt, da man sich nicht vorstellen konnte, es würde vorher überhaupt kein deutsches Ultimatum, keine Forderungen oder sonstiges geben. Auf diese Weise gelang der deutschen Armee eine gewisse Überraschung. Aber auf den Krieg selbst war man gut vorbereitet und wußte sich dem Gegner weit überlegen. Von dieser Einsicht aus erschließt sich auch die Behandlung zweier weiterer Punkte von Molotovs Niederschrift, die in Zusammenhang mit dieser Studie besonders interessant sind. Stalin gab als Punkt sechs vor: „Sagen, daß man uns von den über Roosevelt gemachten Friedensvorschlägen Deutschlands an England berichtet hat. Entspricht das der Wirklichkeit und wie ist die Antwort?
Punkt zehn enthielt etwas für Deutschland vielversprechendes, genaugenommen stellte er sogar die Unterstützung der UdSSR für einige wesentliche Ziele Deutschlands in Aussicht: „Eine Friedensaktion in Form einer offenen Deklaration der vier Mächte (wenn ein günstiger Verlauf der Hauptverhandlungen: Bulgarien, Türkei usw. klar wird) vorschlagen, mit der Bedingung der Erhaltung des Großbritischen Reiches (ohne Mandats-Territorien), mit allen Besitzungen, die England heute hat, unter Voraussetzung der Nichteinmischung in die europäischen Belange und des sofortigen Abzugs aus Gibraltar und Ägypten, wie auch der Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe der früheren deutschen Kolonien.“152
Da war im letzten Punkt nun exakt beschrieben und in Aussicht gestellt, was Hitler eigentlich von der UdSSR haben wollte: den Beitritt zum Dreimächtepakt von Deutschland, Italien und Japan, um einen Kontinentalblock der „vier Mächte“ zu kreieren, die politische Unterstützung, um einen Frieden mit Großbritannien zu erzwingen, eine Garantie des britischen Empire, dessen Zerfall aus nationalsozialistischer Sicht besser verhindert werden sollte und ein dauerhafter politischer Rückzug der Engländer vom Konti151 Kurz vor der Reise nach Berlin wurde Dekanozov auch sichtbar in der KremlHierarchie nach vorne gerückt, als der bei den Feiern zur Oktoberrevolution am 7. November auf der Tribüne einen Platz neben Stalin und Molotov bekam. Vgl. Sommer, Memorandum, S. 71. 152 Zit. n. Bezymenskij, Besuch, S. 116.
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nent. Es wäre aus Hitlers Sicht ein prächtiges Angebot gewesen. Allerdings hatte es den entscheidenden Fehler, niemals gemacht zu werden, denn Molotov erwähnte bei seinem Berliner Besuch nichts dergleichen, nicht einmal, als Ribbentrop ihm ein nicht ganz unähnliches Angebot machte: „Der Reichsaußenminister (gab) Herrn Molotov den Inhalt des von ihm skizzierten Abkommens bekannt: ... In dem Dreimächtepakt vom 27.9.1940 haben Deutschland, Italien und Japan vereinbart, der Ausdehnung des Krieges . . . entgegenzutreten. Die Sowjetunion erklärt sich mit dieser Zielsetzung solidarisch und ist ihrerseits entschlossen, mit den drei Mächten auf dieser Linie zusammenzuarbeiten. ... Das Abkommen selbst würde der Öffentlichkeit bekanntgegeben werden. Darüber hinaus könnte . . . eine vertrauliche (geheime) Abmachung . . . über die Festlegung der Schwerpunkte der territorialen Aspirationen der vier Staaten getroffen werden. Was Deutschland betreffe, so läge, abgesehen von den beim Friedensschluß durchzuführenden europäischen territorialen Revisionen, der Schwerpunkt seiner territorialen Aspirationen im mittelafrikanischen Raum. Der Schwerpunkt der territorialen Aspirationen Italiens liege, abgesehen von den beim Friedensschluß durchzuführenden europäischen territorialen Revisionen, in Nord- und Nordostafrika. Die Aspirationen Japans müßten noch diplomatisch geklärt werden. Der Schwerpunkt der territorialen Aspirationen der Sowjetunion würde vermutlich im Süden des Staatsgebietes der Sowjetunion in Richtung des indischen Ozeans liegen.“153
Dazu bot Ribbentrop noch freie Durchfahrt durch die türkischen Meerengen, exklusiv für sowjetische Schiffe, also etwas, was Großbritannien noch nie zugestanden hatte und eine Art Kondominium der drei europäischen Mächte über die Türkei. Er warb noch einmal ausdrücklich für einen japanisch-russischen Nichtangriffspakt, Ribbentrop sprach sogar die umstrittenen japanischen Kohlenkonzessionen auf der Halbinsel Sachalin an und wollte sie nach den bekannten russischen Wünschen geändert sehen. Also Mittelafrika für Deutschland, Nordafrika für Italien, Status quo für den europäischen Raum nach dem bereits erzielten Ausgleich der Interessensphären und eine privilegierte russische Position gegenüber der Türkei, der Nahe Osten dagegen ganz für die UdSSR, so stellte sich der deutsche Außenminister die Zukunft vor. Das stellte vom Zuschnitt her ein imperialistisches Abkommen dar, wie es auch Stalin gegenüber Molotov skizziert hatte. Ein Abkommen, mit dem der gegenwärtige Krieg möglicherweise zu beenden war. Einig war man sich auch in dem allgemeinen Bemühen, die 153
Zit. n. ADAP, D, XI/1, Dok. 329, S. 473 f.
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USA aus Europa herauszuhalten – das war eine der wenigen Stellen der Unterhaltung, an der Molotov seinen deutschen Gesprächspartnern lebhaft zustimmte – und das britische Empire eher zu konservieren als zu vernichten. Aber Molotov ging, wie bereits angedeutet, nicht aus sich heraus. Er griff Ribbentrops Angebot nicht auf, um es etwa vorsichtig im Sinn Stalins zu ergänzen und beantwortete den Vortrag des deutschen Außenministers nur mit einem erneuten Schwall von Fragen, der keinen Zweifel daran ließ, daß die Deutschen ihren gesamten Einfluß in Europa preiszugeben hatten. Die Kompensation dieses Verzichts durch ein Abkommen kam nicht zur Sprache. Dies ist nicht die Verhandlungsmethode, die zum Erfolg eines Gesprächs unter Gleichen führen kann. Wohl noch nie hat jemand einen respektierten Partner kompromißlos zur Aufgabe der eigenen Position gezwungen, um dann nach dessen Kapitulation plötzlich aus freien Stücken etwas anzubieten, was bei Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe längst erreichbar gewesen wäre. Dekanozov soll sich im nachhinein bei Stalin über Molotovs provokantes Verhalten in Berlin beschwert haben, das „aus einem einfachen Meinungsaustausch einen heftigen Konflikt“ werden ließ. Er hätte Stalin gegenüber sein „Erstaunen darüber ausgedrückt“, daß ein intelligenter Mensch so einen Fehler begehen könnte. Stalin, der nach dieser Ansprache wohl schlecht zugeben konnte, daß Molotovs Verhalten auf seine persönliche Anweisung zurückging, habe den „Mund verzogen“ und etwas von Molotovs „stupider Intelligenz“ gesagt.154 Stalin und Molotov wußten jedoch, was sie taten. Sie provozierten mit Absicht. Nach dem Gespräch mit Hitler berichtete Molotov auf Stalins Frage, daß der Reichskanzler dabei zwar ins Schlucken kam, aber doch weiter auf Höflichkeit bedacht blieb: „Ja, er hatte einiges hinzunehmen. Er sprach aber mit einer ruhigen Stimme, er fluchte nicht. Er versuchte zu überzeugen.“155
Insofern war die Provokation für den Augenblick gescheitert. Zwar blieben keine Fragen über den aggressiven Charakter der sowjetischen Außenpolitik mehr offen und auch nicht darüber, daß in der Vorstellungswelt der Moskauer Entscheidungsträger nicht im geringsten auf deutsche Interessen Rücksicht genommen werden sollte. Ein besonderes provokantes Signal stellte zweifellos die Forderung nach Stützpunkten in Dänemark dar.156 Auch bei großzügigster Auslegung war sie nicht mit den regelmäßig be154
Vgl. Litvinov, Memoiren, S. 274. Zit. n. Molotov, Politics, S. 18. 156 Ein Jahr später wurde sie von der Sowjetunion auch gegenüber England erhoben, u. a. zusammen mit erneuten Forderungen nach Stützpunkten in den Dardanellen und der kompletten Sowjetisierung der Donaumündung. Vgl. Laufer, Dokumente, I, S. 32, Entwurf eines Abkommens mit Großbritannien vom 18. Dezember 1941. 155
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haupteten „Sicherheitsinteressen“ der UdSSR zu begründen, zumal das Land von Truppen des Vertragspartners Deutschland kontrolliert wurde. Ein wirtschaftlicher Hintergrund blieb nicht zu erkennen, Rohstoffe wie das finnische Nickel fehlten als Grund, historische Ansprüche Rußlands gab es dort so wenig wie „slawische Brüder“, die es wie im Osten der polnischen Vorkriegsrepublik zu befreien gelten könnte. Hier offenbarte sich in Reinform das Molotovsche Prinzip, die eigenen Grenzen schlicht bis zum Maximum auszudehnen.157 Bleibt die Frage des deutschen Friedensangebots, das nach Stalins Informationen über den amerikanischen Präsidenten an England ergangen sein sollte. Wie oben gesagt, hatte Molotov herausfinden sollen, wie die englische Antwort gelautet hatte. Wie an manch anderer Stelle, so überlagerten sich offenbar auch hier die gegenseitigen Desinformationen. Stalin hatte aus origineller Quelle von diesen Friedensangeboten erfahren, und hätte er den Hintergrund dieser Informationen gekannt, so hätte er allein daraus bereits schließen können, wie die Antwort lautete. Hoch erfreut über diese deutschen Schwächezeichen und wie immer weit entfernt davon, dies als Friedenschance zu ergreifen, hatte niemand anderer als die englische Regierung selbst die über Burckhardt und Hohenlohe erhaltenen Friedenssignale nach Moskau durchsickern lassen.158 Der Gedanke im Hintergrund bestand darin, Stalin die deutsche Schwäche zu verdeutlichen und damit die Verhandlungsposition des Reichs gegenüber der UdSSR zu schwächen. Wie verhängnisvoll es sein kann, gegenüber einem entschlossenen Gegner Friedensbereitschaft erkennen zu lassen, zeigte sich hier. Was als Ansatz zur Verständigung gemeint war, wurde ein Mittel im machtpolitischen Spiel. Entsprechend der allgemeinen Linie der englischen Außenpolitik, in den Vereinigten Staaten ein besonders düsteres Bild der englischen Lage und außerdem einen völlig übertriebenen Eindruck der deutschen Stärke zu erwecken, in Moskau dagegen den gegenteiligen Eindruck, blieb die Nachrichtenübermittlung einseitig. Ob man denn nicht auch den amerikanischen Präsidenten mit den deutschen Avancen vertraut machen sollte, fragte Sir Orme Sargent bei Unterstaatssekretär Cadogan an. Cadogan lehnte ab.159 Der amerikanische Präsident blieb seiner Meinung nach besser uninformiert. Das läßt sich als späte Nachwirkung der Affären einige Monate früher deuten, als Roosevelt die britische Kriegspolitik mit der Europareise seines stellvertretenden Außenminister Sumner Welles und einer nachfolgenden Friedensinitiative in große Verlegenheit gebracht hatte. Die West157 Apologeten der stalinschen Außenpolitik wie Hans v. Herwarth oder Gabriel Gorodetsky erwähnen diese Forderungen nicht. Vgl. Herwarth, Zeitgeschichte, S. 210 sowie Gorodetsky, Täuschung, S. 107. 158 Vgl. Martin, Friedensinitiativen, S. 329. 159 Vgl. PRO FO C 8974/89/18, bzw. Martin, Friedensinitiativen, S. 329.
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mächte hatten nach den Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten öffentlich auf eine Vernichtungspolitik gegen Deutschland verzichten und sich zudem auf Standards des internationalen zwischenstaatlichen Umgangs festlegen sollen, wie man sie sich in Washington seit längeren wünschte.160 Daraus wurde im März 1940 aufgrund des Zutrauens in die eigene Strategie der Westmächte nichts. Aber auch trotz der eindrucksvollen Erfahrung inzwischen stattgefundenen Niederlage Frankreichs glaubten etliche entscheidende Personen in London dennoch zuversichtlich, weiterhin sowohl die amerikanische wie die sowjetrussische Politik so weit manipulieren zu können, daß amerikanisches Geld und sowjetisches Militär dem englischen Gesamtziel ohne bedeutende Gegenleistung zu Diensten sein würde. Am Ende konnte dann die erwünschte deutsche Niederlage stehen, eine Vision, die wohl die wichtigste Klammer stellte, die der aktuellen Politik der Regierung Churchill im Jahr 1940 den Zusammenhalt gab. So informierte und verschwieg man die eigenen Informationen weiterhin nach Gutdünken. Es muß eine große Enttäuschung für Winston Churchill gewesen sein, als die amerikanische Regierung 1945 die nächste nötige Drehung nicht mehr nachvollzog, um das Konzept aufgehen zu lassen. Man hatte in Washington beschlossen, sich den Kontinent mehr oder weniger mit den Sowjets zu teilen. Als Churchill daher im Mai 1945 auf den damaligen amerikanischen Botschafter in Moskau, Joseph Davies einredete, Stalin könnte Mitteleuropa womöglich gewissermaßen schlucken, und betonte, wie wichtig eine geeinte anglo-amerikanische Frontstellung gegen die UdSSR sei, sah er sich zurechtgewiesen. Davies machte sich über die Größenordnung der sowjetischen Militärmacht tatsächlich wenig Illusionen. Er wußte bereits vor dem Beginn des deutschen Rußlandfeldzugs, daß auch Hitler die UdSSR für eine schwer einzuschätzende, aber mit konventionellen militärischen Mitteln kaum endgültig zu besiegende Macht hielt.161 Nun war er 1945 weit davon entfernt, sich gegenüber Churchills Avancen aufgeschlossen zu zeigen. Er reagierte mit Spott. Es sei vielleicht „von ihm (Churchill) und Großbritannien ein Fehler gewesen, Hitler nicht zu unterstützen; denn soweit ich richtig verstanden habe, legte er jetzt dieselbe Doktrin dar, die Hitler und Goebbels in den vergangenen vier Jahren verkündet und ständig wiederholt haben, um die Geschlossenheit der Alliierten aufzubrechen.“162 160 Im Anschluß an die Sumner Welles Reise und noch vor der englischen Landung in Norwegen hatte Roosevelt diesen Vorschlag gemacht, der unter anderem eine Erklärung der Alliierten vorsah, „Sicherheit in bezug auf die nationale Einheit und die Existenz aller Nationen zu garantieren, ob groß oder klein und einschließlich Deutschlands“. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 417 ff. 161 Zit. n. Davies, Botschafter, S. 333, 6. September 1938. 162 Zit. n. Kissinger, Vernunft, S. 459 f.
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Die einzige Chance, eine Teilung Europas durch die beiden Weltmächte zu verhindern und insbesondere die Sowjetunion aus Mitteleuropa entfernt zu halten, hatte Churchill in der Tat höchstpersönlich verbaut, als der 1940 auf bedingungslose Eskalation des Krieges setzte, statt sich auf den Weg einer Verhandlungslösung zu begeben. Der amerikanische Präsident war aber inzwischen selbst im eigenen Land mit einer ganz anderen Affäre konfrontiert. Was deutsche Friedensanbahnungen in den USA betrifft, so gibt es eine weitere interessante Episode, die in der Tat wenige Wochen vor dem Berliner Gipfelgespräch stattgefunden hat. d) Amerikanische Verbindungen „Ich fürchte sehr, daß wir jetzt von Hitler ein Friedensangebot bekommen werden, das wir unserer Bevölkerung nicht leicht werden ausreden können.“163 Harold Nicolson, 26. Oktober 1940
Der deutsche Generalkonsul in den USA und frühere Adjutant Hitlers, Fritz Wiedemann, hatte Kontakt mit Sir William Wiseman aufgenommen, einem hohen Beamten des britischen Geheimdiensts.164 Man traf sich mehrmals, zuerst am 1. Oktober 1940. Wiedemann erklärte seine Bereitschaft, zur britisch-deutschen Aussöhnung beizutragen und berief sich auf „einflußreiche Persönlichkeiten“ in Deutschland.165 Wiedemann, der ohnehin in dem Ruf stand, „geheime Aufträge zu haben“,166 ließ dann am 7. Oktober 1940 bei Wiseman anfragen, „wie drastisch England die Deutschen im Fall einer Niederlage behandeln würde“.167 Dies war nichts anderes als ein weiterer Versuch, mit der englischen Regierung ins Gespräch zu kommen und irgendwie herauszufinden, zu welchen Bedingungen ein Kompromißfriede möglich sei. Das Duo Wiedemann und die mitbeteiligte Stefanie von Hohenlohe-Waldenburg168 stellten Wiseman in Aussicht, den Kontakt in die deutsche Führung herstellen und einen Frieden mit Hitler vermitteln zu können.169 Wiseman, Wiedemann und Hohenlohe trafen schließlich am 163
Zit. n. Nicolson, Tagebücher, S. 411, 26. Oktober 1940. Während des Ersten Weltkriegs war Wiseman Chef des britischen Geheimdiensts in den USA gewesen und nun auch insofern eine gute Adresse, da er persönlichen Kontakt zu William Donovan hatte. Vgl. Cave Brown, Hero, S. 163. 165 Vgl. Stoiber, Hohenlohe, S. 13 f. 166 Vgl. ADAP, D, IX, Dok. 475, 18. Juni 1940. Bericht Thomsen an AA. 167 Zit. n. Ribbentrop, Kriegsschuld, S. 120. 168 Als Stephanie Richter geboren und wegen ihrer Herkunft nach den Nürnberger Rassegesetzen Volljüdin, machte die spätere Prinzessin v. Hohenlohe zweifellos eine der ungewöhnlichsten Karrieren des dritten Reichs. Sie etablierte sich im persönlichen Umfeld Hitlers, bevor eine Affäre mit dessen damaligem Adjutanten Wiedemann sie 1939 in Ungnade fallen ließ. 164
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27. November 1940 in San Franzisko zusammen. Sorgfältig überwacht und vollständig aufgezeichnet wurde das Gespräch vom FBI.170 Über Wiseman führte ein direkter Draht zum englischen Botschafter in Washington. Lord Lothian war bereits im vergangenen Sommer der Adressat eines deutschen Angebots gewesen und hatte es positiv aufgenommen. Damals hatte er gegen das Verbot der eigenen Regierung verstoßen, sich über deutscheFriedensbedingungen überhaupt zu informieren. Wenn es eine Friedenspartei in der englischen Regierung gab, dann war sie hier zu finden. Auch im September bemühte sich Lothian über Wiseman als Verbindungsmann weiterhin um Kontakte zu Deutschland. Mit dem Industriellen Mooney wurde abgesprochen, über den Vatikan eine Initiative zu starten, die sich parallel an Deutschland und Großbritannien richten sollte.171 Mit diesem Versuch, die eigene Regierung durch den Umweg über Dritte zu einer Rücknahme ihrer „Politik der absoluten Stille“ zu bewegen, wagte sich Lothian erneut weit vor Im November reiste Lothian nach Europa, wo er am 16. des Monats in Lissabon mit Hoare zusammentraf.172 Darauf kursierten Friedensgerüchte,173 zumal Wiseman parallel dazu erneut Kontakt zu Mooney aufnahm. Das war auch darauf zurückzuführen, daß Hoare selbst erst zwei Tage vorher ein konkretes Angebot aus Deutschland bekommen hatte, von dem gleich die Rede sein wird. Wiseman jedoch fiel in Ungnade und sah sich spätestens nach Lothians plötzlichem Tod174 mit persönlichen Konsequenzen konfrontiert. Konnte er sich noch Ende November darauf berufen, für eine Gruppe Engländer zu sprechen, die ein befriedigendes Friedensabkommen zwischen Deutschland und England für möglich hielten,175 so brach mit Lothian die 169
Vgl. Schad, Spionin, S. 151 f. Vgl. Stoiber, Hohenlohe, S. 14. Stephanie v. Hohenlohe genoß den unverdienten Ruf, am Zustandekommen des Münchener Abkommens beteiligt gewesen zu sein. Vgl. Schad, Spionin, S. 197 f. Wohl auch deshalb beschäftigte ihr Aufenthalt in den USA die höchsten Stellen, nicht nur das FBI und dessen Chef Hoover, sondern auch Finanzminister Morgenthau und schließlich gar den Präsidenten selbst. Roosevelt verlangte 1942 mehrfach persönlich ihre Ausweisung. Vgl. Schad, Spionin, S. 279. 171 Vgl. Costello, Days, S. 399. 172 Vgl. Martin, Friedensinitiativen, S. 359. Hoare gibt in seinen Memoiren an, Lothian bei diesem Treffen hauptsächlich zu einem stärkeren Eingreifen der USA auf der iberischen Halbinsel gedrängt zu haben. Vgl. Hoare, Mission, S. 151. 173 Ebd. Martin, Friedensinitiativen, S. 359, der als Quelle die Berichte des britischen Gesandten in Lissabon und seines deutschen Kollegen angibt. Vgl. PRO FO C 12803/89/18 bzw. St. S. England: Telegramm Huene-AA, Nr. 1483 vom 16. November 1940. 174 Er starb am 12. Dezember 1940. 175 So die Aufzeichnung des FBI. Vgl. Costello, Days, S. 401. 170
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Hauptstütze dieser Gruppe weg. Er war es gewesen, der die deutschen Friedensbedingungen als „überaus befriedigend“ eingestuft hatte.176 Finanzminister Morgenthau fragte Ende Dezember bei seinem Kabinettskollegen, demJustizminister an, ob Wiseman ausgewiesen werden könnte. Der hieß damals noch Robert Jackson, der spätere Chefankläger des Nürnberger Prozesses und sagte dies zu. Bereits am 13. Dezember bat Wiseman deshalb Wiedemann, den Kontakt zu ihm unter allen Umständen zu dementieren.177 Damit hatte diese Affäre ein Ende, so weit es Wiseman betraf. Hoare hatte jedoch, wie bereits gesagt, zwei Tage vorher ein weiteres Angebot erhalten, eines von bedeutenderem Gewicht. Der in Madrid residierende päpstliche Nuntius hatte ihn persönlich aufgesucht und eine Botschaft der deutschen Regierung überbracht. Einmal mehr betonte diese Regierung in ihrer Nachricht, sie sei zu einem Frieden bereit. Einmal mehr wurde von Deutschland zu diesem Zweck die Räumung Westeuropas angeboten, die Wiederherstellung eines polnischen Staates, wobei der sowjetisch besetzte Teil sowjetisch bleiben sollte. Sogar von Schadenersatz für Kriegsschäden war die Rede. Während Molotov einen Tag vorher in Berlin de facto eine Selbstaufgabe Deutschlands gefordert hatte, zeigte dieses Dokument, daß die deutsche Führung unverändert um ihre strategische Schwäche wußte und um beinah jeden Preis die Eskalation des Krieges vermeiden wollte, die von England angestrebt wurde und der UdSSR entweder die von Molotov geforderten Preise in die Hände spielen würde, oder einen militärischen Konflikt mit ihr unausweichlich werden lassen würde. Der Nuntius brachte im Namen der deutschen Regierung umfassende Vorschläge: 1. Ein vertrauliches Treffen so bald wie möglich in der Schweiz mit Vertretern, die befugt seien zu verhandeln, um für einen späteren Zeitpunkt eine formelle Konferenz zu arrangieren. 2. Sobald man über die Einzelheiten der Konferenz Übereinstimmung erzielt habe, solle ein Treffen zwischen den Parteien stattfinden, um über Polen, Garantien, Nichtangriffspakte, Abrüstung, Kolonien, Grenzen. Bevölkerungstransfers und ein Ende der Feindseligkeiten zu verhandeln. Die Ansichten der deutschen Regierung bezüglich der unter Punkt zwei angesprochenen Probleme seien folgende: Die Verhandlungsparteien sollten sich auf neutralem Gebiet unter der Vermittlung eines neutralen Staates wie der Schweiz oder der Vereinigten Staaten von Amerika treffen. 176
Ebd. Nicolson, Tagebücher, S. 399. Hitler hatte, wie bereits gesagt, die vom Auswärtigen Amt erarbeiteten konkreten Bedingungen aus seiner öffentlichen Rede gestrichen. Es dürften diese Bedingungen gewesen sein, die Lothian über seinen Kontakt zur deutschen Botschaft erhalten hatte. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 486 ff. 177 Vgl. Schad, Spionin, S. 36.
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Norwegen, Dänemark, Holland, Belgien und Frankreich würden wieder unabhängige freie Staaten werden, die in der Lage sind, ihre eigene Verfassung und Regierung zu wählen; es muß aber eine Opposition gegen Deutschland ausgeschlossen und die Versicherung gegeben werden, daß von Vergeltung abgesehen wird. Deutschland wird seine Streitkräfte zurückziehen und von diesen Ländern keine militärischen Zugeständnisse einfordern und es ist bereit, über eine Art von Reparation für die Schäden zu verhandeln, die den Ländern während der Eroberung zugefügt wurden. Alle Angriffswaffen werden zerstört und danach werden die bewaffneten Streitkräfte auf ein Maß zurückgeführt, das den wirtschaftlichen und strategischen Erfordernissen eines jeden Landes entspricht. Die deutsche Forderung nach Rückgabe seiner früheren Kolonien beinhaltet keine anderen territorialen Ansprüche. Südwestafrika wird nicht zurückgefordert. Deutschland zieht die Ausgleichszahlung für Verbesserungen in Erwägung, die in den Kolonien seit 1918 erfolgt sind, sowie den Ankauf von Grundeigentum seiner jetzigen Eigentümer, die den Wunsch äußern, auszuwandern. Die politische Unabhängigkeit und die nationale Identität eines polnischen Staates werden wiederhergestellt, aber das von der Sowjetunion besetzte Gebiet ist von diesen Verhandlungen ausgeschlossen. Die Tschechoslowakei wird nicht daran gehindert werden, ihren Nationalcharakter weiterzuentwickeln, aber sie verbleibt unter dem Protektorat des Reiches. Eine Art wirtschaftlicher Stabilität sollte für ein Groß-Europa in Erwägung gezogen werden, und die Lösung wichtiger Wirtschaftsfragen sollte durch Verhandlungen und nationale, europaweite Übereinkünfte gelöst werden.“178
Darin war ein kompletter Ansatz dessen enthalten, was in den Monaten und Jahren zuvor diskutiert worden war. Ein Element der inzwischen entwickelten nationalsozialistischen Ansätze einer europäischen Großordnung in wirtschaftlicher Hinsicht und in völkerrechtlichen Aspekten fehlte sowenig wie der Verweis auf die Abrüstungszwänge hinsichtlich Angriffswaffen, die Bestandsgarantie für den sowjetisch okkupierten Teil Polens als Zugeständnis an die UdSSR, die Wiederherstellung eines polnischen Staates, vor allem aber der Rückzug aus Westeuropa, der bereits im Sommer 1940 Gesprächsgegenstand gewesen war. Insofern wäre dies nichts wesentlich neues gewesen, aber doch ein spektakuläres Signal dafür, daß die zwischenzeitliche militärische Eskalation in der Luftschlacht um England den Verhandlungsweg nicht verschüttet hatte. Auch waren die Ausführungen zu einem möglichen Verhandlungsbeginn sehr detailliert. Abschließend ließ der Nuntius noch wissen, daß der geschlossene Friede nach Intention Hitlers den Eindruck von „Sieger und Besiegtem“ vermeiden sollte, und in der Tat hätte ein kampfloser deutscher Rückzug aus ganz Westeuropa zu guten Be178 PRO, Kew. Doc. FO 371/26991, vgl. Faksimile in: Allen, Friedensfalle, S. 406.
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dingungen nach der gewonnenen Luftschlacht in der englischen Öffentlichkeit den Eindruck eines Erfolgs erwecken können. Inwieweit es realistisch gewesen und auf welchem Weg es überhaupt zu bewerkstelligen gewesen wäre, Westeuropa die militärische und politische Unabhängigkeit von Deutschland zuzusichern, zugleich aber doch das prinzipielle Verbot einer feindseligen Einstellung zu fordern, darüber kann nur spekuliert werden. Wichtiger als diese Bemessung nach Einflußprozenten, wie sie in ähnlicher Weise Winston Churchill seinem Kontrahenten Josef Stalin zwei Jahre später abhandeln wollte,179 war die substantielle Frage, wer über wieviel Streitkräfte verfügte und wo sie stationiert waren. Hier signalisierte das deutsche Angebot ein Entgegenkommen, das kaum noch Verhandlungsspielraum für alliierte Nachforderungen zuließ. Noch immer war dies die Vision eines Deutschland in den Grenzen des Hoßbach-Protokolls, die hier von deutscher Seite durchgesetzt und stabilisiert werden sollte. Wenn sich dies auf dem Verhandlungsweg durchsetzen ließ, gab es für die englische Regierung in der Tat kaum einen öffentlich nennbaren Grund mehr, den Krieg weiter fortzusetzen. Deutschland würde unter dem Druck der Verhältnisse wieder zu dem schrumpfen, was die Lloyd George Fraktion der englischen Politik für „natürlich“ hielt, zu einer privilegierten Macht in Mittel- und Osteuropa. Der Ehrgeiz des aktuellen englischen Premiers und der Glaube, die sowjetische Politik kontrolliert für einen Sieg über Deutschland einsetzen zu können, überlagerte jedoch weiterhin jeden Kompromißansatz. Es begannen sich daher andere Visionen für Europa durchzusetzen, wie sie Molotov bereits im Sommer skizziert hatte: „Sie müssen in dem Maße Realisten sein, daß Sie verstehen, daß die kleinen Völker in Zukunft verschwinden werden. Ihr Litauen zusammen mit den anderen baltischen Völkern, wird in die glorreiche Familie der Sowjetvölker aufgenommen werden. Deshalb sollten sie beginnen, Ihr Volk in das Sowjetsystem einzuführen, das in der Zukunft ganz Europa beherrschen wird.“180
Molotovs Ankündigung gegenüber dem litauischen Außenminister entspricht weitgehend jenem Plan einer Hegemonie der UdSSR über Europa, den er dann später in Berlin vorgelegt hat. Es ist damit nicht zwingend die Absicht ausgesprochen, ganz Europa mit einem plötzlichen Angriff in die „glorreiche Familie“ der Sowjetvölker aufzunehmen, wohl aber, den Gang der Dinge in Europa politisch und wirtschaftlich zu diktieren. Zu diesem Zweck waren das alte russische Reich wiederherzustellen und die alten russi179
Winston Churchill versuchte im Oktober 1944, während eines Moskaubesuchs den Balkan zwischen Großbritannien und der UdSSR aufzuteilen, gemessen in Prozentzahlen pro Land. 180 Molotov am 30. Juni 1940 zum litauischen Außenminister Kreve-Mickevic ˇ ius. Vgl. Kreve-Mickevicˇius Bericht, U. S. Congress, Third Interim Report, S. 455 ff., hier zit. n. Myllyniemi, Krise, S. 118.
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schen Ziele endlich zu verwirklichen, d.h. den Erwerb eben der baltischen Länder inklusive Finnlands und darüber hinaus die Kontrolle über den Schwarmeerausgang, d.h. über Bulgarien und die Türkei. Gleichzeitig war in Stalins im November überreichten Aktionsplan der vier „kontinentalen“ Mächte angedacht worden, die britische Mittelmeerposition in Gibraltar und Ägypten zu liquidieren und damit einen mehrhundertjährigen Konflikt endgültig zugunsten Rußlands zu entscheiden. So würde das „Sowjetsystem“ mit Hilfe der russischen Hilfsquellen Europa beherrschen. Das weitere würde sich zu gegebener Zeit finden. Molotovs Besuch hatte eine entscheidende Wende bewirkt, die jedem unvoreingenommenen Beobachter spätestens im nachhinein völlig einleuchtend sein mußte. George Kennan etwa, zu dieser Zeit Amerikas Spezialist für russische Angelegenheiten, hatte sich völlig unabhängig bereits recht präzise Gedanken über die deutsch-russischen Beziehungen und die stärkere Position der UdSSR gemacht. Am 17. Oktober 1940 schrieb er einem Freund im State Department: „Der unterschiedliche Grad von Begeisterung, mit dem die deutsch-russische Zusammenarbeit auf beiden Seiten der ‚Interessengrenze‘ diskutiert wird, ist schwer zu übersehen. Die enthusiastischen Erörterungen des Themas kommen offenbar alle aus Berlin; die russischen Meinungsäußerungen zeichnen sich dagegen, soweit ich sie zu sehen bekomme, durch betonte Nüchternheit aus, und gelegentlich klopft das russische Lineal scharf und hart auf die deutschen Finger. Offensichtlich gibt es zumindest in einem höchst wichtigen Gebiet, nämlich in Rumänien, weder eine enge Zusammenarbeit noch spürbares Vertrauen der beiden Regierungen zueinander. Die Russen könnten . . . entlang der russischen Grenze mit Leichtigkeit beachtliche Quantitäten von Truppen und Material massieren, und jeder deutsche Vorstoß in Richtung Griechenland oder Türkei wird der Truppenverteilung an seiner Flanke Beachtung schenken müssen.“181
Solche russischen Truppenverlegungen waren zu diesem Zeitpunkt längst in Gang. Der sowjetische Drang nach Westen und Südwesten fand hier seinen anschaulichen Ausdruck. Aber etwas anderes versäumte Kennan, der sich im nachhinein ärgerte, aus den bereits bestehenden Informationen nicht den einzig konsequenten Schluß gezogen zu haben: „Hätte ich die Dinge nur bis zu der Einsicht weiter durchdacht, daß Hitlers Unvermögen, die britische Nuß mittendurch zu beißen, ihn zwingen würde, die Lösung des Problems in einem Angriff durch den Balkan auf die lebenswichtigen Verbindungen Englands im Mittelmeer zu lösen, dann hätte ich auch gesehen, daß die oben angestellten Überlegungen ihn gleichzeitig zu dem Versuch nötigen mußten, das sowjetische militärische Potential auszuschalten, um seine Ostflanke für eine umfassende Mittelmeeroperation freizubekommen. Aber dann hätte ich, um 181
Zit. n. Kennan, Memoiren, S. 137.
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ein vollständiges Bild zu haben, außerdem wissen müssen, was ich damals nicht wissen konnte, nämlich mit welch blinder Sturheit Molotov bei seinem bevorstehenden Besuch in Berlin auf vollständiger sowjetischer Militärkontrolle über Bulgarien und anderen, für die Deutschen kaum weniger unannehmbaren Wünschen beharren würde. Wir erfuhren, daß Molotovs Gespräche mit den deutschen Führern nicht nach Wunsch verliefen; aber keiner von uns konnte ahnen, daß Stalin seinen Verhandlungsspielraum so gefährlich überschätzen und von den Deutschen als Gegenleistung für Rußlands Unterstützung im erweiterten Krieg gegen die britische Weltstellung Konzessionen verlangen würde, die so extrem und begierig wären, daß Hitler nichts anderes übrig blieb, als den Faktor Rußland aus der Gleichung zu eliminieren, wollte er mit seiner eigentlichen Aufgabe weiterkommen.“182
Zusammen mit der Absicht der englischen Regierung unter zunehmender Nutzung des amerikanischen Potentials in Europa in Brand zu stecken, sorgte Stalins Politik dafür, daß es für Deutschland kaum eine Alternative zu einem Angriff auf die UdSSR gab. Die daraus folgende Zwangslage in Hitlers Entscheidungsfindung konnten politische Beobachter durchaus zeitig erkennen. Alle anderen Kombinationsversuche waren gescheitert, wie sein Außenminister später formulierte:: „Seit dem Winter 1940/41 war Adolf Hitlers Handeln bestimmt von der Sorge vor der Gefahr eines drohenden Zweifrontenkrieges der größten Weltmächte gegen Deutschland. Diese Gefahr auf politischem Gebiet abzuwehren war das Ziel des Dreimächtepakts, der die USA aus dem Kriege heraushalten und die Interessen der Sowjetunion durch ihren Beitritt mit den übrigen Dreierpaktmächten in Einklang bringen sollte. Die Versuche der deutschen Diplomatie scheiterten an der Haltung der USA und den russischen Forderungen, die der Führer als unerfüllbar und für Deutschland und Europa als untragbar ansah. Meine eigene Konzeption, die in anderer Richtung ging und die England diplomatisch zum Frieden zwingen sollte, konnte ich nicht durchsetzen. Nachdem die ungeheure Macht des Ostens offenbar geworden war, prägte Adolf Hitler mir gegenüber das Wort: Das Abendland werde eines Tages verstehen, warum er die russischen Forderungen abgelehnt und den Entschluß zum Angriff gegen den Osten gefaßt habe. Er war überzeugt von der Zwangsläufigkeit der Entwicklung, an der keine Diplomatie etwas hätte ändern können.“183
Jedoch gab es noch weitere Szenarien abzuwickeln, bevor es zu diesem letzten Schritt kommen konnte. Nach dem Scheitern der Diplomaten folgte das Tauziehen um den Balkan, bei dem zum ersten Mal eine direkte Verbindung zwischen den englischen und russischen Interessen sichtbar wurde, da beide Staaten daran arbeiteten, den Krieg in diese Region zu tragen. Das gelang. Der Feldzug im Osten erhielt ein balkanisches Vorspiel.
182 183
Zit. n. Kennan, Memoiren, S. 137 f. Zit. n. Ribbentrop, Erinnerungen, S. 300 f.
VIII. Die Morgendämmerung des Vernichtungskriegs 1. „A genocide, sponsored by Great Britain“ „Andererseits gab es auch keine Möglichkeit, wie Hitler England aus dem Krieg hätte heraushalten können. Noch konnte er die Dinge einfach lassen, wie sie waren. Wie wir heute wissen, bewog ihn gerade der fehlgeschlagene Versuch, England im Westen zu besiegen, sich gegen die Sowjetunion zu wenden, womit sich für England wieder die Aussicht auf einen Sieg eröffnete.“ Eric Hobsbawm1
Nach dem Sommer 1940 konnte Hitler die Dinge in der Tat nicht einfach lassen, „wie sie waren“. Die Gründe dafür sind bereits zum Teil sichtbar geworden. Über die diplomatischen und militärischen Züge der Gegner hinaus ist für eine Beurteilung dieser Frage ein weiterer Blick auf die Ökonomie nötig. Die Verhältnisse besonders auf dem existentiellen Gebiet der Ernährungsfrage geben einen Hinweis auf die strategischen Möglichkeiten des im Sommer 1940 von den Achsenmächten besetzten Europa. Sie waren berechenbar, nicht nur für den englischen Premier: „Es kann kein Zweifel bestehen, daß sich Herr Hitler mehr denn je genötigt sieht, Großbritannien auszuhungern oder niederzuringen. Ein noch so großer Feldzug im Osten, Rußlands Niederlage, Eroberung der Ukraine und Vormarsch vom Schwarzen zum Kaspischen Meer, das alles würde ihm weder einzeln noch zusammen zu einem siegreichen Frieden verhelfen, solange in seinem Rücken die britische Luftwaffe stärker und stärker wird, und er einen ganzen Kontinent feindlicher und verhungernder Völker niederhalten muß.“2
In den Planungen der Westmächte für einen Krieg gegen Deutschland spielte die Ökonomie von Anfang an eine Hauptrolle. Sie war die anvisierte Schwachstelle der deutschen Machtposition und das kam auf vielfältige Weise zum Ausdruck. So stellte die englische Regierung beispielsweise schon das Personal eines Ministeriums für ökonomische Kriegführung zusammen, als der Krieg sich erst vage abzeichnete. Tatsächlich konnte sie dann im Sommer 1939 auf Planungen zurückgreifen und sie abschließen, die bereits 1936 begonnen hatten.3 Französische Vorbereitungen in diese 1
Zit. n. Hobsbawm, Zeiten, S. 193. Churchill in einer Denkschrift an General Ismay vom 6. Januar 1941, zit. n. Churchill, Weltkrieg III/1, S. 26. 2
1. „A genocide, sponsored by Great Britain“
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Richtung waren demgegenüber etwas zurückgeblieben, so daß auch in diesem Punkt die englische Strategie zunächst eine Führungsrolle übernahm. Die stattliche Liste von nicht weniger als zehntausend Gütern, die in London als kriegswichtig eingestuft worden waren, wurde nach dem Kriegsausbruch schnell maßgebend für die Koordination der von beiden Staaten durchgeführten Blockade. Unter diesen Waren stellten naturgemäß die Lebensmittel einen zentralen Bereich dar, denn die Ernährung als Voraussetzung für das pure Überleben ist die selbstverständliche Basis aller anderen ökonomischen wie auch militärischen Prozesse. An diesem Punkt begannen die moralischen wie politischen Schwierigkeiten, besser gesagt, sie hätten dort beginnen können. Es gibt nur wenige Möglichkeiten, eine Nahrungsmittelverknappung im strengen Sinn militärisch, d.h. zielgerichtet gegen andere Militärs einzusetzen. Dies ist nur während der Belagerung einer Festung möglich, wobei bereits die Blockade einer zur Festung erklärten Stadt in großem Umfang die Zivilbevölkerung treffen wird, wie dies ab Herbst 1941 im von deutschen Truppen belagerten Leningrad geschehen sollte. Im Rahmen der Kontroverse über die Rolle der Wehrmacht im Krieg gegen die UdSSR wurde hier ebenfalls der Versuch unternommen, aus der Blockade der Stadt ein Kriegsverbrechen zu konstruieren, obwohl sie dem geltenden Kriegsrecht folgte.4 Trotz dieser rechtlichen Lage stieß der Fall Leningrad mit seinen Hunderttausenden zivilen Todesopfern an die Grenzen dessen, was allgemein als Legitim empfunden wird: „Bei Verstößen solcher Größenordnung gegen elementarste Grundsätze des Rechtsempfindens fällt es schwer, den Standpunkt der Fachjuristen zu verstehen und zu akzeptieren, daß die von den Deutschen in Leningrad angewandten Methoden, so unglaublich das klingt, zum größeren Teil nach konventionellen kriegsrechtlichen Anschauungen durchaus legal waren. Die Benutzung der Hungerwaffe und selbst die jahrelang fortgesetzte Belagerung einer Millionenstadt waren in streng juristischem Sinn keine ‚Kriegsverbrechen‘, weshalb in den Nachkriegsprozessen und daher wohl auch in der Nachkriegspublizistik über die Schandtaten des NS-Regimes das Stichwort Leningrad so gut wie gar nicht vorkam.“5
Was im Rahmen der Belagerung einer zur Festung erklärten Stadt wegen der fehlenden Präzision bereits die Grenzen des Rechtsempfindens erreicht, verschärft sich während der Blockade ganzer Länder. Hier wird der militärische Gegner in noch geringerem Anteil betroffen sein. Ganz im Gegenteil wird jede Nahrungsmittelblockade während eines Krieges die Arbeitskräfte 3
Vgl. Medlicott, Blockade, I, S. 1. Das Hamburger Institut für Sozialforschung ließ es sich nicht nehmen, trotz der eindeutigen Rechtslage die Belagerung Leningrads als „Verbrechen der Wehrmacht“ „auszustellen“. Vgl. HIS, Verbrechen, S. 308 f. 5 Zit. n. Krausnick, Truppe, S. 465. 4
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VIII. Die Morgendämmerung des Vernichtungskriegs
und die militärischen Einheiten des Gegners mit hoher Wahrscheinlichkeit erst spät treffen, da sie für die Fortführung des Krieges zwangsläufig Priorität genießen. Zunächst jedoch werden Alte, Kranke, Frauen und Kinder betroffen sein. Dies war erst zwei Jahrzehnte zuvor in verheerendem Ausmaß passiert, als während des ersten Weltkriegs in Deutschland eine Hungerkatastrophe zwar auch die Einsatzkraft des Militärs schwächte, zeitgleich jedoch eine Katastrophe für die Zivilbevölkerung darstellte. Dessen ungeachtet setzten die englischen Planer wie selbstverständlich auch Nahrungsmittel aller Art auf ihre Blockadeliste für den nächsten Waffengang. Dies geschah mit großen Hoffnungen, denn alles in allem berechnete man die Dauer, bis die Blockade den gewünschten Effekt haben könnte, auf fünfzehn bis achtzehn Monate nach Kriegsausbruch. Wie der Gang der Dinge sich 1939 gestaltete, würde dies demnach der Winter 1940/41 gewesen sein, ein Umstand, auf den wir noch zurückkommen werden. Da der Krieg sich anders als erwartet entwickelte, blieb der deutsche Zusammenbruch aus. Allerdings verwandelte die britische Blockade dann die militärischen Erfolge der deutschen Streitkräfte in den Zwang, fortan als Besatzungsmacht den Schwierigkeiten im Umgang mit „verhungernden Völkern“ gegenüberzustehen, wie Englands Premier im obigen Zitat hoffnungsvoll feststellte. Dies war nicht jedem gleich bewußt. Edward Stettinius brachte die ursprüngliche Hoffnung, wie auch deren vorübergehende Erschütterung auf lakonische Weise auf den Punkt, als er unter dem Schock der Niederlage Frankreichs feststellte: „Auch die letzte Illusion war wie fortgeblasen, daß Großbritannien hinter festen Stellungen abwarten könne, bis Deutschland durch Hunger zur Kapitulation gezwungen sei.“6
Wie sich bald herausstellte, hatte Stettinius die Wirkung des deutschen Sieges in Frankreich überschätzt. Die englischen Erwartungen hinsichtlich der Wirkung der Blockade waren keineswegs wesentlich verändert und reichten immer noch sehr weit. Nur mußten jetzt eben die Staaten auf dem Kontinent mit einbezogen werden, deren Besetzung die europäische, und damit letztlich die entscheidende deutsche Nahrungsbilanz nicht verbessert hatte: „Wenn wir mit unserer Blockade Europa erfolgreich aushungern, werden unsere Freunde, die Franzosen, Holländer, Belgier, Norweger, Polen und Tschechen zuerst hungern und wir werden in Wahrheit zerstören, was wir retten wollen. . . . Aber was ist mit Deutschland? Wenn es stimmt, was über Deutschland gesagt wird, daß dieses Land und der ganze Kontinent während des Winters wirtschaftlich schwer getroffen sein wird, so daß ein wirtschaftlicher Kollaps und Anarchie nicht nur möglich sondern wahrscheinlich sind – wenn das stimmt, ist es auch ein offensichtliches Anliegen für Deutschland, den Krieg so bald als möglich zu beenden.“7 6
Zit. n. Stettinius, Leih-Pacht, S. 57.
1. „A genocide, sponsored by Great Britain“
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In deutschem Interesse lag es in der Tat, diesen Krieg baldmöglichst zu beenden. An Versuchen dazu sollte es in den Folgemonaten nicht fehlen, dafür bildete die angespannte Versorgungslage in allen Bereichen ein zusätzliches Motiv. Die Mangelwirtschaft gehörte in Deutschland zum Alltag, bereits vor der Offensive im Westen, ja eigentlich bereits vor Kriegsausbruch.8 Vor diesem Hintergrund gab es keinen zwingenden Grund für die englische Regierung, nach dem Waffenstillstand in Frankreich nicht weiter auf ihre „Hauptwaffe“ zu setzen, wie Neville Chamberlain dies bereits genannt hatte.9 Daher wurde am 12. Juli 1940 die Lieferblockade auch auf Frankreich ausgedehnt, sowohl auf den besetzten wie den unbesetzten Teil. Der Slogan klang einfach: „Frankreich füttern, heißt Deutschland füttern.“10 Damit nahm eine Entwicklung ihren Lauf, die zunächst einen drastischen Anstieg der Krankheitsrate und der Kindersterblichkeit verursachte, in den Jahren bis 1944 dann aber zu einer Hungerkatastrophe führen sollte, die der in New York lebende Publizist Louis Rougier dann im Jahr der alliierten Invasion in der Normandie mit dem Wort „Holocaust“ beschrieb. Andere sprachen nach dem Krieg von „einem Genozid, unterstützt von Großbritannien“.11 Das englische Kalkül erkannte auch die Unmöglichkeit für Deutschland, mit Hilfe der UdSSR den Wirkungen der Blockade dauerhaft zu entgehen. Das lag einmal daran, daß die UdSSR selbst politisch nicht zuverlässig war, was sich gerade im Juni 1940 zeigte, als der russische Einmarsch in die baltischen Länder und Bessarabien mehrere hunderttausend Quadratkilometer landwirtschaftlich genutztes Gebiet, wo bisher vorwiegend für Deutschland produziert und gearbeitet worden war, aus der deutschen und damit der europäischen Wirtschaft erst einmal ausschied. Was sich formal als extreme Auslegung der mit Deutschland vereinbarten „Interessensphäre“ als einer „Okkupationssphäre“ interpretieren ließ, hatte für die Nahrungsmittelversorgung Deutschlands verhängnisvolle Folgen. Ob aus dem Baltikum überhaupt noch nach Deutschland exportiert werden würde, mußte neu verhandelt werden, in jedem Fall würden andere Preise verlangt werden.12 Von den in Bessarabien auf deutschen Auftrag hin angebauten je 100.000 Ton7 Memorandum des Abgeordneten Stokes an Außenminister Halifax vom Juli 1940. Zit. n. Dokumente, I/1, S. 185. 8 Schon 1938 wurden für Fett, Obst und Kaffee eigene Kundenlisten eingeführt, um den Verbauch zu rationieren. Vgl. SOPADE, Berichte 1940, S. 41 f. 9 Vgl. Medlicott, Blockade, S. 45. 10 Vgl. Mehlman, Émigré, S. 119. 11 „A genocide sponsored by Great Britain“, vgl. Mehlman, Émigré, S. 121. 12 Vgl. ADAP, D, IX, Dok. 463, 17. Juni 1940, Notiz Schnurre für Ribbentrop. Siebzig Prozent der Ausfuhr dieser Länder ging zuvor nach Deutschland. Die deutsche Marine bezog dreißig Prozent ihres Rohöls aus Estland.
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VIII. Die Morgendämmerung des Vernichtungskriegs
nen Sojabohnen und Mais wollte die UdSSR nur den Mais noch liefern. Insgesamt errechnete man deutscherseits einen Lieferausfall von 700.000 Tonnen Nahrungsmitteln und verlangte von der UdSSR einen entsprechenden Ersatz.13 Zum anderen aber rechnete man in London damit, die russische Landwirtschaft gegebenenfalls vernichtend treffen zu können, falls sich die sowjetische Außenhandelspolitik gegenüber Deutschland tatsächlich großzügig entwickeln sollte. Zwar hielt Neville Chamberlain die Blockade selbst für wirksam genug, um keine kurzfristigen Aktionen dieser Art erforderlich werden zu lassen. Die unter seiner Regierung geplanten alliierten Luftangriffe auf die sowjetische Erdölregion im Kaukasus hatten aber auch diese Dimension in Rechnung gestellt, wie Churchill im Frühjahr 1941 offenbarte: „Ein großer Teil der russischen Landwirtschaft hängt von der Versorgung aus diesen Ölfeldern ab und deren Zerstörung hätte in weiten Landesteilen Hungersnot zur Folge.“14
Auf diese Weise geschädigt, hätte die UdSSR ihre Lieferzusagen an Deutschland nach Churchills Einschätzung in keinem Fall mehr einhalten können. Auch die Verbrennung der deutschen Getreideernte auf dem Luftweg, die sogenannte „Operation Razzle“ wurde zeitig ins Auge gefaßt.15 Das deutsch-sowjetische Freundschaftsabkommen änderte daher an der insgesamt günstigen Beurteilung der Gesamtlage durch die Westmächte nichts grundsätzliches. Von hier erschließt sich auch zum Teil, warum selbst die von Churchill als möglich erkannte militärische Niederlage der UdSSR gegen Deutschland in seinen Augen keine entscheidende Wende bringen würde. Die Ölfelder des Kaukasus konnten jederzeit zerstört werden, solange der Nahe Osten in englischer Hand blieb. Die militärischen Hauptanstrengungen Englands galten im Sommer 1941 denn auch diesem Ziel, als Syrien angegriffen und die englische Position im Irak verteidigt wurde. Sollten die Ölfelder nicht mehr liefern können, war die Nahrungsmittelproduktion in den landwirtschaftlichen Gebieten der Sowjetunion selbst dann 13 Vgl. Schwendemann, Zusammenarbeit, S. 174 f. Bei der Höhe dieser Forderung dürfte eine Rolle gespielt haben, daß gerade zu dieser Zeit auch Japan die Lieferungen von Sojabohnen aus Mandschuko von 800.000 auf 70.000 Tonnen reduzierte, also fast komplett einstellte. Diese Nachricht fiel praktisch mit dem Einmarsch der UdSSR ins Baltikum zusammen. Vgl. ADAP, D, IX, Dok. 502, 20. Juni 1940. Mikojan lehnte diese Forderung ab, sie sei zu hoch. Jedenfalls lieferte die UdSSR im zweiten Halbjahr 1940 überhaupt nur 450.000 Tonnen Getreide. Vgl. Schwendemann, Zusammenarbeit, S. 176. 14 Churchill in einem Brief an den türkischen Ministerpräsidenten Inönü vom 31. Januar 1941, zit. n. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 52 f. 15 Vgl. Colville, Tagebücher, 5. August 1940.
1. „A genocide, sponsored by Great Britain“
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auf einen nichtmotorisierten Standard zurückgeworfen, wenn die Rote Armee nicht bereits von sich aus die gesamte Infrastruktur zerstört hätte. Zu den Zielen eines deutschen Rußlandfeldzugs mußte daher eben die Schaffung einer materiellen Grundlage gehören. Dazu zählte der Zugang zu Rohstoffen, zu Nahrungsmitteln und selbst für die Produktion von Nahrungsmitteln wieder zu Rohstoffen, denn selbst im Erfolgsfall: „Rußland für uns nur wertvoll, wenn Verfügung über Kaukasus. Ausnutzung der besetzten russischen Gebiete nur möglich, wenn Treibstoffversorgung gesichert, insbesondere da die Landwirtschaft weitgehend auf Treibstoff beruht. . . . Gefahr der Zerstörung der Vorräte sowie der Rohrleitungen.“16
Auf den möglichen Folgen einer solchen Zerstörung beruhte bekanntlich ja auch der Plan der englischen und französischen Generalstäbe, mit einem Angriff auf das Gebiet der neutralen UdSSR die russische Landwirtschaft zum Zusammenbruch zu bringen. Diese Zwangslage der deutschen Situation auf einem so wichtigen Feld sah die westliche Publizistik ebenso, gerade in bezug auf die Nahrungsmittel. William Shirer beschrieb die Situation nach den deutschen Erfolgen in Norwegen und Polen treffend: „Hitler will den Krieg in diesem Sommer beenden. Wenn es ihm nicht gelingt, dann ist er wahrscheinlich verloren, ungeachtet aller deutschen Erfolge.“17
Daran konnte der Sieg über Frankreich nichts ändern, denn es gelang trotzdem nicht, den Krieg zu beenden. Shirer berichtet über die Stimmung, als auf Hitlers Friedensangebot-Rede vom Juli keine Antwort kam: „Die Deutschen, mit denen ich sprach, können das einfach nicht verstehen. Sie wollen Frieden. Sie wollen nicht noch einen Winter wie den vergangenen erleben. Sie haben nichts gegen Großbritannien, trotz aller Hetzpropaganda. . . . Sie denken, sie sind die Größten. Sie denken, sie können auch Großbritannien schlagen, wenn es zum Kampf kommt. Aber sie würden den Frieden vorziehen.“18
Just an diesem Tag wurde Franklin Roosevelt zur Wiederwahl nominiert, was die Stimmung in Deutschland nicht bessern konnte. In jedem Fall stand nun, nach dem Ende der deutsch-englischen Friedenskontakte, noch bevor sie wirklich begonnen hatten, doch ein weiterer Kriegswinter zumindest in Aussicht. Die Schuld für eventuelle Folgen der alliierten Blockade mußte daher verteilt werden. Noch war die Hungerkatastrophe im eingeschlossenen Deutschland der Kriegsjahre 1914 bis 1918 der Weltöffentlichkeit in Erinnerung und daher hatten sich schnell Stimmen gefunden, die ähnliches insbesondere in den besetzten Gebieten außerhalb Deutschlands verhindern wollten. Gerade in bezug auf Frankreich gab es eine lebhafte Debatte zwi16 Zit. n. BA-MA RW 19/164, Bl. 153, 13. Februar 1941, Vortrag Oberstleutnant Tietze u. a. 17 Zit. n. Shirer, Tagebuch, S. 310, 4. Mai 1940. 18 Zit. n. Shirer, Tagebuch, S. 431, 20. Juli 1940.
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schen zwei Lagern, die sich wechselseitig Sentimentalität oder Zynismus vorwarfen. Die „sentimentale“ Seite hatte einen prominenten Fürsprecher im amerikanischen Expräsidenten Hoover gefunden,19 und daran appellierte das deutsche Auswärtige Amt: „Heute teilte uns die Wilhelmstraße mit, daß Deutschland jegliche Verantwortung für eventuell auftretende Nahrungsmittelknappheit in den von der deutschen Armee besetzten Gebieten ablehnt. Die Deutschen hoffen wohl, daß Amerika die Bevölkerung der okkupierten Länder übernehmen wird. Sie würden es gern sehen, wenn Hoover diese Aufgabe übernimmt.“20
Winston Churchill blieb nicht um eine Antwort verlegen und gab sie am 20. August 1940 vor dem Unterhaus, wo er nicht nur einen Angriff Rußlands auf Deutschland in Aussicht stellte, sondern auch die Verantwortung für eventuelle europäische Hungerkatastrophen weit von sich weg auf die deutsche Regierung schob: „Es gab viele Forderungen, aus den ehrenwertesten Motiven heraus, daß Nahrungsmittel die Blockade passieren dürfen sollten, um der Bevölkerung zu Hilfe zu kommen. Ich bedauere, wir müssen diese Anfragen zurückweisen.“21
Die deutsche Regierung, so behauptete Churchill, habe doch gesagt, sie hätte genug Vorräte und da man wisse, daß auch in den besetzten Ländern genug vorhanden gewesen seien, könne also gar kein Bedarf an Lieferungen bestehen. Zudem produziere Europa ausreichend Nahrung, und wenn es also Hungersnöte geben sollte, läge das nur an fehlendem deutschen Organisationstalent und Egoismus. Auch könne man nicht riskieren, daß aus importierter Milch beispielsweise Plastik für den Flugzeugbau hergestellt werde.22 Hoover selbst hielt von solchem Zynismus nur wenig. Er sah die 19 Hoover hatte bereits in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs 1918/19 ein Programm organisiert, das die damalige Hungerkatastrophe in Europa beenden sollte, mit der die alliierte Politik u. a. die Unterschrift der deutschen Regierung unter den Versailler Vertrag erzwingen wollte. Gerade 1942, noch während der erneuten Diskussion um die Ernährung Europas, veröffentlichte die „Hoover Library on War, Revolution and Peace“ einen Dokumentarband darüber, herausgegeben von Suda Lorena Bane. Sein erneutes Eintreten für Lebensmittelhilfe führte zu teilweise harscher Kritik bis hin zum Vorwurf, er sei „unbewußt ein Komplize der Nazis“. Vgl. Mehlman, Émigré, S. 120. 20 Zit. n. Shirer, Tagebuch, S. 440, 8. August 1940. Am 26. August begannen Luftangriffe auf das Berliner Stadtzentrum. Vgl. ebd. Shirer, S. 458. Die Frage beschäftigte die Juristen aber bis in den kommenden Winter, als Goebbels notierte: „Juristisches Gutachten: Wir sind nicht nur nicht verpflichtet, die Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu ernähren, wir können dort sogar noch Lebensmittel beschlagnahmen. Ein wichtiges Argument in der Blockadediskussion.“ Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 160, 26. Februar 1941. 21 Zit. n. Medlicott, Blockade, I, S. 666. 22 Zit. n. Medlicott, Blockade, I, S. 666.
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europäische Bevölkerung in Geiselhaft, wie er einen Tag vor der Erklärung des Auswärtigen Amts am 11. August bekanntgab: „Diese kleinen Länder gehen zwischen den Mühlsteinen der Nahrungsmittelblokkade zugrunde. Großbritannien und Deutschland gegeneinander. Deutschland schnürt sie von den Vorräten des Kontinents ab, England von Übersee. Die Deutschen geben der britischen Blockade die Schuld. Die Briten sagen, der Fehler sei die deutsche Invasion.“23
Diese Gleichsetzung war insofern nicht ganz objektiv, als Deutschland in der gegebenen Situation bei andauernder Blockade die Versorgung der besetzten Staaten aus seiner eigenen Versorgung würde abzweigen müssen, was von England niemand verlangte.24 Was zur Debatte stand, war lediglich ein eingeschränkt freier Lebensmittelhandel Europas mit der übrigen Welt. Der aktuelle amerikanische Präsident stand Hoovers Plänen schwankend gegenüber. Die Demoskopie gab ihm klare Anweisungen. Franklin Roosevelt sah sich einer 83 % Mehrheit der Amerikaner gegenüber, die im September 1940 der Meinung waren, auch bei einer Hungersnot in Frankreich, Belgien und Holland dürften keine Nahrungsmittel nach Europa geliefert werden, auch nicht ins unbesetzte Frankreich.25 Jedes Schiff mit Trockenmilch, das dorthin gehe, würde nach Roosevelts Meinung den politischen Druck auf England in Sachen Hungerfragen etwas mindern.26 Dennoch gebrauchte er die Hungerwaffe etwas zögerlich auch selbst und gab der Vichy-Regierung über seinen Botschafter zu verstehen, daß Frankreich für sein Wohlverhalten in der prekären Flottenfrage doch mit Getreidelieferungen belohnt werden könnte.27 In diesem Sinn äußerte er sich zunächst auch im Gespräch mit René de Chambrun, der ihn davon überzeugen konnte, ins unbesetzte Frankreich gelieferte Nahrungsmittel würden in keinem Fall den Deutschen in die Hände fallen. Chambrun hatte in vorherigen Diskussionen mit dem englischen Botschafter Lothian, dem australischen Botschafter Casey und Roosevelts Intimus Harry Hopkins28 einen detaillierten Plan ausgearbeitet, wie 23
Zit. n. Medlicott, Blockade, I, S. 554. Auf diese Weise hätten jedoch wenigstens die 500.000 Tonnen Kartoffeln Verwendung finden können, die der englische Landwirtschaftsminister mitten im europäischen Hungerwinter 1941 als überflüssig vernichten lassen wollte. Vgl. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 468. 25 Vgl. Medlicott, Blockade, I, S. 555. 26 Lothian erzählte Hugh Dalton, dem Minister für ökonomische Kriegsführung, bei seinem letzten Besuch in England kurz vor seinem Tod, Roosevelt habe Lieferungen nach Frankreich befürwortet. Dalton lehnte ab. Vgl. Medlicott, Blockade, S. 571. 27 Vgl. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 162 f. 28 Ausdruck dieser Verbindung war es u. a., wenn Roosevelt im Juli 1941 Hopkins nach Moskau schickte, verbunden mit der Einführung, Stalin sollte zu Hopkins so vertraulich sprechen wie zu ihm selbst. Vgl. Chambrun, Betrayal, S. 175. 24
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diese Lieferungen zu handhaben waren. Roosevelt stimmte im großen zu, verband die Genehmigung für diesen Plan aber mit Forderungen nach einem politischen Kurswechsel des Vichy-Regimes, das den autoritären Neigungen Pétains nachging und sich nach dem englischen Überfall auf die französische Flotte29 außerdem mit antibritischen Ausfällen nicht zurückhielt: „Wenn er (d.h. Pétain, d. Verf.) zustimmt, in Vichy eine Pressekonferenz mit amerikanischen Journalisten abzuhalten, auf der er unsere Wiederbewaffnung begrüßt und außerdem erklärt, sich demokratischen Idealen verpflichtet zu fühlen, wenn er zudem die antibritischen Ausfälle seines Außenministers Paul Baudouin stoppt, werde ich im Gegenzug bis zum Kriegsende für Lebensmittellieferungen ins unbesetzte Frankreich sorgen.“30
Im weiteren sollte Pétain noch einen freundlichen Brief an Roosevelt schreiben, den der Präsident bei einer seiner eigenen Pressekonferenzen mit entsprechenden positiven Kommentaren präsentieren wollte. Nach Rücksprache mit den Granden der amerikanischen Verwaltung stimmte auch der englische Regierungschef diesem Vorgehen zunächst scheinbar zu. In Frankreich stieß Chambrun ohnehin auf wenig Hindernisse. Worte waren billig. Pétain ließ Baudouin in knappen Sätzen wissen, es seien keine Angriffe gegen die Briten mehr erwünscht, empfing danach die amerikanische Presse und gelobte mit fester Stimme, was Roosevelt veröffentlicht sehen wollte: Frankreich würde den demokratischen Idealen treu bleiben, es stand weiterhin für die Rechte des Individuums, liebte Gerechtigkeit und Menschlichkeit.31 Danach verfaßte er zudem den gewünschten Brief an Roosevelt, schilderte die Not Frankreichs und appellierte an die Hilfsbereitschaft der USA. Es nützte nichts. Churchill lehnte die Intervention Roosevelts ab. Eine Belohnung durch Lebensmittel für politisches Wohlverhalten komme nicht in Frage. Wenn die Franzosen sich anders verhielten als bisher, sei ihre Flotte zu versenken.32 Eine weitere Intervention des Präsidenten, England 29
Winston Churchill ließ die französische Flotte, die sich zum Großteil nach Nordafrika zurückgezogen hatte, am 3. Juli 1940 beschießen und teilweise versenken. Das war eine Sensation, die fast zum Krieg zwischen Frankreich und England geführt hätte. Hitler wartete daraufhin erst einmal die weitere Entwicklung ab und verschob den geplanten Friedensappell: „Gleich mit dem Führer die Lage besprochen. Er weiß noch nicht, ob er überhaupt noch einmal an England appellieren soll. Er will zuerst nochmal Londons Auseinandersetzung mit Frankreich abwarten. Hatte seine Rede schon fast fertig, als der Überfall von Oran kam.“ Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I, 8, S. 210, 7. Juli 1940. 30 Zit. n. Chambrun, Betrayal, S. 116. 31 Text u. a. in der Herald Tribune vom 21. August 1940, positive Berichte gab es auch in der New York Times. 32 Vgl. ebd. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 163. Gegenüber Chambrun schob Harry Hopkins, der die schlechte Nachricht zu überbringen hatte, den Widerstand de Gaulles gegen Lebensmittellieferungen nach Frankreich vor.
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solle den Handelsverkehr Frankreichs nicht mehr stören, blieb ebenso folgenlos. Es handle sich um ein „von Hungersnot bedrohtes Land“, hatte Roosevelt argumentiert.33 Dies traf insofern zu, als die Zuteilung für französische Zivilisten ab September 1940 auf eintausendachthundert Kalorien gesenkt werden mußte, später 1943 sogar auf eintausendfünfhundert Kalorien.34 Wie wenig darin eine spezifisch deutsche Hungerstrategie gesehen werden mußte, zeigte ein Blick ins benachbarte Italien, wo im gleichen Jahr 1943/44 im amerikanisch besetzten Teil ganze sechshundertfünfundsechzig Kalorien ausgegeben wurden. Diese Zuteilung führte in Italien zu Hungersnöten und einem dramatischen Anstieg der Sterblichkeit, vor allem der Kindersterblichkeit, die 1944 nicht weniger als 438 von 1000 Kindern im ersten Lebensjahr sterben ließ.35 Dennoch lagen später auch die unter alliierte Verantwortung festgesetzten Nahrungsmittelsätze im besetzten Nachkriegsdeutschland phasenweise unter tausend Kalorien, was am Ende einer jahrelangen Mangelwirtschaft für viele eine tödliche Bedrohung darstellte. Nicht nur in Frankreich waren ab 1940 die Kaloriensätze niedrig. Für normal ernährte Amerikaner bedeuteten auch die damals bestehenden deutschen Rationierungen einen Schock, wie die Angehörigen der US-Botschaft zum Jahreswechsel 1941/42 nach der deutschen Kriegserklärung feststellen mußten, während sie auf die Ausreise warteten. Wie sich George F. Kennan erinnerte, der zum Botschaftspersonal gehörte, „erhielten wir nur die Lebensmittelrationen der deutschen Zivilisten, also viel weniger als die normalen Kriegsgefangenen (d.h. aus Unterzeichnerländern der Genfer Konvention, d. Verf.); wir bekamen auch keine Rotkreuz-Pakete wie Kriegsgefangene sonst und waren infolgedessen erheblich schlechter ernährt. Die meisten von uns waren abgemagert, als es vorüber war.“36 Diese Dinge warfen ihre Schatten voraus. Hoovers hartnäckige Versuche, eine kontrollierte Lieferung von Nahrungsmitteln nach Europa mit persönlichen Appellen an den Präsidenten und Unterschriftenlisten doch noch durchzusetzen, scheiterten schließlich während des Winters 1940/41. Roosevelt machte letztlich doch die deutsche Regierung für Versorgungsschwierigkeiten verantwortlich,37 darin gefolgt von der Presse, die teilweise eine deutsche Hungerwaffe am Werk sah und einmal mehr über deren Einsatz gegen Südamerika spekulierte.38 Das ganze Vorgehen der Alliierten stellte in jedem Fall einen Verstoß gegen die von ihnen 1919 selbst aufgestellten 33 34 35 36 37 38
Vgl. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 167. Vgl. Hewitt, Besatzung, S. 226 f. Vgl. Gannon, Spellman, S. 210. Zit. n. Kennan, Memoiren, S. 143. Vgl. Medlicott, Blockade, I, S. 572 f. Vgl. Time, 31. März 1941, S. 13.
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Regeln dar, nach denen die planmäßige Aushungerung von Zivilbevölkerungen als Kriegsverbrechen anzusehen sei.39 Schon damals verstärkte der offenbare Zynismus, daß trotz dieser Erklärung die alliierten Verantwortlichen für den Tod an hunderttausenden deutschen Zivilisten während des Weltkriegs nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, in Deutschland den Eindruck, hier gehe es nicht um das Recht an sich, sondern um das rechtliche Urteil als Form der Machtausübung. Die Kindersterblichkeit verdoppelte sich, bis 730.000 Zivilisten starben. Bereits 1910 war in einer „Londoner Erklärung“ für den Fall des Krieges der Seehandel auf neutralen Schiffen über neutrale Häfen für frei erklärt worden.40 Das Problem blieb und wurde mit jedem deutschen Sieg akuter. Die Eroberung Griechenlands im Frühjahr 1941 vermehrte die Zahl der Notleidenden noch einmal erheblich. Die dort eingesetzten britischen Verbände hatten die Vorräte des Landes vor ihrem Rückzug verbraucht, was die griechische Regierung mit Blick auf versprochene künftige Ersatzlieferungen zugelassen hatte.41 Diese Lieferungen trafen nie ein und die Folgen zeigten sich nach Ende der Kampfhandlungen schnell: „Ernährungsfrage in Griechenland (erste Hilfe 30.000 t. Getreide! Ungarn und Türkei einspannen.“42
Neben der moralischen und rechtlichen Fragwürdigkeit dieser englischen Politik ergaben sich daraus auch politische Folgen für die Vorstellungen, die man sich in Berlin über ein mögliches Kriegsende machte und auch über die Methoden, die man zu diesem Zweck anzuwenden sich berechtigt glaubte. Die englische Hungerpolitik während des Ersten Weltkriegs hatte bei den Zeitzeugen tiefe Spuren hinterlassen. Zu ihnen gehörte Hitler, der angesichts der jetzt, 1940/41 drohenden Wiederholung dieser Hungersnöte radikale Schlüsse zog. Diese Option der politisch-ökonomischen Kriegsführung mußte England genommen werden, das wurde ein eigenes Kriegsziel: 39
Vgl. Ellinor v. Puttkamer: Die Haftung der politischen und militärischen Führung des Ersten Weltkriegs für Kriegsurheberschaft und Kriegsverbrechen, in: Archiv des Völkerrechts 1, 1948/49, S. 444 f., hier zit. n. HIS, Verbrechen, S. 28. 40 Vgl. Koch-Hillebrecht, Hitler, S. 27 f. 41 Zugesagt worden waren 47.000 Tonnen australisches Getreide. Vgl. Olshausen, Zwischenspiel, S. 247. 42 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 405, 9. Mai 1941. Vgl. auch Hillgruber, Südosteuropa, S. 106 f. Da es trotz aller Versuche nicht gelang, die Türkei „einzuspannen“, Griechenland voll in die alliierte Blockade mit einbezogen blieb, Bulgarien seine Lieferungen verzögerte und die für den größten Teil Griechenlands verantwortliche italienische Regierung mit dem Problem überfordert war, kam es im folgenden Winter in Griechenland zu einer Hungersnot, die etwa 360.000 Todesopfer forderte. Vgl. Olshausen, Zwischenspiel, S. 246 und S. 249 f. sowie Lahr, Zeuge, S. 72.
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„Es darf nicht von England abhängen, ob die Völker des Kontinents zu leben haben.43
Dies verband er mit Schlußfolgerungen, welche Funktion dem europäischen Teil der UdSSR nach dem begonnenen Angriff auf die Sowjetunion künftig zuzuweisen sei „Die Ukraine und dann das Wolga-Becken werden einmal die Kornkammern Europas sein. Wir werden ein Vielfaches dessen ernten, was jetzt auf diesem Boden wächst. Dabei hatte Rußland mit seinen 170 Millionen Menschen im Zarenreich nie Hunger gelitten.“44
Letzteres war eine Anspielung auf die stalinistische Hungerpolitik, die gerade in der Ukraine, aber auch in anderen Teilen des Landes Millionen Todesopfer gefordert hatte und dazu beigetragen hatte, daß die sowjetische Bevölkerungszahl statt einem erhofften Zuwachs auf 180 Millionen nicht nur bei 170 Millionen stagnierte, wie das offiziell bekanntgegebene Ergebnis der sowjetischen Volkszählung von 1939 behauptete, sondern gar auf 162 Millionen gesunken war.45 Die Politik des Hungers machte die Schaffung der stalinschen Kriegsmaschinerie möglich. Sie kostete aber unersetzliche Substanz und Millionen Menschenleben. a) Die Politik des Hungers – Samuel Hoare in Spanien Zu den größten Befürchtungen, die in London im Sommer 1940 grassierten, gehörte das Umschwenken der iberischen Halbinsel ins Lager der Achsenmächte. Sowohl Portugal wie auch Spanien wurden von Diktaturen regiert, deren Verwandtschaft mit den Regimen in Italien und Deutschland erkennbar war. Zugleich standen im Rahmen der alliierten Gesamtstrategie negative Folgen mit Sicherheit an, sollte mit dem Kriegseintritt auch nur Spaniens der englische Mittelmeerzugang durch die Straße von Gibraltar verlorengehen. Damit würde der militärische Druck auf Italien und den Balkan erheblich abnehmen. Gleichzeitig konnten die spanischen Atlantikinseln für die deutsche Luftwaffe oder Flotte nutzbar werden. Das geopolitische Potential der iberischen Halbinsel war also erheblich und noch in den letz43
Hitler am 19. August 1941 abends, zit. n. Jochmann, Monologe, S. 58. Hitler am 19. August 1941 abends, zit. n. Jochmann, Monologe, S. 58 f. 45 So das Ergebnis der unveröffentlichten Volkszählung von 1937. Die Verantwortlichen für diese Zählung wurden hingerichtet. Auch sie dürfte nach Einschätzung des Stalin-Biographen Robert Conquest aber noch zu hoch ausgefallen sein, da Millionen wegen ihrer Verurteilung „nachrichtenlose“ Insassen des Gulag als lebend gezählt wurden, ohne daß ein Lebenszeichen vorlag. Vgl. Conquest, Stalin, S. 407. Die Hungersnot war absichtlich verursacht worden. Man habe zur Kriegsvorbereitung 10 Millionen Menschen vernichten müssen, sagte Stalin später zu Churchill. Vgl. Montefiore, Court, S. 80. 44
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ten Diktaten vor seinem Selbstmord sinnierte Hitler über die verlorengegangene Chance eines spanischen Kriegseintritts. Diesen Umständen entsprechend, schickte Winston Churchill im Mai 1940 als eine seiner frühen Amtshandlungen einen besonders erfahrenen Mann nach Spanien auf den Posten des Botschafters, den wir im Zusammenhang mit einigen Verhandlungen hinter den Kulissen bereits kennengelernt haben. Samuel Hoare hätte als ehemaliger Inhaber solcher Ämter wie das des englischen Außenministers und des Vizekönigs von Indien die Qualifikation besessen, selbst anstelle von Churchill als Nachfolger Chamberlains die englische Regierung zu führen. Mit seinem unzeitgemäß imperialistischen Pragmatismus, der sich 1935 etwa im Hoare-Laval-Plan einer Neuaufteilung Äthiopiens mit viel Geländegewinn für Italien niedergeschlagen hatte, gehörte er aber für viele zu denjenigen, die an der schlechten Situation des Jahres 1940 einen wesentlichen Anteil hatten: zu den alten Männern um Neville Chamberlain, die in den Augen der britischen Öffentlichkeit plötzlich „schuldige Männer“ geworden waren.46 Jedoch blieben radikale personelle Wechsel im maßgebenden Milieu Englands eine Ausnahme. Wie Neville Chamberlain einen bedeutenden Anteil seines politischen Einflusses trotz des Rücktritts als Regierungschef retten konnte, galt dies auch für einen Weggefährten wie Hoare. Der Hoare-Laval-Plan hatte ihn seinerzeit das Außenministerium gekostet, aber bereits nach einer Schamfrist von sechs Monaten zum Ersten Lord der Admiralität werden lassen. Nun wechselte Hoare von seinem Posten im Luftfahrtministerium zum Amt des Botschafters in Spanien, weniger von Churchill abgeschoben als eine Vertrauensperson des neuen Premiers in einer neuen Rolle an einem Brennpunkt der Diplomatie. Dies war nicht der erste heikle Punkt, an dem Churchills und Hoares Aktivitäten sich trafen. Im Jahr 1918 hatte man sich am Sturz des bolschewistischen Regimes versucht, woran Churchill als englischer Kriegsminister und Hoare vor Ort in Moskau beteiligt waren.47 Um den Spaniern eindeutig zu signalisieren, auf welcher Seite ihre Interessen am besten gewahrt seien, dazu gab es für den neu ernannten Botschafter einmal mehr ein probates Mittel: Die Hungerwaffe, die im Deutschland des Ersten Weltkriegs so schreckliche Wirkungen gezeigt hatte, mußte nur mit Geschick und Nachdruck vorgewiesen werden. Hoare erinnerte sich später: „Es gab zwei verschiedene Auffassungen. Die erste war die Methode aggressiver Drohung. Stellt einfach ein Ultimatum und erklärt den Spaniern offen, daß sie 46
So der Titel einer erfolgreichen Satire über die Niederlage in Frankreich, die sich im Juli 1940 in wenigen Tagen mehr als zweihunderttausend Mal verkaufte. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 449. 47 Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 147.
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verhungern, wenn sie nicht unverzüglich zu der Annahme unserer Bedingungen bereit sind. Während der Verhandlungen muß man das Damoklesschwert drohend über ihrem Haupte halten.“
Als Mann von Welt entschied sich Hoare für einen anderen Weg: „Die zweite Methode war der Versuch, nach der bekannten Fabel vom Esel zu verfahren, dem man eine Mohrrübe vor die Nase hält: „Seht die großen Weizen-, Öl- und Kautschukvorräte der Alliierten, die ihr so notwendig braucht . . . Laßt uns ein Abkommen schließen, das uns beiden Gewinn bringt. Nach der Annahme unserer überaus günstigen Bedingungen werdet ihr selbst sehen, welche großen Vorteile ihr in erhöhtem Maße durch eure wirtschaftlichen Beziehungen zu den beiden angelsächsischen Weltmächten gewinnt! Nach dieser zweiten Methode wurden die wirtschaftlichen Verhandlungen in Madrid tatsächlich geführt, jedenfalls meistens. Psychologisch war es entschieden auch der geschickteste Weg. Mit Drohungen läßt sich der Spanier nicht einschüchtern, sondern schlägt unweigerlich zurück. Wenn man ihm klarzumachen versucht, daß er im Falle einer Ablehnung der Bedingungen Hunger leiden muß, wird er doch niemals zur Übergabe bereit sein.“48
Nun hatte „der Spanier“ zweifellos auch so verstanden, um was es ging, und war Hoare sicher dankbar, den schönen Schein gleichberechtigter Verhandlungen dennoch gewahrt zu haben. Franco jedenfalls legte Hitler bei ihrem Treffen im spanisch-französischen Grenzort Hendaye pro forma eine von jenen berüchtigten Listen vor, wie er sie von seinen romanischen Verbündeten schon kannte, da ähnliches immer wieder aus Italien zu hören gewesen war. Deutschland müßte, so Franco, umfassende Getreidelieferungen und anderes leisten, wenn Spanien einen Kriegseintritt auf Seiten der Achsenmächte überhaupt in Erwägung ziehen sollte. Das konnte Deutschland nicht zusagen, wie Franco bekannt war.49 Spanien trat also nicht in den Krieg ein, es konnte folglich vierhunderttausend Tonnen Getreide aus Kanada erwarten.50 Damit hatten die angelsächsischen Mächte einmal mehr mit leichter Hand ihre prinzipiell überlegene Position politisch ausgespielt, was die US-Regierung in ganz direkter Weise deutlich werden ließ, als Außenminister Serrano Sunˇer dem amerikanischen Botschafter gegenüber 48
Zit. n. Hoare, Mission, S. 94 f. Es mag bei der Formulierung von Francos Forderungen auch eine Rolle gespielt haben, daß die deutsche Außenpolitik einmal mehr mit Hochverrat zu kämpfen hatte. Niemand anderer als der deutsche Spionagechef Canaris hatte den spanischen Diktator vor den Verhandlungen aufgefordert, „um jeden Preis“ nicht in den Krieg einzutreten und zu diesem Zweck unerfüllbare Forderungen vorzubringen. Vgl. Cave Brown, Bodyguard, S. 213 f. Dieses Verhalten korrespondierte mit den zahlreichen anderen Aktionen von Canaris, der systematisch gegen Deutschland arbeitete. Er soll zu diesem Zweck auch mit Donovan selbst zusammengetroffen sein. Vgl. Cave Brown, Hero, S. 129 f. 50 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 352, S. 503, 18. November 1940, Besprechung Sunˇer mit Hitler und Ribbentrop in Berchtesgaden. 49
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fälschlicherweise behauptete, man wolle Solidarität mit Deutschland üben: Eine Lieferung von dreißigtausend Tonnen Weizen wurde sofort angehalten.51 Außerdem habe Roosevelt die „Unverschämtheit“ besessen, eine öffentliche Erklärung Francos zu verlangen, daß Spanien nicht in den Krieg eintreten würde.52 Sein Botschafter in Madrid faßte dies lapidar in der Feststellung zusammen, daß „Neutralität Sicherung der Ernährung und Krieg Hungersnot bedeutet.“53 Auf dieser Erkenntnis und ihrer Umsetzung in politischen Druck beruhte die gesamte Spanienpolitik der Alliierten während des Krieges.54 Aus diesen Vorgängen wird deutlich, was Serrano Sunˇer hier in einfachen Worten andeutete: Deutschland war auch mit dem Sieg über Frankreich bei weitem keine „Weltmacht“ geworden. Noch immer fehlte alles, was wirkliche Weltmächte auszeichnete, neben den strategischen Rückzugsräumen insbesondere der Zugang zu den „Mohrrüben“ des Planeten, die man anderen Staaten bei Bedarf vor die Nase halten konnte, um die eigene Attraktivität als Partner zu unterstreichen.55 „So lange wir nicht in der Lage sind, den Völkern Brot zu geben, dürfen wir nicht erwarten daß sie für uns Hurra schreien,“ notierte Goebbels einsichtig, als nach dem Beginn des Rußlandfeldzugs die europäische Begeisterung ausblieb.56 Im Fall Spanien sah sich Hitler im Gegenteil genötigt, die Frage der Schuldentilgung Spaniens aus dem Bürgerkrieg anzusprechen. Er wurde von Außenminister Sunˇer zurechtgewiesen, eine solche Verbindung von Materialismus und Idealismus sei für „den Spanier“ unverständlich. „Führer sei sich vorgekommen ‚wie ein kleiner Jude‘,“ notierte Generalstabschef Halder.57 Spanien hielt sich aus dem Krieg heraus. Franco habe den geschichtlichen 51 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 352, S. 504, 18. November 1940, Besprechung Sunˇer mit Hitler und Ribbentrop in Berchtesgaden. Allgemein war der amerikanische Botschafter immerhin beliebter als sein englischer Kollege, zeigte er doch etwas mehr Bereitschaft zur Nothilfe bei akuter Nahrungsmittelknappheit. Vgl. Cudahy, Armies, S. 144 f. 52 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 352, S. 504, 19. November 1940, Besprechung Sunˇers mit Hitler und Ribbentrop in Berchtesgaden. 53 Vgl. Hoare, Mission, S. 153. 54 Vgl. Medlicott, Blockade, I, S. 56. 55 Selbst über die vergleichsweise bescheidenen Vorräte, über die man tatsächlich verfügte, konnte wegen des Öl- und Kautschukmangels nicht frei verfügt werden, auch wenn Hitler sich gegen diese Erkenntnis sträubte: „Führer will nicht einsehen, daß „Barbarossa“ nur ein Nachschubproblem ist. Divisionen gewinnen nichts, sondern der Nachschubapparat“ Zit. n. BA-MA RW 19/164, Bl. 181, 26. Februar 1941, Protokoll Vortrag Thomas bei Göring. Unabhängig von solchen Gegebenheiten verteilte die englische Regierung zur weiteren politischen Landschaftspflege einige Millionen US-Dollar an höhere spanische Militärs. Vgl. Allen, Friedensfalle, S. 300. 56 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 232, 14. August 1941. 57 Zit. n. Halder, KTB, II, S. 137, 15. Oktober 1940.
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Augenblick verpaßt, so behauptete Hitler später.58 Die Gründe waren nachvollziehbar. Dennoch wurde im Auswärtigen Amt zunächst intensiv gerechnet, wo denn vielleicht noch durch Zugeständnisse und Lieferungen etwas für das weitere politische Wohlwollen Spaniens getan werden konnte. Botschafter von Stohrer schätzte die Fehlmenge in der Ernährung Spaniens auf stattliche 1,25 Millionen Tonnen Getreide pro Jahr,59 was mehr war, als Deutschland zu diesem Zeitpunkt seinerseits aus der Sowjetunion bezog.60 Diese Menge konnte von Deutschland nicht ohne massiven eigenen Schaden nach Spanien weitergereicht werden, zumal auch Italien Forderungen in noch größerer Höhe anmeldete.61 Unter den Bedingungen des Krieges konnten die Lieferungszusagen der UdSSR die Ernährung auf dem europäischen Kontinent nicht entscheidend verbessern. Deutschland nutzten sie kaum etwas in der Auseinandersetzung mit dem Spiel, das die englische Regierung mit dem Hunger der westeuropäischen Länder angesetzt hatte. Da in Spanien wegen der englischen Blockade schon jetzt der Treibstoff fehle, um die Lebensmittel zu verteilen, in manchen Branchen sogar die Rohstoffe, die teilweise überhaupt nicht im deutschen Machtbereich zu finden waren, wie etwa Baumwolle, herrschte in Teilen des Landes Arbeitslosigkeit und Hunger. Wenn sich keine entscheidenden militärischen Änderungen ergeben würden, würde Spanien zu einer politischen Belastung werden, schloß von Stohrer.62 Auf alliierter Seite hatte man erkannt, welche Gefahr für den Fall des Kriegseintritts Spaniens zu befürchten war. Das Mittelmeer, das auf unabsehbare Zeit die Basis der wichtigsten Überlegungen für eine aktive militärische Kriegsführung gegen Deutschland darstellte, hatte in der Straße von Gibraltar und dem Suezkanal nur zwei Zugänge zu den Weltmeeren. Wenn es den Achsenmächten gelang, diese Zugänge zu schließen, erübrigten sich für unabsehbare Zeiten alle strategischen Überlegungen hinsichtlich militärischen 58 Zitat aus Brief von Walter Hewel an Reinhard Spitzy vom 1. Februar 1944. Vgl. Spitzy, Bekenntnisse, S. 492. 59 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 335, S. 483, 14. November 1940. 60 Vgl. Scheil, Legenden, S. 80. Zum Vergleich: Großbritannien importierte 1941 15 Millionen Tonnen Lebensmittel. Vgl. Churchill, Weltkrieg, III/1, S. 159. 61 Vgl. BA-MA RW 19/165, Bl. 307, 29. Oktober 1941. KTB WiRü Amt/Stab: „Italienische Ernährungsanforderungen an uns: 700.000 t Kartoffeln und 1,3 Mill. t. Getreide. Vortrag bei Amtschef Thomas. Dazu auch der „Kriegswirtschaftliche Lagebericht“ vom Mai 1941, daß die besetzten Länder von Deutschland miternährt werden müssen und „fast alle europäischen Länder einen starken Getreide-Zuschußbedarf“ haben. BA-MA RW 19/177, Bl. 19, 10. Juni 1941. 62 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 335, S. 483, 14. November 1940. Der Hunger konnte auch so groß werden, daß Spanien auf der entgegengesetzten Seite in den Krieg eintrat, so rechnete Fedor v. Bock im Frühjahr 1941 aus. Spanien könne „mit Brot leicht zu gewinnen“ sein. Vgl. Bock, KTB, S. 182, 30. März 1941.
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Drucks gegen den „weichen Bauch Europas“, wie die Nordküste des Mittelmeers von Winston Churchill umschrieben wurde. Der Balkan würde als Kriegsschauplatz ausscheiden, die dortigen Länder einschließlich der Türkei sich mehr oder weniger mit Deutschland arrangieren müssen. Spanien würde nun die Straße von Gibraltar ohne weiteres schließen können, sein Risiko war jedoch hoch, denn mit alliierten Landungen und der Hungerblockade war wie gesagt allemal zu rechnen. Demnach stellte Spaniens Kriegsteilnahme wegen der strategischen Umstände eigentlich einen höheren Wert dar als das Bündnis mit Italien. Es ist deshalb auf den ersten Blick merkwürdig, wenn die deutsche Führung im zweiten Halbjahr 1940 nicht mit letzter Konsequenz den Versuch machte, dieses Land bevorzugt zu behandeln und statt dessen auf den bekannten „grandiosen Betrug“ zuarbeiten wollte, der die Interessen Spaniens, Frankreichs und Italiens miteinander in Einklang bringen sollte. Zwar empfing Außenminister Ribbentrop seinen spanischen Kollegen auf spektakuläre Weise: „Deutlich steht mir noch eine bemerkenswerte Szene in Ribbentrops Arbeitszimmer vor Augen. Auf einem Ständer am Fenster, das nach dem alten Park hinter der Wilhelmstraße hinausging, war eine Karte des französischen Kolonialreiches in Afrika aufgehängt. Davor standen Sunˇer und Ribbentrop. „Bitte bedienen sie sich“, hätte die sinngemäß verkürzte Übersetzung der hochklingenden Worte Ribbentrops heißen müssen. Und der Spanier bediente sich! Von Algerien nahm er Oran, Marokko wollte er ganz haben und große Stücke der Sahara und Französisch-Westafrikas benötigte er zur ‚Abrundung‘ der westafrikanischen Kolonie Rio d Oro. Ribbentrop verkaufte bereitwilligst die Ware, die ihm gar nicht gehörte. Für Spaniens Mitarbeit war ihm anscheinend kein Preis zu hoch.“63
Ungeachtet dessen zog bald ein „kühler Luftzug“ durch diese warmen Beziehungen zwischen Deutschland und Spanien. Sunˇer hatte vielleicht auch deshalb leichten Herzens „genommen“, weil ihm bewußt war, daß diese Geschäfte nicht so exklusiv waren, wie Ribbentrop vielleicht meinte. Die englische Regierung bot in bewährter Manier gleichfalls an, was ihr nicht gehörte, ebenfalls französisches Territorium.64 Frankreich war militärisch besiegt und besetzt, Italien politisch wie militärisch ein Zuschußbetrieb. Spanien gehörte daher zu dieser Zeit zu den diplomatischen Brennpunkten. Ein spanischer Kriegseintritt oder die Nutzung spanischen Territoriums für deutsche Streitkräfte bot die Option, den Krieg gegen Großbritannien militärisch besser zu führen oder aber eventuell politisch zu entscheiden. Letzteres stellte Hitlers Hauptziel dar. Seine politischen Schachzüge dieser Zeit standen daher unter der im nachhinein merkwürdig erscheinenden Prämisse, über politische Manöver verschiedenster Art den englischen Kriegswillen zu lähmen und den Krieg zu ersticken. 63 64
Zit. n. Schmidt, Statist, S. 497. Vgl. Schmidt, Statist, S. 497.
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Auf der anderen Seite arbeitete die englische Diplomatie unentwegt weiter daran, den Krieg militärisch zu eskalieren und weitere Partner zu suchen. Hoare regte im Frühjahr 1941 bei William Donovan an, die USA sollten die iberische Halbinsel und die Westküste Afrikas auch offiziell unter den Schutz der Monroe-Doktrin nehmen, da sie schließlich der Verteidigung der Vereinigten Staaten diente.65 Das gab zwar den Trend vor, nach dem Roosevelt im Nordatlantik wirklich zunehmend handelte.66 Der Präsident schützte nach eigenem Verständnis die „westliche Hemisphäre“, dehnte aber stetig und gewissenhaft in Richtung Europa aus, was darunter zu verstehen sei. Die iberische Halbinsel fiel denn doch nicht darunter, aber bereits im September 1939 hatte Roosevelts Proklamation einer Sicherheitszone im Atlantik offiziell beide Kriegsparteien zur Zurückhaltung genötigt, was angesichts des Fehlens von zivilem deutschen Schiffsverkehr in diesem Gebiet jedoch praktisch nichts anderes hieß, als daß die Schiffe der beiden Westmächte dort vor deutschen Angriffen sicher waren. Später kamen weitere Teile des Nordatlantiks zu dieser Zone hinzu. Im Mai 1941 kam für Hoare noch einmal die Gelegenheit, politisch aktiv zu werden. Einer von Ribbentrops Mitarbeitern, Gesandtschaftsrat Gardemann hatte ihn über einen spanischen Mittelsmann zu der Frage kontaktiert, ob nicht unter Einschaltung des früheren spanischen Außenministers Beigbeder ein Kontakt hergestellt werden könne. Hoare meldete das nach London. Eine Antwort gab es einmal mehr nicht,67 wie schon der kurz vorher erfolgte Flug von Rudolf Heß erfolglos geblieben war. Im Westen Europas blieben die Fronten weitgehend unverändert. Die iberische Halbinsel wurde kein Kriegsgebiet und die militärische Auseinandersetzung verlagerte sich in Richtung Osten, ebenso wie der Streit um die Nahrung. 2. Ein Hungerplan gegen die Bevölkerung der UdSSR? a) Nürnberger Nachspiele (II) Ein Krieg zwischen modernen Industriegesellschaften trifft in vielfältiger Weise deren Wirtschaft, unter anderem die Ernährungswirtschaft und damit 65
Vgl. Dunlop, Donovan, S. 267. Ausdehnung der Sicherheitszone im Atlantik, Besetzung Islands am 7. Juli 1941. Originellerweise wurde zum Zweck der Besetzung behauptet, Island würde zur westlichen Hemisphäre gehören. Da allgemein bekannt war, daß dies nicht stimmte, verzichtete Roosevelt aber darauf, Wehrpflichtige zu schicken, die nach Gesetzlage nur innerhalb dieser Hemisphäre eingesetzt werden konnten. Vgl. Dallek, Roosevelt, S. 276, der leider nicht darauf eingeht, daß diese Besetzung illegal war. 67 Vgl. Schlie, Friede, S. 330. Schlie bezieht sich auf eine Aufzeichnung aus dem PRO: FO 371/26542/C 6735, vom 31. Mai 1941. 66
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die Basis ihrer Existenz. Wir haben gesehen, daß die Spekulation auf den Zusammenbruch eines hungernden Deutschland in einem verhungernden Europa zu wesentlichen Elementen der englischen Strategie gehörte und in ihren Hoffnungen eine große Rolle spielte. Die „Nazis hätten Angst davor, den Krieg nicht in diesem Sommer entscheiden zu können“, denn der Mangel an Nahrungsmitteln mache sich bemerkbar und die englischen Versuche, den potentiellen Bündnispartner USA mit in den Krieg zu ziehen, könnten erfolgreich sein.68 In dieser Situation war Europa abhängig von den Nahrungsmittellieferungen der Sowjetunion, praktisch der einzigen noch offenstehenden Quelle. Was Deutschland von dort erhielt, mußte zwar zum großen Teil an andere europäische Staaten weitergereicht werden, besserte die Gesamtsituation aber erheblich. Es konnte daher nicht ausbleiben, daß man sich in Deutschland bei den Planungen für den Fall eines Krieges mit der Sowjetunion mit den Folgen des Lieferausfalls an Nahrungsmitteln befassen mußte, der mit diesem Krieg verbunden sein würde, ganz gleich, in welcher Situation er ausbrach und wer ihn mit einer Offensive beginnen würde. Ein nach englischen Wunschvorstellungen bereits verhungerndes Europa konnte hier eine vollendete Katastrophe erleiden. Um nun auch auf diesem Feld eine deutsche Schuld zu konstruieren, nahmen sich die sowjetische Propaganda und später die Anklage in Nürnberg auch dieses Falls speziell an. Es wurde behauptet, mit dem Angriff auf die UdSSR sei die Absicht verbunden gewesen, das Land auf Kosten seiner Bevölkerung auszurauben und in letzter Konsequenz weite Teile der in der Sowjetunion lebenden Menschen dem Hungertod zu überlassen. Dies nicht zuletzt, um der Verwirklichung nationalsozialistischer Rassentheorien einen blutigen Weg zu bahnen. Aus der politischen Vorgeschichte des Angriffs und der Beurteilung seiner Motive sind diese Vorwürfe daher nicht herauszunehmen. Auch hier gab es ein Nürnberger Nachspiel. Hermann Göring, dem Verantwortlichen für die wirtschaftlichen Pläne in den besetzten sowjetischen Gebieten, wurde das Protokoll, das von der Anklage eingebracht war, nur durch die Verteidigung zur Stellungnahme vorgelegt. Er qualifizierte es als „Unsinn aus Referentenbesprechungen“ ab,69 worin ihm das Gericht offenbar gefolgt ist, denn Göring wurde von der Anklage gar nicht mehr dazu befragt70 und vom Gericht nicht wegen einer etwa geplanten Ermordung der russischen Zivilbevölkerung verurteilt, sondern wegen einer geplanten „Ausplünderung“ Rußlands.71 Ganz allgemein 68
Vgl. Colville, Tagebücher, S. 111, 31. Mai 1940. Vgl. IMT, Bd. IX, S. 392 f. 70 Es blieb General Rudenko vorbehalten, dem Angeklagten Rosenberg das Papier noch einmal vorzulegen, der sich mit Verweis auf den Briefkopf für unzuständig erklärte. Vgl. IMT, Bd. XI, S. 625. 71 Vgl. IMT, Bd. I, S. 317. 69
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differenzierte das Gericht trotz einer scharfen Verurteilung des deutschen Vorgehens sehr wohl zwischen verschiedenen Zielen des Angriffs auf die UdSSR: „Die Pläne für die wirtschaftliche Ausbeutung der UdSSR, für die Wegführung großer Bevölkerungsteile, für die Ermordung von Kommissaren und politischen Führern, all dies war ein Teil des sorgfältig vorbereiteten Plans, der am 22. Juni ohne irgendwelche Warnung und ohne den Schatten einer rechtlichen Entschuldigung in die Tat umgesetzt wurde.“72
Da man sich bekanntlich im Vorfeld des Prozesses entschlossen hatte, die von der deutschen Regierung vorgelegte ausführliche Begründung für den Angriff zu ignorieren, mußte schließlich die Behauptung stehen bleiben, es hätte nicht den Schatten einer solchen rechtlichen Rechtfertigung gegeben. Gestützt wurde dies mit der Aussage von Zeugen wie dem Höheren SSund Polizeiführers Bach-Zelewski.73 Danach hätte Heinrich Himmler im Januar 1941 auf der Wewelsburg davon gesprochen, die russische Bevölkerung sei um 30 Millionen Menschen zu vermindern. Das sei einer der Zwecke des Krieges gegen die UdSSR. Nun ist seit dem Fund des Dienstkalenders von Heinrich Himmler bekannt, daß dieses Treffen auf der Wewelsburg im Januar 1941 nicht stattgefunden hat. Bach-Zelewski, der höchstpersönlich für Massenmorde während des deutsch-russischen Krieges verantwortlich war, hat es augenscheinlich aus dem einfachen Zweck erfunden, um mit Himmler einen Toten zu belasten und dies auf eine Weise, bei der es keine anderen Zeugen geben konnte. Auf diese Weise konnte seiner Darstellung nicht widersprochen werden. Es gelang ihm auch, mit solchen und anderen Aussagen während des Nürnberger Prozesses unbehelligt zu bleiben. Lediglich einigen Angeklagten platzte der Kragen, darunter Hermann Göring, der ihn als „Schwein, Stinktier, als den blutigsten Mörder in der ganzen verdammten Aufführung“ beschimpfte, womit er, wie Richard Breitman meint, „der Wahrheit nahe kam, jedenfalls im letzten Punkt.“74 Die Alliierten brauchten diese Art „Kronzeuge“ zur schnellen Abwicklung des Prozesses. So ersparten die amerikanischen Besatzungsbehörden ihm einen Gefängnisaufenthalt. Erst 1961 wurde er wegen Mordes verurteilt, sinnigerweise wegen seiner Beteiligung an einem nationalsozialistischen Binnenverbrechen, der Ermordung Ernst Röhms im Sommer 1934. Erst 1972 starb er im Gefängnis, was ihm genug Zeit gelassen hatte, um weiter an der eigenen Legende zu stricken und seine „Tagebücher“ dem Bundesarchiv in Koblenz zu vermachen – nachdem er sie für die Jahre 1941/42 frei erfunden und neu geschrieben hatte.75 Diese Form von „Zeugen“ macht es dem 72 73 74 75
Zit. n. IMT, Bd. I, S. 240. Vgl. Scheil, Legenden, S. 76 ff. Zit. n. Breitman, Staatsgeheimnisse, S. 307. Vgl. Breitman, Staatsgeheimnisse, S. 308.
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Historiker nicht leicht. Ihre Aussagen sind schwer wieder aus dem Gedächtnis und der Literatur zu drängen, wofür das beste Beispiel vielleicht Hermann Rauschning und seine erfundenen „Gespräche mit Hitler“ sind, die beinah jeden Hitlerbiographen beeinflußt haben, seit sie im Herbst 1939 mit Unterstützung der französischen Regierung erschienen sind, um einen Coup in der antideutschen Kriegspropaganda zu landen. In jedem Fall hat die ominöse Himmler-Rede vom Januar 1941 nicht existiert und daher ist es gegenstandslos, sie als Ausgangspunkt und Vorgabe für die deutschen Ernährungsplanungen nehmen zu wollen.76 Das Ergebnis kann sonst nur in einer Verzerrung der Tatsachen bestehen. Nun wird dies nicht selten dennoch getan. Begründet wird dies regelmäßig mit dem Protokoll der sogenannten „Sitzung der Staatssekretäre“ vom 2. Mai 1941, in dem einer der mittlerweile meistzitierten Ausdrücke zum Themenbereich „Unternehmen Barbarossa“ zu finden ist: „Dabei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige herausgeholt wird“,77 hat dort jemand geschrieben. Es handelt sich bei diesem Dokument um ein Papier, das im Rahmen eines Treffens nicht genannter Personen entstanden sein soll. Der für den Vierjahresplan zuständige Generalrat, der in der Tat eine Versammlung von Staatssekretären war, traf jedoch erst am 24. Juni 1941 wieder zusammen.78 Zur Ernährung von zusätzlich drei Millionen deutscher Soldaten aus den Vorräten einer Bevölkerung von 170 Millionen müßten nicht „zwangsläufig“ Millionen Menschen verhungern. Dieses Zahlenverhältnis ergibt keinen Sinn. Es bleibt ein Geheimnis, warum dies 1941 irgend jemand behauptet zu haben scheint. 76 Vgl. Longerich, Vernichtung, S. 298. Longerich ist mit diesem Vorgehen nicht allein. Auch Götz Aly und Susanne Heim nehmen Bach-Zelewskis Falschaussage als zentralen Beleg für den angeblichen Planungsgang deutscher Stellen. Vgl. Aly, Vordenker, S. 369 f. 77 IMT-Beweisdokument 2718-PS, in: IMT Bd. XXXI, S. 84. 78 Protokoll der Besprechung des Generalrats vom 24. Juni 1941: Anwesend waren die Staatssekretäre Neumann, Dr. Stuckart, Backe, Dr. Landfried, Dr. Syrup, Kleinmann, auch General Thomas usw. Sie waren für die Ernährungfragen in bezug auf Rußland theoretisch zuständig Vgl. BA-MA RW 19/177, Bl. 163 ff., 24. Juni 1941. Ob dies praktisch der Fall war, ist fraglich, wie sich aus der Eingangsbemerkung des Vorsitzenden ergibt: „Staatssekretär Körner eröffnete die Sitzung und teilte mit, daß infolge der Vorbereitungen für den Eventualfall „Rußland“ bisher die Zusammenberufung des Generalrates hätte unterbleiben müssen.“ Ebd. Bl. 163. Nach Protokoll ist dies 11. Sitzung, wann die 10. war, ist nicht bekannt. Vgl. auch Besprechung vom 4. September 1941, eine Aktennotiz einer Besprechung bei Staatssekretär Körner, Teilnehmer: Körner selbst, Min. Direktor Grammsch, Reichskommissar Koch, Staatssekretär Backe, Min. Direktor Riecke, Min. Direktor Schlotterer, Oberst i. G. Hünermann. BA-MA RW 19/177, Bl. 118, 4. September 1941.
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„Kalkulierte Morde“ hatte es zuvor reichlich gegeben. In der Tat waren in Rußland in den zwanzig Jahren seit der Oktoberrevolution gut 25 Millionen Menschen wegen des Regimes auf die eine oder andere Art zu Tode gekommen, sei es durch Zwangsarbeit, kalkulierten Hungertod oder Erschießung. Als die sowjetische Führung 1937 eine Volkszählung durchführen ließ, ergab sich statt den 178 Millionen Menschen, die angesichts der Millionen Todesopfer, die natürlich auch der sowjetischen Führung bekannt waren, allzu optimistisch erwartet worden waren, nur eine Zahl von 162 Millionen.79 Das Ergebnis dieser Volkszählung wurde dann verschwiegen, die Verantwortlichen selbstredend erschossen. Zwei Jahre später wurde eine neue Zählung durchgeführt, die natürlich näher am gewünschten Ergebnis lag und deren Bilanz mit „170.467.186 Menschen“ angegeben wurde. Auch dies war eine Phantasiezahl, denn tatsächlich waren 167,3 Millionen gezählt worden, und selbst dies war augenscheinlich nichts anderes als das Ergebnis von gezielten Manipulationen einer Gruppe von Statistikern, die andernfalls bei einem zu geringen Ergebnis den Tod vor Augen hatten.80 Die tradierte Zahl von 20 Millionen sowjetischen Kriegsopfern geht eben von den offiziell gezählten 170 Millionen Bevölkerung aus.81 Die möglicherweise richtige Zahl von 162 Millionen wurde erst 1989 veröffentlicht. An dieser Zahl gibt es allerdings ebenfalls Zweifel, denn die Mehrzahl von mehreren Millionen Menschen, die der NKWD in den 1930er Jahren während der Haft erschoß, war zu „zehn Jahren Haft ohne Korrespondenz“ verurteilt worden, was bedeutete, daß sie aus Sicht der Bevölkerungsstatistiker 1939 noch als lebend mitgezählt werden mußten und die errechnete Bevölkerungszahl um weitere Millionen erhöhten.82 Offenkundig wurden sowjetische Massentötungen in Millionenzahl durch die spätere Opferangabe mit dem deutschen Rußlandfeldzug in eine Verbindung gebracht, die sie nicht hatten. So gibt es keine gesicherten Zahlen über die Bevölkerung der sowjetischen Gebiete, als die Wehrmacht im Sommer 1941 einmarschierte, denn die Volkszählung von 1939 mit ihren erfundenen Zahlen schlüsselte zudem nicht präzise nach Regionen auf. Alle Zahlen über die Bevölkerung etwa Weißrußlands und damit über die Opfer sind fragwürdig.83 Festgehalten 79
Vgl. Conquest, Stalin, S. 407. Zu dieser Einschätzung kommt auch Conquest, vgl. ebd. S. 408. 81 Es stehen auch höhere Zahlen im Raum. wie die 193 Millionen Einwohner, die vor Kriegsbeginn (nach Okkupation der baltischen Länder, des östlichen Polen und Bessarabiens) in der sowjetischen Presse behauptet wurden. Vgl. Krupinski, Komintern, S. 32. 82 Vgl. Conquest, Stalin, S. 408. 83 Wolfgang Hasch gibt für Weißrußland 1940 9,1 Millionen Einwohner an und für die Ukraine 41,3 Millionen. Auch diese Zahlen beruhen allerdings auf einer 80
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werden muß auch, daß die Ukraine und Weißrußland ganz besondere Opfer der sowjetischen totalitären Politik gewesen sind. Der Sowjetstaat hatte „einen regelrechten Krieg gegen eine Nation von kleinen Betrieben geführt. . . . Mehr als zwei Millionen Bauern wurden deportiert . . . Sechs Millionen verhungerten, und Hunderttausende starben während der Deportation.“84
Auf dem Rückzug der Roten Armee ging dieser Krieg später weiter. Was immer an Gerätschaften oder Vorräten noch mitgenommen oder an Infrastruktur zerstört werden konnte, wurde von sowjetischer Seite konsequent einem von beiden Schicksalen unterworfen. An der Existenz eines Hungerplans der NS-Führung – zu dem die Wehrmachtsführung ja angeblich ihre Zustimmung gegeben haben soll – kommen endgültig Zweifel auf, wenn man einen Blick auf die ökonomischen Rahmendaten wirft, von denen die Planungen ausgingen, an denen der innere Führungszirkel der Nationalsozialisten beteiligt war, Hitler eingeschlossen. b) Ökonomische Rahmendaten Zwischen dem Angriff auf die UdSSR im Sommer 1941 und dem Ende des Jahres 1943 wurden aus den besetzten Ostgebieten 6,32 Millionen Tonnen Getreide an das Deutsche Reich und die Wehrmacht geliefert.85 Danach wurden weitere Lieferungen wegen der immer stärkeren Partisanentätigkeit praktisch unmöglich.86 Das macht im Schnitt etwa 2,5 Millionen Tonnen geliefertes Getreide pro Jahr und es war damit pro Jahr das zweieinhalbfache der sowjetischen Lieferungen nach Deutschland in der unmittelbaren Vorkriegszeit. Zwischen Januar 1940 und dem Angriff 1941 waren insgesamt 1,5 Millionen Tonnen Getreide geliefert worden, also ca. 1 Million Tonnen jährlich. In einem deutsch-sowjetischen Abkommen hatte sich die UdSSR allerdings bereits dazu verpflichtet, diese Lieferungen auf 2 Millionen Tonnen jährlich zu steigern.87 Tatsächlich überschritten die zwischen 1941 und 1943 gelieferten 2,5 Millionen Tonnen Getreide pro Jahr deshalb die freiwillig bereits zugesagte Exportquote der UdSSR um 25 %,88 waren Schätzung auf Basis der gefälschten Volkszählung von 1939. Vgl. Hasch, Partisanenkrieg, S. 239. 84 Zit. n. Werth, Staat, S. 165, vgl. zur selbsterzeugten Hungerkatastrophe in der UdSSR auch die zeitgenössische Darstellung von Ewald Ammende, Muß Rußland hungern?, S. 177 ff. 85 Vgl. Scheil, Legenden, S. 81 ff. sowie Krausnick, Truppe, S. 389. 86 Vgl. Krausnick, Truppe, S. 389. 87 Vgl. Gerlach, Morde, S. 62. 88 Sie bewegten sich damit im Rahmen der Jahre 1912/13, als das zaristische Rußland Getreide in diesem Umfang (2,2 bzw. 2,7 Mio Tonnen) nach Deutschland geliefert hatte. Vgl. Backe, Nahrungsfreiheit, S. 256.
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zugleich aber weit weniger als die Exportrate der UdSSR vor 1939, die zeitweise bis zu 5,2 Millionen Tonnen betragen hatte.89 Bei diesen etlichen Millionen Tonnen Getreideexport kam die UdSSR aber immer noch keineswegs in Lieferschwierigkeiten, da die sowjetische Gesamtproduktion nach damaligen Veröffentlichungen bei mindestens 90 Millionen Tonnen lag.90 Dies war, wie bereits gesagt, in manchen Jahren von einer gewollten Hungerkatastrophe für Teile vor allem der ukrainischen Bevölkerung begleitet worden. Inzwischen stellte diese Strategie innerhalb der UdSSR offenbar ein Kapitel der Vergangenheit dar. Im Jahr 1937 waren sogar 120,3 Millionen Tonnen geerntet worden, wie man in Berlin aufmerksam vermerkt hatte.91 Angesichts dieser Zahlen ging man in der deutschen Hauptstadt davon aus, daß der russische Staat neben den exportierten Mengen jährlich weitere 5–7 Prozent der Speicherernte von geschätzten durchschnittlich 72–76 Millionen Tonnen, also 3,5 bis 5,3 Millionen Tonnen Getreide für Notzeiten beiseite legen konnte.92 Insgesamt wären nach diesen Zahlen, die den Planungen in Berlin zugrunde lagen, also aus Export und Vorratshaltung maximal bis zu 9,3 Millionen Tonnen Getreide aus der sowjetischen Produktion für Deutschland abzuzweigen gewesen, ohne daß dem russischen Verbraucher auch nur ein Pfund der Ernte zur Verwendung für seine Mahlzeiten verlorenzugehen brauchte. Dies betonte auch die sowjetische Verhandlungsführung, die den sowjetischen Getreideüberschuß mit „bei sehr guten Ernten bis zu 10 Mill. t.“ angab, eine Zahl, die auch Hitler, Göring und Keitel vorgelegen hat.93 Sehr gute Ernten waren nicht jedes Jahr zu erwarten. Man fügte russischerseits hinzu, bereits für 1941 angeblich auf die Reserven zurückgreifen zu müssen, um die vereinbarten Liefermengen einhalten zu können. Dennoch ist ein Vergleich dieser Maximalleistung mit den Erwartungen der deutschen Planer aufschlußreich. Man kann man aus diesen Zahlen entnehmen, daß die Maximalvorstellung der deutschen Planer für das, was aus den besetzten Gebieten nach Deutschland geliefert werden sollte, bei 8,7 Millionen Tonnen Getreide lag. Das ist offenbar die höchste jemals genannte Zahl.94 Sie wurde bald darauf nach unten korrigiert. Der Reichsnähr89
Vgl. Bullock, Parallele Leben, S. 369. Im Jahr 1931 waren es 97,8 Millionen Tonnen gewesen. Vgl. Remmele, Sowjetunion, S. 74. 91 Vgl. Just, Sowjetunion, S. 84. Die sowjetische Getreideproduktion bewegte sich auch in den nächsten Jahrzehnten in diesem Korridor zwischen 100 und 130 Millionen Tonnen. 92 Vgl. Just, Sowjetunion, S. 85. 93 Zit. n. BA-MA 19/164, Bl. 150 f., 12. Februar 1941. 94 KTB WiRüAmt/Stab v. 12.2.1941, BA-MA RW 19/164, Bl. 150 f. – zit. n. Gerlach, Morde, S. 67. 90
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stand „schätzt den Zuschußbedarf Deutschlands und der von Deutschland beherrschten Gebiete auf 5 Mill. t.“.95 In der „Grünen Mappe“ wurden dann etwa 4,5 Millionen Tonnen Getreide als Ziel genannt, also etwas weniger, als die UdSSR in Friedenszeiten maximal exportiert hatte.96 Als Backe zwei Tage nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ seine Vorstellungen präzisierte, da sprach er von einem Ausgleich für den Ausfall eben des zugesagten russischen Exports plus ca. 600.000 Tonnen Getreide für Deutschland. Insgesamt seien aus der russischen Produktion 2,5 Millionen Tonnen Getreide für Deutschland abzuzweigen.97 Was die deutschen ökonomischen Planungen nach einem Sieg und der Besetzung des ganzen europäischen Teils der UdSSR erreichen wollten, konnte von den besetzten Gebieten geliefert werden, ohne daß dabei jemand verhungern mußte. Als die Zahl von 4,5 Millionen Tonnen in die „Grüne Mappe“ geschrieben wurde, hat deshalb niemand dadurch sein Einverständnis zu einem Massensterben durch Hunger gegeben, sondern nur eine erreichbare Zielmenge festgelegt, die von den wahrscheinlich bald eroberten Gebieten aller Voraussicht nach geliefert werden konnte.98 Es gibt bis heute keinen Hinweis, irgend jemand von denen, die im Dritten Reich das Sagen hatten, hätte Kenntnis von einem „Hungerplan“ gehabt. Es gab keinerlei allgemeine Anweisung, wieviel Nahrungsmittel an die sowjetische Bevölkerung zu verteilen waren.99 Die deutschen Einschätzungen über die Lieferkapazitäten der UdSSR wurden auch auf sowjetischer Seite geteilt. Im April 1941 waren dem Deutschen Reich bereits bis zu fünf Millionen Tonnen Getreidelieferung für das Folgejahr in Aussicht gestellt worden.100 Das letzte Wort dieses Abschnitts gehört daher dem sowjetischen Botschafter in London, Ivan Maiskij, der solche deutschen Forderungen für den Sommer 1941 erwartete und gewohnt lässig darüber hinwegging: Wenn es nur darum gehe, drei oder vier Millionen Tonnen Futtermittel mehr zu lie95 Zit. n. Gerlach, Morde, S. 67, sowie BA-MA 19/164, Bl. 150, 12. Februar 1941. 96 NBG Dok. NG-1409. 97 Vgl. Müller, Scheitern, S. 989. Vgl. BA-MA RW 19/177, Bl. 163 f., 24. Juni 1941, Besprechung des Generalrats für den Vierjahresplan, d.h. die „Staatssekretäre“. 98 Die Zerstörungen der Roten Armee auf dem Rückzug änderten hier allerdings bald die Aussichten. Vgl. Vortrag Chef Wi, Maj. Kirsch bei General Thomas: „Durchsprechen der Vortragsnotiz für Chef WFStb über die europäische Ernährungslage. Sicherung der großdeutschen Ernährung nur zu Lasten der besetzten bzw. der in unserem Machtbereich liegenden Länder. Für die Ernährung Mittelrußlands kann nichts eingesetzt werden.“ BA-MA RW 19/165, Bl. 164, 26. Juli 1941. 99 Vgl. Arnold, Besatzungspolitik, S. 535 f. 100 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 423, S. 557, Aufzeichnung eines Gesprächs Hitlers mit dem Botschafter in Moskau, Graf von der Schulenburg.
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fern – hier umschrieb er mit einer verächtlichen Geste den imaginären Futterberg, den er in Kensington Palace vor sich sah – könne Moskau darauf eingehen.101 3. Ausrottungsphantasien Wenn Staaten gegeneinander Krieg führen, werden sich ihre Methoden mit der Zeit ähnlich sein. Dies ist ein Axiom der Kriegsgeschichte, das sich immer wieder bestätigt hat und von verschiedenen Historikern auch für den Zweiten Weltkrieg oft registriert worden ist. Ludwig Dehio etwa, der wegen seiner jüdischen Herkunft seine Universitätsstellung verloren und die NSZeit zurückgezogen in Berlin überlebt hatte, legte 1948 mit „Gleichgewicht oder Hegemonie“ gleich eine vollständige Theorie des europäischen Staatensystems der Neuzeit vor. Der Zweite Weltkrieg erschien hier als letzter Abschnitt einer langen Abfolge von traditionellen Hegemonialkämpfen. Dehio hatte keinen Grund, die nationalsozialistischen Verbrechen zu marginalisieren, aber auch keinen Anlaß, sie als etwas anderes zu sehen denn als modernes Mittel zur totalen Machterweiterung während des Krieges. Dehio schrieb die Radikalisierung des NS-Regimes bis zum Massenmord außerdem, in gewisser Weise Ernst Nolte vorwegnehmend, einer mit den Jahren stärker hervortretenden „russischen Beimengung“ zu, die den „verstärkten Einfluß Asiens“ auf Europa widerspiegele. Umgekehrt kam ein entschlossen pro-westlicher Historiker wie Golo Mann andererseits nicht daran vorbei, den Westmächten ihre Verbrechen während des Bombenkriegs und der Vertreibung vorzuhalten, führte dies in einer beliebten Denkfigur jedoch auf deren Kontakt mit der nationalsozialistischen Kriegsführung zurück.102 Dies etablierte sich als stets populäres Argument in der Auseinandersetzung darüber, wer von den Kriegsparteien eigentlich den Verfall der Kriegssitten verursacht hatte und gab eine politische Begründung dafür, warum der offene Bruch mit dem selbst proklamierten Menschen- und Völkerrecht durch die Westmächte in der Schlußphase des Krieges stattfand. Ein Symptom für die merkwürdige Umkehrung des zeitlichen Ablaufs und des Wechselspiels von Ursache und Wirkung in der Zeitgeschichtsforschung bildete die Fischer-Debatte. Zu Beginn des Jahres 1961 erschien eine Studie, die in Deutschland eine zu Geschichtsthemen länger nicht mehr 101 Maiskij im Gespräch mit dem britischen Diplomaten Warners am 13. Juni 1941. Zit. n. Gorodetsky, Täuschung, S. 374. 102 „H. hatte nichts von den Angelsachsen angenommen, aber die Angelsachsen einiges von H.“ Zit. n. Mann, Geschichte, S. 957. Vgl. dazu Ludwig Dehio, der von zunehmenden asiatischen Beimengung des NS-Regimes spricht, eine Formulierung die teilweise auch vom politischen Widerstand aufgenommen wurde. So sprach ein Flugblatt der Weißen Rose von der zunehmenden „Bolschewisierung“ Deutschlands.
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VIII. Die Morgendämmerung des Vernichtungskriegs
gekannte öffentliche Auseinandersetzung auslöste: Fritz Fischers Arbeit über die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Dies führte zu einer jener für Deutschland so symptomatischen Schulddebatten, da das Buch in erster Linie als Anklage gegen eine deutsche ‚Kriegsschuld‘ am Ersten Weltkrieg gelesen wurde, was Fischer auch selbst als eines der Hauptthemen genannt hat, obwohl er sich mit den Vorgängen um den Kriegsausbruch von Sommer 1914 tatsächlich nur wenig beschäftigt hat und statt dessen die Kriegszieldiskussion der Folgejahre in aller Breite abhandelte. Aus diesen internen und öffentlichen Diskussionen der deutschen Eliten soll sich dann – in einem ebenso methodisch unhaltbaren wie in der Öffentlichkeit wohl unvermeidlich leicht zu insinuierenden Fehlschluß – eine Interpretation des Jahres 1914 ergeben. Ein Rückschluß von späteren Ereignissen auf frühere Verantwortung also. Daß Millionen Gefallene und Hunderttausende Hungertote in Deutschland zwangsläufig eine neue Vorstellung darüber schaffen mußten, wofür dies alles geschah und was am Ende als Kompensation stehen sollte, fand wenig Beachtung. Besonders empört reagierte ein Teil des Publikums auf Fischers Offenlegung deutscher Kriegsziele, die sich eben letzten Endes tatsächlich hin zum „Griff nach der Weltmacht“ entwikkelt hatten. Imperialismus in Deutschland also. Darauf war die deutsche Öffentlichkeit nicht vorbereitet, und das hatte historische Wurzeln. Deutschland war niemals eine „Weltmacht“ gewesen, soweit man diesen Begriff seit der Frühen Neuzeit einigermaßen sinnvollerweise auf europäische Nationalstaaten anwenden kann. An all dem, was die Weltpolitik seit dem Zeitalter der Entdeckungen geprägt hat und heute noch prägt, hatte Deutschland keinen Anteil gehabt. Als entschieden wurde, ob ein katholisches, spanisch/portugiesisch sprechendes „Lateinamerika“ entstehen würde, als der Konflikt ausgetragen wurde, ob Nordamerika englisch oder französisch geprägt werden sollte, als der Handel mit Millionen schwarzafrikanischer Sklaven die ethnische Zusammensetzung Amerikas für immer veränderte, als aus „Neuholland“ das ebenfalls englisch dominierte Australien wurde und als sich das Großfürstentum Moskau bis an den Pazifik ausdehnte und ganz Sibirien zu russifizieren begann, da wurden die Koordinaten gesetzt, an denen sich bis heute „Weltpolitik“ orientiert. Nichts davon wurde durch Deutschlands „Macht“ nennenswert beeinflusst, auch wenn einzelne Deutsche oder deutsche Unternehmungen wie die Fugger zeitweise als Geldgeber eine gewisse Rolle spielten. Deutschland blieb weitgehend, wo und was es die meiste Zeit gewesen war: ein locker in Reichsform verfasstes und oft in sich zerstrittenes Gebiet zwischen „Maas und Memel, Etsch und Belt“. Das nationalsozialistische Regime benötigte nicht den Kontakt mit der Sowjetunion, um einen entscheidenden Schritt in Richtung auf einen im moralischen Sinn totalen Krieg zu tun. Als Hitler Mitte Oktober 1939 zu
3. Ausrottungsphantasien
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begreifen begann, daß alle deutschen Angebote, den Krieg zu deeskalieren, also sich aus Polen ganz oder teilweise wieder zurückzuziehen, keinen Wandel in der Kriegspolitik der Westmächte erreichen konnten, die sich nach eigener Einschätzung eher „auf den unausweichlichen Sieg vorbereiten“ mußten,103 tat er den ersten Schritt in diese Richtung. Mit dem auf den 1. September rückdatierten Euthanasie-Erlaß begann sich das menschliche Leben auf eine Funktion in einem zunehmend schrankenlosen Krieg zu reduzieren,104 einem Krieg, in dem die Auslöschung unliebsamer Menschen und Bevölkerungen sowohl Mittel wie Ziel aller Parteien wurde. Es waren die Erinnerung an den ersten Weltkrieg und der erneute Kontakt mit der alliierten Hungerstrategie, die hier die ersten Drehungen einer abgründigen Spirale in die Realität schoben. Die Kriegserfahrungen während des letzten großen Krieges der europäischen Nationalstaaten waren noch in frischer Erinnerung. Während der Auseinandersetzung mit Deutschland drohten daher umgekehrt auch in der englischen Politik frühzeitig die moralischen Dämme zu brechen. Es existierten einerseits noch vergleichsweise nüchterne Analysen, wie die des englischen Botschafters in Berlin, der den Krieg in seinem 1939 erschienen Bericht im wesentlichen als diplomatisch verursachte und erklärbare Panne verstand, oder wie die von Lloyd George, der es für unnötig wie perspektivlos erachtete, dem deutschen Reich eine Einflußzone in Mittelosteuropa mit Hilfe eines Krieges verbieten zu wollen.105 Diese Einsichten wurden von Premier Chamberlain wenigstens soweit geteilt, als er anerkannte, daß Hitler bis zum Schluß an Vorschlägen gearbeitet hatte, die ihm überaus großzügig erschienen waren,106 also keineswegs die Absicht verfolgt hatte, mit unannehmbaren Forderungen an die Republik Polen einen Krieg zu er103 Paul Reynaud zu Harold Nicolson am 31. Oktober 1939. Zit. n. Nicolson, Briefe, S. 354. 104 Bullock vermutet in der Rückdatierung die Andeutung, daß nach dem 1. September „viele Dinge möglich geworden seien, die zuvor, in Friedenszeiten, nicht opportun waren.“ Vgl. Bullock, Leben, S. 864. 105 Lloyd George ließ gegenüber dem stellvertretenden Außenminister der Vereinigten Staaten kaum einen Zweifel daran, daß er eigentlich die Unfähigkeit der eigenen Regierung und ihre irrealen Ziele für den ganzen Krieg verantwortlich machte: „Mr. Lloyd George kam sofort auf den gegenwärtigen Krieg zu sprechen und bezeichnete ihn als den unnötigsten Krieg, den bei weitem dümmsten Krieg, der England je aufgezwungen worden sei. . . . Er sagte, Großbritannien sei in diesen Krieg wegen der ungeheuerlichen Fehler seiner letzten Regierungen gestolpert. Er bemerkte, weder vom Standpunkt Frankreichs noch Großbritanniens aus gebe es einen Grund, warum die Deutschen in Zentraleuropa nicht unter einer Regierung vereint sein sollten, oder warum Deutschland keine bevorzugte wirtschaftliche Stellung in Zentral- und Südosteuropa einnehmen sollte. Bericht von Sumner Welles an Roosevelt, in: FRUS 1940, I, S. 86. 106 Zit. n. Hyde, Chamberlain, S. 145.
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zwingen. Dafür sprachen auch die nicht weniger als sechzehn deutschen Friedensbemühungen, die ein Memorandum des englischen Außenministeriums im Frühjahr 1941 aufführte. Es ging über die englische Botschaft in Washington an den Präsidenten und gab zu den Vorgängen um den Kriegsausbruch eine Interpretation des damaligen Vermittlers Dahlerus wieder, „der Widerwille der polnischen Regierung, in ernsthafte Verhandlungen über Danzig und den Korridor einzugehen, vielleicht gepaart mit einer bewußten Boshaftigkeit von Seiten Ribbentrops, habe dann den Konflikt ausgelöst.“107 Diese Überlegungen wurden vom Scheitern der englischen Politik in den Hintergrund gedrängt. Gerade manche einflußreiche Personen projizierten das eigene Versagen auf den Gegner und wurden Opfer einer antideutschen Gefühlswelle, die das Scheitern der englischen Elite bei dem Versuch, den europäischen Kontinent nach eigenen Vorstellungen umzubauen, einem konstanten deutschen Aggressionstrieb zuschrieb. Dies war eine weitere Drehung in einem langen Prozeß, in dem Teile der englischen Elite nach Bedarf einmal dieses, einmal jenes Bild von den Deutschen gezeichnet hatten. Die Irrungen und Wirrungen von Machtpolitik im Zeitalter des politischen Massenmarkts nahmen sich im Rückblick als Groteske aus. Die englischen Konservativen „erzählten uns 1918, die Deutschen stammten von den Hunnen ab oder würden Leichen kochen, um Leim zu machen; sie sagten 1924, wir sollten mit den Deutschen nächstesmal gegen die Franzosen kämpfen, 1933 war Hitler für sie Europas Retter vor dem Bolschewismus, 1938 hatte Hitler jedes Recht, Österreich und den Großteil der Tschechoslowakei zu nehmen und 1941 sollen die Deutschen jetzt wieder von den Hunnen abstammen und es soll eine Schande sein, daß wir bei unseren Luftangriffen nicht mehr von ihren Frauen und Kindern töten. Diesen Leuten zu glauben, heißt sich selbst lächerlich zu machen und lebenslang ein intellektueller Krüppel zu sein.“108
Mochte Professor Aubrey Douglas Smith in einem Pamphlet über „Guilty Germans?“ diese Dinge aufzählen, in der Atmosphäre des beginnenden totalen Kriegs trafen sie auf wenig Resonanz. Sogar die Legende, man würde in Deutschland aus gekochten Leichen irgendwelche Produkte herstellen, wurde wieder erfolgreich aufgewärmt.109 Zu den einfachen Antworten, die 107
Vgl. PRO Kew., Doc. No. FO 371/26542, hier zit. n. Allen, Friedensfalle,
S. 86. 108
Zit. n. Später, Vansittart, S. 163. Dies gehört offenbar zu den unverzichtbaren Geschichtslegenden. Selbst im Rahmen der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung wurde dieses falsche, aber offenbar nicht aus der Welt zu schaffende Gerücht kolportiert, es sei aus ermordeten Juden Seife hergestellt worden. Vgl. Scheil, Legenden, S. 7. 109
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jetzt gefragt waren, zählten der Haß auf Deutschland für die einfachere Bevölkerung und ein Rückgriff auf das Konstrukt eines angeblichen Erbagressionstriebs als etwas anspruchsvollere Analyse. Folgte man diesem selbst geschaffenen Klischee, so galt es diesen Trieb zu brechen. Dies mußte das eigentliche Kriegsziel sein, das später in einem Umerziehungsprogramm auch sozialpsychologisch geschwächt in die Realität umgesetzt werden sollte. Im Rausch des Krieges zielten manche jedoch zunächst auf Ausrottungen ganz anderer Art. Anzeichen für solche Phantasien waren etwa Winston Churchills Überlegungen, ob den Deutschen besser mit Giftgas, DumDum-Geschossen oder einem Bombenkrieg bis zur Ausrottung zu Leibe zu rücken sei.110 Von den anderen Exponenten dieser Richtung dürfte sicher Robert Vansittart der bekannteste sein, für dessen Antigermanismus der Begriff eliminatorisch die angemessene Bezeichnung sein könnte. Vansittart, als ständiger Unterstaatssekretär langjähriger ranghöchster Beamter des englischen Außenministeriums, war zwar vor Kriegsausbruch auf den frisch geschaffenen, nominell noch höheren Posten des „diplomatischen Chefberaters“ wegbefördert worden, da ein allseits bekannter Antideutscher wie er zu Zeiten des Appeasement in einer leitenden Stellung schwer vorstellbar war. Einflußreich blieb er dennoch, nach Kriegsbeginn unter anderem als neu ernannter Chefberater der Special Operations Executive (SOE), die für den Sabotagekrieg gegen Deutschland zuständig war.111 Jetzt, im Dezember 1940, sah er die Zeit gekommen, seine Ansichten auf spektakuläre Weise öffentlich werden zu lassen. Auch diese Affäre läutete die neue Drehung der Eskalationsspirale mit ein, die den Krieg am Ende des Jahres ein weiteres Stück näher an den Vernichtungskrieg heranbrachte, gerade als ernsthafte Anstrengungen unternommen wurden, ihn zu beenden. Vansittart, der hinter den Kulissen ganz andere Ziele favorisierte, sabotierte jeden Kompromiß nach Kräften. Seiner Ansicht nach gab es nur den Krieg bis zum endgültigen Sieg und auf dem Weg dorthin nur eine Klammer, die das Land wirklich zusammenhalten könnte: den Haß auf Deutschland.112 Diesen Haß nun galt es zu fördern, in England wie in Übersee. Vansittart sah zu diesem Zweck ein elektronisches Medium als besonders geeignet an, das Radio. Der „Black Record“, wie Vansittart eine Folge von sechs Radiosendungen nannte, die im Dezember 1940 ausgestrahlt wurden, existierte zunächst nur als Aufnahme für Hörer in Übersee, als Teil einer Strategie, den deutschen Gegner weltweit so gut wie irgendwie möglich als Irrational und für Verhandlungen ebenso unzugänglich wie unwürdig zu dämonisieren. Wegen der großen Aufregung gab es dann wenige Wochen später einen 110 111 112
Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 364. Vgl. Später, Vansittart, S. 126. Vgl. Später, Vansittart, S. 131.
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Abdruck in der Presse, dann eine Druckversion in Englisch, bald darauf auch in Polnisch, Portugiesisch, Französisch, Holländisch und Spanisch. Eine amerikanische Ausgabe des „Black Record“ erschien nicht, so wenig wie eine deutsche. Beides brauchte auch nicht der Fall zu sein, denn die vielleicht schrecklichste Folge seiner Sendungen entwickelte sich in beiden Ländern auch so. Vansittart fand in Amerika einen Nachahmer, der ihn an Radikalität noch übertraf und schnell nach Deutschland zurückwirkte. Dort machte er auf die Nationalsozialisten einen entsprechenden Eindruck: „Wie einfach hätte es der Feind es haben, wieviel Blut hätte er sparenkönnen, wenn er vom ersten Kriegstage an auf der These beharrt hätte: Wir kämpfen nicht gegen das deutsche Volk, sondern gegen seinen verworfenen Führer. Oder: Wir wollen das deutsche Volk von der Nazi-Partei befreien. Ich hätte als deutscher Propagandaminister solchen konsequent vertretenen Parolen gegenüber einen schweren Stand gehabt. Statt dessen veröffentlicht man einen Morgenthau-Plan und läßt die Vansittart und Kaufmann ihre antideutschen Haßgesänge singen.“113
Als Joseph Goebbels diese Sätze formulierte, blickte er bereits der endgültigen Niederlage ins Gesicht. Dreieinhalb Jahre zuvor, man befand sich im Sommer des Jahres 1941, kamen ihm zum ersten Mal diese „antideutschen Haßgesänge“ zu Ohren. Am 24. Juli 1941 notierte er in seinem Tagebuch, es würde augenblicklich in den Vereinigten Staaten ein Buch eines bis dahin unbekannten Autors namens Theodore Kaufman erscheinen, wo „im Ernst der Vorschlag gemacht wird, die ganze deutsche Bevölkerung auszurotten bzw. zu sterilisieren. So dumm und so absurd dies Projekt ist, es zeigt doch, in welcher Geistesverfassung sich unsere Gegner befinden.“114 Hielt er hier die Ausführung eines solchen Verbrechens also für unwahrscheinlich, den Plan selbst aber für ein bezeichnendes Symptom, dann änderte sich diese Einschätzung in den nächsten Tagen. Goebbels nahm das Buch jetzt ernst: „Das Volk muß wissen, daß Deutschland jetzt um seine nackte Existenz kämpft und daß wir zu wählen haben zwischen einer absoluten Liquidierung der deutschen Nation und der Weltherrschaft.“115 Der Inhalt des gemeinten Buchs rechtfertigte dies scheinbar durchaus. Das englische Volk hatte bereits Vansittarts Ausführungen in ihrer letzten Konsequenz verstanden: „Vorherrschend scheinen Haßgefühle auf die Deutschen und der Wunsch, daß man sie ausrotten werde – letzteres speziell eine Hoffnung der Arbeiterklasse,“ meldete die Zensurbehörde zwei Monate nach Beginn seiner Rundfunkauftritte.116 Vansittarts Formulierungen liefen 113 114 115 116
Zit. n. Oven, Finale, S. 535. Vgl. Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 116, 24. Juli 1941. Vgl. Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 118, 26. Juli 1941. Zit. n. Colville, Tagebücher, S. 252, 5. Februar 1941.
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darauf hinaus, die Ausrottung („extermination“) von vierzig bis fünfzig Millionen Deutschen zu fordern, stellte Churchill fest. Dies war denn auch für ihn scheinbar zuviel, brachte den Premier aber weniger zu moralischen Betrachtungen oder zu grundsätzlichem Nachdenken über den Geisteszustand des formell obersten Beamten seines Außenministeriums, sondern zu der lapidaren Bemerkung, dies sei „dumm“.117 Ob diese Dummheit in der Position an sich bestand, oder darin, dies offen ausgesprochen zu haben, blieb ungeklärt. Intern ging Churchill sogar noch weiter. Sein Satz vom dreizehnten Oktober. „Jeder lebende Hunne bedeutet einen möglichen Krieg“,118 übertraf Vansittart und nahm die Ausrottungsphantasien eines Theodore Kaufman bereits vorweg. Vansittart blieb jedenfalls im Amt, auch wenn sein etwas unbritischer Ruf, ein lebender Skandal zu sein, seinen endgültigen Abgang aus dem Foreign Office ein halbes Jahr später beschleunigt haben mag. Kaufman, der Autor von „Germany must perish“, dessen Zeilen Goebbels für so bezeichnend hielt, sah dies hinsichtlich der offenen Aussprache anders als der britische Premier. Er machte sich Vansittarts Ansatz zu eigen und übertraf ihn noch in den Folgerungen. In einem deutlichen Hinweis auf die englische Herkunft wies er in der Einleitung gleich darauf hin, der hier vorgestellte Plan einer Auslöschung des deutschen Volkes beruhe auf der Annahme eines englischen Sieges über Deutschland ohne die Unterstützung der Vereinigten Staaten. Damit war gleichzeitig möglicher Kritik ein Riegel vorgeschoben, die da hätte lauten können, der Autor wollte die USA in jenen Krieg gegen Deutschland treiben, den Präsident Roosevelt immer noch vermeiden wollte, obwohl er sich energisch auf ihn zu bewegte. Dann machte Kaufman sich Vansittarts Zentralbehauptung zu eigen, dies sei kein Krieg gegen Hitler und kein Krieg gegen die „Nazis“, sondern ein Völkerkrieg, in dem die „ins Licht strebende Zivilisation“ gegen die Barbaren, nämlich die Deutschen kämpfen würde.119 Wie Kaufman hatte Vansittart eine Verbindung von Hitler zu Wilhelm II. gesehen und berief sich wie er auf eine angebliche deutsche Eroberungstradition seit den Germanen, auf vergangene Jahrhunderte deutscher Angriffs117 Vgl. Dokumente, I, S. 266, 7. Januar 1941, Churchill an Vansittart. Öffentlich distanzierte sich Churchill nicht von Vansittarts Polemik. Vgl. Blasius, Deutsche, S. 183. 118 Zit n. Colville, Tagebücher, S. 192, 13. Oktober 1940. 119 Vgl. Kaufman, Perish, S. 4. Vansittart wurde ebenfalls nicht müde, die Deutschen als bewußte Barbaren zu bezeichnen und hatte angekündigt, „der Himmel würde dunkel“ bei einem deutschen Sieg und forderte Opfer „um unsere Erde von den Mächten der Finsternis zu erlösen.“ Vgl. Vansittart, Record, S. 57. Er stellte sie sogar „God’s other people“ gegenüber und damit außerhalb der Menschheit. Vansittart an Churchill am 15. September 1940, zit. n. Dokumente, I/1, S. 205.
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lust. In seinem Eifer schien der langjährige Chefdiplomat des englischen Empire die unfreiwillige Ironie dieser Ausführungen nicht bemerkt zu haben, hatten doch gerade seine Vorgänger in diesen so spektakulär vorgewiesenen deutschen „Eroberungsjahrhunderten“ phasenweise den Großteil des Planeten unter ihre Kontrolle gebracht, während das deutsche Reich gleichzeitig kaum einen irgendwie machtpolitisch zu deutenden politischen Willen erkennen ließ und territorial beachtlich schrumpfte. Gerade Vansittart hätte dies wegen seiner selbstverständlich vorhandenen Geschichtskenntnisse, theoretisch aber auch aus eigener Erfahrung bewußt sein können, weil er während des Burenkriegs in Deutschland lebte und die aggressive Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf diese Spätphase des englischen Imperialismus persönlich erlebte. Der machtpolitisch motivierte Angriff auf andere Länder wurde in Deutschland demnach offensichtlich wenig geschätzt. Vansittart kritisierte aber bereits damals nicht die eigene Regierung oder deren Aktionen, sondern zog aus der negativen deutschen Reaktion auf den englischen Kolonialkrieg statt dessen einen Großteil seiner deutschfeindlichen Vorurteile. Er war nicht der einzige. Besonders deutlich werden die Parallelen zwischen Vansittart und Kaufman bei der Berechnung der Zahl der Deutschen, die an dem allem angeblich unschuldig seien. Vansittart hatte sich hier ebenfalls so seine Gedanken gemacht. In einem Memorandum an Churchill am 15. September 1940 kritisierte er den Premier wegen fehlendem Rassismus.120 Churchill habe im Rundfunk von „Nazis“ in Deutschland gesprochen, aber das lenke vom eigentlichen Problem ab, dem der deutschen Rasse: „Die Nazis haben nur verschlechtert, was vorher bereits, unterscheidbar von allen anderen Arten an Brutalität, Blutrünstigkeit vorhanden war, jenseits jeder Möglichkeit der Korrektur oder Vergebung: die deutsche Rasse.“ Dann machte er scheinbar ein Zugeständnis: „Ich weiß, zwanzig Prozent sind – vielleicht – in Ordnung und daß sie als ganzes vor Friedrich dem Großen nicht so waren. Ich habe das oft selbst gesagt. Aber was kümmert das Sie, oder mich, oder die Menschheit? Lassen Sie uns nur darüber richten, was die ganze Art der Menschheit angetan hat. In diesem Fall brauchen wir keine Argumente mehr zu hören.“121
Als Vansittart die Deutschen öffentlich anklagte, versäumte er es, geschichtliche Entwicklungen seit Friedrich dem Großen besonders zu betonen. Gegenüber Churchill fuhr er in diesem Argumentationsstil fort bis zur Schlußfolgerung, bis zum Endsieg sollte „das Feuer des Ressentiments 120
Vansittart an Churchill am 15. September 1940, zit. n. Dokumente, I/1, S. 204, Hervorhebung im Original. 121 Vansittart an Churchill am 15. September 1940, zit. n. Dokumente, I/1, S. 205, Hervorhebung im Original.
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ordentlich geschürt werden“. Besonders bemerkenswert ist jedoch, daß sowohl die zwanzig Prozentangabe als auch die ganze Argumentation so ebenfalls bei Kaufman steht: „Natürlich wird hier keine unfaire Behauptung aufgestellt werden, jedermann in Deutschland sei an seinen maßlosen Angriffen auf die Welt schuld. Tatsächlich werden wir, um unsere Darstellung abzusichern, Deutschland begünstigen, indem wir erlauben zu sagen, daß wohl zwanzig Prozent seiner Bevölkerung schuldlos sind, Komplize seiner Verbrechen zu sein, und seiner kriegerischen Seele fremd gegenüber stehen. Wir geben es daher zu, um die Argumentation zu vereinfachen, etwa fünfzehn Millionen Deutsche sind unschuldig.“122
Kaufman wählte exakt die gleiche Zahl wie Vansittart, mit der gleichen ironischen Nebenbemerkung, dies sei eher hoch gegriffen. Aber was ging das denn eigentlich, so führte er die Argumentation des Vansittart-Memos fort, die Menschheit an: „ABER – sollen Polen, Tschechen, Slowaken, Österreicher, Norweger, Holländer, Belgier, Franzosen, Griechen, Engländer, Iren, Schotten, Kanadier, Australier und Amerikaner – denn wir werden letztlich ebenfalls den Nagel des deutschen Stiefels spüren – sollen alle diese Völker . . . in jeder Generation ständig einem unnatürlichen Tod ins Gesicht sehen, nur damit ein kleiner Teil der deutschen Bevölkerung weiter existieren kann?“123
Der Autor vergaß, daß Irland gar nicht mit Deutschland im Krieg war, er vergaß im weiteren Verlauf im besonderen, noch zwischen Österreichern und Deutschen zu differenzieren und rottete erstere auf seiner im Buch enthaltenen Landkarte ebenfalls aus. Denn nichts an diesen Deutschen sei wertvoll, daß es ein Weiterleben rechtfertigen würde. Gebraucht werde daher ein Friede, so hatte Vansittart an Churchill geschrieben, der die Deutschen daran hindern würde, einen sechsten Krieg gegen „Gottes andersartige Völker“ anzuzetteln: „Ich unterstreiche das Wort andersartig, denn die Deutschen unterscheiden sich in der Tat, Gott sei Dank.“124 Kaufmans Text wußte aus dieser Andersartigkeit die Schlußfolgerungen zu ziehen und fuhr an der gleichen Stelle fort: „Zu kämpfen, zu gewinnen und den Germanismus diesmal nicht für immer beenden, indem man dieses Volk komplett ausrottet, bedeutet den Ausbruch eines weiteren Kriegs innerhalb einer Generation.“125
Dies war im Grunde nur eine gewisse Zuspitzung und Ausformulierung dessen, was Vansittart auch immer wiederholt hatte. In seinem Vorwort zu 122
Zit. n. Kaufman, Perish, S. 8. Zit. n. Kaufman, Perish, S. 9. 124 Vansittart an Churchill am 15. September 1940, zit. n. Dokumente, I/1, S. 205, Hervorhebung im Original. 125 Zit. n. Kaufman, Perish, S. 10. 123
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„Black Record“ hatte er zwar die Behauptung von sich gewiesen, er sei Rassist. Tatsächlich verwendete er den Begriff der Rasse im ‚Black Record‘ nicht als Leitmotiv, wohl aber in seinen Aufzeichnungen und den Schreiben an Churchill. Das Publikum verstand ihn dennoch richtig, wie oben gesehen. Die übrigen Behauptungen der Texte ähneln sich ebenfalls: Deutsche fühlten sich auserwählt, warfen ihnen Kaufman wie Vansittart vor; es sei gar nicht der Fall, daß das Phänomen Hitler oder der Nationalsozialismus wegen der Versailler Verträge entstanden seien; beide Autoren bemühten gemeinsam Treitschke, Nietzsche, von Bernhardi und den deutschen „Stiefel“ der Unterdrückung; sie griffen auf die Berserker der nordischen Mythologie zurück, beriefen sich auf Heinrich Heines Prophezeiung einer deutschen Revolution, von der die Welt erschüttert werden würde und mahnten das Publikum abschließend dringend an, mit Deutschland nur ja keinen Frieden zu schließen. „Die Unschuldigen hatten Zeit genug. Es wäre unser Fehler, wenn sie weitere bekommen“, schloß Vansittart ironisch.126 Ob man es hier im Fall Theodore Kaufman nur mit einem amerikanischen Außenseiter zu tun hat, der die Klischees des gewöhnlichen Antigermanismus auf Anregung des ‚Black Record‘ zu einem Mordaufruf zusammenfaßte, oder ob mehr dahinter steckt, ist schwer zu sagen. Kaufman hatte sich durchaus Mühe gegeben, eine Art Pseudoanalyse zusammenzustellen. Er nannte deutsche Autoren und zitierte sie teilweise, deren Arbeiten in den Vereinigten Staaten kaum greifbar gewesen sein dürften.127 Wie gesagt hatte er sich ausgerechnet, daß es höchstens 15 Millionen unschuldige Deutsche geben würde. Diese fünfzehn Millionen nun am Leben zu lassen, schien ihm eine zu große Gefahr für die dringend nötige Sicherheit der Menschheit zu sein. Ihnen gedachte er deshalb das gleiche Schicksal zu bereiten wie allen anderen Deutschen auch. Sie sollten kastriert bzw. sterilisiert werden und dann bis zum Ende ihres Lebens in Arbeitslagern bleiben, bis dann nach der vergleichsweise kurzen Zeit einiger Jahrzehnte das deutsche Problem auf „humane Weise“ durch Aussterben gelöst sein würde.128 126
Vgl. Vansittart, Black Record, S. 56. Kaufmans Text ist in seinem „argumentativen“ Teil vorwiegend ein Pamphlet gegen den Alldeutschen Verband zu Zeiten des Wilhelminischen Kaiserreichs. Es werden dabei ausschließlich Texte erwähnt, die zwischen 1890 und 1920 entstanden sind und die auch nicht in dem von Kaufman ebenfalls erwähnten, etwas später im Jahr 1924 erschienen Buch von Mildred Wertheimer über „The Pan-German League“ genannt sind, also vom Autor wohl selbst eingesehen wurden. Man kann vor diesem Hintergrund fast ausschließen, daß dieser Teil von „Germany must perish“ im New York der Jahre 1940/41 geschrieben wurde. 127
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Die Art der Präsentation seines Buchs durch das Verschicken kleiner Papp-särge an Zeitungsredaktionen wirkte skurril. So wäre dies nicht bedeutend geworden, wenn es nicht von der auflagenstärksten Illustrierten der Vereinigten Staaten in den Rahmen einer größeren Öffentlichkeit gehoben worden und wohl deshalb im inneren Zirkel der Nationalsozialisten bitter ernst genommen worden wäre. Die Redaktion von „Time“ verglich den Vorschlag Kaufmans mit einem im England des 18. Jahrhunderts publizierten Pamphlet, den Hunger in Irland durch das Verspeisen der irischen Kinder zu lösen. Daß aber ein „Jude“, wie die Zeitung ebenfalls betonte, jene Vernichtung des deutschen Volks forderte, von der Hitler im Januar 1939 angekündigt hätte, wenn Juden dies wollten, so würde dies keinesfalls das Ergebnis eines solchen Krieges sein, sondern im Gegenteil die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“,129 mußte ein Politikum werden. Gewollt oder ungewollt hatte Kaufman an die abgründigsten Angst- und Haßphantasien der Nationalsozialisten appelliert. Die Frage, warum die Nationalsozialisten der jüdischen Bevölkerung des östlichen Mitteleuropa den Tod zugedachten und ob ob dabei eine Verbindung zum gleichzeitigen Kriegsgeschehen bestand, ist mit Antwortversuchen auf vielen Ebenen bearbeitet worden. Hitler kam während des Krieges des öfteren auf seine „Prophezeiung“ von der Auslöschung des Judentums in Europa zurück, verlegte sie dabei aber stets auf den 1. September 1939, um einen Zusammenhang mit dem Kriegsbeginn herzustellen.130 Daraus ist geschlossen worden, die Absicht zum Mord an den Juden habe mindestens seit dem 30. Januar 1939 bestanden.131 Diese Auffassung ist konsequent und beinahe unvermeidlich, wenn man davon ausgeht, daß Hitler selbst den großen Krieg entfesseln wollte, für den er die Schuld in seiner Ankündigung profilaktisch dem Judentum zuschob. Allerdings ist diese Auffassung widerlegt und wurde von ihren Protagonisten von vornherein nicht ohne Verbiegung der Quellen in die Welt gesetzt. Stefan Kley etwa, der Hitlers 128 Solche verdrehten Vorstellungen von Humanität gab es in diesen Wochen auch anderswo. General von Roques, Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes der Heeresgruppe Nord in Rußland, empörte sich am 8. Juli 1941 über die Massenerschießungen von Juden in Litauen und bedauerte es, auf diese Maßnahmen in der „Judenfrage“ keinen Einfluß zu haben und sich nur fernhalten zu können. Er hatte aber auch einen Vorschlag bereit: „Am sichersten wäre es, sie durch Sterilisierung aller männlichen Juden zu lösen.“ Vgl. Leeb, Lagebeurteilungen, S. 288. 129 Vgl. Hitler, Reden, II, S. 1058. 130 „Und nicht vergessen möchte ich den Hinweis, den ich schon einmal, nämlich am 1. September 1939, im deutschen Reichstag gegeben habe. Den Hinweis darauf nämlich, daß, wenn die andere Welt von dem Judentum in einen allgemeinen Krieg gestürzt würde, das gesamte Judentum seine Rolle in Europa ausgespielt haben wird.“ Vgl. Hitler, Reden, II, S. 1663, 30. Januar 1941. 131 Vgl. Kley, Intention, S. 213.
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„Prophezeiung“ in einem eigenen Aufsatz als Ankündigung eines lange geplanten Massenmords darstellt, zog ausgerechnet das Hoßbach-Protokoll von November 1937 heran, um zu behaupten, Hitler habe „an seinen schon in den 20er Jahren fixierten Plänen festgehalten. Er wollte Lebensraum auf Kosten der Sowjetunion erobern, und da dieser Krieg spätestens 1943 stattfinden sollte, war bei der Durchführung der Vorbereitunsgkriege in Mittel- und Westeuropa eigentlich nicht mehr allzuviel Zeit zu verlieren.“132
Unangenehm für den Historiker Kley sollte sein: Im Hoßbach-Protokoll, das von ihm und ungezählten anderen als Beleg für solche Pläne herangezogen wurde, steht nichts über die Eroberung von Lebensraum in der Sowjetunion, auch nichts von Vorbereitungskriegen in Westeuropa oder anderswo. Hitler drückte hier in seinem „Testament“ statt dessen die Erwartung aus, wegen der günstigen internationalen Lage überhaupt ohne Krieg auszukommen und auf diesem Weg dennoch Österreich und den deutschtschechischen Westen der Tschechoslowakei für das Deutsche Reich erwerben zu können. Jene Vorgaben waren zum Zeitpunkt der „Prophezeiung“ im Januar 1939 bereits abgearbeitet, so daß sich das Hoßbach-Protokoll bei unvoreingenommener Betrachtung als Hinweis darauf herausstellt, daß der Kriegsausbruch von 1939 mit den vorher geäußerten Plänen Hitlers in keinem Zusammenhang steht. Dies wirft ein Schlaglicht auf die Qualität einer Geschichtswissenschaft, die an erfundene Behauptungen über den Inhalt von Schriftstücken weitestgehende Spekulationen über die Gründe für ein Ereignis wie den Mord an den europäischen Juden knüpft. Daß der Antisemitismus eine lange Vorgeschichte hatte, sich dabei keineswegs auf Deutschland beschränkte, sondern gerade in Osteuropa durch zahlreiche spontane Ausschreitungen zum Ausdruck kam, die es in Deutschland in dieser Form nicht gab, ist bekannt. Daß es sich vor diesem Hintergrund um ein „paneuropäisches Ereignis“ handelte, begangen vor einem historisch geschaffenen christlichen Hintergrund gegen eine außerchristliche Gemeinschaft, ist zu Recht vermerkt worden.133 Nachdem lange Zeit solche irrationalen, religiösen und pseudoreligiösen Haßgefühle als Leitmotiv akzeptiert worden waren, haben andere Autoren die wirtschaftlichen Motive in den Vordergrund gestellt, die im Rahmen ökonomischer Irrtümer einen volkswirtschaftlichen Gewinn aus dem Verschwinden von Millionen Menschen erwarten ließen. Sie schilderten einen durch keine moralischen Schranken gebremsten Utilitarismus, der zur Förderung seiner Bi132
Vgl. Kley, Intention, S. 203. „Der Holocaust war ein paneuropäisches Ereignis, zu dem es nicht hätte kommen können, wenn nicht in den späten dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Millionen von Europäern ein Ende der uralten jüdischen Präsenz in ihrer Mitte hätten sehen wollen.“ Zit. n. Wistrich, Holocaust, S. 16 f., Hervorhebung im Original. 133
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lanzen über Leichen ging. Vereinzelt ist auch auf die Kriegspolitik der Alliierten hingewiesen worden, die einen eigenen Anteil daran hatte, daß die europäischen Juden in der „dreifachen Falle“ (Shlomo Aronson) gefangen waren. Dies ließ aus den Deportationsabsichten des Madagaskar-Plans ein Mordprogramm werden, nachdem Hitler bis zur Eskalation des Krieges „auf seine Weise seinem Hauptwunsch treu (blieb), nämlich der Aneignung eines Lebensraumes in Mitteleuropa und begrenzten Teilen Osteuropas, ohne Zweifrontenkrieg, sowie der Beseitigung der Juden aus diesem Hegemonialbereich, nicht durch physische Vernichtung, sondern hauptsächlich durch Zwangsauswanderung bzw. Verdrängung“.134 Zu diesem Lebensraum gehörten weder Westeuropa noch die der UdSSR zugestandenen Gebiete ihrer Interessensphäre von 1939, so lange „es Stalin vermeiden würde, die Gebiete unter deutscher Herrschaft in Osteuropa, auf dem Balkan und in Nordeuropa . . . zu bedrohen“.135 Nun, Stalin war weit so entfernt davon, die aktuell erreichte deutsche Einflußsphäre zu respektieren, wie es die englische Regierung oder die amerikanische Präsidentschaft waren. Wie wir gesehen haben, hatte er Molotow für den Berliner Gipfel im November 1940 die Anweisung gegeben, das entsprechende deutsch-russische Abkommen zu kündigen. Die genannte Voraussetzung entfiel daher in den Jahren 1940/41 zusehends. Wie Aronson ausführt, war die Einlösung von Hitlers Todesdrohung von dem Verhalten der drei großen Alliierten „abhängig“, also davon, ob sie den Krieg „zu einem Weltkrieg ausweiten würden, einem Krieg, den die Briten, Bolschewisten und Amerikaner, die allesamt jüdischen Einfluß, jüdische Philosophie und jüdische Methoden verträten . . . Deutschland aufzwingen würden, um sein Recht auf Souveränität und Hegemonie in seinem natürlichen Lebensraum in Europa anzufechten und Deutschlands vollends zu zerstören“.136 So verursachte ihre Haltung in Kombination mit den antisemitschen Vorstellungswelten der Nationalsozialisten verhängnisvolle Folgen. In diesem Sinn hing das Überleben der europäischen Juden tatsächlich davon ab, ob ein Weltkrieg ausbrechen würde. Man kann nicht davon ausgehen, daß besonders die englische Regierung von vornherein gewußt habe, mit welchen Effekten sie es zu tun bekommen würde, wenn sie den Krieg trotz aller deutschen Friedensangebote fortführen und ausweiten würde. Wie weit die nationalsozialistische Führung bei der Umsetzung ihrer Drohung gegen das Judentum gehen würde, blieb ihre eigene freie Entscheidung und lag in ihrer eigenen Verantwortung. Allerdings läßt sich Hugh 134 Vgl. Shlomo Aronson: Die dreifache Falle, Hitlers Judenpolitik, die Alliierten und die Juden, in: VfZ (1984) S. 29–65, hier S. 36 ff. 135 Wie Aronson zu Recht hervorhebt. Vgl. Aronson, Falle, S. 37. 136 Vgl. Aronson, Falle, S. 49.
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VIII. Die Morgendämmerung des Vernichtungskriegs
Daltons Erklärung vom Februar 1941 gegenüber Anthony Eden, er habe ernste Gewissenskonflikte bei dem, was Winston Churchill vorgeschlagen habe, auch in diesem Sinn deuten.137 Hier hat Richard Breitman nachgewiesen, wie sehr die alliierten Staatsführungen nach dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR bereits frühzeitig über die Judenerschießungen durch die Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes der SS informiert waren und wie wenig das Wissen um diese Tatsache letzten Endes ihre Entscheidungen im Rahmen des Gesamtkrieges beeinflußte.138 Dies stellte ein eigenes Element der dreifachen Falle dar, in der die europäischen Juden gefangen waren. Pläne zu ihrer Rettung durch Evakuierung aus Europa oder sonstige Verhandlungen mit Deutschland über diese Frage wurden erst gar nicht in Betracht gezogen oder schnell verworfen. Richard Law, parlamentarischer Staatssekretär im englischen Außenministerium, reagierte beispielsweise ablehnend auf die von einem Mitglied des jüdischen Weltkongresses vorgetragene Aussicht, die Nationalsozialisten könnten einhunderttausend jüdischen Kindern die Ausreise aus dem von ihnen kontrollierten Gebiet erlauben. Seiner Meinung nach seien die Nationalsozialisten tatsächlich von den Schlagworten ihrer antijüdischen Kampagnen überzeugt: Je mehr sich ihre Lage auf den Schlachtfeldern verschlechtern würde, desto stärker würden sie auf einen Sieg über die Juden drängen, so Law: „Freilich wird nicht jeder mit mir übereinstimmen, und wir können nicht das Risiko eingehen, daß die Deutschen unseren Bluff entlarven.“139 137 Dalton arbeitete zu diesem Zeitpunkt unter anderem bereits ein Dreivierteljahr an subversiven Aktionen auf dem Balkan mit dem Ziel, den Krieg dorthin auszuweiten. Auch Stafford Cripps hielt sich bereits seit ebenso langer Zeit in Moskau auf, mit dem Ziel die UdSSR auf die britische Seite zu ziehen und möglichst zum Kriegseintritt gegen Deutschland zu bewegen. Beides gehörte zum Rüstzeug englischer Außenpolitik, wenn auch Vertragbruch anderer Staaten damit verbunden sein mochte. Daß in englischen Regierungskreisen überdies bereits seit „ein, zwei Monaten“ die Idee herumgereicht wurde, man müsse einen Weltkrieg erzeugen, schrieb Dalton selbst. Was Winston Churchill daher am 27. Februar 1941 vorgeschlagen hatte und Dalton einen Tag später unmittelbar zu seinem Gewissenkonflikt trieb, mußte also eigentlich etwas anderes, ein neuer Aspekt oder ein neues Vorhaben sein. In diesem Fall bekäme die Frage möglicherweise ebenfalls einen neuen Aspekt, wie ein unbekannter New Yorker, von dem weder vorher noch nachher etwas zu hören war, in diesen Tagen ein Buch veröffentlichen konnte, das passagenweise nicht nur wie die öffentlichen Sendungen Robert Vansittarts klingt, sondern mit seinen geheimen Memos an den englischen Premier argumentativ identisch ist und zu dem Schluß kam, den Churchill vor einigen Monaten gezogen hatte: jeder lebende Hunne bedeute Kriegsgefahr. Vgl. PRO, Kew., Doc. FO 898/306, Dalton an Eden vom 28. Februar 1941. 138 Vgl. Breitman, Staatsgeheimnisse, S. sowie Greiner, Morgenthau, S. 143 f. Greiner beschreibt, wie trotz vorhandener Kapazitäten und Fähigkeiten zum präzisen Bombardement, entsprechende Angriffe auf Auschwitz an der „Gleichgültigkeit“ der alliierten Führungsstäbe scheiterten.
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Mit dieser Argumentation lehnte Law letztlich die Intervention zugunsten jüdischer Kinder ab. Den Sieg über Deutschland „um jeden Preis“ erreichen zu wollen, hatte eine Kehrseite, die wir anhand der alliierten Hungerpläne bereits kennengelernt haben. Dies war jedoch nicht die einzige Kehrseite, dieses „großen Spiels“, das für so viele Unbeteiligte auch deshalb eine tödliche Farce wurde, weil die Westmächte den Krieg über seine Eskalation ohne Rücksicht das Schicksal Unbeteiligter zu führen gedachten. Das führte zu Dialogen der Fassungslosigkeit unter denjenigen, die diesen Aspekt alliierter Politik verhindern wollten „Henry Morgenthau sprach von ‚einer satanischen Kombination britischer Kälte und diplomatischer Doppelbödigkeit, kalt und korrekt und gleichbedeutend mit einem Todesurteil‘. ‚Die Briten sagen, verurteilt sie doch zum Tode. . . . Ihre Haltung ist: Was sollen wir mit ihnen anfangen, wenn wir sie herausbekämen? Eine erstaunliche, eine höchst erstaunliche Haltung‘. (Josiah DuBois) – ‚Ich weiß wirklich nicht, wie wir die Deutschen des Mordes beschuldigen können, wenn wir so etwas tun. Das Gesetz nennt so etwas para-delicto, von gleicher Schuld.‘ (Randolph Paul) ‚Wenn man es wirklich mal zu Ende denkt, dann ist die heutige Einstellung keinen Deut anders als Hitlers Einstellung.‘ (Henry Morgenthau) ‚Da sind Sie aber unfair. Wir erschießen sie nicht. Wir lassen andere Leute sie erschießen, und wir lassen sie verhungern.‘ (Herbert Gaston) ‚Es ist schon merkwürdig, wie viele verschiedene Gründe man sich ausdenken kann, um nichts tun zu müssen.‘ (Harry Dexter White)“140
Die Nationalsozialisten selbst haben auf die Frage nach dem „Warum“ im Prinzip eine doppelte Antwort gegeben, die darauf hinauslief, die Juden würden einmal aus Grundsatz und zugleich aus Rache ermordet. Zum einen aus prinzipieller Furcht vor den angeblichen Fähigkeiten eines abstrakt gedachten Judentums, andere Länder zu unterwandern. Den „jüdisch-materialistischen Geist in uns und außer uns“ zu bekämpfen, lautete entsprechend kryptisch der berüchtigte Abschnitt des Parteiprogramms. Demnach wurde aus vorgeblich Rache gemordet, weil dieses Judentum angeblich in irgendeiner Form an jenem Krieg schuld sei, der 1939 begonnen hatte und der in Hitlers Phantasien auf die Auslöschung Deutschlands zielen sollte. Die Nationalsozialisten gaben diese Antworten laut, wenn auch nur sehr selten. Das führte zusammen mit ihren sonstigen Bestrebungen, das genaue Ge139 Unterredung Law mit Alexander Eastman am 7. Januar 1943, PRO FO 371/ 36648, hier zit. n. Breitman, Staatsgeheimnisse, S. 233. 140 Auszüge aus Diskussionen im Schatzamt über die britische Haltung zum Regnier-Plan von 1943, der eine Evakuierung jüdischer Flüchtlinge aus dem deutschen Machtbereich vorsah. Hier zit. n. Greiner, Morgenthau, 128 f.
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VIII. Die Morgendämmerung des Vernichtungskriegs
schehen bis in die Sprachregelungen hinein absolut geheim zu halten, zu einer nicht auflösbaren Verschränkung von absoluter Offenheit und absoluter Geheimhaltung, die aus heutiger Sicht jede Einschätzung beinah unmöglich macht, wer wie viel über diese Vorgänge wußte. Am 24. Juli 1941 erschien im „Völkischen Beobachter“ auf der Titelseite in großer Aufmachung ein Bericht über Theodore N. Kaufmann. Selbst seine handgezeichnete Europakarte, auf der es kein Deutschland mehr gab, fehlte nicht. Wie sehr die Kaufman-Broschüre nicht nur als Propagandainstrument geeignet war, sondern im inneren Zirkel der Nationalsozialisten eine radikalisierende Wirkung begünstigte, zeigte sich nur Wochen später. Goebbels bekannte am 26. August seinen Eifer: „Die Judenfrage wird von mir unentwegt weitergetrieben. Zwar sind in fast Ämtern große Widerstände festzustellen, aber ich lasse da nicht locker. Es kommt nicht in Frage, daß wir auf halbem Wege stehenbleiben. Die Juden sollen nicht in einer Zeit, in der das deutsche Volk um seine Zukunft und um sein Leben kämpft, sogar als Gäste unseres Volkes noch die Nutznießer dieses Kampfes sein. Ich werde ihnen allmählich alle Möglichkeiten abschneiden, am Kriege zu verdienen oder überhaupt vom Kriege ungeschoren zu bleiben. Im übrigen hoffe ich, daß, wenn wir in den nächsten Wochen die Broschüre des amerikanischen Juden Kaufman in einer Millionenauflage im deutschen Volk herausbringen und außerdem die Juden dann sichtbar ihre Judenabzeichen tragen müssen, die Stimmung des deutschen Volkes den Juden gegenüber eine wesentlich andere sein wird.“141
Nun war Goebbels als Chefpropagandist eine wichtige Figur des Dritten Reichs, aber nicht die entscheidende. Diese Broschüre aber war mit niemand anderem als Hitler persönlich abgesprochen worden. Was Robert Vansittart im Herbst des Vorjahres begonnen hatte, erreichte einen unerwarteten Adressaten: „Die Massenbroschüre über das Buch des amerikanischen Juden Kaufman, zurechtgestutzt für den Kriegsbedarf des deutschen Volkes, findet die Billigung des Führers. Ich werde sie selbst überarbeiten und dann in einer Millionenauflage in das deutsche Volk hineinwerfen.“142
Hitler selbst hat diese Broschüre und damit den Inhalt von Kaufmans Buch gekannt. Das ist ein offenbar bisher übersehener Aspekt dieser ganzen Affäre. Damit war aus den skurrilen Phantasien eines Einzelnen ein Politikum erster Güte geworden. Kaufman mochte vielleicht nur ein etwas verwirrter Einzelgänger sein, dem das Time-Magazine zu unangebrachter Publizität verholfen hatte. Er wurde in Deutschland jedoch ernst genommen und die Wirkungen gestalteten sich verheerend. Hitler war offenbar bis zum Ende der Überzeugung, an den Deutschen sei ein Mord geplant: 141 142
Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 311 f. Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 271, 19. August 1941.
3. Ausrottungsphantasien
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„Unsere Feinde haben es nicht nur auf unsere nationalsozialistische Weltanschauung abgesehen – die sie dafür verantwortlich machen, die Fähigkeiten des deutschen Volkes zur Vollendung gebracht zu haben – sondern auf alles Deutsche schlechthin. Sie wollen unsere Ausrottung, darüber gibt es keinen Zweifel. Diesmal erweist sich der Haß durchschlagender als die Heuchelei. Wir können unseren Feinden für diese Offenheit nicht dankbar genug sein.“143
Die Folgen dieser angeblichen alliierten Absicht für die deutsche Kriegsführung äußerten sich bei Hitler am Ende in der Flucht in einen Ästhetizismus, der selbst dem eigenen Untergang aus dieser Perspektive einen Wert abzugewinnen wußte. „Und wenn allen verzweifelten Anstrengungen zum Trotz das Schicksal es will, daß wir nocheinmal im Laufe unserer Geschichte von übermächtigen Gegnern erdrückt werden, dann wollen wir aufrechten Hauptes und in dem stolzen Gefühl untergehen, daß kein Flecken den Ehrenschild der deutschen Nation trübt. Auch der Verzweiflungskampf trägt den ewigen Wert des Nacheiferns in sich. Man denke nur an Leonidas und seine dreihundert Spartaner! Niemals hat es dem deutschen Wesen entsprochen, sich wie eine Hammelherde zur Schlachtbank führen zu lassen. Man kann uns vielleicht ausrotten, aber man wird uns nicht widerstandslos ins Schlachthaus abführen.“144
Auch Goebbels ereiferte sich nach einigem Zögern innerhalb von wenigen Tagen immer mehr über die Auseinandersetzung mit Kaufman, wie aus seinen Tagebucheinträgen erkennbar wird: „Ich selbst schreibe zu dieser Broschüre ein Nachwort und gebe Anordnung, daß sie in fünf Millionen Exemplaren dem deutschen Volke zur Kenntnis gebracht wird. Ich verspreche mir davon sehr viel; vor allem wird diese Broschüre endgültig mit den letzten Rudimenten einer evtl. noch vorhandenen Nachgiebigkeit aufräumen, denn dieser Broschüre kann auch der Dümmste entnehmen, was uns droht, wenn wir einmal schwach werden.“145
Auch Jahre später, gegen Ende des Krieges hatte er sich, wie oben gesehen, noch nicht beruhigt. So sicher schienen sich die führenden Nationalsozialisten offenbar über den Wahrheitsgehalt und die Überzeugungskraft dieser Drohung zu sein, daß im Oktober 1941 im Völkischen Beobachter ein Artikel erschien, der die Ausmordung des osteuropäischen Judentums ziemlich konkret öffentlich andeutete und den Zusammenhang mit den Kaufman-Drohungen öffentlich herausstellte. Unter dem Leitsatz, „Sie gruben sich selbst ihr Grab!“, verwies der Völkische Beobachter auf die Schuld angeblich „jüdischer Kriegshetzer“ und hier besonders auf Kaufman, der mit „Germany must Perish“ paßgenau Hitlers berüchtigte „Prophezeiung“ aus dem Januar 1939 erfüllt habe: 143 144 145
Zit. n. Trevor-Roper, Diktate, S. 48. Ebd. Trevor-Roper, Diktate, S. 51 f. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 328.
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VIII. Die Morgendämmerung des Vernichtungskriegs
„Heute handelt es sich nicht nur um die Juden in Rumänien, sondern um die wilde Kriegshetze der Juden in aller Welt, deren Frucht dieser Krieg ist. Wenn heute die Stellung Judas in zahlreichen Ländern sich sinnvoll dahin entwickelt hat, daß die Juden ausgeschaltet sind und daß man sich ihrer entledigt, wenn sie, die in früheren Kriegen sich als Schmarotzer am verblutenden Leib ihrer Wirtsvölker mästeten, dem Dienst mit der Waffe tunlichst aus dem Wege gingen um dafür um so nachdrücklicher ihre wirtschaftliche und politische Herrschaft zu befestigen, nun ihr Verbrechen gegen die Völker dieser Welt zu büßen haben, so ist das ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, der endlich einmal die Schuldigen zerschmetternd trifft. Am 31. Januar 1939 sagte der Führer: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ Was der Führer damals seherischen Geistes verkündete, erfüllt sich heute. Der von Juda geschürte Rassekrieg gegen Deutschland rächt sich nun an den Juden selbst. Sie müssen nun den Weg gehen, den sie sich selbst bereitet haben. Der USA-Jude Nathan Kaufman, den enge Beziehungen mit dem Präsidenten Roosevelt verbinden, war so offenherzig, als Lieblingswunsch des Weltjudentums die völlige Ausrottung des deutschen Volkes zu verkünden. . . . Das Judentum erbaut sich an dem Wunschbild der physischen Vernichtung des deutschen Volkes, das diesen Schmarotzern entschlossen den Stuhl vor die Tür gesetzt hat.“146
Der Artikel hatte ebenfalls die Billigung von Goebbels, der ihn wegen einer erneuten Forderung in der Auslandspresse, es dürften nach dem Krieg langfristig nur zehn Millionen Deutsche übrigbleiben, selbst lanciert hatte.147 Offenbar hatte einmal mehr jemand die Zahl der Unschuldigen berechnet und den Nationalsozialisten damit eine weitere Bestätigung ihrer Klischees geliefert, es gehe den Gegnern um einen Vernichtungskrieg gegen das deutsche Volk selbst. Unter diesen Vorzeichen vollzog der Krieg eine weitere Drehung ins Totale. Der Mord an den europäischen Juden wurde ein Teil von ihm.
146 147
Zit. n. Völkischer Beobachter, 27. Oktober 1941. Vgl. Goebbels, Tagebücher, II/2, S. 188, 27. Oktober 1941.
IX. Annäherungen 1. „Rußland hängt wie eine drohende Wolke am Horizont“ Die unmittelbaren Folgen des Molotov-Gipfels und die Beitrittswelle zum Dreimächtepakt „Ich weiß nicht, worüber Molotov mit Hitler geredet hat. Alles hängt von den Eindrücken ab. Hitler ist ein Neurotiker. Wenn ihm Molotov Angst mit unseren Gelüsten gemacht hat, so könnten sich die Ereignisse wohl überstürzen . . . .“ Maxim Litvinov1 Das Spiel nähert sich den kriegerischen Operationen. Josef Stalin2
Vjacˇeslav Molotov hatte Berlin im November 1940 noch nicht lange verlassen, als Hitler aus seinen Äußerungen erste drastische Schlüsse zog. Der Dreimächtepakt, der ursprünglich vorwiegend dazu gedacht gewesen war, die USA mit der vagen Drohung eines Zwei-Ozean-Krieges in Atlantik und Pazifik zu beeindrucken, im weiteren aber auf einen möglichen Kontinentalblock der drei Unterzeichnerstaaten mit der UdSSR abzielte, erhielt jetzt einen ganz neuen Zweck. Als Ungarn dem Pakt im Herbst 1940 unmittelbar nach der Unterzeichnung beitreten wollte und zu diesem Zweck in Berlin anfragte, war die Antwort noch negativ gewesen. Es sei kein „offener Pakt“ ließ Staatssekretär v. Weizsäcker seinen Gesprächspartner, den ungarischen Gesandten Sztójay wissen.3 Nun klang dies, als mit Molotovs drastischen Ausführungen und Roosevelts zeitnah erfolgter Wiederwahl zwei wichtige Ereignisse zusammengetroffen waren, deutlich anders.4 Die von Hitler vertretene Ansicht, Roosevelt sei für Deutschland in gewisser Hinsicht eine 1
Zit. n. Litvinov, Memoiren, S. 270. Vgl. Rede Stalins auf einer Sitzung der Truppenoffiziere am 13. Januar 1941, hier zit. n. Hoffmann, Vernichtungskrieg, S. 367. 3 Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 130, S. 192. 4 Halder registrierte am 24. Oktober bereits Ungarn, Bulgarien, Slowakei und Spanien als Beitrittskandidaten. „Jugoslawien soll im Begriff sein; Griechenland möglich. Bekanntgabe soll erst erfolgen, wenn europäischer Kreis geschlossen ist. Gegenmaßnahme, wenn Roosevelt gewählt wird.“ Zit. n. Halder, KTB, II, S. 148, 24. Oktober 1940. 2
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IX. Annäherungen
bessere Wahl als Willkie, änderte nichts an der prinzipiell zu erwartenden Folge des Wahlkampfendes. Der Wahlsieger würde sich mehr um die europäischen Angelegenheiten kümmern können. So konnten jetzt fieberhafte Aktivitäten der deutschen Diplomatie beobachtet werden. In Berlin und Berchtesgaden gaben sich in den folgenden Tagen und Wochen die hochrangigen Repräsentanten fremder Mächte geradezu die Klinke in die Hand. Am 18. November traf Hitler mit dem bulgarischen König Boris zusammen.5 Noch am gleichen Tag sprachen er und Ribbentrop auch mit Serrano Sunˇer, dem spanischen Außenminister6 und dessen italienischem Kollegen Graf Ciano.7 Am 19. November folgte König Leopold von Belgien.8 Einen Tag später schrieb Hitler an Mussolini. Am 26. trafen wieder Hitler und Ribbentrop gemeinsam den ungarischen Ministerpräsidenten Graf Teleki in Wien.9 Symptomatisch für den Hintergrund dieser Hektik waren Hitlers Ausführungen gegenüber Ciano. Nachdem er ihm Vorwürfe wegen der Konsequenzen des italienischen Angriffs auf Griechenland gemacht hatte, wo jetzt englische Truppen in aller Öffentlichkeit Stützpunkte aufbauen könnten und nicht mehr nur geheim, wie das früher bereits der Fall gewesen sei,10 erläuterte Hitler, warum er sich plötzlich in Zugzwang sah. Die Attraktivität der Achsenmächte hatte merklich zu leiden begonnen: „Im Augenblick seien die psychologischen Rückwirkungen (d.h. der gescheiterten ital. Offensive gegen Griechenland, d. Verf.) am deutlichsten zu spüren. Hier würden die diplomatischen Vorbereitungen zur Schaffung einer großen Kombination nachteilig beeinflußt. Vielfach sei ein Wiederaufleben der Zurückhaltung gewisser Länder gegenüber den deutschen Koalitionsplänen bemerkbar. Bulgarien scheine noch weniger geneigt als vorher, dem Dreierpakt beizutreten. Rußland, dessen Expansion Deutschland nach dem Süden ablenken wolle, habe gelegentlich der Berliner Besprechungen mit Molotov ein erhöhtes Interesse für den Balkan gezeigt. 5
Ein Protokoll des Gesprächs ist nicht ermittelt worden. Vgl. Olshausen, Zwischenspiel, S. 21. Zu Ciano sagte Hitler aber am gleichen Tag, Bulgarien „scheine noch weniger geneigt als vorher, dem Dreierpakt beizutreten“. Vgl. ADAP, D, XI/ 2, Dok. 353, S. 511. 6 Kern des Gesprächs: Hitler wollte Sun ˇ er dringend überreden, daß Spanien endlich in den Krieg eintreten solle. Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 352, S. 502 ff. Einen Tag später noch ein Nachgespräch Sunˇer-Ribbentrop, in dem Ribbentrop das Entstehen einer Weltkoalition gegen England unter Einschluß der UdSSR und weitere Beitritte zum Dreimächtepakt in Aussicht stellt. Sunˇer will „wegen der fortgeschrittenen Zeit“ dazu nichts sagen, erwähnt nur, daß die USA stärker seien, als von Ribbentrop dargestellt und wiederholt dann noch einmal, daß es ihm um die verstärkte Einfuhr von Getreide aus Übersee geht. Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 357, S. 522 f. 7 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 353, S. 509 ff. 8 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 356, S. 514 ff. 9 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 530, S. 530 ff. 10 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 353, S. 509.
1. „Rußland hängt wie eine drohende Wolke am Horizont“
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Auch auf die Türkei würden die Ereignisse in Griechenland kaum im Sinne einer Annäherung an die Achse wirken, während die Reaktion Jugoslawiens sich bisher noch nicht habe feststellen lassen. . . . Um diesen psychologischen Folgen entgegenzutreten, müsse ein großer Schlag gegen England und seine Flotte im Mittelmeer geführt werden. Dazu müsse das Mittelmeer sowohl in Gibraltar als auch am Suezkanal abgeriegelt werden, d.h. Spanien müsse veranlaßt werden, so bald wie möglich in den Krieg einzutreten. . . . Es müsse mit verstärkten Mitteln versucht werden, Rußlands Aspirationen vom Balkan abzulenken und nach Süden hin zu orientieren.“11
Diese Strategie wäre bei ihrem Gelingen ein substantieller Schlag gegen die mittelfristigen englischen Pläne gewesen, die deutschen Kräfte durch einen ausgedehnten Mittelmeerkrieg bis zu einer Niederlage Italiens zu schwächen und dabei möglichst die ganzen Balkanstaaten in eine Front gegen Deutschland einzubeziehen.12 Allerdings sollte nichts davon Wirklichkeit werden. Weder trat Spanien in den Krieg ein, noch konnte der Suezkanal geschlossen werden. So blieben die beiden Zugänge zum Mittelmeer unter englischer Kontrolle und Italien wurde letztlich wie geplant bis zum Zusammenbruch geschwächt. Vor allem aber gelang es der deutschen Politik nicht, die sowjetischen Wünsche vom Balkan und generell dem Mittelmeer abzulenken. Immerhin konnten im Rahmen der Bemühungen, den Balkan zu stabilisieren, zunächst einige Erfolge verzeichnet werden. Nicht nur Ungarn, sondern auch Rumänien und die Slowakei erklärten ihre Bereitschaft, sich dem Dreimächtepakt anzuschließen und wurden jetzt auch augenblicklich aufgenommen. Am 20. November (Ungarn), am 23. (Rumänien) und am 24. (Slowakei) wurden die Beitrittsprotokolle in Berlin unterzeichnet. Damit war ein Versuch unternommen, den Balkan sowohl entgegen den englischen Zielen als auch gegenüber den sowjetischen Expansionsabsichten auf den Status quo und auf die Neutralität festzuschreiben. Ernsthafte militärische Unterstützung konnte man von den Beitrittskandidaten nicht erwarten, der Balkan blieb wie der ganze Mittelmeerraum – einschließlich Italiens – ein militärisches Zuschußgebiet. Wer wollte, konnte in „Mein Kampf“ nachlesen, was Hitler selbst über den Wert solcher Bündnisse mit Mittelmeeranrainern und Balkanstaaten geschrieben hatte, von denen das wilhelminische Kaiserreich etliche besessen hatte: „Während sich die größten Militär- und Industriestaaten der Erde zu einem aktiven Angriffsverband zusammenschlossen, sammelte man ein paar alte, impotent gewordene Staatsgebilde und versuchte mit diesem, dem Untergang bestimmten Gerümpel einer aktiven Weltkoalition die Stirne zu bieten.“13 Da sich an Deutschlands Unfähig11 12 13
Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 353, S. 510. Vgl. Olshausen, Zwischenspiel, S. 33, sowie Butler, Strategy, II, S. 370 ff. Zit. n. Hitler, Kampf, S. 745.
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IX. Annäherungen
keit, attraktive Bündnispartner zu gewinnen, seitdem wenig geändert hatte, wie auch Molotov in seiner Rede vom 1. August 1940 feststellte, mußten nun ganz ähnliche Verträge geschlossen werden. Der Hauptunterschied sollte am Ende darin bestehen, das Osmanische Reich als Partner gegen Mussolinis faschistisches Italien eingetauscht zu haben, zwei Staaten, die ohne deutsche Militärhilfe beide nicht handlungsfähig waren. Einstweilen verfolgte die deutsche Bündnispolitik mehr symbolische als praktische Ambitionen. Politische Zwecke standen daher im Vordergrund der Beitritte und wurden entsprechend herausgestellt: „Inzwischen sammeln wir – groß, beinah komisch groß aufgemachte Beitritte zum Dreierpakt: Ungarn! Rumänien! Slowakei! In Rumänien wüste, beschämende Zustände unter unserem Schutz: Mord und Raub. Ohne die deutschen Truppen wäre furchtbares Chaos sicher. Bulgarien wird von uns und – im absoluten klaren Gegenspiel gegen uns – von den Sowjets umworben.“14
Dieser deutsch-russische Gegensatz, der nach Molotovs Berliner Forderungen deutlich aufgebrochen war, bildete den brisanten Kern des aktuellen Konflikts. Die USA waren buchstäblich weit entfernt. Sie konnten mit symbolischen Aktionen vielleicht ebenso beeindruckt werden, wie Roosevelt mit symbolischen Gesten einen gegenteiligen Einfluß geltend machen wollte, den er aktuell nicht militärisch unterfüttern konnte. Die teilweise negative Aufnahme William Donovans bei seiner Reise durch Südosteuropa zeigte später, wie wenig die balkanischen Affären mit allgemeinen Appellen in den Griff zu bekommen waren und wie sehr statt dessen praktische wirtschaftliche Vorteile und militärischer Druck den Ausschlag gaben. Anders als die USA stand Rußland militärisch in der größten denkbaren Nähe. In einem Treffen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Graf Teleki betonte Hitler daher besonders die Dringlichkeit des Versuchs, die UdSSR von einem weiteren Vormarsch auf den Balkan abzuhalten: „Rußland hänge wie eine drohende Wolke am Horizont und gebe sich, wie gesagt, entweder einen imperialistischen, national-russischen Anschein, oder erscheine in international-kommunistischer Aufmachung, je nach den Ländern um die es sich handle. Da jedoch die Russen andererseits realpolitisch denken könnten, würde es vielleicht möglich sein, sie auf den südasiatischen Kontinent als russische Einflußzone abzulenken.“15
Dies sei allerdings nur eines von mehreren Szenarien, die sich auf dem Balkan entwickeln könnten. Die „Ostfrage wird akut“, notierte Fedor v. Bock am 3. Dezember nach einem Gespräch mit Hitler mit dessen Begründung: „Zwischen Rußland und USA sollen Fäden laufen; damit ist 14
Zit. n. Hassell, Deutschland, S. 175, 9. Dezember 1940. Ähnlich auch die Einschätzung Weizsäckers, der von „dekorativer Bedeutung“ der Beitritte spricht. Vgl. Weizsäcker, Papiere, S. 247. 15 Zit. n. ADAP, D, XI/2, Dok. 365, S. 531.
1. „Rußland hängt wie eine drohende Wolke am Horizont“
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auch eine Verbindung Rußland-England wahrscheinlich. Das Ende einer derartigen Entwicklung abzuwarten sei gefährlich.“16 Hitler hatte die möglichen Konsequenzen aus Molotovs Aufkündigung des Abkommens über die Einflußsphären verstanden und erinnerte sich an die früheren Ereignisse des Jahres, die den Balkan mit dem Baltikum in Verbindung brachten: „Hier befänden sich alle in einem Schiff, aus dem keiner aussteigen könne. Wenn die Deutschen aus dem Balkan herausgehen würden, so würde Rußland einmarschieren, genau so, wie dies im Baltikum geschehen sei. Ein etwa entstehendes Vakuum würde sofort durch Rußland aufgefüllt werden.“17
Es drohte in diesem Fall nichts geringeres als die Sowjetisierung weiter Teile des Balkans, wie es ja in Stalins Anweisungen an Molotov auch durchaus ausgesprochen worden war und wie es 1945 dann sehr weitgehend geschah. Die weitere Kriegsführung gegen England wäre entsprechend schwieriger geworden, denn bereits die Okkupation der baltischen Länder und Bessarabiens hatte, wie oben gesehen, für Deutschland schwere wirtschaftliche Verluste mit sich gebracht. Die sowjetischen Forderungen an Berlin würden nicht geringer werden, wenn bei Bedarf noch weitere Zulieferungen durch die Sowjetregierung blockiert werden konnten. Auch an Jugoslawien war im Rahmen der Beitrittswelle zum Pakt gedacht worden. Hier näherte sich die deutsche Politik einem besonders heiklen Feld, auf dem sich italienische, deutsche, sowjetische, englische und amerikanische Interessen unmittelbar kreuzten. Am 28. November 1940 traf Hitler ebenfalls im Beisein von Ribbentrop mit dem jugoslawischen Außenminister Aleksanadar Cincar-Markovic´ zusammen.18 Bekannt war, daß die deutsche Politik und überhaupt die bloße Präsenz Deutschlands auf dem Balkan in Belgrad nur auf wenig Gegenliebe stießen. Obwohl nicht kriegführende Partei, hatte sich die Belgrader Regierung wenigstens in kleineren Angelegenheiten stets eher auf der Seite der kriegführenden Westmächte befunden. 16 Zit. n. Bock, KTB, S. 170, 3. Dezember 1940. Im folgenden Januar wies Hitler auf Berichte hin, nach denen Churchill „in geheimen Sitzungen des englischen Kabinetts immer wieder außer auf Amerika auf die entlastende Rolle Rußlands hinweise, die es vielleicht eines Tages spielen würde.“ Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 672, S. 941, 19. Januar 1941. Vgl. auch die Aufzeichnung in BA-MA N 431/262, Bl. 50 ff. Dort: Größere Gefahr als die USA sei der „riesige Block“ Rußland. Erstens binde der russische Aufmarsch Streitkräfte und dann kann „jetzt im Zeitalter der Luftwaffe von Russland und vom Mittelmeer aus das rumänische Ölgebiet in ein rauchendes Flammenmeer verwandelt werden, und dieses Ölgebiet ist für die Achse lebenswichtig.“ 17 Zit. n. ADAP, D, XI/2, Dok. 365, S. 531. Ähnlich Hitlers Kommentar zu den sowjetischen Einflußversuchen in Bulgarien: „Jede Schwäche irgendwo in Europa führe zum Vorrücken der Russen.“ Zit. n. Schramm, OKW, I, S. 204, 5. Dezember 1940. 18 Vgl. ADAP, D, XI/2, Dok. 417, S. 609 ff.
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IX. Annäherungen
So war Hitler denn auch weit davon entfernt, von Jugoslawien etwas anderes zu verlangen als die weitere Neutralität und zeigte sich sogar bei diesem Treffen bereits dazu bereit, zu diesem Zweck den jugoslawischen Wünschen nach einem weiteren Zugang zum Mittelmeer entgegenzukommen. Ciano hatte er zehn Tage vorher gesagt, man müsse, um Jugoslawien zu neutralisieren, „diesem Land wohl eine Garantie seines Besitzstandes anbieten und ihm Saloniki in Aussicht stellen.“19 Letztlich setzte sich Deutschlands Diktator mit diesen Vorstellungen auch gegen die italienischen Vorstellungen durch, obwohl Italien und Deutschland im Lauf der Verhandlungen noch weitere Zugeständnisse machen mußten und Jugoslawien neben der Garantie seiner Grenzen und dem zusätzlichen Erwerb von griechischem Gebiet und der Großstadt Saloniki auch eine öffentliche (!) Zusage durchsetzte, daß die Truppen seiner „Verbündeten“ jugoslawischen Boden in keinem Fall betreten dürften, sowie die geheime Zusage, daß diese Verbündeten auf jede militärische Hilfe Jugoslawiens verzichteten.20 Damit hatte Jugoslawien seine Neutralität denkbar teuer und für die Dreierpaktstaaten geradezu mit einer öffentlichen Demütigung verkauft. Dennoch sollte dies am Ende nicht reichen, da die jugoslawische Regierung unmittelbar nach der Unterzeichnung des Vertrags gestürzt wurde. Alle deutschen Versuche, das Machtvakuum auf dem Balkan mit Stabilität zu füllen, waren letztlich vergeblich. Zur Vorbereitung des Dreimächtepaktbeitritts wurde der jugoslawische Regent Paul von Hitler am 4. März zum Gespräch nach Berchtesgaden gebeten,21 was bereits wenig später Furore machte, weil Hitler bei dieser Gelegenheit gesagt haben soll, er würde die Sowjetunion im Juni oder Juli angreifen. Das meldete der amerikanische Gesandte Arthur Bliss Lane am 30. März nach Washington.22 In einer ersten Reaktion nach seiner Rückkehr teilte Paul dem Amerikaner jedoch lediglich mit, daß Hitler sehr freundlich gewesen sei und keine Forderungen gestellt habe, die irgendwie die territoriale oder moralische Integrität Jugoslawiens berühren würden.23 In der Tat waren aber gerade in diesen Tagen bereits zahlreiche Berichte im Umlauf, die einen bevorstehenden deutsch-sowjetischen Konflikt zum 19
Zit. n. ADAP, D, XI/2, Dok. 353, S. 510. Vgl. Olshausen, Zwischenspiel, S. 35 und den genauen Text in ADAP, D, XII/ 1, Dok. 178, S. 257 f., 18. März 1941, Telegramm Ribbentrop an die Botschaft in Rom. 21 Vgl. ADAP, D, XII/1, Dok. 130, S. 190. Fotic datiert das Gespräch auf den 1. März. Vgl. Fotic, War, S. 58. 22 Vgl. Fotic, War, S. 58. Eine deutsche Aufzeichnung dieses Gesprächs wurde nicht gefunden, so daß diese Meldung nicht überprüfbar ist. Vgl. ADAP, D, XII/1, S. 190. 23 Vgl. Fotic, War, S. 59. 20
2. Exkurs: Das Land anderer Leute
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Gegenstand hatten. Die deutschen Truppenstationierungen in Rumänien sollten einen sowjetischen Angriff dort abwehren, und ständig liefen weitere Nachrichten ein, die solche Erwartungen bestärkten. Im März las Hitler in einem Bericht des Auswärtigen Amts Neues über die verschärfte Agitation auf der sowjetischen Seite. Man werde bald in Deutschland sein, hatten demnach sowjetische Offiziere in Lettland verlauten lassen. Deutschland „kenne seine Gegner überhaupt noch nicht, womit Amerika und die Sowjetunion gemeint seien“: „In Deutschland werde bald eine Revolution ausbrechen, dann werde die Rote Armee auch dort Neuerungen schaffen und dann nach England und Frankreich ziehen.“24
Wir haben bereits gesehen, daß die sowjetische Botschaft sich in der Tat seit dem Sommer des vergangenen Jahres 1940 an konkreten Planungen versuchte, was die Rote Armee im einzelnen tun sollte, „wenn sie einmal nach Deutschland kommt“. Damit wurde nun in absehbarer Zeit gerechnet, wie Deutschlands Diktator hier schwarz auf weiß bestätigt sehen konnte. England würden die Deutschen nie besiegen, es sei zu reich und mächtig. Daher sei ein Krieg mit Deutschland unabwendbar, aber man wolle noch warten, bis Deutschland schwächer geworden sei.25 Man wird bemerken, daß diese Analyse sowohl dem entspricht, was Hitler der sowjetischen Politik später öffentlich vorwerfen sollte, als auch der eingangs zitierten Ansicht Vjacˇeslav Molotovs, daß Deutschland den Krieg gegen England nicht beenden konnte und die letzte Folgerung unvermeidlich war, wenn die UdSSR nicht auf ihre eigene Provokationspolitik verzichtete und sich in der Friedensfrage an die Seite Deutschlands stellte, wozu man in Moskau keine Veranlassung sah. 2. Exkurs: Das Land anderer Leute Über imperialistische Möglichkeiten in Kriegszeiten
Was Molotov und damit Stalin im November 1940 in Berlin verlangten, war tatsächlich nicht weniger als eine strategische Bankrotterklärung der Deutschen Regierung und eine Absage an etwa vorhandene deutschen Pläne für eine „Weltmachtrolle“ auf gleicher Höhe mit den Vereinigten Staaten, England oder etwa Rußland selbst. Deutschland würde nach diesen Vorstellungen auf Mitteleuropa im engeren Sinn beschränkt bleiben. Dennoch war 24
AA/Dienststelle Ribbentrop/Akten betr. UdSSR Sign. RC 7/1 1941. 17./ 18. März 1941. Vermerk: „Hat dem Führer vorgelegen.“ Vgl. auch Fabry, Beziehungen, S. 290. 25 Ebd. Fabry, Beziehungen, S. 290.
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IX. Annäherungen
es nur Kleingeld im Vergleich mit dem, was am Ende 1945 wirklich gezahlt werden mußte, und außerdem ging es buchstäblich nur um „Land und Rechte anderer Leute“, jene Währung, in der imperialistische Geschäfte gewöhnlich verrechnet werden. Alles in allem wäre dies vielleicht ein zahlbarer Preis für Deutschland gewesen, wenn sich damit der Frieden auf Basis des status quo von 1939 kaufen ließ. Auch hätte dies theoretisch beispielsweise in London langsam ein Bewußtsein dafür schaffen können, daß die Reichweite Hitlers sich mit diplomatischen Kräften auf Mitteleuropa begrenzen ließ, ohne dafür einen Krieg bis zum Äußersten mit anschließender Umerziehung der deutschen Bevölkerung führen zu müssen. Einen Krieg zudem, bei dem man selbst bereits 1940 in „der größten Immobilienversteigerung aus Konkursmasse, die es in der Geschichte gab“26 das Land anderer, nämlich englische Kolonien und Stützpunktrechte in Amerika und anderswo an die USA abgetreten hatte.27 Insofern stellt sich die Frage nach den konkreten Folgen, die eine Erfüllung der sowjetischen Forderungen für Deutschland gehabt hätte. War dies ein gangbarer Weg, um die Situation zu stabilisieren und die englische Regierung zum Frieden zu veranlassen? Nach den Erfahrungen mit den vorhergehenden deutsch-sowjetischen Abkommen war damit nicht unbedingt zu rechnen. Weder der Nichtangriffspakt noch der Freundschaftsvertrag oder das deutsch-russische Handelsabkommen hatten in England besonderen Eindruck hinterlassen,28 ebensowenig wie die sowjetischen Militärabenteuer in Polen oder Finnland und die Annexion der baltischen Länder und Besserabiens dazu beigetragen hatten, Rußland in den Augen der englischen Regierung mit Deutschland auf eine Stufe zu stellen oder von einer dauerhaften Interessenidentität beider Länder auszugehen. Die Entscheidungsträger in London rechneten weiterhin mit einem Bruch dieses Bündnisses. Auch zweifelte man trotz allem nicht an der eigenen Attraktivität als Bündnispartner, so daß Premier Churchill, wie gesehen, unmittelbar nach der Besetzung der baltischen Länder den britischen Botschafter Cripps mit dem Auftrag zu Stalin schickte, ihm einen kompletten Bündniswechsel vorzuschlagen.29 Rußland zählte in den Augen des Foreign Office zu den natürlichen Gegnern Deutschlands, und daran konnte kein politisches Abkommen etwas ändern. Unter dieser Prämisse lag es der englischen Politik nahe, auf den Wandel der Zeit und einen Wetterwechsel 26
So Cave Brown, Servant, S. 268. Der „lend-lease act“ belastete die Nachkriegsbeziehungen zwischen den USA und Großbritannien erheblich, da später Großbritannien kein Geld aus dem Marschall-Plan erhielt. England zahlte an seinen diesbezüglichen Schulden aus dem lend-lease-act bis 2006. Vgl. H-War, Beitrag von G. A. Mackinlay vom 5. Oktober 2004. 28 Vgl. etwa Bartel, Frankreich, S. 279. 29 Vgl. Knipping, Rußlandpolitik, S. 112. 27
2. Exkurs: Das Land anderer Leute
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zu setzen, zumal man sich der zunehmenden amerikanischen Unterstützung offenbar sicher sein konnte. Die Hoffnungen, die sich mit einem Abkommen nach dem Geschmack Molotovs verbinden konnten, mußten aus Berliner Sicht andererseits sehr spekulativ ausfallen. Großbritannien hatte sowohl die Ostseeausgänge als auch die türkischen Meerengen seit mehr als zweihundert Jahren gegen jeden Zugriff einer anderen Großmacht verteidigt, auch gegen jeden russischen. Wenn nun dort russische Truppen auftauchten, könnte man sich in London vielleicht über die kontinuierliche Dimension der russischen Ziele und der deutschen Schwäche klarwerden. Die Folge könnte es sein, daß man einen unbefriedigenden Frieden einer weiteren Schwächung Deutschlands im eigenen Interesse vorziehen würde. Aber dies war nicht mehr als eine psychologische Spekulation. Mittlerweile war nach mehr als einem Jahr Krieg von Norwegen bis Griechenland ein ganzes Knäuel von Problemen entstanden, das einer diplomatischen Lösung im Weg stand. Anders mochte dies im Fall einer sowjetischen Kriegserklärung an England aussehen, mit der eine deutsch-sowjetische Interessengemeinschaft auf längere Zeit festgeschrieben wäre und die sofort militärische Folgen zeigen würde. Unter diesen Vorzeichen würde London vielleicht einlenken, wenn die USA den russischen Kriegseintritt nicht schnell durch ihren eigenen ausgleichen sollten. Aber den sowjetischen Kriegseintritt bot Molotov ja gar nicht an und die russisch-amerikanischen Beziehungen waren ohnehin seit ihrem Tiefpunkt wegen des sowjetischen Angriffs auf Finnland im Winter 1939/40 auf dem Weg zur Besserung. Kurz nach Molotovs Abstecher in die Reichshauptstadt erklärte der russische Botschafter in Washington, Konstantin Umanskij gegenüber Sumner Welles ausdrücklich im Namen seiner Regierung, die sowjetische Chinapolitik sei mit der amerikanischen identisch.30 Er tat dies ohne jeden Vorbehalt und beendete auf diese Weise eine große Sorge in Washington, wo die Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit Chinas als eines der konkreten und öffentlich erklärten Dogmen der amerikanischen Außenpolitik eine schwere Belastung zu werden drohte. Denn hätte sich die Sowjetunion auf die japanische Seite hin orientiert und sich an der Auflösung Chinas beteiligt, wäre das State Department in Zugzwang geraten, entweder dieses Dogma aufzugeben oder seine Verwirklichung ad infinitum zu vertagen. Die Unterschiede in der Haltung der Sowjetunion gegenüber Berlin und Tokio im Vergleich zu dieser Erklärung in Washington konnten deutlicher kaum akzentuiert werden. Mit dieser Erklärung begab sich die UdSSR auf einen Konfrontationskurs zu Japan, denn die japanische Chinapolitik bildete seit 1931 den Kern des amerikanisch-japanischen Konflikts. Wenn die UdSSR hier Partei ergriff, 30
Vgl. Knipping, Rußlandpolitik, S. 176.
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IX. Annäherungen
stand sie aus Washingtoner Sicht in einer wesentlichen Frage auf der richtigen Seite. Alles sprach daher dafür, daß die von der UdSSR von Japan verlangte Aufgabe der Rechte im nördlichen Teil der Insel Sachalin nur der erste Abschnitt einer weiteren sowjetischen Expansion sein würde, wie es das Abkommen über die Begrenzung der Interessensphären mit Deutschland ja ebenfalls gewesen war. Bei Gelegenheit würde auch dies „überholt und erschöpft“ sein und die nächste Etappe sich wahrscheinlich auf China und die Mandschurei beziehen. Solange die UdSSR nicht mehr geben wollte als ein mehrfach zurückgenommenes und jederzeit wieder zurücknehmbares politisches Wohlwollen, gab es für die Erfüllung ihrer Forderungen gegenüber Deutschland kaum eine Basis.
X. Hegemonie oder Untergang 1. Die Entwicklung in Hitlers Rußlandbild Vom Kolonialgebiet zur Supermacht „Meine Zwangsvorstellung im Lauf der letzten Wochen war, daß Stalin mir zuvorkommen könnte.“ Adolf Hitler1
Die Diskussion um die Präventivkriegsthese konzentrierte sich seit den 1980er Jahren weitgehend auf die Sowjetunion und ihre möglichen Angriffsabsichten auf Deutschland. Dies war eine Folge des Umbruchs in Rußland, der Auflösung der Sowjetunion und der damit verbundenen teilweisen Öffnung der russischen Archive. So wurde es zum ersten Mal möglich, die Planungen der russischen Führung anhand von Quellenmaterial einigermaßen nachzuvollziehen und damit einen Klärungsvorgang zu wiederholen, der für den Entscheidungsprozeß in NS-Deutschland als abgeschlossen galt. Durch diesen Vorgang ist eine merkwürdige Schieflage in der Diskussion entstanden, auf die gerade von den Kritikern der Präventivkriegsthese gern hingewiesen wird. Denn so wichtig die Klärung der russischen Entscheidungsfindung im Jahr 1941 ist, so wenig kann daraus der präventive Charakter des deutschen Angriffs abgeleitet werden. Auch wenn die sowjetische Führung und Stalin selbst die Absicht gehabt haben sollten, Deutschland zu überfallen, müßte immer noch nachgewiesen werden, daß man dies in Deutschland wußte und deswegen den Angriff für den Sommer 1941 befohlen hat. Nur dann könnte der „Fall Barbarossa“ als Präventivkrieg bezeichnet werden. Dieser Nachweis ist oben erbracht worden. Im folgenden gehe ich kurz auf die Planungen innerhalb der deutschen Führung ein, was im Fall eines Sieges über die Rote Armee auf dem Territorium der UdSSR geschehen solle. Ein Krieg aus Anlaß der aktuellen sowjetischen Politik schloß einen Eroberungsfeldzug nicht aus, stellte Victor Cavendish-Bentinck fest, der Vertreter des englischen Außenministeriums im Geheimdienstausschuß: „Die Russen können einem doch furchtbar auf die Nerven gehen, und Hitler muß bei seinem rachsüchtigen und boshaften Charakter eine Menge Rechnungen mit 1
Zit. n. Fest, Hitler, S. 877.
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X. Hegemonie oder Untergang
ihnen zu begleichen haben, so schikanös und hinterhältig haben die Russen ihn seit August 1939 behandelt, da sie die Deutschen im Nachteil glaubten. Außerdem hat Hitler die Tendenz, früher oder später die in ‚Mein Kampf‘ genannten Ziele wieder aufzunehmen: Irgendwann kehrt doch jeder zu seiner ersten Liebe zurück!“2
Mit dem steigendem Umfang der eingesetzten Mittel sinkt die Bereitschaft, sich das eigene Scheitern einzugestehen und aufzugeben. Was bisher geleistet wurde, soll nicht umsonst gewesen sein. Dies ist eine gängige Verhaltensweise auf fast allen Feldern menschlicher Anstrengungen. Sie gilt für technische Entwicklungen nicht weniger als für individuellen Zeitaufwand und sie trifft besonders für Kriege zu, in denen die Opfer nicht nur in Finanzmitteln oder Zeitverschwendung bestehen, sondern die Verletzung und den Tod ungezählter Menschen fordern. Der deutsche Zusammenbruch des Jahrs 1918 hatte denn auch neben vielen anderen Konsequenzen einen tiefen emotionalen Schock bei den Überlebenden zur Folge. Die Toten standen im Hintergrund bereit und klagten die Lebenden an, ihr Opfer durch das eigene Versagen sinnlos werden zu lassen. Denkfiguren wie diese ziehen sich durch die soldatische Erinnerungsliteratur. In der nationalsozialistischen Vorstellungswelt gehörte der damit verbundene Totenkult und die Vorstellung, die Toten würden „voranmarschieren“ zu den zentralen Bestandteilen des eigenen Selbstverständnisses. Aber auch in den westliche Demokratien zeigte sich eine Neigung, den Krieg mit quasireligiösen Emotionen aufzuladen, den Gegner zu dämonisieren und damit letztlich einen Kompromiß immer schwerer zu machen. Ein Krieg, der das „Ende aller Kriege“ bringen sollte, mußte total werden. Der Gegner mutierte in dieser Denkfigur notwendig zur Verkörperung des absolut Negativen, denn nur wenn er der Verursacher aller Kriege gewesen war, konnte der Sieg über ihn ihr endgültiges Ende bringen. Der Kriegsschuldparagraph des Versailler Vertrags und die symbolische Verurteilung der deutschen Führungsschicht im Nürnberger Prozeß waren daher in dieser Denkweise bereits unvermeidlich mit angelegt. Neben dieser beinah eschatologischen Ebene existierte immer auch die Notwendigkeit der Kriegsparteien, praktische politische Erfolge zu erzielen, die in irgend einem tragbaren Verhältnis zum bereits eingesetzten Aufwand stehen mußten. Dies nicht getan zu haben, lautete einer der Hauptvorwürfe, die Hitler gegenüber der kaiserlichen Regierung Deutschlands erhoben hatte. Zweifellos billigte er den damals unternommenen Versuch, den Osten Mitteleuropas zur deutschen Einflußzone zu machen. Dennoch hielt er die angewandten Mittel für untauglich: 2 Der Vorsitzende des englischen Gemeinsamen Geheimdienstausschusses am 2. Juni 1941 über die Gründe und die Wahrscheinlichkeit eines deutschen Angriffs auf die UdSSR. Zit. n. Gorodetsky, Täuschung, S. 363 f.
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„Denn endlich haben die deutschen Grenadiere wirklich nicht ihr Blut vergossen, damit die Polen einen Staat erhalten oder damit ein deutscher Prinz auf einen plüschenen Thron gesetzt wird.“3 „Daß dies kein Ziel war für einen Krieg eines Staates gegen 26, in dem dieser den bisher ungeheuersten Bluteinsatz der Geschichte auf sich nehmen mußte, während zu Hause ein ganzes Volk buchstäblich dem Verhungern ausgeliefert war, sollte selbstverständlich sein.“4 „Alle diese bürgerlichen Vorschläge waren reine Grenzkorrekturen und hatten mit raumpolitischen Gedanken gar nichts zu tun.“5
Dann formulierte er seine Alternative: „Das einzige Kriegsziel, das diesem ungeheuren Bluteinsatz würdig gewesen wäre, hätte nur in der Zusicherung an den deutschen Soldaten bestehen können, soundso viele 100.000 qkm Grund den Kämpfern der Front als Eigentum zuzuweisen oder für die allgemeine Kolonisation durch Deutsche zur Verfügung zu stellen.“6
Man darf diesen Satz als einen Schlüsselsatz bezeichnen, der Auskunft über die Motivation gibt, die Hitler zu den Äußerungen über „Rußland als deutsches Indien“ veranlaßte, die bald nach Angriffsbeginn auftauchten. Diese 1941 geäußerten vagen Visionen bedeuteten doch wohl wenigstens so viel, daß der deutsche Einfluß im eroberten Rußland von Dauer sein sollte, auch in den Staaten wie der Ukraine und Weißrußland, die von der UdSSR abzuspalten waren. Das Ergebnis war dem Aufwand anzupassen, diese Denkfigur war Hitler erhalten geblieben. Anders als in den halböffentlichen Ansprachen vor der Generalität, in denen er sich als derjenige darstellte, der einen lange vorher gefaßten Plan kontrolliert und wie vorgesehen ausführte, gab er gelegentlich im kleinen Kreis durchaus zu, in diesem Krieg ein Spiel mit-gespielt zu haben, in dem andere den Ablauf des Geschehens diktierten. Das schloß ein positives Ende nicht aus: „ ‚Aus diesen Kampf, bei dem ich von Etappe zu Etappe gedrängt wurde, wird Deutschland als größter Machtstaat der Erde hervorgehen.‘ Er glaubt, daß Churchill einmal ganz plötzlich fallen wird. Dann wird in England ein ungeheurer Antiamerikanismus entstehen und England wird das erste Land sein, das in die Reihen des Kampfes Europa gegen Amerika eintreten wird.“7
Es war nicht gelungen, mit allerhand Kompromißvorschlägen den Krieg zum Stehen zu bringen. Statt dessen hatte er jeweils den Einsatz erhöhen müssen und in Skandinavien, Westeuropa und zuletzt auf dem Balkan militärische Erfolge erzielt, die keine entscheidende Änderung der Gesamtsitua3 4 5 6 7
Zit. n. Hitler, Zweites Buch, S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Ebd., S. 105. Hitler am 10./11. Juli 1941, zit. n. Hewel, Tagebuch, 11. Juli 1941.
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tion gebracht hatten. Zwischen den amerikanischen Erklärungen, die eigene Grenze läge am Rhein, und den sowjetischen Forderungen nach Stützpunkten in Dänemark gab es weiterhin keinen Platz für den Lebensraum einer deutschen Großmacht, trotz der Eroberung beinah ganz Europas. Da die politische Anerkennung einer deutschen Einflußzone angesichts der Politik der konkurrierenden Mächte offenbar nicht durchgesetzt werden konnte, mußte der militärische Einsatz noch einmal beträchtlich erhöht werden. Dies erhöhte auch die Zielvorstellungen. Das „politische Ziel“ eines möglichen Militärschlags gegen die UdSSR, der sich vorwiegend gegen die Bedrohung der industriellen Zentren Deutschlands durch sowjetische Luftangriffe zu richten hatte, wird in der ersten überlieferten Äußerung vom Juli 1940 so umschrieben: „Ukrainisches Reich. Baltischer Staatenbund. Weißrußland – Finnland. Baltikum „Pfahl im Fleisch“.8 Dabei blieb es bis zum Angriff auf die UdSSR ein Jahr später. Ähnlicher Art waren dann die Formulierungen, die Hitler im Frühjahr 1941 verwendete, um das Ziel des Rußlandfeldzugs zu umschreiben. Generalstabschef Halder notierte: „Unsere Aufgaben gegenüber Rußland: Wehrmacht zerschlagen, Staat auflösen.“9
Etwas umfangreicher formulierte Goebbels die Planungen: „Gutterer zum Staatssekretär ernannt. Das freut mich für ihn. . . . Mit ihm die Frage R. besprochen. Ich schicke Taubert zu Rosenberg als Verbindungsmann. R. wird in seine Bestandteile zerlegt. Jeder Republik fein säuberlich ihre Freiheit. Die Tendenz ist, im Osten nicht mehr so ein Riesenreich zu dulden. Ob Rosenberg der Sache Herr wird?“10
Diese Ankündigungen über die staatliche Neugestaltung folgten den Zielen deutscher Großmachtpolitik im östlichen Europa, wie sie während des Ersten Weltkriegs im Frieden von Brest-Litowsk sichtbar geworden waren, als das geschlagene Rußland 1918 gezwungen wurde, die in den zweihundert Jahren zuvor eroberten Länder an seinen westlichen und südlichen Grenzen aus dem Staatsverband zu entlassen. Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Ukraine und die Kaukasusrepubliken verdankten ihre erste staatliche Existenz dieser deutschen Politik, die den Nationalismus in diesem Gebiet aus eigenem Nutzen gezielt förderte. Ihr kann die historischpolitische Substanz kaum abgesprochen werden, wurden die genannten Staaten doch nach dem Auseinanderfallen der UdSSR auch ohne deutsches Zutun aus eigenem Willen wieder unabhängig. In diesem Sinn argumentierten die Veröffentlichungen des OKW auch während des Zweiten Weltkrieges, so etwa die Tornisterschrift über „Möglichkeiten und Gegebenheiten des Ostraums“ von 1943, deren Hauptanliegen es war, dem Soldaten die 8
Vgl. Ueberschär, Angriff, S. 220 und Halder, KTB, II, S. 33. Zit. n. Halder, KTB, II, S. 335. 10 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 332 f., 24. Mai 1941. 9
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Existenz verschiedener Nationalitäten in der UdSSR nahezubringen. Er sollte sich als Förderer dieser Nationen verstehen, die bisher „in einem Staatsmonstrum zusammengeschlossen“ gewesen seien und gemeinsam mit den dort lebenden Deutschen befreit werden sollten.11 Da diese Hauptziele des Krieges zwar dem deutschen Soldaten, wegen des zu erwartenden nationalrussischen Widerstands aber nicht der russischen Öffentlichkeit präsentiert werden konnten, griff Goebbels in der russischsprachigen Propaganda um so stärker auf den Antibolschewismus und den in diesem Raum besonders entwickelten Antisemitismus zurück: „Richtlinien für Propaganda nach R.: kein Antisozialismus, keine Rückkehr des Zarismus, nicht offen auf Zerschlagung des russischen Reiches hinausgehen, da wir uns sonst die Armee, die großrussisch ist, verprellen, gegen Stalin und seine jüdischen Hintermänner, Land für die Bauern, aber vorläufig die Kollektive erhalten, damit wenigstens die Ernte gerettet wird, scharfe Anklage des Bolschewismus, sein Versagen auf allen Gebieten anprangern. Und im übrigen warten, was die Aktion ergibt.“12
Das war Propaganda, aber es erstaunt doch immer wieder, in solchen Texten nichts von einem angeblichen „Untermenschentum“ der slawischen Völker zu finden, wie es gelegentlich in der nationalsozialistischen Propaganda zu lesen war. Das OKW zog hier einen deutlichen Trennungsstrich und verwendete solche Begriffe selten oder nie.13 Der Krieg gegen die UdSSR wurde nicht als Eroberungskrieg dargestellt, sondern auf doppelte Weise als militärische Operation gegen einen geplanten sowjetischen Angriffskrieg und als Befreiungskrieg, der über die Zerschlagung der UdSSR den militärischen Druck von Deutschland und Europa nehmen sollte, den Rußland seit Anfang des 18. Jahrhunderts ausübte. Er hatte die russischen Streitkräfte im siebenjährigen Krieg schon einmal nach Berlin geführt und gegen Ende der napoleonischen Ära gar über Berlin hinaus bis nach Paris. Dieses Modell hätte Josef Stalin gern kopiert, wie er auf der Potsdamer Konferenz 1945 zu erkennen gab.14 Der Angriff Deutschlands auf die 11
Vgl. OKW, Gegebenheiten, S. 61 f. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 353 f., 5. Juni 1941. Die Schrift, „Warum Krieg gegen Stalin?“, entspricht diesen Vorschriften sehr weitgehend. 13 Wegen dieser ideologischen Unzuverlässigkeit mußte zur Sicherheit jede dieser Schriften des OKW laut einem „Arbeitsabkommen“ vom Dezember 1940 dem „Beauftragten des Führers“ zur Begutachtung und Genehmigung vorgelegt werden. Das OKW mußte die Meinung des Beauftragten als „bindend“ anerkennen, hinter dem sich niemand anderer als Martin Bormann verbarg, So waren auch in OKW-Veröffentlichungen Elemente typisch nationalsozialistischer Propaganda unvermeidlich vorhanden, wie etwa der Verweis auf den „jüdischen Bolschewismus“. Zum Arbeitsabkommen vgl. Messerschmidt, Wehrmacht, S. 247. 14 Er wies amerikanische Glückwünsche zur Eroberung Berlins ärgerlich zurück und berief sich auf Zar Alexander I., der bis Paris gekommen sei. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 139. 12
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UdSSR sollte den russisch dominierten Großstaat in seine nationalen Einzelteile auflösen. Dies sei, so Hitler, der einzige Weg, zu einem Frieden zu kommen. Von diesen Motiven hatte er auch im März 1941 gesprochen, zunächst intern gegenüber General Jodl. Das sei hier etwas ausführlicher zitiert, denn es ist wichtig für sowohl für die Einschätzung der Absichten Hitlers als auch für das Bild, das sich die Militärs davon machen mußten: Dieser kommende Feldzug ist mehr als nur ein Kampf der Waffen; er führt auch zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen. Um diesen Krieg zu beenden, genügt es bei der Weite des Raums nicht, die feindliche Wehrmacht zu schlagen. Das ganze Gebiet muß in Staaten aufgelöst werden mit eigenen Regierungen, mit denen wir Frieden schließen können. Die Bildung dieser Regierungen erfordert sehr viel politisches Geschick und allgemeine wohlüberlegte Grundsätze. Jede Revolution großen Ausmaßes schafft Tatsachen, die man nicht mehr wegwischen kann. Die sozialistische Idee ist aus dem heutigen Rußland nicht mehr wegzudenken. Sie kann allein die innerpolitische Grundlage für die Bildung neuer Staaten und Regierungen sein. Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger „Unterdrücker“ des Volkes, muß beseitigt werden. Die ehemalige bürgerlicharistokratische Intelligenz, so weit sie vor allem in Emigranten noch vorhanden ist, scheidet ebenfalls aus. Sie wird vom russischen Volk abgelehnt und ist letzten Endes deutschfeindlich. Dies gilt auch in besonderem Maß für die ehemaligen baltischen Staaten. Außerdem müssen wir unter allen Umständen vermeiden, an Stelle des bolschewistischen nunmehr ein nationales Rußland treten zu lassen, das, wie die Geschichte beweist, letzten Endes wieder deutschfeindlich sein wird. Unsere Aufgabe ist es, mit einem Minimum an militärischen Kräften sozialistische Staatsgebilde aufzubauen, die von uns abhängen. Diese Aufgaben sind so schwierig, daß man sie nicht dem Heere zumuten kann.15
Tatsächlich ist es weder dem Heer noch der nationalsozialistischen Besatzungspolitik später gelungen, während des Kriegs funktionierende Staatswesen aufzubauen oder mit dem bestehenden stalinistischen System einen Frieden zu schließen. Im Augenblick des Einmarschs wurden die deutschen Truppen häufig als Befreier begrüßt, da gerade kurz vor und nach Kriegsbeginn der stalinistische Terror noch einmal einen Höhepunkt erreicht hatte. Solange die Situation militärisch in der Schwebe und die UdSSR unbesiegt blieb, erwies es sich jedoch als unmöglich, eine wirkungsvolle Unterstützung für Deutschland zu organisieren, wie es beabsichtigt gewesen war. Es dauerte bis zum Jahreswechsel 1943/44, bis etwa in Weißrußland eine Regierung mit dem Namen „Weißruthenischer Zentralrat“ die Arbeit aufnahm.16 Zuvor 15 So Jodls Zusammenfassung von Hitlers Äußerungen vom 3. März 1941, hier zit. n. Betz, Landkriegsvölkerrecht, S. 109. 16 Vgl. Chiari, Alltag, S. 98 ff.
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hatte man doch ausgiebig auf weißrussische Exilkreise in Deutschland, Polen und Litauen zurückgegriffen, die sich als weitgehend ungeeignet und nicht selten korrupt erwiesen.17 Es mußte daher ganz voraussetzungslos „Staat gemacht“ werden, das fing bei der Rechtschreibung an und hörte bei der Gründung einer weißrussischen Nationalkirche noch lange nicht auf, ein Auftrag, den der Metropolit im Oktober 1941 erhielt.18 Als in den Vororten von Minsk schon wieder die Rote Armee stand, da wurden immer noch Seminare zur Bildung einer weißrussischen Elite abgehalten. Hitler wiederholte die gegenüber Jodl formulierten Ansichten im größeren Kreis, nachdem er als Grund für den Krieg zuvor überhaupt „Rußlands Rolle und Möglichkeiten“ erläutert und die UdSSR damit einmal mehr als potentielle Bedrohung der deutschen Position gekennzeichnet hatte. Solange die drei Weltmächte, die USA, Großbritannien und eben die UdSSR eine kompromißlose Politik mit dem Ziel der Ausschaltung Deutschlands als selbständige Macht betrieben, gab es zu einem Angriff auf Rußland keine Alternative. Ein Sieg dort war die einzige Chance, einen längerdauernden Konflikt mit den angelsächsischen Weltmächten zu überstehen. Im November 1940 hatte der sowjetische Außenminister Molotov das erst ein Jahr zuvor geschlossene Nichtangriffsabkommen mit Deutschland als „überholt und erschöpft“ bezeichnet und in Berlin Forderungen vorgetragen, die den Sieg der Westmächte bereits geradezu voraussetzten.19 Stalin hatte sich seit Jahren auch auf eine eventuelle Konfrontation mit den anglo-amerikanischen Seemächten vorbereitet. Das sowjetische Flottenbaupogramm hatte bereits jetzt dazu geführt, daß die UdSSR beispielsweise die größte U-Boot-Flotte der Welt besaß, wie allgemein bekannt war.20 Diese Art der Rüstung konnte in einem Krieg gegen Deutschland offensichtlich wenig Verwendung finden. Die letzten Jahrzehnte seit Beginn der alliierten Blockade im Jahr 1914 hatten gezeigt, und die vergangenen zwei Jahre hatten es eindrucksvoll bestätigt, daß Deutschland keine weltpolitische Rolle spielen konnte, solange es keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln und Rohstoffen hatte 17
In jedem Fall sollten beispielsweise bei der Verteilung der Mineralölproduktion die Rollen klar verteilt bleiben: „Mineralöl muss in erster Linie für die Deckung des deutschen Bedarfs eingesetzt werden, nicht für die Interessen der neuen Machthaber in Rußland.“ Zit. n. BA-MA 19/165, Bl. 177, 31. Juli 1941, KTB WiRüAmt Stab. 18 Vgl. ebd. Chiari, Alltag, S. 104. 19 Vgl. ADAP, D, XI/1, S. 454 u. Hillgruber, Strategie, S. 306. 20 Diese Aufrüstung hatte ihren Widerhall in offen zugänglichen Broschüren gefunden. Der geplante Neubau an großen Überwasserschiffen erweiterte die militärischen Optionen noch einmal. Vgl. „Schlag nach“, S. 20 und Just, Sowjetunion, S. 58.
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und das Staatsgebiet unmittelbar von Rußland aus militärisch bedroht war. Dieses Dilemma trat im Kriegsfall besonders zu Tage. Es hatte den jetzigen Krieg von Anfang an begleitet. Da Tiefenrüstung und Rohstoffvorräte allein schon wegen der Absicht Hitlers, „nur zu bluffen“, nicht vorhanden waren und ein Angriff der UdSSR jederzeit drohte, war der Krieg schnell zu beenden, oder er mußte verloren sein: „Der Führer sieht, daß man den Krieg nicht auf lange Sicht durchhalten kann, deshalb will der Führer den großen Schlag noch vor Weihnachten führen. Es muß alles auf diese eine Karte gesetzt werden. . . . Wie lange die Russen halten werden, weiß man nicht; es ist günstig, daß die Russen in Finnland gebunden sind, hoffentlich leisten die Finnen erheblichen Widerstand. Die zeitliche Verzögerung ist nur gut für uns.“21
So mußte man den Krieg im Westen gewinnen, bevor es sich „die Russen“ anders überlegten und Deutschland doch noch angriffen. Dies gelang – wenn auch nur mit Verspätung und nur vorläufig. Die Situation blieb prekär und verschlechterte sich. Einerseits verurteilte der totale und völkerrechtswidrige Abschluß Deutschlands vom Welthandel durch die angelsächsischen Mächte die europäische Bevölkerung zum Hunger und die Armee zur mangelnden Ausstattung mit Waffen und Material. Andererseits war ein Angriff der russischen oder sowjetischen Armee militärisch nur schwer abzuwehren. Bei einer Ergänzung durch gleichzeitige russische Angriffe auf Finnland und Rumänien wäre er allein schon wehrwirtschaftlich eine Katastrophe, die eine spätere militärische Niederlage selbst nach zunächst erfolgreichem Kriegsverlauf fast unvermeidlich machen würde. Die Anläufe von General Thomas, die wirtschaftlichen Folgen eines deutschen Angriffs auf die UdSSR gegenüber Hitler in düsteren Farben auszumalen, gingen als Argumente insofern ins Leere. Sie verstärkten sogar noch die Gründe für den Angriffsentschluß. Machte man sich „einmal von Gedanken frei, daß der Russe nur Friede will“, wie Halder in seinem Tagebuch geschrieben hatte, mußte man sich eingestehen, daß die vorhandenen Treibstoff-, Kautschuk- und andere Vorräte nicht nur bei einem deutschen Angriff, sondern auch bei einer sowjetischen Attacke nur für wenige Monate reichten. Eine spätere Gegenoffensive nach einer gelungen Verteidigung und im unwahrscheinlichen Fall von unbeschädigt gebliebenen rumänischen Ölfeldern mußte daher auf fast unüberwindliche wehrwirtschaftliche Schwierigkeiten stoßen.22 Das sah man in der UdSSR ganz ähnlich, wie der Erpressungsversuch während Molotovs Berlin-Besuch anschaulich zeigte, der sich ja auch ganz besonders auf Rumänien und eben Finnland richtete. Die UdSSR wollte nicht am Status quo festhalten, sondern hatte die Expansion nach Westen 21 Zit. n. BA-MA RW 19/164, Bl. 4, 4 Dezember 1939, Protokoll Vortrag General Thomas beim Chef OKW. 22 Zu den Denkschriften von Thomas vgl. Arnold, Besatzungspolitik, S. 81.
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aufgenommen mit dem offenkundigen Ziel, Deutschland zu einem Juniorpartner abzustufen, wenn nicht ganz zu sowjetisieren. Eine grundsätzliche Änderung dieser Situation konnte nur in der Umkehr der Entwicklung und damit der Nationalisierung des östlichen Mitteleuropa und Osteuropas bestehen, in der Unabhängigkeit von Ländern wie der Ukraine, Weißrußland, den baltischen Staaten, möglichst auch den Kaukasus-Republiken. Erst dies würde den militärischen Puffer schaffen und den wirtschaftlichen Spielraum erzeugen, der die Westmächte möglicherweise zu Verhandlungen bewegen würde. Alle höheren Offiziere der Wehrmacht hatten 1918 gesehen, daß eine solche Politik möglich und Großrußland militärisch zu schlagen war. Nun waren die deutschen Militärerfolge 1939 bis 1941 erheblich leichter und vollständiger ausgefallen als in den Jahren vor 1918. Insofern ruhte der bei aller Ungewißheit über die Kampfstärke der Roten Armee im Offizierskorps vorhandene Optimismus hinsichtlich der militärischen Erfolgsaussichten auf historisch begründetem Boden. Die unterschiedlich weit vorausgedachten Planungen des russischen und des deutschen Generalstabs spiegeln das unterschiedliche Potential der Länder und die daraus resultierende Differenz in der militärischen Tradition. Generalstabschef Shukov plante die Vernichtung der deutschen Streitkräfte. Inwieweit und wann die Rote Armee dann den Marsch nach Westen auf Berlin oder Paris antreten würde, konnte die Führung der UdSSR den näheren Umständen und einer späteren Entscheidung überlassen. PreußenDeutschland, dem das Potential für eine Weltmachtrolle nie zur Verfügung gestanden hatte, war 1941 wie immer gezwungen, aus militärischen und politischen Gründen einen kurzen und auf sofortige und vollständige militärisch/politische Entscheidung zielenden Krieg zu führen. Das gilt für alle Feldzüge seit 1866. Selbst wenn die militärische Entscheidung gelungen war, wie 1866 und 1871, war es ein Kunststück und ein dringendes politisches Erfordernis, den Krieg sofort auch politisch zu beenden, bevor die Intervention Dritter einsetzte. 1871 wäre das fast nicht gelungen, als das republikanische Frankreich den Krieg nach dem Sturz der Monarchie in die Länge ziehen konnte. Benjamin Disraeli zeigte sich nach der verpaßten Gelegenheit eines englischen Eingreifens entsprechend empört. Nur der etwas verschlafenen liberalen Regierung Gladstone war die im Spiegelsaal von Versailles proklamierte Reichseinheit unter einem Deutschen Kaiser aus seiner Sicht zu „verdanken“. Scheiterte der militärische Plan dagegen, wie der Schlieffen-Plan 1914, war sowohl ein politisches wie ein militärisches Desaster beinahe sicher zu erwarten. Und gelang der militärische Teil zunächst, wie die Feldzüge 1939/40, dann drohte immer noch eine spätere militärische Katastrophe, wenn der Krieg nicht politisch kontrolliert zu Ende gebracht wurde. Das war der NS-Führung 1940 nicht gelungen, weil die englische Regierung
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diese Schwäche kannte und wußte, daß die bloße Verweigerung von Verhandlungen fast mit Notwendigkeit zum englischen Sieg führen mußte. Unter diesen Bedingungen folgerichtig war die Planung für Barbarossa auf „alles oder nichts“ angelegt. Der Feldzugsplan konnte nur ganz gelingen oder ganz scheitern. Reserven gab es nicht. Wenn Rußland am Jahresende nicht besiegt war, war der Gesamtkrieg verloren. Nun waren diese Ziele einer weitgehenden Auflösung der UdSSR umgekehrt aus russischer Sichtweise praktisch völlig inakzeptabel, auch aus diesem Grund führte an einem vollständigen Sieg über die UdSSR kein Weg vorbei. Auf andere Weise würde Deutschland nicht erzwingen können, was die Vereinigten Staaten später in einem jahrzehntelangen Kalten Krieg durchsetzten. Lenin hatte zwar mit der ganzen Autorität des Revolutionsführers und in der sicheren Erwartung der bevorstehenden Weltrevolution den Brest-Litowsker Frieden unterschrieben, der solche Bestimmungen enthielt. Einen Nachfolger zu finden, der dies wiederholen würde, davon konnte man in Deutschland nicht ernsthaft ausgehen. Die Interessen der großrussischen Strömungen innerhalb der UdSSR standen geschlossen gegen einen solchen Schritt. Tatsächlich war nicht einmal General Vlasov, der später auf deutscher Seite kämpfte, zu solchen Schritten bereit. Sein engster Mitarbeiter verkündete bereits im Juni 1943, quasi als conditio sine qua non, bevor ein Kampf auf deutscher Seite überhaupt erwogen würde: „Die Ukraine und Weißrußland müssen an Nationalrußland abgegeben werden.“23
Daß es dabei dann nicht bleiben würde, konnte man sich in Berlin ausrechnen. Statt der Roten Armee würde in Kürze eine bürgerlich-nationale russische Streitmacht an der deutschen Grenze stehen und die englische Anerkennung der deutschen Einflußzone in Ostmitteleuropa, die das Unternehmen Barbarossa erzwingen sollte, würde von den selben diplomatisch-militärischen Kombinationen in Frage gestellt werden wie vor dem Feldzug. Zum Zeitpunkt der von der Vlasov-Organisation erhobenen Bedingungen über den Erhalt Großrußlands hatte man deutscherseits daher damit begonnen, diese Länder dauerhaft als selbständige politische Gebilde zu etablieren. Es begann in Weißrußland bereits der oben erwähnte Zentralrat seine Arbeit aufzunehmen. Diese Eroberungs- und Auflösungspläne finden sich bekanntlich bereits in den Programmschriften Hitlers angedeutet. Sie hatten im Lauf der Zeit eine Entwicklung durchgemacht, die dazu führte, daß aus dem ins Auge gefaßten Kolonialgebiet eine gefürchtete Großmacht geworden war, die besiegt werden mußte. Dieser erhoffte Sieg, der nach Hitlers Worten nötig war, wenn „nicht alles verloren sein“ sollte, hätte auch den Kreis geschlossen. 23 So Oberst Bojarskij im Juni 1943, vgl. BA-MA RH 58/67, hier zit. n. Hoffmann, Vlasov, S. 324.
2. „Muß das denn auch noch sein?“
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2. „Muß das denn auch noch sein?“ Selbstbewußtsein und Bedrohungsszenarien in deutschen Militärkreisen „Hiesige russische Gesandtin, Frau Kollontay, äußerte dieser Tage, wie ich erfahre, zu keinem Zeitpunkt russischer Geschichte seien an der Westgrenze Rußlands stärkere Truppenkontingente zusammengezogen worden als jetzt.“ Drahtbericht des Deutschen Gesandten in Schweden an das Auswärtige Amt24
Wie schon vor dem Frankreichfeldzug, war es auch vor dem Angriff auf Rußland notwendig, die deutsche Armee auf einen regimekonformen Kurs einzuschwören. Wiederum war es auch hier generell so, daß die NS-Führung und Hitler persönlich die treibende Kraft hinter den Angriffsplanungen waren, während die Armeeführung skeptisch blieb und eher bremste. Am 5. August 1940 bereits überreichte Generalmajor Erich Marcks, Chef des Generalstabes jener 18. Armee, der mit der Abwehr eines möglichen russischen Angriffs beauftragt worden war, einen „Operationsentwurf Ost“. Dies war ihm erst eine Woche vorher von Generalstabschef Halder befohlen worden.25 Mit diesem Auftrag war die allgemeine Anweisung für Marcks verbunden, allein und ohne die Beteiligung anderer Stellen oder weiterer Informationsquellen zu arbeiten. Der Entwurf ließ viele Spuren der Champagnerlaune erkennen, die sich nach dem Sieg über Frankreich und vor dem Beginn der Luftoffensive gegen England vorübergehend im deutschen Militär ausgebreitet hatte.26 Als Stalin im Mai 1941 sagen sollte, die deutsche Armee werde zu schlagen sein, weil „die deutschen Führer schon beginnen, an Großtuerei zu leiden,“27 da könnte er an das Gutachten von Marcks gedacht haben. Als Sinn eines möglichen Ostfeldzugs wurde angegeben, Rußland daran zu hindern, in „absehbarer Zeit als Gegner Deutschlands auftreten“ zu können, also ein präventives Motiv genannt. Marcks hatte sich vor 24 Drahtbericht des Deutschen Gesandten in Schweden, Viktor Prinz zu Wied an das Auswärtige Amt, zit. n. ADAP, D, XII/2, Dok. 527, S. 693, 16. Mai 1941. 25 Vgl. Halder, KTB, II, S. 41. Halder wollte den Gedanken eines Angriffs auf Rußland „nicht fördern“, in jedem Fall aber ein Papier haben, das man ggf. Hitler zeigen könne, falls er darauf zurückkomme. Damit begründete er nach dem Krieg die Maßnahme, diesen Auftrag allein Marcks erteilt zu haben. Ob die denkwürdige Formulierung vom „unwahrscheinlichen russischen Liebesdienst eines Angriffs“ bewußt darauf abgezielt hat, entsprechende Befürchtungen Hitlers zu zerstreuen, ist Spekulation, würde aber dazu passen. Vgl. Halder, KTB, II, S. 41, Mitteilung „Gen.Oberst a. D. H.“ an Herausgeber Jacobsen vom 10.12.1962. 26 Zu Marcks vgl. auch Otto Jacobsen: Erich Marcks, Soldat und Gelehrter, Göttingen 1971. 27 So die von Dimitroff überlieferte Äußerung Stalins vom 5. Mai 1941, hier zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 184.
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X. Hegemonie oder Untergang
Abfassung seines Entwurfs jedoch weder über die aktuellen Erkenntnisse zur russischen Rüstung informiert, noch überhaupt die Veröffentlichungen zu diesem Thema zur Kenntnis genommen, noch war er bereit, seinen Entwurf widerspruchsfrei zu durchdenken. Gipfel dieser Einstellung war seine später oft zitierte Eingangsformulierung über den potentiellen „Feind“: „Die Russen werden uns nicht den Liebesdienst eines Angriffs erweisen.“28
Nicht einmal das stimmte jedoch damit überein, daß Marcks nur zwei Sätze später von einem „russischen Einbruch nach Rumänien“ sprach, „um uns das Öl zu nehmen“. Mindestens Luftangriffe auf Rumänien seien zu erwarten. Beides traf zu, beides wurde vom russischen Militär tatsächlich geplant und gehörte später zur öffentlichen Begründung des deutschen Angriffs auf Rußland. Außerdem war es bereits bekannt. Molotov eröffnete dem deutschen Botschafter von der Schulenburg beziehungsreich – es war Mitte Juli 1940 – daß England eine politische Führungsrolle der Sowjetunion auf dem Balkan und die Errichtung eines sowjetischen Stützpunktes am Bosporus akzeptieren würde. Gleichzeitig wurde bekannt, daß die Sowjetunion nach der Besetzung Bessarabiens im Juni 1940 in der Tat einen weiteren Vorstoß in Richtung der Ölfelder von Ploesti beabsichtigte.29 Auch im weiteren strotzte der Marckssche Entwurf vor Leichtfertigkeit und Selbstwidersprüchen und trug alle Zeichen der Improvisation. Ganze 28 motorisierte Brigaden gestand Marcks dem potentiellen Gegner zu, Panzerdivisionen erwähnte er keine. Auch „hätte der Russe diesmal nicht, wie im Weltkrieg, die Überlegenheit der Zahl.“ Zu dieser kuriosen Einschätzung kam Marcks, indem er andere Ansichten des deutschen Offizierskorps über die russische Stärke schlicht ignorierte.30 Marcks blieb ein Extremfall. Die prinzipiellen Informationsdefizite in der Wehrmacht über den in Aussicht genommenen Gegner führten jedoch immer wieder zu sehr unterschiedlichen Auffassungen.31 Zwar wurde der Ro28 Der Operationsentwurf von Marcks wird hier zitiert nach Ueberschär, Angriff, S. 223–238. Vgl. auch Lachnit, Operationsentwurf, S. 114–123. 29 Zit. n. Sommer, Memorandum, S. 37. 30 Generalleutnant v. Tippelskirch, Oberquartiermeister IV im Generalstab des Heeres, hatte die russischen Reserven auf 12 Millionen Soldaten geschätzt, womit er von der Gesamtzahl der von Hitler 1936 vor dem Reichstag genannten 17 Millionen um einiges entfernt blieb. Der deutsche Militärattaché in Moskau, General Köstring, kam immerhin noch auf 8–10 Millionen. Beide Zahlen, die jeweils eine deutliche Überlegenheit gegenüber den verfügbaren deutschen Truppen bedeutet hätten, tauchen bei Marcks nicht auf. Vgl. Hillgruber, Strategie, S. 229. 31 Wie auch immer der Marcks-Entwurf zu bewerten ist, am 30. Oktober gab es „den ersten Niederschlag der eigenen Gedankenbildung des Genst. d. H. über die operativen Grundlagen des Angriffs gegen die Sowjetunion.“ Mitteilung Halders an Jacobsen, zit. n. Halder, KTB, II, S. 155, 29. Oktober 1940.
2. „Muß das denn auch noch sein?“
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Erste Überlegungen des OKW für den Fall eines russischen Angriffs auf Deutschland. Gefordert wird „möglichst geringe Preisgabe deutschen Siedlungsraumes“ bei der Abwehr einer Attacke. (BA-MA RH 2/390, Bl. 13)
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ten Armee in verschiedensten Anläufen immer wieder bescheinigt, sie sei für einen modernen Krieg ungeeignet, zugleich gaben die deutschen Militärs zu, daß sie über den potentiellen Gegner eigentlich nichts wußten und stellten, wie oben zitiert, durchaus des öfteren das Gegenteil fest, nämlich die Existenz eines modern strukturierten, ausgerüsteten und geführten sowjetischen Heeres. Das „Handbuch über die Kriegswehrmacht der UdSSR“, das die Abteilung Fremde Heere Ost am 1. Januar 1941 herausgab, hält deutlich die mittlere Position fest.32 Man kann aus dem vorliegenden Material kein eindeutiges Bild gewinnen. Sicher ist, daß sich Klischees vom angeblich „stumpfsinnigen Russen“ mit Kommunistenfurcht und allgemeinen Bedenken gegen den Zweifrontenkrieg gemischt haben, so etwa in Ritter von Leebs bekanntem Diktum über den Rußlandfeldzug: „Muß das denn auch noch sein? Dazu reichen ja unsere Kräfte nicht. Das muß doch die Politik vermeiden.“33
Konnte die Politik dies nicht vermeiden, dann traute sich die Wehrmachtsführung allerdings trotz der Bedenken wegen mangelnder Kräfte durchaus einen Sieg zu. Alle Ungewißheit über die zahlreichen Einzelfragen änderte nichts daran, daß man in deutschen Offizierskorps allgemein der Ansicht war, gegen die Rote Armee weitreichende militärische Erfolge erzielen zu können. Wie diese Auseinandersetzung politisch wieder zu beenden sei oder welchen Sinn dies im Rahmen des allgemeinen Krieges haben könnte, darüber gingen die Meinungen dann wieder deutlich auseinander. Unabhängig von diesen optimistischen Einschätzungen gab es jedoch zahlreiche Indizien dafür, daß auf der anderen Seite der Grenze mit der Roten Armee ein Gegner aufmarschiert war, der einer Auseinandersetzung nicht ohne Grund ebenfalls mit Optimismus entgegensah. Man rechnete in Deutschland bereits seit langem mit einem überraschenden sowjetischen Angriff. Nach dem Abschluß der militärischen Operationen in Polen gab es schnell erste Analysen darüber, welche militärischen Möglichkeiten sich aus der neuen Grenzziehung für die Sowjetunion ergaben. Am 20. Oktober befahl der Oberbefehlshaber des Heeres den Aufbau einer ersten Sicherungslinie, an der ein möglicher russischer Angriff abgewiesen und der Aufmarsch von Verstärkungen gesichert werden konnte.34 Dies entsprach dem zuvor geäußerten Mißtrauen Hitlers, ob die UdSSR den Nichtangriffs32 Vgl. Hillgruber, Rußlandbild, S. 135. Dort leider keine weiteren biographischen Angaben. Auszugsweise veröffentlicht jedoch bei Bezymenskij, Fall Barbarossa und Seaton. Hillgruber deutet Fälschungsvorwürfe an. Das Dokument sei mit anderem „Kopf“ in einer Ostberliner Veröffentlichung abgedruckt. 33 Zit. n. Meyer, Lagebeurteilungen, S. 58 f. 34 Vgl. Klink, Konzeption, S. 192.
2. „Muß das denn auch noch sein?“
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pakt auch halten werde.35 Bald folgten Mitte November Äußerungen wie die des früheren Generalstabschefs Beck, der die außerordentliche Stärkung der UdSSR wegen der neuen Grenzziehung feststellte und von einer „Inbewegsetzung des russischen Kolosses“ nach Westen sprach, die noch nicht zum Stillstand gekommen sei.36 Der aktuelle Generalstabschef gab dann Ende November eine Denkschrift in Auftrag, die das Problem genauer beleuchtete. Generalmajor Karl Adolf Hollidt sah dies recht düster. Mit einem Angriff konnte gerechnet werden, die UdSSR sei dazu in der Lage.37 Sie sei sogar in der Lage, einen Zweifrontenkrieg zu führen.38 Ob der Krieg mit einem „Sichelschnitt“ gegen die deutschen Truppen eröffnet werden würde, wie ihn Shukov eineinhalb Jahre später plante, war er sich nicht sicher. Er machte aber die untere Weichsel, das oberschlesische Industriegebiet und dann die Oderlinie oberhalb Breslaus als Etappen des sowjetischen Angriffs heraus, traf also recht exakt die Gedanken Shukovs.39 Die Nachrichten über das Auftreten der Roten Armee in Polen, Finnland und Bessarabien zeigten eines deutlich: „Die Rote Armee ist zahlenmäßig ein riesiges Kriegsinstrument“.40 Sie war zudem auf dem Weg, die während dieser Einsätze zutage getretenen Mängel zu beseitigen.41 Die Abteilung „Fremde Heere Ost“ sah sich durch den Ablauf des russischen Einmarschs in Ostpolen sogar zu einer grundsätzlichen Neubewertung der Roten Armee gezwungen: „Die Rote Armee wurde von der Abteilung Ost immer für befähigt gehalten, einen Verteidigungskrieg zu führen. Es hat sich aber auch als richtig erwiesen, daß es nicht ausgeschlossen sei, daß die Führer der Sowjetunion unter gewissen Voraussetzungen bei ihrem gegenwärtigen Zustande auch einen Angriffskrieg führen würden.“42 35 Vgl. Denkschrift vom 9. Oktober, vgl. auch Besprechung mit Halder und Brauchitsch am 27. September 1939. 36 Vgl. Groscurth, Tagebücher, S. 474 ff., hier zit. n. Klink, Konzeption, S. 193. 37 Vgl. BA-MA, RH 2/v. 390. Vgl. auch BA-MA H 3/1726 (Werturteil über die Rote Armee, Abt. Fremde Heere Ost, 19.12.39 und polnische Akten BA-MA, H 3/ 675. 38 Klink spricht von einer vorher nötigen „Klärung des Verhältnisses mit Japan.“ Vgl. Klink, Konzeption, S. 194. 39 Vgl. die Karten über den möglicherweise geplanten sowjetischen Operationsablauf. BA-MA RH 2/390 K-8 bzw. 9. 40 Zit. n. BA-MA RH 2/2106, „Fremde Heere Ost“, 19. Dezember 1939, S. 2. Die Zahl der aktuelle mobilisierten Einheiten der Roten Armee wurde mit „150 Schützendivisionen, 38 Kav.-Divisionen, 32 Tank-Brigaden (über 3000 Kampfwagen)“ angegeben. Zit. n. BA-MA RH 2/2106, „Fremde Heere Ost“, 19. Dezember 1939, S. 3. 41 Vgl. Klink, Konzeption, S. 192. Lageberichte in BA-MA, RH 19 III/380, BA RH 19 III/381 und BA-MA H 12/135.
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Von „Fremde Heere Ost“ am 26. Oktober 1939 angenommene Hauptstoßrichtungen eines sowjetischen Überraschungsangriffs. (BA-MA RH 2/390 K-8) Der in den Süden gelegte Schwerpunkt des Vormarschs mit Richtung Oberschlesien wird hier bereits vorausgesehen.
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Zuvor hatte man ausgiebig das Vorgehen der Roten Armee analysiert und zweifelsfrei festgestellt, daß beim Einmarsch in Polen, ganz modern, „alle“ Panzereinheiten konzentriert vorgeschickt wurden, ohne auf die Infanterie zu warten.43 Das sei anders als während des jetzt in Finnland laufenden Feldzugs gewesen, wurde ausdrücklich festgestellt. Dabei seien in Polen „24–36 Schützendivisionen, 15 Kavalleriedivisionen und 9 Tankbrigaden eingesetzt worden“,44 was insofern bemerkenswert war, als der russische Militäreinsatz sich damit in den Größenordnungen wie der deutsche bewegte.45 Da man auf sowjetischer Seite davon ausgehen konnte, nicht auf nennenswerten Widerstand der polnischen Armee zu stoßen, die gegen Deutschland aufmarschiert war und die zudem damit rechnete, daß sich die UdSSR an den mit Polen erst Monate zuvor erneuerten Nichtangriffspakt halten würde, war dies äußerst überraschend. Es bestätigt die im Nürnberger Prozeß von den deutschen Militärs zu diesem Punkt gemachten Aussagen über den Umfang der sowjetischen Militäroperation. Diese Lage war bedrohlich genug, um sich auf der deutschen Seite der Grenze auf einen möglichen sowjetischen Angriff vorzubereiten. „Auf dem Gebiet der Landesbefestigung sind zwei Sicherungszonen (Stellungen) vorzusehen“, befahl der Generalstab des Heeres noch im Oktober 1939: „in Grenznähe derart, daß ein Angriff gegen das deutsche Hoheitsgebiet unter möglichst geringer Preisgabe deutschen Siedlungsraumes abgewehrt werden kann. . . . Auswahl der Stellung muß der Tatsache Rechnung tragen, daß zur ersten Sicherung nur schwache Kräfte zur Verfügung stehen. Natürliche Hindernisse sind auszunutzen. (Panzersicherheit!) Abgesetzt von der Grenze unter Ausnutzen der Hohenstein-Stellung . . . derart, daß ein durch die grenznahe Sicherungszone und über den Narew vordringender Angriff aus ostw. und südostw. Richtung abgewehrt werden kann.“46
Auf der anderen Seite der Grenze lag der Bialystoker Frontbogen, in dem sich in der Tat bald die sowjetischen Panzertruppen konzentrierten. Wenige Wochen war es erst her, da hatte Marschall Vorošilov schon während der Verhandlungen mit den Westmächten betont, daß die geplanten Operationen der Roten Armee in Ostpreußen und Galizien das „Ende Deutschlands“ bedeuten würden.47 Einer über den Narew vorgetragenen Offensive hatte man 42 Zit. n. BA-MA RH 2/2106, „Fremde Heere Ost“, 19. Dezember 1939, S. 14. Hervorhebungen im Original. 43 Vgl. BA-MA RH 2/2106, „Fremde Heere Ost“, 19. Dezember 1939, S. 9. 44 Vgl. BA-MA RH 2/2106, „Fremde Heere Ost“, 19. Dezember 1939, S. 2. 45 Die deutschen Streitkräfte setzten im Polenfeldzug 54 Divisionen ein, darunter 6 Panzerdivisionen. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 21. 46 Pläne zur Sicherung im Grenzabschnitt Nord vom 26.10.1939, OKW, Generalstab des Heeres („Chef-Sache“), zit. n. BA-MA RH 2/390, S. 13. 47 Zit. n. Hofer, Entfesselung, S. 213.
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Im Herbst 1939 projektierter Ausbau einer Verteidigungsstelle gegen einen russischen Überraschungsangriff mit einem vorgesehenen Entlastungsangriff in den Rücken der im Süden vorstoßenden sowjetischen Truppen. (BA-MA RH 2/390 K-9)
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in Deutschland fürs erste wenig entgegen zu setzen. Mehr als provisorisch befestigen und die weit überlegene Zahl der im ehemaligen Osten der Republik Polen stationierten sowjetischen Streitkräfte genau zu beobachten, gab es nicht zu tun. Eine Planstudie des Oberkommandos des Heeres von Mitte November zog bereits einen größeren sowjetischen Angriff in Erwägung. Man erkannte die Möglichkeit, daß die „Bedrohung der deutschen Südgrenze überraschend in einer Lage erfolgt, in der die zum Schutz der Südgrenze erforderlichen Kräfte erst herangeführt werden müssen.“48 Angebracht war es allemal, besonders die sowjetische Entscheidungsfindung genau zu beobachten, ebenso wie die neu entwickelten Fähigkeiten der Roten Armee. Der sowjetische Angriff auf Finnland gab dazu weitere Gelegenheit: „Die Entscheidung hierzu lag aber anscheinend nicht in den Händen der militärischen Führer, sondern allein bei der politischen Leitung. Bestätigt wird, daß (sic) durch Nachrichten, die über den Angriff auf Finnland vorliegen, und die besagen, daß der Angriff seine Hauptbilligung durch Shdanov, dem politischen Leiter des Verwaltungsbezirks Leningrad, gefunden habe. Shdanov ist Mitglied der Regierung und des Obersten Rates sowie des Hauptvollzugsausschusses der Kommunistischen Partei und damit engster Mitarbeiter Stalins.“49
Als Konsequenz dieser Bedrohungseinschätzungen lief seit Ende 1939 die Befestigung der Grenze gegen einen russischen Überraschungsangriff. Der sogenannte Ostwall wurde gebaut.50 Währenddessen wurden 1940 die Nachrichten aus dem Kiewer Militärbezirk, in dem Shukov das Kommando hatte, ständig bedrohlicher: „Der Militärbezirk Kiew ist schon immer im Frieden sehr stark belegt gewesen. Im Frühjahr setzte dann regelmäßig die Ausbildungstätigkeit der Truppe im Gelände ein. Die Truppen beziehen ihre Sommerlager. . . . In diesem Jahr müssen alle derartigen Übungen im Gelände und Märsche zu den Truppenlagern besonders auffallen, da die Truppe zum größten Teil mobile Stärke hat. . . . Zu den Friedenstruppenteilen kommen in diesem Jahre die aufgestellten Reservedivisionen, deren Zahl im Militärbezirk Kiew auf mindestens 8 Schützendivisionen geschätzt werden muß.“51 48 Zit. n. BA-MA RH 2/390, S. 54–56, 18. November 1939. Im März des Folgejahres wurde die „Anlage eines Panzerabwehrgrabens an der deutsch-russischen Interessengrenze“ zum Besprechungsthema, der dann auch gebaut wurde. Vgl. BA-MA RH 2/390, S. 132, 11.3.1940. 49 Zit. n. BA-MA RH 2/2106, „Fremde Heere Ost„, 19. Dezember 1939, S. 14. Hervorhebungen im Original. Zur Vertrautheit Shdanov-Stalin vgl. auch Barros, Deception, S. 9. 50 Wie sehr er als Notlösung gedacht war, zeigt die Überlegung, ihn nach dem Westfeldzug aus Sparsamkeitsgründen nicht weiterzubauen. Vgl. BA-MA RW 19/ 174, Bl. 35, 22. Juni 1940.
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Beunruhigende Neuigkeiten im Osten: Die Führer der Sowjetunion würden im gegenwärtigen Zustand der Roten Armee auch einen Anriffskrieg führen. (BA-MA RH 2/2106 „Fremde Heere Ost“, 19. Dezember 1939, Bl. 14)
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Es war also vieles anders als sonst. In der Ukraine standen nach Schätzung von „Fremde Heere Ost“ mehr als 700.000 Rotarmisten.52 Da die gegenüberliegenden Gebiete von deutschem Militär weitgehend geräumt waren, zog der Bericht daraus drastische Schlußfolgerungen: „Es ergibt sich daraus, daß Rußland jederzeit genügend starke Kräfte an der rumänischen Grenze zur Verfügung hat, um überraschend eine Angriffsoperation zu beginnen.“53
Auch weitere Verstärkungen seien wegen der günstigen Bahnverbindung jederzeit heranzuschaffen. Ob sich dieser mögliche Überfall gegen Deutschland oder nur gegen Rumänien richten würde, war eine Spekulation, die sich der Bericht an dieser Stelle untersagte. In der Situation des Jahres 1940 konnte schon letzteres für Deutschland die finale Katastrophe bedeuten. Dann traf die deutsche Armeeführung unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen im Westen dafür Sorge, einem solchen Angriff endlich mit etwas eigener Stärke begegnen zu können. Auch der überraschende Einmarsch der UdSSR in die baltischen Länder und Bessarabien wenige Tage zuvor hatte seinen Anteil daran, daß der entsprechende Befehl am 29. Juni 1940 ausgegeben wurde.54 Er stellte weite Teile der motorisierten deutschen Streitkräfte zur Abwehr eines sowjetischen Überfalls bereit: „A. O. K. 18 ist für die Sicherung der deutschen Ostgrenze gegen Rußland und Litauen verantwortlich. Das A. O. K. trifft hierzu alle Vorbereitungen a) um ein Vorgehen feindlicher Kräfte spätestens an der San-Weichsel-Linie und an der Ostgrenze Ostpreußens zum Stehen zu bringen, daß nach Zuführung von Verstärkungen zum Angriff übergegangen werden kann, b) um ein Vordringen feindlicher Kräfte von der Grenze des Interessengebietes bis zur San-Weichsel-Linie weitgehend zu verzögern.“55
Da man, wenn es schon Kampfhandlungen geben würde, mit einem russischen Angriff ohne Vorwarnung rechnete, waren die Zeiträume für eine Reaktion äußerst knapp kalkuliert. Andererseits sollte jede Provokation der 51 Zit. n. BA-MA RH 19 III/381, S. 8. Bericht Kinzel, Abt. Fremde Heere Ost, 29. April 1940. 52 Zit. n. BA-MA RH 19 III/381, S. 10. Bericht Kinzel, Abt. Fremde Heere Ost, 29. April 1940. 53 Zit. n. BA-MA RH 19 III/381, S. 9. Bericht Kinzel, Abt. Fremde Heere Ost, 29. April 1940. 54 Ein Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht teilte am 20. Juni 1940 mit, „daß die Nachrichten sich bestätigen, daß die russischen Truppen fast überall bis an die deutsche Grenze im Osten gerückt sind.“ Zit. n. ADAP, D, IX, Dok. 504, S. 527. Bericht Oberst Brinkmann, aufgezeichnet durch Legationsrat Heyden-Rynsch. 55 Zit. n. BA-MA RH 2/390, S. 160–162.
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Stalins Balkanoffensive wirft ihre Schatten voraus: „Rußland hat jederzeit genügend starke Kräfte an der rumänischen Grenze stehen, um überraschend eine Angriffsoperation zu beginnen.“ (BA-MA RH 19 III/381, Fremde Heere Ost, 20. April 1940, Bl. 9)
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russischen Seite vermieden werden, darauf wurde mit Ausrufungszeichen hingewiesen: „Die Verteilung der Verbände durch A. O. K. 18 muß einerseits die Heranführung ausreichender Kräfte an die Interessengrenze binnen 48 Stunden gewährleisten, darf andererseits nicht den Eindruck einer Bedrohung Rußlands durch Angriff erwecken!“56
Daraus resultierte ein operativer Spagat, den das A. O. K. 18 nicht allein bewältigen konnte. In respektvollem Abstand zur Grenze wurden also weitere Verbände schnell abrufbereit gestellt: „A. O. K. 18 kann damit rechnen, daß im Bedarfsfalle durch OKH schnelle Verbände zugeführt werden. Sie werden zur Auffrischung in folgende Gebiete verlegt: Gen. Kdo. XVI.A.K. nach Berlin ... Gen. Kdo. XVI.A.K. nach Breslau ... Diese Verbände sind angewiesen, während ihrer Auffrischung kampfkräftige Teile so bereit zu halten, daß sie 72 Stunden nach Abruf antreten können. A.O.K 18 legt mir seine Absichten zur Genehmigung vor. Es bereitet in Verbindung mit der Gruppe Guderian rasches Vorziehen der schnellen Verbände zum Zwecke der Sicherung der Ostgrenze baldmöglichst vor.“57
Neben manchem anderen Aspekt gibt dies ein Beispiel dafür, wie ein politisch und militärisch defensiv gemeinter Truppenaufmarsch sinnvollerweise ausgerichtet werden muß: mit Ausnahme von Sicherungstruppen für hinhaltenden Widerstand dürfen die Truppen in ihrer Mehrzahl gerade nicht in unmittelbarer Nähe zur Grenze präsent sein, sondern in gebührendem Abstand. Erstens um den Gegner nicht zu bedrohen und damit nicht zu provozieren und zweitens um die wichtigen motorisierten Streitkräfte dem möglichen Verlust durch einen Überraschungsangriff des Gegners zu entziehen, um sie bei Bedarf in Ruhe dort entfalten zu können, wo der gegnerische Angriff es nötig macht. Was die UdSSR in den Folgemonaten bis zum Sommer 1941 praktizierte, war das genaue Gegenteil. Statt in ähnlicher Weise wie das deutsche Oberkommando einige hundert Kilometer Abstand von der Grenze zu halten, wurden die besten und modernsten Streitkräfte in unmittelbar bedrohter Lage stationiert, wo sie provozierten, durch einen überraschenden Angriff größtenteils verlorengingen und nicht den nötigen Raum hatten, einen möglichen Gegenstoß zu formieren. Dies sollte in den Planungen der Wehrmachtsführung ausdrücklich vermieden werden. So weit 56 57
Zit. n. BA-MA RH 2/390, S. 160–162. Zit. n. BA-MA RH 2/390, S. 160–162.
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Der Sieg über Frankreich macht die Verwirklichung der Pläne von 1939 möglich. Ein Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres vom 29. Juni 1940 ordnet die Stationierung von Abwehrkräften in Ostdeutschland an. (BA-MA RH 2/390 Bl. 160)
Grenznahe Truppenstationierungen wirken provozierend und sollen unterbleiben: Es darf nicht der Eindruck einer Bedrohung Rußlands durch Angriff erweckt werden. (BA-MA RH 2/390 Bl. 161 und Bl. 162)
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der deutsche Aufmarsch erkennbar werden würde, sollte er als defensiv ersichtlich sein: „Der Ostraum wird in den kommenden Wochen stärker belegt werden. Bis Ende Oktober soll der aus anliegender Karte ersichtliche Stand erreicht sein. Aus diesen Umgruppierungen darf in Rußland nicht der Eindruck entstehen, daß wir eine Ostoffensive vorbereiten. Andererseits wird Rußland erkennen, daß starke und hochwertige deutsche Truppen im Gouvernement, in den Ostprovinzen sowie im Protektorat liegen und soll daraus den Schluß ziehen, daß wir unsere Interessen – namentlich auf dem Balkan – jederzeit mit starken Kräften schützen können.“58
Rußland sollte von seinen Offensivplänen abgehalten werden, falls es solche geben sollte. „Wir legen eine ganze Menge von Divisionen nach dem Osten. Begründung: Unsicherheit im Westen wegen Luftangriffen. In Wirklichkeit nach dem Grundsatz: sicher ist sicher,“59 notierte Goebbels Mitte August. Die Einschätzung der deutschen Armeeführung in bezug auf die russischen Truppenstationierungen vor der rumänischen Grenze lauteten im Winter 1940 so. An dem Tag, als Barbarossa formuliert wurde, machte man sich Gedanken über mögliche Stoßrichtungen russischer Angriffe: „Die russische Kräfteverteilung lasse eine Massierung in Südbessarabien und in der Bukowina erkennen. Demzufolge müsse mit einem Vorstoß über Galatz nach Westen, um die Moldau-Provinz abzuschneiden, und mit einem Vorstoß aus der Bukowina in südostwärtiger Richtung, um die Pruth-Front aufzurollen, gerechnet werden.“60
Dennoch hielt der deutsche Generalstab eine russische Offensive zwar für möglich, aber nicht für wahrscheinlich. Immerhin wurde festgestellt, daß die Sowjets Truppen nach Westen verlegten: „Angeblich russische Bewegung aus dem Militärbezirk Moskau nach Smolensk und Minsk. Neue Wegefeststellungen in Rußland, welche angeblich besseres Wegenetz zeigen als bisher vermutet.“61
Anfang April 1941 folgte dann die Bestätigung: „Lagebericht Rußland: Abteilung Fremde Heere Ost gibt nun zu (!), daß die Stärke des russischen Heeres im europäischen Rußland stärker anzunehmen ist als bisher angenommen. (Das hatten die Finnen und die Japaner schon immer behauptet.) Die Gesamtzahl wird nun auf 171 Divisionen, 36 Kavalleriedivisionen und 40 motorisierten Brigaden angenommen.“62 58 59 60 61 62
Zit. Zit. Zit. Zit. Zit.
n. n. n. n. n.
Schramm, OKW, KTB, II, S. 973, 6. September 1940, gezeichnet Jodl. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 272, 15. August 1940. Schramm, OKW, KTB, I, S. 235, 18. Dezember 1940. Halder, KTB, II, S. 308, 11. März 1941. Halder, KTB, II, S. 345, 4 April 1941.
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Daraus ergab sich am 20. Mai die Erkenntnis, ein russischer Angriff würde möglich sein. Wenige Tage nachdem Generalstabschef Shukov seinen Angriffsplan vorgelegt hatte, wurde seine Durchführung als möglich erkannt, wenn auch noch immer als unwahrscheinlich eingestuft: „Die derzeitige grenznahe Aufstellung der Masse der Kräfte (130 – 21 – 5 – 36) läßt folgende Möglichkeiten ihres Einsatzes zu: 1.) Präventiv-Offensive. Sie ist auf Grund des militärischen Aufmarsches möglich, und zwar mit einem starken Stoß aus dem Raum um Czernowitz-Lemberg nach Rumänien, Ungarn oder nach Ostgalizien, mit einer weiteren starken Angriffsgruppe aus Weißrußland Richtung Warschau oder nach Ostpreußen.“63
Czernowitz tauchte nicht zum ersten Mal in den Überlegungen über die möglichen Manöver sowjetischer Militärs auf. Damit waren die Planungen auf sowjetischer Seite präzise durchschaut, denn „konzentrische Schläge aus dem Raum Czernowitz und Kischinev zu führen, um nachfolgend den Nordflügel der rumänischen Armee zu zerschlagen“ gehörte zu den Vorgaben des Shukov-Plans.64 Um die Verbindungen zwischen Deutschland und dem Südosten Europas zu blockieren, war dies ein wichtiger Ort. Über ihn führte später die direkte Eisenbahnverbindung zwischen Deutschland und Rumänien, sie wurde bald nach dem Angriff auf die UdSSR am 27. August 1941 eröffnet.65 Czernowitz war so wichtig, daß die Rote Armee die Stadt auch im Sommer 1940, beim einkalkulierten Sturm auf Rumänien, als Ziel allererster Ordnung auf der Rechnung hatte.66 Von hier aus konnte dann weiter marschiert werden, wie es der deutsche Generalstab im Mai 1941 für möglich hielt. In diesem Frühjahr häuften sich Berichte über russische Grenzverletzungen. Nachdem das Oberkommando der Wehrmacht am 1. März bereits darüber berichtet hatte, folgte am 23. April 1941 eine weitere Liste mit wirklichen oder angeblichen russischen Provokationen: „Fast täglich einlaufende Meldungen über weitere Grenzverletzungen sowjetrussischer Flugzeuge bestätigen die im Schreiben vom 1.3. dem Auswärtigen Amt 63 BA-MA RH 2/1983, Feindbeurteilung des Generalstabs des Heeres vom 20. Mai 1941. 64 Vgl. Ueberschär, Angriff, S. 190. 65 Vgl. BA-MA RW 19/177, Bl. 141, 1. Oktober 1941, Verkehrsbericht. Ivan Krylov betonte gegenüber die General Kösting recht freimütig, man habe die Bukowina samt Czernowitz besetzt, um eine Barriere in den Karpathen zu schaffen. Vgl. Krylov, Officer, S. 41. 66 Die 12. Armee sollte den Hauptstoß in diese Richtung führen und dann weiter nach Jassy. Vgl. BA-MA RH 19-I/122, hier zit. n. Hoffmann, Vernichtungskrieg, S. 363.
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übermittelte Auffassung des Oberkommandos der Wehrmacht, daß es sich hierbei um bewußte Provokationen von sowjetischer Seite handelt. . . . Das Oberkommando der Wehrmacht muß nunmehr feststellen, daß die sich ständig steigernden Grenzüberfliegungen nur noch als planmäßiger Einsatz der Luftwaffe über dem Hoheitsgebiet des Reichs gewertet werden können. Da inzwischen auf Grund der Truppenverstärkung auf der anderen Seite der deutschen Ostgrenze auch weitere deutsche Verbände zur Sicherung herangeführt werden mußten, ist mit erhöhter Gefahr von folgenschweren Grenzzwischenfällen zu rechnen.“67
„Grenzzwischenfälle“ oder Vorfälle anderer Art haben bei vielen Kriegsausbrüchen eine erhebliche Rolle gespielt. Wieviel daran letztlich wahr oder unzutreffend war, und wenn unzutreffend, wie viel direkt gelogen oder nur aus Unkenntnis falsch berichtet worden sein könnte, ließ sich im nachhinein oft nur schwer ermitteln. Der bekannteste Fall im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg dürfte der Fall „Gleiwitz“ sein, der in der Nachkriegszeit nach 1945 zum Vorwand für den deutschen Angriff auf Polen oder gar für die „Entfesselung des Zweiten Weltkriegs“ stilisiert wurde, obwohl er 1939 von der deutschen Regierung gar nicht in diesem Sinn verwendet worden war.68 In der Proklamation zur Begründung des deutschen Angriffs auf die UdSSR war dann zwar ebenfalls von sowjetischen Provokationen und Grenzüberschreitungen die Rede. Als entscheidendes Motiv für den Angriff wurden sie nicht genannt, gleichgültig wie viel an diesen Dingen richtig sein sollte. Ob Grenzzwischenfall oder nicht sei zweitrangig, ließ sich Hitler nach dem Beginn der Attacke vernehmen. Er werde „als Vernichter des Bolschewismus“ in die Geschichte eingehen. So streifte er die Ereignisse an der Grenze in seiner Proklamation zum Angriff nur und konzentrierte sich statt dessen wortreich darauf, der UdSSR ihre Vertragsbrüche und doppelbödige Politik vorzuwerfen. Intern wurde allerdings eine Bilanz der Grenzsituationen gezogen, eine: „Übersicht über die Veränderung der russischen Kräfte im Grenzraum (Westrußland), vom Beginn des Krieges ab bis jetzt in vierteljährlichen Darstellungen.“69 Die treibende Kraft hinter den deutschen Angriffsvorbereitungen und derjenige, der sich von den russischen Vorbereitungen am meisten bedroht fühlte, war eindeutig Hitler selbst, das geht auch hier hervor: „4. Juni 1941: 2. Chef. d. Genstb. d. Heeres: Der russische Aufmarsch kann präventiven und defensiven Charakter haben. Defensive Absichten sind anzunehmen. Die Russen mit ihren weiten Räumen haben nicht nötig nach vorwärts ihr Vorfeld noch zu erweitern. Auch ihre bisherige politische Haltung und die Gesamtlage sprechen dagegen. Immerhin sind besonders nach Ansicht des Führers einzelne 67 68 69
Zit. n. Seidl, Beziehungen, S. 377 f., vgl. auch Becker, Kampf, S. 298. Vgl. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 98 ff. Zit. n. Halder, KTB, II, S. 418, 17. Mai 1941.
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offensive Varianten möglich, besonders gegen Rumänien, hier bis der Druck des deutschen Angriffs eine solche Operation still legen wird.“70
Zu beachten ist hier neben Hitlers Äußerung auch die generelle Überlegung des Generalstabschefs Halder, daß es „die Russen mit ihren weiten Räumen nicht nötig haben, nach vorwärts ihr Vorfeld noch zu erweitern“. Das hatten sie in der Tat nicht. Die Größe Rußlands bedeutete einen strategischen Luxus. Eine grenzferne Stationierung der Roten Armee wäre für einen deutschen Angriff „unangenehmer“ gewesen als die tatsächlich eingenommene grenznahe Position. Immerhin war Halder, der ja auch schon 1938 während der Tschechoslowakeikrise gegen Hitler putschen wollte, von dessen Argumenten offensichtlich nicht überzeugt. Ungeachtet dessen Am meldete das Kriegstagebuch des OKW am 13. Juni 1941 den Fortgang dieser russischen Truppenstationierungen: „Moskau: Umfangreiche Eisenbahntransporte von Rußland nach Baltikum. Russischer Marineattaché Berlin bestätigt, daß Lieferungen für Kreuzer L in nächster Zeit in Rückstand bleiben würden. In Rußland wachsende Unruhe.“71
Einen Tag später folgte dann am 14. Juni 1941 die politische Rede Hitlers vor der Generalität, mit der er den kommenden Angriff auf die Sowjetunion begründete. Nach Erinnerung von Generalfeldmarschall Kesselring sagte er folgendes, wobei er besonders die gerade gemeldete Stationierung72 der großen Zahl russischer Flieger an der Grenze betonte: „Hitler erklärte . . . daß der Ostfeldzug unvermeidlich sei, daß jetzt angegriffen werden müsse, wenn man sich einem russischen Angriff zur Unzeit entziehen wolle. Dabei wurden nochmals die Punkte in Erinnerung gebracht, die eine Freundschaft zwischen Rußland und Deutschland auf die Dauer unwahrscheinlich erscheinen ließen, die nicht wegzuleugnenden ideologischen Gegensätze, die auf beiden Seiten beiseite geschoben, aber nicht beseitigt waren, die mobilmachungsartigen Maßnahmen an der Ostseeküste und der russischen Westgrenze, zunehmend aggressives Verhalten russischer Soldaten gegen die Bevölkerung in den Randgebieten, Kräfteverschiebungen in den grenznahen Raum, verstärkter und beschleunigter Aufbau der russischen Rüstungsindustrie usw. . . . Die Dislokation der russischen Truppen mit starken Massierungen in der Mitte – davon allein im vorspringenden Bogen von Bialystok rund 50 Großverbände – ließ sowohl auf Angriffs- wie auf Verteidigungsabsichten schließen. Die im grenznahen Raum festgestellte Flieger-Bodenorganisation und ihre Belegung hatte dagegen einen ausgesprochen offensiven Charakter, sie enttarnte damit auch die russischen Heeresabsichten. Die These Hitlers, daß der Russe uns im ersten, ihm 70 Vgl. BA-MA Freiburg, RH 20-17/23, hier zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 274. Hervorhebung im Original. 71 Zit. n. Schramm, OKW, KTB, II, S. 404. 72 Am 9. Juni waren in den sowjetischen Grenzbezirken „ca. 4000 Flieger, weiter rückwärts noch 1100 Flieger“ festgestellt worden. Vgl. Schramm, OKW, KTB, II, S. 402, 9. Juni 1941.
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X. Hegemonie oder Untergang
günstig erscheinenden Augenblick angreifen würde, hielt ich für indiskutabel richtig.“73
Nicht alle Anwesenden waren so überzeugt wie Kesselring, wenn sie auch den Inhalt von Hitlers Rede ähnlich wiedergeben. Heinz Guderian etwa schrieb später: „Seine eingehenden Darlegungen über die Gründe, die ihn zum Präventivkrieg gegen Rußland geführt hatten, waren nicht überzeugend. Die Spannungen infolge der Eroberung des Balkans durch die Deutschen, die Einmischung der Russen in Finnland, die Besetzung der baltischen Randstaaten vermochten ebensowenig einen so schwerwiegenden Entschluß zu rechtfertigen, wie die ideologischen Gründe der nationalsozialistischen Parteilehre und gewisse militärische Nachrichten über Angriffsvorbereitungen russischerseits.“74
Aber auch Guderian erwähnt also die russischen Angriffsvorbereitungen, und bestätigt im übrigen in Stichpunkten den ausführlicheren Bericht Kesselrings. Guderian hatte 1937 in seinem Buch „Achtung Panzer“ die Zahl von zehntausend russischen Panzern genannt. Ursprünglich hatte er 17.000 angeben wollen, aber auf Druck des damaligen Chefs des Generalstabs Beck mußte er die Zahl nach unten korrigieren.75 Mitte Juni 1941 gab es keinen Zweifel, daß wenigstens die Zahl von zehntausend Panzerfahrzeugen an der deutschen Grenze stationiert war. Was Hitler vor der Wehrmachtsführung ausgeführt hatte, trieb ihn auch intern um, so am 19. Juni 1941: „Interne Besprechung: Botschafter Ritter 10.00 Uhr. Führer hat gestern Reichsaußenminister beauftragt, zu der Meldung OKW an Ausw. Amt letzten Appell zu liefern bis heute abend. (Bedrohlichkeit des russischen Aufmarsches läßt weiteres Zögern nicht zu.)“76
Einen Tag später datiert ein Schreiben Jodls an Botschafter Ritter, in dem es heißt: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Sowjetrußland diesen Pakt seit Monaten nurmehr als eine Sicherung betrachtet hat, um möglichst ungestört im Sinne Englands den gewaltigsten militärischen Aufmarsch seiner Geschichte gegen Deutschland zu vollziehen.“77
Das Schreiben schließt mit dem Appell: „Die Sicherheit des Reiches macht es erforderlich, diese Bedrohung unverzüglich zu beseitigen.“78 Nun darf man spätestens nach dieser direkten Aufforderung Hitlers vermuten, ein solches Schreiben sei zu einem ganz bestimmten Zweck verfaßt worden, 73 74 75 76 77 78
Zit. n. Kesselring, Soldat, S. 113. Zit. n. Guderian, Erinnerungen, S. 136. Vgl. Maser, Wortbruch, S. 361. Zit. n. Schramm, OKW, II, S. 406. Vgl. BA-MA RW 4/675, S. 24605. Vgl. BA-MA RW 4/675, S. 24605.
2. „Muß das denn auch noch sein?“
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Das OKW meldet die geschätzte Stärke der Roten Armee an den Außenminister. Fremde Heere Ost hatte im Westen der UdSSR sogar „171 Divisionen, 36 Kavalleriedivisionen und 40 motorisierten Brigaden“ angenommen. (BA-MA RW 4/675, Bl. 24600 ff.)
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nämlich um bei Gelegenheit die Präventivkriegsthese öffentlichkeitswirksam dokumentarisch belegen zu können, etwa in einer weiteren Veröffentlichung in einem Weißbuch des Auswärtigen Amts. Dafür spricht etwa auch die erstaunte Bemerkung in den handschriftlichen Protokollen der Lagebesprechungen bei der Abt. Landesverteidigung. Dort findet sich unter dem 13. März der Eintrag: „Chef L:79 Themen der Besprechung mit Botschafter Ritter: 1.) Irische Frage. 2.) Frage des Transports deutscher Truppen durch Jugoslawien. 3.) Weisung für die Zusammenarbeit mit Japan. Ferner kurzer Hinweis auf das ‚Unternehmen Barbarossa‘, Täuschungsschreiben an den Reichsaußenminister (?), Unterrichtung des russischen Militärattachés (worüber?)“.80
Es könnte sich bei den „Täuschungsschreiben“ um die Briefe Jodls an „Herrn Botschafter Ritter“, also an das Auswärtige Amt, vom 1. März und vom 23. April handeln, die zu Täuschungszwecken angefertigt worden sein könnten.81 Das muß jedoch nicht unbedingt der Fall sein. Da gleichzeitig der russische Militärattaché erwähnt wird, könnte es sich auch ganz im Gegenteil um andere Schreiben handeln, in denen von einer russischen Bedrohung an der Grenze gerade nicht gesprochen wird und deren Inhalt man deshalb der russischen Botschaft zuspielen wollte. „Täuschungsschreiben“ an den Reichsaußenminister zur Kenntnisnahme der Sowjets könnten daher ebenfalls gemeint sein. Überdies ist bei Schreiben, mit denen jemand Drittes „getäuscht“ werden soll, sei es die internationale Öffentlichkeit im Rahmen eines deutschen Weißbuchs zur Rechtfertigung des Angriffs auf die UdSSR oder sei es bloß der sowjetische Militärattaché, der Inhalt nicht zwingend falsch. Die Täuschung kann auch darin bestehen, einen korrekt ermittelten Sachverhalt in manipulierter Form zu präsentieren. Gesetzt den Fall, Jodl hätte den Brief an Ritter und damit an Ribbentrop extra zum Zweck späterer Veröffentlichung geschrieben, bedeutet dies nicht zwingend, daß die dort formulierten Sätze nicht dem tatsächlichen Kenntnisstand des OKW wiedergeben. Ein Inhalt kann echt sein, auch wenn er zu Propagandazwecken präsentiert wird.82 Dafür spricht auch, daß Hitler am 79
Gemeint ist Walter Warlimont. Aufzeichnung des Ministerialrats Greiner, zit. n. BA-MA RW 4/42, S. 130 f., 13. März 1941. Fragezeichen im Original. Vgl. Schramm, OKW, I/1, S. 352, 11. März 1941: „WfSt wünscht Einschaltung des russ. Militärattachés (Woronzow) in die Irreführungsaktion. Aus. Attaché-Abt.“ 81 In diesem Zusammenhang ist interessant, daß sich Woronzow am 6. Mai 1941 mit einem Bericht nach Moskau wandte, in dem er behauptete, ein deutscher Angriff würde bevorstehen, möglicherweise am 14. Mai. Geplant seien Angriffe über Finnland und das Baltikum, ergänzt durch Luftlandungen. Im Juni schickte er dann den sogenannten „Woronzow-Report“ mit weiteren Details über den Angriff, traf aber in der sowjetischen Führung auf – offenbar nicht unberechtigtes – Mißtrauen. Vgl. Erickson, Road, S. 87 bzw. S. 95. 80
2. „Muß das denn auch noch sein?“
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11. Mai 1941 Aufstellungen über die Entwicklung des russischen Aufmarschs angefordert hat, „eingeteilt nach Vierteljahren“.83 Er beschäftigte sich also persönlich mit den russischen Vorbereitungen und traf Vorkehrungen dafür, dies gegebenenfalls der Öffentlichkeit zu präsentieren. Daß er sich selbst desinformieren lassen wollte, ist dagegen kaum anzunehmen, so daß bereits Keitels vom gleichen Tag datierte Aufstellung des russischen Truppenbewegungen nicht einfach als erfunden abgetan werden kann. Seit Kriegsausbruch hätte sich die Zahl der russischen Truppen mehr und mehr erhöht, stellte er an Hand von Zahlenbeispielen fest. Jetzt habe sich das Tempo verschärft: „Seit Beginn dieses Jahres aber liefen fast täglich beim Oberkommando der Wehrmacht von allen Teilen der Grenze Meldungen ein, die in ihrer Gesamtauswertung das Bild einer umfassenden Truppenkonzentration an der deutschen Ostgrenze ergaben. Unter rücksichtslosem Abtransport von Schützen-, mot.- und Pz.-Divisionen aus dem asiatischen Raum und Kaukasien – besonders nach dem russisch-japanischen Nichtangriffspakt – erhöhte sich die Zahl allein der festgestellten Schützen-Divisionen im europäischen Rußland am 1.5.1941 auf 143. Davon befanden sich 119 Divisionen im deutsch-russischen Grenzraum.“84
Das entspricht in etwa dem, was OKW-Chef Keitel in Nürnberg aussagte, wo er aus dem Gedächtnis von 150 Divisionen sprach.85 Hitler selbst sagte in seiner Proklamation am Angriffstag, daß „heute 160 russische Divisionen an unserer Grenze stehen.“86 Beides wird allerdings noch übertroffen von dem, was Stalin selbst wenige Wochen später zugab. Bei Kriegsausbruch hätten 180 russische Divisionen an der Grenze gestanden, davon etwa sechzig Panzerdivisionen, sagte er Ende Juli zu Roosevelts Sonderbeauftragtem.87 Mittlerweile hätte man, einen Monat nach dem Angriff, zweihundertsechzig Divisionen zur Verfügung.88 Dies war zutreffend und bestätigte die deutschen Angaben über die Stärke des russischen Offensivaufmarschs. 82 Winston Churchill etwa ist dem Verdacht ausgesetzt worden, Befehle und Anordnungen während des Krieges bereits im Hinblick auf seine damals bereits geplante spätere Selbstdarstellung verfaßt zu haben, auch von Kollegen wie Neville Chamberlain. In jedem Fall betrieb er eine umfassende Selbstdarstellung und beschäftigte ein ganzes Team von Autoren für seine zwölfbändige Weltkriegsgeschichte. Vgl. Reynolds, Writing, passim. 83 Zit. n. OKW, II, S. 394. 84 Zit. n. BA-MA RW 4/675, S. 24597. 85 Vgl. IMT, X, S. 596. 86 Vgl. Domarus, Hitler, II, S. 1730, sowie die Erklärung Ribbentrops vor der internationalen Presse am 22. Juni 1941, in: Stuttgarter NS-Kurier, Nr. 171, 23. Juni 1941, S. 6. 87 So Stalin zu Harry Hopkins am 29./30. Juli 1941. Außerdem fügte er noch die korrekte Zahl von 24.000 Panzern hinzu, die der Roten Armee zur Verfügung stünden. Vgl. Sherwood, Papers, S. 328 ff., hier zit. n. Seaton, Krieg, S. 126. 88 Diese Darstellung ist lediglich insofern nicht ganz richtig, als Shukov die Zahl der russischen Divisionen, die im Westen bereitstehen würden, schon am 15. Mai
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Die Abteilung Fremde Heere Ost arbeitete auch nach Kriegsbeginn weiter daran, sorgfältig zu analysieren, in welche Richtung der russische Aufmarsch gezielt hatte und welche Dimensionen er angenommen hatte. Nach zweijähriger Analyse stand das Ergebnis fest. Alle Beobachtungen und nachträglichen Feststellungen über die Transportkapazität im Westteil Rußlands zwingen zu dem Schluß, „daß fast die gesamte verfügbare Streitmacht der SU in einer Monate dauernden Bewegung aus dem Innern Rußlands an die deutsche Ostfront herantransportiert worden war. . . . Die . . . Schwerpunkte lassen deutlich die Absicht erkennen, durch Vorstoß in allgemeiner Richtung Litzmannstadt die in dem vorspringenden Teil des Generalgouvernements stehenden deutschen Kräfte einzukesseln und zu vernichten, und bei günstiger Entwicklung der Lage im Norden durch Vorstoß in Richtung Elbing Ostpreußen vom Reich zu trennen.“89 In der Tat war es nicht nötig, den Shukov-Plan in Papierform zu finden, um die sowjetischen Absichten zu erkennen. Dies hat nur den letzten Zweifel beseitigt. Die sowjetischen Zielsetzungen werden in dieser internen deutschen Analyse vom Herbst 1943 richtig beschrieben. Auch wenn dies im Sommer 1941 noch nicht in ganzem Umfang erkannt war, blieb doch die Sorge vor einem russischen Überraschungsangriff auch damals präsent, ein Angriff, der um so verheerender werden mußte, je näher die deutsche Armee an die Grenze vorrückte, der ständige Begleiter der deutschen politischen Führung. Der „größte Aufmarsch der Geschichte“ machte sich an der russischen Westgrenze bereit und stoppte jede Ansatz zur Kriegsführung gegen England. Wenn es gelang, ihn zu stoppen, war der Krieg gegen England möglich, wenn nicht, war sowieso alles verloren, wie Hitler am 8. Juni nüchtern bilanzierte: „. . . ‚Schweres Entschließen‘, aber vertraue auf die Wehrmacht. Luftflotte: Jäger und Bomber zahlenmäßig überlegen. Etwas Angst für Berlin und Wien. Besetzungsgebiet nicht mehr wie von Dänemark bis Bordeaux. Haben ihre ganze Kraft an der Westgrenze. Größter Aufmarsch der Geschichte. Wenn es schief geht, ist sowieso alles verloren. Sobald es erledigt ist, erledigt sich auch Irak und Syrien von selbst. Dann bin ich so frei, daß ich schließlich auch durch die Türkei hindurchstoßen kann. Wenn die Franzosen Syrien verlieren – und ich bin überzeugt, daß Syrien verloren ist, besteht nur die eine Gefahr, daß sie auch Algerien verlieren. Dann stoße ich sofort durch Spanien durch und riegle den Eng1941 mit 258 angab, davon 58 Panzerdivisionen. Vgl. Ueberschär, Angriff, S. 188. Neben vielem anderen deutet dies darauf hin, daß der russische Aufmarsch nach dem Shukov-Plan vollzogen wurde und ein russischer Angriff daher unmittelbar bevorstand. Er steht auch in der Kontinuität zum strategischen Aufmarschplan vom März 1941, der für den Westen inklusive Finnland 259 Divisionen vorgesehen hatte. Vgl. Ueberschär, Angriff, S. 182. 89 BA-MA RH 2/2092, Bericht Fremde Heere Ost vom 9. September 1943, hier zit. n. Hoffmann, Vernichtungskrieg, S. 372 f.
2. „Muß das denn auch noch sein?“
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ländern das Mittelmeer ab. Es ist nur die elende Zeit des Wartens, die einen so nervös macht.“90
Hier wird der Krieg gegen Rußland in seiner Funktion für den Gesamtkrieg deutlich. Gegen den erklärten Widerstand der UdSSR konnte im Nahen Osten nichts gegen die englische Machtstellung unternommen werden. Das beschäftigte Hitler bereits seit dem Herbst des letzten Jahres. Den Vorschlag Halders, eine weit ausgreifende deutsche Landoffensive von Bulgarien über die Türkei und Syrien gegen die britische Nahostposition vorzubereiten, wies Hitler mit dem Hinweis ab, daß ein deutsches Vorgehen gegen die Türkei das „Problem Rußland aufrolle“ und daher eine solche Operation „erst nach Ausschaltung Rußlands ins Auge gefaßt werden“ könne. Rußland „bleibe das ganze Problem Europas. Alles müsse getan werden, um bereit zu sein zur großen Abrechnung.“91 Nach Andreas Hillgruber wird hier „offenkundig“, daß die Abmachungen mit Rußland in Hitlers Augen nur eine „Zwischenlösung“ gewesen seien. Offenkundig wird doch aber eher, daß die russische Politik in Hitlers Augen den Krieg gegen England massiv behinderte, weil sie beispielsweise einen Angriff auf oder einen Weg über die Türkei offensichtlich zu einem unkalkulierbaren Risiko machte.92 Daher sind wohl auch die Gesamteindrücke aus der Besprechung bei Hillgruber nur in den Anmerkungen zu lesen: „Der Adjutant des Heeres bei Hitler notierte als Gesamteindruck dieser Besprechung: ‚Führer sichtlich deprimiert. Eindruck, daß er im Augenblick nicht weiß, wie es weitergehen soll‘.“93
Daher resultierte auch die bedrückte Gesamtatmosphäre, in der die deutschen Militärs sichtlich begeistert wären, wenn der Alptraum des andauernden Krieges endlich vorbei wäre. Die Nerven lagen blank: „OB (v. Brauchitsch) fängt im unpassendsten Moment noch einmal an, von der verpaßten Gelegenheit ‚Seelöwe‘ zu sprechen, und attackiert völlig gegen seine sonstige Gewohnheit Marine und Luftwaffe. Göring wird rabiat, beinahe persönlich und beschuldigt Heer des Zauderns im Fall Dünkirchen. Niemand sagt, woran es wirklich lag. Auch Keitel läßt OB im Stich, der der ganzen Diskussion nicht gewachsen ist. Zum Schluß schieben alle die Schuld auf (die) Marine, die erklärt hatte, den vom Heer verlangten Landungsstreifen nicht schützen zu können: von Marine niemand anwesend.“94 90
Zit. n. Hewel, Tagebuch, 8. Juni 1941. Zit. n. Hillgruber, Strategie, S. 355. 92 Vgl. Halder, KTB, II, S. 191, 24. November 1940: „In der letzten Unterredung wurde mir vom Führer gesagt: ‚An die Meerengen können wir erst gehen, wenn Rußland geschlagen ist‘.“ 93 So nach Tagebuch Engel, 4. November 1940, hier zit. n. Hillgruber, Strategie, S. 356. 94 Ebd. Tagebuch Engel, 4. November 1940, hier zit. n. Hillgruber, Strategie, S. 356. 91
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Ein Erfolg über die UdSSR sollte den nötigen Eindruck auf England machen und es zum Frieden bewegen, so kalkulierte Hitler, ohne die Zweifel in seiner Umgebung ausräumen zu können „Gespräch mit F. über Rußland. Glaubt, daß dies das Ende des engl. Widerstands bedeuten müsse. Ich glaube noch nicht daran, da Engl. hierin eine Schwächung D’s für längere Zeit sehen werden.“95
Erst am Abend des 21. Juni 1941 tritt Entspannung ein, als der deutsche Aufmarsch so weit fortgeschritten ist, daß er nicht mehr von einem russischen Überfall zerstört werden kann: „Sorgen in Reichskanzlei wegen starker russischer motorisierter Kräfte gegenstandslos. Schnelles Ablaufen. Neue Gefahr Juli.“96
Das Motiv für den Angriffstermin 1941 ist in den russischen militärischen Vorbereitungen und der englisch-russischen Politik zu suchen. Dies läßt sich aus zeitnahen Äußerungen anschaulich machen, weshalb die späteren Aussagen der verantwortlichen Offiziere in keinem Fall als apologetisch abgetan werden können. Unmittelbar nach der Kapitulation, am 15. Mai 1945, erklärte Generaloberst Jodl, der als Chef des Wehrmachtsführungsstabes den ganzen Krieg über der erste militärstrategische und operative Berater Hitlers gewesen war, in der von den Alliierten nicht besetzten Enklave Flensburg: „Wir haben . . . den Angriff auf Rußland nicht geführt, weil wir den Raum haben wollten, sondern weil Tag für Tag der Aufmarsch der Russen gewaltig weiterging und zum Schluß zu ultimativen Forderungen geführt hätte. Der Generalstab des Heeres hatte auch eingesehen, daß dieser Krieg notwendig war. Wir alle (sind) und besonders der Soldat (ist) in diesen Krieg gegen Rußland mit einem beklemmenden Gefühl gegangen beim Gedanken an seinen Ausgang.“97
Von der Richtigkeit dieser Analyse des russischen Aufmarschs, die er hier bereits gab, ohne davon zu wissen, daß er vor dem Nürnberger Tribunal überhaupt angeklagt werden würde, war Jodl überzeugt genug, um sie auch einer Studie über einen „Krieg zwischen den Westmächten und der Sowjetunion“ zugrunde zu legen, die er vor seiner Hinrichtung noch schrieb. Er gehe davon aus, daß „der sowjetische Aufmarsch ein latenter ist, d.h. nicht anders als vom Sommer 1940 bis 1941 gegen Deutschland. . . . Die Versammlung der Armeen hinter der Absprunglinie kann innerhalb von 10 Tagen durchgeführt werden.“98Auch während des Krieges war man sich unter den Nationalsozialisten durchaus einig, mit diesem An95
Zit. n. Hewel, Tagebuch, 13. Juni 1941. Zit. n. Schramm, OKW, II, S. 407 f. 97 Vgl. Schramm, OKW, 4, S. 1503, hier zit. n. Hillgruber, Rußlandbild, S. 126. 98 Zit. n. BA-MA, N 69/3, Ein Krieg zwischen den Westmächten und der Sowjetunion, S. 4 f. 96
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griff richtig gehandelt zu haben. Was man hinter der Grenze vorfand, bestätigte die aus den Cripps-Berichten bekannte offen vorgetragene Einschätzung, die UdSSR habe bei passender Gelegenheit angreifen wollen. „Dann kommt der Führer von den militärischen Besprechungen. Sein Aussehen ist über Erwarten gut und er macht einen durchaus optimistischen und gläubigen Eindruck. Er entwickelt mir zunächst in kurzen Zügen die militärische Situation, die er überraschend positiv ansieht. Nach seinen handfesten und bewiesenen Unterlagen sind zwei Drittel der bolschewikischen Wehrmacht bereits vernichtet oder doch sehr angeschlagen. Fünf Sechstel der bolschewikischen Luft- und Tankwaffe können auch als vernichtet gelten. Der Hauptstoß also, den die Bolschewiken in das Reich vorhatten, kann als gänzlich abgeschlagen angesehen werden. . . . Es besteht kein Zweifel mehr, daß die Russen ihre ganze Stoßkraft an ihrer Westgrenze versammelt hatten und diese Gefahr im Augenblick einer Krise, die eventuell im Verlaufe des Krieges über uns hätte hereinbrechen können, für uns tödlich geworden wäre. Wir haben demgegenüber etwa 220 Divisionen aufmarschieren lassen. . . . Der Führer hat einen heiligen Zorn auf die bolschewistische Führungsclique, die sich mit der Absicht trug, Deutschland und damit Europa zu überfallen und doch noch im letzten Augenblick bei einer Schwächung des Reichs den seit 1917 geplanten Versuch der Bolschewisierung des Kontinents praktisch durchzuführen.“99
Offiziere und Mannschaften des Ostheeres glaubten an den Präventivkrieg.100 Auch außerhalb des Heeres wurde Hitlers Vorgehen beiläufig als Beispiel genannt, etwa von Walter Hewel, dem Verbindungsmann des Auswärtigen Amts bei Hitler, der damit in einem Privatbrief noch im vorletzten Kriegsjahr lebhafte Kritik an Francos Entschlußosigkeit verband, der den Gefahren immer ausgewichen sei: „Was wäre aus uns allen geworden, wenn der Führer damals der von ihm erkannten Gefahr, die uns vom Osten drohte, ausgewichen wäre! Europa bestünde heute nicht mehr. Der Entschluß aber, Rußland anzugreifen, war für den Führer, der ihn ganz allein treffen mußte, ein unvorstellbar schwerer. Er hat Monate damit gerungen und ihn dann gefaßt, sicherlich gegen alle seine Wünsche und Hoffnungen, weil er die Gefahr erkannt hatte und einsah, daß man eine Gefahr, der man ausweicht, damit nur noch vergrößert.“101
99
Zit. n. Goebbels, Tagebücher, II/1, 9. Juli 1941, S. 30 f. Vgl. Arnold, Besatzungspolitik, S. 534. 101 Hewel an Spitzy vom 1. Februar 1944, zit. n. Spitzy, Bekenntnisse, S. 492. 100
XI. Die letzten Wochen 1. Deutsch-Amerikanische Affären am Ende des Mai Wie bereits beschrieben, hatte sich die Tonlage zwischen der Washingtoner Regierung und Deutschland sehr verschärft, seit die Wahlen in den USA im November 1940 entschieden waren. Die bis dahin geübte Vorsicht in den öffentlichen Äußerungen und noch differenzierte Art des Präsidenten, auf dem europäischen Kontinent Politik zu machen, schwanden zusehends. Die erneute Niederlage bei den anglo-amerikanischen Anstrengungen, eine Balkanfront zu errichten, ließ die Rhetorik des amerikanischen Staatschefs eine weitere Drehung ins Schrille vollführen. Ende Mai1 machte sich Roosevelt die Versionen seines Agenten Donovan öffentlich zu eigen und präsentierte dem amerikanischen Publikum in einer spektakulären Rede eine groteske Variante einer angeblichen deutschen Kriegsausweitungspolitik. Fünfundachtzig Millionen Amerikaner konnten über Radio seine Klage über nationalsozialistische Welteroberungsabsichten hören: „Was als europäischer Krieg begonnen hat, hat sich in einen Weltkrieg um die Weltherrschaft entwickelt, wie es die Nazis immer beabsichtigt hatten. Nein, ich spekuliere hier nicht. Ich wiederhole nur, was immer im Nazi-Buch der Welteroberung zu lesen war. Sie planen, die lateinamerikanischen Staaten zu behandeln, wie sie es jetzt mit den Balkanstaaten tun. Sie haben vor, die Vereinigten Staaten zu erwürgen.“2
Nun hatten die Nationalsozialisten weder die Aussicht noch die Absicht besessen, die „Welt“ zu erobern, was sich nicht zuletzt aus ihren zahlreichen Versuchen ablesen läßt, den beginnenden Weltkrieg seit 1939 zu stoppen. „Die Welt können sie behalten“, hatte Hitler über die angelsächsischen Mächte gesagt und dies auch mehrfach deutlich wissen lassen.3 Die „Nazis“ waren im Gegenteil erklärtermaßen soweit, den europäischen Krieg auf seine Wurzeln zurückzuführen und zu beenden. Die Entscheider in Washington wie London wußten das. Es beeinträchtigte die Rhetorik dieser Präsidentenrede nicht. So war „Donovan’s War“ auf dem Balkan, an dessen Ausbruch von Rom über Moskau bis London und Belgrad doch so viele engagiert gearbeitet hatten, plötzlich die Schuld desjenigen Landes gewor1 2 3
Genau am 27. Mai. Vgl. Hewel, Tagebuch. Zit. n. Persico, War, S. 86. Zit. n. Hewel, Tagebuch, 8. September 1941.
1. Deutsch-Amerikanische Affären am Ende des Mai
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den, in dessen Kalkulationen die Balkan-Affäre ursprünglich überhaupt nicht aufgetaucht war, das ihr vielleicht sogar seine endgültige Niederlage zum Teil verdankte. Und dieser Balkankonflikt war laut Roosevelt nicht nur als Folge eines lang gehegten deutschen Plans entstanden, sondern auch noch eines Plans, der gegen die USA gerichtet sein sollte. Goebbels sah sich als Reaktion zu einem originellen Superlativ genötigt und sprach in seinem Tagebuch von „haltlosesten Unterstellungen“. Immerhin sei „von Krieg vorläufig keine Rede“ gewesen.4 „Man muß den Mann daran hindern, immer ungestraft weiter zu gehen“,5 ließ sich Hitler über Roosevelts Rede aus. Wie dies geschehen konnte, dazu gab es keine Strategie. Geeignete Ansprechpartner, die auf irgendeine Weise die amerikanische Öffentlichkeit erreichen konnten, waren in Europa Mangelware. Als Favorit in dieser Hinsicht galt John Cudahy, der als amerikanischer Botschafter in Belgien über die europäischen Angelegenheiten orientiert war, und auch Dingen wie den katastrophalen Auswirkungen der englischen Hungerstrategie eine für seine Landsleute untypische Aufmerksamkeit schenkte. Der Anblick unterernährter Europäer war ihm peinlich, wenn er an die Verhältnisse in den USA dachte. So galt er auch als Anhänger des Hooverschen Ernährungsprogramms für Europa. Goebbels betrieb bereits seit längerem politische Landschaftspflege bei ihm. „Mittags Botschafter Cudahy bei uns zu Gast. Wir debattieren bis in den späten Nachmittag hinein, und es gelingt mir, ihm in den Hauptfragen Klarheit zu verschaffen. USA fürchten unsere Weltherrschaft. Dann sollen sie uns nicht zu weiteren Eroberungen zwingen. Sie fürchten unsere Autarkie. Dann sollen sie uns die Tore zum Welthandel öffnen. Cudahy möchte noch gerne mit dem Führer sprechen, dann will er vor der USA-Öffentlichkeit das Wort ergreifen. Er kann uns sehr helfen, denn er hat drüben einen enormen Einfluß. Er erzählt mir, daß man ihm im vorigen August in London einfach nicht geglaubt hat. . . . Cudahy ist nachher sehr eingenommen. Das war ein stundenlanges Ringen, aber es hat sich gelohnt. Er hat alle Argumente der Interventionisten angeführt, und ich glaube, ich habe sie ihm alle widerlegt.“6
Es bedurfte dennoch einiger Überredungskunst von Seiten Goebbels und offenbar auch Walter Hewels, um Hitler zu dem von Cudahy gewünschten Treffen zu überreden. Kurz vor Roosevelts Rede kam es am 25. Mai in Berchtesgaden zustande, allerdings betont feindselig, wie Cudahy feststellten mußte. Hitler gab sich als Fanatiker, ob nun im Rahmen eines Rollen4 Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 340. Hitler plante demnach eine direkte persönliche Antwort, die dann aber offenbar auf Intervention Ribbentrops unterblieb. „RAM fürchtet Auszehrung (?) in Rededuell und nicht ankommen der Führerrede in USA. Vgl. Hewel, Tagebuch, 28. Mai. 5 Hitler über Roosevelt, zit. n. Hewel, Tagebuch, 28. Mai 1941. 6 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 273. 26. April 1941.
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XI. Die letzten Wochen
spiels, um seinen amerikanischen Gast zu beeindrucken, weil er dem von seiner Umgebung aufgedrängten Treffen von vornherein wenig Aussichten gab,7 oder einfach deshalb, weil der „Fall Bömer“ an diesem Tag besonders hohe Wellen geschlagen hatte.8 Das Interview war offen, Fragen waren nicht abgesprochen worden. Anwesend war neben Dolmetscher Schmidt auch Walter Hewel, den Hitler denn auch regelmäßig im Blick hatte, wenn er sprach, sowohl den Dolmetscher wie Cudahy ignorierend. Nach einigem gegenseitig frostigen Anschweigen unterhielt man sich über den amerikanischen Flottenbegleitschutz für englische Konvois, der nach geltendem Völkerrecht als kriegerischer Akt zu werten war und über die angebliche Bedrohung der USA durch deutschen Export und eine mögliche deutsche Invasion der westlichen Hemisphäre, was bei Hitler zu einem „kurzen, harten Gelächter“ führte, das bei Cudahy den Eindruck hinterließ, sein Gegenüber habe „einen langen Urlaub hinter sich, was ehrliches, spontanes Lachen“ angehen würde. Danach folgten lange Debatten über Ökonomie und Welthandel, wobei von Hitler einmal mehr wiederholt wurde, daß Deutschland für den Weltmarkt eher eine geringere Bedrohung war als das englische Empire oder Japan, offenbar der Tatsache nicht bewußt, daß die US-Regierung bereits daran arbeitete, im Rahmen des weltweiten Konflikts auch diese beiden Wirtschaftszonen aufzulösen. Was den Warenaustausch zwischen den USA und Deutschland anging, so blieb Hitler ebenfalls bei dem, was er ein Jahr vorher bereits dem stellvertretenden US-Außenminister Sumner Welles gegenüber formuliert hatte: ein Handelsverkehr zwischen beiden Ländern könnte kaum sinnvoll sein, da Deutschland nichts hätte, was die USA als Industrie- wie Agrarland nicht selbst produzierten und es ein „Eisernes Gesetz“ jedes Handels sei, daß nur kaufen könne, wer auch zum Verkaufen in der Lage sei. Es gab mehr zu differenzieren als „Agrarprodukte“ und „Industrieprodukte“, aber dies war ein Punkt, den Hitler augenscheinlich zeitlebens nicht einsah. Diese mangelnde Differenzierungsfähigkeit hinsichtlich der kapitalistischen Entfaltungsmöglichkeiten und die Folgerungen, die er daraus zog und an die er offenbar wirklich glaubte, waren in der Tat der Hintergrund von Hitlers Absichten in wirtschaftlicher Hinsicht seit den 7
Vgl. Cudahy, Armies, S. 178. Die Geheimhaltung des Rußlandfeldzugs war spektakulär durchbrochen worden. Bömer, ein Mitarbeiter der Presseabteilung des AA hatte in angetrunkenem Zustand öffentlich vom bevorstehenden Angriff gesprochen. Die Affäre sprach sich zu Hitler herum und beschäftigte ihn mehrere Tage lang: „F. sehr erregt. Will Bömer erschießen lassen. Bestellt persönlich Heydrich. Unangenehme Stimmung,“ notierte Hewel am Tag vor Cudahys Eintreffen. Am nächsten Tag, als Hitler mit dem Amerikaner zusammentraf, kam Heydrich auf den Berghof. Vgl. Hewel, Tagebuch, 23.– 26.5.1941. 8
1. Deutsch-Amerikanische Affären am Ende des Mai
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zwanziger Jahren gewesen. Er hielt später auch nach dem Kriegsbeginn mit den USA daran fest, als er dem deutschen Offiziersnachwuchs ein Jahr später diesen Punkt erklären wollte und zu der oben bereits zitierten Ausführung kam, „wenn uns ein solch geschlossener Wirtschaftskörper entgegentritt, wie es Amerika ist oder wie es seit der Ottawa-Konferenz England ist oder wie es auch Rußland ist, sind wir – ich möchte es sagen – arme Bettler“.9 Aus dieser Situation sah Hitler seit der Vorkriegszeit prinzipiell nur den Ausweg eines Ausstiegs aus der Weltwirtschaft und der Schaffung eines weitgehend geschlossenen Wirtschaftsraums in Mittel- und Mittelosteuropa.10 Das äußerte sich nun Cudahy gegenüber wieder in der Frage, warum denn in den USA soviel Widerstand gegen eine deutsche Wirtschafts- und Handelszone in Europa und speziell in Südosteuropa vorhanden wäre, deren Existenz den Konkurrenzdruck deutscher Produkte weltweit eher verringern würde. Was die Rückkehr Deutschlands zum goldbasierten internationalen Zahlungsverkehr anging, seit langem eine der Hauptforderungen der Vereinigten Staaten, so stellte Hitler dies Cudahy gegenüber in Aussicht. Dies war eine gewisse Sensation und politisch sicher eins der wesentlichsten Signale dieses Treffens, das dann abrupt und ebenso feindselig endete, wie es begonnen hatte. Hitler stand unvermittelt mit der Bemerkung auf, das Gespräch sei ohnehin zur „Zeitverschwendung“, da er sagen könne, was er wolle, es würde von der amerikanischen Presse ohnehin verzerrt dargestellt. Dennoch ließ Cudahy den vollständigen Text in Berchtesgaden vorlegen, er wurde von Hitler persönlich ohne Änderung zur Veröffentlichung freigegeben und erschien eine Woche danach im „Life Magazine“ und zahlreichen amerikanischen Zeitungen. Die amerikanische Öffentlichkeit war erreicht worden. Entsprechend den Erwartungen zeigte sich die Presse ablehnend. Die „New York Times“ stellte Hitlers Aussagen zahlreiche frühere Versprechen gegenüber, die er gebrochen haben sollte. Auch „Life“ brachte das Interview zwar, distanzierte sich aber in einer Erklärung der Herausgeber von dessen Inhalt, mit einem „gemeinen Kommentar“, wie ein ernüchterter Goebbels notierte.11 Die politische Wirkung hinsichtlich der drei Hauptthe9 Hitler am 30. Mai 1942 in einer Geheimrede vor dem deutschen Offiziersnachwuchs, d.h. ca. zehntausend Leutnants, zit. n. Picker, Tischgespräche, S. 717. 10 Die Einsicht in politische Realitäten und taktische Zwänge führte dazu, daß Hitler sein damit verbundenes Lebensraum-Programm zwischen „Mein Kampf“ und dem „Hoßbach-Protokoll“ deutlich reduzierte. Als er im November 1937 dort seine Ziele skizzierte, die ggf. durch Krieg erreicht werden müßten, war vom Lebensraum im Osten nur noch Österreich und die Tschechoslowakei übrig geblieben, was für „ein bis drei Generationen“ reichen müsse. Vgl. Scheil, Logik, S. 117 ff. 11 Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/8, S. 334, 25. Mai bzw. 7./8. Juni 1941.
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XI. Die letzten Wochen
men, den Geleitzügen, der unmöglichen Invasion des amerikanischen Kontinents und der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen nach einem möglichen Frieden blieb gering. Allgemein herrschte in amerikanischen Wirtschafskreisen die Ansicht vor, deutsche Billigproduktionen aus einer wohlorganisierten Planwirtschaft könnten später den Weltmarkt leicht überschwemmen. Wer anders dachte, wie Bernard Baruch, der brachte dies lieber im kleinen Kreis zum Ausdruck, so gegenüber Cudahy,12 der noch vor Erscheinen des Interviews in die Vereinigten Staaten abgereist war, angeblich „überstürzt“.13 In der Tat hatte der Vorgang etliche Aufregung verursacht. Einmal mehr drohte Deutschland mit Frieden und zeigte sich verhandlungsbereit. Es mußte dringend etwas geschehen, besonders aus polnischer Sicht, denn Polen würde einmal mehr Gefahr laufen, daß ein Kompromißfrieden der Großmächte auf seine Kosten geschlossen werden könnte: „Die deutsche ‚Friedensoffensive‘ wurde Anfang Juni begonnen und man fürchtete, sie könnte einen größeren Umfang annehmen. Am 5. Juni, aßen Lipski und seine Frau mit uns zu Mittag, zusammen mit Sir Cecil Dorner, dem neuen Botschafter bei Polen. Danach sagte Lipski, er halte es für essentiell, daß Britannien vor der Welt erklären würde, daß man sein Schicksal mit dem seiner Verbündeten unlösbar verbunden habe. Er erzählte mir später, die Idee zu einer Konferenz in diesem Sinn stamme von F. A. Voigt, dem bekannten Journalisten, die sie ihm am Vortrag vorgeschlagen hätte.“14
In dieser Lage taten Lipski und Raczynski alles in ihrer Kraft stehende, einen möglichen Erfolg dieser deutschen Friedensangebote zu verhindern. Sie wurden als äußerst gefährlich angesehen. Raczynski schrieb eigens einen Artikel, in dem er der Möglichkeit eines Kompromißfriedens energisch entgegentrat. Am Ende allerdings konnten die polnischen Repräsentanten allerdings auf die Entschlossenheit des inneren Kreises um Churchill vertrauen. Sie sprachen außer mit Cecil Dormer auch mit Brendan Bracken und konnten bald beruhigt die Rückmeldung feststellen, daß keine Gefahr bestehen würde. In den USA selbst, dem Hauptzielgebiet dieser politischen Intervention, traf Cudahy auf Ablehnung. An manchen Stellen wurde geschrieben, er sei von den Nationalsozialisten bezahlt worden. Auch wer dies nicht dachte, wie Sumner Welles, fürchtete die politischen Verwicklungen, wenn Cudahy jetzt offiziell Kontakt zum politischen Washington eingeräumt werden würde, etwa durch einen öffentlichen Empfang im Weißen Haus. Obwohl Cudahy bereits am ersten Juni eingetroffen war und zweifel12
Vgl. Cudahy, Armies, S. 188. Vgl. Irving, Forschungsstelle, S. 255, Berichte an Hitler in: PA-AA, Serial 146, Dienststelle Ribbentrop, Vertrauliche Berichte oder NA, T-120 Rolle 31, 32 und 337. 14 Zit. n. Raczynski, London, S. 93, 18. Juni 1941. 13
2. Das Unvermeidliche und seine Tarnung
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los mehr Informationen im Gepäck haben konnte, als in den Veröffentlichungen zum Ausdruck kam, lehnte Welles ein Treffen mit ihm ab. Bald darauf wurde diese Unternehmung vom beginnenden „Unternehmen Barbarossa“ aus den Schlagzeilen verdrängt. Die Weltpresse begann sich auf Mutmaßungen über den beginnenden deutsch-russischen Krieg einzustellen, der den Konflikt entscheiden würde. Cudahy ließ den Zeitungsartikeln noch eine Buchveröffentlichung folgen, in der er seine europäischen Erfahrungen ausführlich darstellte. Auch ein Kapitel über die aus seiner Sicht beeindrukkende militärische Schlagkraft der deutschen Streitkräfte fehlte nicht. Die Zahl der amerikanischen Opfer, die ein Sieg über dieses Deutschland kosten würde, wollte sich Cudahy lieber nicht ausmalen. Allein, zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung hatten die Ereignisse in Osteuropa diese Überlegungen bereits zu weiten Teilen überholt. Andere würden diese Opfer bringen müssen. Die Strategie der Westmächte sollte an diesem entscheidenden Punkt aufgehen. Deutschland konnte es sich nicht leisten, in einem hungernden und „brennenden“ Europa die nächsten Jahre abzuwarten. Seit Kriegsbeginn hatte Stalin zudem selbst daran gearbeitet, den Konflikt auszudehnen und eskalieren zu lassen. Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, den Krieg der imperialistischen Länder für den möglichen Großangriff auf Europa zu nutzen. Jetzt kehrte der Krieg zurück. Die Frage war jedoch noch zu lösen, wann und wie genau dies geschehen würde. 2. Das Unvermeidliche und seine Tarnung „Ein Herr von H., der eben aus Moskau zurückkommt, besucht mich und schildert die Verhältnisse jenseits der Grenze. Danach haben die führenden Leute in Rußland keine Zweifel, daß der Krieg kommt. . . . Meine polnische Reinemachefrau bewies heute wieder, wie schwer im Kriege etwas geheimzuhalten ist. Sie bat mich, da ich doch wegginge, dafür zu sorgen, daß sie ihre Stellung behält.“ Fedor von Bock15
Der mögliche deutsche Angriff auf Rußland war seit Monaten Tagesgespräch der westlichen Presse, was in Deutschland auch als Mittel der westlichen Diplomatie verstanden wurde. Die deutsche Botschaft in Washington stufte die Berichterstattung darüber bereits im Oktober 1940 als Ladenhüter der Publizistik ein: „Das bekannte Schreckmittel der hundert deutschen Divisionen, die plötzlich in Polen gegen Rußland aufmarschiert sein sollen, wird auch wieder angewendet. Auch wird den Russen väterlich und belehrend in der Presse dargelegt, wie sehr die deutsche Politik in Rumänien und Truppentransporte dorthin auf Rußland abzielen. In der Presse wird geschildert, daß der Unterstaatssekretär im State De15
Zit n. Bock, KTB, S. 195, 20. Juni 1941.
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XI. Die letzten Wochen
partment16 den Russischen Botschafter nach langer Pause wieder empfangen habe und gleichzeitig angedeutet, daß Rußland bei Abschluß des Berliner Vertrags nicht berücksichtigt worden sei. Eine Annäherung Rußlands an England und Amerika liege im dringendsten russischen Interesse. Auch der englische Botschafter in Moskau führt jetzt politische Verhandlungen.“17
Zumindest offiziell waren also die in Deutschland befürchteten Anstrengungen, die UdSSR auf die Seite der Westmächte zu ziehen, mit großem Aufwand in Gang gesetzt worden. Am gleichen Tag gab Außenminister Ribbentrop der deutschen Botschaft die Anweisung, in Moskau gegenüber Molotov unauffällig die Harmlosigkeit der deutschen Truppenbewegungen in Rumänien zu betonen.18 Die öffentlichen Pressedebatten und diplomatischen Deutungsversuche der militärischen Bewegungen beruhten auf einer Tatsache: Es gibt keine Möglichkeit, einen Aufmarsch jener Größenordnung zu verstecken, wie ihn 1940/41 beide Seiten, die UdSSR so gut wie Deutschland, vorbereiteten. Die Menge des bewegten Materials ist unübersehbar groß, die bloße Zahl der beteiligten Menschen schließt eine Geheimhaltung zumindest innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft praktisch aus. Zu den Eigentümlichkeiten des Frühsommers 1941 gehörte es deshalb auch, daß die angeblich geheimen deutschen Vorbereitungen für einen Angriff auf Rußland sehr offen in der Zeitung diskutiert wurden, je näher das Datum des Angriffstages rückte. Der Manchester Guardian etwa brachte am 31. Mai 1941 einen Artikel von Sir Bernard Pares,19 in dem die Auswirkungen eines englisch-russischen Verständigung auf das englisch-polnische Verhältnis diskutiert wurden und beiläufig die Rede davon war, im deutsch besetzten Teil Polens würden bereits ukrainische Truppen „für die große Invasion“ trainiert. Es stünde mit dem 1918 bereits einmal von den Deutschen als Hetman eingesetzten Pavlo Skoropadskij ein „Quisling“ bereit, der im deutschen Sinn arbeiten würde.20 16 Sumner Welles. Laut ADAP angeblich auf Wunsch des sowjet. Botschafters Umanskij, vgl. FRUS, 1940, Band III, S. 392 f. 17 Zit. n. ADAP, D, XI/1, Dok. 164, S. 232 f., 9. Oktober 1940. 18 Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 166, S. 235 f., 9. Oktober 1940. Einen Tag später folgte eine entsprechende Sprachregelung für das AA. Vgl. Vgl. ADAP, D, XI/1, Dok. 169, S. 237 f., 10. Oktober 1940. 19 Der Historiker Pares galt damals als bekannter Rußlandexperte, der unter anderem die Oktoberrevolution vor Ort erlebt und publizistisch geschildert hatte. 1917/18 arbeitete er als englischer Agent gegen die nach seiner Ansicht von Deutschland aus bezahlte Revolution von „Lenin und seinen bolschewistischen Hauptkollegen – Kamenjew, Sinowjew, Radek, Lunacharsky, Krylenko und anderen“. Für seine Dienste in dieser Sache erhielt er 1919 den K. B. E. Vgl. Pares, Memoirs, S. 425 ff. 20 Vgl. Raczynski, London, S. 351 f. Der 1878 in Wiesbaden geborene Skoropadski führte auf Wunsch der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn die ukrainischen Regierungsgeschäfte nach dem Frieden von Brest-Litowsk, von Fe-
2. Das Unvermeidliche und seine Tarnung
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Diese Pressekampagne wurde ständig weitergeführt. Eine internationale Presseschau aus den Tagen vor dem Angriff macht klar, daß selten eine Attacke auf ein anderes Land offener durchgeführt wurde. „In diesem Dunst ist nur eines völlig unbestreitbar: Von Finnland bis zum Schwarzen Meer hat Hitler Streitkräfte in Stellung gebracht, die stärker sind als es zur Verteidigung nötig wäre“, schrieb der Manchester Guardian am 18. Juni 1941.21 „Deutschland und Rußland gegeneinander – Truppenkonzentrationen entlang der Grenze“ titelte die Londoner Times zwei Tage später, am 20. Juni 1941. „Diplomatische Kreise aus zwei unterschiedlichen Ländern, die an die UdSSR grenzen, haben mitgeteilt, daß eine deutsche Militäroperation gegen Rußland innerhalb von achtundvierzig Stunden starten kann,“22 sekundierte die New York Times wiederum einen Tag danach. Ab Anfang April, d.h. ein gutes Vierteljahr vor dem geplanten Beginn des Angriffs, würden die Vorbereitungen nicht mehr zu verbergen sein, lautete die Prognose des deutschen Generalstabs. Ein flächendeckender Überraschungsangriff mit der Zielsetzung, ein Land von der Größe der UdSSR mit konventionellen Mitteln zu weiten Teilen zu erobern, ist daher praktisch ausgeschlossen. Es gibt aber einen Weg, hinter dem jede beliebige Materialmenge zu tarnen und mit dem jede beliebige Zahl Menschen zu täuschen ist: die Desinformation. Man darf sagen, daß sowohl die UdSSR wie das Deutsche Reich umfassend von diesem Instrument Gebrauch gemacht haben. Dennoch sind sowohl die Angriffsvorbereitungen wie auch der Termin selbst frühzeitig erkannt worden. Ein Beispiel dafür mag dieser Bericht des Marineattachés bei der Deutschen Botschaft in Moskau sein, der eben im April bereits davon Nachricht geben konnte, der deutsche Angriff sei Tagesgespräch: „1) Hier umlaufende Gerüchte wollen von angeblicher Kriegsgefahr DeutschlandSowjetunion wissen, wozu Mitteilungen Durchreisender aus Deutschland beitragen. 2) Nach Angabe italienischen Botschaftsrats sagt englischer Botschafter 22. Juni als Tag des Kriegsbeginns voraus. 3) Sonst wird 20. Mai genannt.“23
Englands Botschafter Cripps hatte also den korrekten Angriffstermin bereits an die italienische Botschaft weitergegeben. Das könnte eine historisch bruar 1918 bis zum Jahresende. Eine ähnliche Rolle blieb ihm während des 2. Weltkriegs verwehrt, obwohl Mitglieder seiner Organisation an deutscher Seite kämpften. Er starb 1945 bei einem alliierten Luftangriff in Bayern. 21 Zit. n. Nekrich, 22. June, S. 97. 22 Zit. n. Nekrich, 22. June, S. 209. 23 Bericht des Attachés an das Oberkommando der Marine vom 24. April 1941. Zit. n. Seidl, Beziehungen, S. 378.
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XI. Die letzten Wochen
motivierte Mutmaßung gewesen sein, denn am 22. Juni hatte auch ein anderer die Eroberung Rußlands begonnen: Napoleon Bonaparte war an diesem Tag nach Osten aufgebrochen, eine Parallele, die später auch Goebbels in seinem Tagebuch festhalten sollte und über die in diplomatischen Kreisen viel diskutiert wurde. Napoleon war seinerzeit gewarnt worden und Minister Caulaincourts Argumente gegen Napoleon glichen fast wörtlich den Einlassungen des deutschen Botschafters Schulenburg 130 Jahre später.24 Der in der Schweiz exilierte rumänische Diplomat Grigore Gafencu baute auf dieser Parallele gar seine Darstellung des „Vorspiels zum Krieg im Osten“ auf, die 1943 erschien. Hitler habe nicht anders als Napoleon gehandelt. Die stille Botschaft lautete, er konnte gar nicht anders handeln, denn Europa war sich doch erstaunlich gleichgeblieben. Es gibt Parallelen zwischen dem Zweiten Weltkrieg und früheren europäischen Hegemonialkämpfen. Ludwig Dehio beschrieb sie schon 1948, ganz im Pathos der Zeit: „Nicht Heroismus, nicht Verbrechen konnten die Gegenströmung bezwingen. Umsonst alle Anstrengungen, das jenseitige Ufer dennoch zu gewinnen . . . Da ist es der alte Kampf um die Niederlande, der sich erneuert, dann sind es die so oft geschmiedeten Landungsprojekte, dann nach ihrem Versagen das wohlbekannte Streben, durch Ausbreitung auf dem Kontinente sich zu entschädigen, im Osten Rußland sich zu unterwerfen, mit dem sich unter Stalin so wenig wie unter Alexander I. ein fruchtbares Zusammengehen gegen die Insularen ermöglichte, im Südosten und Süden nach Vorderasien und Afrika auszubrechen, um auch ohne Flottenmacht der Enge Europas zu entrinnen; die verzweifelten Versuche also, wieder einmal durch Ausweitung der festländischen Position die auf den Meeren unerschütterliche Seemacht zu balancieren und zu übertrumpfen. Es ist nicht schwer, für jede dieser Strebungen einen ganzen Stammbaum aus den früheren großen Kriegen abzuleiten.“25
Der Verlauf des Zweiten Weltkriegs läßt sich demnach mit anderen Kriegen vergleichen.26 Inwieweit das auch für seine Entstehungsgeschichte gilt, ist bereits gezeigt worden. Er findet seinen Platz in der Reihe der Hegemonialkämpfe des europäischen Kontinents, quasi als deren moderne Version. Es kann ihm keine völlig neue Qualität zugesprochen werden. Machtpolitik entwickelt eine eigene Dynamik. Generaloberst Beck schrieb bereits Ende November in einer Denkschrift: „Rußland wird immer nur russische Ziele verfolgen. Es übt m. E. schon heute einen starken Druck auf unsere Ostfront aus. Es kann ihn schon jederzeit ausnutzen. Ob es dies tut, vor allem bald tut,, weiß ich nicht. Bleibt es unser unmittelbarer Nachbar, spricht aber jede Wahrscheinlichkeit dafür, daß es einen solchen Druck im machtpolitischen Interesse . . . ausüben wird. Daher kann man sehr wohl der 24 25 26
Vgl. Lukacs, Powers, S. 385. Zit. n. Dehio, Gleichgewicht, S. 228. Vgl. dazu auch Scheil, Logik, S. 24.
3. Das Ultimatum, das es nie gab
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Auffassung sein, daß, sollte es künftig eine gemeinsame deutsch-russische Grenze geben, wir statt des Beelzebub den Teufel (sic) eingetauscht haben.“27
Dieser „Teufel“ nun wußte um den Vorteil der neuen Grenzen, die er in den Folgemonaten immer weiter nach Westen verschob: Deutschland war jetzt in der strategischen Defensive, Stalin wollte dies nutzten, um Druck nach Westen auszuüben und da waren Pufferstaaten nur im Weg. Deswegen hatte er bereits damit begonnen, diese Staaten auszulöschen, und er hatte den Zweck dieser Aktion zu Beginn der Kampagne im März 1939 (es war wirklich erst ein halbes Jahr her) öffentlich verkündet: „Die Geschichte sagt, wenn ein Staat gegen einen anderen Staat kriegführen will, dann wird er, selbst wenn dieser andere Staat nicht sein Nachbar wäre, nach Grenzen suchen, über die hinweg er an die Grenzen jenes Staates gelangen kann, den er angreifen will.“28
So stand es in der „Prawda“ am 5. März 1939 zu lesen, ein Wort von Josef Stalin persönlich. Seitdem hatte Stalin alles getan, um alle geographischen Hindernisse zwischen der Sowjetunion und Deutschland zu beseitigen. So war es die Sowjetunion, die sich 1939 vehement gegen den deutschen Plan ausgesprochen hatte, einen polnischen Pufferstaat ins Leben zu rufen. Auf Polen als Operationsraum konnte bei einem Angriff auf Deutschland nicht verzichtet werden. Für einen Sichelschnitt, einen Angriff im Süden mit späterem Schwenk nach Norden in Richtung Danzig, wie ihn der sowjetische Generalstabschef im Mai 1941 skizzierte, wurde praktisch das ganze Land benötigt. Der von Generaloberst Beck bereits 1939 befürchtete militärische Druck auf Deutschland hatte sich daher in der von ihm prognostizierten Weise erhöht. Es blieb eine Frage geschickten Taktierens, für den letzten Absprung die politischen wie militärischen Anforderungen idealerweise zu kombinieren. Aus der prinzipiellen Offenheit und dem Bekanntheitsgrad von Absicht und Aufmarsch konnte noch ein militärischer Vorteil gezogen werden, wenn über den genauen Angriffstermin ein oder zwei Wochen Unklarheit herrschte. 3. Das Ultimatum, das es nie gab „Chuev: All die Geschichtsbücher sagen, Stalin hätte sich am Kriegsbeginn verkalkuliert.“ „Molotov: Bis zu einem gewissen Grad war es unmöglich, sich nicht zu verkalkulieren. Wie konnte man wissen, wann der Feind angreifen würde? Wir wußten, wir würden es mit ihm zu tun kriegen, aber an welchen Tag oder sogar welchem Monat . . .“29 27 28
Zit. n. Fabry, Beziehungen, S. 173. Zit. n. Suworow, Eisbrecher, S. 48.
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XI. Die letzten Wochen
„Der Führer ist glücklich darüber, daß die Tarnung der Vorbereitungen für den Ostfeldzug vollkommen gelungen ist. Er vertritt den Standpunkt, daß dadurch etwa 200.000 bis 250.000 Tote gespart worden sind. Das ganze Manöver ist auch mit einer ungeheuren List durchgeführt worden. Der Führer erwähnt dabei noch einmal lobend meinen damals geschriebenen Aufsatz für den „VB“, der uns auch für ein paar Tage wieder Atemfreiheit gegeben hat.“ Joseph Goebbels30
Im nachhinein bekundete Vjacˇeslav Molotov, es sei besonders schwierig gewesen, den exakten Termin des deutschen Angriffs zu bestimmen. Man habe in Moskau zwar mit diesem Angriff gerechnet und sich auch so weitreichend wie möglich darauf vorbereitet, zudem schließlich trotz der Anfangskatastrophe auch durchaus ausreichend. Aber um den letzten Tag genau zu bestimmen, dafür gab es keinen Weg. Nun hatte die UdSSR sich auf einen möglichen eigenen Angriff vorbereitet, wie oben ausführlich gezeigt worden ist. Diese Absicht ist tatsächlich gescheitert und in dieser Hinsicht hat sich Stalin tatsächlich verkalkuliert. Statt einem diplomatisch vorbereiteten und offensiv vorgetragenen Konflikt folgte ein überraschender deutscher Angriff. Einen Grund für einen sowjetischen Angriff auf Deutschland konnten ja allemal die militärischen Vorbereitungen liefern, die es seit dem Frühjahr jedem der beiden Diktatoren möglich gemacht hätten, sich wechselseitig auf eine Bedrohung als Angriffsgrund zu berufen und von Präventivkrieg zu sprechen. Besser schien es jedoch aus Moskauer Sicht, man hat etwas konkretes vorzuweisen, etwa ein Erpressungsmanöver des jeweils anderen oder einen Bruch der gegenseitigen Abmachungen des Nichtangriffspakts und Freundschaftsvertrags. Daher wohl der folgende Runderlaß aus Moskau. Während der Text verborgene Signale zu Gunsten deutscher Forderungen setzte, die man angeblich und erfüllen wollte, konnte diese Bereitschaft öffentlich dann plötzlich anders gedeutet werden: „Obwohl deutsch-russische Verhandlungen ordnungsmäßig (sic) verlaufen, ist es für Sowjet im Hinblick auf diktatorische Haltung Deutschlands unumgänglich notwendig geworden, Deutschland zu warnen, daß Sowjets vorbereitet sind, ihre Interessen zu schützen, falls . . . (Gruppe fehlt) diese verletzt. Unter diesen Umständen ist es sehr wichtig, Haltung aller anderen Staaten zu wissen im Falle Zusammenstoßes Deutschland-Rußland. Es ist notwendig, sehr vorsichtig vorzugehen. Um Prüfung der Lage und eingehenden Bericht wird gebeten.“31
Manche britische wie deutsche Diplomaten waren ab April 1941 der Auffassung, das Stalin-Regime erwarte neue deutsche Forderungen und sei 29
Zit. n. Zit. n. 31 Zit. n. Übermittelt 30
Molotov, Politics, S. 23. Goebbels, Tagebücher, II/1, S. 34. ADAP, D, XII, Dok. 506, S. 661. Runderlaß aus Moskau vom 9. Mai, vom Deutschen Konsul in Harbin am 13. Mai 1941.
3. Das Ultimatum, das es nie gab
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bereit, auf die Wünsche des „Dritten Reiches“ einzugehen. Graf von der Schulenburg gab seiner Überzeugung Ausdruck, daß Stalin sich zu weitgehenden Konzessionen entschließen werde. Auch der Gesandte Schnurre meinte in Anbetracht der sowjetischen Lieferbereitschaft, Deutschland könne neue wirtschaftliche Forderungen an die Sowjetunion stellen und dabei noch über die Vereinbarungen vom Januar 1941 hinausgehen.32 Auf britischer Seite zog man aus der sowjetischen Beschwichtigungsdiplomatie, den offensichtlichen deutschen Kriegsvorbereitungen gegen die UdSSR und den sowjetischen Maßnahmen – wie der Konzentration von Verbänden der Roten Armee im Westen des Landes – den Schluß, ein Nervenkrieg zwischen beiden Mächten sei im Gange.33 Diesen Nervenkrieg entschied militärisch zwar die deutsche Regierung für sich. Politisch entstand jedoch erheblicher Schaden, da Deutschland trotz der ausführlichen Begründungen für den Angriff schließlich als derjenige erschien, der einen „Überfall“ begangen hatte. Stalin gab seinem Ärger darüber, daß die eigenen Kalkulationen nicht aufgegangen waren, kurz nach dem Angriff Ausdruck: „Sie haben uns angegriffen, ohne irgendwelche Forderungen zu stellen, ohne irgendwelche Verhandlungen zu verlangen, wie die Räuber.“34
Diese Forderungen hatte Stalin mit Sicherheit erwartet. Die damit verbundenen Tage Mobilisierungsfrist waren als Teil der Vorbereitungszeit der Roten Armee fest eingeplant, um den eingeleiteten eigenen Aufmarsch in eine Offensive zu verwandeln. Stalins Erwartungshaltung wurde zudem ständig durch die einlaufen Agentenmeldungen bestärkt, die neben den genauen Hinweisen, Hitler sei der „Initiator eines Präventivkriegs gegen die UdSSR“ und Angaben über das Datum auch wiederholt die Angabe enthielten, „den Kriegshandlungen soll ein Ultimatum vorangehen.“35 Solche Gerüchte wurden von der deutschen Führung gezielt erzeugt. Diese Hypothese wird durch die Einträge in Goebbels’ Tagebuch gestützt. Am 7. Juni hatte er „substantielle Gerüchte“ über einen bevorstehenden Angriff auf die Ukraine beklagt und sich vorgenommen, „stärkere Mittel zur Täuschung“ anzuwenden und sich „mit dieser Frage intensiv (zu) beschäftigen.“36 Dies 32
Vgl. ADAP, D, XII, Dok. 432, S. 555 f. Zit. n. Pietrow, Stalinismus, S. 234 f. 34 Stalin am 22. Juni 1941, zit. n. Dimitroff, Tagebücher, S. 392. Dort auch Dimitroffs Einschätzung: „Erstaunlich die Ruhe, Festigkeit und Zuversichtlichkeit Stalins und aller anderen.“ Ebd. S. 392. Das tradierte Bild von der völlig überraschten Sowjetführung und insbesondere eines paralysierten Stalin ist unzutreffend. Stalin zeigte sich weitgehend unbeeindruckt und leitete die Geschäfte in der Woche nach dem Angriff wie gewohnt weiter. Vgl. Weeks, War, S. 127 f. 35 Bericht des Agenten „Doyen“ vom 14. April 1941, hier zit. n. Ueberschär, Angriff, S. 205, vgl. auch S. 208 und S. S. 210. 36 Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 358, 7. Juni 1941. Dabei kam zunächst der Artikel über „Kreta als Beispiel“ heraus, der zum Schein beschlagnahmt wurde und 33
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XI. Die letzten Wochen
mag nicht einmal nötig gewesen sein. Zwei Tage später meldete ein Geheimbericht aus Bukarest, das Durcheinander in der aktuellen Gerüchteküche überblicke kaum noch jemand: „Über die einzelnen Gründe (der Verschärfung des deutsch-russ. Verhältnisses, d. Verf.) sind die tollsten Gerüchte in Umlauf. . . . So behauptet eine Lesart, Deutschland habe ein Ultimatum an Rußland gestellt und darin die sofortige Verselbständigung der Ukraine gefordert. . . . Eine andere Lesart behauptet, Deutschland habe von Sowjetrußland die Überlassung der gesamten Getreideernte der Ukraine verlangt und das Durchmarschrecht durch die Ukraine nach Südosten. Diesen Forderungen habe Sowjetrußland zugestimmt.“37 Trotz des bereits vorhandenen Chaos in der internationalen Nachrichtensituation überwachte Goebbels sorgfältig jedes öffentliche Signal, das auf eine vollständige Entlarvung der deutschen Pläne deuten könnte. „Die ‚Times‘ läßt einen Artikel los, in dem aller nur mögliche Argwohn zum Ausdruck kommt. Und zwar ziemlich genau. Aber das ist noch nicht sehr schlimm. Wir geben demgegenüber Meldungen heraus, daß wir mit Moskau eine gute Verhandlungsbasis gefunden hätten. Das hebt sich auf. Mein Artikel wird mit allem gebotenen Zeremoniell zum V. B. gegeben. Die Beschlagnahme erfolgt in der Nacht. Ich erleide dabei im Augenblick eine schwere Prestigeeinbuße. Aber das lohnt sich. Der V. B. will seinen Korrespondenten von Moskau zurückrufen. Ich verbiete das wenigstens für den Moment. Wir müssen jetzt unter allen Umständen das Gesicht wahren. Die Partie steht noch gut. Aber lange können wir die ganze Tarnung nicht mehr aufrecht erhalten. Bömer ist nun dem Volksgericht überwiesen worden. Er ist ein erstes Opfer der Geschwätzigkeit.“38
Mit seinem gefälschten Artikel über Kreta und die angeblich geplante Invasion Englands stützte Goebbels das Tarngebäude aus Phantasiemeldungen für den Augenblick noch einmal zu seiner eigenen Zufriedenheit, denn „die englischen Sender erklären schon, unser Aufmarsch gegen Rußland sei lauter Bluff, hinter dem wir unsere Invasionsvorbereitungen zu verstecken suchten. Das war der Zweck der Übung. Sonst herrscht in der ausländischen Nachrichtenpolitik ein vollkommenes Durcheinander. Man kennt sich kaum noch selbst aus.“39 Da auch dies noch nicht genug zu sein schien, um neben der internationalen Presse auch die sowjetische Regierung zu desinformieren, lancierten Goebbels und Hitler dann am 16. Juni das entscheidende Manöver, das der Roten Armee jene zehn Tage entziehen sollte, die sie zur Vorbereitung des eigenen Angriffs nach Erhalt der ernsten Bedrohungssignale eingeplant hatte: Invasionsabsichten in England suggerieren sollte. Vgl. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 364, 11. Juni 1941. 37 Zit. n. BA-MA RW 5/52, S. 51, 9. Juni 1941. 38 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 368, 13. Juni 1941. 39 Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 370, 14. Juni 1941.
3. Das Ultimatum, das es nie gab
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„Italien und Japan bekommen nun die Mitteilung, daß wir die Absicht haben, bestimmte ultimative Forderungen Anfang Juli an Rußland zu richten. Das wird sich bald herumsprechen. Wir haben dann wieder ein paar Tage Zeit.“40
Diese Berechnung ging offenbar auf. Die ultimativen Forderungen wurden in den nächsten Wochen zu einem ständigen diplomatischen Gerücht und tatsächlich warten die Sowjets offenbar auf diese Forderungen, die sie erst für Juli erwarteten. Es waren solche Ultimaten, die erst den gewünschten öffentlichen Grund für einen Angriff der Roten Armee und den Anstoß für die letzten Vorbereitungen liefern konnten. Auf der Annahme einer dafür vorhandenen Zehntagesfrist war ihr Aufmarsch ja angelegt. Neben dieser Desinformation, die Berlin über die Verbündeten nach Moskau durchsikkern lassen wollte, sollte aber die Produktion an sonstigen Falschmeldungen keineswegs stillstehen, wie Goebbels sich vorgenommen hatte: „Es ist notwendig, unentwegt weiter Gerüchte zu verbreiten: Frieden mit Moskau, Stalin kommt nach Berlin, Invasion steht unmittelbar bevor, um die ganze Situation, wie sie wirklich ist, zu verschleiern.“41
Hitler hatte den italienischen Botschafter Alfieri darüber „informiert“, daß er die Absicht habe, Moskau Anfang Juli in ultimativer Form einige Fragen zu stellen, um Klarheit in die Beziehungen mit der Sowjetunion zu bringen. Wie beabsichtigt, erreichte diese Desinformation wirklich via Rom den Kreml. Der sowjetische Diktator wähnte sich daher mindestens bis Juli sicher, und so wurden schließlich sämtliche Warnungen und Angaben über das genaue Angriffsdatum als schlaues Ablenkungsmanöver abgetan.42 Ganz in diesem Sinn gab Außenminister Ribbentrop eine Nachricht an die Gesandtschaft in Budapest weiter: „Ich bitte Sie, dem ungarischen Ministerpräsidenten folgendes mitzuteilen: Im Hinblick auf die starke Anhäufung russischer Truppen an der deutschen Ostgrenze werde der Führer voraussichtlich bis spätestens Anfang Juli gezwungen sein, das deutsch-russische Verhältnis endgültig zu klären und hierbei gewisse Forderungen zu stellen. Da der Ausgang dieser Verhandlungen nicht abzusehen ist, halte die Deutsche Regierung es für notwendig, daß auch Ungarn seinerseits Schritte zur Sicherung seiner Grenzen unternimmt.“43
Zuvor war bereits seit Wochen von Seiten der deutschen Abwehr das Gerücht gestreut worden, es werde bald ultimative deutsche Forderungen an Rußland geben. Dies wurde in Moskau sorgfältig verfolgt und offenbar geglaubt.44 Auch zahlreiche Politiker und Diplomaten anderer Staaten hielten 40
Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 379, 16. Juni 1941. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 380, 16. Juni 1941. 42 Zit. n. Steinert, Hitler, S. 478. 43 Ribbentrop an die Gesandtschaft in Budapest, zit. n. ADAP, D, XII/2, Dok. 631, S. 858, Telegramm aus Venedig vom 15. Juni 1941. 41
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XI. Die letzten Wochen
dies für den wahrscheinlichen Gang der kommenden Ereignisse.45 Die englischen Stabschefs gaben am 31. Mai 1941 mit der Meldung an das Hauptquartier Nah-Ost folgende Parole heraus: „Wir haben bestimmte Beweise, daß die Deutschen zur Zeit große Erd- und Luftstreitkräfte gegen Rußland konzentrieren. Vermutlich werden sie unter dem Druck dieser Drohung für uns höchst abträgliche Konzessionen fordern. Falls die Russen ablehnen, werden die Deutschen marschieren.“46
Molotov bekundete am 27. Juni 1941 gegenüber dem britischen Botschafter Cripps, daß man nicht erwartet habe, daß es ohne Diskussion oder Ultimatum zum Krieg kommen würde.47 Insofern stimmt die Beobachtung von Ernst von Weizsäckers, „offenbar hat Moskau mit dem normalen diplomatischen Ablauf: „Beschwerde, Replik, Ultimatum, Kriegsausbruch“ gerechnet und sich nicht einmal an den Vorgang gegen Jugoslawien erinnert, der doch ganz neuen Datums ist.“48 Am 10. Juni meldete der englische Nachrichtendienst wohl als Folge der vielen sich widersprechenden Gerüchte, es sei nicht sicher, ob es Krieg oder ein neues deutsch-russisches Abkommen geben würde. Am 12. Juni war man sich dann sicher: „Wir besitzen jetzt neue Informationen, wonach Hitler entschlossen ist, die Obstruktion der Sowjets zu beseitigen und anzugreifen.“49
Ein Bericht aus „sowjetfeindlichen ukrainischen Kreisen“ von Ende Juni 1941 stellte fest, das Oberkommando der Sowjets hätte „jedenfalls mit dem 27. Juni als dem frühestmöglichen Termin für einen Angriff“ gerechnet.50 Das deutsche Kalkül war in diesem Punkt aufgegangen. Warum es nun kein Ultimatum oder irgendwelche Forderungen gegeben hatte, sondern nur eine allgemeine und ausführliche Proklamation, das erläuterte Hitler in einem Tischgespräch am 5. Juli 1941: „F. Tischgespräch: Warum Angriff ohne ‚Zwischenfall‘ oder Kriegserklärung. Vor der Geschichte, wird man niemals fragen, welche Veranlassung. Warum Alexander nach Indien, Römer Punischer Krieg – Friedrich II zweiter Schlesischen Krieg. Vor Geschichte immer nur der Erfolg. Er nur verantwortlich gegenüber sich, seinem Volk. Wegen einer theoretischen Schuldfrage 100-tausende zu opfern, wäre verbrecherisch. Vor der Geschichte werde ich als Vernichter des Bolschewismus stehen, ob mit oder ohne Grenzzwischenfall. Nur der Erfolg wird gewertet. Wenn ich verliere, werde ich mich nicht mit Formfragen rausreden können. Z. B. Norwegen, wäre nicht gelungen bei Voranmeldung und ist für das Schicksal D’s 44 45 46 47 48 49 50
Vgl. Andrew, Stalinism, S. 80. Vgl. Andrew, Stalinism, S. 80 und Whaley, Barbarossa, S. 223 f. und 241 f. Zit. n. Churchill, Weltkrieg III/1, S. 424. Vgl. Magenheimer, Entscheidungskampf, S. 89, sowie Werth, Rußland, S. 120. Vgl. Weizsäcker, Papiere, II, S. 260, 23. Juni 1941. Zit. n. Churchill, Weltkrieg III/1, S. 425. Vgl. Sommer, Memorandum, S. 381.
3. Das Ultimatum, das es nie gab
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entscheidend. Umgekehrt: Wenn Churchill und Reginald nicht gequatscht hätten, hätte ich Norwegen wahrscheinlich nicht gemacht. 8 Tage vorher schickt Churchill seinen Neffen nach Narvik: Zeichen jüdisch-amerikanischen Journalistengeistes. Landesverrat.“51
Diese Äußerungen wirken in einem Punkt merkwürdig, denn schließlich hatte die Proklamation zur Begründung des Angriffs durchaus von Grenzzwischenfällen gesprochen. Im weiteren wirkte diese Proklamation allein bereits deshalb auf manche Beobachter so passiv, weil sie eben gerade nicht auf den „Erfolg“ als ausreichende Begründung setzte, sondern wie die übrigen Arbeiten des Auswärtigen Amts ausgiebig nachweisen wollte, warum die UdSSR im Unrecht sei, den Nichtangriffspakt tatsächlich gebrochen hatte und einen Angriff gegen Deutschland plante. Hitler gab sich hier seinen Tischgenossen gegenüber auf eine Weise zynisch-pragmatisch. Der Gedanke jedoch, mit dem überraschenden Angriff ohne Ultimatum „hunderttausenden“ der eigenen Soldaten den Tod erspart zu haben, beschäftigte ihn auch weiterhin. Einige Tage später kam er darauf zurück, im Gespräch mit Graf Oshima: „Botschafter Oshima gratuliert dem Führer zu den großen Erfolgen und drückt seine Bewunderung aus über die Todesverachtung und Tapferkeit der deutschen Soldaten. Der Führer dankt ihm und sagt, er habe ihm ja vorausgesagt,52 daß er nicht abwarten würde, bis die Russen kämen, er habe vorher zugeschlagen. Die Vorbereitungen Rußlands zum Angriff auf Deutschland seien geradezu gigantisch gewesen und ihre Kriegsmaschine ungeheuerlich. Erklärlich sei dies nur dadurch, daß die Sowjets das russische Volk auf niedrigstem Niveau gehalten und die ganze Arbeitskraft ausschließlich auf die Rüstung konzentriert hätten. Die Zahl der hinter unserer Front liegenden gezählten russischen Panzer beliefe sich auf 8000.53 „. . . gegen Rußland sei für ihn ein unerhört schwerer Entschluß gewesen. Zuerst hätte er sich überlegt, ob er Rußland ein Ultimatum stellen solle. Entweder hätte es sich zum Kampf vorbereitet und unser Angriff hätte dann . . . Blutopfer gefordert, oder aber es wäre dem Ultimatum nachgekommen und hätte seine Truppen vielleicht 300 km zurückgezogen, aber was hätten diese 300 km schon im Zeitalter der Motorisierung bedeutet! Er habe kämpfend in drei Wochen 700 km zurückgelegt. Wie wäre die Situation denn gewesen? Er habe immer mehr Nachrichten von russischen Truppenkonzentrationen bekommen und immer mehr Panzer seien angerollt. Eine gewaltige materielle Macht hätte sich gebildet in dem riesigen Raum. 51
Zit. n. Hewel, Tagebuch, 5. Juli 1941. Diese Vorhersage datiert aus dem Gespräch Hitler-Oshima vom 3. Juni 1941, von dem es keine Aufzeichnung gibt. Vgl. Hillgruber, Staatsmänner, S. 598. Allerdings vermerkt Hewel für diesen Tag: „19:00 Oshima Andeutungen zu ‚Barbarossa‘. Ich mache die Aufzeichnungen.“ Zit. n. Hewel, Tagebuch, 3. Juni 1941. 53 Gespräch am 15.7.1941 Führerhauptquartier 17 Uhr bis 19 Uhr. Vgl. Hillgruber, Staatsmänner, S. 598, Hervorhebung im Original. 52
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XI. Die letzten Wochen
Eine unermeßliche Aufgabe habe er vor sich gesehen. Trotzdem habe er sich entschlossen, und er sei so glücklich, dies getan zu haben. Er habe sein Volk und ganz Europa von einer ungeheuren Gefahr befreit. Hätte er gezögert, nie hätte er vor die Geschichte hintreten können, um sich ihrem Urteil zu unterziehen . . .“54
Oshima hatte den Wink seinerzeit verstanden.55 4. Letzte interne Diskussionen „Cripps ist aus Moskau nach London gefahren. Von dort ergießt sich eine Welle von Gerüchten in die Welt. Alles um Rußland. Und zwar ziemlich genau. Im Allgemeinen glaubt man noch an Bluff oder Erpressungsversuch. Wir reagieren überhaupt nicht. Moskau gibt ein formelles Dementi heraus: es wisse nichts von Angriffsabsichten des Reiches. Unsere Truppenbewegungen seien anderen Zwecken dienlich. Jedenfalls tue Moskau gar nichts gegen eine angebliche Angriffsabsicht. Großartig. Mein Artikel ist in Berlin die große Sensation. . . . Der Bluff ist vollkommen gelungen. Der Führer freut sich sehr darüber, Jodl ist begeistert.“56
Auf alle die Gerüchte um eine bevorstehende deutsche Offensive hatte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS ja bekanntlich mit einem sprechenden Dementi reagiert. Man lud zu Verhandlungen ein. Unter dem Eindruck des Textes erschien es selbst dem selbstgewissen Goebbels so, daß dahinter mehr stecken könnte, als er zunächst gedacht hatte: „Das Taßdementi (sic) ist noch stärker, als es zuerst durchgegeben wurde. Erklärung: Stalin will offenbar durch starke Freundschaftstöne und durch die Behauptung, daß gar nichts wäre, die evtl. Kriegsschuld öffentlich festlegen. Aus aufgefangenen Funksprüchen können wir dagegen entnehmen, daß Moskau die russische Flotte in Bereitschaft versetzt. Also ist man drüben doch nicht mehr so harmlos, wie man sich gibt.“57
In der Tat war „Moskau“ noch nie harmlos gewesen und dem Tassdementi kam in der späteren Geschichtsschreibung gar nicht selten die von Goebbels beschriebene Wirkung zu. Es wurde als Ausdruck sowjetischer Gutgläubigkeit gesehen und verteilte die Kriegsschuld zu Lasten Deutschlands. Es ist nicht zynisch, an dieser Stelle anzumerken, daß diese Entwicklung vom Ausgang des Krieges entscheidend mitbestimmt wurde. Noch aber regierte die Unsicherheit und das wechselseitige Taktieren, bei dem am Ende der militärische Vorteil und der politische Schaden bei Deutschland bleiben sollten. Wenig später schrieb Goebbels sich das Verdienst dafür zu, daß die sowjetische Führung erst für Mitte Juli mit einem Angriff gerechnet habe. 54 55 56 57
Zit. n. Hillgruber, Staatsmänner, S. 606 f. Vgl. Martin, Japan, S. 97. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 370, 14. Juni 1941. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 370, 15. Juni 1941.
4. Letzte interne Diskussionen
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„Gestern: Rußland-Deutschland großes Thema. Man glaubt dem Taß-Dementi (sic) nicht. Rätselt daran herum, was mein V.B. Artikel zu bedeuten hat. In London ist die Quelle aller Gerüchte. Man will uns offenbar aus dem Bau locken, aber das gelingt in keiner Weise. Wir bewahren eisiges Schweigen. Eine Klarheit ist also für die Gegenseite nicht zu erlangen. Unterdes aber gehen die militärischen Vorbereitungen ununterbrochen weiter.“58
Dies ist nun Goebbels eigene Einschätzung der Dinge. Am Nachmittag des gleichen Tages hatte er Gelegenheit, Hitler selbst dazu zu hören: „Nachmittags bestellt der Führer mich in die Reichskanzlei. Ich muß durch eine Hintertür hineingehen, damit es nicht auffällt. . . . Der Führer sieht großartig aus und empfängt mich mit großer Wärme. Mein Artikel hat ihm einen Heidenspaß gemacht. Er hat uns wieder eine gewisse Atempause in unseren Vorbereitungen verschafft. Die hatten wir gerade noch nötig. Der Führer erklärt mir ausführlich die Lage: der Angriff auf Rußland beginnt, sobald unser Aufmarsch beendet ist. Das wird im Laufe etwa einer Woche der Fall sein. Der Feldzug in Griechenland hat unser Material stark mitgenommen, deswegen dauert die Sache etwas länger. Gut, daß das Wetter etwas schlecht war und die Ernte in der Ukraine noch nicht reif ist. So können wir hoffen, sie noch zum größten Teile zu erhalten. Es wird ein Massenangriff größten Stils. Wohl der gewaltigste, den die Geschichte je gesehen hat. Das Beispiel Napoleons wiederholt sich nicht. Gleich am Morgen beginnt das Bombardement aus 10000 Rohren. Wir setzen gewaltige neue Artilleriewaffen ein, die für die Maginot-Linie gedacht waren, damals aber nicht mehr gebraucht wurden. Die Russen sind genau an der Grenze massiert, das beste, was uns überhaupt passieren kann. Während (sic) sie weitverstreut ins Land gezogen, dann stellten sie eine größere Gefahr dar.“59
Der russische Aufmarsch war für eine Verteidigung denkbar ungeeignet, das bemerkte Hitler, den Goebbels an dieser Stelle paraphrasiert, noch einmal ausdrücklich. Auch zahlenmäßig müsse man vor der Roten Armee Respekt haben, wenn auch nach Hitlers Darstellung gegenüber Goebbels nicht qualitativ: „Sie haben etwa 180–200 Divisionen zur Verfügung, vielleicht auch etwas weniger, jedenfalls ungefähr soviel wie wir. An personellem und materiellem Wert sind sie mit uns überhaupt nicht zu vergleichen. Der Durchstoß geht an verschiedenen Stellen vor sich. Sie werden glatt aufgerollt. Der Führer schätzt die Aktion auf etwa 4 Monate, ich schätze viel weniger. Der Bolschewismus wird wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Wir stehen vor einem Siegeszug ohnegleichen.“60
Soweit ist dieses Zitat bekannt. Es wird oft verwendet, um die Behauptung zu untermauern, die deutsche Führung habe wenig Respekt vor der militärischen Leistungskraft der UdSSR gehabt und deswegen könne von einem Präventivkrieg keine Rede sein. Durch diese selektive Art des Zi58 59 60
Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 376, 16. Juni 1941. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 370, 15. Juni 1941. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 376, 16. Juni 1941.
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XI. Die letzten Wochen
tierens ist weniger bekannt, daß Hitler sich wegen des Angriffs gegenüber Goebbels an dieser Stelle ausführlich rechtfertigte und ihn intern noch einmal ausdrücklich als Präventivkrieg kennzeichnete, weil die UdSSR nichts anderes als einen Angriff auf „uns“ und „die Bolschewisierung ganz Europas“ beabsichtige: „Wir müssen handeln. Moskau will sich aus dem Kriege heraushalten, bis Europa ermüdet und ausgeblutet ist. Dann möchte Stalin handeln, Europa bolschewisieren und sein Regiment antreten. Durch diese Rechnung wird ihm ein Strich gemacht. Unsere Aktion ist so vorbereitet, wie es überhaupt nur menschenmöglich ist. So viele Reserven sind eingebaut, daß ein Mißlingen glatt ausgeschlossen ist. Der Aktion ist geographisch keine Grenze gesetzt. Es wird solange gekämpft, bis keine russische Heeresmacht mehr existiert. Japan ist mit im Bunde. Auch für diese Seite ist die Aktion notwendig. Tokio würde sich nie mit den USA einlassen, wenn Rußland noch intakt in seinem Rücken steht. Also muß Rußland auch aus diesem Grund fallen. England möchte gern Rußland als Zukunftshoffnung in Europa halten. Das war auch Cripps Mission in Moskau. Sie ist noch nicht gelungen, der Mann trägt seinen Namen zu Unrecht. Aber Rußland würde uns angreifen, wenn wir schwach würden, und dann hätten wir den Zweifrontenkrieg, den wir durch unsere Präventivaktion vermeiden. Dann erst haben wir den Rücken frei.“61
Die Nachrichten über Stafford Cripps und seine Erfolge in Moskau hatten eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung zum Angriff auf die UdSSR gespielt, wie hier ein weiteres Mal zu beobachten ist. Zwar war es nach den vorliegenden Informationen bisher „noch“ nicht zu einem vollen Bündnis zwischen beiden Ländern und einem Schwenk der UdSSR ins britische Lager gekommen, aber Cripps’ abgefangenen Berichten konnte die prinzipielle Angriffsabsicht Stalins entnommen werden. Um den sowjetischen Diktator in die Irre zu führen, griff der innere Kreis der Nationalsozialisten zu der oben bereits genannten frivolen Operation, die vielleicht einer der folgenreichsten aller je angewandten Kriegslisten: „Italien und Japan bekommen nun die Mitteilung, daß wir die Absicht haben, bestimmte ultimative Forderungen Anfang Juli an Rußland zu richten. Das wird sich bald herumsprechen. Wir haben dann wieder ein paar Tage Zeit.“62 Hier rechnete Hitler offenbar vollkommen zu recht mit dem Verrat seitens der Verbündeten. Diese ultimativen Forderungen wurden in den nächsten Wochen zu einem ständigen diplomatischen Gerücht und tatsächlich warteten die Sowjets offenbar auf diese Forderungen, mit denen sie erst für Juli rechneten und dann selbst angreifen wollten. Darauf war der Aufmarsch der Roten Armee ja angelegt, der laut Hitler der „größte Aufmarsch der Geschichte“ war, auch wenn dessen ganze Dimension trotz dieses Superlativs noch nicht völlig durchschaut worden war. Allerdings kristallisierte sich bereits knapp 61 62
Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 378, 16. Juni 1941. Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 379, 16. Juni 1941.
4. Letzte interne Diskussionen
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eine Woche nach Beginn die Wahrheit heraus, wie Goebbels in seinem Tagebuch vermerkte: „Die Dinge stehen im Allgemeinen gut, allerdings leisten die Russen mehr Widerstand, als man zuerst vermutete. Unsere Verlust an Menschen und Material sind nicht ganz unbedeutend. Jetzt erst sieht man, wie notwendig der Angriff war. Noch eine längere Zeit warten, was wäre dann geschehen? Der Führer hat wieder einmal den richtigen Instinkt gehabt.“63
a) Der ausgebliebene Coup In diesen letzten Tagen blieben hinter der gegenseitig verbreiteten Wolke aus Desinformation zahlreiche politische Entwicklungsmöglichkeiten verborgen, die für die Akteure nicht absehbar waren. Es hat beispielsweise um einen kurzen Vermerk in Halders Tagebuch eine gewisse Aufregung gegeben, der am 20. Juni 1941 knapp notierte: „Molotov wollte 18.6. Führer sprechen.“64 Es gibt ansonsten nicht den geringsten anderen Hinweis darauf, daß der sowjetische Außenminister diese Absicht verfolgt hätte, weshalb gar gemutmaßt wurde, der Kreml hätte einen Sonderbotschafter geschickt, um diese Nachricht zu überbringen.65 Da telefonische Kontakte noch völlig unüblich waren, sich Molotov andererseits wohl kaum spontan mit dem Flugzeug nach Berlin begeben wollte, nachdem es im Vorfeld des Berlin-Besuchs vor einem halben Jahr endlose Verhandlungen über die Delegationen und Konflikte um den benutzten Eisenbahnwagon gegeben hatte, liegt wahrscheinlich eine Namensverwechslung Halders vor. Es war nicht Molotov, der Hitler sprechen wollte. Botschafter Dekanozov hatte statt dessen vorgesprochen und in der nationalsozialistischen Führung Besorgnis ausgelöst: „Großes Problem: Dekanozov hat sich beim Staatssekr. angesagt. Was bringt. Macht Stalin noch einen großen Coup? Ein großes Angebot etc. etc. Lange Besprechung mit Außenminister, Engel und mir, in dem alle Möglichkeiten erwogen werden. F. und Außenminister müssen verschwinden – unerreichbar sein. . . . Die letzten Tage vor der Tat sind aufreibend. Es kann immer noch etwas passieren.“66
In der Tat konnte die sowjetische Seite im Nervenkrieg um den Ausbruch des Krieges noch manch gute Karten ausspielen. Es war nicht ausgeschlossen, daß Stalin etwa die bereits zugesagten Lieferungen noch einmal erhöhte. Was dann tatsächlich geliefert werden würde, konnte man später immer noch sehen. Verhandlungen unter diesen Vorzeichen ließen sich dann 63
Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I/9, S. 415, 1. Juli 1941. Vgl. Halder, KTB, II, S. 458, 20. Juni 1941. 65 Vgl. Barros/Gregor, Deception, S. 291, die dies für die „einzig mögliche“ Erklärung halten. 66 Zit. n. Hewel, Tagebuch, 18. Juni 1941. 64
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XI. Die letzten Wochen
als angeblicher Beweis sowjetischer Kompromißbereitschaft vorweisen, ihr Abbruch aus welchen Gründen auch immer konnte der Weltöffentlichkeit jederzeit als Abwehr deutscher Erpressung präsentiert werden, dem ein militärischer Konflikt unmittelbar folgen konnte. Pläne zur Eroberung Polens und weiter Teile Ostdeutschlands hatte Generalstabschef Shukov im letzten Monat abgeschlossen. Die Truppen standen nach diesen Plänen bereit, die Propaganda war auf Offensive umgestellt worden, die polnischen Armeeteile wurden gerade aufgestellt, Pläne zur „Befreiung“ des deutsch besetzten Gebietes lagen detailliert vor. Aber dies alles konnte auch im Rahmen anderer Operationsszenarien verwendet werden. Wenn Dekanozov nicht nur mit Beschwerden über deutsche Grenzverletzungen durch Flugzeuge ausgestattet war, sondern ganz konkret ein Papier aus der Tasche ziehen würde, konnte es erhebliche Schwierigkeiten geben, falls vielleicht der Wortlaut des späteren deutschen Memorandums etwa in dieser Weise umgedreht worden wäre: „Die seit längerer Zeit zunehmende sowjetfeindliche Haltung Deutschlands und die Bedrohung der UdSSR, die sich im Aufmarsch deutschfaschistischer Truppen an der deutschen Ostgrenze zeigt, hat die Sowjetregierung veranlaßt, militärische Gegenmaßnahmen zu ergreifen.“67
Wenn er dann fortsetzte, diese Gegenmaßnahmen würden in Kürze beginnen, würde auch nach sorgfältiger Untersuchung kaum ein mit dem Ziel von Schuldzuweisung operierender, späterer Historiker zu einem anderen Schluß als dem kommen, die Sowjetführung hätte korrekt gehandelt. Schließlich standen hinter der Grenze ja deutsche Offensivstreitkräfte bereit und dank der zahllosen Lücken in der deutschen Geheimhaltung ließen sich bei Bedarf auch weitere Papiere vorweisen, die das geplante deutsche Unternehmen eindeutig beweisen würden. Ein sowjetischer Präventivkrieg also. Niemand würde dies ernsthaft in Frage stellen, es sei denn in dem unwahrscheinlichen Fall, die UdSSR sollte diesen Krieg wider erwarten verlieren und ihre Führung sich einem Gericht gegenüber sehen, das diese ganzen Dokumente als irrelevant klassifizieren ließ. Tatsächlich hielt Hitler in Berlin einen solchen Schlag für möglich: „IH: Führer hat sich General Jodl gegenüber über mögliche russische Präventivmaßnahmen ausgesprochen. Rechnet mit Gasverwendung und Lebensmittelvergiftung. . . . Vortrag LIL über Aufmarsch russischer Luftwaffe auf Grund von Bildern und Funkerkundung. In Grenzbezirken ca. 4000 Flieger, weiter rückwärts noch 1100 Flieger.“68 67 Vgl. unten das Originalzitat Ribbentrops, zit. n. Roland von zur Mühlen, BAMA MSg 2/2099. 68 Zit. n. Schramm, OKW, II, S. 402, 9. Juni 1941.
4. Letzte interne Diskussionen
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Gerade diese Stationierung der gesamten Flieger in den Grenzbezirken schuf die Möglichkeit zu einer möglichen russischen Überraschungsattacke und überzeugte auch manche Kritiker, die dies bisher ausgeschlossen hatten.69 Als Gesprächsergebnis der alarmierten Besprechung nach Dekanozovs Kurzbesuch vom 18. Juni wurde am Tag darauf festgestellt: „Interne Besprechung: Botschafter Ritter 10.00 Uhr. Führer hat gestern Reichsaußenminister beauftragt, zu der Meldung OKW an Ausw. Amt letzten Appell zu liefern bis heute abend. (Bedrohlichkeit des russischen Aufmarsches läßt weiteres Zögern nicht zu.)70
Auch in den nächsten Tagen beschäftigte Hitler noch die Erwartung, die Rote Armee könnte zu einer Attacke auf die in Polen stationierten deutschen Streitkräfte ansetzen. Anders als dies aus den beengten deutschen Verhältnissen möglich war, konnte dies auch ohne strategisches Gesamtziel geschehen. Das Unternehmen Barbarossa würde scheitern, wenn es nicht zum vollständigen Erfolg führte und zur Besetzung der russischen Nahrungs- und Rohstoffquellen, von denen Deutschland beinah abhängig war. Umgekehrt galt dies nicht. Die Zerschlagung der deutschen Truppen und die Verhinderung ihres Angriffs brauchten das einzige Ziel einer sowjetischen Militäroperation zu sein, Rohstoffe oder Nahrungsmittel benötigte man aus Deutschland nicht. Unter diesen Umständen machte sich die deutsche Führung tatsächlich für einige Tage unsichtbar. Erst am Abend des 21. Juni 1941 trat Entspannung ein, als der deutsche Aufmarsch so weit fortgeschritten war, daß er nicht mehr von einem russischen Überfall zerstört werden konnte: „Sorgen in Reichskanzlei wegen starker russischer motorisierter Kräfte gegenstandslos. Schnelles Ablaufen. Neue Gefahr Juli.“71
Ein sowjetischer Angriff auf Deutschland hätte sich also nach dem Muster des Präventivkriegs begründen lassen. Die Sowjetführung tat dies nicht. Sie hatte sich zu einem anderen Vorgehen entschlossen. 69 Die Dislokation der russischen Truppen mit starken Massierungen in der Mitte – davon allein im vorspringenden Bogen von Bialystok rund 50 Großverbände – ließ sowohl auf Angriffs- wie auf Verteidigungsabsichten schließen. Die im grenznahen Raum festgestellte Flieger-Bodenorganisation und ihre Belegung hatte dagegen einen ausgesprochen offensiven Charakter, sie enttarnte damit auch die russischen Heeresabsichten. Die These Hitlers, daß der Russe uns im ersten, ihm günstig erscheinenden Augenblick angreifen würde, hielt ich für indiskutabel richtig.“ Kesselring, Soldat, S. 113. Nach Abschluß der Kämpfe bot sich einige Tage später ein entsprechendes Bild, das den Umfang des russischen Aufmarschs noch nach seiner Zerschlagung ahnen läßt: „Die Straße Bialystok–Wolkowsysk sieht wüst aus. . . . Hunderte von Tanks, Geschütze aller Kaliber und Fahrzeuge vieler Art liegen dort in tollem Durcheinander.“ Zit. n. Bock, KTB, S. 204, 30. Juni 1941. 70 Zit. n. Schramm, OKW, II, S. 406, 19. Juni 1941. 71 Zit. n. Schramm, OKW, II, S. 407 f.
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b) Kriegserklärungen Chuev: „Ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht, aber wen könnte ich besser fragen als Sie? Angeblich sagten Sie zum Botschafter: Womit haben wir das verdient?“ Molotov: „Das ist reine Erfindung. Niemals könnte ich einen solchen Quatsch gesagt haben. Unsinn. Absurd.“72
Dramatische Anlässe erzeugen Anekdoten, die dann lange Zeit kolportiert werden. Die Übergabe der Memoranden am Beginn des vielleicht opferreichsten Landkriegs der Geschichte gehört naturgemäß zu den Begebenheiten, für die dies zutrifft, wie es bereits für den Ausbruch des Kriegs 1939 gegolten hatte, als eine plötzliche „politische Hörschwäche“ der beteiligten alliierten Diplomaten die letzten Verhandlungen zur Farce machte. Molotov mochte vom Zeitpunkt des Kriegsausbruchs überrascht sein. Womit der deutsche Schritt aber „verdient“ worden war, wußte der Leiter der sowjetischen Außenpolitik so genau wie jener englische Diplomat, der wenige Wochen vorher zum Schluß gekommen war, ein „mißtrauischer und nachtragender Mensch wie Hitler (müsse) mit den Russen unzählige Rechnungen offen haben“, so wie sie sich in den letzten zwei Jahren nach Unterzeichnung des Nichtangriffspakts verhalten hätten. Was damit im einzelnen gemeint war, ist oben ausführlich gezeigt wurden. Daß Molotov in dieser oft kolportierten Form sentimental geworden sei, als ihm das deutsche Memorandum überreicht wurde, wirkt daher unglaubwürdig und wurde später zu Recht von ihm zurückgewiesen. Dennoch war Außenminister Ribbentrop überaus nervös, als er in Berlin den sowjetischen Botschafter erwartete. Wie auch immer es im einzelnen motiviert sein mochte: Was er Dekanozov zu übergeben hatte, bedeutete nicht nur den Krieg, sondern darüber hinaus den endgültigen Bankrott der von ihm persönlich vertretenen Politik des Kontinentalblocks aus Deutschland, Italien, Japan und UdSSR. Das zentrale Element würde diesem Block in wenigen Minuten fehlen, die derzeit bestehende Landbrücke nach Japan selbst im Fall des militärischen Erfolgs und des Erreichens der Linie von „Astrachan bis Archangelsk“ auf unabsehbare Zeit verloren sein. Eine Besetzung Sibiriens und Zentralasiens lag außerhalb der politischen Planungen wie der militärischen Möglichkeiten Deutschlands. So schloß der in wenigen Minuten beginnende Angriff das Tor nach Ostasien, das vom Auswärtigen Amt in mühseligen Verhandlungen geöffnet worden war. Nichtangriffspakt und deutsch-russischer Freundschaftsvertrag, die mit dem Namen Ribbentrop besonders verbundenen Abkommen, würden Geschichte sein. Paul Schmidt war beeindruckt: 72
Molotov auf eine Frage von Felix Chuev, zit. n. Molotov, Politics, S. 37.
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„Noch nie hatte ich Ribbentrop so aufgeregt gesehen wie während der fünf Minuten vor der Ankunft Dekanozovs. Mit großen Schritten lief er wie ein gefangenes Tier in seinem Zimmer auf und ab. ‚Der Führer hat absolut recht, wenn er jetzt Rußland angreift‘, sagte er mehr zu sich selbst als zu mir, immer und immer wieder, als wolle er sich mit diesen Worten irgendwie beruhigen. ‚Die Russen würden uns bestimmt ihrerseits angreifen, wenn wir es jetzt nicht täten.‘ Noch mehrmals lief er in dem großen Raum hin und her, in äußerster Aufregung, mit flakkernden Augen, und wiederholte diese Worte.“73
Dieser Auftritt ließ einmal mehr keinen Zweifel daran, daß der Präventivkrieg auch gegenüber seinem Außenminister Hitlers ein zentrales Argument für den Angriff auf Rußland gewesen war. Alle anderslautenden Darstellungen, dies sei nur eine nach außen vorgetragene oder gar erst nach der Niederlage entwickelte Propagandathese gewesen, treffen nicht zu. Das ist an dieser Stelle noch einmal zu anzumerken, denn gerade Dolmetscher Schmidt bewies als Zeuge im Nürnberger Prozeß und späterer Memoirenschreiber, daß er hinsichtlich einer besonderen Sympathie für seinen früheren Chef als unverdächtig gelten konnte. Nachdem er sich wieder konzentriert hatte, empfing Ribbentrop gegen vier Uhr morgens Dekanozov und dessen Dolmetscher Bereschkow.74 Es wurde eine sowohl nüchterne wie für die russische Seite ernüchternde Begegnung. Dekanozov hatte den Abend über versucht, Ribbentrop zu sprechen, um Beschwerden über deutsche Verletzungen des sowjetischen Luftraums vorzubringen. Wie die Tage zuvor ließ der Außenminister sich entschuldigen. Nun sprach zunächst er und wiederholte gegenüber Dekanozov, was er auch Schmidt zuvor gesagt hatte: „Die seit längerer Zeit zunehmende deutschfeindliche Haltung der Sowjetunion und die Bedrohung Deutschlands, die sich im Aufmarsch sowjetrussischer Truppen an der deutschen Ostgrenze zeigt, hat die Reichsregierung veranlaßt, militärische Gegenmaßnahmen zu ergreifen. In dem Memorandum, das er dem sowjetrussischen Botschafter überreiche, sind die Gründe, die die Reichsregierung zu diesen Gegenmaßnahmen gezwungen haben, enthalten.“75 73
Zit. n. Schmidt, Statist, S. 539. Bereschkow veröffentlichte später seine Erinnerungen und eine blumige Schilderung des ganzen Vorgangs. Zur Unterhaltung des Publikums waren einige erfundene Ausschmückungen beigegeben, wie sie beim Thema „Drittes Reich“ eben nicht selten zu finden sind. 1939 hatte der englische Botschafter die Mär in die Welt gesetzt, Ribbentrop habe am Vorabend des Krieges beim entscheidenden Treffen zu schnell gesprochen, um verstanden zu werden. Bereschkow fand es für 1941 angemessen zu behaupten, Ribbentrop hätte nach dem Gespräch flüsternd sein Bedauern ausgedrückt und sei überhaupt angetrunken gewesen. Er übersah dabei, daß es weitere Augenzeugen gab, die dies richtig stellen konnten. Vgl. Christ und Welt, 1. Oktober 1965: „Ein Russe in der Reichskanzlei“, sowie die handschriftliche Gesprächsaufzeichnung des deutschen Dolmetschers Roland von zur Mühlen. Zit. n. BA-MA MSg 2/2099. 75 Zit. n. Roland von zur Mühlen, BA-MA MSg 2/2099. 74
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Weitere Erläuterungen wollte Ribbentrop auf die entsprechende Gegenfrage Dekanozovs nicht geben, betonte dann aber noch einmal besonders das Verhalten der UdSSR in der Jugoslawienkrise und dessen Unterstützung durch die Sowjetunion, „als es Deutschland in den Rücken fallen wollte“.76 Er sagtenoch einmal nachdrücklich, daß Deutschland an dieser Entwicklung keine Schuld hätte. Dekanozov nahm die Mitteilung entgegen, bezeichnete die deutschen Gründe als „klar bezeichnet“ und hielt es nicht für nötig, den Inhalt des deutschen Memorandums nach Moskau weiterzugeben.77 Man reichte sich die Hand und Ribbentrop ging dazu über, die Vertreter des restlichen diplomatischen Corps zu empfangen, die bereits vor der Tür warteten. In London verbreitete sich die Nachricht im Morgengrauen. Wie Hewel eingeschätzt hatte, sah man dort in diesem Angriff zunächst eine „Schwächung Deutschlands für lange Zeit“, ganz gleich, wie er ausgehen sollte. Dementsprechend fielen die Reaktionen aus, als Colville die Nachricht in den frühen Morgenstunden auf dem Landsitz des englischen Premiers in Chequers verbreitete. Ich „erzielte damit ein Lächeln der Genugtuung auf den Mienen von Churchill, Eden und Winant.“ So weit es sie betraf, war das große Spiel aufgegangen. Der deutsche Feind und die Sowjets würden den Hauptteil des Krieges jetzt unter sich austragen. Stalin hatte der Versuchung nicht widerstehen können, jenen Angriff in Richtung Westen wagen zu wollen, der die Visionen der Weltrevolutionäre im Kreml so nachhaltig bestimmte. Statt die Nichtangriffs- und Freundschaftspakte mit Deutschland zu halten, provozierte er durch seine Politik einen Angriff und unterstützte ungewollt die englische Strategie, Europa in Brand zu stecken. Die Kastanien aus diesem Brand mußte letztlich nicht er holen, wie er früher befürchtet hatte, sondern die sowjetische Bevölkerung. Churchill behauptete später, niemand sei in diesem Krieg vollständiger überlistet worden als Stalin. Man wird nicht wirklich widersprechen wollen, auch wenn Churchills Rolle in diesen ersten beiden Kriegsjahren aufgrund der ununterbrochenen Kette von Niederlagen, mit denen seine Pläne bis dahin stets endeten, nicht wesentlich glücklicher wirkte. Am Ende bleiben solche Wertungen eitel gegenüber den Toten, die diese Politik zu verantworten hatte.
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Zit. n. BA-MA MSg 2/2099. Vgl. Schramm, OKW, II, S. 409.
Nachwort zur Zweiten Auflage Die vorliegende Veröffentlichung gab mehrfach Anlaß zu Autorenporträts, die sich mit meinen Veröffentlichungen insgesamt auseinandersetzten. Das bot sich offenbar an, da sie als der dritte Teil einer Trilogie zu Ausbruch und Eskalation des Zweiten Weltkriegs dessen politische Entwicklung bis zu jenem Punkt nachzeichnet, an dem die Kriegskoalition der Großen Drei gegen die Staaten des Dreimächtepakts praktisch feststand. Was danach zwischen Sommer 1941 und dem Frühjahr 1945 folgte, läßt sich auf der Ebene der Machtpolitik wohl am ehesten als militärische Durchsetzung bereits entschiedener politischer Machtverhältnisse begreifen. Im Rahmen dieser Verhältnisse war die Existenz eines vereinten deutschen Staates in den hergebrachten ethnisch-historischen Grenzen zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt, von der Weltpolitik nicht mehr vorgesehen. Auch die Planungen der Siegerstaaten für die innenpolitische Umgestaltung von verschiedenen verbleibenden deutschen Nachfolgestaaten in Rumpfdeutschland nahmen frühzeitig Gestalt an. Weiter oben wurde auf Vladimir Semjonov hingewiesen, der die sozialistischen Umgestaltungsmöglichkeiten bereits 1940 in Berlin sondierte. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien gab es solche Planungen ebenfalls bereits in diesem Jahr, wenn auch ganz anderer Art. Der Grundsatz der Religionskriege, „cuius regio, eius religio“, kam gegenüber Deutschland nach Kriegsende daher auf moderne Weise abgewandelt zur Anwendung, ergänzt um ein Element, das Arnold Toynbee als Merkmal der modernen, demokratischen Kriege gekennzeichnet hat: der ethnischen Säuberung. Im Rahmen der Trilogie wurde der Versuch unternommen, ein neues Paradigma zur Erklärung von Ausbruch und Eskalation des Zweiten Weltkriegs zu entwickweln. Es wird die Aufgabe dieses Nachworts sein, die daran entstandene Kritik auf Stil und Substanz zu prüfen und damit als Spiegel zu verwenden, in dem sich eine Rechtfertigung abbildet – oder auch nicht. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird dabei nicht erhoben, doch wird die Auswahl der Besprechungen die typischen Formen der Kritik alle ansprechen. Innerhalb der Trilogie besteht an vielen ein Punkten innerer Zusammenhang, was sowohl Kritik wie Zustimmung gefunden hat. Im Kern geht es dabei um die Frage, um welchen Krieg es sich aus deutscher Sicht gehandelt hat und damit spiegelbildlich um die Motivation der Staaten, die gegen Deutschland Krieg führten. Handelte es sich bei dem Krieg seit 1939 um einen immer mehr eskalierten Versuch der Selbstbehauptung
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des 1939 zustandegekommenen deutschen Staates in den Grenzen des alten Reichs, bei dem sich Interessen verschiedener Staaten und Ideologien bis zu einem Weltkrieg kreuzten? Oder handelte es sich um einen Versuch eben dieses Staates, aus der Situation von 1939 durch unprovozierte Kriege mit anderen Ländern und mit Hilfe einer Eroberungspolitik zur Weltmacht aufzusteigen? In der öffentlichen Wahrnehmung und der Forschung dominiert letztere Interpretation, aus Sicht meiner Forschungsergebnisse scheint eher die erste zuzutreffen. In den drei Bänden der Trilogie ist eine umfangreiche Begründung für diese Ansicht gegeben worden. Im Rahmen dieses Nachworts will ich im folgenden auf einige der Reaktionen eingehen. Typisch im Rahmen der Debatte über meine Veröffentlichungen und auch ansonsten häufig in der Zeitgeschichtlichen Forschung zu beobachten ist der Versuch, bestimmte Dinge ganz aus der Betrachtung zu verbannen. Peer Heinelt etwa störte sich in „Konkret“ an der Verwendung bestimmter Fakten im Rahmen meiner Argumentation, die in der Tat von anderen Autoren und in den Veröffentlichungen zur politischen Bildung oft nicht angesprochen werden. Mit Bezug darauf hatte ich in „Fünf plus Zwei“ diesen Absatz geschrieben, den Heinelt ausführlich zitiert: „Der jüngst erschienene, von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderte Aufsatz über die Vorgeschichte des deutsch-polnischen Krieges erwähnt weder die Flucht und Vertreibung großer Teile der deutschen Bevölkerung aus der Republik Polen nach dem Ersten Weltkrieg, noch den Hintergrund und den Umfang der polnischen Abstimmungsniederlage im südlichen Ostpreußen, noch die polnischen Angriffspläne auf die Weimarer Republik, noch die polnische publizistische Vorkriegskampagne für die Oder-Grenze und die Okkupation Ostpreußens, noch den Kern der deutschen Vorschläge vom Oktober 1938, der in der Anerkennung der bestehenden polnischen Grenze lag, noch die Mobilisierung der polnischen Armee im Umfeld der englischen Garantieerklärung vom März 1939, noch die Zahl der deutschen Flüchtlinge im Jahr 1939 oder die Zahl der ermordeten Deutschen vor und nach Kriegsbeginn und auch nicht die polnischen Offensivpläne und die umfassenden militärischen Vorbereitungen auf polnischer Seite.1 Das dahinter liegende Motiv, die deutsch-polnische Aussöhnung zu fördern, ist sicher aller Ehren wert. Eine Gesamtdarstellung der Vorgeschichte des Krieges von 1939 müßte dennoch anders aussehen.“2
Die beiden letzten, die Kritik einordnenden Sätze läßt Heinelt weg und behauptet mit Blick auf den übrigen Wortlaut: „Damit orientiert sich Scheil exakt an den Vorgaben der NS-Auslandspropaganda, die sich u. a. in den vom Auswärtigen Amt zwischen 1939 und 1941 herausgegebenen Weißbüchern zum ‚Kriegsausbruch‘ niederschlug.“3 1 2 3
Vgl. Kosmala, Überfall, S. 19–41. Zit. n. Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 108. Zit. n. Heinelt, Scheil, S. 26.
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Nun sind meine Studien nicht durch Orientierung an irgendwelchen Vorgaben beeinflusst worden, von welcher Seite auch immer. Darüber hinaus: Die Frage, die jeder seriös und wissenschaftlich arbeitende Historiker stellt, muß die Frage sein, ob eine bestimmte Information zutreffend ist und nicht die, ob diese Information schon einmal von Seite X als Propagandamittel verwendet wurde. Sämtliche von den Kriegsparteien in den Jahren 1939/40 veröffentlichten Blau-, Gelb- und Weißbücher sind als Instrumente der eigenen politischen Rechtfertigung konzipiert worden und lassen sich damit als „Propaganda“ bezeichnen. Es bleibt die Aufgabe der historischen Forschung, den Wahrheitsgehalt dieser Veröffentlichungen zu prüfen und nach Abschluß dieser und anderer Überprüfungen ein Urteil über Ursache und Wirkung jenseits jener Propaganda abzugeben, von der kein Wissenschaftler naiv genug sein sollte anzunehmen, es habe sie nur von einer Seite gegeben. Im vorliegenden Buch geschieht dieser Test unter anderem anhand der Überprüfung der von Hitler zur Begründung des Angriffs auf die UdSSR öffentlich erhobenen Vorwürfe, von denen sich keiner als unzutreffend herausgestellt hat. Heinelt versteigt sich denn auch gar nicht an die Behauptung, die in den deutschen Weißbüchern ausgebreiteten Fakten seien falsch. Er räumt im Vorübergehen ein, die polnischen Offensivpläne könne es 1939 gegeben haben und konstruiert dann eine angebliche Behauptung des Historikers Scheil: „Diese – so es sie denn gegeben hat – als Beleg für einen gegen Deutschland gerichteten ‚polnischen Imperialismus‘ ins Feld zu führen, offenbart die ganze Absurdität der von Scheil konstruierten Kausalkette: Seiner Aussage nach wollten Polens Militärs ihren ‚Marsch auf Berlin‘ mit Hilfe ‚hochbeweglicher Truppen, insbesondere der Kavallerie‘ durchführen, woran sie, so darf gefolgert werden, von General Guderians Panzern nur knapp gehindert wurden.“4
Diese als scheinbar eigenes Meinungszitat des Historikers Scheil daherkommende Passage ist schlicht eine Fälschung meines Argumentationsgangs. Der ganze groteske Witz dieser Verfälschung erschließt sich, wenn man die Herkunft des Zitats bedenkt. Es ist nicht der Historiker Stefan Scheil, laut dem die „hochbeweglichen Truppen“ der polnischen Kavallerie in Deutschland einmarschieren sollten. Es ist tatsächlich niemand anderer als der polnische Botschafter in Washington, Jerzy Potocki, der diese von mir lediglich zitierte Absicht dem amerikanischen Unterstaatssekretär Sumner Welles am 9. August 1939 bekanntgab: „He said that in the event of war the Polish General Staff had determined that they would not limit themselves to a defensive war, but would untertake an offensive campaign in order to penetrate into Germany, and that, with their highly mobilized forces, particularly the cavalry, the Polish General Staff believed that they had a reasonable prospect for success in such an endeavor.“5 4
Zit. n. Heinelt, Scheil, S. 26.
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Das sprengt die Vorstellungskraft des immerhin promovierten Politikwissenschaftlers Peer Heinelt so sehr,6 daß er sich eine solche Aussage nur als Ausdruck von politisiertem deutschen Revisionismus vorstellen und sie entsprechend denunzieren kann. Diese Haltung kann er auch im weiteren nicht verlassen. Irgend einen sachlichen Fehler kann er in Scheils „Geschichtsrevisionismus“ nicht aufdecken, und nachdem er noch mit Blick auf die in diesem Buch gegebene Darstellung der Vorgeschichte des „Unternehmens Barbarossa“ ein paarmal behauptet hat, es würden hier „Aussagen der NSPropaganda kopiert“, läßt er es genug sein. Etwas Probleme mit dem Zitieren hatte auch Rolf-Dieter Müller in seiner für die Frankfurter Allgemeine Zeitung verfaßten Besprechung von „1940/ 41“. Nicht nur schrieb er dem Verfasser die tatsächlich von einem Leser geäußerte Ansicht zu, Hitler werde hier als „Schachfigur in der Kalkulation Größerer, Mächtigerer“ dargestellt. Er tat gleiches auch irrtümlich mit der im Buch mit Blick auf Viktor Suworow geäußerten Einschätzung, dieser habe manche Universitätshistoriker „einer nicht unverdienten Lächerlichkeit“ preisgegeben. Scheil, so Müller, „glaubt allen Ernstes“, dies selbst getan zu haben.7 Nun glaubt der Verfasser dies keineswegs, sondern war und ist der Meinung, mit der gebotenen wissenschaftlichen Akribie eine These belegt zu haben, die sich durch unkorrekte Zitate und argumentative Unterstellungen dieser Art nicht angreifen läßt: „Aber läßt sich wirklich ausblenden, daß Hitler diesen Krieg gewollt, angezettelt und als Kampf um ‚Lebensraum‘ geführt hat?“8
Angesichts von eintausenddreihundert Anmerkungen zu verschiedenster internationaler Forschungsliteratur „die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand“ zu vermissen, zeigt in erster Linie den eng fokussierten Blick bundesdeutscher Zeitgeschichtsforschung. Die hier vorgelegte Untersuchung bedient auch deshalb ganz bewußt nicht deren üblichen Diskurs. Sie stellt ihn grundsätzlich in Frage, das aber in intensiver Auseinandersetzung mit ihm. Ein paar Zeilen vorher schreibt auch Rolf-Dieter Müller, hier würde beispielsweise gegen Andreas Hillgruber geschrieben, der „Maßstäbe für eine wissenschaftliche Geschichte des Zweiten Weltkriegs gesetzt hat“. Ausgeblendet wird dabei gar nichts, es werden Widersprüche und kritikwürdige Mängel dieser Maßstäbe aufgezeigt, auch bei Hillgruber. Zudem wird 5 Zit. n. Biddle, Papers, S. 348, vgl. auch FRUS 1939, I, Doc. 208–8, sowie Scheil, Vereinte Entfesselung, S. 45. 6 Veröffentlichte Dissertation von Peer Heinelt: „PR-Päpste“ – die kontinuierlichen Karrieren von Carl Hundhausen, Albert Oeckl und Franz Ronneberger, Berlin 2003. 7 Vgl. Müller, Adolf, S. 9. 8 Zit. n. Müller, Adolf, S. 9.
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vielmehr eine ganze Menge Neues eingeblendet. Müller präsentierte dem Publikum nichts von diesen Einblendungen und betonte abschließend das Kernaxiom der deutschen Zeitgeschichtsforschung: „Er (d.h. Hitler, d. Verf.) war auch 1940/41 der eigentliche Kriegstreiber, weil sein Endziel noch längst nicht erreicht war.“9
Dies entspricht der oben angesprochenen Frage, ob der Zweite Weltkrieg in Europa als unprovozierter deutscher Eroberungsversuch verstanden werden muß, oder ob es andere Gesichtspunkte gibt, unter denen seine Entstehung und sein Verlauf plausibler zu verstehen sind. Auch Rolf-Dieter Müller lieferte in seiner Besprechung leider kein Sachargument gegen die vom Verfasser vorgebrachte Darstellung, sondern ließ es bei unzutreffenden Zitaten, Axiomen und Polemik bewenden.10 Manfred Zeidler hat sich in einer ungewöhnlich langen, zehnseitigen Besprechung in „Totalitarismus und Demokratie“, der Hauszeitung des Hannah-Arendt-Instituts zur Totalitarismusforschung, mit meinem Gesamtwerk auseinandergesetzt, kritisch, mit den leider üblichen Ausblendungen wesentlicher Fakten, aber nicht unsachlich. Dies war ein anerkennenswerter, aber in weiten Teilen nicht adäquater Versuch. Auch ließ sich leider bei ihm ebenfalls die oben angesprochene Neigung beobachten, ein Argument nicht inhaltlich als treffend oder unzutreffend zu bewerten, sondern mit dem Hinweis zu diskreditieren, es sei schon von diesem oder jenem „Revisionisten“ benutzt worden. Auf Zeidlers Beitrag habe ich eine Entgegnung verfaßt, die 2008 als Beigabe zu „Revisionismus und Demokratie“ veröffentlicht wurde und auf die daher hier nicht weiter eingegangen wird.11 Professor Franz Seidler hat ebenfalls im Rahmen eines Autorenporträts in „Unsere Agenda“, ein positives Gesamtbild skizziert. Seidler legte zugleich Wert auf die Schilderung des intellektuellen Umfelds, in dem man als Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte leider regelmäßig arbeiten muß, wenn man an den üblichen Axiomen vorbei und anhand prüfbarer Fakten argumentiert: „Wer sich gegen eine dieser Festlegungen auflehnt, dem wird entweder die wissenschaftliche Kompetenz abgesprochen oder er wird ignoriert. Er muß froh sein, 9
Zit. n. Müller, Adolf, S. 9. Ähnlich die Behauptungen von Walter Rösch in der Kurzbesprechung in der Zeitschrift für Politikwissenschaft 3/07, die hier deshalb außer Betracht bleiben kann. Ganz anders etwa Oberst a. D. Wilhelm Meier-Dörnberg, der sich in einer längeren Rezension in der Bundeswehrzeitung „Der Panzerspähtrupp“ an einer Art Gegenargumentation versuchte, in der er das Lebenraummotiv allerdings auch axiomatisch („es war immer klar“) und im Widerspruch zu zahlreichen Äußerungen und Handlungen Hitlers nach Rußland verlagerte. Vgl. Meier-Dörnberg, Eskalation, S. 61. 11 Vgl. Scheil, Revisionismus, S. 61 ff. 10
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wenn die Medien ihn nicht als Neonazi in Verruf bringen. Angesichts dieser Verdikte wagen es nur wenige Fachhistoriker, gegen die politischen Dogmen aufzubegehren. Sie riskieren nicht nur ihre berufliche Glaubwürdigkeit und ihren moralischen Kredit, sondern werden auch in den Dunstkreis von Autoren einbezogen, die der Verharmlosung der nationalsozialistischen Gewalttaten oder der Verbreitung von Verschwörungstheorien bezichtigt werden.“12
Dies sind in der Tat die Gefahren, mit denen die Zeitgeschichtsforschung für den Historiker derzeit wieder verbunden ist. Statt Kritik in der Sache drohen Unterstellungen, wie oben in diesem Nachwort aufgezeigt wurde. Die Politisierung des Forschungsfeldes Zweiter Weltkrieg ist auch mehr als fünfundsechzig Jahre nach seinem Ende anhaltend gegeben und scheint eher anzusteigen, zumal der Rückgriff auf die in diesem Zusammenhang gebildeten verschiedenen nationalen Mythen international wächst. Dies gilt mit Ausnahme Chinas insbesondere für die anderen vier großen Siegerstaaten, die aus diesem Siegerstatus weiterhin ihre Legitimation als Ständige Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats beziehen und für die der Sieg von 1945 in der Regel jeweils den letzten gedenkpolitisch unangefochten ansprechbaren militärischen Erfolg darstellt. Innerhalb Deutschlands entspricht diesem Prozeß die wachsende Distanzierung von beinahe allen Aspekten der damaligen deutschen Kriegsgesellschaft, so weit sie nicht direkt als Akte des Widerstands gegen das damalige Regime gedeutet werden können. Ein Zusammenhang mit der speziellen Art und Weise der akademischen Auseinandersetzung zu diesem Komplex scheint gegeben, obwohl es auch Indizien zu einer Objektivierung der Sichtweisen gibt.
12
Zit. n. Seidler, Scheil, S. 14.
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Auswahlbibliographie
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Gedruckte Quellen und Dokumenteneditionen
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Anhang: Ereignisse 1940/41
andere Staaten nicht zu Forderungen an Rumänien ermuntern zu wollen; Einführung der 7-Tage-Woche in der UdSSR 27.6. Großbritannien proklamiert die Blockade des europäischen Kontinents 28.6. Sowjetunion erzwingt von Rumänien die Abtretung Bessarabiens und der Bukowina; Englische Regierung erkennt das Nationalkomittee von de Gaulle an 29.6. Befehlsausgabe an AOK 18, bei einem überraschenden sowjetischen Angriff den Vormarsch zu verzögern Juli 1.7. Cripps trifft Stalin, berichtet nach London von einem mittelfristig geplanten Eingreifen der UdSSR in den Krieg 3.7. Molotov prophezeit die „Entscheidungsschlacht zwischen dem Proletariat und der degenerierten Bourgeoisie irgendwo in der Nähe des Rheins“ für den Lauf des Kriegs; Überfall der englischen Flotte auf französische Kriegsschiffe in Algerien 11.7. Pétain zum französischen Staatschef gewählt 15.7. Das Auswärtige Amt erhält Meldungen über einen beabsichtigten sowjetischen Vorstoß nach Rumänien 16.7. Hugh Dalton erhält den Auftrag, die „Special Operation Executive“ zu bilden 18.7. William Donovan trifft in Europa ein 19.7. Öffentliches Friedensangebot Hitlers vor dem Reichstag 20.7. Baltische Staaten werden offiziell Sowjetrepubliken 21.7. Hitler will „alles politisch gegen England einspannen: Spanien, Italien, Rußland.“ 22.7. „Überaus befriedigende“ deutsche Friedensbedingungen an Lord Lothian in Washington übermittelt; Halifax lehnt das deutsche Angebot ab; Dalton notiert Churchills Auftrag, „Europa in Brand zu stecken“ 27.7. Polnischer Botschafter meldet bevorstehende Okkupation des deutsch besetzten Polen 30.7. Memorandum im englischen Außenministerium zieht Sowjetisierung Europas in Erwägung. 31.7. Militärbesprechung, Hitler läßt Angriffsabsichten auf Rußland erkennen August Semjonov nach Berlin 1.8. Molotov berichtet dem Obersten Sowjets, Deutschland hätte seine Hauptaufgabe noch nicht gelöst, die UdSSR würde sich mit dem Erreichten nicht zufrieden geben; Churchill fragt in Washington wegen der Lieferung von Zerstörern an 2.8. Flugblätter mit Hitlers Redetext vom 19.7. in England abgeworfen
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3.8. William Donovan kehrt in die USA zurück 5.8. Erster „Operationsentwurf Ost“ von Erich Marcks fertiggestellt; Operation „Razzle“ zur Verbrennung der deutschen Getreideernte im englischen Kabinett diskutiert 11.8. Ex-Präsident Hoover sieht die europäische Bevölkerung in Geiselhaft durch Besatzung und Blockade 13.8. Hitler befiehlt Befestigungsbau in Nordnorwegen, damit „sowjetische Angriffe dort aussichtslos sein würden“ 20.8. Churchill spricht im Unterhaus von einem bevorstehenden Angriff Rußlands auf Deutschland und einem Bombenkrieg unvorhersehbaren Ausmaßes; Weisung Hitlers, bei der weiteren deutschen Rüstungsplanung hätte die Invasion in England erste Priorität 21.8. Meldung neuer Forderungen der UdSSR an Finnland trifft ein 22.8. Der amerik.-britische Zerstörerhandel ist perfekt 23.8. Churchill enttäuscht über ausbleibende deutsche Luftangriffe auf zivile Ziele; vom englischen Kabinett diskutierte Grundlage eines Kompromißfriedens läßt Churchill in die Ausschüsse zurückverweisen 25.8. Englische Luftangriffe auf Berlin 28.8. Hitler meint, es sei gleichgültig, was die russischen Politiker sagen würden, wenn geschossen werde, werde Rußland den ganzen Balkan besetzen. 29.8. Goebbels-Notiz: „Russen hausen schauderhaft in Kowno. Das ist es, wovor wir unser Volk bewahren müssen.“ 30.8. „Wiener Schiedsspruch“ über die ungarisch-rumänischen Grenzfragen; Freigabe umfangreicher Waffenlieferungen an Finnland durch Hitler September 2./3.9. russ. Protest gegen Form des Wiener Schiedsspruchs 5./6.9 Weißauer-Mission in Stockholm 7.9. Mallet meldet Einzelheiten des deutschen Friedensangebots nach London 11.9. Vyšinskij meldet sowjetisches Interesse an einer Donaukommission an; englisches Kabinett weist deutsches Angebot zurück 14.9. Molotov fordert schriftlich die Einrichtung einer neuen Donaukommission ohne England, Frankreich und Italien 19.–22.9. Ribbentrop in Rom; Kennedy-Bericht über Cripps Verhandlungen mit Stalin 24.9. Französische Flugzeuge bombardieren Gibraltar 27.9. Unterzeichnung des Dreimächtepakts Ende September: Pétain beauftragt Rougier
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Oktober 1.10. erstes Treffen Wiedemann-Wiseman 3.10. Chamberlain verläßt die Regierung und tritt als konservativer Parteichef zurück; ital. Gesandter in Athen warnt vor einem Angriff auf Griechenland 4.10. Treffen Hitler-Mussolini am Brenner 9.10. Stafford Cripps schlägt der englischen Regierung vor, die baltischen Staaten als Teil der UdSSR anzuerkennen 12.10. Operation Seelöwe auf unbestimmte Zeit verschoben 13.10. Hitler verfaßt Einladungsschreiben an Molotov und Stalin; Churchill stellt fest: „Jeder lebende Hunne bedeutet einen möglichen Krieg“ 16.10. Lothian fliegt nach London 17.10. Einladungsschreiben nach Berlin an Molotov und Stalin übergeben 22.10. Rougier trifft Churchill, US-Botschafter Kennedy verläßt London in Richtung USA, Stafford Cripps legt in Moskau ein englisches Bündnisangebot vor, inklusive Anerkennung der sowjetischen Okkupationen in Osteuropa seit 1939 23.10. Treffen Hitler-Franco in Hendaye 24.10. Treffen von Pétain, Laval und Hitler in Montoire 26.10. Harold Nicolson befürchtet erneutes deutsches Friedensangebot (Tagebücher) 28.10. Kennedy in New York; italienischer Angriff auf Griechenland beginnt November 2.11. Berija macht Vorschlag, einen polnischen Großverband aufzustellen 5.11. Wiederwahl Franklin D. Roosevelts zum amerik. Präsidenten 12.11. Molotov trifft in Berlin ein 14.11. Hoare trifft den päpstlichen Nuntius 20.11. Ungarn tritt dem Dreimächtepakt bei 24.11. Slowakei tritt dem Dreimächtepakt bei 29.11. Lord Lothian trifft Roosevelt Dezember 3.12. „Ostfrage wird akut“ (Fäden USA-UdSSR, vgl. Bock-KTB), Weisung Hitlers, die Rüstung entsprechend umzustellen 12.12. Lord Lothian stirbt 13.12. Pétain entläßt Laval 16.12 William Donovan trifft erneut in Europa ein 17.12. Roosevelt legt Pacht-Leihgesetz vor 18.12. Weisung Barbarossa wird ausgegeben
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1941 Januar Staatsstreich in Rumänien, Vorwurf an die UdSSR, verantwortlich zu sein. 2.–6.1. Erstes Kriegsspiel in Moskau 7.1. Militärbesprechung in Berchtesgaden; Donovan trifft in Kairo ein 8.–11.1. Zweites sowjetisches Kriegsspieldto. 8./9. jeweils „Große Militärbesprechung“ in Deutschland 10.1. Deutsch-sowjetisches Wirtschaftsabkommen unterzeichnet, William Donovan in Athen angekommen 13.1. Ergebnis der Kriegsspiele im Kreml besprochen 16.1. Handschriftl. Nachricht Ribbentrops an den bulgarischen Gesandten, die Generalstäbe sollten Besprechungen aufnehmen. 17.1. Dekanozov-Molotov warnen vor „irgendwelchen ausländischen“ Streitkräften in Bulgarien; türkisch-bulgarischer Freundschaftspakt unterzeichnet 20.1. Putsch in Rumänien niedergeschlagen; Churchill mahnt Eden, deutsche Verhandlungsangebote mit absoluter Stille zu beantworten 21.1. Treffen Umanskij-Welles; Türkei sagt Kriegseintritt auf Seiten der Alliierten zu; Admiral Darlan sagt den Untergang Deutschlands bei einem Angriff auf Rußland voraus 23.-25.1. Donovan in Belgrad 29.1. Generalstabsbesprechungen Kriegsführung beginnen
über
eine
gemeinsame
anglo-amerikanische
Februar 1.2. Molotov empfängt Stafford Cripps 1.2. Shukov wird Generalstabschef 6.2. Bericht Schulenburgs über russ.-japan. Verhandlungen 8.2. Halifax meldet Kontaktversuch eines deutschen Unterhändlers nach London 11.2. Bericht Dieckhoff „Lord Lothian versus Lord Lothian“ wird Hitler vorgelegt 13.2. Vyšinskij sagt jugoslawischem Botschafter einen sowjetischen Militärschlag gegen deutsche Truppen in Rumänien zu 14.2. Roosevelts Botschaft an Fotic. Hitler: „Friedensprobleme auf dem Balkan. Die Jugoslawen wollen noch nicht so recht.“ 15.2. Zusammenstellung über „Politik UdSSR auf dem Balkan“ wird Hitler vorgelegt; Entscheidung von Keitel: „Aufmarschbewegung Barbarossa ist als größtes Täuschungsunternehmen der Kriegsgeschichte hinzustellen, das dazu diene, von den letzten Vorbereitungen der Invasion nach England abzulenken“ 17.2. Hitler „betroffen“ über Informationen zur sowjetischen Luftrüstung
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20.2. Griechenland lehnt Vermittlungsversuch Deutschlands im Konflikt mit Italien ab 22.2. Roosevelts zweite Botschaft an Fotic, Eden vereinbart mit Papagos militärische Operationen, 28.2. Anthony Eden trifft den sowjetischen Botschafter Winogradow in Ankara, sagt angeblich 250.000 britische Soldaten für den Balkan zu; Hugh Dalton artikuliert seine Gewissensnöte wegen der Vorschläge Churchills vom Vortag März 1.3. Bulgarien tritt offiziell dem Dreimächtepakt bei; Meldung an AA wegen bedrohlicher Entwicklung des sowjetischen Aufmarschs 2.3. Außenminister Eden in Athen 4.3. Treffen des zurückgekehrten William Donovan mit Churchill: „alles vorbereitet, Vorhang auf dem Balkan kann sich jederzeit heben“ (Colville); jugoslaw. Staatschef Prinzregent Paul in Berchtesgaden; Landungen englischer Truppen in Piräus (Operation Lustre) Anfang März: 42 neue Korps- und 117 neue Divisionskommandeure der Roten Armee ernannt 5.3. Erster Bericht von Richard Sorge über einen deutschen Angriff nach Moskau übermittelt 6.3. UdSSR stoppt ihre Öllieferungen an Deutschland. 9.3. Beginn einer italienischen Albanienoffensive 10.3. Roosevelt dementiert, daß Winant Friedensvorschläge nach Großbritannien gebracht hätte Jugoslawien mobilisiert 700.000 Mann 11.3. US-Pacht-Leihgesetz tritt in Kraft; angebliche „Manöver“ der Roten Armee im Grenzbereich in Wahrheit „ein getarnter Aufmarsch zum Angriff auf Deutschland“ 12.3. Hitler werden britische Truppenlandungen in Patras gemeldet 17.3. Kriegsrede Roosevelts, „Gerüchte deutschen Angriffs auf Rußland“ und „Gespräch zwischen Cripps und Vyšinskij“ werden Hitler gemeldet 18.3. William Donovan zurück in Washington 19.3. in Athen erneut „engl. Truppenlandungen“ gemeldet 20.3. Stalin erhält einen vollständigen Bericht über die deutschen Angriffsplanungen, die Oberbefehlshaber und Operationsziele der Heeresgruppen 21.3. „In Rußland scheint man mit deutschem Angriff zu rechnen“ (Schramm, OKW I/1, S. 365.) 22.3. Churchill ruft die jugoslawische Regierung zum Angriff auf Albanien auf. 23.3. Matsuoka trifft in Moskau ein 25.3. Beitritt Jugoslawiens zum Drei-Mächte-Pakt: „Imperiale Unterzeichnung“ (HewelTB)
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26.3. Donovan spricht zur amerikanischen Nation; volle Mobilmachung der Roten Armee in den westlichen Grenzbezirken, Ziel der Einsatzbereitschaft 15.6.41 27.3. Putsch in Belgrad; Einigung über einen Grundkriegsplan in den geheimen amerikanisch-britischen Stabsbesprechungen erzielt 30.3. USA beschlagnahmen alle Schiffe der Achsenmächte und Dänemarks in USHäfen, andere amerikanische Länder folgen, Hitler wird „Hilfe aus Moskau“ beim Putsch in Belgrad gemeldet April 1.4. Gerücht über Eden in Athen und über Rußland werden Hitler gemeldet 3.4. Ankara „Ablehnung an Eden“, Athen „Truppen engl. jugosl.“, Stockholm „russ. Sympathien Jugoslawien“, Bukarest „deutschfeindl. Machenschaften“ (Hewel, Vorlagen) 4.4. Vorlage bei Hitler: Befürchteter Angriff „Griechen-Jugosl.“ auf Albanien 5./6.4. russ.-jugoslawischer Freundschaftspakt; Moskau „Gerücht russ. Waffen Jugosl.“ (Hewel, Vorlagen) 6.4. „Wenn Rußland angreifen will, je eher, desto besser“ (Hitler); Halifax trifft Roosevelt; „Pakt Jugosl.-Russl.“ (Hewel, Vorlagen); Beginn des deutschen Angriffs auf Jugoslawien 7.4. Matsuoka wieder in Moskau, Treffen mit Molotov 8.4. „Donovan in Lissabon“ (Hewel, Vorlagen) 9.4. Cripps schreibt an Vyšinskij und fordert die UdSSR zum sofortigen Angriff auf dem Balkan auf; Hitler erhält via Budapest Nachrichten über „Verhandlungen Rußland-Amerika“ 11.4. „Br. Tr.“ „Botschaft Churchills an den japan. Außenminister“ (Hewel, Vorlagen) 12.4. Deutscher Einmarsch in Belgrad 13.4. russ.-japan. Neutralitätsabkommen unterzeichnet; 14.4. Agenten „Doyen“ meldet nach Moskau, Hitler sei der Initiator eines Präventivkriegs gegen die UdSSR 15.4. Hitler werden Meldungen über die „Behandlung Cripps“ und die „Englische Aufhetzung Moskaus“ vorgelegt. 17.4. Gesamtkapitulation der jugoslaw. Streitkräfte 19.4. Cripps gibt Churchills Warnung an Vyšinskij weiter 20.4. Alfred Rosenberg wird zum „Beauftragten für die zentrale Bearbeitung der Fragen des osteuropäischen Raumes“ ernannt 21.4. Stalin erhält Churchills „Warnung“. „Italiener benehmen sich schamlos“ gegen Italiener allgemeine Wut – auch beim Führer (HewelTB) 23.4. Meldung Ritter an AA wegen Fortgang des sowjetischen Aufmarschs
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24.4. Beginn des Rückzugs er englischen Streitkräfte aus Griechenland 25.4. Halifax räumt öffentlich ein, daß die englische Regierung den Balkankonflikt erzwungen hat 28.4. Botschafter Schulenburg bei Hitler, der die Angriffsabsicht auf die UdSSR ableugnet; Hitler entscheidet sich für den Angriffstermin 22. Juni und den 23. Mai als Beginn des Höchstleistungsfahrplans 29.4. Russischer Agent meldet Hitlers Äußerung, Maßnahmen dagegen treffen zu wollen, daß „der rote Pöbel sein Haupt über Europa erhebt“ 30.4. Schulenburg zurück in Moskau Mai 4.5. Hitler zieht vor dem Reichstag die Bilanz des Balkanfeldzugs, äußert sich mit keinem Wort zu Rußland 5.5. Stalin ruft zur Offensive gegen Deutschland auf; Memorandum von Albrecht Haushofer an Hitler über die Möglichkeit, Friedensgespräche zu führen. 6.5. Stalin übernimmt die Regierung der UdSSR; Cripps notiert Berichte aus Bukarest, der deutsche Angriff auf die UdSSR sei für Mitte Juni terminiert, Woronzow, der sowjetische Militärattaché in Berlin, meldet einen möglichen deutschen Angriff am 14. Mai 9.5. Sowjetunion entzieht den Gesandten Belgiens, Griechenlands, Jugoslawiens und Norwegens die Akkreditierung; TASS-Dementi verneint sowjetische Truppenbewegungen an der Grenze 10.5. Rudolf Heß fliegt nach England 11.5. Landung erster englischer Sabotageagenten der SOE in Frankreich; Hitler fordert eine Aufstellung über den Fortgang des russischen Aufmarschs an 12.5. Letztes Treffen Schulenburg-Dekanozov 13.5. Hitler behauptet, Heß sei geistesgestört 14.5. Die sowjetischen Medien werden auf Kriegskurs eingestimmt, dto. die Rote Armee; Der Generalstab gibt Anweisung, die Teilnehmer des letzten Studienjahres aus allen Offiziersschulen zu entlassen und in die westlichen Militärbezirke zu verlegen; Dekanozov zurück in Berlin 15.5. Shukov schlägt Stalin die Beschleunigung der sowjetischen Angriffsvorbereitungen wegen Gefahr eines deutschen Präventivschlags vor. 16.5. Meldung aus Stockholm nach Berlin, daß mehr sowjetische Truppen als je zuvor an der Westgrenze stünden. 18.5. Ribbentrop bei Hitler in franz. Angelegenheiten; „Führer möchte sich Frankreich nicht zu sehr verpflichten. Fragt sich stets, ob Darlan sich überhaupt hält. Schließlich Kommuniqué Darlans genehmigt.“ (HewelTB) 22.5. „Besprechung Chef, Raeder, Keitel über Seekriegsführung . . . Dakar, Kanarische Inseln, Azoren! Sehr interessant. Führer schwankt noch in Haltung zu Amerika, da ‚man nicht in die Seele Roosevelts sehen könne‘. Will es Krieg, so fin-
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det es jedes Mittel, auch wenn juristisch wir im Recht. Japan ausschlaggebend. Wenn selbst noch schwankend ist es besser, USA aus Krieg zu halten, als vielleicht einige 100.000 tons mehr zu versenken. Ohne USA Krieg dieses Jahr zu Ende. Mit USA noch lange Jahre. Man einigt sich auf ‚Warnung‘. . . . Cudahy Termin durchgebracht.“ (HewelTB) 23.5 Sikorski-Memo an Churchill warnt vor Krieg in Rußland 24.5. Geheime Konferenz (Stalin, Molotov, Timošenko, Shukov, Vatutin, Schigarev, Pavlov, Popov, Kusnezov, Kirponos, Cˇerevicˇenko); „Fall Bömer“ „Ende Mai“ Einberufung von 800.000 sowjetischen Reservisten durch den Generalstab, genaues Datum umstritten. 25.5. Cudahy-Hitler Treffen in Berchtesgaden 26.5. Propagandaentwurf für die Rote Armee im Sinn der Offensivvorgaben Stalins ist fertiggestellt 27.5. Roosevelt beschuldigt die Achsenmächte, die Welt erobern zu wollen. 28.5. Hitler zu Roosevelts Rede: „Man muß den Mann daran hindern, immer ungestraft weiter zu gehen.) (HewelTB) 29.5. „Der F. meint, wenn Barbarossa fertig ist, so brauche er keine Rücksicht mehr auf Italien zu nehmen! . . . Barbarossa sei sowieso ein Risiko, wie alles. Misslänge es, sei sowieso alles verloren. Gelänge es, so sei wohl die Situation geschaffen, die wohl auch England zum Frieden zwänge. . . . Wenn der erste Schuß fällt, wird die Welt den Atem anhalten. Zunächst nichts tun und abwarten.“ (HewelTB); Rote Armee gibt Sprachführer für Verhöre deutscher Gefangener aus 31.5. Hoare übermittelt deutsche Gesprächsbereitschaft nach London (vgl. Schlie, S. 330) Große Sitzung zum Thema Irak (Keitel, Jodl, RAM,) (HewelTB) Hitler kontaktiert „überraschend“ Mussolini und lädt ihn an den Brenner ein. Juni 2.6. Brenner-Treffen: Nach Abfahrt beim Führer. Ist zufrieden. M. sei sehr zuversichtlich und siegesgewiss. Andeutung Russland, ‚falls die Versenkungsziffern nicht ausreichen‘.“ (HewelTB) 3.6. Oshima bei Hitler, erhält Andeutungen zu „Barbarossa“. 4.6. UdSSR: Politbüro beschließt die Aufstellung einer aus ehemaligen polnischen Staatsbürgern bestehenden Schützendivision 6.6. William Donovan erfährt in London, daß der englische Geheimdienst den Angriffstermin auf den 22.6. schätzt. 7.6. Goebbels notiert „substantielle Gerüchte“ und will sich intensiv um stärkere Täuschung bemühen. 8.6. Colville notiert russisch-deutsche Verhandlungen; Hewel-Hitler Gespräch über Rußland: laut Hitler „größter Aufmarsch der Geschichte“ auf russischer Seite, „schweres Entschließen“.
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9.6. Invasion englischer und gaullistischer Truppen in Syrien und Libanon; Agentenbericht meldet antideutsche Stimmungsverschiebung innerhalb der Roten Armee 13.6. TASS-Kommuniqué meldet, Deutschland habe keine Forderungen gestellt; „Gespräch mit F. über Rußland. Glaubt, daß dies das Ende des engl. Widerstands bedeuten müsse. Ich glaube noch nicht daran, da Engl. hierin eine Schwächung D’s für längere Zeit sehen werden.“ (HewelTB) Eden bietet gegenüber Maiskij die Unterstützung Großbritannien im kommenden Krieg gegen Deutschland an. 14.6. Churchill informiert Roosevelt über den bevorstehenden deutschen Angriff auf Rußland 16.6. Cripps aus Moskau zurück; Goebbels und Hitler lancieren die Meldung, man wolle Anfang Juli Forderungen an Rußland stellen 18.6. Deutsch-Türkischer Freundschaftsvertrag „Großes Problem: Dekanozov hat sich beim Staatssekr. angesagt. Was bringt. Macht Stalin noch einen großen Coup? Ein großes Angebot etc. etc. Lange Besprechung mit Außenminister, Engel und mir, in dem alle Möglichkeiten erwogen werden. F. und Außenminister müssen verschwinden – unerreichbar sein. . . . Die letzten Tage vor der Tat sind aufreibend. Es kann immer noch etwas passieren.“ (HewelTB) 20.6. „Lange Unterhaltung mit F. Große Hoffnung auf R-Feldzug. Wünscht 10 Wochen weiter zu sein. Es bedeute doch immer ein großes Risiko. Man stehe vor einer verschlossenen Tür. Geheime Waffen? Zähigkeit des Fanatikers? Schläft mit Schlafmitteln. Diktiert. Legte mir es (?) heute morgen mal wieder. alles durchgespielt bis ins kleinste – fände keine Möglichkeit für den Feind, Deutschland noch klein zu kriegen. Glaubt, daß England beigeben muß. Hofft auf dieses Jahr. Film: Auf Wiedersehen Franziska.“ (HewelTB) 21.6. „Spannender Tag vor der Offensive Dekanozov meldet sich noch einmal an. Spannung – abends. Kommt aber nur mit Protest wegen Überfliegung der Grenzen durch 24 Flugzeuge. Chef mehrfach beim F. F. diktiert Proklamation.“ (HewelTB) 22.6.1941 Beginn des Unternehmens Barbarossa
Sach- und Personenindex Kursiv gesetzte Namen beziehen sich auf Fußnoten.
Aktay, Haydar – türk. Botschafter in Moskau 289 Aleksandrov, G. F. 160 Alexander I. – russ. Zar 369 Alexander I., russischer Zar 410 Aly, Götz 332 Ammende, Ewald 334 Atlantik-Charta 127, 129 Attolico, Bernardo – ital. Botschafter in Berlin 189 Austerlitz – Schlacht von 186 Bach-Zelewski, Erich von dem 331– 332 Backe, Herbert – deut. Staatssekretär 275–277, 336 Bahr, Egon – deut. Politiker 214 Barbarossa-Unternehmen 5, 17, 88, 112, 114, 116, 124, 127, 146, 250, 332, 336, 374, 390, 396, 407, 423 – als Präventivkrieg 365 – und Ideologie 186 Barbarossa-Weisung 90, 129 – Verrat 90 Battaglia, Roman – poln. Konsulatsangestellter in Glasgow 195 Baudouin, Paul – Außenminister der Vichy-Regierung 320 Beaverbrook, Lord (= William Maxwell Aitken) – engl. Pressezar und Minister 196, 199, 202 Beck, Josef 22 Beck, Ludwig 379, 394, 410, 411 Beneš, Eduard 38, 56
Berija, Laurenti P. 227 Berija, Laurentij 292 Berlings, Orests – deut. Agent 265 Bernhardi, Friedrich v. 346 Bezymenskij, Lew – russ. Journalist und Historiker 289 Bismarck, Otto v. – deut. Reichskanzler 38–40, 105, 271–272 Blum, Leon – franz. Ministerpräsident 1936/37 und 1946/47 80 Bock, Fedor v. 149, 154, 291, 327, 358, 407, 423 Bohle, Ernst Wilhelm – Leiter der AO der NSDAP 197–198 Boisson, Pierre – franz. Gouverneur von Dakar 75 Bojarskij – sowjet. Offizier 374 Bonwetsch, Bernd 220, 227 Bormann, Martin 369 Bozˇic´, Sima – jugoslaw. Offizier 120 Brauchitsch, Walther v. – deut. Generalfeldmarschall 41, 68, 399 Breitman, Richard – amerik. Historiker 331, 350 Brest-Litowsk, Friede von 368 Briand-Kellogg-Pakt 22, 158, 219, 223–224 Brinkmann – deut. Offizier 385 Browder, Earl – Chef der amerik. KP 80 Bullock, Alan – engl. Historiker 273 Burckhardt, Carl J. – Schweizer Historiker und Diplomat 28, 196, 230, 303
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Sach- und Personenindex
Cadogan, Sir Alexander – engl. Diplomat 25, 69, 99, 109, 177, 303 Canaris, Wilhelm – deut. Abwehrchef 107, 173, 325 Cäsar, Julius 131, 213 Casey – austral. Botschafter in Washington 319 Caulaincourt, Armand de 410 Cavendish-Bentinck, Victor 365 Cavour, Graf Camillo di – ital. Staatsmann zur Zeit der Einigungskriege 22 Chamberlain, Neville 38, 44, 133, 170, 172, 298, 315–316, 324, 339 Chambrun, René de 79–80, 179, 319– 320 Charta der Vereinten Nationen 219 Chrušcˇev, Nikita Sergejevicˇ 257, 287 Churchill, Winston Spencer 22, 26, 29, 32–33, 42, 47–48, 66, 69–70, 73, 76, 78, 80, 89–91, 93, 98, 100–101, 109–110, 115–116, 121–122, 124– 125, 127, 129, 132, 153, 167–173, 176–182, 186, 189, 193–194, 196– 199, 202–203, 205–206, 208, 210, 218, 222, 232–233, 285, 293, 296, 298, 304, 309, 312, 316, 318, 320, 324, 328, 341, 343–346, 359, 362, 397, 406, 417, 426 Ciano di Cortellazzo, Graf Galeazzo – ital. Außenminister 62, 65, 356, 360 Clausewitz, Carl v. – deut. Militärtheoretiker 23 Conquest, Robert 323 Cooper, Alfred Duff – engl. Minister 171–172 Coudenhouve-Kalergi, Richard 273– 274 Cripps, Sir Stafford – engl. Botschafter in Moskau 67–68, 70–71, 115, 127, 139–140, 143–144, 153, 157, 203– 212, 221, 232–234, 295, 298, 350, 362, 401, 409, 416, 418, 420 Cudahy, John – amerik. Botschafter in Belgien 403–407
Cvetkovic´ – jugoslaw. Ministerpräsident 119 Czaky, Istvan, Graf 21 Dahlerus, Birger 20, 340 Dallek, Robert 21 Dallin, David 288 Dalton, Hugh – engl. Minister 29, 32, 122, 194–195, 199–200, 319, 350 Darlan, Xavier-Francois – franz. Admiral und Politiker, 1942 in Algier ermordet 62, 75, 78, 233 Darré, Walter – deut. Minister 275 Davies, Joseph – amerik. Diplomat 191, 304 Deborin, G. A. – sowjet. Historiker 287 Dehio, Ludwig 337, 410 Dekanozov, Vladimir Georgevicˇ 142– 143, 239–240, 265–267, 269–270, 299–300, 302, 421–426 Denkschrift zum Vierjahresplan 191 Dill, Sir John Greer – engl. Generalstabsoffizier 234 Dimitroff, Georgij – bulgar. Kommunist, Leiter der Komintern 18, 61, 135, 229–231, 241, 375, 413 Disraeli, Benjamin – engl. Politiker 280, 373 Doering, Otto C. 109 Dolchstoß-Vorwurf 72 Domvile, Sir Barry – Gründer des „Link“ 199 Donovan, William – amerik. Agent 21, 82–83, 94–95, 99, 107–109, 111–112, 115–119, 123–124, 129, 169, 239, 329, 358, 402 – Treffen mit Hitler 82 Doyen – sowjet. Agent 221 Dronov – sowjet. Offizier 254 DuBois, Josiah 351 Dubost 15 Dunlop, Richard – OSS-Agent 82 Dupuy – kanad. Diplomat 74 Dykes, Vivian – engl. Offizier 110
Sach- und Personenindex Eden, Anthony – engl. Außenminister ab 1941 29, 107, 123, 127, 171, 179, 194, 196, 202, 233, 350, 426 Eisenhower, Dwight D. – amerik. Offizier und Politiker 151 Ekeberg, Birger – Präsident des schwed. Hofgerichts 174 Engels, Friedrich 277 Erickson, John 120 Etzdorf, Hasso v. – deut. Diplomat 290 Feindstaaten 27 Filippow – TASS-Vertreter in Berlin 265 Filoff, Bogdan – bulgarischer Ministerpräsident 1940–43 137 Fischer, Fritz 338 Fischer-Debatte 337 Fitin, Pavel – Chef der sowjetischen Auslandsaufklärung 153 Fleming, Ian – engl. Agent 168 Flottenabkommen – deut.-engl. 188 Förster, Jürgen – deut. Historiker 21, 184, 291 Franco Bahamonde, Francisco – span. General u. Diktator 325–326, 401 François–Poncet, André – franz. Diplomat 60, 75 Frank, Hans 16 Frohwein, Hans – deut. Gesandter in Estland 207 Gafencu, Grigore – rumän. Diplomat 220, 288–289, 410 Gamelin, Maurice-Gustave – franz. Generalstabschef 63, 100 Garejev, Machmut – sowjet. General 255 Gaulle, Charles de 74, 76, 168 Gavrilovic´, Milan – jugoslaw. Botschafter in Moskau 68, 120, 153, 204, 206–207, 233–235, 237, 299 general settlement 41 Genfer Protokoll 223
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Gladstone, William Ewart – engl. Politiker des 19. Jhdts. 373 Globalisierung 42 Goebbels, Joseph 154, 196–197, 200, 221, 236, 291, 326, 342–343, 352– 354, 390, 403, 405, 413–415, 418– 421 Golikov – sowjet. Offizier 254 Gorbatschow, Michail 17–18 Göring, Hermann 44–46, 170, 179, 200, 211, 246, 326, 330–331, 399 Gorodetsky, Gabriel – israel. Historiker 18–19, 255, 303 Grammsch – deut. Min. Direktor 332 Greiner – deut. Ministerialrat 75, 396 Grezow, M. – sowjet. Generalmajor 263 Grombach, John – amerik. Offizier 76 Grüne Mappe 336 Guderian, Heinz – deut. Generaloberst 382, 394 Gunduez, Asim – türk. Generalstabschef 208–209 Halder, Franz 68, 77, 90, 209, 248, 250, 326, 372, 375, 393, 399, 421 Halifax, Viscount (= Edward Wood) – englischer Außenminister, 1941 Botschafter in Washington 70, 127, 170, 172, 174, 177, 179–180, 193, 208, 210, 267 Hamilton, Herzog v. 180, 193–194, 199, 201 Harriman, William Averell – amerik. Botschafter in Moskau ab 1943 125 Hasch, Wolfgang 333 Haushofer, Albrecht 15–16, 180, 187– 190, 193, 196 Haushofer, Karl 15–16, 180, 271, 273–274 HAVAS – Nachrichtenagentur 231 Heß, Rudolf 16, 26, 59, 169–170, 180, 186–187, 189, 193–202, 211
472
Sach- und Personenindex
Heim, Susanne 332 Heine, Heinrich 346 Heinelt, Peer 428–430 Helmdach, Erich – deut. Offizier 262 Henderson – brit. Parlamentsmitglied 188 Hesse, Fritz – deut. Diplomat 44 Hewel, Walter – Verbindungsmann des AA bei Hitler 139, 265, 327, 401, 403–404, 417, 426 Heyden-Rynsch, von der – deut. Legationsrat 54 Heyden-Rynsch, von der – deut. Legationsrat 385 H-H-H-H-Operation 180, 195, 201 Hildebrand, Gerhard – deut. Politiker 274 Hilger, Gustav – deut. Diplomat 136, 141–142, 288, 290, 294 Hillgruber, Andreas – deut. Historiker 19–20, 134, 184, 234–235, 289–291, 399, 430 Himmler, Heinrich 180, 196, 331 Hinterseer – deut. Offizier 136 Hiroshima 158 Hiss, Alger – amerik. Diplomat 80 Hitler, Adolf 18, 24, 222, 368 – Stufenplan 20 – Weltblitzkrieg 19, 29 Hitler, Entschluß zum Angriff auf die UdSSR 138 Hoare, Samuel – engl. Botschafter in Madrid 15, 106, 176, 180, 190, 193, 306–307, 324–325, 329 Hoare-Laval-Plan 324 Hofmannsthal, Hugo v. 28 Hohenlohe, Stephanie Prinzessin v. 305–306 Hollidt, Karl Adolf – deut. Generalmajor 379 Hoover, Edgar – FBI-Chef 306
Hoover, Herbert – amerik. Präsident (1929-1933) 318–319, 321, 403 Hopkins, Harry – Sonderbotschafter des amerik. Präsidenten 173, 319 Hopper, Bruns – amerik. Sonderbeauftragter 128 Hoptner, Jacob 234 Hoßbach-Protokoll 43, 309 House, Colonel Edward Mandell – außenpolit. Berater von Präsident Wilson 109 Hull, Cordell – amerik. Außenminister 1933-1944 90, 96, 113 Hundertjähriger Krieg 27 Hünermann – deut. Offizier 332 Huntziger – franz. General 72 Ingrimm, Robert 131 Inönü, Ismet – türk. Ministerpräsident 316 Ismay, Lord Hastings Lionel – Militärberater Churchills und später Generalsekretär der NATO 312 Isserson, Georgij Samojlovicˇ – sowjet. Offizier 246 Jackson, Robert H. – amerik. Jurist 13–15, 98, 307 Jeschonnek, Hans – deut. General der Flieger 209 Jodl, Alfred – deut. General 183, 221–222, 238, 370–371, 394, 396, 400, 418, 422 Jost – SS-Brigadeführer 174, 176 Jünger, Ernst 201 jus ad bellum 223 Kalinin, Mikhail 68, 164 Kamenjew (Rosenfeld), Lew Borisowitsch 408 Katyn – Massaker von 71 Kaufman, Theodore N. – amerik. Publizist 342–347, 352–354
Sach- und Personenindex Keitel, Wilhelm – dt. Generalfeldmarschall 115, 238, 241, 335, 397, 399 Kelly, David – engl. Gesandter in Bern 180 Kennan, George F. – amerik. Diplomat 310, 321 Kennedy, Joseph – amerik. Botschafter in London 79, 82, 95, 198 Kennedy, Paul – engl. Historiker 65 Kesselring, Albert – deut. Generalfeldmarschall 393–394, 423 Kettenacker, Lothar – deut. Historiker 283 Kirkpatrick, Ivone 16, 202 Kirsch – deut. Offizier 336 Klenov, P. S. – sowjet. Offizier 246 Knatchbull-Hugessen, Sir Hugh – engl. Botschafter in Ankara 210 Knox, Frank – amerik. Marineminister 95–97, 109 Koch – deut. Reichskommissar 332 Kollontay, Alexandra Michailowna – sowjet. Altrevolutionärin und Gesandte in Stockholm 375 Körner – deut. Staatssekretär 332 Kosic´, Mirko 112 Köstring, Ernst August – deut. Militärattaché in Moskau 1935-41 227, 376 Krebs, Hans – deut. Militärattaché an der sowjet. Botschaft 155–156 Kreve-Mickevicˇius – litauischer Außenminister 267, 269, 309 Krimkriegssituation 34 Krylenko, Nikolai 408 Krylov, Ivan N. – sowjet. Generalstabsoffizier 119, 227 Krylow – GPU-Kommissar 225 Kusmin, Ivan – sowjet. Offizier 252 Kusnetzov – Abteilungsleiter im sowjet. Außenkommissariat 134
473
Lane, Arthur Bliss – amerik. Diplomat 360 Laval, Pierre – franz. Politiker 62, 74, 76, 78, 324 Law, Richard – parlament. Staatssekretär im engl. Außenministerium 350–351 Leahy, William – amerik. Admiral 75, 95–96 Leeb, Wilhelm Ritter v. 378 Leeper, Reginald – Chief of British Political Intelligence 123 Leipziger Völkerschlacht 186 Lenin, Wladimir Iljitsch 161, 268, 270, 281–282, 374 Leningrad 217, 313, 383 Leonidas – Spartanerkönig 353 Leopold – König von Belgien 356 Likus, Rudolf – deut. Diplomat 265 Lipski, Josef – poln. Botschafter in Berlin bis 1939 246, 406 Litauer – Korrespondent der Polish Telegraph Agency 69 Litvinov, Maxim – sowjet. Außenminister bis 1939 143, 145, 206, 231, 296, 355 Lloyd George, David 197, 205–206, 309, 339 Londonderry, Marquis von 192 Londoner Erklärung 322 Londoner Konventionen über die Bestimmung des Angreifers 157 Losowskij, Salomon Abramovicˇ – stellv. Direktor des sowjet. Informationsbüros 144 Lothian, Lord (Philip Kerr) – engl. Botschafter in Washington 32, 80, 179, 190, 192–193, 258, 306–307, 319 Lukacs, John – engl. Historiker 275 Lunacharsky, Anatoli 408 Luxemburg, Rosa – russ.-deut. Marxistin 278 Macˇek, Vladko – kroat. Politiker 111 Machiavelli 73
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Sach- und Personenindex
Mackinder, Sir Halford John – engl. Geograph 272 Maginot-Linie 419 Maiskij, Ivan – sowjet. Botschafter in London 336, 337 Makins, Roger Mallor – Diplomat im Foreign Office 267 Malenkov, Georgij – Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU 161 Mallet, Viktor – engl. Gesandter in Stockholm 174–175 Malthus, Robert Thomas – engl. Ökonom 277 Mandel, George – franz. Politiker 56, 65 Mann, Golo – deut. Historiker 337 Marcks, Erich – deut. Generalmajor 163, 375–376 Markovic´, Aleksandar Cincar 359 Marschall-Plan 362 Martinsen – Pressemitarbeiter der norweg. Botschaft in London 100 Masaryk, Thomas 38 Matsuoka, Yosuke – japan. Außenminister 155–157, 210 Maxwell-Fyfe 15 Meier-Dörnberg, Wilhelm 431 Merekalow, Alexej – sowjet. Botschafter in Berlin bis September 1939 265 Messerschmidt, Manfred 215, 223 Michalka, Wolfgang 19 Mikojan, Anastas Ivanovich 71, 80, 120, 316 Molotov, Vjacˇeslav Michailovicˇ 13– 15, 19, 30, 50–51, 53–55, 60, 76, 87, 90–91, 107, 129–131, 139, 142–148, 152–153, 204, 207–210, 213, 217, 219–220, 222, 226, 229–230, 239– 241, 256–257, 264–266, 269–271, 286–298, 300–302, 307, 309, 311, 355–356, 358–359, 361, 363, 371– 372, 376, 408, 412, 416, 421, 424 Monroe-Doktrin 86, 329
Montoire – Treffen von 76–77 Mooney, James D. – amerik. Industrieller 306 Morgenthau, Henry – amerik. Finanzminister 307, 342, 351 Morgenthau-Plan 80 Müller, Rolf-Dieter 290, 430–431 Müller, Vinzenz – deut. General 13 Münchener Abkommen 42–43, 158, 188, 236 Murat – russ. Offizier 243 Mussolini, Benito 22, 56–57, 59, 62, 64, 84, 104, 123, 169, 175, 178, 184, 356, 358 Nagasaki 158 Napoleon Bonaparte 17, 23–24, 34, 186, 369, 410, 419 Nekrich, Aleksander – sowjet. Historiker 288 Neuhausen – deut. Generalkonsul in Belgrad 115 Nichtangriffspakt – deut.-dän. 188 – deut.-poln. 40, 188, 224 – deut.-sowjet. 15, 53, 68, 70, 105, 184, 205, 221, 223–224, 228, 230, 233, 241–242, 272, 299, 362, 479, 417, 424 – finn.-sowjet. 248 – japan.-sowjet. 301, 397 – jugoslaw.-sowjet. 120 – Kündigung des Geheimabkommens 292, 296 – poln.-sowjet. 381 – türk.-sowjet. 232 – Verstöße der UdSSR gegen 225, 241 Nichtangriffsvertrag, ital.-griech. 62 Nicolson, Harold – engl. Diplomat u. Historiker 32, 45, 93, 107, 183, 267, 305, 339
Sach- und Personenindex Nietzsche, Friedrich 346 Nolte, Ernst 184, 337 Nordling, Raoul – schwed. Generalkonsul in Paris 45 Nürnberger Prozeß 17, 20, 22, 184, 209, 218–219, 224, 234, 242, 331, 366, 381 Nürnberger Statut 223 O’Malley, Owen – engl. Botschafter in Ungarn 38, 190 Ogilvie-Forbes, Sir George – brit. Diplomat 246 Operation Razzle 316 Operation Seelöwe 399 Oshima – jap. Botschafter in Berlin 417–418 Ottawa, Zollabkommen von 128, 284, 405 Palmerston, Viscount Henry John Temple – engl. Politiker 34, 280 Papagos, Alexandros – griech. Generalstabschef 62 Papen, Franz v. – deut. Politiker, 1940/41 Botschafter in Ankara 111 Pares, Sir Bernard 408 Paul, Randolph 351 Paulus, Friedrich – deut. Generalfeldmarschall 13, 250 Pavlov, W. N. – sowjet. Diplomat 142 Pétain, Philippe – franz. Marschall und Politiker 58, 60, 62, 72–78, 96, 320 Philby, Kim – sowjet. Agent 199 Piratenstaaten – Nordafrikanische, und Zerstörertransfer 98 Polish Telegraph Agency 69 Popoff, Ivan – bulgar. Außenminister 118 Posse, Ernst – deut. Staatssekretär 275 Potocki, Jerzy 429 Potsdamer Konferenz 369 Präventivkriegsthese 220
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Raczynski, Edward – poln. Botschafter in London 69–70, 232, 236, 406 Radek, Karl 408 Radin, Djordje 113 Radtke – deut. Offizier 286 Raeder, Erich – deut. Großadmiral 209 Ratzel, Friedrich 275 Rauschning, Hermann 332 Reichenau, Irene 155 Respondek, Erwin 90 Retinger, Józef – poln. Diplomat 195, 211 Reynaud, Paul – franz. Politiker 45 Rhode – deut. Militärattaché in Ankara 241 Ribbentrop, Joachim v. 14, 44–46, 51–52, 64–65, 105, 116, 118–119, 137–138, 173–175, 187, 189, 197, 199, 226, 238, 250, 271–272, 278, 285, 287, 289–290, 299, 301–302, 311, 315, 325–326, 328–329, 340, 356, 359–360, 396–397, 403, 408, 415, 422, 424–426 Richthofen, Herbert Frhr. v. – deut. Gesandter in Sofia 118 Riecke – deut. Min. Direktor 332 Ritter, Karl – deut. Diplomat 394, 396, 423 Roberts, F. K. – engl. Diplomat 267 Röhm, Ernst 331 Romanenko – sowjet. Generalleutnant 256 Roosevelt, Franklin D. – amerik. Präsident 1933-45 21–23, 35, 44, 66, 75, 78–95, 97–98, 100, 108–109, 112– 113, 117–118, 124, 126–127, 132– 133, 167–169, 202, 213, 293, 300, 317, 319–321, 326, 329, 343, 354– 355, 358, 397, 403 – Friedensinitiative 41 – Hitlers Einschätzung 93–94 – und angebliche deut. Welteroberungspläne 86 – und französische Niederlage 79
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Sach- und Personenindex
– – – –
und Präventivkrieg 214, 216–217 und Wendell Willkie 93 Verhältnis zu Japan 30 zu angebl. deut. Welteroberungsplänen 402 Roques, Franz v. – deut. General 347 Rösch, Walter 431 Rosso – ital. Botschafter in Moskau 54 Rougier, Louis – franz. Publizist 74, 76, 78, 315 Rudenko – sowjet. Hauptankläger im Nürnberger Prozeß 15, 330 Ruflin, Henry – Journalist bei HAVAS 231 Salazar – portug. Staatschef 110 Saporoshets, A.I. 159, 161 Sargent, Sir Orme – engl. Diplomat 303 Scˇerbakov, A.S. 159 Schaposchnikow, Boris – sowjet. General 252, 261 Schlieffen-Plan 373 Schlotterer – deut. Min. Direktor 332 Schmidt, Paul – Chefdolmetscher des AA 290, 404, 424–425 Schmitt, Carl – deut. Jurist 219 Schnurre, Julius 238, 315, 413 Schulenburg, Graf Friedrich Werner von der 51, 53, 107, 134, 136–144, 146–148, 211, 237, 376, 410, 413 Seidl, Alfred – deut. Jurist 16 Seidler, Franz W. 431 Seifen-Legende 340 Semjonov, Vladimir – sowjet. Diplomat 264–265, 270–271, 299, 427 Shapiro, L.S.B. – amerik. Journalist 288 Shaposhnikov, Boris – sowjet. General 69, 119, 227–228, 252 Shdanov, Andrej Alexandrovicˇ 71, 159, 243, 383 Shirer, William 293, 317
Shkvartzev, Aleksandar 264–265 Shkvartzev, Aleksander 142, 265 Shukov, Georgij Konstantinovicˇ – sowjet. General 18, 147–148, 150, 220, 242, 244, 248, 251–256, 259– 260, 263, 373, 379, 383, 391, 422 Shukov-Plan 161, 220, 251–252, 255, 262 – deut. Informationen über 398 Sieburg, Friedrich 178 Sikorski, Wladyslaw Eugeniusz – poln. Exilministerpräsident 69–70, 88, 195, 210–211, 232 Simon, Sir John 192 Simovic´, Dusan – jugoslaw. Offizier 112, 120, 122–123, 138, 233 Sinowjew (Apfelbaum), Grigori Jewsejewitsch 408 Skoropadskij, Pavlo – ukrain. Militär und Politiker 408 Smirnoff – sowjet. Offizier 262 Smith, Aubrey Douglas 340 Sobolev, Arkadij – Generalsekretär des sowjet. Außenkommissariats, später stellv. Generalsekretär der UNO 121, 134 Solnyschkov, Jurij – sowjet. Offizier 252 Speer, Albert, Memoiren 197 Spengler, Oswald 274 Spitzy, Reinhard 327, 401 Stahmer, Herbert W. – deut. Diplomat 193 Stalin, Josef 13, 17–19, 22–23, 30, 35–36, 45, 47, 52–54, 66–68, 71, 87, 89–91, 114–115, 120, 125–126, 129– 132, 134–137, 139, 142–143, 145, 148, 152–156, 158–165, 170, 185, 203–206, 208–212, 220, 226, 228– 231, 241–242, 244, 247, 249–251, 257–258, 260–261, 263, 269–270, 289, 291–292, 294–297, 299–304, 309–311, 349, 359, 361–362, 365, 369, 371, 375, 397, 407, 410–413, 415, 418, 420–421, 426
Sach- und Personenindex – Deutung des Heß-Flugs 201 – Dreimächtepakt 286 – Kündigung des Abkommens über die Interessensphären 292 – Personenkult 134 – Perzeption im Westen 268 – Regierungsübernahme 134 – Wissensstand über die deutsche Rüstung 185 Stalingrad 128, 251 Stauffer, Paul 231 Steinhardt, Laurence A. – amerik. Botschafter in Moskau 140, 238 Stephenson, William Samuel (= Intrepid) – engl. Agent 109, 123 Stettinius, Edward 314 Stimson, Henry – amerik. Kriegsminister 95–96 Stoecker, Sally 260–262 Stohrer, Eberhard v. – deut. Botschafter in Spanien 327 Stokes – brit. Parlamentarier 267, 315 Stülpnagel, Otto v. – deut. General z. b. V., Militärbefehlshaber in Frankreich 47 Sunˇer, Serrano – span. Außenminister 325–326, 328, 356 Suworow, Viktor 18, 131, 249, 430 Talalaev – sowjet. Völkerrechtler 231 TASS – sowjet. Nachrichtenagentur 69, 265 TASS-Dementi 418 TASS-Kommuniqué 52–54, 143, 145– 149, 165 Taylor, A. J. P. – engl. Historiker 20 Telegin, K. F. – sowjet. Generalleutnant 262 Teleki, Graf – ungar. Ministerpräsident 236, 356, 358 Telpuchowski, Boris Semjonovicˇ – sowjet. Historiker 259, 287 Tennan, Ernest – engl. Bankier 199
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Thomas, Georg – deut. General, Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts 42, 49, 115, 326–327, 332, 336, 372 Tietze – deut. Offizier 317 Timošenko, Semjon Konstantinovicˇ – sowjet. Volkskommissar für Verteidigung 161, 242, 246, 252, 256 Tippelskirch, Kurt v. – deut. Generalleutnant 376 Topitsch, Ernst 18, 289, 297 Treitschke, Heinrich v. – deut. Historiker 346 Truman, Harry S. – amerik. Präsident 88 Tupikov – sowjet. General, Militärattaché in Berlin 91 Udet, Ernst – deut. General 200 Umanskij, Konstantin – russ. Botschafter in Washington 90, 363, 408 Uronov – sowjet. Regierungskommissar 162–163 Vansittart, Robert 174–176, 194, 197, 341–346, 352 Vasilevskij, Aleksandar M. – sowjet. Marschall 152, 262 Vasiljev – sowjet. Diplomat 266–268 Vereinte Nationen 27 Versailler Vertrag 366 Vichy-Regime 76, 95, 319–320 Vlasov, Andrej Andreevicˇ – sowjet. General 255–256, 374 Völkerbund 223–224 Völkerbundsatzung 219 Völkerschlacht bei Leipzig 24 Vorošilov, Kliment Efremovicˇ – sowjet. Marschall 71, 133, 231–232, 270, 381 Vyšinskij, Andrej – stellv. sowjet. Außenminister 13–15, 134, 139–140, 204, 209, 232–235, 237
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Sach- und Personenindex
Warners – brit. Diplomat, 337 Waterloo – Schlacht von 186 Watson – amerik. General 76 Weißauer, Ludwig – deut. Agent 174– 178, 187, 285 Weizsäcker, Ernst v. – Staatssekretär im Auswärtigen Amt 52, 138, 215, 355, 416 Weizsäcker, Richard v. – deut. Politiker 214 Welles, Sumner – stellv. amerik. Außenminister 41, 44, 87–90, 92, 108, 110, 128–129, 170, 205, 239, 282– 283, 303–304, 339, 363, 404, 406– 408, 429 Wenger, Léon – franz. Agent 100 Werth, Alexander 137, 227 Wewelsburg 331 Weygand, Louis Maxime – franz. General 63, 75, 115 White, Harry Dexter – amerik. Diplomat und Ökonom 80, 351
Wiedemann, Fritz – deut. Generalkonsul in den USA 305, 307 Willkie, Wendell – amerik. Politiker 92–93, 95, 356 Winant, John Gilbert – amerik. Botschafter in London ab 1941 91, 426 Winogradow – sowjet. Botschafter in Ankara 233 Wiseman, Sir William – engl. Agent 305–307 Withrow, James R. – amerik. Jurist 98 Woermann, Ernst – Ministerialdirektor im AA 140 Woods, Samuel E. – Handelsattaché an der amerik. Botschaft in Berlin 90 Woronzow – sowjet. Militärattaché in Berlin 396 Zeidler, Manfred 431 Zitelmann, Rainer 273