Gefallenengedenken im globalen Vergleich: Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung 9783486717228, 9783486716276

Länderstudien aus allen Kontinenten Krieg ist ein globales Phänomen, doch die Kriegserinnerungen und das Gefallenenged

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German Pages 540 [544] Year 2012

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Gefallenengedenken im globalen Vergleich: Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung
 9783486717228, 9783486716276

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Gefallenengedenken im globalen Vergleich

Manfred Hettling, Jörg Echternkamp (Hrsg.)

Gefallenengedenken im globalen Vergleich Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung

Oldenbourg Verlag München 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: hauser lacour Umschlagbild: Das Grab des Unbekannten Soldaten, Militärfriedhof Arlington, USA. © Thinkstock Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen ISBN 978-3-486-71627-6 eISBN 978-3-486-71722-8

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Hettling/Jörg Echternkamp

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Einleitung Manfred Hettling Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . .

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Australien Joan Beaumont Nation oder Commonwealth? Der gefallene Soldat und die nationale Identität . . . . . . . . . .

43

Chile Stefan Rinke/Sylvia Dümmer Scheel ,,Der Sold Chiles“ Gedenken an die Opfer politischer Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

China Neil J. Diamant Der gescheiterte Kult Veteranen und Soldatenfamilien in der Volksrepublik . . . . . . .

93

Deutschland Manfred Hettling/Jörg Echternkamp Heroisierung und Opferstilisierung Grundelemente des Gefallenengedenkens von 1813 bis heute . . . .

123

Finnland Agilolf Kesselring Zwischen Adler und Bär Militärische Tradition und Erinnerungskultur . . . . . . . . . . .

159

Frankreich Mechtild Gilzmer ,,A nos morts“ Wandlungen im Totenkult vom 19. Jahrhundert bis heute . . . . . .

175

Großbritannien Stefan Goebel Brüchige Kontinuität Kriegerdenkmäler und Kriegsgedenken im 20. Jahrhundert

199

. . . .

6

Inhaltsverzeichnis

Irak Ronen Zeidel/Achim Rohde/Amatzia Baram Zwischen Friedhof und Denkmal des Unbekannten Soldaten Die Gedenkkultur für gefallene Soldaten in der Republik, 1958–2010 225 Israel Maoz Azaryahu Erinnerungsverpflichtung und Erinnerungsgewebe . . . . . . . . . . .

253

Italien Michele Nani Die Gefallenen der ,,neuen Kriege“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Japan Tino Schölz ,,Heldenseelen“ und ,,Fundamente des Friedens“ Gefallenenkult und Kaiserloyalität . . . . . . . . . . . . . . . . .

301

Kanada Jonathan F. Vance Stahl und Stein, Fleisch und Blut Die Kontinuität des Kriegstotengedenkens . . . . . . . . . . . . .

329

Niederlande Piet H. Kamphuis ,,Damit wir nicht vergessen“ Kriegsdenkmäler und Gedenkkultur seit 1945 . . . . . . . . . . .

357

Polen Joanna Wawrzyniak Gefallenengedenken im Schatten des Zweiten Weltkriegs Die Öffentlichkeit und die Auslandseinsätze seit 1945 . . . . . . .

369

Schweiz Georg Kreis Pro patria mori. Zum republikanischen Totenkult seit dem 18. Jahrhundert – oder: Alle müssen offenbar Winkelried sein

. . .

395

Sowjetunion/Russland Guido Hausmann Die unfriedliche Zeit Politischer Totenkult im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . .

413

Inhaltsverzeichnis

7

Spanien Carsten Humlebæk Eine ,,andere“ Kriegs- und Opfergeschichte Der lange Schatten des Bürgerkriegs . . . . . . . . . . . . . . . .

441

Türkei Klaus Kreiser Vom namenlosen Glaubenszeugen zum patriotischen Heldenkult Kriegerdenkmäler und Gedenkstätten . . . . . . . . . . . . . . .

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USA Michael Geyer Amerikanisches Totengedenken Privatisierung des Leides und Universalisierung der Toten . . . . .

487

Vietnam Shaun Kingsley Malarney Leben mit den Kriegstoten Gebeine, Geister und die soziokulturelle Dynamik des Totengedenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Krieg und Gewalt sind globale Phänomene. Zwar lassen sich Länder und Regionen danach unterscheiden, wie gegenwärtig die kriegsbedingten Zerstörungen, wie aktuell die Gewalterfahrungen sind. Doch derartige Momentaufnahmen der Gegenwart liefern verzerrte Bilder. Dagegen zeigt der historische Zugriff, wie intensiv und dauerhaft jede Gesellschaft durch ausgeübte und erlittene, durch erfahrene und erinnerte Gewalt geprägt ist – und dass auch ein jahrzehntelanger Friedenszustand nicht vor neuen kriegerischen Verwicklungen bewahrt. Gerade die deutsche Gesellschaft hat das in den letzten Jahren erfahren müssen. Anthropologisch lässt sich die Allgegenwärtigkeit des gewaltsamen Todes mit der Fähigkeit des Menschen erklären, auch Artgenossen zu attackieren und zu töten. Präziser ist indes der in diesem Band gewählte historische, zeitlich und räumlich konkretere Zugriff. Seit der Epoche des neuzeitlichen Staatsbildungsprozesses, der sich in Europa und Nordamerika im 18. Jahrhundert – in anderen Regionen der Welt zum Teil deutlich später – verdichtet hat, bildet die Legitimation staatlich organisierter Gewaltausübung einen zentralen Kern der modernen Staatlichkeit. Diese Rechtfertigungen des Sterbens und Tötens für das Gemeinwesen stehen im Mittelpunkt dieses Bandes. Wie haben politische Gemeinwesen den Tod von Soldaten erklärt? Mit welchen Deutungsangeboten haben sie ihn zu legitimieren versucht? Wie haben sie der Gefallenen gedacht? Konzentriert auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Gefallenengedenkens untersuchen die Autorinnen und Autoren zum einen die jeweiligen nationalen Traditionslinien und die Entstehungskonstellationen eines modernen Gefallenenkultes, zum anderen die politischen Rechtfertigungsformeln für den Tod der Soldaten. Staats- und Nationsbildung haben dazu geführt, dass der Gefallenen als Angehöriger des politischen Verbandes gedacht werden musste. Dadurch entstand der funktionale Zwang, jeden Angehörigen dieses Gemeinwesens als Gefallenen gleichermaßen zu würdigen und an jeden Gefallenen einzeln zu erinnern. Diese weltweite Tendenz der Egalisierung und Individualisierung des Gefallenengedenkens konnte durch revolutionäre und religiöse Eschatologien eingeschränkt werden, die eine Hierarchisierung der Gefallenen beförderten. Die spezifischen historischen Bedingungen und die aktuellen Deutungsformen dieses Gefallenengedenkens werden in zwanzig Länderstudien vorgestellt. Die Analysen beschränken sich nicht auf die Kriegerdenkmäler als eine Ausdrucksform, sondern nehmen das öffentliche Gedenken als eine rituelle Praxis im gesellschaftlichpolitischen Raum ernst. Die Auswahl der Beispiele umfasst neben den Weltmächten Großbritannien, Frankreich, China, Russland/Sowjetunion und den Vereinigten Staaten ebenso ,,kleine“ Staaten wie Chile, Finnland oder die Niederlande. Das Spektrum

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Vorwort

reicht ferner von Ländern wie der Schweiz, in denen die Kriegserfahrung ferne Vergangenheit ist, bis hin zu Ländern wie Israel, dem Irak aber auch den USA, in denen eine alltägliche Kriegsgewalt auch die Gegenwart in unterschiedlicher Intensität prägt. Der regionale Schwerpunkt liegt auf Europa, doch um den Rahmen der Religionen und Kulturen weit zu stecken werden auch Amerika, Asien und Australien in den Blick genommen. Einzig der afrikanische Kontinent, auf dem sich die Nationen- und Staatsbildung deutlich später als in anderen Ländern vollzieht, ist hier nicht vertreten, was nicht zuletzt der dünnen Forschungslage geschuldet ist. Das Erscheinen dieses Bandes wäre – was man aus der Perspektive der staatlich finanzierten und regulierten Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen besonders zu schätzen weiß – ohne das inhaltlich konstruktive und wohltuend unbürokratische finanzielle Engagement der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung nicht möglich geworden; Frank Suder sei besonders dafür gedankt. Die Thyssen Stiftung hat 2007 eine Tagung am Wissenschaftszentrum Berlin finanziert, auf der das damals in Planung befindliche ,,Ehrenmal“ der Bundeswehr im Mittelpunkt einer auch international vergleichenden Debatte stand. Für den deutschen Fall wurden die Ergebnisse 2008 bereits veröffentlicht. Aus diesen Diskussionen entstand darüber hinaus die Idee, den Vergleich in einem noch weiter gezogenen, globalen Rahmen fortzuführen. Die Präsentation der Ergebnisse wurde nun dank einer erneuten Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss möglich. Die VW Stiftung hat den raschen Abschluss des Bandes durch ein Stipendium (opus magnum) gefördert. Martin Rethmeier und Cordula Hubert vom Oldenbourg Verlag haben den Band äußerst engagiert und kooperativ betreut. Justus Vesting und Robert Heise haben die Manuskripte bearbeitet und Korrektur gelesen. Insbesondere gilt unser Dank den Autorinnen und Autoren, die sich auf das dann doch lange dauernde Unterfangen eingelassen haben und immer bereit waren, Manuskripte zu überarbeiten und neue Fragen aufzugreifen. Ohne ihr Entgegenkommen wäre die systematische Stringenz des Vorhabens nicht zu erreichen gewesen. Schließlich sei den Übersetzerinnen und Übersetzern gedankt, die eine Veröffentlichung in deutscher Sprache ermöglichten. Halle/Potsdam, April 2012

Manfred Hettling/Jörg Echternkamp

Einleitung Manfred Hettling

Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung Politischer Totenkult im Vergleich1 Krieg ist ein globales Phänomen – und in zahlreichen Ländern auf dieser Welt ist die Erinnerung an die Gefallenen und die zivilen Toten des Krieges ein selbstverständlicher Bestandteil der nationalen Erinnerung und des jeweiligen politischen Selbstverständnisses. Kriegerische Gewalt, in Form von Staaten-, Volks-, Befreiungs-, Unabhängigkeits-, Eroberungs- oder Bürgerkriegen prägte die Geschichte jedes einzelnen Landes. Diese nationalen Erfahrungen beziehen sich auf sehr unterschiedliche Formen und gravierend abweichende Intensitäten von erfahrener und ausgeübter Gewalt. Sie können zeitlich weit zurückliegen und sind dann ,,bloß“ historische Erfahrungen, wie etwa die heroisierenden Deutungen der mittelalterlichen Schlachten in der Schweiz, die im 14. und 15. Jh. stattfanden, aber das nationale Kriegsgedächtnis bis heute wesentlich prägen. Sie können auch gegenwartsnah sein und im Bewusstsein der Lebenden noch sehr präsent sein als ausgestandene, als ,,überlebte“ Erfahrungen. In der Bundesrepublik etwa lässt sich eine generationell gestaffelte Verschiebung dieser Kriegserfahrung beobachten, indem gegenwärtig die prägende Kraft des Krieges für die diejenigen Altersgruppen, die den Zweiten Weltkrieg erfuhren und als Kinder etwa Bombenkrieg und Besatzung erlebt haben, eine besondere Aufmerksamkeit erfährt. Auch räumlich differiert die Intensität, Europa ist das beste Beispiel hierfür. Obwohl die beiden Weltkriege einen Großteil Europas mit einer Welle von Zerstörung überzogen, überdauerten einzelne Staaten diese Zeit durchaus kriegsfrei. Trotz dieser Unterschiede haben sich jedoch in allen Staaten Erinnerungs- und Deutungsformen für den Kult um die gefallenen Soldaten ausgebildet. Staatliches und gesellschaftliches Gefallenengedenken erweist sich damit ebenfalls als ein globales Phänomen, welches nicht zuletzt als Indikator geeignet ist, um Fragen des historischen und politischen Selbstverständnisses vergleichend zu analysieren. Die historische Forschung hat immer wieder den Zusammenhang von Gewalt und politischer Verfasstheit betont. Kriege waren einer der wesentli1

Ich danke der VW Stiftung für den Freiraum eines opus magnum-Stipendiums, in welchem dieser Text als erster Ertrag entstanden ist.

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Manfred Hettling

chen Faktoren bei der Nations- und Staatsbildung. Zwar führt nicht jeder Krieg zur Genese neuer Staaten, doch es gibt kaum Staatsbildungen ohne vorgängige Kriege. Die Ausformung des Nationalstaats und die Entstehung eines spezifischen Totenkultes für Soldaten fallen dabei zeitlich zusammen. Die Aufwertung des Untertanen zum Bürger war mit dem Anspruch auf politische Teilhabe an der Nation verbunden, und diese politische Teilhabe schloss auch die Verpflichtung und Bereitschaft zur militärischen Verteidigung mit ein. Damit wurden alle Trennungen von Bürger und Soldat (bzw. Söldner) oder von Bürger und spezifisch adligen Kriegerstand aufgehoben. Dadurch wurde der Tod des Soldaten zu einem politischen Thema, das eine politische Rechtfertigung erforderte. Jede im Nachhinein leicht zu kritisierende heroisierende Überhöhung des ,,Todes für das Vaterland“, die seit dem 19. Jh. in vielen Varianten entstand, war und ist an diese politische Funktionalität gekoppelt.

Totenkult als politische Legitimation Toter Soldaten zu gedenken, ist ein politischer Akt – überall, unabhängig von Staatsform oder religiöser Prägung, unabhängig von Erfolg oder Niederlage im Krieg. Er ist – erstens – die direkte Folge menschlichen Wollens und politischer Entscheidungen. Da – zweitens – nicht der einzelne über Krieg und Frieden entscheidet, sondern das Gemeinwesen, wie immer es im Einzelfall verfasst ist, wird der Tod des Soldaten zur politischen Angelegenheit. Dieser Zusammenhang bindet die Entscheidung zum organisierten Gewalteinsatz an die Grundwerte des politischen Verbandes und führt zu politischen Fragen: Wodurch kann der Einsatz von Gewalt legitimiert werden? Welche Ziele rechtfertigen welche Mittel? Deshalb erzwingt der Tod des Soldaten ab dem Moment, in welchem die gefallenen Soldaten nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld aus seuchenhygienischen Gründen entsorgt und verscharrt werden, und ihr Tod nicht nur privat in der Familie sondern öffentlich in der Gesellschaft erinnert wird, eine politische Antwort. Im europäischen Kontext vollzieht sich dieser Umbruch seit dem späten 18. Jh., die Denkmale spiegeln diesen Wandel, indem die Fürsten- und Feldherrndenkmale zu ,,Kriegerdenkmalen“ werden, auf denen jeder Kriegsteilnehmer erinnert wird. In der Zwangsläufigkeit zur politischen Legitimation liegt eine zentrale Gemeinsamkeit jedes politischen Totenkultes über nationale Grenzen und ästhetische Unterschiede hinweg. Die politische Verfügung über das Leben eines Einzelnen verlangt damit vor allem politische Antworten: Welchen Sinn hat dieser Tod für das Gemeinwesen? Wie ist er zu rechtfertigen? Diesen Fragen kann kein politischer Verband ausweichen – unabhängig davon, ob er Demokratie

Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung

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oder Diktatur, Weltmacht oder Kleinstaat ist, ob er säkular oder religiös geprägt ist. Gefallenengedenken ist dadurch auch als Indikator für die Analyse staatlichpolitischer Legitimationsfragen im globalen Rahmen geeignet, es bietet sich insbesondere für Längsschnittanalysen und für Vergleiche an. Denn unabhängig von den kulturellen und religiösen Prägungen wie auch den nationalen und staatlichen Konfigurationen stellt sich in allen neuzeitlichen staatlich verfassten Gesellschaften die Aufgabe, tote Soldaten zu erinnern und ihren Tod politisch zu deuten. Das Spezifische des seit dem 18. Jh. in Europa und in den USA entstandenen neuzeitlichen Totenkultes besteht nicht nur in der Identitätsstiftung der Überlebenden (Koselleck).2 Ebenso ist zu verweisen auf erstens die Individualisierung der Erinnerung: In allen westlichen politischen Ordnungen wurde nach und nach jeder einzelne als Individuum namentlich genannt, bestattet, gewürdigt, erinnert. Im säkularen Rahmen wurde die Nennung und Memorierung des Einzelnen erst im Wechsel vom religiös-dynastischen zum säkular-bürgerlichen und national geprägten Totenkult üblich, der sich um 1800 vollzog und seine ersten Manifestationen im revolutionären Frankreich der frühen 1790er Jahre erfuhr. Heutzutage hat sich die namentliche Erinnerung jedes einzelnen Gefallenen in vielen Kulturen durchgesetzt. Selbst im islamischen Kontext, wo sowohl religiöse Deutungsfiguren (der Gefallene als religiös zu deutender Märtyrer) als auch herrscherfixierte Gedenkformen eine egalitäre Individualisierung bis heute oft abschwächen, entstanden Erinnerungsformen wie das ,,Denkmal des Unbekannten Soldaten“. Den Einzelnen zu erinnern, wurde damit als Maßstand übernommen, wenn auch nicht unbedingt jeder Einzelne in seinem säkularen Bezug memoriert wird.3 Zweitens wird dem gewaltsamen Tod die Legitimation der politischen Handlungseinheit zugeschrieben, unabhängig von deren Verfasstheit. Seit dem 18. Jh. wurde die Nation die entscheidende Handlungseinheit, auf welche sich die Legitimationsformeln des gewaltsamen Todes bezogen. Der ,,Tod fürs Vaterland“ wurde grundlegend aufgewertet, wurde egalisiert als Anspruch an die gesamte männliche Bevölkerung jenseits ständischer oder klassenmäßig strukturierter Differenzierungen und mit dem Anspruch auf Partizipation des Einzelnen an dieser Nation verbunden. Die Verbindung bzw. Verschmelzung von Soldat und Bürger wurde emphatisch beschworen und brachte eine fundamentale Aufwertung des Soldatentodes und einen grundsätzlichen Wandel in den Legitimationsbezügen zum Ausdruck. Gestorben wurde seither nicht mehr 2

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Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276; ders./Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Reinhart Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998. Vgl. die Beiträge zur Türkei und zum Irak in diesem Band.

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Manfred Hettling

für den Herren, den Fürsten – sondern für die jeweilige Handlungseinheit. Diese Verbindung erwies sich immer dann am stärksten, wenn die Handlungseinheit als Nation definiert wurde. Da die moderne Nationsbildung untrennbar an Krieg gebunden war, verbanden sich die Deutungsformeln des Soldatentodes mit den politischen Legitimationen der Nation. Das Gedenken an jene, die als Soldaten ums Leben kamen, veränderte sich damit auch in seinen Formen. Der Einzelne wurde nun nicht mehr nur im engen Kreis der privaten Angehörigen erinnert, seiner sollte fortan von allen Mitgliedern des Gemeinwesens gedacht werden; zugleich vollzog sich diese öffentliche Erinnerung in sakralisierten oder säkularen Riten und festlichen Inszenierungen, die ein kultisch-auratisches Gesamtszenario konstituierten. Die Trauer um den Tod des Einzelnen ist seither mit der Zuschreibung eines Sinns für die Angehörigen des Gemeinwesens verbunden. In dieser Transformation wurde die Totenerinnerung zum politischen Totenkult. Der Tod ,,fürs“ Vaterland knüpft das Schicksal des Einzelnen an eine diesseitige, innerweltliche Ordnung, welche – so das Versprechen – den individuellen Tod des Einzelnen überdauere.4 Worauf gründet diese Legitimationskraft des gewaltsamen Todes, seine Erhebung zu einem ,,sinnvollen [ … ] Geschehnis“5 ? Weil dem gewaltsamen Tod eine politische Entscheidung vorausgeht und darin die unterstellte Sinnhaftigkeit dieses Handelns – und damit letztlich des Todes – angelegt ist, kann er zur politischen Legitimationsquelle für die Handlungseinheit selbst werden. In dem Moment, in dem transzendente Begründungen für die politische Ordnung erodieren, d.h. Religion als direkte Legitimationsstütze für die weltliche Ordnung entfällt, muss überindividuelle Dauerhaftigkeit auf neue Weise konstituiert werden. Daraus erst erwuchs Legitimität als spezifisch neuzeitliche Kategorie (Wilhelm Hennis). Legitime Herrschaft setzt letzte Orientierungen in der sittlichen Qualität gesellschaftlicher Ordnung voraus, ohne diese selber begründen zu können.6 Die Bereitschaft zum gewaltsamen Tod dient – funktional gesehen – als Bestätigung für derartige Normen. Kulturanthropologisch hat René Girard den Zusammenhang zwischen Tod des Einzelnen und Gemeinschaftsbildung im Opferbegriff beschrieben;7 im deutschen Kontext der politischen Neuordnung um 1800 bezog sich etwa Fichte in seinen ,,Reden an die deutsche Nation“ darauf. In der Erläuterung, was ,,Vaterlandsliebe“ sei, beschreibt er den individuellen Wunsch nach Dauerhaftigkeit 4 5 6 7

Peter Berghoff, Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse, Berlin 1997. Max Weber, Religionssoziologie, Tübingen 1988, Bd. 1, S. 549. Wilhelm Hennis, Legitimität. Zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, in: Ders., Politikwissenschaft und politisches Denken, Tübingen 2000, S. 250–296. René Girard, Das Heilige und die Gewalt (1972), Frankfurt 1992; zur gemeinschaftsstiftenden Funktion des Totengedenkens – ohne den Opferaspekt zu betonen: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1997, S. 60–63.

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jenseits religiöser Deutungen, nach ,,Denkmale(n) […], daß auch Er dagewesen sei“.8 Solange die hergebrachte Verfassung bestehe, reiche ,,der Geist der ruhigen bürgerlichen Liebe der Verfassung, und der Gesetze“ aus. Werde diese aber in Frage gestellt, dann sei noch eine andere Qualität gefordert. Diese bürgerliche Verfasstheit lebe also, modern gesprochen, von Voraussetzungen, die sie selber nicht gewährleisten könne.9 Sie kann ihre Grundprinzipien, die ja gerade in der Mäßigung und Beschränkung von Gewalt bestehen, in der Ausrichtung auf erreichbare, unmittelbare Ziele, in der Sicherung von materiellen Gütern, im Extremfall nicht ohne zusätzliche Ressourcen gewährleisten. Traditionell wird diese Dimension seit dem 18. Jh. ,,Vaterlandsliebe“ genannt, Fichte nennt sie ,,höhere Vaterlandsliebe“, um sie von der Alltäglichkeit der ,,ruhigen bürgerlichen Liebe der Verfassung“ zu unterscheiden.10 Da aber Begründungen einer Dauerhaftigkeit des säkularen Gemeinwesens über das Leben des Einzelnen hinaus mit den immanenten Mitteln der bürgerlichen Gesellschaft nicht gegeben werden können, legitimiert die freiwillige Bereitschaft zum Einsatz des Lebens jenen höheren Zweck und damit die politische Handlungseinheit. Hierbei lassen sich unterschiedliche Zuschreibungsmuster der politischen Rechtfertigung bestimmen. Diese unterscheiden sich kategorial von allen rein militärischen Rechtfertigungen des soldatischen Risikos, das eigene Leben im Kampf zu verlieren. Derartige Verweise auf eine Krieger- oder Soldatenehre, auf den spezifischen Beruf des Soldaten oder auch auf die besondere Männlichkeit oder Adligkeit als Grundlage dieser Risikobereitschaft bzw. der Rücksichtslosigkeit gegenüber dem eigenen Leben kommen ohne politische Bezüge aus. Sie sind in dieser Hinsicht stumm und akzentuieren nur eine militärische Funktionslogik, im Kern handelt es sich hierbei um Binnenwertigkeiten eines Söldnertums – der Söldner stirbt auf eigene Gefahr, aus Ehre zu seinem Stand oder Wertkodex – nicht jedoch für einen von ihm akzeptierten politischen Zweck.11 Im Unterschied hierzu kann man drei politische Bezugsdimensio8

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Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808), hg. von Reinhard Lauth, Hamburg 1978, S. 127; zu Fichtes Erwartungen an den Krieg vgl. Herfried Münkler, ,,Wer sterben kann, wer will den zwingen“ – Fichte als Philosoph des Krieges, in: Johannes Kunisch/Herfried Münkler (Hg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geiste der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 241–259. Formuliert in Anlehnung an Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: Ders. (Hg.), Recht, Staat, Freiheit. Studien zu Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt 1991, S. 92–114 und S. 112f. Die ,,Verheißung eines Lebens auch hienieden über die Dauer des Lebens hinaus, – allein diese ist es, die bis zum Tode fürs Vaterland begeistern kann“; in: Ebd. S. 134; prinzipiell dazu Berghoff, Der Tod des politischen Kollektivs. Zu historischen Erscheinungsformen des Söldners vgl. Michael Sikora, Söldner. Historische Annäherung an einen Kriegertypus, in: GG 29 (2003), S. 210–238.

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Manfred Hettling

nen differenzieren.12 Sie unterscheiden sich danach, welchen Bindungen die Bereitschaft zum Tod ,,für etwas“ zugeschrieben wird. Idealtypisch kann man unterscheiden zwischen erstens der Bindung an eine Person, sei es der Fürst, der Feldherr, der Söldnerführer oder auch der charismatische ,,Führer“ des Volkes. Bis in die Eidesformeln hinein prägt sich das aus. Wie gewichtig dieser persönliche Eid in der militärischen Tradition potentiell sein konnte, zeigte sich noch im 20. Jh., als im militärischen Widerstand im Dritten Reich der Eid (der Treueschwur erfolgte bis Dezember 1933 auf die Reichsverfassung, danach auf ,,Volk und Vaterland“, sofort nach Hindenburgs Tod 1934 auf Hitler) vielen als unüberwindbare Hürde für ein Attentat erschien.13 Zweitens die Bindung an eine Gemeinschaft. Volk, Nation, Stamm, Ethnie, Rasse, aber auch politisch oder religiös konturierte Gruppen können als derartige Gemeinschaftsgebilde in Anspruch genommen werden. Die Gemeinschaft wird dabei zur Legitimationsinstanz, der das einzelne Individuum untergeordnet bleibt. Der Bezug zur Gemeinschaft erzeugt zugleich eine Solidaritätszumutung (Max Weber), die sich an alle Mitglieder dieser Gemeinschaft richtet und deshalb Militärpersonen und Zivilisten, Überlebende, Gefallene und Getötete der eigenen Seite gleichermaßen umschließt und Handlungserwartungen generiert. Drittens die Bindung an eine politische Ordnung: Dient der Verweis auf die politische Verfasstheit des Gemeinwesens der Rechtfertigung, treten die politischen Prinzipien und normativen Grundlagen dieser Ordnung in den Mittelpunkt der Gefallenenehrung. Der postulierte gemeinsame Wertbezug wird als Verbindendes zwischen den Toten und den Überlebenden gedeutet. In paradigmatischer und bis heute kaum überbotener Eindeutigkeit findet sich diese Form des Gefallengedenkens in der von Thukydides nacherzählten Totenrede des Perikles. Detailliert wird darin begründet, wofür die Toten geehrt würden. Ausgangspunkt der Rede ist das eigene Gemeinwesen, die politische Verfasstheit des athenischen Staates. ,,Aus welcher Gesinnung wir dazu gelangt sind, mit welcher Verfassung, durch welche Lebensform wir so groß wurden“ – dies bildete den Maßstab, um die Handlungen der Gefallenen zu werten.14 Der Rekurs auf die Verfassung verweist auf das aktive Element, das nicht nur in der Bereitschaft zum ,,Opfer“ zum Ausdruck kommt, sondern 12 13

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Vgl. ausführlicher dazu Manfred Hettling, Totenkult und bürgerliche Gesellschaft (18.– 21. Jh.), München 2014. Dabei darf man nicht vergessen, dass die meisten dieser Bekundungen erst nach 1945 geäußert wurden und direkte Rückschlüsse auf die Handlungsmotivationen im Dritten Reich also nicht ohne weiteres vorgenommen werden können. Die Bindung an eine Person kann damit vielfältige Verschmelzungen erfahren (institutionell etwa mit der Monarchie, charismatisch mit dem Führerglauben oder dem Ansehen eines Feldherrn, religiös mit einem politisch gefärbten Gottesglauben). Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, hg. von Georg Peter Landmann, München ³1981, S. 140 und S. 143.

Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung

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allgemeiner im Engagement des Bürgers für den Bestand des Gemeinwesens. Die Genese des neuzeitlichen Totenkultes, die sich im europäisch-westlichen Kulturkreis um 1800 vollzieht, ist verschränkt mit einem fundamentalen Wandel des Legitimationsbezugs: Die traditionelle, vormoderne Bindung an den Fürsten wird abgelöst durch den Bezug zur Gemeinschaft und zum politischen Gemeinwesen, beide Bezüge stehen seither in einem potentiellen Konkurrenzverhältnis zueinander. In den revolutionären Umbrüchen wie im nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder in Frankreich nach 1792 tritt diese Verschiebung deutlich hervor, während in Preußen-Deutschland eine markante Deutungsrivalität zwischen monarchischem und nationalem Bezug die Entwicklung im 19. Jh. prägt. Im Weltkrieg setzt sich dann bald nach Kriegsbeginn 1914, und damit Jahre vor der Flucht Wilhelms II. nach Holland, der nationale Bezug im Gefallenengedenken endgültig durch. In den USA wurde von Anfang an der Sieg gegen das britische Empire als Sieg der ,,Gerechtigkeit“ inszeniert, in Frankreich als militärischer wie politischer Erfolg des citoyen über den ständisch isolierten und einem absolutistischen König willfährigen Militärapparat.15 Die Gefallenen konnten damit als Bürger und Soldat zugleich erinnert werden. Gerade in dieser Verschränkung verkörperten die Gefallenen die neue politische Ordnung. Durch die Bereitschaft ,,für“ diese Ordnung zu sterben, konnte der Tod des Einzelnen darüber hinaus sinnhaft gedeutet und zugleich das ,,wofür“ des Todes aufgewertet werden. Der Zusammenhang von individuellem Tod und kollektiver Handlungseinheit ist seither konstitutiv für den modernen Totenkult. Erst durch den gewaltsamen Tod entsteht die Handlungseinheit und wird zugleich dadurch überhöht. Abraham Lincoln hat das in der Rede in Gettysburg in die berühmte Formel gebracht, dass an diesem Ort ,,those, who here gave their lives that that nation might live“ erinnert werden solle. Analoge Deutungsformeln finden sich in vielen nationalen Kontexten.16 Der Übergang von einer ausschließlich personal strukturierten Bindung an den Fürsten zu einem Bezug auf das Kollektiv oder die Ordnungsidee kann als globales Phänomen beschrieben werden – er unterscheidet sich jedoch im Zeitpunkt und in der Ausprägung. Generell lässt sich damit ein Wandel von personal strukturierten dynastischen Bezügen beobachten, der oft erst 15

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James M. Mayo, War Memorials as Political Landscape. The American Experience and beyond, New York 1988, S. 61–116; Wolfgang Kruse, Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789–1799, München 2003, S. 25–71; vgl. auch die Beiträge von Michael Geyer und Mechthild Gilzmer. Ansprache am 19.11.1863, Dietrich Gerhard, Abraham Lincoln und die Sklavenbefreiung, Hannover 1965, S. 60; für französische und deutsche Beispiele von 1792ff. und 1813 vgl. Michael Jeismann, Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992.

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Manfred Hettling

im 20. Jh. erfolgt, etwa nach dem Niedergang von Reichen (Türkei, China) oder nach Dekolonisierungsprozessen (Irak, Vietnam).17 Ein national und/oder diktatorisch gefärbter Personenkult – wie für Mustafa Kemal in der Türkei oder Saddam Hussein im Irak – sowie religiöse Interpretationen eines Märtyrertodes – wie im Islam – können dabei die Herausbildung eines säkularen, individualistischen Totengedenkens deutlich abschwächen. Das kann dazu führen, dass nicht jeder Einzelne mit seinem Namen innerweltlich erinnert wird. Doch ist ein globaler Trend unverkennbar, den Namen des Einzelnen in das Zentrum der Erinnerung zu stellen. Dem entspricht die inzwischen fast überall zu findende Praxis, die Namen der Gefallenen einzeln zu nennen – sei es in Stein oder Metall verfestigt, sei es in traditioneller Form wie in Gedenkbüchern, sei es medial modernisiert im Internet (bis hin zu Märtyrerplattformen von Palästinensern im Internet). Dem entspricht ebenfalls die globale Verbreitung von Denkmälern des ,,unbekannten Soldaten“. Erstmals nach dem Ersten Weltkrieg in London und Paris am 11. November 1921, dem Jahrestag des Waffenstillstands, eingeweiht, gibt es heute analoge Denkmäler auch für andere Kriege in den verschiedensten Ländern. Neuere Beispiele hierfür finden sich im Irak (1982), in Syrien (1994), in Neuseeland (2004) oder in Kanada (2000). Der Prozess der Individualisierung des militärischen Totengedenkens lässt sich also, das zeigen diese analogen Formen, in sehr unterschiedlichen politischen und religiösen Kontexten beobachten. Man kann deshalb vermuten, dass auch in jenen Ländern, in denen es bisher noch nicht zur Regel geworden ist, jeden Gefallenen namentlich zu erinnern, sich diese Norm mehr und mehr durchsetzen wird. Nur das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser Verbreitung differieren.18

Bedingungsfaktoren des Totenkults Die konkreten Erscheinungsformen des politischen Totenkults lassen sich in Beziehung zu drei Einflussfaktoren vergleichen. Erstens wird zu fragen sein nach 17 18

Vgl. die Beiträge zu diesen Ländern. Die Individualisierung des Gefallenengedenkens ist dabei nicht per se mit einer politischen Demokratisierung gleichzusetzen. Das lässt sich besonders gut am Beispiel Japans zeigen. Der Totenkult in Japan war seit der Nationalstaatsbildung im 19. Jh. bis 1945 ausschließlich bestimmt durch die Akzentuierung der persönlichen Untertanenloyalität gegenüber dem Tenno; die Denkmäler wurden dementsprechend ,,Steine für die loyalen Seelen“ genannt. Der Totenkult verblieb ganz in den Formen einer staatsreligiösen und göttlich-monarchischen Ausrichtung, erinnerte aber jedes Mitglied der Nation in der Loyalitätserfüllung dem Kaiser gegenüber. Erst der seit 1945 in der Demokratie zentral betonte Rekurs auf den Frieden verdrängte die Loyalität zum Tennō – wie intensiv, das ist bis heute umstritten; vgl. den Beitrag von Tino Schölz.

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Mustern, Praktiken und Ausdrucksformen, um die Teilhabe der zivilen Gesellschaft an den Gefallenen zu bilanzieren. Zweitens erfordert ein Vergleich in globaler Perspektive eine Analyse der religiösen Prägungen und Deutungsvorgaben in ihrer Auswirkung auf das Gefallenengedenken, und drittens stellt sich schließlich die Frage nach dem Einfluss der jeweiligen historisch-nationalen Entwicklung auf die Genese des Gefallenengedenkens. Das schließt die Frage nach den Formen der kriegerischen Auseinandersetzung mit ein: Spielten die Art des Krieges oder auch die Intensität der Gewaltausübung und -erfahrung bis hin zur Zahl der Gefallenen und Opfer, die in den verschiedenen Nationen ganz unterschiedliche Erfahrungen von Krieg hervorbrachten, eine signifikante Rolle bei der Ausgestaltung des Gedenkens?

Ausdrucksformen gesellschaftlicher Teilhabe

Die Identitätsstiftung der Überlebenden bildet sehr unterschiedliche Muster und Intensitäten aus. Man kann das private Erinnern des familialen Angehörigen unterscheiden vom politischen Totenkult als kollektivem Erinnerungsvorgang, der öffentlich und mit einem Minimum an Institutionalisierungen verbunden ist. Letzteres ist gebunden an staatliche Regelungen, als öffentlicher Deutungsprozess erzwingt er Stellungnahmen zum ,,Sinn“ des Sterbens der Soldaten, vor allem aber an die Durchsetzung der Nation als politischer Leitidee. Nur dort, wo die Nationsbildung das Prinzip einer national gefassten Egalität aller propagierte, konnte ein Gefallenengedenken entstehen, welches jeden Einzelnen für erinnerungswürdig erachtet; im außerwestlichen Kontext ist Japan ein markantes und frühes Beispiel hierfür;19 und ebenso übernehmen die aus Europa exportierten Nationalstaaten, die weitgehend durch europäische Einwanderer besiedelt und noch mehr politisch geprägt wurden, die europäischen Gedenktraditionen; insbesondere Lateinamerika liefert hierfür Beispiele.20 Typologisch lassen sich im ersten Schritt drei Varianten unterscheiden, ob und wie der ,,Sinn“ des Sterbens der Soldaten thematisiert werden kann. Erstens ein mehr oder weniger strikt durchgesetztes Verschweigen. Zwei Faktoren lassen sich hierfür als Erklärung benennen. Ständisch-hierarchisch strukturierte Gesellschaften bleiben gleichsam blind gegenüber dem einzelnen Gefallenen. So wie im Europa der Vormoderne nur der Herrscher erinnert und denkmalsfähig war, so erweisen sich auch alle vorkolonialen Reiche als dezidiert gleichgültig gegenüber der Masse der Gefallenen. Noch viele staatliche 19 20

Vgl. den Beitrag von Tino Schölz zu Japan sowie ders., Gefallenenkult in Japan, Diss. Halle 2012. Vgl. den Beitrag von Stefan Rinke und Sylvia Dümmer Scheel zu Chile.

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Neugründungen im 20. Jh., egal ob monarchisch oder republikanisch verfasst, blenden das Schicksal des einzelnen Gefallenen lange Zeit aus.21 Von diesem Verschweigen aus Gleichgültigkeit sind sodann politisch begründete Überlagerungen zu unterscheiden. Hierbei ist vor allem an jene Länder zu denken, in denen eine national und staatlich konfigurierte Erinnerung überlagert und verdrängt wurde durch eine revolutionäre. Dadurch wird eine Hierarchisierung der Gefallenen ermöglicht, indem aus der Gesamtheit aller Toten jene herausgehoben und besonders oder ausschließlich geehrt werden, welchen ein Einsatz für die revolutionären Ziele zugesprochen wird. In allen großen Beispielsländern für moderne Revolutionen findet sich diese Differenzierung. In der Sowjetunion wurde nach 1918 die Erinnerung an den Weltkrieg und die in ihm Gefallenen völlig ausgeblendet, stattdessen dominierte ein Kult um den Bürgerkrieg und die Oktoberrevolution.22 Analog sind die ,,Nichtachtung“ der gefallenen Soldaten in China nach 1945 und die Vorherrschaft der staatsoffiziellen Erinnerung an die revolutionären Märtyrer in Vietnam zu bewerten.23 Diese Spannung zwischen nationaler Gleichheit und revolutionärer Elite findet sich bereits nach 1789 in Frankreich. Zwar wurde in den Debatten seit 1789 die Gleichheit von citoyen und soldat beschworen und die Separierung des Heeres von der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft heftig kritisiert, und mit der levée en masse gewissermaßen die Grenze zwischen Militär und Gesellschaft nivelliert. Doch ein Gefallenenkult, der alle Soldaten als Angehörige der Nation erinnerte, entstand in Frankreich weder in den Jahren der Revolution nach 1789 noch in der napoleonischen Zeit. Es blieb bei Vorschlägen, die jedoch nicht umgesetzt wurden,24 das realisierte Gefallenengedenken konzentrierte sich in den 1790er Jahren auf wenige revolutionäre Helden, unter Napoleon standen herkömmliche Formen wie die Erinnerung der Siege in den einzelnen Schlachten und Feldzügen im Mittelpunkt.25 Davon zu trennen sind Distanzierungen, in denen sich eine Gesellschaft in ihrer Erinnerungskultur dezidiert und bewusst von den vergangenen Sinnzuschreibungen abgrenzt. Deutschland nach 1945 mit dem vielfach postulierten Slogan ,,nie wieder Krieg“ als Botschaft der Gefallenen kann als exemplarisches Beispiel hierfür stehen. Niederlagen und politische Systemwechsel befördern derartige Abgrenzungsprozesse, eine explizite Distanzierung erfordert jedoch 21 22 23 24 25

Vgl. die Beiträge von Klaus Kreiser zur Türkei, von Ronen Zeidel u. a. zum Irak, von Shaun Malarney zu Vietnam. Vgl. den Beitrag von Guido Hausmann. Vgl. den Beitrag von Neil J. Diamant sowie den Beitrag von Shaun Malarney zu Vietnam. F. Folliot, Des colonnes pour les héros, in: Les architectes de la Liberté 1789–1799, Paris 1989, 305–322. Vgl. etwa Jörg Träger, Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes, München 1986; ders., Über die Säule der Großen Armee auf der Place Vendôme in Paris, in: Friedrich Piel u. Jörg Träger Hg., Festschrift Wolfgang Braunfels, München 1977, 405–418.

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eine besondere Radikalität des Bruchs und der Infragestellung der zuvor akzeptierten Deutungen. Nicht die Niederlage von 1918 und der Zusammenbruch der Monarchie führten in Deutschland zur Distanzierung von heroisierenden und nationalen Deutungen, sondern erst der vollständige Legitimationsverlust des Nationalsozialismus.26 Hier stellt Deutschland einen Sonderfall dar, vergleichbar scharfe Distanzierungen finden sich sonst – das sei als Hypothese formuliert – kaum. Stattdessen überwiegen Umdeutungen und stillschweigende Transformationen. So wurden in Japan nach 1945 etwa die Gefallenen des Krieges als Gefallene für den Frieden gedeutet und damit in die neue pazifistische Grundtendenz nach 1945 integriert, so wurde in Spanien nach dem Ende der FrancoDiktatur aus politischen Stabilitätserwägungen ein offener Bruch mit den tradierten Gedenkformen vermieden; so wurde im Irak nach 2003 und dem Ende der Diktatur Saddam Husseins keines der monumentalen Kriegsdenkmäler abgerissen (wohl aber die Personenstandbilder des Diktators), werden seit kurzem bestimmte Riten wieder praktiziert (etwa der ,,Tag der Armee“), und zu diesen impliziten Umdeutungen bei äußerer Kontinuität kommt die Thematisierung neuer Opfergruppen hinzu.27 Bei weitem am häufigsten jedoch sind Bestätigungen – der Tod der Soldaten wird als Bekräftigung der eigenen Ordnung, der eigenen Gemeinschaft gedeutet. Die Frage von Sieg und Niederlage tritt dahinter zurück. Langfristig stabile Deutungskontexte finden sich in vielen Ländern, die USA sind eines der prägnantesten Beispiele dafür, dass ganz unterschiedliche Kriege und damit auch Gefallene aus sehr divergenten Kontexten in ein vorherrschendes Deutungsmuster von universalistisch gedeuteten Freiheits- und Gerechtigkeitsbegriffen integriert werden können, das auf den Unabhängigkeitskrieg im 18. Jh. zurückführt.28 In England wie in Australien wiederum dominiert der Erste Weltkrieg bis heute die Erinnerungskultur und präfiguriert Gedenkmuster; trotz aller Variationen im Detail, trotz aller flexibeln Umdeutungen und Erweiterungen.29 Das Spezifikum des neuzeitlichen säkularen Totenkults 26

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Dabei sind die Grenzen zwischen Distanzierung und Verschweigen fließend. Die politische Distanzierung vom Nationalsozialismus hat in der Bundesrepublik – und analog in der DDR – nach 1945 zweifellos ein Verschweigen befördert; die Auseinandersetzungen über ein zentrales Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges sind ein Beispiel für die potentielle Verschränkung von Sinnverweigerung und einem Beschweigen der Kriegstoten; vgl. dazu Manfred Hettling, Militärisches Ehrenmal oder politisches Denkmal? Repräsentationen des toten Soldaten in der Bundesrepublik, in: Herfried Münkler/Jens Hacke (Hg.), Wege zur Bundesrepublik. Politische Mythen, kollektive Selbstbilder, gesellschaftliche Identitätspräsentation, Frankfurt 2009, S. 131–152. Vgl. die Beiträge von Carsten Humlebæk, Tino Schölz und Ronen Zeidel u. a. Vgl. den Beitrag von Michael Geyer; sowie G. Kurt Piehler, Remembering War the American Way, Washington 1995; James M. Mayo, War Memorials as Political Landscape. The American Experience and Beyond, New York 1988. Vgl. den Beitrag von Stefan Goebel und Joan Beaumont.

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– das Sterben begründet die Nation30 –, dürfte die Ursache dafür sein, dass sich der Totenkult in seinen Deutungsfiguren, Grundaxiomen und Wertbezügen als überaus stabil erweist. Ein Ausbrechen aus den historisch gewachsenen Deutungsformen scheint eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Die nach 1945 neu auftretenden Thematisierungen der zivilen Opfer des Krieges, und vor allem die Darstellungen des Holocaust haben zwar ästhetisch und interpretatorisch neue Formen hervorgebracht und sich einer Sinnverweigerung verschrieben. Doch darf man nicht übersehen, dass daneben im Totenkult für gefallene Soldaten die tradierten Deutungsvorgaben relativ ungebrochen weiterbestehen. Eine Vielzahl von Denkmalserrichtungen in der Gegenwart bestätigt diese Kontinuität, völlig unabhängig von der Frage ihrer ästhetischen Qualität oder Innovationskraft. Die Darstellungsformen des Totenkultes lassen sich in einem ersten Schritt danach unterscheiden, ob es sich eher um Aktivitäten ,,von oben“, d.h. staatlich institutionalisierte und organisierte Praktiken und Verfahren, oder um Aktivitäten ,,von unten“ handelt, die ohne direkte staatliche Beteiligung von Teilen der Gesellschaft initiiert und getragen werden. Im europäischen Vergleich treten die bekannten Unterschiede zwischen staatsbürokratischen und eher gesellschaftlich-selbstorganisierten Regulierungen auch in der Gestaltung des Gefallenengedenkens deutlich hervor. Während in Frankreich etwa staatliche Behörden die Errichtung von Denkmälern regulieren, gestalten und finanzieren, sind in den meisten englischsprachigen Ländern diese Tätigkeiten in ungleich höherem Maße an die Aktivitäten gesellschaftlicher Gruppen gebunden. So wird die neue zentrale Denkmalsanlage in England überwiegend durch private Spenden finanziert, in den USA gibt es gar keine zentrale, nationalstaatliche Denkmalsorganisation und in der Schweiz ist die Gedenklandschaft in hohem Maße regional und kommunal differenziert. Gesellschaftliche Aktivitäten, um Denkmäler zu errichten, Gedenkveranstaltungen zu organisieren, um die Erinnerung an die Gefallenen zu perpetuieren, werden insbesondere von zwei Gruppen getragen. Die ,,wehmütig-süße Pflicht“ der Grabpflege und Denkmalserrichtung sei, so Theodor Fontane in seiner Darstellung des Feldzugs von 1866, ganz im heroisierend-pathetischen und emotionalisierten Stil des 19. Jh. formuliert, ,,der Sorge der Waffengefährten und Familienangehörigen vorbehalten“.31 Beide sind durch besondere Beziehungen an die Gefallenen gebunden, beide dominieren zeit- und kulturübergreifend die Gedenkkultur. Die organisierten Formen und damit die gesellschaftliche Durchsetzungskraft dieser Interessentengruppen können indes deutlich variieren. Mit am stärksten etwa dürfte der Einfluss der Angehörigen 30 31

Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Ders./Jeismann, Der politische Totenkult, S. 9–20, hier S. 11. Theodor Fontane, Der deutsche Krieg von 1866 (1871), ND Düsseldorf 1979, Anhang S. 3.

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in Israel sein, dort spielen die ,,organisierten Hinterbliebenen“32 eine besondere Rolle, denn die offiziellen Formen des Erinnerns wurden durch sie, nicht durch staatliche Institutionen festgelegt. Ähnlich stark ist der Einfluss etwa in den USA, wo insbesondere in den Militärstandorten eine populare Gedenkkultur entstanden ist, welche private Angehörige und Veteranen in einer sehr stark lokalistisch geprägten Gedenkkultur vereint, und die umso bedeutender ist, da es kaum zentralstaatliche Formen gibt.33 In Deutschland wiederum spielten seit dem Kaiserreich vor allem die organisierten Kameraden, die Veteranen in den Kriegervereinen, eine wichtige Rolle bei der Errichtung der Denkmäler und der Gestaltung der Gedenkfeiern. Nach 1945 ist die Bedeutung der Veteranenverbände in der Bundesrepublik schnell fast völlig erodiert, im ,,Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge“ besteht eine indirekte, doch eindeutig zivilisierte Gedenkorganisation fort, welche Veteranen, Angehörige und aus unterschiedlichen politischen Gründen Interessierte zusammenbindet und – konzentriert auf die Grabpflege im Ausland – die wichtigste Organisation für das Gefallenengedenken wurde. Inwiefern diese Struktur auch auf die neuen Gefallenen (die alle in die Bundesrepublik überführt werden) übertragen werden kann oder soll, ist aktuell eine offene Frage. Im 20. Jh. schleifen sich auch typische Differenzen in der Gestaltung des Gedenkens zwischen den ,,Kameraden“ und den privaten Angehörigen immer mehr ab. Die binnenmilitärische Erinnerung herkömmlicher Weise war auf besondere Qualitäten wie Tapferkeit, Treue, Ehre, Pflichterfüllung ausgerichtet, das familiale Erinnern konnte demgegenüber eher Trauer, Verlust, Schmerz darstellen, ohne würdigende und patriotische Elemente auszublenden. In der Gegenwart tritt jedoch der dominante Bezug des individuellen Erinnerns immer mehr in den Vordergrund, unabhängig von der Bezugsgruppe. Die Nennung des Namens, die Sichtbarmachung des Einzelnen und des Einzelschicksals als Bemühen gegen ein Vergessen prägt viele der gegenwärtigen Erinnerungsformen. Namensnennung und oft auch das Bild des Gefallenen, inzwischen oft auch im Internet, spiegeln den Trend der Individualisierung. Ästhetisch findet sich eine große Bandbreite, der Name kann in dauerhaften Materialen sichtbar gemacht werden, oder gerade auch in vergänglichen Darstellungsformen wie Lichtprojektionen; eine Besonderheit, bei der sich Namensprojektion und religiöse Bedeutung verschränken, ist in Japan ausgeprägt: Jeder einzelne Name muss im Schrein gespiegelt werden, damit die Seele des Gefallenen ins Jenseits geführt werden kann. Dieser Individualisierung korrespondiert eine Zurückhaltung in der Monumentalität – je mehr die Individualisierung der Erinnerung in den Vordergrund tritt, desto zurückhaltender und auch geringer dimensioniert werden die Denkmäler. So wie das amerikanische Vietnammemorial durch eine im Boden ver32 33

Vgl. den Beitrag von Maoz Azayahu zu Israel, S. 258. Vgl. den Beitrag von Michael Geyer zu den USA.

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senkte Mauer ,,nur“ die Namen präsentiert und damit den Fokus im Grunde ganz auf die gesammelten Einzelschicksale lenkt, sind Großbauten seltener geworden, oder finden sich häufig dort, wo die Individualisierung weniger ausgebildet ist als in anderen Ländern.34 Die Individualisierung des Gedenkens dürfte, so kann man neuere Erscheinungen in ganz unterschiedlichen Ländern deuten, zusätzlich einen Schub erfahren durch die Möglichkeiten des Internets. Dadurch sind die Präsentationen des Einzelnen für die Öffentlichkeit leichter möglich geworden, die Individualisierung wird gewissermaßen gelöst von einer Rückbindung an institutionalisierte Formen der Darstellung, welche zum einen aus Kostengründen notwendig war und zum andern immer auch als Regulierungskanal fungierte. Dennoch kommt einer physischen Versammlung der Überlebenden als Gedenkgemeinschaft nach wie vor große Bedeutung zu – in vielen Ländern haben sich spezifische Formen entwickelt und für das jeweilige nationale Selbstverständnis eine zum Teil immense Bedeutung erhalten. Trotz aller Möglichkeiten alter und neuer medialer Erinnerungsformen ist jeder Erinnerungsvorgang nach wie vor auch an Praktiken, d.h. an persönliche Kommunikation gebunden, und dadurch bilden die intensivierten Formen der Vergemeinschaftung nach wie vor eine wesentliche Grundlage des Totengedenkens. Diese Vergemeinschaftungen entstehen auch durch einen Bezug zu den Toten, im Umfeld des Begräbnisses.35 Zentrale Veranstaltungen verbinden dabei religiöse und politische Elemente (etwa in Trauergottesdiensten im christlichen Kontext oder Einschreinungsfeiern im buddhistisch-shintōistischen Japan). Eine besondere Rolle kann der Transfer des Gefallenen in die Heimat einnehmen, was in der Bundesrepublik – bisher – relativ provisorisch mit einer Aufbahrung und Entgegennahme des Leichnams in einer Halle am Flughafen in Köln vollzogen wird. In Kanada dagegen vollzieht sich der Heimattransfer in einem ritualisierten Geleitzug der jedes Mal von einem Stützpunkt in die Hauptstadt führt. Sowohl Privatpersonen als auch organisierte Gruppen (Veteranen, Feuerwehr, Polizei und andere) stehen Spalier und erweisen dem Soldaten die Anerkennung der Gesellschaft.36 In anderen Ländern wie Großbritannien oder Israel stellt sich gesellschaftliche Anteilnahme in Ritualen wie landesweiten Schweigeminuten dar. In den meisten Ländern existieren Gedenktage, entweder mehrere für einzelne Kriege oder diese Gedenkanlässe verschmelzen zu einem – wie z. B. in den Niederlanden, wo der Jahrestag der Befreiung von der deutschen Besatzung zum Nationalfeiertag (5. Mai) wurde, an dem auch der Toten aus den Dekolonisierungskriegen 34

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Vgl. die Beiträge zur Sowjetunion, zum Irak, zur Türkei und zu Vietnam – Großbauten finden sich insbesondere dort, wo es nicht zur gesellschaftlichen Praxis geworden ist, alle Gefallenen namentlich zu tradieren. Grabbesuche sind in aller Regel privatisiert und nicht mit größeren Versammlungen verbunden. Vgl. den Beitrag von Jonathan Vance zu Kanada.

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oder der Auslandseinsätze gedacht wird.37 Je heterogener und fragmentierter, je politisch kontroverser nationale Erinnerungen verlaufen, desto vielfältiger verläuft diese Gedenktagslandschaft, oder ein pluralisiertes Gedenken an Kriege und Kriegsopfer steht neben und hinter zentralen nationalen Gedenktagen wie dem 14. Juli in Frankreich oder dem 4. Juli in den USA. Und umgekehrt führen Erinnerungskonflikte in der Regel zu einer deutlich schwächer ausgebildeten Ritualisierung, was sich nicht zuletzt in Deutschland sowohl nach 1918 als auch seit 1945 beobachten lässt. Die Individualisierung des Gedenkens verbindet hier zwei Aspekte. Einerseits bekräftigt die Fokussierung auf den Namen jedes Gefallenen den unterstellten Kollektivbezug, entlastet aber zugleich alle Symbolisierungen des kollektiven Gemeinwesens. Wie im klassischen Bild des Leviathans ergibt die Versammlung der Namen ein dann unbestimmt bleibendes Abbild des Kollektivs. Was im Vietnammemorial in den USA eine ästhetisch innovative Ausdrucksform gefunden hat, findet sich in den Denkmälern seit dem 19. Jh. in einem kontinuierlich zunehmenden Ausmaß. Und andererseits geht die Individualisierung des Denkmals mit einer Individualisierung des Rituals einher: Der Besuch des Denkmals wird privatisiert, indem Familienangehörige, Kameraden, Nachbarn etc. auf Grund eines persönlichen Bezugs zum Gefallenen den Ort des Denkmals besuchen können. Hier verbindet sich die religiös eingebettete Trauer um den Angehörigen mit einer öffentlichen und säkularen Darstellung dieser Trauer, welche der Unterstützung der privaten Trauer dient. Die Liturgien der Gefallenenehrung differieren jedoch. Es gibt auch moderne westliche Gesellschaften mit einer breiten rituellen Einbettung, neben Kanada sind Israel, Großbritannien, Australien und die USA weitere Beispiele hierfür. Dabei fungieren aus der historischen Entwicklung entstandene Ritualisierungen als Vorgaben, die auch der Darstellung einer Anerkennung für gegenwärtige Gefallene dienen können. In anderen Ländern überblenden Vergegenwärtigungen von Gefallenen aus früheren Kriegen die Gegenwart, weshalb die neuen Toten kaum öffentliche Aufmerksamkeit erlangen, Polen ist hierfür ein Beispiel; oder es erfolgen mehr oder weniger erfolgreiche Rückgriffe auf frühere Ritualisierungen, wie etwa in Italien und Spanien. Religiöse Vorgaben

Wie der menschliche Tod gedeutet werden kann, welche Vorstellungen von einem Dasein nach dem irdischen Leben zur Verfügung stehen, wie der soziale Umgang mit dem Leichnam kodiert und geregelt ist – das wird bis in die Gegenwart durch religiöse Kodierungen bestimmt. Diese sind im christlichen, 37

Vgl. den Beitrag von Piet Kamphuis zu den Niederlanden.

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jüdischen, muslimischen, buddhistischen oder shintōistischen Kontext ganz unterschiedlich beschaffen, dennoch ist die Bedeutung der Religion für die menschliche Deutung des Sterbens und die gesellschaftliche Praxis des Bestattens universell. Auch die Säkularisierungswellen, die in vielen westlichen Ländern neue Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit den Toten hervorbrachten, haben diese tiefe Prägung durch religiöse Traditionen und Deutungen nicht obsolet werden lassen. Und dennoch, das sei als These zugespitzt formuliert: Die gesellschaftliche Thematisierung der und kollektive Erinnerung an die Gefallenen wird durch die politische Dimension dominiert. Hieraus erklären sich nationale und kulturelle Grenzen übergreifende Gemeinsamkeiten, über religiös zu erklärende Unterschiede hinweg. Man kann alle Beispiele des Totengedenkens – für militärische wie zivile Tote – mit einer idealtypischen Unterscheidung gliedern. Sind die Darstellungen, Grabplastiken und Denkmale prospektiv oder retrospektiv? Prospektive Ausdrucksformen thematisieren das Schicksal des Toten, der Seele, seines Geistes nach seinem irdischen Ende, nach dem Beginn der Vergänglichkeit des leblosen Körpers – Jenseits, Himmel, Paradies, Totenreich, Unterwelt und die Chancen des Verstorbenen in dieser anderen Welt werden hier imaginiert, in der ,,Versorgung der Toten“ liegt die Aufgabe der Sepulkralkultur. Retrospektive Ausdrucksformen – erstmals in der griechischen Antike auftretend – legen den Fokus auf das vergangene Leben des Verstorbenen, sie erinnern das vergangene Dasein anstatt die Zukunft des immateriellen Bestandteils des einzelnen zu verbildlichen. Hier steht das ,,Gedächtnis an die Toten“ im Mittelpunkt.38 Das ermöglicht es, ja erzwingt es unter bestimmten Voraussetzungen, ,,Männern, die ihren Wert durch ein Tun erwiesen haben, auch ihre Ehre durch Tun zu bezeugen“, wie Perikles in der Totenrede nicht nur den retrospektiven Charakter des Gefallenengedenkens beschreibt, sondern die Lebenden zusätzlich darauf verpflichtet.39 Mehrere große Weltreligionen haben besondere Privilegierungen für die im Kampf Gefallenen entwickelt. Die Kreuzzüge wurden vom Christentum als ,,heilige Kriege“ beschworen, welche dem Teilnehmer Sündenerlass und den Eingang ins Paradies verhießen. Im Islam gibt es den Dschihad und den Märtyrer, mit deutlichen Unterschieden zum christlichen Verständnis.40 Dadurch wurde – und wird – eine besondere Aufwertung des Todes im Kampf ermöglicht, jedoch ist damit nicht per se eine Erinnerung der in diesem Kampf Gefallenen verbunden. Die prospektive Funktion (Erlangung des Seelenheils 38 39 40

Diese Unterscheidung nach Erwin Panofsky, Grabplastik, Köln 1964, vor allem S. 18f. und passim. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, S. 139. Carsten Colpe, Der ,,Heilige Krieg“. Benennung und Wirklichkeit, Begründung und Widerstreit, Bodenheim 1994.

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durch den Kriegstod für einen ,,heiligen“ Zweck) kann für sich stehen und erfordert keine Erinnerung. In der Gegenwart findet sich eine derartige, explizit religiös begründete Aufwertung des Todes im Krieg vor allem im Kontext des Islam. So ist in der Türkei die Bezeichnung ,,Glaubenszeugen“ (şehîd) üblich, sowohl für die Gefallenen des Osmanischen Reiches als auch jene der Türkei, diese werden als Märtyrer geehrt, die den direkten Weg ins Paradies gefunden hätten. Das aber schließt eine öffentliche Trauer explizit aus, den Angehörigen ist vielmehr – religiös gesehen – Dankbarkeit für diese privilegierte Todesart vorgeschrieben. Eine Praxis umfassender Namensnennung und Denkmalserrichtung hat sich nicht etabliert.41 Im Irak gab es in der kurzen ersten Zeit der Unabhängigkeit, der Monarchie bis 1958, kaum Gefallene und keine eigenständigen Denkmäler. Die Denkmäler, etwa jene für den unbekannten Soldaten (1959, 1982), nutzten dann ganz offensiv den Märtyrerbegriff, verbanden aber religiösen und politischen Märtyrertod eng. Das religiöse Versprechen des Eingangs ins Paradies durch den Kriegstod war gekoppelt mit panarabischen oder nationalistischen, seit 1980 gegen den Iran gerichteten politischen Zielsetzungen. Auch hier kam es zu keiner umfassenden Nennung aller Gefallenen.42 Diese nicht vollzogene Individualisierung des Gedenkens unterscheidet diese Beispiele einer religiös motivierten Aufwertung des Kriegstodes von anderen Beispielen, etwa dem japanischen Kult. Dort hat sich im Staatsshintō in Verbindung mit der Nationsbildung seit dem letzten Drittel des 19. Jh. sowohl eine staatsreligiöse Aufwertung aller Gefallenen – die durch die Einschreinung im Yasukuni-Schrein eine Vergöttlichung und besondere Anbindung an den Tennō erfahren – als auch eine Erfassung und Erinnerung jedes einzelnen Gefallenen etabliert. Die religiös geformte Aufwertung des Kriegstodes, in der Regel als direkter Weg der Verstorbenen in die ,,besseren“ Areale des Jenseits imaginiert, ist also durchaus mit der Nation als politischem Programm zu verbinden. Doch die Individualisierung, verstanden als Anspruch, jeden einzelnen Angehörigen der Nation für seinen Tod zu erinnern und zu würdigen, ist zusätzlich gebunden an dessen Freiwilligkeit. Das steht im Mittelpunkt der europäisch-westlichen Diskussion über die Differenz und Verbindung von Soldat und Bürger um 1800,43 der Bürgerbegriff (egal ob als Bürger, citoyen, citizen etc.) implizierte den eigenverantwortlichen und selbständigen Entschluss zur Kriegsteilnahme und beförderte eine egalisierende Erinnerungspraxis. In Japan hingegen war weniger eine Bür41 42 43

Vgl. den Beitrag von Klaus Kreiser zur Türkei. Vgl. den Beitrag von Ronen Zeidel u. a. zum Irak. Vgl. für die revolutionär–emphatische Fassung in Frankreich Kruse, Erfindung; Philippe Contamine, Mourir pour la patrie, in: Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire, II/3: La Nation, Paris 1986, S. 11–43; zu Deutschland vgl. den Beitrag von Manfred Hettling und Jörg Echternkamp.

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gersemantik als eine Transformation der Samuraiethik für die Akzentuierung der Freiwilligkeit ausschlaggebend. Der moderne japanische Totenkult integrierte und demokratisierte ständisch-adlige Prinzipien der Samurai als Kriegerstand in das neuzeitliche Militär innerhalb der Nation.44 Ein zentraler Grundzug der religiösen Aufwertung des Kriegstodes besteht im prospektiven Versprechen, dass die ,,Seele“ des Verstorbenen dadurch einen besonderen Platz – und besonders schnell – im Jenseits erlangt. Dieses Versprechen einer zukünftigen Stellung wird in nationalen Deutungen vom Individuum auf das Kollektiv transferiert – der Tod des Einzelnen verhilft der Nation zu erwünschter Entstehung, Befreiung, Unabhängigkeit, Sicherheit etc. Geehrt werden dann jene, ,,who here gave their lives that that nation might live“, wie Lincoln es 1863 in der ,,Gettysburg Address“ ausdrückte.45 Oder, anders formuliert, die Gefallenen sind das ,,silberne Tablett“, auf dem die Nation, die Nationalstaatsgründung, serviert wird, so eine Formulierung aus dem israelischen Zionismus.46 Nationale Deutungsbedingungen

Die unterschiedlichen historischen Entwicklungspfade von Nations- und Staatsbildung mit ihren zum Teil sehr divergenten Prägungen bestimmen die Erscheinungsformen des Gefallenengedenkens in entscheidendem Maße. Die heute etwa 200 Staaten auf der Welt, die sich im Rahmen der UN eine beratende und keine regierende suprastaatliche Bühne geschaffen haben, sind alle das Ergebnis von historischen Entwicklungen, in denen diese staatlichen und nationalen Handlungseinheiten entstanden sind. Die Art dieser Genese, die Form und Intensität auch immens gewalthafter Konflikte haben langfristig wirkende und erstaunlich dauerhafte Deutungsbedingungen für den Soldatentod geschaffen. Zu denken ist an dynastische Kriege zur Gebietserweiterung wie an nationale Erhebungen gegen dynastische Begrenzungen (und die vielfältigen Mischformen zwischen beiden), an nationale Unabhängigkeitskriege gegen fremde Mächte, an konfessionelle, politische, ethnische Bürgerkriege, an strategisch, imperial, bündnispolitisch, innenpolitisch oder wie immer motivierte Einsätzen in Gebieten weit jenseits des eigenen Staatsgebiets, in erobernder, disziplinierender, pazifizierender oder anderer Absicht. Und nicht zuletzt ist an die Bedeutung der Erfahrungen von Sieg oder Niederlage in den großen Auseinandersetzungen wie den Weltkriegen im 20. Jh. zu erinnern. Mit den ,,neuen Kriegen“ sind in der Gegenwart Formen von Gewalt erneut ins öffentliche Bewusstsein getreten, für die es durchaus analoge Beispiele 44 45 46

Vgl. Tino Schölz, Diss. Halle 2012; Eiko Ikegami, The taming of the samurai. Honorific individualism and the making of modern Japan, Cambridge/Ma 1995. Gerhard, Abraham Lincoln und die Sklavenbefreiung, S. 60. Zit. nach dem Beitrag von Maoz Azaryahu, S. 256.

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in früheren historischen Epochen gibt.47 Trotz der vielen Formen globaler Verflechtung manifestiert sich Gefallenengedenken stets in nationalen und staatlichen Kontexten. Gekämpft und gestorben wird innerhalb der politischen Handlungseinheiten, das bestimmt die Gedenkkulturen bis heute. Die Gefallenen werden durch die politischen Gemeinwesen erinnert, die den Einsatz beschlossen haben. Auch das erweist sich als formale Kontinuität über die Epochen hinweg. Nicht Staatenbündnisse, nicht situativ geformte Allianzen sind die Träger der Erinnerung, sondern das politische Gemeinwesen. Schon bei den Perserkriegen der Griechen, als die griechischen Poleis innerhalb einer vereinten strategischen Planung agierten und die Auseinandersetzung als prinzipiellen Konflikt zwischen Griechen und Persern wahrnahmen, wurden die Toten der Schlachten getrennt nach Poleis begraben. Auch nach den Kriegen des 19. und 20. Jh., sowohl nach begrenzten internationalen Aktionen wie der Niederschlagung des Boxeraufstands als auch nach den Weltkriegen, verblieben das Gefallenengedenken und die Kriegserinnerung innerhalb der nationalstaatlichen Verfasstheit. Auch die heutigen Einsatzformen in supranationalen Konstellationen (jenseits situativer Bündnisse aus westlicher Sicht die NATO, global gesehen die UN, oder jeweils ad hoc gebildete Bündnisse verschiedener Staaten) haben bisher die Gedenkkultur kaum verändert. Es gibt nur in einzelnen Ländern zusätzliche Denkmäler für die in UN-Einsätzen oder analogen Konstellationen ums Leben Gekommenen.48 Doch werden die Gefallenen jener Einsätze, die mit einem UN-Mandat ausgeführt werden, noch immer ganz selbstverständlich im jeweiligen national-staatlichen Verband und damit in den sehr unterschiedlich geprägten nationalen Erinnerungsräumen erinnert. Die Vereinten Nationen verfügen zwar über einen – bisher keine besondere Resonanz findenden – Gedenktag für die peace keeping forces, dem 29. Mai, der 2002 beschlossen wurde sowie seit 1997 über eine Dag Hammersköld-Medaille, nicht aber über eigene monumentale Erinnerungsformen für die in ihrem Namen gefallenen Kombattanten. Die Ehrungsversuche der UN sind bisher nicht an die Stelle, nicht einmal in Konkurrenz zu den nationalen Erinnerungsformen getreten.

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48

Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek4 2003; Mary Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt ²2007; dagegen betonen andere wie Dieter Langewiesche, dass die Kolonialkriege des 19. Jh. ganz analoge Erscheinungsformen von Gewalt waren; ders., Wie neu sind die ,,Neuen Kriege“? Eine erfahrungsgeschichtliche Analyse, in: Georg Schild/Anton Schindling (Hg.), Kriegserfahrungen, Paderborn 2009, S. 289–302. Vgl. etwa die Beiträge zu Kanada, Finnland und den Niederlanden.

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Insofern kann man zwar unterschiedliche Formen kriegerischen Handelns (Staatenkrieg, Bürgerkrieg, Auslandseinsatz) typologisch differenzieren – das Gedenken an die gefallenen Soldaten ist durch diese Differenzierung in seinen ästhetischen Ausdrucksformen und inhaltlichen Topoi jedoch kaum zu unterscheiden. Kriege bedingen die Gedenkformen jedoch über die Bedeutung, die der kollektiven Gewalt für die Geschichte des Gemeinwesens, der Nation, der staatlichen Ordnung und der Verfasstheit der Überlebenden zugesprochen werden. Damit erweisen sich historische und politische Grundkonstellationen als prägende Faktoren, die bestimmte Pfade des Gedenkens eröffnen und Entwicklungen von einer erstaunlichen Beharrlichkeit anstoßen. Die nationalen Unterschiede in der Traditionsbildung und die daraus resultierenden unterschiedlichen Formen der Erinnerung an die gefallen Soldaten lassen sich nicht zuletzt durch eine Analyse der jeweiligen Semantiken zeigen. So haben sich beispielsweise in den jeweiligen Ländern und Sprachen verschiedene Begriffe herausgebildet, um jene Gattung von Denkmälern zu bezeichnen, die in Deutschland seit dem 19. Jh. ,,Kriegerdenkmal“ hießen. Die deutsche Bezeichnung ,,Kriegerdenkmal“ erweist sich im Vergleich als singulär. Nur in der Schweiz gibt es mit der Bezeichnung ,,Wehrmännerdenkmal“ eine analoge Wortschöpfung, welche die Tätigkeit der Gewaltausübung in einer neuen Sprachschöpfung zum Ausdruck bringt und mit einem potentiell positiv konnotierten Wort verbindet. In den meisten anderen Sprachen greift der Begriff entweder auf den Terminus ,,Krieg“ oder ,,Gefallene“ zurück, bis hin zu einem allgemeinen ,,Denkmal für die Toten“ im Französischen (monument aux morts), oder es scheint sich keine besondere Bezeichnung jenseits eines unspezifischen ,,Denkmals“ entwickelt zu haben. Es haben sich jedoch – bezogen auf die in diesem Band versammelten Länderbeispiele – drei anders konturierte Begriffsbildungen ausgebildet. – Zum ersten spiegelt im Japanischen (,,Stein für die loyalen Seelen“) die

Bezeichnung für die Gedenkobjekte den zentralen Bezug der Bindung an eine Person, an den Tennō. Loyalität bis in den Tod, ja die Bereitschaft, eher Selbstmord zu begehen als sich in Gefangenschaft zu begeben, steht im Kern des japanischen Totenkults. Insofern bringt der Begriff nicht die Tätigkeit, sondern die grundlegende innere Anforderung an den Einzelnen zum Ausdruck. In Japan wurde die vormoderne adlige Kriegerethik der Samurai im Zuge der Nationsbildung und der neuen Militärverfassung verallgemeinert und als Erwartung an jeden Bürger gerichtet. Die Bezeichnung für die Denkmale hebt insofern genau diese Besonderheit der japanischen Nationalstaatsbildung hervor.

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– Zum zweiten findet sich in islamischen Gesellschaften, hier dient die Tür-

kei als Beispiel,49 eine Terminologie, welche auf religiöse Bezüge und dabei vor allem die Vorstellung des Blutzeugen, des Märtyrers zurückgreift. So werden die säkularen ,,Gefallenen“ ganz allgemein mit diesem religiöse Vorstellungen einschließenden Begriff bezeichnet, im Türkischen überträgt sich das (im Unterschied zum im Irak gesprochenen Arabischen) auch auf die Bezeichnung für die ,,Denkmale“. Damit wird auf eine der Nation und dem säkularen Staat übergeordnete Ebene Bezug genommen, welche – prospektiv – Deutungsangebote für das Schicksal des ums Leben gekommenen impliziert, aber nicht unbedingt eine erinnernde Würdigung jedes Einzelnen einschließt und auf Grund des religiösen Versprechens die öffentliche Darstellung und den rituellen Ausdruck von Trauer eher begrenzt.50 Der Begriff ,,Märtyrer“ befördert dabei eine Hierarchisierung der Gefallenen, denn in islamischen Gesellschaften ist – im Unterscheid zu den christlich-westlichen Nationalstaaten – eine die individuelle Gleichheit aller Gefallenen betonende Erinnerung deutlich geringer. Der Begriff Märtyrer erzwingt anscheinend geradezu eine Differenzierung der Toten, nur so kann eine religiös oder politisch gefärbte Vorbildfunktion damit verbunden werden. – Zum dritten findet sich in asiatischen Ländern zwar ebenfalls der aus dem Japanischen stammende Begriff lieshi, der in der Regel mit ,,Märtyrer“ übersetzt wird. Das ist jedoch insofern missverständlich, als der Begriff ohne religiöse Konnotationen und Deutungskontexte besteht. Seine erste Prägung erhielt das Wort in der Mitte des 19. Jh. in Japan, es bezeichnete ,,loyale Patrioten“, die ihr Leben für den Tennō und damit für die nationale Revolution zu geben bereit waren. Später wurde der Begriff in anderen asiatischen Ländern aufgegriffen und konnte sowohl das besondere Eintreten für die nationale Unabhängigkeit bzw. Einigung als auch für die sozialistische Revolution bezeichnen. Lieshi, wörtlich als ,,glühender Krieger“ zu übersetzen, konnten daher später leicht das Eintreten für Staat, Volk oder Partei bezeichnen. In dieser Bedeutung findet sich die Bezeichnung nach der historischen Genese im Rahmen der japanischen Nationalstaatsbildung dann im 20. Jh. auch in Korea, Taiwan, Vietnam, China etc.51 49

50 51

Im Irak jedoch hat sich eine andere Bezeichnung etabliert. Ob das sprachliche Gründe hat, die am Arabischen liegen, oder mit der anderen Nationsbildung und der kolonialen Überformung durch das britische Empire zusammenhängen, kann ich nicht beurteilen. Vgl. den Beitrag von Klaus Kreiser zur Türkei. Vgl. dazu Tino Schölz, Diss. Halle 2012; die konfuzianische Tradition behinderte eher eine Würdigung der Gefallenen, da die Pietät gegenüber den Eltern als zentraler Wert angesehen wurde und durch den gewaltsamen Tod die Verbindung mit den Ahnengenerationen unterbrochen würde; erst im Neokonfuzianismus erfolgte eine Aufwertung der Loyalität als zentraler Tugend, welcher dann im japanischen Gefallenenkult in der Bindung an den Ten-

32

Manfred Hettling

Der deutsche Terminus ,,Kriegerdenkmal“, dessen Genese etwas ausführlicher erläutert werden soll, erwuchs aus dem nationalen Aufbruch gegen die napoleonische Besatzung und speiste sich zugleich aus einem emphatischen Rekurs auf die bürgerliche Teilhabe am Krieg, die sich gegen eine ständische Differenzierung richtete. Diese Dimension des Bürgerlichen blieb jedoch schwach und wurde überlagert durch die Betonung des kämpferischen Elements. Die Teilhabe des Einzelnen am Geschick der Nation ging also nicht in der zivilen Eigenschaft des Bürgers in die Begrifflichkeit ein, sondern in der nichtzivilen Qualität des Kriegers. Der Begriff ,,Kriegerdenkmal“ entstand erst sehr spät im 19. Jh., er setzte sich im und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg durch. Seither war er die gängige Bezeichnung für Denkmäler für Militärpersonen. ,,Krieger“ bietet als Begriff zwei Unterscheidungen gegenüber ,,Soldat“. Im Sprachstil ist es der höhere – wenn man will: erhabene – Begriff für Soldat, zum andern ermöglicht es die Unterscheidung gegenüber denjenigen, die noch Teil des Militärs sind. Seit 1815 hat sich ,,Krieger“ eingebürgert, um die Veteranen zu bezeichnen. Der Begriff ,,Krieger“ (und ,,Kampfgenosse“) findet sich in vielen Memoiren, die die Zeit um 1813 schildern. ,,Krieger“ betont den Kampf, ist explizit weiter gefasst als nur Militärangehöriger im engen Sinne und wurde im frühen 19. Jh. populär, um die kämpfende Teilhabe von Zivilpersonen auszudrücken. Der Begriff impliziert auch eine Freiwilligkeit, die zeitgenössisch im Begriff Soldat nicht enthalten war – oder nur im engeren Begriff des Söldners oder für eine ständische Sondergruppe, den (meist adligen) Offizier.52 In Deutschland hat sich ,,Krieger“ dann über die ,,Kriegervereine“ durchgesetzt, die als ein wichtiges Scharnier zwischen Militär und ziviler Gesellschaft fungierten. Nach 1815 entstanden in Preußen zahlreiche Vereine von ehemaligen Kriegsteilnehmern der Jahre 1813 bis 1815. Seit einer Kabinettsordre Friedrich Wilhelms IV. 1842 wurden diese Vereine ,,Krieger-Begräbniß-Vereine“ genannt, seit 1848 bezeichneten sie sich selber als ,,Kriegerverein“ oder ,,Veteranenverein“, manchmal auch nur ,,Militärverein“.53

52

53

nō eine zentrale Bedeutung zukam. Zu Beispielen für ,,revolutionäre Märtyrer“ in China und Vietnam vgl. die Beiträge von Neil J. Diamant und Shaun Kingsley Malarney. Nur in England erlangte ,,warrior“ ebenfalls Bedeutung, neben dem lange ständisch negativ konnotierten ,,soldier“. Der in London 1920 begrabene Unbekannte war ein ,,Unknown Warrior“, in den anderen englischsprachigen Ländern – von den USA 1921 bis Australien 1993 – hingegen ein positiv verstandener ,,unknowm soldier“. Konzentriert auf Vorstellungen von Ritterlichkeit (im Sinne von edel, zivilisiert – nicht kriegerisch) wurden in England mit diesen Deutungen der Militärdienst und der Kriegstod aufgewertet und in den Mittelschichten popularisiert, denn der Soldat stammte traditionell aus der Unterschicht; vgl. den Beitrag von Stefan Goebel; Ken Inglis, Grabmäler für unbekannte Soldaten, in: Christoph Stölzl Hg., Die neue Wache unter den Linden, Berlin 1993, 150–71. Eckhard Trox, Militärischer Konservativismus. Kriegervereine und ,,Militärpartei“ in Preußen zwischen 1815 und 1848/49, Stuttgart 1990, S. 41. Das Grimmsche Wörterbuch

Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung

33

Der Begriff ,,Kriegerdenkmal“ war im frühen 19. Jh. noch nicht gebräuchlich. Das Kreuzbergdenkmal, 1821 eingeweiht, das erste nationale Denkmal in Preußen für 1813, wird zeitgenössisch meist als ,,Kriegs-Denkmal“ bezeichnet – auch von Schinkel selber –, neben anderen Bezeichnungen wie ,,Nationaldenkmal“, ,,Volks-Denkmal“, ,,Kreuzbergdenkmal“, ,,Denkmal auf dem Kreuzberge“, ,,Siegesdenkmal“.54 Kriegsdenkmal steht damit nach 1800 noch in Analogie zum Englischen war memorial – ein Indiz, dass sprachlich im Deutschen seither eine Sonderentwicklung stattgefunden hat. Einen eindeutigen Begriff für diese Art von Denkmälern scheint es um die Jahrhundertmitte noch nicht gegeben zu haben, deshalb wurden die großen, zentralen Denkmale eher nach Spezifika benannt (Kreuzbergdenkmal, Invalidensäule), die kleinen, lokalen Denkmäler meist als ,,Denkmal“ oder ,,Monument“. Noch in den Einigungskriegen der 1860er Jahren scheint der Begriff ,,Kriegerdenkmal“ unüblich gewesen zu sein, stattdessen verwandte man das neutrale ,,Denkmal der …/für … “. Die zeitnah errichteten Denkmäler sind sehr oft Angehörigen von militärischen Einheiten gewidmet, oder Einwohnern einer Stadt. Auf den Schlachtfeldern finden sich Denkmale (die meist zugleich Gräber sind) wie etwa ,,Denkmal des 2. Magdeburger Infanterie-Regiments Nr. 27“, oder ,,Denkmal für die Gefallenen des … “, in den Städten lautet die Bezeichnung dann ,,Denkmal für die Gefallenen der Stadt Halle a.S.“.55 Erst nach 1918 setzte sich der Begriff ,,Kriegerdenkmal“ im Deutschen durch. Während des Weltkrieges war das ältere ,,Kriegs-Denkmal“ noch gebräuchlich, die Bezeichnung ,,Krieger-Denkmal/Kriegerdenkmal“ wurde jedoch parallel verwendet und verdrängte die ältere Wortkonstruktion bald völlig.56 Im Natio-

54

55 56

weist keinen Eintrag ,,Kriegerverein“ auf, notiert aber unter ,,Krieger“: ,,ausgediente soldaten bilden zu ihrer geselligkeit keine soldaten- sondern kriegervereine, lieber auch als militairvereine; letzteres würde wol zu ,militairisch‘ klingen, als handelte es sich dabei noch um militairsachen, aber im ,kriegerverein‘ ist der reine begriff gewonnen frei von schlacken. auch zu komischen zwecken dient übrigens ,krieger‘ für ,soldat‘“. (Bd. 11, Sp. 2256). Michael Nungesser, Das Denkmal auf dem Kreuzberg von Karl Friedrich Schinkel, Berlin 1987, S. 118, 123f. und S. 126 (Kriegs-Denkmal), S. 123 (Nationaldenkmal), S. 124 und S. 128 (Volks-Denkmal), S. 133 (Kreuzbergdenkmal); Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, hg. von Dorothea Schmidt, Berlin 1990, 2 Bde., hier II, S. 582 (Siegesdenkmal). Die Denkmäler, in: Theodor Fontane, Der deutsche Krieg von 1866, Bd. 2, Berlin 1871, Anhang. Anon., Kriegsdenkmäler. Die beim Wettbewerb des K.K. Ministeriums für Kultus und Unterricht durch Preise oder ehrende Anerkennung ausgezeichneten Entwürfe. Neunzig Bilder und Pläne mit erklärendem Text und einer Einleitung, Wien 1916; Kriegergrabmal und Kriegerdenkmal. Führer durch die 20. Ausstellung des Freien Bundes, Mannheim 1916; Soldaten-Gräber, Krieger-Denkmäler, Erinnerungszeichen, Entwürfe und Vorschläge, hg. vom Bayrischen Kunstgewerbe-Verein München, München 1916; Inschriften der KriegerGrabsteine und Krieger-Denkmäler, München 1916.

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Manfred Hettling

nalsozialismus erfolgt eine semantische Steigerung zu ,,Ehre“, 1941 vermerkt der Brockhaus ,,Kriegerdenkmal, Ehrenmal für im Krieg Gefallene“.57 Nach 1945 wird in Lexika unter ,,Kriegerdenkmäler“ auf das distanzierendere ,,Gefallenendenkmäler“ verwiesen und der Bezug zum Militär abgeschwächt; seit den 1970er Jahren findet der Begriff ,,Mahnmal“ zunehmend Verbreitung. Darin verschwimmen die Grenzen zwischen zivilen und militärischen Toten. Das Wort – wie es scheint, nur im Deutschen gebräuchlich – wird hierzulande von vielen inzwischen generell als Titulierung für Denkmäler für Kriegstote verwendet, es projiziert die Gegenwartsdeutung auf die Vergangenheit zurück. Der Begriff ,,Kriegerdenkmal“ verallgemeinert im Deutschen eine Bindung an den Kämpfenden. Weder der Krieg steht im Mittelpunkt (wie im Englischen war memorial) noch der Tod (wie im Französischen monuments aux morts), sondern der Einzelne als Kämpfender. Nach 1945 tritt diese Konzentration auf den militärischen Kämpfer zurück, stattdessen rückt der Begriff ,,Gefallenendenkmal“ das Sterben in den Mittelpunkt. Der Begriff ,,Gefallene“ wurde in der frühen Nachkriegszeit in der Bundesrepublik dabei sowohl für militärische wie zivile Tote verwandt, verschwand dann völlig aus dem Sprachgebrauch und wird inzwischen wieder zunehmend für die Toten des Auslandseinsatzes in Afghanistan benutzt.58 Die Formulierung ,,Gefallener“ setzte sich um 1800 parallel zur Aufwertung des militärischen Einsatzes für die Nation durch. In dem Maße, wie die ständische Differenzierung abgeschliffen wurde und an Stelle von Zwangsrekrutierung und äußerer Disziplinierung Bereitwilligkeit und Engagement erwartet wurde, veränderte sich auch die Bezeichnung für die Getöteten. 1793 etwa trat das Kurfürstentum Hannover in den Krieg gegen das revolutionäre Frankreich ein. Bei den Rekrutenaushebungen gab es Widerstände, von patriotischer Teilhabe war weder die Rede noch etwas zu spüren. Angesichts der Verluste ordnete der König an, ein Verzeichnis an ,,todtgeschossenen Mannschaften und Pferden“ zu erstellen. Als eine derartige Zusammenstellung veröffentlicht wurde, verwendete man neutralere Bezeichnungen wie ,,Gebliebene“ und ,,Gestorbene“ für die ,,mit dem Tod abgegangenen“ Soldaten. Diese individualisierenden Toten57

58

Als Beispiele werden genannt das Tannenbergdenkmal, das Denkmal im Hofgarten in München, die Neue Wache, das Marineehrenmal in Laboe, die Heldenorgel in Kufstein, das Heldendenkmal in Wien; Der Neue Brockhaus, Allbuch in vier Bänden, Bd. 2, Leipzig 1941, S. 749. Meyer (8. Aufl., Leipzig 1938, Bd. 5) verweist unter ,,Kriegerdenkmal“ auf ,,Grabmal“. Seine Fortsetzung fand das im bundesdeutschen Sprachgebrauch in der Akzentuierung des ,,Opfers“, der Begriff ,,Gefallene“ wurde später wieder eindeutig als Bezeichnung für getötete Militärangehörige verstanden. Die bundesdeutsche Gedenkkultur hat seither mit ,,Mahnmal“ einen Begriff in den Vordergrund gerückt, welcher die passiven Opfer kriegerischen Handelns thematisiert und Krieg an sich ablehnt.

Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung

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listen waren neu, sie setzten sich jedoch sehr schnell allgemein durch.59 Als der preußische König Friedrich Wilhelm III. dann 1813 die Errichtung von Gedenktafeln für alle im Feldzug ihr Leben Verlierenden befahl, griff er auf die neue Bezeichnung zurück. Er ordnete an, die ,,Namen aller Gefallenen“ aus einer Gemeinde auf kommunale Kosten in Gedenktafeln in Kirchen zu erinnern.60 Das Gedenken an den klassischen Staatenkrieg stellt in der Regel die Einheit des eigenen Gemeinwesens in den Mittelpunkt, die Repräsentation des gewaltsamen Todes dient dabei der Legitimierung der politischen Handlungseinheit. Gerade die Erfahrungen und Deutungen, die Länder wie Kanada oder Australien mit ihrer Teilnahme an den beiden Weltkriegen verbunden haben, bestätigen diesen Zusammenhang, auch über die große geographische Entfernung von Heimatland und Kriegsgebiet hinweg.61 Im Unterschied hierzu zwingt jede Erinnerung an den gewaltsamen Tod im Bürgerkrieg dazu, die Differenz zwischen eigen und fremd anders – und schärfer – zu ziehen. Denn die Frontlinie der Kombattanten im Bürgerkrieg verläuft immer quer zur unterstellten und zugleich in Frage gestellten Gemeinsamkeit als Nation oder politischem Verband. Die Erinnerung an den Bürgerkrieg ist deshalb immer zuerst eine Deutung der Sieger, welche die Verlierer demütigt, entwertet, sie in der Erinnerung verdrängt, umerzieht, vor allem aber unsichtbar macht. In der langfristigen Perspektive stellt sich dabei die Frage, ob die Verlierer dauerhaft aus der Erinnerung ausgeschlossen bleiben und damit nicht nur machtpolitisch unterliegen, sondern auch kulturell zum Verstummen und gesellschaftlich zum Verschwinden gebracht werden – oder ob nach Generations- oder Systemwechseln eine Umdeutung erfolgt und sich eine neue Perspektive auf den vergangenen Bürgerkrieg eröffnet.62 Die Kolonialkriege, oder, allgemeiner formuliert Auslandseinsätze, haben sich – hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Gedenkformen – selten als prägend erwiesen.63 Eine Ausnahme stellt der Vietnamkrieg für die USA dar, der jedoch in Bezug auf die Zahl der amerikanischen Gefallenen (über 55.000, das entspricht mehr als 20 % der amerikanischen Gefallenen während des Zweiten Weltkriegs) und auch durch seine Einbettung in die Konfrontationslogik des Kalten Krieges und die damit verbundenen Gefährdungsinszenierung für das 59 60 61 62 63

Gerhard Schneider, ,,… nicht umsonst gefallen“? Kriegerdenkmäler und Kriegstotenkult in Hannover, Hannover 1990, S. 25. Gesetz-Sammlung Preußen 1813, Berlin 1814, S. 65; Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. 1, Heidelberg 1985, S. 75f. Vgl. die Beiträge zu Kanada und Australien. Vgl. die Beiträge zur Sowjetunion, zu Spanien, Chile und – partiell – auch zu den USA und China. Neue Kriege sind zuerst reflektiert bei Mary Kaldor, Neue und alte Kriege (1999), Frankfurt 2009; unterschiedliche Akzentuierungen bei Münkler, Die neuen Kriege und Langewiesche, Wie neu sind die ,,neuen Kriege“?, S. 289–302.

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Manfred Hettling

Tabelle 1: Übersicht: Sprachliche Variationen der Begriffe für ,,Gefallener“ und ,,Kriegerdenkmal“ Land

Bezeichnung für im Krieg getötete Militärperson

Denkmalsbezeichnung

Bezug

Deutschland

Gefallener (nur Militärpersonen)

Tod im Kampf1

Schweiz

Verstorbene2

USA/GB

fallen (= gefallen, als Adjektiv) mort (à la guerre) mort pour la France4

Kriegerdenkmal seit 1945 u. a. auch Gefallenendenkmal, Mahnmal Wehrmännerdenkmal/ Schlachtdenkmal (Kriege der mittelalterlichen Eidgenossen), Kriegsdenkmal war memorial (= Kriegsdenkmal) monument aux morts (= Denkmal für die Toten)

Tote durch Kriegsgewalt (nicht nur Militär)

monumento ai caduti (= Denkmal für die Gefallenen; seit 1914) monumento a los caídos (= Denkmal für die Gefallenen) in Lateinamerika: memorial (= Gedenkstätte) monumento a las víctimas (de la dictatura) (= Denkmal für die Opfer der Diktatur)

Tod im Kampf

Frankreich

Italien

caduto (= Gefallener)

Spanien/5 Lateinamerika

caídos (im/durch Kampf getötet; aktuell: auch Terroropfer) in Lateinamerika: víctimas (Opfer der Diktatur)

1

Angehörige der Miliz (der Bürger als Waffenträger)

Tod im Kampf3

Tote durch Kriegsgewalt (nicht nur Militär)

Um 1800, als der Begriff schnell üblich wird, wird anfangs noch unterschieden zwischen ,,gefallen“ und ,,verwundet und später daran gestorben“. Es gibt das umfassendere ,,Gebliebene“, doch setzt sich nach kurzer Zeit ,,gefallen“ durch als Bezeichnung für im Krieg ums Leben kommende (ohne Zivilisten einzuschließen). 2 Dieser Terminus ist bezogen auf die Toten der schweizerischen Armee im Grenzdienst. 3 Gebräuchlich ist für die den Tod im Gefecht die Bezeichnung ,,killed in action“. 4 Seit 1915 ist dies die offizielle Formel. 5 Der Sprachgebrauch in Chile etwa ist analog; nationale Unterschiede dürften im spanischen Sprachraum gering sein.

Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung

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Tabelle 1: (Fortsetzung) Land

Bezeichnung für im Krieg getötete Militärperson

Denkmalsbezeichnung

Bezug

Niederlande

gesneuvelde (Militärs) gevallene (Militärs und Zivilisten)

oorlogsmonument (= Kriegsdenkmal, kann militärische wie zivile Tote erinnern)

Tote durch Kriegsgewalt (nicht nur Militär)

Polen

polegli (= Liegengebliebene, Militärs und Zivilisten) pavšie (= Gefallene)

pomnik (= Denkmal, mit weiteren Differenzierungen)

nicht einheitlich

pamjatnik, memorial Nicht nur Militärs, sondern auch Zivilisten (Partisanen), die sich am Krieg beteiligten kaatuneiden bzw. sotavainajien6 muistomerkki (Gefallenen- bzw. Kriegstotendenkmal, wörtl. Erinnerungszeichen) sankarihautausmaa7 (Heldenfriedhof)

im Einsatz ums Leben gekommen

nasb (= Denkmal)

ursprünglich: Kampf gegen Ungläubige; verbreitet als Bezeichnung für Gefallene in Kriegen oder Bürgerkriegen8

Rußland

Finnland

kaatunut (= Gefallener)

Irak

shahid (= Märtyrer, Zeuge, im Kampf gegen Ungläubige ums Leben gekommen)

6

Tod im Kampf

Kaatunut bezeichnet einen im Kampf/Einsatz verstorbenen Soldaten aller Kriege. Sotavainija schließt auch nicht im Kampf/Einsatz Gestorbene mit ein, etwa in russischer Kriegsgefangenschaft verstorbene Soldaten oder zivile und militärische Bombenopfer bei der Bombardierung finnischer Städte. 7 Sankarihautausmaa (Heldenfriedhof) bezeichnet jeden speziell für die Gefallenen angelegten Friedhof in der Heimat. Auf örtlichen Friedhöfen sind Gefallene oft abgesetzt im sankarialue (Heldenbereich) bestattet. Kenttähautausmaa (Feldfriedhof) bezeichnet provisorische, durch die Truppe angelegte Friedhöfe nahe dem Kampfgebiet. 8 In Syrien bezeichnen bei den Aufständen gegen das Regime – seit 2011 – sowohl die Opposition als auch die Regierung ihre Toten als shahid (Märtyrer). Hinweis von Achim Rohde.

38

Manfred Hettling

Tabelle 1: (Fortsetzung) Land

Bezeichnung für im Krieg getötete Militärperson

Denkmalsbezeichnung

Bezug

Türkei (Osmanisches Reich)

şehîd (neutürk. şehit) (Märtyrer, Zeuge)

şehitlik (= Denkmal für Gefallene, auch Soldatenfriedhof)

Israel

Noflim (= Gefallen) Halalim (= getötet im Militärdienst oder durch Terror)

Andarta/ Mazevat Zikaron/ Gal’ed (= Denkmal, allgemeine Bezeichnung, nicht nur für militärische Denkmäler)

Tote im Krieg und bei Terroranschlägen, auch Polizisten in Ausübung ihres Dienstes Gefallene im Kampf Getötete durch zwischenstaatliche Gewalt (Militär und Zivil)

Japan

eirei

bis 1945: chūkon-hi

(= Heldenseele) senbotsu-sha

(Stein für die loyalen Seelen) seit 1945: irei-hi

英霊

戦没者

(= Gefallener, nur militärische Tote) China

慰霊碑

jinian pai

(= Soldaten, im Krieg getötet) wörtl: Kriegstod + Soldat lieshi

(= Denkmal) jinian-ta

战死兵士

(= Märtyrer, gebräuchlich für Soldaten und Zivilisten, die für die Revolution starben)

Loyalität zum Kaiser (meiyo no senshi) 名誉の戦死

Ahnenbefriedung

(Stein zur Besänftigung/ Tröstung der Seelen)

zhansi bingshi

烈士

9

忠魂碑

纪念牌 纪念塔

primär Tod für die Revolution (dann auch Zivilisten einschließend)

(= Gedenk-Pagode/Stele) beide i.d.R. Märtyrern gewidmet, erinnern aber auch Gefallene9

Obwohl etwa Shanghai durch die reguläre Armee zurückerobert wurde, gibt es am Märtyrerdenkmal (für die Märtyrer der Partei) keine Hinweise auf die ,normalen’ Soldaten; jedoch viele Tafeln, die an die illegalen Aktivisten der Partei erinnern, die in den 1920 und 30er Jahren in den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen ums Leben kamen; Hinweis von Neil Diamant.

Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung

39

Tabelle 1: (Fortsetzung) Land

Bezeichnung für im Krieg getötete Militärperson

Denkmalsbezeichnung

Bezug

Vietnam

liệt sĩ (= ,Märtyrer der Revolution‘; Tod in Kampfhandlungen hierfür entscheidend) tử sĩ (= ,Kriegstote‘, d.h. nicht im Kampf ums Leben gekommen) nạn nhân chiến tranh (= zivile ,Opfer des Krieges‘)

đài liệt sĩ (= Denkmal zur Erinnerung an ,revolutionäre Märtyrer‘) đài tượng niệm (= Denkmal zur Erinnerung an Kriegstote, für Soldaten wie Zivilisten)

Tod im Krieg

Interventionsland USA viele Ähnlichkeiten mit den klassischen Staatenkriegen aufweist. Doch die meisten Kolonialkriege des 19. Jh. haben nur begrenzt eigene Erinnerungsformen erzeugt, sehr oft wurden die Gefallenen in die Denkmale der Staatenkriege oder in die Regimentsdenkmäler integriert, die entstehenden Denkmäler blieben vereinzelt und erlangten selten größere öffentliche Aufmerksamkeit.64 Die nationalstaatlichen Gedenkkulturen wurden und werden durch die vergangenen wie aktuellen Auslandseinsätze nur begrenzt verändert und geprägt. Hier stellt Deutschland – und potentiell auch Japan und Italien – eine Besonderheit dar, als die historisch entstandene Deutungskultur des Soldatentodes durch die normative Distanzierung von der überlieferten Tradition geradezu in Vergessenheit geraten ist.

64

Vgl. Joachim Zeller, Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewußtsein. Eine Untersuchung der kolonialdeutschen Erinnerungskultur, Frankfurt 2000; Gesine Krüger, Vergessene Kriege. Warum gingen die deutschen Kolonialkriege nicht in das historische Gedächtnis der Deutschen ein?, in: Nikolaus Buschmann/Dieter Langewiesche (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt 2003, S. 120–37; Winfried Speitkamp, Kolonialherrschaft und Denkmal. Afrikanische und deutsche Erinnerungskultur im Konflikt, in: Wolfram Martini (Hg.), Architektur und Erinnerung, Göttingen 2000, S. 165–190.

40

Manfred Hettling

Fazit Der vorliegende Band vergleicht zwanzig einzelstaatliche Beispiele des Gefallenengedenkens. In der Auswahl sind sowohl die fünf großen Weltmächte mit enthalten als auch machtpolitisch gesehen eher randständige Staaten wie die Schweiz oder Chile; sowohl die wichtigsten Verliererstaaten des Zweiten Weltkriegs – Deutschland, Japan und Italien – als auch Staaten, die in den beiden Weltkriegen zu den alliierten Siegesallianzen gehörten – neben den vergangenen und aktuellen Weltmächten sind hier auch Staaten wie Australien oder Kanada mit Beiträgen versammelt. Die Auswahl greift bewusst über den westlicheuropäischen Rahmen hinaus, um nicht nur die Bedeutung antikolonialer Befreiungskämpfe (Vietnam) untersuchen zu können, sondern auch um Fragen nach der religiösen Prägung des Gefallenengedenkens in Vergleichen christlicher mit außerchristlichen Beispielen stellen zu können. Mit Israel, der Türkei, dem Irak, Japan, China und Vietnam werden die Einflüsse verschiedener Religionen (Judentum, Islam, Buddhismus, Shintōismus) auf die Gestaltungen des säkularen Gefallenengedenkens sichtbar. Religiöse Weichenstellungen und historisch-nationale Pfadgebundenheiten wirken bei aller Verschiedenheit in den einzelnen Bedingungen gleichsam als Korsett: Die Erscheinungsformen des Gefallenengedenkens sind einerseits gebunden an die Vorgaben der Religion und andererseits an die jeweiligen historischen Erfahrungen und Prägungen. Aus diesen Elementen setzt sich der national sehr verschiedene Ausdrucksformen annehmende Totenkult zusammen. Diese Bedingungen wirken zugleich als stabilisierende Faktoren, denn das Gefallenengedenken unterliegt in der Regel keinen schnelllebigen Veränderungen. Als Ergebnis der vergleichenden Betrachtung sind drei Elemente besonders hervorzuheben. Die Individualisierung des Gefallenengedenkens ist in allen westlichen Ländern – inklusive Japans – nachhaltig ausgebildet. Sie entstand aus zwei Quellen, einerseits dem Versprechen der Nation auf Gleichheit untereinander, und der Betonung der Freiwilligkeit des Einsatzes des Einzelnen für die Nation im Krieg. Umgesetzt für alle Gefallenen einer Nation wurde die monumentale Vergegenwärtigung der Namen jedes Einzelnen Gefallenen erstmals nach 1813 in Preußen. Die ,,Gedächtnistafeln“, die gemäß eines Befehls vom Mai 1813 nach Kriegsende in allen Kirchen des Landes aufgestellt wurden – und die gewiß keine revolutionäre Konnotation aufwiesen – sind deshalb das erste Beispiel eines konsequent individualisierenden Gefallenengedenkens in der Moderne.65 65

Vgl. den Beitrag zu Deutschland in diesem Band sowie ausführlicher dazu Manfred Hettling, Totenkult und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, erscheint München 2014. Dabei wurde auch in Preußen 1813 das Prinzip der Vollständigkeit an einer Stelle durch-

Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung

41

Langfristig scheint sich, das legen die Befunde nahe, ein genereller Trend in Richtung einer Erinnerung jedes einzelnen zu vollziehen; wobei jedoch durchaus noch deutliche Einschränkungen in verschiedenen Ländern zu verzeichnen sind. Sowohl im Kontext der islamischen Religion, wo ein religiöses Jenseitsversprechen im Kontext des politischen Totenkultes nach wie vor viel stärker ausgebildet ist als in Ländern mit christlichen Prägungen, als auch in sozialistischen Gesellschaften, die einem Revolutionskult verpflichtet sind, bestehen deutlich schwächere Tendenzen zu einer umfassenden individuellen Erinnerung jedes Gefallenen der Nation. Die Gleichheit, die hier zum Ausdruck kam, war vielmehr eine Mischung aus nationaler Teilhabe und herkömmlicher Untertanenloyalität. Nicht nur in China und Vietnam sondern auch in der Sowjetunion ist eine deutliche Hierarchisierung der Gefallenen zu beobachten, die ein umfassendes Gedenken aller Gefallenen zurückdrängte. In diesen Ländern werden die sozialistischen Helden, die Revolutionsmärtyrer als Vorbilder für alle beschworen und erinnert; der ,,normale“ Gefallene tritt in der öffentlichen Erinnerung in den Hintergrund und kann durchaus dem Vergessen erliegen. Revolutionäre Totenkulte akzentuieren demnach, so kann man hypothetisch zusammenfassen, trotz der Betonung politischer oder sozialer Gleichheit, weniger die Gleichheit des politischen Todes. Stattdessen zeichnen sie sich durch eine Differenzierung und Wertung des politischen Todes aus, die ,,Pantheonisierung“ eines Teils der Toten ist hier bezeichnend.66 Man kann geradezu von einem Nebeneinander von Nivellierung der Lebenden und Hierarchisierung der Toten sprechen. Als zentraler Gestaltungsfaktor erweist sich die historische Entwicklung, der jeweilige Pfad der Nationsbildung. Welcher Krieg, welcher Konflikt, welche Tote mit dem Entstehungsprozess des politischen Kollektivs besonders verbunden waren, prägen die Deutungskultur über einen langen Zeitraum hinweg. Das Gefallenengedenken entzieht sich jeglicher schnellen Umwandlung und kurzfristiger Transformation. Pfadänderungen in der Gedenkkultur sind in der Regel an fundamentale politische Umbrüche gebunden und entziehen sich einer leichten Beeinflussbarkeit. Der moderne, säkularisierte Totenkult innerhalb des Legitimationsrahmens der modernen Nation zeichnet sich aus durch die Verbindung des retrospektiven Elements des Erinnerns der Einzelnen und ihrer Leistungen mit der Übertragung des prospektiven Versprechens vom Seelenheil des Einzelnen auf das weltliche Kollektiv, auf die Nation.

66

brochen: die jüdischen Soldaten wurden in die staatlichen Maßnahmen zur Erinnerung der Gefallenen, die sich auf die christlichen Kirchen bezogen, nicht einbezogen. Vgl. Martin Papenheim, Erinnerung und Unsterblichkeit. Semantische Studien zum Totenkult in Frankreich, Stuttgart 1992, 287–301 zum Panthéon und generell zum Heldenkult der frühen Republik.

42

Manfred Hettling

Konzentriert man sich auf den Gefallenenkult, welcher die Soldaten in den Mittelpunkt rückt und die zivilen Opfer von Gewalt entweder verschweigt oder gleichsam in separate und eigenständige Erinnerungsformen und Denkmäler auslagert und sich auch auf die eigenen Toten konzentriert, dann relativiert sich ein Befund, den Koselleck wiederholt betont hat. Denn eine generelle Tendenz von sinnstiftenden hin zu sinnfordernden Erinnerungsformen findet sich im staatlichen Totenkult, der auf den toten Soldaten gerichtet ist, nicht. Hier steht nach wie vor und in den meisten anderen Ländern viel stärker als in Deutschland die Darstellung und Explikation einer Sinnhaftigkeit des gewaltsamen Todes für die Nation, für das Land, für die politischen Werte im Zentrum des Gefallengedenkens. In dem Maße, wie sich globale Spannungslinien seit den 1980er Jahren verschoben haben und eine mit der atomaren Selbstzerstörung der Welt drohende kriegerische Konfrontation zwischen Ost und West als Bedrohungsszenario verschwunden ist und sich stattdessen eine Multilokalität von Konflikten, unter dem Stichwort der ,,scheiternden Staaten“ in einigen Regionen eine zunehmende Begrenzung staatlicher Steuerungs- und Einhegungsmöglichkeiten abzeichnet und religiös und kulturell motivierter Terror zu einer neuen, Staatsgrenzen überschreitenden Bedrohung geworden ist, hat sich auch die Wahrnehmung von Krieg und gewaltsamem Tod verändert. Krieg ist in vielen westlichen Gesellschaften (wieder) selbstverständlicher geworden. Indem die Einsätze Gewalt verhindern oder begrenzen sollen, ist Krieg wieder zu einem strategischen und taktischen Mittel von Politik geworden. Diese Erfahrung ist für manche europäische Staaten und insbesondere die Bundesrepublik neu, für andere Mächte wie die USA, aber auch machtpolitisch geringere Mächte wie Großbritannien und Frankreich, Kanada oder Australien, vertraut. Diese weisen deshalb traditionsreiche und gesellschaftlich in der Regel breit etablierte Formen des Gedenkens auf.

Australien Joan Beaumont

Nation oder Commonwealth? Der gefallene Soldat und die nationale Identität Seit knapp hundert Jahren spielt die Erinnerung an Kriege eine bedeutende Rolle in der politischen Kultur Australiens. Das ist in gewisser Hinsicht ein Paradoxon. Da die politischen und kulturellen Institutionen Australiens von der britischen Tradition herrühren, hat das Land zu Friedenszeiten nie ein großes stehendes Heer unterhalten. Auch die Wehrpflicht ist von den Australiern nie wirklich als grundsätzliche Bürgerpflicht gegenüber dem Staat akzeptiert worden – sogar zu Kriegszeiten. Dessen ungeachtet ist eine mythologisierte Erzählung über den australischen Soldaten und seine Kriegstaten zu einem zentralen Element in der Konstruktion nationaler Identität im zwanzigsten Jahrhundert geworden. In der Folge der Landung australischer Truppen auf der Halbinsel Gallipoli im April 1915 entstand in Anlehnung an den Kult des gefallenen Soldaten, wie er in Europa verbreitet ist, die Anzac-Legende (auch AnzacTradition oder -Mythos genannt). Diese Legende beeinflusst bis heute den politischen Diskurs in Australien. Wie alle Kriegserinnerungen ist Anzac, um die gängige Abkürzung zu verwenden, selektiv, ,,sozial und politisch vermittelt sowie historisch und kulturell eingebettet.“1 Aus diesem Grund ist sie Gegenstand andauernder politischer Auseinandersetzung in Australien. Oft als Bekräftigung konservativer Nationalismuskonstruktionen ins Feld geführt, schien sie in den 1960er und 1970er Jahren zu einem Anachronismus geworden zu sein. Doch sie erlebte in den beiden letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts eine erstaunliche Renaissance. Diese Wiederbelebung war größtenteils dem memory boom geschuldet, der sich zu dieser Zeit in Australien und in anderen Ländern der Welt ereignete. Doch auch der australische Staat spielte durch seine Aneignung des Kriegsgedenkens zum Zweck des Aufrechterhaltens eines kohäsiven nationalen Identitätsgefühls in Zeiten weitreichender demographischer und sozialer Veränderungen eine wichtige Rolle. Die Renaissance von Anzac spiegelte aber auch 1

William Kidd, Memory, Memorials and the Commemoration of War Memorials in Lorraine, 1908–1988, in: Martin Evans / Ken Lunn (Hg.), War and Memory in the Twentieth Century, Oxford 1997, S. 143–163, hier S. 157. – Aus dem Englischen übersetzt von Eva Schissler.

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Joan Beaumont

die Tatsache wider, dass der Kult des gefallenen Soldaten in Australien – wie anderswo – nie lediglich ein Gedenken an die Kriegsopfer war. Er war vielmehr das Zelebrieren mythischer Nationaleigenschaften, die in der dynamischen und wandelbaren Weise, die jeder Erinnerung eigen ist, von jeder nachfolgenden Generation in ihrer Neuaushandlung der ,,Politik der Anerkennung“ neu definiert wurden.2

Die Ursprünge der ANZAC-Legende Das Akronym ANZAC3 leitet sich aus der Bezeichnung ,,Australian and New Zealand Army Corps“ ab. Dieses Expeditionskorps war das erste Mal 1915 im Krieg der Alliierten gegen die Türkei im Einsatz. Obwohl ihre Landung auf Gallipoli als gründlich verpfuscht gelten darf, wurden die Leistungen der australischen Truppen von Kriegskorrespondenten und dem Militärkommando schon damals hoch gepriesen. Ihr Heldenmut und ihre physischen Leistungen bei der Erstürmung der steilen Küstenkämme der Halbinsel (nachdem sie an der falschen Stelle gelandet waren) sowie ihre siebenmonatige Verteidigung der Schützengräben, die in einer prekären Position oberhalb der Küstenlinie lagen, boten den Stoff für eine Legende. In den Nachkriegsjahren wurde die Australian Imperial Force (AIF) als eine der besten Kampfeinheiten des gesamten Kriegs mythologisiert. Darüber hinaus wurde der Erfolg der AIF in den Schriften des äußerst einflussreichen Kriegskorrespondenten und offiziellen Historikers C. E. W. Bean den vermeintlich einzigartigen Eigenschaften der australischen Gesellschaft zugeschrieben. In einem äußerst nonchalanten Umgang mit der Realität stellt Bean Australien als weitgehend klassenlose Gesellschaft dar, in der sich die Werte des Landes – oder vielmehr des Buschlandes – widerspiegelten. Der australische Mann, sogar der Großstadtbewohner, wird zum natürlichen Kämpfer erklärt: egalitär, einfallsreich, antiautoritär, selbstbestimmt und, in erster Linie, durch mateship, die spezifisch australische Form der Kameraderie, motiviert.4 Die faktische Grundlage dieser Einschätzung des australischen Soldaten ist irrelevant. Bedeutend ist vielmehr, dass diese mythische Darstellung bei einer Öffentlichkeit, die große Verluste erlitten hatte und eine schwere Trauer durchlebte, auf große Resonanz stieß. Zwischen 1914 und 1918 waren mehr als 58.000 2

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Dieser Begriff kann gewinnbringend auf die Diskussion des Multikulturalismus übertragen werden. Siehe Charles Taylor u. a. (Hg.), Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition, Princeton 1994. In Übereinstimmung mit dem australischen Sprachgebrauch steht das Akronym in diesem Text nicht in Großbuchstaben (Anm. der Übersetzerin). Für eine detaillierte Beschreibung der Anzac-Legende, siehe Joan Beaumont, Australia’s War 1914–18, Sydney 1996, S. 149–180.

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australische Soldaten gefallen – bei einer Gesamtbevölkerung von weniger als fünf Millionen. Weitere 150.000 Männer und Frauen waren verwundet worden. Viele starben nach ihrer Rückkehr frühzeitig an den Spätfolgen ihrer Verletzungen, wodurch der Todeszoll sich noch erhöhte.5 Die Trauer fast jeder australischen Familie wurde in der Öffentlichkeit primär durch zwei Akte der kollektiven Erinnerung zum Ausdruck gebracht: das Erklären des 25. April zu einem Nationalfeiertag zu Ehren des Anzac und die Errichtung von Kriegsdenkmälern. Am ersten Jahrestag der Gallipoli-Landung wurde der Anzac Day sowohl auf lokaler als auch auf nationalstaatlicher Ebene gefeiert. In der Westminster Abbey in London fand ein Festakt statt, dem die imperialen Eliten aus Politik und Militär beiwohnten. 1927 war der Tag in allen Staaten der Föderation zum Feiertag erklärt worden. Mit einer Gedenkstunde bei Tagesanbruch (dem Zeitpunkt der Landung auf Gallipoli) und einem Veteranenfestzug durch Städte und Dörfer gefeiert, erlangte der Anzac Day nach und nach größere emotionale Wirkkraft als der Armistice Day (11. November), obwohl beide Feiertage nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. Als Fixpunkte für diese Akte des kollektiven Gedenkens dienen die Kriegsdenkmäler, die in fast jeder Stadt und jedem Dorf zu finden sind. Aufgrund der Tatsache, dass die australischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs – mit Ausnahme des Oberkommandanten der AIF, Major General Sir William Bridges – nicht in Australien begraben sind, fanden die Hinterbliebenen, deren Trauer sich in die Ferne richtete,6 an diesen ,,Ersatzgrabstätten“ sowie in den Ritualen Trost, die sich der Feierdiskurse rund um Anzac bedienten. Anzac hatte von Anfang an viel mit dem Kult des gefallenen Soldaten gemein, wie ihn George Mosse beschrieben hat.7 In erster Linie war es eine Erzählung des Nationalismus. Als die Australier, die erst 1901 eine Föderation gegründet hatten, in den Zwischenkriegsjahren strauchelnd den Weg der politischen Unabhängigkeit von Großbritannien beschritten, beförderte Anzac die Konstruktion einer eigenen nationalen Identität. Die Tatsache, dass der Soldat von 1914/18 ein weißer, angelsächsischer Mann gewesen war, schränkte seinen Status als Repräsentanten des archetypischen Australiers in der patriarchalischen, kulturell weitgehend homogenen und rassistischen Gesellschaft der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts keineswegs ein. Im Gegenteil: Sie bestätigte dieser Gesellschaft, die von Nationaleugenik besessen war, dass die britische Abstammung in der kolonialen Umgebung nicht der Verweichlichung anheim gefallen war. 5 6 7

Marina Larsson, Shattered Anzacs. Living with the Scars of War, Sydney 2009, S. 234–237. Siehe Bart Ziino, A Distant Grief. Australians, War Graves and the Great War, Perth 2007, insbesondere Kapitel 1. George Mosse, The Cult of the Fallen Soldier, in: Journal of Contemporary History 14 (1979), S. 1–20; George Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, Oxford 1990.

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Darüber hinaus stellte Anzac ein quasi heiliges Narrativ dar, durch das dem massenhaften Kriegssterben eine Bedeutung zugemessen werden konnte. Obwohl die Legende oft als Australiens säkulare Religion bezeichnet worden ist, trägt sie auch deutlich christliche Züge. Im Krieg von 1914/18 akzeptierten die protestantischen Kirchen die katastrophalen Verluste als Teil des göttlichen Plans für Australien, mittels derer Männer durch Aufopferung und Pflichteifer auf eine höhere Ebene der moralischen Existenz gehoben werden.8 Die Gemeindemitglieder wurden ermutigt, in ihrer Trauer in den Leiden Christi Trost zu suchen. Die Männer, die im Krieg starben, so schrieb die nationale Zeitung der Baptistengemeinde am 30. Januar 1917, täten es Christus gleich: ,,[ …] the greatest love that men can show is to do what He did – to lay down their lives for their friends […] it is not so much the suffering of the guilty as the suffering of the innocent that has redemptive powers over the world, […] and we are indeed learning from the events that are passing before us that the guilty are saved by the suffering of the innocent.“9 Der erste Anzac Day fiel zufälligerweise auf Ostern, wodurch sich seine Rituale tief mit denen des Christentums sowie mit einem imperialen Opferdiskurs verbanden. In dieser Hinsicht sind Rudyard Kiplings Epitaph ,,Lest we forget“ und Laurence Binyons Elegie ,,They shall grow not old“ beispielhaft. Als in Melbourne 1934 das riesige Kriegsdenkmal für die Toten von Victoria errichtet wurde, erhielt es den Namen Shrine of Remembrance. Trotz seiner klassischen, der Grabstätte des Mausolos von Halikarnassos und dem Parthenon von Athen nachempfundenen Architektur beherbergt die zentrale Kammer eine Steinplatte mit einem Zitat aus dem Johannesevangelium: ,,Greater Love hath no man“. Das Dach ist so entworfen, dass am Armistice Day um elf Uhr morgens ein Sonnenstrahl durch eine Öffnung auf das Wort ,,Love“ fällt (seit Einführung der Sommerzeit muss dieser Sonnenstrahl jedoch mithilfe von Spiegeln umgelenkt werden). Wie der Kult der Gefallenen, verherrlicht Anzac die Kameraderie, oder besser gesagt mateship. In einer der meistzitierten Passagen seiner offiziellen Kriegsgeschichte schrieb Bean: ,,[The Australian] was seldom religious in the sense in which the word is generally used. So far as he held a prevailing creed, it was a romantic one inherited from the gold-miner and the bush-man, of which the chief article was that a man should at all times and at any cost stand by his mate. This was and is the one law which the good Australian must never break.“10 Dabei war Anzac nicht nur ein Totenkult, sondern auch ein Kult des Freiwilligen. Obwohl 8 9 10

Michael McKernan, Australian Churches at War. Attitudes and Activities of the Major Churches, 1914–1918, Sydney 1980. The Australian Baptist, 30.01.1917. Charles Edwin Woodrow Bean, The Official History of Australia in the War of 1914–18, Bd. 1: The Story of Anzac, Sydney 1921, S. 6.

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Abbildung 1: Kriegsdenkmal in Melbourne: Shrine of Remembrance (1934) (Foto: Joan Beaumont).

in Australien nicht viel zu spüren war von dem ,,freudigen Geist der Aufopferung“, den Mosse für diese Zeit in Deutschland ausmacht,11 bestand die AIF doch vollständig aus Freiwilligen. Die australischen Wähler lehnten 1916 und 1917 in zwei zutiefst verbitterten Volksentscheiden die Option ab, Männer zum Kampf in Übersee zu verpflichten. Australische Veteranen konnten somit aufgrund der Tatsache, dass sie den Militärdienst frei gewählt hatten, Anspruch auf einen überlegenen Bürgerstatus erheben. Nach dem Krieg wurden sie ,,die ersten und verdienstvollsten Empfänger der Großzügigkeit des Staates“: Sie wurden im öffentlichen Dienst, im Pensions- und Gesundheitssystem sowie bei der Vergabe großer Ländereien bevorzugt behandelt.12 Es ist bezeichnend für die Bedeutung des Freiwilligen, dass über die Hälfte der Kriegerdenkmäler des Ersten Weltkriegs die Namen sowohl der gefallenen als auch der überlebenden Freiwilligen auflisten. Durch diesen Brauch, der in Frankreich und Italien praktisch nicht vorkommt und auch im Vereinigten Königreich und in Neuseeland nicht weit verbreitet ist, stellten die australischen Gemeinden sicher, dass, wie es ein 11 12

Mosse, The Cult of the Fallen Soldier, S. 1. Martin Crotty, The Anzac Citizen. Towards a History of the RSL, in: Australian Journal of Politics and History 53 (2007), H. 2, S. 183–193, hier S. 191f..

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Redner 1923 ausdrückte, ,,alle Vorbeigehenden sehen können, wer den Ruf der Pflicht gehört hatte und ihm gefolgt war“.13 Schließlich wurde die Anzac-Legende, ähnlich wie der Kult der Gefallenen in Deutschland, in der Zwischenkriegszeit zunehmend mit rechter Politik assoziiert. Die Wehrpflicht-Volksentscheide spalteten die australische Gesellschaft entlang komplexer Grenzen von Klasse, Geschlecht und Religion,14 doch allgemein war die Zustimmung zum Krieg innerhalb der konservativen protestantischen Mittelklasse weit verbreitet, während Widerstand gegen die Wehrpflicht und die Befürwortung eines ausgehandelten Friedens innerhalb der vorwiegend katholischen Arbeiterklasse irischer Abstammung überwog.15 Die konservative und dem Empire gegenüber loyale Returned and Services League (RSL)16 schrieb sich nach Kriegsende die Veteranenrechte auf die Fahne und sicherte sich dadurch eine unanfechtbare Stellung als Lobbygruppe mit direktem Zugang zum australischen Bundeskabinett. Kriegsheimkehrer überwogen ebenfalls in den antikommunistischen paramilitärischen Truppen, die sich in der Zwischenkriegszeit in Australien formierten, obgleich viele dieser Einheiten eher geheime staatliche Notfalleinsatztruppen denn politische Bewegungen waren. Keine dieser Gruppierungen genoss jedoch einen Wahlerfolg vergleichbar mit dem der NSDAP in Deutschland.17

ANZAC: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Vietnamkrieg 1939 war die Anzac-Legende bereits zu einem solchen ,,Schlüsselelement in dem symbolischen Repertoire, das dem Nationalstaat zur Verfügung steht, um seine Bürger in eine kollektive Nationalidentität einzubinden“,18 geworden, dass der nächste globale Konflikt sie nicht mehr grundlegend erschüttern konnte. Vielmehr wurde der Zweite Weltkrieg, in dem – was bedeutend ist – weniger 13 14 15 16

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Ken S. Inglis, Sacred Places. War Memorials in the Australian Landscape, Melbourne 1998, S. 182f. Siehe Beaumont, Australia’s War, S. 43–57. Ian Turner, Industrial Labour and Politics. The Dynamics of the Labour Movement in Eastern Australia, 1900–1921, Canberra 1965, S. 166–179. Returned and Services League (RSL) ist der gängige Begriff, obwohl dieser Verband zu unterschiedlichen Zeiten auch unter den Namen Returned Sailors’ and Soldiers’ Imperial League of Australia, Returned Sailors’, Soldiers’ and Airmen’s League of Australia, Returned Servicemen’s League oder Returned Services League bekannt war. Für eine ausführliche historische Behandlung, siehe Andrew Moore, The Secret Army and the Premier, Sydney 1989; Michael Cathcart, Defending the National Tuckshop, Melbourne 1989; Keith Amos, The New Guard Movement, 1931–1935, Melbourne 1976. Timothey G. Ashplant u. a., The Politics of War Memory and Commemoration, London 2000, S. 7.

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Australier umkamen als im Krieg von 1914/18,19 bewusst in die Bildsprache von Anzac integriert. Zeitungsbildchen zeigten Mitglieder der 1st AIF, die den Stab an eine neue Generation von Soldaten abgeben;20 und die Männer der 2nd AIF, wie die Truppe in expliziter Anerkennung einer ungebrochenen Militärtradition genannt wurde, stellten ihre Erfahrungen in den Anzac-Diskurs. Das war sogar bei den Kriegsgefangenen der Fall, die ja – so hätte man es auch sehen können – der heroischen Anzac-Elite nicht mehr angehörten, nachdem sie sich ergeben hatten. In Gefangenenlagern entlang der Thailand-Burma Eisenbahn vollzogen die australischen Soldaten in japanischer Kriegsgefangenschaft die Rituale des Anzac Day, und ihre in der Nachkriegszeit verfassten Memoiren stellen die Gefangenschaft oft als Erfahrung dar, die die mythischen Eigenschaften von mateship, lakonischem Humor und Einfallsreichtum bestätigt.21 Australische Denkmäler für die Toten des Kriegs von 1939 bis 1945 stellten die bereits etablierten kulturellen Formen nicht infrage. Sehr häufig wurden sie einfach den Denkmälern des Ersten Weltkriegs hinzugefügt. Oder sie nahmen im Zuge einer neuen Vorliebe für Funktionalismus eher die Form weniger sichtbarer öffentlicher Einrichtungen an. Dennoch, trotz der augenscheinlich hegemonialen Stellung von Anzac geriet die Legende zwei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs dauerhaft in die Kritik. 1961 wurde in dem Theaterstück ,,The One Day of the Year“ von Alan Seymour ein Konflikt innerhalb einer australischen Familie dargestellt, in dem der Sohn, ein radikalisierter Student, den Vater, einen Veteranen, durch seine Verleumdung des Anzac Day als Fest des Saufens, der Illusion und der Vorurteile in Rage versetzt. Von Veteranen missbilligt und anfangs verboten, wurde das Drama symptomatisch für ,,das Element des Generationenkonflikts“ in den westlichen Gesellschaften der 1960er Jahre, durch das die jüngere Generation versuchte, ,,die Scheinheiligkeit der Elterngeneration zu entlarven“.22 Die Einführung einer selektiven Einberufung in die Armee auf der Grundlage zufällig ausgewählter Geburtstage im Vietnamkrieg polarisierte die australische Gesellschaft ebenfalls in einer Weise, wie das seit 1916/17 nicht mehr vorgekommen war. Nicht nur die Legitimität der australischen Beteiligung am Vietnamkrieg wurde infrage gestellt; auch die Tradition des freiwilligen Wehrdienstes war von staatlicher Seite missachtet worden. Infolge der durch den Vietnamkrieg hervorgerufenen zivilen Unruhen ging die Teilnahme am Anzac Day stark zurück, und seine anachronistischen, frauenfeindlichen, mi19 20 21

22

Das Yearbook Australia 1946–47 schätzt die Toten und Vermissten des Kriegs von 1939– 1945 auf 30.742. Zum Beispiel in: The Bulletin, 02.10.1940. Joan Beaumont, Prisoners of war in Australian national memory, in: Bob Moore/Barbara Hately (Hg.), Prisoners of War, Prisoners of Peace. Captivity, Homecoming and Memory in World War II, Oxford 2005, S. 185–194. Jay Winter, Remembering War. The Great War Between Memory and History in the Twentieth Century, New Haven 2006, S. 27.

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litaristischen und irrelevanten Rituale schienen dem unaufhaltbaren Niedergang preisgegeben. Der herausragende Erforscher von Kriegsdenkmälern in Australien, K. S. Inglis, schrieb 1998: ,,Um 1960 dachte ich wie jeder andere, der sich mit dem Thema befasste, dass die Zeremonien rund um Anzac verblassen und seine Denkmäler immer archaischer werden würden.“23

ANZAC und der memory boom Doch so kam es nicht. Ab den 1980er Jahren können wir ein deutliches Wiederaufleben der Kriegserinnerung in Australien beobachten. Damit einher ging ein neues Bekenntnis zu Anzac, wenngleich in einer Weise, in der sich der dynamische und wandelbare Charakter der Legende offenbart. Zu einem gewissen Grad spiegelte der australische memory boom weltweite Entwicklungen wider. Eine ,,zweite Generation der Erinnerung“ kristallisierte sich heraus,24 angefacht durch das Älterwerden der Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, das Auftauen von Erinnerungen mit dem Ende des Kalten Kriegs, der konfliktreichen Identitätspolitik in den neu entstehenden Nationalstaaten und der weit verbreiteten fin-de-siècle Stimmung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und des zweiten Millenniums. In Australien resultierte der memory boom größtenteils aus einer tief greifenden und symbiotischen Interaktion zwischen unterschiedlichen ,,Erinnerungsträgern“, um Henry Roussos immer noch zutreffenden Begriff zu verwenden.25 Diese umfassten einerseits Individuen und ihre Familien sowie Veteranenverbände, andererseits die kulturell produktiven Menschen, die Massenmedien und staatliche Behörden. Obwohl es vereinfachend wäre, Erinnerung auf der nationalen Ebene als ausschließlich vom Staat geprägt zu betrachten, war die Rolle der australischen Regierung in der Gestaltung der Kriegserinnerung in den vergangenen zwei Jahrzehnten doch maßgeblich – und ist es bis heute. Mit großen Budgets und einer sich selbst erfüllenden bürokratischen Logik haben das Australische Kriegsdenkmal (Australian War Memorial) in Canberra, das Ministerium für Veteranenangelegenheiten und andere öffentliche Instanzen neue ,,Traditionen“ und Gedenkpraktiken erfunden, die dem Kult der Gefallenen eine neue Form und neue Legitimität verliehen. Während die Bundesregierung sich 1965 noch geweigert hatte, eine von der RSL organisierte Reise von Veteranen nach Gallipoli offiziell zu unterstützen, plante das Ministerium für Veteranenangelegenheiten 1990 eine ,,Wallfahrt“ 23 24 25

Inglis, Sacred Places, S. 9. Winter, Remembering War, S. 26. Henry Rousso, The Vichy Syndrome, Cambridge, Mass. 1991, S. 219–221.

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nach Gallipoli, um den 75. Jahrestag der Landung zu begehen.26 Es folgten eine Reihe solcher staatlich finanzierter Wallfahrten von Veteranen und ihren Familien zu Kriegsschauplätzen. Beispielsweise wurde 1998 eine offizielle Wallfahrt nach Sandakan in Malaysia organisiert – ein Ort, an dem lediglich sechs von insgesamt 2.500 australischen und britischen Kriegsgefangenen die Lagerhaft überlebt hatten. Politiker nahmen die Fototermine, die diese Veranstaltungen ermöglichten, gerne wahr und stießen den Bau unzähliger neuer Kriegsdenkmäler in Australien (siehe unten) und an weiteren für die australische Kriegserinnerung bedeutsamen Orten weltweit an. Um nur einige zu erwähnen: ein Gedenkmuseum am Höllenfeuerpass an der Thailand-Burma Eisenbahn (1998), ein Denkmal für das australische Corps in Le Hamel (ebenfalls 1998), die Cobbers-Statue in Fromelles, dem Schauplatz eines Scheinangriffs, bei dem am 19. Juli 1916 innerhalb von 24 Stunden 5.533 australische Soldaten ums Leben kamen (wieder 1998), und ein Denkmal zu Ehren der britisch-australischen Kollaboration in beiden Weltkriegen im Hyde Park in London (2003).27 Gleichzeitig brachten staatliche Behörden und die Massenmedien, darunter Film und Fernsehen, einen kontinuierlichen Strom von Bildungsmedien, Festschriften, Dokumentationen, Doku-Dramen und Spielfilmen hervor, die einer neuen Generation von Australiern Anzac nahe brachten. Von unschätzbarem Wert in diesem Zusammenhang war Peter Weirs Film ,,Gallipoli“ von 1981, mit dem jungen Mel Gibson in der Hauptrolle. Der Film übernahm unmittelbar die Darstellungen aus Beans offizieller Geschichte und popularisierte erneut die mythische Erzählung von Anzac, unter anderem die angebliche Inkompetenz des britischen Oberkommandos (der traditionelle Stolperstein des australischen Genies) und den selbstmörderischen Heldenmut der Reiter der leichten Kavallerie, die im August 1915 den Befehl erhielten, in fünf aufeinander folgenden Wellen entlang des Nek, eines schmalen Bergkamms auf Gallipoli, in einen Hagel von Maschinengewehrfeuer zu reiten. Dennoch war der memory boom eine dynamische Verhandlung zwischen den unterschiedlichen Trägern von Erinnerung auf individueller, lokaler und nationaler Ebene. In vielen Fällen der Neuerfindung von Gedenkpraktiken reagierte die Regierung im Grunde auf Initiativen aus der Bevölkerung, von Veteranen vor allem, die immer noch versuchten, individuell mit der ,,Trauer und den psycholo-

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Commonwealth Parliament House of Representatives Hansard, Ministeriale Stellungnahme, 09.05.1990; online abrufbar: http://parlinfo.aph.gov.au/parlInfo/search/display/ display.w3p;query=Id%3 %22chamber%2Fhansardr%2F1990-05-09 %2F0065 %22. Das Bündnis zwischen den USA und Australien war 1954 mit der Errichtung einer hoch aufragenden, mit einem Adler gekrönten Säule geehrt worden. Sie steht an einer Stelle, die sich heute in der Mitte des Stadtbezirks Defence von Canberra befindet. Siehe Joan Beaumont, Australian Memory and the US Wartime Alliance. The Australian-American Memorial and the Battle of the Coral Sea, in: War & Society 22 (2004), H. 1, S. 69–88.

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gischen Spuren des Kriegs“28 fertig zu werden oder gemeinsam für die Anerkennung ihrer Taten kämpften. Die Familien von Veteranen waren ebenfalls aktiv an der Gestaltung der Kriegserinnerung beteiligt. Jay Winter betont, das aktuelle populäre Interesse an Geschichte und Kriegsmuseen rühre daher, dass es die Einbettung von Familiengeschichten in größere, universelle Narrative erlaubt: ,,Some grandparents knew the Blitz: now they can bring their grandchildren to the ,Blitz experience‘ of the Imperial War Museum, London. Such imaginings of war are attractive because they rest on the contemporary link between generations and in particular between the old and the young, between grandparents and grandchildren, at times over the heads of the troublesome generation of parents in the middle.“29 In Australien wurde diese generationenübergreifende Gestaltung von Erinnerung auch durch den Zugang zu genealogischen Online-Datenbanken begünstigt. Diese erlauben es Schülern, die Kriegsakten ihrer Vorfahren von zu Hause aus einzusehen, bevor sie eine ,,Wallfahrt“ zu ihren Gräbern machen – deren Stätten ebenfalls digital über die Website der Commonwealth (vormals Imperial) War Graves Commission (IWGC/CWGC) zugänglich sind.30

Der Unbekannte Soldat Australiens 1993 Unter den wichtigsten Ritualen, die dieser memory boom bislang hervorgebracht hat, war die Beisetzung eines unbekannten Soldaten im Australischen Kriegsdenkmal in Canberra 1993. Dieses Ereignis hat auch den Kult der Gefallenen wieder belebt. Bis dahin galt der Unbekannte Soldat, der seit sechzig Jahren im Westminster Abbey in London begraben lag, als Australier. Da die sterblichen Überreste auf einem Schlachtfeld in Frankreich geborgen worden waren, wurde angenommen, dass es sich um einen Soldaten des Dominion handelte, der im britischen Heer gedient hatte. Einige Veteranenverbände stellten diese Vorgehensweise in den frühen 1920er Jahren infrage und forderten, dass ein Soldat von zweifelsfrei australischer Herkunft das Land repräsentieren sollte, doch sie wurden von den Behörden, die zu dieser Zeit mit der Planung des gewaltigen Erinnerungs- und Museumskomplexes beschäftigt waren, das später zum Australischen Kriegsdenkmal wurde, mundtot gemacht. Das Grab eines Unbekannten Soldaten, so befürchteten diese frühen Hüter der Erinnerung, könnte das eigentliche Kriegsdenkmal als wichtigste Gedenkstelle in den Hintergrund 28 29 30

Ashplant u. a., The Politics of War Memory, S. 7–10. Winter, Remembering War, S. 40. Für ein Beispiel einer solchen Wallfahrt, siehe Bruce Scates, Return to Gallipoli. Walking the Battlefields of the Great War, Cambridge 2006, Kapitel 7. Das Australische Nationalarchiv betreibt eine Website mit dem Titel Mapping our Anzacs, die Zugang zu individuellen Dienstakten ermöglicht, mappingouranzacs.naa.gov.au.

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stellen.31 Somit blieb vorerst der bereits erwähnte Bridges, der im Mai 1915 auf Gallipoli seinen Wunden erlag, der einzige australische Soldat des Ersten Weltkriegs, der auch in Australien begraben war. Seine Bestattungsfeier in Melbourne und Beisetzung auf einem Hügel über dem Royal Military College in Duntroon, Canberra, im September 1915 bot Gelegenheit für den Ausdruck von privater Trauer und die Bekundung von Nationalstolz.32 Jedoch war im späten zwanzigsten Jahrhundert die Annahme, dass die britische und australische Identität untrennbar verbunden waren, anachronistisch geworden. Australien hatte sich durch die neue Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg von einer beinahe ausschließlich ,,anglo-keltischen“ Nation zu einer komplexen multinationalen Gesellschaft gewandelt. Während 1947 die ,,Anglokelten“ noch 89 Prozent der Bevölkerung ausgemacht hatten, war ihr Anteil 1999 auf siebzig Prozent zurückgegangen.33 Diese Entwicklung, in Kombination mit einer wachsenden republikanischen Bewegung, machte eine Neuerfindung der Nationalidentität und damit auch von Anzac notwendig. Wie es Premierminister Paul Keating (1991–1996, Labor Partei) 1992 bei einem Besuch in Kokada in Papua Neuguinea – ein Kriegsschauplatz, der in der Verteidigung Australiens 1942 von großer Bedeutung war – ausdrückte: Anzac ,,definiert unser Selbstverständnis“, doch es ,,sollte uns nicht erdrücken. Legenden sollten uns im Angesicht notwendiger Veränderungen nicht einengen“.34 Einige Monate zuvor hatte Keating zum Festakt des fünfzigsten Jahrestags des Falls von Singapur die Anschuldigung aus Kriegszeiten wiederbelebt, Großbritannien habe Australien verraten und zugelassen, dass über 22.000 Australier in japanische Kriegsgefangenschaft gerieten. Einer dieser Kriegsgefangenen war zufälligerweise ein Onkel von Keating, der bei Sandakan gestorben war. Dies zeigt, dass auch für Keating Familiengeschichte und nationale Erinnerung eng miteinander verwoben sind. In diesem Zusammenhang erhoben sich erneut die Stimmen in Australien, die einen ,,eigenen“ Unbekannten Soldaten forderten.35 Ironischerweise ging die Initiative nun von dem Australischen Kriegsdenkmal selbst aus, dessen Mitarbeiter zu dem Schluss gekommen waren, dass die Hall of Memory an der Kopfseite des Hofs der Gedenkstätte nicht die erhoffte Rolle eines ,,heiligen Zentrums“ erfüllt. Dominiert von der 2,7 Meter hohen Bronzestatue eines Soldaten mit Helm, 31 32

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Inglis, Sacred Places, S. 340. Bart Ziino, Mourning and commemoration in Australia. The case of Sir W.T.Bridges and the Unknown Australian Soldier, History Australia 4 (2007), H. 2, S. 40.1–40.17 ULR: http://journals.publishing.monash.edu/ojs/index.php/ha/article/view/305/317 Charles Price, Australian Population. Ethnic Origins, in: People and Place 7 (1999), H. 4, S. 12–16, hier S. 14. Don Watson, Recollections of a Bleeding Heart. A Portrait of Paul Keating PM, Sydney 2002, S. 181. Diese Beschreibung basiert auf Inglis, Sacred Places, S. 453–458.

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scheiterte sie in ihrer Intention, beim Besucher ein Gefühl von Andacht und privater Reflektion hervorzurufen. Von der Grabstätte eines australischen Soldaten erhofften sich die Planer jedoch eben diesen Effekt. Obwohl es Unbehagen in Bezug auf das Vorhaben gab, einen Soldaten so viele Jahre nach Kriegsende wieder zu exhumieren, wurden die sterblichen Überreste eines geeigneten Soldaten auf dem Friedhof von Adelaide nahe Villers-Bretonneux im Département Somme identifiziert. Dies war der Schauplatz einer weiteren mythologisierten Heldentat der AIF: Australier hatten den Ort wieder eingenommen, bezeichnenderweise in der Nacht vom 24. zum 25. April 1918, nachdem er zum Ende der Michael-Offensive von den Deutschen erobert worden war. Die Gegenoffensive der Alliierten vom 8. August wurde ebenfalls östlich von Villers-Bretonneux eingeleitet, was später zu einer Flut von australischen Ansprüchen führte, die AIF hätte den Krieg faktisch gewonnen. Der Körper des unbekannten Soldaten wurde nach Australien zurückgebracht und am 11. November 1993, am 75. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs, beigesetzt. Das Bestattungsritual war von Mitarbeitern der Denkmalstätte erarbeitet worden. Dabei waren sie sich bewusst, dass sie in ihrer Doppelrolle als Historiker und Teilnehmer ein ,,gefährliches Spiel“ spielten. ,,Es ist eine Sache, derartige Symbole zu dekonstruieren, und eine andere, an ihrer Erschaffung mitzuwirken“, räumte ein Mitarbeiter ein.36 Einer der wenigen überlebenden Veteranen des Großen Kriegs kniete nieder auf der Sargerde aus Pozières, einem Dorf auf dem Schlachtfeld an der Sommes, das Bean mit den Worten ,,dichter mit australischen Opfergaben gesät als jeder andere Ort auf der Erde“ verewigt hat.37 Der Generalgouverneur wiederum warf Zweige einer Akazie, der australischen Nationalblume, in das offene Grab. Vor dem Denkmal säumten rund 25.000 Menschen die Anzac Parade, die zeremonielle Promenade, die eine Achse zwischen dem Denkmal und dem Parlament bildet, und viele weitere Tausende verfolgten die Zeremonie live im öffentlichen Fernsehen. In den dreieinhalb Tagen, die die Grabstätte offen war, besuchten 50.000 Menschen den Ort und legten Blumen, Kränze, Fotos und Karten mit persönlichen Botschaften nieder. Während sie vor der Hall of Memory anstanden, stellten sie fest, dass man Klatschmohn, die traditionelle Blume der Erinnerung, in die Ritzen der Roll of Honour stecken kann – die Wand, in die die Namen der 100.000 Australier eingraviert sind, die im zwanzigsten Jahrhundert in bewaffneten Konflikten ums Leben gekommen sind. Auf diese Weise wurde noch eine ,,Tradition“ erfunden. Überall auf der Welt, vom Australischen Nationaldenkmal in Villers-Bretonneux bis zum Höllenfeuerpass, schufen australische Schlachtfeld-Touristen ,,eine individuel36 37

Richard Reid, The Tomb of the Unknown Soldier, in: Journal of the Australian War Memorial, H. 23 (1993), S. 45–47, 46 f. Charles Edwin Woodrow Bean, Anzac to Amiens, Canberra 1961 (Erstausgabe 1946), S. 264.

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le Kriegserinnerung“,38 indem sie Klatschmohn in die Ritzen von Gedenktafeln steckten und australische Fahnen und kleine Schulbanner an den Grabsteinen von Familienangehörigen aufstellten. Ric Throssel, ein in Canberra lebender Autor, dessen Vater auf Gallipoli das Viktoriakreuz verliehen bekam, bevor er sich 1933 das Leben nahm, wetterte gegen das Begräbnis des Unbekannten Soldaten. Ihm zufolge erwies man seinem Andenken keine Ehre, indem man ,,die Umstände seines Todes leugnete, die Widerlichkeit mit dem Trost schöner Worte verschleierte“.39 Doch ansonsten erhoben sich nur wenige kritische Stimmen. Die Stimmung im Land war nicht nur für neue Rituale empfänglich, sondern auch für einen Anzac-Diskurs, der in den Händen des Staats umgeformt wurde, um inklusiver und weniger militaristisch zu sein und den Werten Australiens im späten zwanzigsten Jahrhundert zu entsprechen. Keatings Rede bei der Beisetzung (die eigentlich von seinem begabten Referenten Don Watson geschrieben worden war) neutralisierte die frühere Kritik, der Anzac-Diskurs sei chauvinistisch, maskulin, weiß und militaristisch. Keating setzte dem entgegen: ,,[Anzac] is a legend, not of sweeping military victories, so much as triumphs against the odds, of courage and ingenuity in adversity. It is a legend of free and independent spirits whose discipline derived less from military formalities and customs than from the bonds of mateship and the demands of necessity. It is a democratic tradition, the tradition in which Australians have gone to war ever since.“ Er fuhr fort: ,,This Unknown Australian is not interred here to glorify war over peace; or to assert a soldier’s character above a civilian’s; or one race or one nation or one religion above another, or men above women; or the war in which he fought and died above any other war; or of one generation above any that has or will come later.“40 Um dieser inklusiveren Konstruktion von Anzac die angemessene Form zu geben, fand ein ökumenischer Gottesdienst statt. Es gab keinerlei Anzeichen der religiösen Sektiererei, die das Land bei den Auseinandersetzungen um die allgemeine Wehrpflicht 1916 und 1917 so nachhaltig gespalten hatte. Ein katholischer Kaplan führte gemeinsam mit den Protestanten den Gottesdienst durch, und als verspätete Geste gegenüber den Ureinwohnern Australiens wurde in der Zeremonie sogar auf die Traumzeitmythologie Bezug genommen. 38 39

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Catherine Moriarty, British First World War Memorials, in: Evans / Lunn, War and Memory in the Twentieth Century, S. 125–142, hier S. 139. Ric Throssell, For the Unknown Soldier. Another Dedication, in: Journal of the Australian War Memorial 24 (1994), S. 8. Throssell schenkte 1983 das Viktoriakreuz seines Vaters der Organisation People for Nuclear Disarmament. Die RSL kaufte die Medaille später und übergab sie dem Australischen Kriegsdenkmal. Eulogie des australischen Premierministers, in: Journal of the Australian War Memorial 24 (1994), S. 4.

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Abbildung 2: Anzac Parade – Die Gedenkmeile in Canberra verbindet das Australische Kriegsdenkmal jenseits des Burley Griffin-Sees mit der Verkörperung des demokratischen Australien, dem Parlament (Foto: Jean Beaumont).

Die Denkmäler auf der Anzac Parade In der Beisetzung des Unbekannten Soldaten offenbarte sich Anzac somit als zugleich statisch und dynamisch. Wie jede Konstruktion einer Gruppenidentität stellte die Legende ,,eine gewisse Gleicherhaltung über Zeit und Raum hinweg dar, gestützt durch Erinnerung“.41 Gleichzeitig jedoch nahm sie in ihrer Anpassung an die sich wandelnde Demografie und die sich wandelnden Werte Australiens neue Formen an. Dieser Prozess offenbarte sich auch in den neuen Denkmälern und Gedenkstätten auf der Anzac Parade, die in den 1980er und 1990er Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Zu Anfang dieser Jahrzehnte gab es auf der wichtigen Gedenkmeile lediglich zwei Denkmäler. Das erste, 1968 errichtet, war der Heeresabteilung der Wüstenreiter und allen australischen und neuseeländischen Truppen gewidmet (einschließlich der berühmten Einheiten der leichten Kavallerie in ihren typischen, mit Emu-Federn geschmückten Schlapphüten, die 1916 bis 1918 in Ägypten, Palästina und Syrien 41

John R. Gillis (Hg.), Commemorations. The Politics of National Identity, Princeton 1994, S. 3.

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gekämpft hatten). Dieses Denkmal ist die Kopie einer Statue, die ursprünglich in Port Said in Ägypten stand, in der Suezkrise von 1956 jedoch von Nationalisten zerstört worden war. Das zweite Denkmal, 1973 errichtet, war eine Gedenkstätte zu Ehren der Royal Australian Air Force und wurde zum fünfzigsten Jahrestag der Gründung dieser Einheit enthüllt. 2009 war die Zahl der Denkmäler auf der Anzac Parade auf elf angewachsen. In der Reihenfolge ihrer Errichtung waren dies das Tobruk-Denkmal (1983), das Atatürk-Denkmal (1985), das Marine-Denkmal (1986), das Hellenische Denkmal (1988), das Armee-Denkmal (1989), das Vietnamkrieg-Denkmal (1992), das Denkmal der Armeekrankenschwestern (1999), das KoreakriegDenkmal (2000) und das Australien-Neuseeland-Denkmal (2001). Derzeit sind an der Stelle, an der die Anzac Parade auf den Burley Griffin See stößt, weitere – durchaus umstrittene – Denkmäler zur Erinnerung an die beiden Weltkriege in Planung. Die Errichtung dieser Denkmäler offenbart die Komplexität der Herausbildung von Erinnerung und der Anerkennungspolitik, mit der konkurrierende Gruppen in Australien ,,die öffentliche Bestätigung ihrer Identitäten und Erinnerungen“ einforderten.42 Das Tobruk-Denkmal wurde von Veteranen der Garnison angestoßen, die den libyschen Hafen Tobruk 1941 gegen das Afrikakorps verteidigt hatte. Diese Belagerung war kein sonderlich bedeutendes Ereignis des Zweiten Weltkriegs, und aufgrund des Drucks der australischen Regierung, die um die Gesundheit ihrer Truppen besorgt war, wurden die australischen Einheiten bereits vor Aufhebung der Belagerung wieder abgezogen. Doch bezeichnend für die Selektivität, die der nationalen Erinnerung eigen ist, hatte Tobruk in der populären Kriegserzählung bereits eine überhöhte Bedeutung erlangt. Seine Verfechter konnten sich somit eine der verlockenden leeren Nischen auf der Anzac Parade sichern, obgleich diese von den Stadtplanern für die Errichtung ,,von der Regierung genehmigter Ehrenmäler von nationalem Charakter“ vorgesehen waren, ,,die eines wichtigen Militärzweigs oder einer Waffengattung gedenken“.43 Das Atatürk-Denkmal, das bald darauf 1985 errichtet wurde, stand in noch stärkerem Widerspruch zu den ursprünglichen Plänen für diese nationale Prachtstraße. Schließlich war es Atatürk (damals noch ,,nur“ Mustapha Kemal) gewesen, der die türkische Verteidigung angeführt hatte, die Australien 1915 eine schmerzliche Niederlage zugefügt hatte. Doch dieses Denkmal demonstriert, wie sehr neue Gedenkpraktiken von der Entwicklung dessen, was man vielleicht als transnationale Erinnerung bezeichnen kann, abhängen. Nachdem die alli42 43

Alistair Thomson, Anzac Memories. Living with the Legend, Melbourne 1995, S. 11. Alan Phillips, stellvertretender Sekretär und Manager der National Capital Development Commission (NCDC) an den Sekretär des Canberra National Memorials Committee, 2. Juni 1986, A1340 86/1094. Die NCDC Dokumente befinden sich in der National Capital Authority in Canberra.

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ierten Truppen im Dezember 1915 Gallipoli evakuiert hatten, bereitete es den Australiern Unbehagen, dass ein solcher Schauplatz von nationaler Bedeutung sich auf dem Boden eines anderen souveränen Staats befand – noch dazu eines ,,heidnischen“, dem man womöglich nicht zutrauen konnte, die Gräber der australischen Toten zu respektieren.44 Die Einrichtung von Friedhöfen, die von der IWGC gepflegt wurden, beseitigte diese Zweifel in den 1920er Jahren, und die Australier räumten nach und nach ein, dass Gallipoli ein geteilter Erinnerungsort war, der sowohl in der der türkischen als auch der eigenen Nationalerzählung eine zentrale Rolle spielte. So kam das Atatürk-Denkmal zustande: Im Vorfeld des siebzigsten Jahrestags des Gallipoli-Feldzugs bat Australien die Türkei, den Ort der Truppenlandung in ,,Anzac-Bucht“ (Anzac Cove) umzubenennen. Im Gegenzug sollte ein Denkmal für Atatürk in Canberra errichtet werden. Außerdem wurden ein abgelegener Uferbereich des Burley Griffin Sees am Ende der Anzac Parade in ,,Gallipoli-Abschnitt“ (Gallipoli Reach) und der Kanal in den westaustralischen Hafen Albany, von dem aus im Ersten Weltkrieg Truppentransporte in See stachen, in Atatürk-Kanal umbenannt.45 Die ,,Denkmäler“ der Marine und der Armee waren de facto Staatsdenkmäler, die die Rolle dieser Waffengattungen in der Verteidigung der Nation unterstreichen sollten. Darüber hinaus kann das Marine-Denkmal, das zum 75. Jahrestag ihrer Gründung eingeweiht wurde, gelesen werden als Anspruch der Marineangehörigen auf eine zentralere Stellung innerhalb des Anzac-Diskurses, der stets die Infanterie bevorzugt hatte. Doch die Werte, die in diesem Denkmal verkörpert sind, stellen den Eigencharakter der Marine heraus. In ihren Anweisungen an die Planer betonten die Auftraggeber den technischen Professionalismus der Marine im Gegensatz zu den eher intuitiven Fähigkeiten der amateurhaften Anzac-Freiwilligen. ,,The RAN [Royal Australian Navy] comprises brave, highly trained and dedicated men and women operating well-designed and well-constructed machines [ … ] Naval personnel on duty distinguish themselves by appearing to be constantly watchful, vigilant and ready, when required, to make an immediate, disciplined response […] Of particular significance is the activity of observation.“46

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Ziino, A Distant Grief, S. 65f., 70f., 74–78. Stellungnahme der australischen Regierung, 18. März 1985, A1340, 84/1626 Teil 2, NCDC (National Capital Authority). Die australische Sorge um die ,,Besitzverhältnisse“ auf Gallipoli ist noch nicht beschwichtigt. 2003 versuchte John Howard, Gallipoli auf die Australian National Heritage List zu setzen, was jedoch – wie zu erwarten – auf Widerstand seitens der Türkei stieß. Nun steht der Ort auf der ,,List of Overseas Places of Significance to Australia“ von 2007, einer Liste, die im Fall einer Missachtung des Denkmalcharakters der Orte keine Strafmaßnahmen vorsieht. Memorandum von Michael Grace, NCDC, R.A.N. Memorial, 25. September 1984, A1340, 83/1597, Teil 4, NCDC (National Capital Authority).

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Das Hellenische Denkmal, das während der nationalen Zweihundertjahrfeier der weißen Besiedlung im Jahr 1988 eingeweiht wurde, wies auf eine andere Agenda hin: die Identitätspolitik des multikulturellen Australien. Eine der größeren ethnischen Gruppen, die nach 1945 nach Australien immigrierten, waren die Griechen. 2006 lebten zwischen 600.000 und 700.000 (inklusive der zweiten und dritten Generation) im Land, davon 47 Prozent in Melbourne und 29 Prozent in Sydney.47 Mit ihrer starken Präsenz als community kämpften sie vehement für einen eigenen Platz in der nationalen Kriegserzählung. Die Tatsache nutzend, dass Australier auf dem griechischen Festland und auf Kreta im April/Mai 1941 gekämpft hatten, sicherten sie sich ein Denkmal auf der Anzac Parade, das nicht nur den australischen Armeeangehörigen gewidmet sein sollte, sondern auch den griechischen Zivilisten, die während dieser Feldzüge ums Leben gekommen waren. Die Bundesregierung unterstützte diese Initiative, mit dem Resultat, dass der bis dahin kulturell homogene Anzac-Diskurs vielfältiger und inklusiver wurde. Gleichzeitig festigte sie damit die diplomatischen Beziehungen mit Griechenland. Als Premierminister Robert J. Hawke die Errichtung des Denkmals bei einem Besuch in Griechenland am Anzac Day 1986 bekannt gab, versicherte er, dass es ein ,,Zeichen der Freundschaft zwischen dem australischen und griechischen Volk“ sein würde.48 Trauer und Verlust, die Gefühle, die dem Kult des Gefallenen ursprünglich zugrunde lagen, traten in den Denkmälern des Vietnamkriegs und des Koreakriegs, deren Errichtung von Veteranen dieser Konflikte angestoßen wurde, deutlicher hervor. Im Gegensatz zu den ursprünglichen Anzac-Soldaten waren nicht alle 50.000 Australier, die in Vietnam dienten, Freiwillige. Einige waren per Auslosung zum Dienst gezwungen worden. Obwohl sie bei ihrer Rückkehr mit Begrüßungsfestzügen gefeiert wurden (es gab mindestens 16 solcher Festzüge),49 wurde diese bestätigende Erinnerung durch die Ambiguität des Vietnamkriegs in der politischen Geschichte Australiens überschattet. Die Vietnamveteranen selbst erinnerten sich eher an ein Gefühl von Entfremdung und Ablehnung. Später, im Jahr 1987, organisierte eine Gruppe von Vietnamveteranen50 ihren eigenen ,,Begrüßungsfestzug“ in Sydney und initiierte eine Kampagne für ein nationales Denkmal auf der Anzac Parade. Am 3. Okto47

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Facts Sheet, Australian communities; Greek Australians, Australian Department of Education and Training, online abrufbar: http://pandora.nla.gov.au/pan/20424/20101217-0100/ www.racismnoway.com.au/classroom/factsheets/56.html. Canberra National Memorials Committee (CNMC), Department of Arts, Heritage and Environment, Memo an das NCDC, 13. Juni 1986, A 1340, 86/938 Teil 1, NCDC (National Capital Authority). Mark McKenna, Howard’s Warriors, in: Raimond Gaita (Hg.), Why the War Was Wrong, Melbourne 2003, S. 167–200, hier S. 178. Diese Gruppe gründete sich damals selbst als Australian Vietnam Forces Welcome Home Parade ’87 Pty Ltd, 1985.

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ber 1992 enthüllt, löste das Denkmal an einem ,,läuternden, erschöpfenden, euphorisierenden Wochenende“ eine Welle von Emotionen aus.51 Bei der Enthüllungszeremonie in Canberra waren eine große Anzahl von Veteranen und ihre Familien zugegen, es gab einen Straßenfestzug, zu dem in Leder gekleidete, Motorrad fahrende Veteranen ebenso gehörten wie ein Meer aus 504 Flaggen – für jeden in Vietnam gefallenen Australier eine. Anschließend fanden ein Konzert und verschiedene Wiedersehenstreffen überall in der Stadt statt. Wie die ,,Canberra Times“ am 5. Oktober 1992 in ihrem Leitartikel festhielt: ,,For the 20.000 Vietnam veterans who sought and found a sense of reconciliation in the long memorial weekend […] the occasion has had great personal importance. It could never be the total answer to the agony of war, but at least the veterans can return to their homes secure in the knowledge that they have been welcomed finally into the Australian mainstream. Their deeds have been honoured and legitimised. They are warmly within the national fold.“52 Das Koreakrieg-Denkmal (2000) war ebenfalls ein Versuch von Veteranen, ihren ,,vergessenen Krieg“ im ,,Mainstream“ des nationalen Gedächtnisses zu verankern. Inspiriert durch das Vietnamkrieg-Denkmal (wobei der Nachahmungsfaktor ein wesentlicher Bestandteil der Anerkennungspolitik ist), waren die Veteranen des Koreakriegs auch durch die Sorge motiviert, dass die Erinnerungen an den Krieg und seine Protagonisten mit dem Altern und Sterben der Zeitzeugen verloren gehen würde. Sie argumentierten 1994: ,,Diejenigen, die in Korea gedient haben, wären dann zwischen sechzig und achtzig Jahre alt, und es ist höchste Zeit, ihren Einsatz zu würdigen, solange sich die Mehrzahl der Veteranen der Anerkennung ihres Landes noch erfreuen kann.“53 Geplant als Gedenkstätte und Schrein für die Gefallenen, war das Koreakrieg-Denkmal erneut eine Übung in transnationaler Erinnerung und Diplomatie. Bei seiner Enthüllung wurde es als ,,ständige Mahnung für das australische Engagement für Frieden in unserer Region und auf der ganzen Welt“ beschrieben und mit dem Auftrag versehen, ,,zu informieren und als Vorbild für zukünftige Generationen zu dienen“.54 In seine Gestaltung floss auch ein Geschenk der südkoreanischen Regierung ein: Felsblöcke vom Schlachtfeld von Kapyong, wo 51 52

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Sydney Morning Herald, 05.10.1992. Für eine ausführliche Behandlung des Vietnamkrieg-Denkmals, siehe Jeff Doyle, Reading and Building the Australian Vietnam Forces National Memorial, in: Jeff Doyle u. a., Australia’s Vietnam War, College Station 2002, S. 136–158. Brief I. Crawfords, des Vorsitzenden des Korean War Memorial Committee, an den Vorsitzenden des CNMC, 18. Juli 1994. Die Dokumente befinden sich in der National Capital Authority in Canberra. Agende des Commonwealth Department of Veterans’ Affairs. Für eine detaillierte Behandlung, siehe Jeff Doyle, Another Forgotten War Remembered. The Australian National Korean War Memorial, Anzac Parade, Canberra, in: Peter Dennis / Jeffrey Grey (Hg.), The Korean War 1950–53. A Fifty Year Retrospective, Canberra 2000, S. 179–199.

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Australier – welch bemerkenswerter Zufall! – vom 22. bis 25. April 1951 gekämpft hatten. Der koreanische Veteranenverband spendete ebenfalls $ 10.000, um den Aufbau ,,des Wahrzeichens der Verbindung zwischen dem australischen und dem koreanischen Volk“ zu unterstützen.55 In der rasanten Geschwindigkeit, mit der die leeren Nischen auf der Anzac Parade bebaut wurden, spielte ab einem gewissen Zeitpunkt zwangsläufig auch die Geschlechterpolitik eine Rolle. Der unmissverständlich ,,männliche“ Charakter von Anzac hatte in den 1960er Jahren die Feindschaft der Feministinnen auf den Plan gerufen. In den 1990er Jahren waren in der Öffentlichkeit jedoch auch Frauen als Kriegsheldinnen konstruiert worden, besonders während der einjährigen ,,Australia Remembers“ Kampagne, die den fünfzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs markierte.56 Zeitgleich verbündete sich das Royal College of Nursing (Australien) mit Veteranen, um für das Anliegen eines nationalen Denkmals für die australischen Armeekrankenschwestern zu werben. (Auf lokaler Ebene gab es bereits eine bedeutende Anzahl von Denkmälern für die Krankenschwestern, teilweise bereits 1948 errichtet).57 Das Konzept bereitete der National Capital Development Commission, die für die Genehmigung der Denkmäler auf der Anzac Parade zuständig war, jedoch Kopfschmerzen.58 In einer typisch männlichen Begründung argumentierte die Kommission, dass das Armee-Denkmal (ebenso wie das Marine-Denkmal) jeden Angehörigen dieses Dienstzweigs repräsentiere, unabhängig vom Geschlecht: ,,Wir laufen Gefahr, einer Unzahl ähnlicher Anträge Tür und Tor zu öffnen, die, obgleich sie ,würdige‘ Angelegenheiten vertreten, nicht wirklich den strengen Kriterien entsprechen, die nationale Denkmäler an wichtigen Standorten wie entlang der Anzac Parade erfüllen müssen.“59 Gleichzeitig argumentierten die RSL und andere Interessengruppen, dass den Armeekrankenschwestern kein privilegierter Platz im nationalen Gedächtnis zugebilligt werden sollte. Es sollte an alle Frauen erinnert werden, ob sie nun auf dem Schlachtfeld oder an der Heimatfront gedient hatten: ,,Australien ist eine egalitäre Nation, und einen Dienstzweig über einen anderen zu stellen wäre spalterisch und widerspräche dem militärischen Grundprinzip der Teamarbeit.“60 Dennoch konnten die 55 56 57

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Koreans’ gift to help raise memorial, in: Canberra Times, 22.07.1997. Zur Australia Remembers Kampagne, siehe Liz Reed, Bigger Than Gallipoli. War, History and Memory in Australia, Crawley 2004. Siehe Madeleine Hastie, Unsung Heroes. The Australian Service Nurses’ National Memorial and the Politics of Recognition, BA Honours thesis, University of New South Wales, School of History and Philosophy, 2007, S. 36. Die National Capital Development Commission und das National Capital Planning Committee (NCDC) wurden 1989 von der National Capital Authority (NCA) ersetzt. Michael Grace, NCDC, an den leitenden Architekten des Proposal for a National Memorial to Army Nurses, 1. Mai 1986, A1340, 86/1094, NCDC (National Capital Authority). RSL enters nurses’ memorial debate, in: Stand To (RSL Newsletter) 68 (1996), S. 8.

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australischen Armeekrankenschwestern nicht nur eine ,,spezielle Affinität zu den Kampfzweigen des militärischen Berufsstands“61 für sich beanspruchen, sondern auch einen überlegenen Status unter den ,,Gefallenen“. In Kriegszeiten waren sie aufgrund der Nähe der Feldlazarette zu den Kampfzonen und der Schutzlosigkeit der Lazarettschiffe extremer Gefahr durch feindliche Angriffe ausgesetzt gewesen.62 So wurde im Februar 1942 eine Gruppe von Krankenschwestern bei dem Versuch, aus Singapur zu fliehen, Opfer einer berüchtigten japanischen Gräueltat: Das Schiff, mit dem sie evakuiert worden waren, die SS Vyner Brooke, wurde versenkt, wobei zwölf Krankenschwestern umkamen. Weitere 21 wurden von japanischen Truppen massakriert, als sie sich an einen Strand der Insel Banka in der Nähe von Sumatra kämpften. Die Nachkriegserinnerungen der Überlebenden japanischer Kriegsgefangenschaft63 sowie der 1997 gedrehte Spielfilm ,,Paradise Road“ haben diese Geschehnisse fest in der kulturellen Erinnerung an den Krieg verankert. Folglich sagte Premierminister Howard bei der Einweihung des Denkmals für die Armeekrankenschwestern 1999: ,,Wherever Australian troops have served, nurses have been there. They [have] left a legacy that illustrated Australia’s Anzac traditions and this [has] been recognised by a grateful nation. You are a living reminder that tyranny will never overcome the tenacity and mateship of typical Australians.“64 Das letzte auf der Anzac Parade errichtete Monument ist schließlich das Australien-Neuseeland-Denkmal. In der nationalen Überheblichkeit von Anzac werden die Neuseeländer lediglich mit der Rolle betraut, die notwendigen Konsonanten für das Akronym beizusteuern. Auch in der Bildsprache des Wüstenreiter-Denkmals ist der Neuseeländer der untergeordnete Partner: Er steht neben seinem verwundeten Pferd und wird von einem australischen Soldaten der leichten Kavallerie verteidigt. 2001 wurde des Neuseeländers jedoch offiziell durch ein Geschenk der neuseeländischen Regierung gedacht. 61 62

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Brief des Leiters des Royal College of Nursing (Australien) an Premierminister Keating, zitiert in Hastie, Unsung Heroes, S. 46. Zu den Gefahren, denen Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg ausgesetzt waren, siehe Peter Rees, The Other Anzacs. Nurses at War, 1914–1918, Sydney 2008, insbesondere Kapitel 23. Der Verlust von Krankenschwestern auf Lazarettschiffen wurde in einem Brief des südaustralischen Kapitels des Royal College of Nursing (Australia) an den Leiter des Australischen Kriegsdenkmals vom 24. Januar 1996 ausführlich beschrieben, 88/0272, Australian War Memorial Research Centre. Siehe Christina Twomey, Problems in Paradise. Race, Gender and Historical ,,Truth“ in Paradise Road, in: Journal of Interdisciplinary Gender Studies 10 (2006), H. 1, S. 30–52; Christina Twomey, Australian Nurse POWs. Gender, War and Captivity, in: Australian Historical Studies 36 (2004), H. 124, S. 255–274. Service nurses march into history, in: Canberra Sunday Times, 03.10.1999. Das Denkmal der Armeekrankenschwestern wurde hundert Jahre nach dem ersten Einsatz von australischen Armeekrankenschwestern im Burenkrieg in Südafrika enthüllt.

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Das Denkmal symbolisiert ,,die Anzac-Erfahrung“ und dient als ,,Erinnerung an die lange Geschichte der Kooperation zwischen unseren beiden Nationen und der engen Beziehungen, die wir pflegen“. In der Form von zwei Henkeln eines Korbes, die einander über die Anzac Parade zugewandt sind, greift das Denkmal auf die Maorikunst und andere indigene Bilder zurück. Es stellt ,,das Teilen der Verantwortung und die vereinte Anstrengung“ dar, ,,ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Die Korbhenkel symbolisieren Kooperation, beiderseitige Erfahrungen und das Teilen der Last“.65

Die Kommerzialisierung der Kriegserinnerung Die Denkmäler auf der Anzac Parade sind daher Indikatoren der Veränderung, die in materieller Form die permanente Neuerfindung der Kriegserinnerung repräsentieren. Dies geschieht in einer komplexen Interaktion zwischen Privatem und Öffentlichem. Die gleichen Prozesse offenbaren sich in der Vielzahl anderer Gedenkaktivitäten, die von der Regierung und von lokalen Akteuren aus unterschiedlichen Bereichen der australischen Gesellschaft hervorgebracht wurden. Sie sind zu zahlreich, als dass sie hier alle aufgelistet werden könnten. Die Kommerzialisierung der Kriegserinnerung hat einige dieser Formen der Erinnerungsgestaltung noch zusätzlich angefacht. Der Schlachtfeldtourismus auf Gallipoli, in Frankreich und andernorts ist in den letzten zwei Jahrzehnten förmlich explodiert. Damit wurde den Massenmedien ein Grund geliefert, die angeblich spontane Wiederentdeckung der Totenverehrung durch die jüngeren Generationen zu zelebrieren. Allerdings ist dieser Kulturtourismus auch der Mobilität geschuldet, die Pauschalreisen den Rucksacktouristen ermöglichen, sowie dem erhöhten Wohlstand junger Australier, die durch zunehmend didaktische Lehrpläne in die Anzac-Legende ,,hineinsozialisiert“ werden. Das Commonwealth Department of Education, Employment and Workplace Relations beispielsweise bietet den Gewinnern seines Essay-Wettbewerbs Ausflüge zu einem Anzac Day Gottesdienst bei Tagesanbruch entweder auf Gallipoli oder an einem Kriegsschauplatz an der Westfront an. Der Wettbewerb ist nach dem gefeierten Helden John Kilpatrick Simpson benannt, der im April/May 1945 Verwundete von Gallipoli auf seinem Esel rettete. Kriegsdevotionalien aller Art füllen darüber hinaus die Kioske, die an den Eingängen zu den wichtigsten Denkmälern aufgebaut wurden: Klatschmohnblumen in jeglicher Form, Kühlschrankmagneten mit Abbildungen von Propa65

Website der National Capital Authority, http://www.natcap.gov.au/index.php?option= com_content&view=article&id=213 %3Ah2s7-anzac-parade&catid=57 %3Aql-maenuvisiting&Itemid=202&limitstart=7.

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Joan Beaumont Abbildung 3: ,,Why are they marching, Daddy?“ Dieses Bändchen ist typisch für das offizielle pädagogische Lehrmaterial zum Anzac Day-Marsch (Foto: ANZAC Day Commemoration Committee of Queensland, PO Box 391 Aspley Queensland).

gandapostern und Kriegsdenkmälern, Lesezeichen mit dem Abbild Simpsons und seines Esels, Geschirrtücher, die den Shrine of Remembrance darstellen, Radiergummi, Abzeichen und anderer Kleinkram. Ein weiteres Beispiel für Sozialisierung durch Trivialisierung sind die stapelweise aufgetürmten Dosen mit Anzac-Keksen (Anzac Biscuits) in den Supermärkten.66 Diese Keksdosen in ,,limitierter Auflage“ verleiten den Einkäufer dazu, der RSL oder seiner neuseeländischen Schwesterorganisation eine Spende zukommen zu lassen. Die Kekse, die ursprünglich von australischen Frauen für die Soldaten an der Front gebacken wurden, werden als ,,greifbare Verbindung zu unserem Anzac-Erbe“ vermarktet. Für diejenigen, die den kleinen Aufdruck nicht lesen können, lässt das Bild auf der Dose keinen Zweifel an der Botschaft: Ein älterer Veteran, die Brust voller Orden, lächelt wohlwollend auf ein Kind herab, das ebenfalls Orden und den typischen Schlapphut der australischen Infanterie trägt. Im Hintergrund sind die Stiefel von marschierenden Veteranen zu sehen. So wird die Legende abermals an eine neue Generation übermittelt. 66

Zur Geschichte der Anzac-Kekse, siehe ANZAC Day Commemoration Committee of Queensland, http://www.anzacday.org.au/history/ww1/anecdotes/bikkies.html.

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Keines dieser Beispiele der Kommodifizierung von Kriegserinnerung trifft nur auf Australien zu, wie man bei einem Besuch des Historial in Péronne, des Flandern Feld Museum in Ypres oder der Frauenkirche in Dresden unschwer erkennen kann. Aber die Aneignung der Kriegserinnerung durch den kommerziellen Sport ist womöglich für Australien einzigartig. Der Sport ist schon lange als ,,Bedeutungsträger nationaler Identität“ anerkannt – nicht zuletzt deshalb, weil ,,internationale Wettkämpfe eine scheinbar unendliche Anzahl von Ereignissen generieren, bei denen Nationen in etwas deutlich Realem und Sichtbarem verkörpert werden“.67 Darüber hinaus waren in Australien – wie auch anderswo – die Diskurse um Sport und Krieg stets eng miteinander verwoben. Im Ersten Weltkrieg wurde beispielsweise bei Rekrutierungskampagnen der Krieg als ,,größter Sport von allen: Hunnenjagen“ beschrieben, und zögernde ,,Freiwillige“ wurden dazu aufgefordert wurden, einer Sportsmen’s Thousand beizutreten, einer Art Rekrutierungseinheit basierend auf gemeinsamem Sport.68 Dennoch waren, aufgrund des quasi heiligen Charakters von Anzac Day, Spielpaarungen an diesem Feiertag bis 1960 verboten. 1995 entschied sich die Australian Football League auf Anregung eines Trainers, ihr Spiel am Anzac Day auf dem Melbourner Kricketfeld als einen ,,Akt der Erinnerung“ zu stilisieren. In einer Aneignung der Rituale und Diskurse rund um Anzac wird der ,,Anzac Day clash“ mit einer Veteranenparade, dem Zapfenstreich, der Nationalhymne und dem Singen neu erfundener Lieder eröffnet. Diese Lieder verbinden Elemente der traditionellen mit einer neuen, bereinigten Version des Mythos. Das Anzac-Lied, von dem Melbourner Lehrer Michael Travers geschrieben, schließt beispielsweise mit einem Plädoyer für den Frieden: ,,I ask myself the question / Time and time again, / The world is so much different / But some things stay the same, / As we ride treacherous waters / May our hearts calm the seas / Will we hold the ANZAC courage / And join our hearts in peace?“69 Die Spiele enden mit der Verleihung eines Ordens an den Spieler, der die Eigenschaften Können, Mut, Selbstaufopferung, Teamarbeit und Fairplay am besten verkörpert hat. Eine Niederlage wird im Gegenzug als Fehlen von Nationalcharakter gegeißelt, nicht als Fehlen sportlichen Könnens. Nach dem Anzac Day Spiel 2009 behauptete der Trainer des unterlegenen Teams, seine Spieler hätten ,,die Anzacs enttäuscht“, wohingegen das Gewinnerteam den ,,wahren Geist von Anzac gezeigt“ hätte.70

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Adrian Smith / Dilwyn Porter, Introduction, in: Dies. (Hg.), Sport and National Identity in the Post-War World, London 2004, S. 1–9, hier S. 3, 1. Lloyd Robson, The First A.I.F. A Study of its Recruitment 1914–1918, Melbourne 1982, S. 151, 128. http://traversmusic.com/anzac.html. Sunday Herald Sun, 26.04.2009.

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Das Anzac Day Spiel, das heute gemeinhin als ,,traditionell“ beschrieben wird, wurde dafür kritisiert, Teil ,,cleverer Marketingkampagnen zu sein, entworfen zu dem Zweck, Footballhelden als Kriegshelden zu verkaufen“.71 Aber es stellt eine bedeutende Verschiebung im Anzac-Diskurs dar, jegliche Verhaltensweise zu feiern, die den sozialen Wert besitzt, das individuelle Interesse dem kollektiven unterordnen. So wie der Footballspieler, der seinem Team zum Sieg verhilft, ein Anzac ist, so ist es auch der Polizist, der bei der Untersuchung eines Verkehrsdelikts durch einen Unfall ums Leben kommt. Indem sie freiwillig ihr Leben im Dienst der Öffentlichkeit riskieren, werden Polizisten als erinnerungswürdig erachtet. Im vergangenen Jahrzehnt wurden Polizeidenkmäler in Canberra und anderen Großstädten errichtet, während der öffentliche Diskurs um Polizistentode sich der hohen Sprache des Kriegs bedient: Sie sind die ,,Gefallenen“, die ,,Getöteten“, die in Erfüllung ihrer Pflicht das ,,ultimative Opfer“ erbracht haben.72

Die Legitimierung gegenwärtiger Konflikte Seitdem selbst der Begriff immer häufiger auf diese fast willkürliche Art und Weise gebraucht wird, tritt ,,Anzac“ dennoch auch weiterhin in einer seiner ursprünglichen Rollen auf: den Verlust von Leben im Krieg mit Bedeutung zu füllen. Von dort ist es nur ein kurzer und unausweichlicher Schritt zur Legitimation von Krieg. Unter dem konservativen und populistischen Premierminister John Howard (1996–2008) erreichte die Aneignung der Kriegserinnerung für diese Zwecke ihren Höhepunkt. ,,Sich in Khaki hüllend“ billigte Howard nicht nur viele der oben beschriebenen neuen Rituale und Denkmäler, sondern stellte auch sicher, dass er regelmäßig bei der Verabschiedung von Soldatinnen und Soldaten der Australian Defence Force gefilmt wurde, die in den Irak oder nach Afghanistan aufbrachen, oder bei der Begrüßung nach ihrer Rückkehr. Bei einer dieser Zeremonien würdigte er die Einheiten, die im Irak dienten, wie folgt: ,,You went abroad as part of a great Australian military tradition, a tradition that has never sought to oppress people, a tradition which has never sought to impose the will of this country or the collective will of a group of countries of which Australia is part, on other people and other nations, but rather a tradition that seeks to defend what is good in the world, that seeks to uphold the values for 71 72

Chris Fotinopoulos, Hallowed ground maybe, battleground … never, in: The Age, 24.04.2005. Siehe beispielsweise Victoria Police Association News, Juni 2005, S. 10f.; National Police Memorial Design Competition, National Capital Authority, 2005, S. 18; ,Victoria Police Memorial‘, in: Victoria Police Association Journal (August 2002), S. 24f.

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which this nation stands and seeks to deliver freedom from tyranny, from terror and oppression.“73 Die Beschwörung von Anzac diente einem politischen Zweck. Öffentlicher Dissens über Australiens Engagement im Irakkrieg (der damals beachtlich war) wurde mit dem Argument neutralisiert, dass den freiwillig dienenden Männern und Frauen, wenn die Truppen erst einmal im Einsatz waren, auch Respekt entgegen gebracht werden müsse. Unabhängig von der Legimitation des Kriegs seien sie über jegliche Kritik erhaben – die Erben einer ruhmreichen militärischen Tradition, die neuen Anzacs. Wie es Premierminister Kevin Rudd ausdrückte, als er im November 2009 Truppen begrüßte, die aus dem Irak heimkehrten: ,,Sie sind die Anzacs von heute, und Sie sollten stolz sein.“74 Denen, die im Irak starben, wurde daher auch eine große zeremonielle Anerkennung als ,,Gefallene“ erwiesen. Von den Leichenhallen im Einsatzgebiet wurden ihre Särge, in die australische Flagge gehüllt, von uniformierten Sargträgern in ein Frachtflugzeug getragen. Trompeter spielten den Zapfenstreich, und Dudelsäcke stimmten ein trauriges Klagelied an. Eine ähnliche ,,Rampenzeremonie“ (ramp ceremony) wurde bei der Ankunft in Australien vollzogen. Die Särge wurden feierlich von der wartenden Presse sowie von ranghohen Militärs und Politikern erwartet. Das Verteidigungsministerium finanzierte diese Zeremonien, die weit aufwendiger waren als jene, die gefallenen Soldaten in den früheren Massenkriegen zuteil wurden. Das Ministerium finanziert ebenfalls ein Militärbegräbnis, sollte die Familie dies wünschen.75 Auf ähnliche Art und Weise ist das Anzac-Gedenken für die Legitimation des andauernden australischen Militäreinsatzes in Afghanistan angeeignet worden. Der ,,Gottesdienst“ bei Tagesanbruch im Melbourner Shrine of Remembrance am Anzac Day 2009 war offenkundig didaktisch. Es wurde unter anderem ein Gedicht mit sieben Versen rezitiert, wobei jeder Vers einen bewaffneten Konflikt beschrieb, in dem Australier in den vergangenen hundert Jahren gekämpft hatten. Der sechste Vers galt dem Konflikt im Irak und in Afghanistan: The image not forgotten – bright Australian spark Joking with his best mate at a station in Iraq To take his mind, for just a moment, off his situation The bombs that rip their daily strip with senseless connotation Afghanistan before that tasting terror in the air This is not the past tense; black and white – Australian troops are there Fathers’ daughters – mothers’ sons – sacrifice today

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Zitiert in: McKenna, Howard’s Warriors, S. 194. The Age, 22.11.2009. Die Information wird vom Department of Defence Public Affairs (Oktober 2009) bereitgestellt.

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Joan Beaumont

So brave to do their duty – it has always been the way For freedom’s flame they yearn And we pray, they will return.76

Den Toten des Afghanistaneinsatzes wird dieselbe Verehrung zuteil wie denen aus dem Irak. Noch während der Konflikt in vollem Gang ist, wurden ihre Namen bereits an jedem Remembrance Day in die Roll of Honour im Australischen Kriegsdenkmal eingraviert. In der Vergangenheit war es üblich gewesen, alle Namen erst nach Kriegsende gemeinsam hinzuzufügen. Die Reisekosten für die Familien der Gefallenen, die bei der Eingravierung zugegen sein möchten, werden vom Verteidigungsministerium übernommen.

Fazit Anzac im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert spielt somit auch weiterhin die Rolle des Mythos, wie Bronislaw Malinowski ihn bereits 1922 definierte: eine Erzählung über die Vergangenheit, die als Fundament für die Gegenwart dient, die später entstandene Institutionen rechtfertigt und ihren Fortbestand sichert. Während Anzac, fast ein Jahrhundert nach seiner Entstehung, viel von seiner früheren Assoziierung mit individueller Trauer und individuellem Verlust eingebüßt hat, erwies sich der Mythos als erstaunlich widerstandsfähig und als kontinuierlich neuerfindbar. In seiner sentimentalisierten und kommerzialisierten Form knüpft er ferner an populäre Konstruktionen nationaler Identität und an die Suche des Individuums nach Sinn in einer postmodernen Welt an. Dies erfolgt durch das Verbinden von persönlichen und nationalen Geschichten. Derweil dient Anzac auf der Ebene von Öffentlichkeit und Diskurs weiterhin dem Staat, indem er Männer und Frauen würdigt, die in einer hochgradig individualistischen und materialistischen Kultur in Ausübung ihrer Pflicht freiwillig ihr Leben riskieren. Gleichzeitig bestärkt er eine konservative Konstruktion von Nationalismus und legitimiert andauernde Militäreinsätze in Übersee. Dies öffentlich zu sagen heißt jedoch zu riskieren, in der populären Presse an den Pranger gestellt zu werden.77 So weit reicht die Hegemonie des Anzac-Mythos und seine Fähigkeit zur Neuerfindung, dass er seine unanfechtbare Rolle in der politischen Kultur wahrscheinlich auch in Zukunft beibehalten wird – zumindest bis die Orgie der Erinnerungspolitik im Jahr 2015 vorbei ist, die das hundertjährige Jubiläum von Gallipoli begleiten wird. 76 77

For Freedom’s Flame, Rupert McCall, 2004, von der Autorin bereitgestellt. Siehe beispielsweise Mervyn F. Bendle, Gallipoli. Second Front in the History Wars, in: Quadrant Online 53 (2009), H. 6.

Chile Stefan Rinke/Sylvia Dümmer Scheel

,,Der Sold Chiles‘‘ Gedenken an die Opfer politischer Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert Spätestens seit Vaterländer aus nationaler Begeisterung Kriege gegeneinander führten, haben Soldaten im ,,Dienste“ an denselben mehr oder weniger freiwillig ihr Leben eingesetzt und verloren. Was aber haben sie dafür erhalten? Orden und Ehrenzeichen, Denkmäler, nichts konnte und kann je im Verhältnis zu jenem ,,höchsten Opfer“ stehen, das sie erbrachten. Diese symbolischen Handlungen des politischen Totenkults sind jedoch wichtig für den Zusammenhalt derer, die die Katastrophen überlebten und sich des Sinns ihres Handelns vergewissern wollten.1 Ruhm und Ehre der Gefallenen überträgt sich so auf die Überlebenden und gibt diesen die Möglichkeit, daraus eine Forderung nach symbolischem aber auch materiellem Kapital abzuleiten. Doch nur selten wurden diese Gegenleistungen zur Zufriedenheit erbracht. Daher schwingt bei dem geflügelten Wort vom ,,Dank des Vaterlands“ im Deutschen nicht selten bittere Ironie mit. Noch stärker ist dies bei der chilenischen Redewendung ,,El pago de Chile“ (wörtlich ,,Der Sold Chiles“ ) der Fall, die dem deutschen ,,Dank des Vaterlands“ sinngemäß entspricht. Sie hat einen sardonischen Unterton und beklagt die Undankbarkeit eines Staates, der seine jungen Männer und Frauen in Kriege schickte, ohne deren Verdienste insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht angemessen zu würdigen, der die Versehrten, die Witwen und Waisen ebenso vernachlässigte wie die Masse der Gefallenen, die nicht den sozialen Eliten angehörten. Anlässe, den Dank des Vaterlands einzufordern, gab es in der chilenischen Geschichte bereits im 19. Jahrhundert zahlreiche. Die Unabhängigkeit von Spanien wurde ab 1810 bis in die 1830er Jahre hinein in langen blutigen Konflikten 1

Stefan Rinke, Säulen der Republiken. Frühe Denkmäler und Erinnerungspolitik in den nachkolonialen Amerikas, in: Hans-Werner Tobler/Peter Waldmann (Hg.), Lateinamerika und die USA im ,,langen“ 19. Jahrhundert. Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Köln 2009, S. 199– 200; Wolfgang Kruse, Strukturprobleme und Entwicklungsphasen des monumentalen Gefallenenkultes in Deutschland seit 1813, in: Manfred Hettling/Jörg Echternkamp (Hg.), Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Bundesrepublik, Göttingen 2008, S. 33–45, hier S. 34.

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erkämpft, die in Bürgerkriege übergingen. Gegen eine Konföderation der Nachbarländer Peru und Bolivien behauptete Chile im Krieg von 1836 bis 1839 seine staatliche Unabhängigkeit. Zwischen 1861 und 1883 zogen chilenische Truppen immer wieder gegen die Mapuche im Süden des Landes zu Feld, ein Krieg gegen das Fremde im vermeintlich eigenen Land, den man euphemistisch ,,Befriedung“ nannte. Teils parallel dazu führte Chile den sogenannten Pazifikkrieg (1879–1883) erneut gegen die beiden nördlichen Nachbarstaaten und konnte sich die reichen Salpeterprovinzen sichern. Seit Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich der Charakter der chilenischen Kriege entscheidend, denn die kriegerischen Auseinandersetzungen verlagerten sich nach Innen. Der Bürgerkrieg von 1891 zwischen den Anhängern des Präsidenten Balmaceda und denen des Parlaments war ein erster Höhepunkt, der lange nachwirken sollte. Bürgerkriegsartige Konflikte wie das Massaker an Salpeterarbeitern in Iquique 1907 oder an jungen Rechtsradikalen 1938 sowie der Staatsterror während der Diktatur Pinochets (1973–1989) prägten dann das 20. Jahrhundert.2 Wiesen die chilenischen Nationsbildungskriege des 19. Jahrhunderts durchaus noch Ähnlichkeiten zu europäischen Entwicklungen auf, so unterschieden sich die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts deutlich, da das Land keine weiteren Kriege gegen äußere Feinde führte. In dieser Hinsicht ähnelte der Fall Chile dem vieler anderer lateinamerikanischer Länder.3 Der Begriff der Gefallenen muss daher nicht nur für Chile, sondern für die meisten Länder Lateinamerikas auf die Opfer politischer Gewalt als solcher und insbesondere der für das 20. Jahrhundert so prägenden Bürgerkriege und Militärdiktaturen ausgedehnt werden. Wie in Europa werfen die Erfahrungen politischer Gewalt bis in die Gegenwart hinein immer wieder die Frage nach dem Umgang mit dem Gedenken an die Opfer auf.4 Dabei hat die Tatsache, dass der Tod anders als beim zivilen Sterben auf den Auftrag des Staates hin eintrat oder sogar – wie während der Diktatur – auch direkt durch den Staat verursacht wurde, die Auseinandersetzung um die richtige Form des Erinnerns immer wieder entfacht.5 Trotz der in Chile auch heute noch lebenden großen indigenen Gruppen, die als Opfer politischer Gewalt auf eine besonders lange und schmerzliche Geschichte zurückblicken können,

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Stefan Rinke, Kleine Geschichte Chiles, München 2007, passim. Die größten Ähnlichkeiten weist die Geschichte der Kriegserfahrungen in Lateinamerika mit dem Fall Spanien auf. Siehe den Beitrag von Carsten Humlebæk in diesem Band. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Ders./Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München, 1994, S. 9–20, hier S. 9. Auf den kategorialen Unterschied hat hingewiesen Manfred Hettling, Politischer Totenkult im internationalen Vergleich, in: Corinna Hauswedell (Hg.), Soldatentod in heutigen Kriegen, Loccum 2009, S. 171–194, hier S. 171.

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liefen die Konfliktlinien jedoch bisher (noch) kaum entlang ethnischer, sondern zunächst vor allem entlang sozialer und später auch ideologischer Linien.6 Zu fragen ist mithin, ob sich die Unterschiede in den chilenischen Kriegserfahrungen auch in den Formen des Gedenkens an die Opfer und Gefallenen niederschlagen. Inwiefern waren die Gedenkformen des 19. Jahrhunderts prägend für das 20. Jahrhunderts oder bildeten sich angesichts der neuen Formen politischer Gewalt auch neue Formen des Gedenkens heraus? Wie wurde die Erinnerung an die Toten im Einzelnen umgesetzt und welche Art von Erinnerungsorten entstand? Welche Bedeutung maß man ihnen zu? Welche unterschiedlichen Visionen des Gedenkens wurden umgesetzt? Wer waren die Träger der Totenkulte? Gab es eine Erinnerung ,,von unten“, die sich in der Öffentlichkeit Bahn brechen konnte? Im Folgenden sollen diese Fragen schlaglichtartig am Gedenken an die Opfer der eingangs genannten Kriege beleuchtet werden. Dazu werden zunächst die Anfänge der Heldenkulte im Zusammenhang mit dem Gründungsmoment der Nation untersucht. Sodann wird der Aufsatz den Pazifikkrieg als Sinnbild der Heroisierung näher betrachten. Der dritte Teil konzentriert sich an ausgewählten Beispielen auf die Bürgerkriege von 1890 bis zu den 1930er Jahren. Abschließend steht die neue Dimension von Opfern und Erinnerungen im Zeichen der Militärdiktatur im Mittelpunkt. Es kann sich dabei nur um eine erste Annäherung an ein Thema handeln, dem sich Historiker auch aufgrund seiner noch heute bestehenden Brisanz bislang kaum genähert haben, obwohl die Auseinandersetzung mit der Erinnerung in den Geistes- und Sozialwissenschaften der letzten Jahre enorm zugenommen hat.7 Zwar gibt es einige Studien zur Geschichte des Todes und des Totenkults in Chile8 und andererseits auch zur Geschichte der Veteranen und Hinterbliebenen der Kriegsgefallenen9 , zwar hat 6

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Bis heute gibt es kein Denkmal für die gefallenen Indigenen, die aus dem Geschichtsbewusstsein der Chilenen verdrängt sind. Stefan Rinke, ,,Grenze“ als Urerfahrung in Lateinamerika. Mapuche in Chile zwischen Mythos und Verleugnung, in: Stefan Rinke u. a. (Hg.), Abgrenzen oder Entgrenzen. Zur Produktivität von Grenzen, Frankfurt a.M. 2003, S. 111–130. Die ethnische Dimension der Auseinandersetzung mit der chilenischen Vergangenheit untersucht derzeit Andrea Riedemann Fuentes in einem Dissertationsprojekt am Lehrstuhl für Geschichte Lateinamerikas der FU Berlin. Siehe dazu etwa Hans-Joachim König u. a. (Hg.), Memorias de la nación en América Latina. Transformaciones, recodificaciones y usos actuales, México 2009; Elizabeth Jelin/Victoria Langland (Hg.), Monumentos, memoriales y marcas territoriales, Madrid 2003. Carmen Mc Evoy, El regreso del héroe. Bernardo O´Higgins y su contribución en la constricción del imaginario nacional chileno, 1868–1869, in: Dies. (Hg.), Los Funerales Republicanos en América del Sur. Tradición, Ritual y Nación 1832–1896, Santiago 2006, S.125–155; Alejandro San Francisco, La apoteosis de Balmaceda. Desde la tumba solitaria a la gloria (Santiago, 1896), in: Ebd. Carlos Méndez Notari, Héroes del Silencio. Los Veteranos de la Guerra del Pacífico, Santiago 2004.

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die Debatte um die Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit gerade in jüngster Zeit mit der Eröffnung des neuen Museums der Erinnerung (Museo de la Memoria) wieder hohe Wellen geschlagen10 , doch bleibt die historische Dimension des Gedenkens an die Opfer politischer Gewalt noch weitestgehend im Dunkeln.

Unabhängigkeit und Heldenkult Seit den Kämpfen um die Unabhängigkeit von Spanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden in Chile wie in den anderen lateinamerikanischen Staaten Gründungsmythen, die sich um die entscheidenden Schlachten und die siegreichen Heerführer rankten. Sie wurden zu den ersten Helden der jungen Republiken, zu Persönlichkeiten, die bis auf den heutigen Tag als ,,Väter des Vaterlands“ (padres de la patria) verehrt werden. Der in Denkmälern materialisierte Heldenkult hatte in Chile jedoch Anlaufschwierigkeiten. Wenngleich schon sehr früh Gedenkfeiern für die Gefallenen abgehalten wurden, so kam es doch in der Frühphase noch zu keinen Denkmälern oder Ritualen, die über den Moment der Andacht hinauswirken wollten. Allerdings bestand durchaus der Wunsch derartige Monumente zu errichten. Im Jahr 1827 zirkulierte ein Vorschlag, ,,dem Gedenken an die zahlreichen Helden, die auf dem Altar des Vaterlands für dessen Unabhängigkeit und Freiheit geopfert wurden“, Denkmäler zu widmen. Es sollten Pyramiden mit eingravier10

Stephan Ruderer, Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990–2006, Göttingen 2010. Steve Stern, De la memoria suelta a la memoria emblemática. Hacia el recordar y olvidar como proceso histórico (Chile, 1973–1998), in: Mario Garcés u. a. (Hg.), Memorias para un nuevo siglo. Chile, miradas a la segunda mitad del siglo XX, Santiago 2000, S.11–33; Steve Stern, Remembering Pinochet’s Chile. On the eve of London, 1998, Durham 2004; ders., Battling for hearts and minds. Memory struggles in Pinochet’s Chile, 1973–1988, Durham 2006; Azun Candina, El día interminable. Memoria e instalación del 11 de septiembre de 1973 en Chile (1974–1999), in: Elizabeth Jelin (Hg.), Las conmemoraciones. Las disputas en las fechas “in-felices”, Madrid 2002, S.9–53; Ximena Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto. A propósito de la Llama de la Libertad y/o Altar de la Patria y del Memorial del Detenido Desaparecido y del Ejecutado Político, Santiago 2000, unveröffentlicht; Michael Lazzara, Tres recorridos por Villa Grimaldi, in: Jelin/Langland, Monumentos, memoriales y marcas territoriales, S.127–146; Alexander Wilde, Irruptions of Memory. Expressive Politics in Chile’s Transition to Democracy, in: Journal of Latin American Studies 31 (1999), H. 2, S.473–500; Katherine Hite, El monumento a Salvador Allende en el debate político chileno, in: Jelin/Langland, Monumentos, memoriales y marcas territoriales, S.19–56; Alfredo Joignant, Un día distinto. Memorias festivas y batallas conmemorativas en torno al 11 de septiembre en Chile, 1974–2006, Santiago 2007; Claudia Rojas Mira, Hornos de Lonquén. Lugar de memoria, in: Klaus Bodemer u. a. (Hg.), Violencia y regulación de conflictos en América Latina, Caracas 2001,S.303–315; Brian Lovemann/Elizabeth Lira, Las ardientes cenizas del olvido, vía chilena de reconciliación política, 1932–1994, Santiago 2000.

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ten Versen zu Ehren der Helden auf der Plaza de Armas, dem zentralen Platz der Hauptstadt, errichtet werden.11 Allerdings wurde der Beschluss nicht umgesetzt. So bemerkte ein französischer Architekt noch 1849, dass ,,der Fremde, der Chile bereist, umsonst nach einem Symbol sucht, dass die Caudillos der Unabhängigkeit ebenso ehrt wie das Volk, das ihnen dabei half, indem es sein Blut vergoss.“12 Das Fehlen von Denkmälern lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass der erste Regierungschef Chiles, Bernardo O’Higgins (1817–1823), jeglichen Kult um seine Person ablehnte. Die Symbole, die in dieser Frühphase den Zusammenhalt der Nation garantieren sollten, waren vielmehr die Fahne, das Wappen und die Nationalhymne.13 Auch die Tatsache, dass es zwischen den einzelnen Fraktionen der Unabhängigkeitsbewegung schon bald zu offenen Machtkämpfen kam, verhinderte die Konsensbildung hinsichtlich der Vergangenheitspolitik. Immerhin wollte O’Higgins die Erinnerung an die Entscheidungsschlachten durchaus bewahren und gab entsprechende Monumente in Auftrag. Obwohl diese Initiativen sich erst sehr viel später konkretisierten und ihre Ästhetik daher einem anderen Kontext zuzurechnen ist, ist es wichtig festzuhalten, dass es dem Director Supremo um Symbole ging, die direkt am Ort des Geschehens errichtet werden sollten, ,,dem Hauptschauplatz der Schlacht“14 , und dass sie nicht das Individuum, sondern das Ereignis in den Mittelpunkt stellen sollten. Eine weitere Initiative von O’Higgins spiegelte die Bedeutung des Katholizismus in dieser nationalen Symbolsprache wider. So unterzeichnete er ein Dekret, dass den Bau einer Kapelle am Ort der Entscheidungsschlacht von Maipú vorsah, deren Fertigstellung sich bis 1892 hinzog.15 Auch für die Helden der Unabhängigkeit wie Bernardo O’Higgins und José Miguel Carrera errichtete man erst dann Denkmäler, als die Kämpfe zwischen den Fraktionen der Unabhängigkeitsbewegung ausgestanden waren und als sich ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts die Mode des individuellen Reiterdenkmals durchzusetzen begann. Die erste Diskussion um ein derartiges Monument ergab sich 1837 nach dem Attentat auf den Premierminister Diego Portales. Der Nationalkongress nahm dies zum Anlass die Errichtung einer Bronzestatue zu dekretieren, womit die Grundlagen für die neue Form des Gedenkens in Chile gelegt wurden.16 Fertiggestellt wurde die Statue erst während der Präsident11 12 13 14

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Liisa Voionmaa, Escultura Pública. Del monumento conmemorativo a la escultura urbana, Santiago 1792–2004, Santiago 2004, S. 82. Voionmaa, Escultura Pública, S. 106. Ebd. Die Historikerin Liisa Voionmaa erkennt einen Einfluss durch Ernst Moritz Arndt, der 1814 forderte, dass das Denkmal zur Völkerschlacht von Leipzig auf dem Schlachtfeld selbst errichtet werden sollte, da dort das Blut geflossen sei. Ebd., S. 76. Ebd., S. 76f. Ebd., S. 97.

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schaft Manuel Montts, der sich bewusst in die Tradition des autoritären Ministers stellen wollte.17 In diesen Jahren entstanden auch die Skulpturen der Unabhängigkeitshelden José de San Martín (1863) und José Miguel Carrera (1864)18 , während man über den Guerrillero Manuel Rodríguez keinen Konsens erzielte, so dass sich dessen Totenkult erst Jahrzehnte später manifestierte.19 Handelte es bei diesen erinnerungspolitischen Maßnahmen aber um einen Gefallenenkult? Dies war sicher nicht der Fall, denn die historische Bedeutung dieser Heldenfiguren lag nicht allein in den Ursachen und Umständen ihres Todes begründet, sondern vielmehr in ihren Lebensleistungen. Außerdem gab es zunächst auch weder öffentliche Rituale noch Gedenkfeiern, die die lebendige Bedeutung dieser Denkmäler für die Zukunft abgesichert hätten. Um die Erinnerung an die Toten in einen Totenkult zu verwandeln und um zu verhindern, dass die ursprüngliche Botschaft des Denkmals in Vergessenheit gerät, sind derartige Formen des Gedenkens unabdingbar.20 Wenn dieses nicht stattfindet, bleibt nur der ästhetische Wert der Skulptur erhalten.21 Eine erinnerungspolitische Ausnahmeerscheinung in dieser frühen Phase der chilenischen Geschichte waren die Gedenkfeiern, die sich mit der Umbettung der Gebeine von Bernardo O’Higgins und der Errichtung eines Denkmals zu seinen Ehren verbanden. Wenngleich auch in diesem Fall nicht der Tod als solcher im Mittelpunkt des Gedenkens stand, so bildeten die umfangreichen Ehrenbezeugungen für O’Higgins 1868/69 doch eine ritualisierte Form des Erinnerns unter großer Beteiligung der Bevölkerung. Wenige Jahre später wurde dies durch die Einweihung einer vom französischen Bildhauer Albert-Ernest Carrier-Belleuse, einem Schüler Rodins, geschaffenen Reiterstatue des ,,Befreiers“ – mit einem Gefallenen zu Füßen – auf der Hauptstraße, der Alameda, noch unterstrichen.22 Obwohl man mit O’Higgins nicht den Gefallenen an sich ehrte, so schuf der Heldenkult um den Befreier doch die Grundlage für nationale Gedenkformen, die sich später verfestigen sollten.23 Die Choreographie der Umbettung von O’Higgins schuf das Vorbild für die nationalen Heldenkulte und Versöhnungsakte der Folgejahre, in denen die Kathedrale und der Zentralfriedhof der Hauptstadt zu den zentralen Orten des Gedenkens wurden.24 Ein weiteres prägendes Charakteristikum dieses feierlichen Aktes war die Tatsache, dass er erst 17 18 19 20 21 22 23 24

Simon Collier, Chile. The making of a Republic, 1830–1865. Politics and Ideas, Cambridge 2003, S. 159. Voionmaa, Escultura Pública, S. 109. Ebd., S. 114. Michael Jeismann/Rolf Westheider, Wofür stirbt der Bürger?, in: Koselleck/Jeismann, Der politische Totenkult, S. 23–50, hier S. 43. Koselleck, Einleitung, S. 10. Voionmaa, Escultura Pública, S. 111. Mc Evoy, El regreso del héroe, S. 149–152. Ebd., S. 155.

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mit großer Verzögerung zustande kam. 1823 dankte O’Higgins ab und ging ins Exil nach Lima, wo er 1841 starb. 1844 bestimmte ein chilenisches Gesetz die Heimholung seiner Gebeine. Doch mussten nochmals 25 Jahre vergehen, ehe es in die Tat umgesetzt wurde, da die Entscheidung zunächst politischen Widerstand auslöste. Erst als der Moment für eine ,,nationale Aussöhnung“ gekommen schien, waren selbst seine ehemaligen Widersacher bereit, den Schleier des Vergessens über die autoritären Anwandlungen von O’Higgins zu legen. Damit verfolgten die Regierenden eindeutig politische Ziele. Die Umbettung von O’Higgins war eine Antwort auf die Notwendigkeit, für eine zu diesem Zeitpunkt hochgradig polarisierte Gesellschaft Symbole zu finden, die einerseits Einheit stiften und andererseits den regierenden Eliten eine Legitimationsgrundlage geben sollten.25

Die heroische Nation: Der Pazifikkrieg (1879–1883) und seine Helden War der Kult um O’Higgins Ende der 1860er Jahre eine willkommene Gelegenheit, um die Einheit der Nation zu zelebrieren, so verhalf der Pazifikkrieg (1879–1883) dem Land zu neuen Helden. Vor 1879 hatte Chile zwei auswärtige Kriege geführt: zum einen den erfolgreichen Feldzug gegen die peruanischbolivianische Konföderation von 1830 und zum anderen den Krieg gegen Spanien 1868. Weder der eine noch der andere hatte jedoch Stoff für Heldenkulte geliefert. Der Konflikt von 1868 endete gar mit der Zerstörung der Hafenstadt Valparaíso.26 Nicht zuletzt deshalb war der Sieg gegen die Nachbarländer Peru und Bolivien und die Eroberung der großen und reichen Salpetervorkommen im Norden Anlass zu einer Welle des Patriotismus. Die wichtigste Heldenfigur dieses Krieges war zweifellos Kapitän Arturo Prat Chacón, der in der Seeschlacht von Iquique am 21. Mai 1879 fiel. Sein Auftreten bot genügend Stoff für einen neuen Nationalmythos, obwohl die Schlacht an sich in einer vernichtenden Niederlage für die Chilenen endete. Schon wenige Tage nach dem Ereignis feierte man Prat aufgrund seiner Opferbereitschaft in Chile als neuen Nationalhelden. Wie bereits William Sater in seiner Arbeit über den Heldenkult um Prat festgestellt hat, war es das Selbstopfer des Helden, das die Niederlage in der Schlacht in einen moralischen Triumph verwandelte.27 Prat wurde zum ersten Märtyrer im Pantheon der chilenischen Nationalhelden, weil ihn die Art seines Todes über die Masse der Bürger heraushob und ihm einen 25 26 27

Mc Evoy, El regreso del héroe, S. 126–128 und S. 148. William Sater, The Heroic Image in Chile. Arturo Prat, Secular Saint, Berkeley 1976, S. 56. Ebd., S. 52.

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besonderen überindividuellen Wert verlieh. Im Kult um Prat lassen sich erste Anklänge eines Gefallenenkultes erkennen, ging es doch zentral um den Sinn des gewaltsamen Todes im Krieg für Volk und Vaterland.28 Prat starb ,,für das Vaterland“ und die Zeitgenossen interpretierten sein Opfer als ein Beispiel selbstlosen Patriotismus’, das für den Rest der Nation eine Verpflichtung darstellte. Man verehrte ihn in der Folgezeit weitaus nachhaltiger als die siegreichen chilenischen Militärs, die der Pazifikkrieg in der Folgezeit hervorbrachte, da diese ,,nicht das Glück gehabt“ hätten, ihre Bereitschaft zum Selbstopfer unter Beweis zu stellen. Selbst die Regierungsverantwortlichen gaben die Parole aus, dass jedermann Schlachten gewinnen könne, dass das Selbstopfer aber der ultimative Nachweis von Größe sei. Erhärtet wurde diese These durch die Rolle der katholischen Kirche in der chilenischen Gesellschaft, die traditionell sehr einflussreich war. Prat wurde zum säkularen Heiligen, den man in Gottesdiensten verehrte. Dieses Denken fand seinen Widerhall in den Vorstellungen der indigenen Mapuche, die ebenfalls den opferbereiten Kriegsgefallenen in besonderer Weise verehrten. Schon in O’Higgins’ berühmten Diktum ,,Entweder ehrenhaft leben oder ruhmreich sterben“ spiegelte sich dies wider. Prat war der Erste, der den damit vorgegebenen Standard für einen wahrhaft ,,großen Chilenen“ erfüllte, und er konnte somit zum nationalen Helden und Märtyrer werden. Im Gegensatz zu den Helden der Unabhängigkeit ließ die kultische Verehrung in diesem Fall auch nicht lange auf sich warten. In kürzester Zeit errichtete man mit von der Kriegsmarine gesammelten Spendengeldern ein Denkmal und ein Mausoleum für Prat und seine Begleiter, die ,,Helden von Iquique“, das bereits 1886 eingeweiht werden konnten.29 Der Kult um Prat hat bis auf den heutigen Tag überdauert. Von Beginn an pflegte man die Erinnerung an die Schlacht von Iquique durch ein Te Deum, Aufmärsche auf der Alameda und festliche Akte rund um das Denkmal. 1897 erklärte die chilenische Regierung den 21. Mai erstmals zum Feiertag für Schüler und 1915 wurde er zu einem Nationalfeiertag. Wenngleich sich die Rituale seitdem Jahr für Jahr wiederholen, hat sich der Sinngehalt des Kultes durchaus verändert. Den Märtyrer Prat instrumentalisierten unterschiedliche politische Gruppierungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten immer wieder neu, denn sein Motto, für das Vaterland zu sterben, war vielfältig nutzbar. In der Tat wuchs die Bedeutung

28 29

Kruse, Strukturprobleme und Entwicklungsphasen des monumentalen Gefallenenkultes in Deutschland seit 1813, S. 34. Siehe auch Koselleck, Einleitung, S. 11–13. Sater, The Heroic Image in Chile, S. 52–56. Zur Gestaltung des Denkmals siehe Voionmaa, Escultura Pública, S. 137. Auch das chilenische Heer fand in diesem Krieg neue Helden, die allerdings nicht über dasselbe Ansehen verfügten wie die der Marine. Es handelte sich um die 77 Soldaten, die in der Schlacht von Concepción unter dem Befehl von Ignacio Carrera Pinto fielen. Ihre Herzen wurden in der Kathedrale von Santiago begraben. Ein Denkmal erhielten sie erst 1923.

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Abbildung 1: Beerdigung der sterblichen Überreste von Arturo Prat, Ignacio Serrano und Juan de Dios Aldea im Mausoleum auf der Plaza Sotomayor, Valparaíso (Quelle: La Ilustración española y americana [Publicaciones periódicas]. Jg. 32, Nr. 30).

auch dieses Totenkults mit der Zeit immer weiter an.30 So wurde aus Prat zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Modell der raza chilena, der ,,chilenischen Rasse“, und später die Personifizierung ,,von moralischen und bürgerlichen“ Tugenden sowie schließlich – z. B. während der Diktatur von Carlos Ibañez del Campo in den 1920er Jahren – ein Vorbild des Gehorsams gegenüber den Autoritäten.31 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Arturo Prat eine der wenigen nationalen Heldengestalten der chilenischen Geschichte ist, die konsensfähig ist, da er in einem Krieg gegen äußere Feinde fiel. Der Pazifikkrieg brachte aber nicht nur einen neuen Nationalhelden hervor, sondern auch eine Hinwendung zum einfachen Soldaten aus dem Volk, dem sogenannten roto chileno. Die Idee des ,,Volkssoldaten“ hatte sich bereits während des Kriegs gegen die Peruanisch-Bolivianische Konföderation von 1836–1839 herausgebildet, als erstmals darüber nachgedacht wurde, die Arbeiter und Bauern zu ehren, die ,,ihr Arbeitszeug niederlegten, um die Waffen zu ergreifen“ und das Vaterland zu verteidigen.32 Zunächst wurde das Projekt jedoch nicht umgesetzt. Erst als der patriotische Enthusiasmus während des Pazifikkriegs erneut auflebte, konnte das Gedenken an den einfachen chilenischen Gefallenen Gestalt gewinnen. Nun waren auch die Autoritäten bereit, den zahllosen Opfern aus dem gemeinen Volk ebenso die Ehre zu erweisen wie den großen militärischen Anführern.33 Auf der neuen Plaza Yungay wurde 1888 ein Denkmal eingeweiht, das der chilenische Künstler Virginio Arias34 geschaffen hatte. Im Gegensatz zu den bis dahin bekannten Monumenten stellte das Werk mit dem Titel ,,Ein Held des Pazifiks“ einen unbekannten Soldaten dar, der für das kämpfende Volk als 30 31 32

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Das haben festgestellt Jeismann/Westheider, Wofür stirbt der Bürger?, S. 43f. Sater, The Heroic Image in Chile, S. 71f. und passim. So der Intendant von Santiago bei der Eröffnung des Denkmals für den roto chileno am 7.10.1888 auf der Plaza Yungay. Siehe Rafael Carranza, La Batalla de Yungay. Monumento al Roto Chileno, Santiago 1939, S. 61. Ebd., S. 58–65. Voionmaa, Escultura Pública. S. 134.

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Abbildung 2: Denkmal für den ,,Roto Chileno“ auf der Plaza Yungay, Santiago (Foto: Andrea Riedemann).

solches stehen sollte. Als Aufschrift wählte man die Worte: ,,Chile, mit Dank an seine Söhne für ihre bürgerlichen und kriegerischen Tugenden.“35 Die Einweihung des Denkmals fand am 7. Oktober 1888 vor einem Massenpublikum statt. Eigens zu diesem Anlass entstand eine Hymne für den roto chileno, die alle Anwesenden begeistert mitsangen. Die Festredner priesen den Mut und die Vaterlandsliebe des roto, wenngleich allen Beteiligten klar sein musste, dass der durchschnittliche chilenische Rekrut keineswegs aus patriotischer Begeisterung in den Krieg gezogen war, sondern durch Gewalt oder Betrug zum Waffendienst gepresst wurde.36 Mit diesem Akt bezweckten die Veranstalter zweifellos eine Geste der Versöhnung gegenüber den einfachen Soldaten, die bis dahin keinerlei Anerkennung für ihre Opfer in den Kriegen Chiles erfahren hatten. So betonte der Intendant Santiagos in seiner Festrede denn auch, dass es ,,endlich an der Zeit sei, die immense Dankesschuld“ abzutragen, die man dem roto chileno schulde.37 In der 35 36 37

Zitiert nach Carranza, La Batalla de Yungay, S. 58–60. Méndez Notari, Héroes del Silencio, S. 19 und S. 34. Carranza, La Batalla de Yungay, S. 59f. Zu den Rekrutierungspraktiken der chilenischen

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Tat kamen in diesem Zusammenhang auch durchaus sozialkritische Töne auf, die dem sich langsam wandelnden Zeitgeist geschuldet waren. So hob der Schriftsteller Enrique Nercassau hervor: ,,Hoffentlich wird diese Verherrlichung des einfachen Dieners, des unbekannten Helden ohne Namen und Familie aber mit Herz und Größe der Beginn einer Ära der Gerechtigkeit sein, in der ihm alle seine Rechte vor dem Gesetz zuerkannt werden, damit er zu einem gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft wird und zu einem Bruder vor dem menschlichen Gewissen und vor Gott.“38 Doch sollte dieser Ruf kein Gehör finden. Selbst die Kriegsversehrten und Hinterbliebenen des Pazifikkriegs gerieten schnell in Vergessenheit und beklagten, dass sie in Armut leben mussten, nachdem sie den Krieg ausgefochten hatte, der ,,Chile reich gemacht hatte“. Eine angemessene Versorgung blieb ihnen versagt, die Almosen, die man ihnen an den Jahrestagen der großen Schlachten spendete, waren ein schwacher Trost.39 Um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, benutzten die Veteranen den Begriff el pago de Chile, der sich schon bald in ein geflügeltes Wort im chilenischen Alltagsgebrauch verwandeln sollte.40 Ihre Forderungen blieben jedoch unerfüllt abgesehen davon, dass man 1906 ein Mausoleum auf dem Zentralfriedhof für sie errichtete.41 Das Denkmal auf der Plaza Yungay dagegen fand in der breiten Öffentlichkeit durchaus Anklang. Jährlich trafen sich dort am 20. Januar Chilenen aus den unteren Bevölkerungsschichten, um den roto chileno – und damit sich selbst – mit üppigen Gelagen, mit traditionellen Tänzen und Musik zu feiern.42

Bürgerkriege und Totenkult Der Pazifikkrieg war der letzte chilenische Krieg gegen einen äußeren Feind und somit auch der letzte Konflikt, der konsensfähige Helden und Märtyrer hervorbrachte. In den folgenden Jahrzehnten waren die Opfer politischer Gewalt auf interne Konflikte zurückzuführen, deren Gedenken jeweils nur von bestimmten Fraktionen betrieben wurde. 1891 kam es zum wichtigsten Bürgerkrieg in der chilenischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, der zum Sturz des Präsidenten Juan Manuel Balmaceda führte. In der Folgezeit erlebte Chile zwei weitere große Ausbrüche politischer Gewalt, die sich mehr oder weniger tief ins kollektive Ge-

38 39 40 41 42

Armee siehe Leonardo León, Reclutas forzados y desertores de la patria. El bajo pueblo chileno en la guerra de la independencia, 1810–1814, in: Historia 35 (2002), S. 251–297. Carranza, La Batalla de Yungay, S. 64. Méndez Notari, Héroes del Silencio, S. 19 und S. 54. Ebd., S. 71. Ebd., S. 68. Carranza, La Batalla de Yungay, S. 65.

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dächtnis eingraben sollten: das Massaker an Salpeterarbeitern nahe der Schule Santa María in der Stadt Iquique von 1907 sowie die Ereignisse im Gebäude der Arbeiterversicherung (Seguro Obrero) 1938. In beiden Fällen versuchten die Regierenden die Vorfälle herunterzuspielen und die Presse zum Schweigen zu bringen. Eine offizielle Anerkennung der Opfer erfolgte nicht. Daher war es an Parteifreunden und Angehörigen, die Gefallenen zu rehabilitieren und damit den Kampf gegen die Machthaber aufzunehmen. Im Bürgerkrieg von 1891 entwickelte die später siegreiche Parlamentspartei noch während der Kämpfe einen neuen Märtyrerkult um die jungen Kriegsgefangenen, die Präsident Balmaceda in der sogenannten Matanza de Lo Cañas hatte erschießen lassen. Schnell ließ sich das Bemühen erkennen, die Opfer auf eine Stufe mit Arturo Prat zu stellen, dem wichtigsten Symbol des Selbstopfers. ,,Wenn Prat ein Denkmal verdiente, so verdienen es auch die jungen Märtyer [von Lo Cañas]“, hieß es in einer zeitgenössischen Schrift.43 Bald organisierte man Spendensammlungen für ein weiteres Ehrenmal auf dem Zentralfriedhof. Die besiegten Anhänger des Präsidenten hatten dagegen nicht nur zahlreiche Opfer zu beklagen, sondern mussten auch den Tod des Präsidenten Balmaceda beklagen, der sich das Leben nahm, nachdem er in der argentinischen Botschaft Asyl gefunden hatte. Balmaceda verstand es, seinen Selbstmord am Tag des verfassungsmäßigen Ablaufs seiner Amtszeit geschickt zu inszenieren. Außerdem hinterließ er ein ,,politisches Testament“, in dem er seine Liebe zum Vaterland beschwor. Die Balmacedisten konnten ihren Präsidenten nicht sofort verehren, da sie sich nach Kriegsende vielfältigen Verfolgungen ausgesetzt sahen.44 Ihre siegreichen Gegner hatten für den Selbstmord nur Verachtung übrig, und das Begräbnis Balmacedas musste denn auch im Geheimen stattfinden.45 Doch in den darauf folgenden Jahren sollte sich das politische Klima bald wieder entspannen. Amnestiegesetze erlaubten es den Anhängern Balmacedas, aus dem Exil zurückzukehren und wieder öffentliche Funktionen zu übernehmen.46 In diesem Zusammenhang entstand die neue Liberaldemokratische Partei, die sich ab 1893 für eine Neubewertung der zurückliegenden Ereignisse einsetzte. Mittels unterschiedlicher Veröffentlichungen bemühten sich die Liberaldemokraten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Außerdem veranstalteten sie Treffen und Feierstunden am (halb-)geheimen Grab Balmacedas.47 Der Ex-Präsident wurde zum Verteidiger des Volkes und sein Tod als höchstes Opfer für das Vaterland verklärt. Bald schon sprach man seitens seiner Anhänger offen vom 43 44 45 46 47

Jorge Olivos Borne, La matanza de lo Cañas, Santiago 1892, S. 127f. Alejandro San Francisco, La Guerra Civil de 1891, Santiago 2007–2008, S. 332. Siehe auch ders., La apoteosis de Balmaceda, S. 190–192. San Francisco, La apoteósis, S. 180. Ebd., S. 195f. San Francisco, La guerra civil, S. 253 und S. 329.

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,,Märtyrerpräsidenten“ und betrachtete ihn als Helden der Republik und Erlöser des Volkes.48 Der Boden war damit bereitet für eine vollständige Rehabilitierung Balmacedas, die durch ein ehrenvolles Begräbnis eindrucksvoll inszeniert werden sollte. Bereits 1896 konnte die Grablegung der Gebeine des Expräsidenten als Akt der nationalen Versöhnung gefeiert werden. Das feierliche Ereignis gestaltete sich so eindrucksvoll, dass seine Anhänger von der ,,Apotheose“ Balmacedas sprachen. Tausende Menschen schlossen sich dem Sternmarsch an, der zum Zentralfriedhof führte. Angeführt wurde er von hochrangigen Vertretern des dem Präsidenten seinerzeit treuen Militärs. Wie tief die Wunde des Bürgerkriegs allerdings noch immer war, zeigte die Tatsache, dass die amtierende Regierung den Feierlichkeiten demonstrativ fernblieb.49 Doch abgesehen von den weiter andauernden politischen Auseinandersetzungen um das Gedenken an Balmaceda setzte sich das Konzept des ,,Präsidenten des Volkes“ durchaus durch. Chilenen unterschiedlichster sozialer Schichten statteten dem Grab des Ex-Präsidenten Besuche ab und flehten seinen Geist um Hilfe an. Mit der Zeit verwandelte sich die Ruhestätte auf dem Zentralfriedhof in einen volkstümlichen Altar, eine animita, auf dem man Unmengen an Votivbildern, Bittschriften, Blumen und Kerzen fand, wie der Schriftsteller Joaquín Edwards Bello schon 1921 eindrucksvoll darstellte.50 Die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen um den Bürgerkrieg von 1891 sollten sich auch in den folgenden Jahrzehnten noch fortsetzen. So kam es beispielsweise erst 1922 zur Umbettung der Gebeine zweier führender Generäle Balmacedas, obwohl diese zu den Heldengestalten des Pazifikkriegs zählten. Erst zu diesem späten Zeitpunkt konnten sich die Widersacher von einst wieder Aug in Aug gegenübertreten und ihren alten Konflikt begraben, indem sie gemeinsam betonten, dass die Treue ein Wert an sich sei, vor dem man sich verneigen müsse. So hieß es nun in den Grabreden, dass die Einheit des Militärs wichtiger sei als die alten Streitpunkte. Trotz dieser versöhnlichen Worte wurde die Errichtung eines Denkmals für den Ex-Präsidenten nach einem fehlgeschlagenen Anlauf im Abgeordnetenhaus 1913 erst 1947 beschlossen und zog sich dann noch bis 1949 hin.51 Der Bürgerkrieg von 1891 gab den Ton an für die Verschärfung der innenpolitischen Auseinandersetzungen. Insbesondere durch den Aufstieg der chilenischen Arbeiterbewegung ergaben sich um die Jahrhundertwende neuartige Konfliktlinien, die sich bald schon an Ausbrüchen politischer Gewalt 48 49 50 51

San Francisco, La apoteósis, S. 194–195 sowie ders., La guerra civil, S. 253. San Francisco, La apoteósis, S. 180–199. Zitiert nach Oreste Plath, L’Animita, Santiago 1995, S. 38. San Francisco, La guerra civil, S. 352–356; Lovemann/Lira, Las ardientes cenizas del olvido, S. 248.

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ablesen ließen. Einen ersten Höhepunkt erreichten die Konfrontationen mit dem Massaker von Santa María de Iquique 1907, als das Militär hunderte streikende Salpeterarbeiter und deren Angehörige niedermähte. Erneut war die Regierung darum bemüht, das Ereignis totzuschweigen. Die Presse wurde scharf zensiert und die Opfer ohne Ausstellung von Totenscheinen in einem Massengrab verscharrt. Die Bemühungen einzelner Parlamentsabgeordneter zur Schaffung eines Untersuchungsausschusses verliefen zunächst im Sande.52 Doch nahm sich die Arbeiterpresse der Angelegenheit an. In den Darstellungen der zahlreichen kleinen Zeitungen, die sich oft Verfolgungen ausgesetzt sahen, wurden das Massaker zu einem Akt der Selbstaufopferung für das Volk und die Opfer als Vorbilder für alle Mitglieder der Arbeiterbewegung stilisiert, die es nachzuahmen galt, um den vereinten Kampf für die Rechte des Volks fortzusetzen: ,,So wie das Vaterland Monumente der Bewunderung für die ruhmreichsten Helden und ihre unvergesslichen Taten errichtet, so müssen auch wir Arbeiterinnen und Arbeiter in unseren Seelen ein Denkmal meißeln, dass die Erinnerung an die in Iquique ermordeten Märtyrer unsterblich macht.“53 Was sich an diesem Zitat ablesen lässt, ist die klare Erkenntnis, dass der Staat die Opfer des Massakers nicht als erinnerungswürdig anerkennen würde, so dass die unterschiedlichen Gruppierungen der Arbeiterbewegung selbst für die Etablierung eines Gedenkens an ihre Gefallenen verantwortlich war, das von Beginn an die Züge einer Gegenerinnerung trug. Der Jahrestag des Massakers sah in den Folgejahren Massendemonstrationen von Salpterarbeitern in Iquique. Schnell fand das Thema auch Eingang in die zeitgenössische chilenische Literatur. So blieb das Massaker von Santa María de Iquique zwar Bestandteil der kollektiven Erinnerung der chilenischen Arbeiter, doch zu einem Anliegen der Regierenden wurde das Gedenken an die Opfer erst mit dem Machtantritt der Unidad Popular unter Salvador Allende (1970–1973). Die Märtyrer von Iquique eigneten sich hervorragend für die Anklage gegen die bis dahin herrschenden Oligarchien. Mit kulturpolitischen Maßnahmen unterstützte die Regierung Allende die Bemühungen, das Ereignis ins kollektive Bewusstsein zu rücken. Besonders wichtig dabei war die berühmte ,,Kantate von Santa María de Iquique“, die Luis Advis 1973 veröffentlichte und die durch die Interpretation der Folkloregruppe Quilapayún schnelle Verbreitung fand. Diese Vertonung brachte das Massaker zurück in den Bestand kollektiver Erinnerungen.54 52

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Pablo Artaza, El impacto de la matanza de Santa María de Iquique. Conciencia de clase, política popular y movimiento social en Tarapacá, in: Cuadernos de Historia, Universidad de Chile 18 (1998), 169–227, hier S. 177; Simon Collier/William F. Sater, A history of Chile, 1808–1994, Cambridge 1996, S. 196. Artaza, El impacto de la matanza de Santa María de Iquique, S. 180f. Luis Advis, Santa María de Iquique, Libros para el Tercer Mundo, Santiago 1973; Rafael

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Abbildung 3: Wandgemälde der Brigade Ramona Parra in Erinnerung an die Hundertjahrfeier des Gedenkens an das Massaker der Schule Santa María in Iquique (Detail) (Foto: Brigada Ramona Parra).

Durch den Militärputsch im selben Jahr wurden diese erinnerungspolitischen Bemühungen zunichte gemacht und Quilapayún musste wie viele andere chilenische Kulturschaffende ins Exil gehen. Erst nach der Rückkehr zur Demokratie war das Gedenken an das Massaker wieder offiziell möglich und die Kantate wurde und wird vielerorts am Jahrestag des Geschehens aufgeführt. Weitere Maßnahmen schlossen sich in den 1990er und 2000er Jahren an. So entstanden Wandbilder in Iquique und zum hundertsten Jahrestag brachte Präsidentin Michelle Bachelet ein Gesetz zur Errichtung von Denkmälern in Iquique, Santiago und Valparaíso ein.55 Begründet wurde dieser Schritt mit den langfristigen Auswirkungen des Massakers, die als Startsignal für die Einführung einer ersten Arbeits- und Sozialgesetzgebung gelten konnten. Der Sinn der Opfer von Iquique wurde also postum durch die damit vollzogene Wende in der chilenischen Sozialpolitik konstruiert, der sich die Regierungen bis heute verpflichtet fühlen. Die innenpolitischen Konflikte spitzten sich im Schatten der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren weiter zu. Der Aufstieg kommunistischer und faschistischer Bewegungen fand seinen Widerhall auch in Chile, wo sich ein Movimiento Nacional Socialista (MNS, National-Sozialistische Bewegung) bildete, der 1938 einen Putschversuch gegen die konservative Regierung Arturo Alessandris durchführte.56 Eine Gruppe junger Aktivisten besetzte in diesem Zusammenhang unter anderem das Gebäude der Arbeiterversicherung, die Casa del Seguro Obrero. Obwohl sich die Männer ergaben, als Polizeieinheiten das Gebäude umzingelten, wurden sie erschossen. Die Polizei versuchte den

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Otano, Quilapayún, “Cantata de Santa María de Iquique” . Un canto épico popular y una reflexión política, in: Revista Mensaje 194 (1970), S.542–544. Biblioteca Congreso Nacional, Historia de la Ley Nº 20.274. Autoriza construcción de monumentos a víctimas de la masacre de la Escuela Santa María, de Iquique, http:// www.bcn.cl/histley/lfs/hdl-20274/HL20274.pdf (28.03.2010). Rinke, Kleine Geschichte Chiles, S. 125f.

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Eindruck zu erwecken, sie habe in Notwehr gehandelt, doch die Angehörigen der Opfer hegten von Beginn an Zweifel an dieser Version.57 Um die Wahrheit zu vertuschen, ließ die Regierung die Presse zensieren und den Notstand ausrufen. Dennoch verbreitete sich die Neuigkeit sehr schnell und der Protest gegen die staatliche Willkür war auch auf Seiten derer groß, die nicht die politischen Ansichten der Putschisten teilten. Das Begräbnis auf dem Zentralfriedhof geriet daher zu einem Massenereignis. Die Toten wurden mit dem faschistischen Gruß beigesetzt, und in den Straßen sah man viele Menschen, die Zeichen der Trauer trugen. Selbst Teile der in der oppositionellen Volksfront unter Pedro Aguirre Cerda organisierten Kräfte schlossen sich der Trauer an und brachten damit ihren Widerstand gegen die amtierende Regierung zum Ausdruck. Dabei war allerdings das wahltaktische Kalkül nicht zu übersehen, denn die Linke brauchte die Stimmen des MNS, um an die Regierung zu kommen.58 Das Gedenken an die Opfer des sogenannten Massakers des Seguro Obrero wurde in der Folgezeit vor allem von den Angehörigen und Sympathisanten aufrecht erhalten. Im Gebäude der Arbeiterversicherung brachten sie eine Gedenkplakette an auf der zu lesen war, dass die Märtyrer ,,für das Volk gestorben“ seien. Im Gegensatz zum Gedenken an Santa María de Iquique blieben diese Bemühungen jedoch ohne größere Breitenwirkung.59 Erst in den letzten Jahren haben Neonazi-Gruppen in Chile die Opfer vom Seguro Obrero ,,entdeckt“ und inszenieren Gedenkveranstaltungen in Internetforen.60

Neue Dimensionen der Gewalt: Die Pinochet-Diktatur und ihre Aufarbeitung Bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts spitzte sich die politische Polarisierung in Chile extrem zu. Der Militärputsch vom 11. September 1973 bildete den Tiefpunkt der chilenischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und war der Beginn eines Staatsterrors, der tausende Tote und Folteropfer forderte und eine gespaltene Gesellschaft zurückließ. Nicht nur Präsident Allende, der sich selbst das Leben nahm, sondern auch andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie der Liedermacher Víctor Jara, der ehemalige Oberkommandierende der Streitkräfte Carlos Prats oder der frühere Botschafter in den USA Orlando Letelier fielen in und außerhalb Chiles den Häschern der Militärjunta zum Opfer. Auch 57 58 59 60

Marcus Klein, La matanza del Seguro Obrero (5 de septiembre de 1938), Santiago 2008, S. 86 und S. 97. Marta Infante, Testigos del treinta y ocho, Santiago 1972, S.25f. Siehe auch El impacto del 5 de septiembre, in: Qué Pasa, 02.08.1973, S. 41–43. Sater, The Heroic Image in Chile. S. 109. Klein, La matanza del Seguro Obrero, S. 132.

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die Fälle weniger bekannter Chilenen machten von sich Reden, wie z. B. der des 19-jährigen Rodrigo Rojas Denegri, der 1986 bei lebendigem Leib verbrannte, weil er versucht hatte, einen Protestzug zu fotografieren. Nach dem Bericht der später eingesetzten Untersuchungskommission fielen insgesamt mehr als 2.000 Menschen der Gewalt des Regimes zum Opfer.61 Vor dem Hintergrund der perfekt durchorganisierten Repression und der offiziellen Inszenierung der ,,Gefallenen“ des Militärregimes konnte ein Gedenken an die Opfer staatlicher Gewalt zunächst nur im Geheimen im Schatten der Friedhöfe erfolgen, wo sich deren Angehörige an den Jahrestagen der Amtsübernahme Allendes (4. September) sowie des Putsches (11. September) trafen, obwohl das Schicksal vieler Verfolgter, die zu den unzähligen ,,Verschwundenen“ zählten, überhaupt noch nicht geklärt war.62 Das nicht lange geheime Grab Allendes in Valparaíso, der wie einst Balamaceda zunächst im Stillen verscharrt worden war, um einen Märtyrerkult zu vermeiden, und insbesondere der Zentralfriedhof der Hauptstadt wurden zu zentralen Versammlungsorten der zunächst noch sehr kleinen Gruppen von Trauernden, die noch dazu die Verfolgung durch Sicherheitskräfte fürchten mussten. Dennoch gingen die Versammlungen über die individuelle Trauer hinaus, da sie – trotz des hohen Risikos – zu politischen Demonstrationen, etwa durch das Singen der Hymnen der Unidad Popular, genutzt wurden. Obwohl diese frühen Gedenkformen sich fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielten, stellten sie doch von Anfang an wichtige Rituale des beginnenden Widerstands und der Gegen-Erinnerung dar.63 Dieser symbolische Widerstand manifestierte sich ab 1978 immer offener. In diesen Jahren entdeckte man in den Öfen eines alten Bergwerks nahe der Ortschaft Lonquén die Leichen von 15 Opfern des Militärs. Der Fund war deshalb so bedeutsam, weil damit erstmals Beweise für das absichtliche Verschwindenlassen von Toten vorlagen, eine Praxis, die das Regime bis dahin immer abgestritten hatte. Die Öfen von Lonquén entwickelten sich schnell zu einer neuen säkularen Pilgerstätte, die nicht nur von Angehörigen der Opfer, sondern auch von Menschenrechtsorganisationen und Mitgliedern kirchlicher Institutionen frequentiert wurde. An der ersten Wallfahrt im Februar 1979 nahmen 1.500 Menschen teil. Mit einer Mischung aus religiöser und politischer 61

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Stefan Rinke, Die Gegenwart der Vergangenheit. Chile in den 1990er-Jahren, in: Michael Bongardt/Ralf K. Wüstenberg (Hg.), Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit. Das schwere Erbe von Unrechts-Staaten, Göttingen 2010, S. 149–167. Candina, El día interminable, S. 19; Stefan Rinke, ¿Comienzo o Fin de la Historia? El 11 de septiembre y las luchas por la memoria en Chile, in: Hans-Joachim König, Memorias de la nación en América latina, S. 171–194. Alexander Wilde, Avenues of memory: Santiago’s general cemetery and Chile’s recent political history, A Contracorriente: Revista de Historia Social y Literatura en América Latina, Vol. 5, N° 3, 2008, S.134–169, hier S.157–159.. 23; Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, S. 26; Joignant, Un día distinto, S. 68.

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Symbolik markierten die Teilnehmer die Öfen als wichtigen Erinnerungsort. Die dort gefundenen Opfer, Bauern aus der Umgegend, wurden zu den ,,Märtyrern von Lonquén“ verklärt. Schnell verwandelte sich der Ort in ein Zentrum des Gedenkens, der sich mit Andenken, Kreuzen, Votiv- und Heiligenbildern füllte. Der Kult um die Märtyrer von Lonquén nahm viele Elemente der seit Jahrhunderten bestehenden volkstümlichen Frömmigkeit auf.64 Aus Sicht der Machthaber war der Kult der Märtyrer von Lonquén bedrohlich. Die Autoritäten bemühten sich, dem spontanen Treiben Einhalt zu gebieten. Die Zerstörung der kleinen Altäre und des Blumenschmucks hatte jedoch keinen nachhaltigen Erfolg, da diese wenig später neu aufgebaut wurden.65 Erst der Verkauf des Grundstücks an eine Bergbaufirma und die Sprengung der Anlagen schien eine Lösung im Sinne des Regimes zu ermöglichen, zumal man einen meterhohen Zaun baute und bewachen ließ.66 Der Versuch der Diktatur, den Ort aus der Erinnerung zu streichen, scheiterte jedoch in dem Moment, als sich der Protest ab 1983 auf die Straße verlagerte. Die Aufmärsche des 11. Septembers fanden in der Folgezeit mit immer größeren Teilnehmerzahlen und besser organisiert statt.67 Die Trauerfeiern zu Ehren von Opfern der Militärdiktatur wie des Gewerkschafters Tucapel Jiménez 1982, des französischen Priesters André Jarlan oder des Fotografen Rodrigo Rojas Denegri 1986 gestalteten sich zunehmend zu Massenaufläufen.68 Währenddessen pflegte das Pinochet-Regime weiter seinen eigenen Heldenkult. Zum 201. Geburtstag von O’Higgins, mit dem sich Pinochet als Militär und ,,Befreier des Vaterlands“ von einem ,,ausländischen Feind“ – nach Pinochets Meinung, dem Kommunismus – stark identifizierte, wurden die Gebeine vom Zentralfriedhof auf einen neuen ,,Altar des Vaterlands“ vor dem Regierungspalast umgebettet. Unter einer Reiterstatue setzte man die Überreste des Befreiers feierlich bei und enzündete die ,,ewige Flamme der Freiheit“ zur Erinnerung an den Putsch von 1973. Das Denkmal war eine triumphale Demonstration von Pinochets Plänen, die chilenische Gesellschaft vollständig neu auszurichten. Im Gegensatz zu den prekären Mitteln der Gegenerinnerung griff das offizielle Gedenken auf monumentale Stilmittel zurück.69 64

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Rojas Mira, Hornos de Lonquén, S. 311f.; Marco Antonio León, Sepultura Sagrada, Tumba Profana. Los espacios de la muerte en Santiago de Chile, 1883–1932, Santiago 1997, S. 191. Stern, De la memoria suelta, S. 24. Rojas Mira, Hornos de Lonquén, S. 313. Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, S. 26; Joignant, Un día distinto, S. 68. Wilde (2008), S. 158; Candina, El día interminable, S. 27. Stefan Rinke/Georg Dufner, Ein Abgang in drei Akten. Chile und der lange Schatten Augusto Pinochets, in: Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 277–302; Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, passim.

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Mit der Rückkehr zur Demokratie 1991 erhielt das Gedenken an die Opfer der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur eine neue Legitimation, ja wurde zum Bestandteil der offiziellen Regierungspolitik. Die frühzeitig eingesetzte Untersuchungskommission unter Raúl Rettig empfahl Maßnahmen der symbolischen Wiedergutmachung durch die Errichtung von Denkmalen. Bereits der erste demokratisch gewählte Präsident Patricio Aylwin ließ sich die symbolische Politik angelegen sein. In seiner Regierungszeit wurden unter anderem die Gebeine Salvador Allendes ehrenvoll auf den Zentralfriedhof umgebettet und es entstand dort das ,,Denkmal für die Verschwundenen und politischen Opfer“ (Memorial del Detenido Desaparecido y Ejecutado Político), das die Angehörigen und Opferverbände gefordert hatten. Allerdings kam es dabei zu Diskussionen, da die Verbände der Verschwundenen ein Mausoleum auf dem Friedhof bevorzugten, während die Angehörigen der Ermordeten ein Denkmal im Zentrum haben wollten, wie ,,es allen Helden, die Chile aufzuweisen hat,“ zustehe.70 Dabei wurde sogar der ,,Altar des Vaterlands“ ins Auge gefasst, um die von der Diktatur propagierte Version der Geschichte umzuschreiben. Schließlich errichtete man weder ein Mausoleum noch ein Monument. Als Kompromiss einigte man sich auf ein Denkmal, in dem sowohl die sterblichen Reste der Opfer aufbewahrt werden konnten als auch – nach deren Wiederauffindung – die der Verschwundenen.71 Dieses Denkmal befindet sich heute auf dem Zentralfriedhof, dem zentralen Ort des Gedenkens und des Widerstands.72 Die Denkmalsinitiative sah sich starken Anfeindungen seitens des Militärs gegenüber, das in der Übergangsphase zur Demokratie unter dem Kommando Pinochets weiterhin eine entscheidende Rolle in Chile spielte und mit öffentlichkeitswirksamen Drohgebärden immer wieder unterstrich, dass ein erneuter Staatsstreich im Bereich des Möglichen blieb, sollten die Zivilisten die Vergangenheitsaufarbeitung zu weit treiben.73 Gezwungenermaßen musste die Regierung ihre ursprünglichen Denkmalspläne ändern. Obwohl nach außen hin das Fehlen der finanziellen Mittel als Grund für die Neuausrichtung und Verkleinerung des Denkmals ausgegeben wurde, war doch allen Beteiligten klar, dass es sich um ein Zugeständnis an die Armee handelte. So fand die Eröffnung des Denkmals im Februar 1994 denn auch nur während der Sommerpause statt.74 70 71 72 73 74

Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, S. 31. Stefan Rinke, Der 11. September als komplexer Erinnerungsort, in: Jahrbuch Lateinamerika 32 (2008), S. 76–87. Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, S. 32f. Ascanio Cavallo, La historia oculta de la transición, Santiago 1998. Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, S. 33f. Siehe auch Stefan Ruderer, Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990–2006, Diss. Phil., Heidelberg 2008.

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Abbildung 4: Denkmal für die ,,Verschwundenen“ und aus politischen Motiven Getöteten, Hauptfriedhof von Santiago de Chile (Quelle: Museo de la Memoria y los Derechos Humanos).

Das Denkmal besteht aus einer großen vertikal aufgerichteten Marmorplatte, die auf einem steinernen Fundament ruht. Auf dem Marmor sind die Namen tausender von Verschwundenen und Ermordeten zu finden. Es handelt sich um ein Symbol nationalen Gedenkens, denn alle Opfer des Regimes fanden hier Berücksichtigung.75 Zu der von manchen Gruppierungen geforderten Heldenverehrung bietet sich das Denkmal nicht an. So findet sich kein Hinweis auf die Ideale, für die die Toten ihr Leben ließen. Die Betonung liegt also nicht auf der Repräsentation von Märtyrern für eine Sache als vielmehr auf der Ehrung der Opfer der Verfolgung. Eine individuelle Kennzeichnung erfolgt durch die Namensschilder, die am Denkmal angebracht sind.76 Das Denkmal verzichtete jedoch nicht nur auf die Darstellung der Motivationen der Opfer, sondern auch auf die Ursachen ihres Todes.77 Daran zeigte sich, dass es zu diesem Zeitpunkt unmöglich war, eine konsensfähige Version der chilenischen Zeitgeschichte hervorzubringen. Angesichts des Drucks des 75 76

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Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, S. 13f. und S. 34. Für ähnlich gelagerte Denkmalsformen siehe Robin Wagner-Pacifici/Barry Schwartz, Die Vietnam-Veteranen-Gedenkstätte. Das Gedenken einer problematischen Vergangenheit, in: Koselleck/Jeismann, Der politische Totenkult, S. 393–424, hier S. 397f. Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, S. 14.

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Militärs und der Stärke seiner Anhänger wählte die Regierung den Weg des Kompromisses anstatt den von Wahrheit und Gerechtigkeit. Dies spiegelte sich auch im zentralen Denkmal wider, das in seiner Grundaussage politisch neutral blieb, um nicht spaltend zu wirken.78 Dennoch wurde das Denkmal in der Folgezeit von den Gruppierungen vereinnahmt, die eine nachhaltigere Aufarbeitung der Diktatur und eine Verfolgung der Straftäter forderten. Die Aufmärsche am 11. September, die am Denkmal auf dem Zentralfriedhof enden, dauern bis auf den heutigen Tag an und sind den noch immer sehr zahlreichen Anhängern der Militärdiktatur in Chile ein Ärgernis.79 Neben dem zentralen Denkmal wurden auf Betreiben der Organisationen der Angehörigen mittlerweile zahlreiche ehemalige Internierungslager zu Erinnerungsorten ausgebaut. Wie bereits im Fall der Öfen von Lonquën während der Diktatur entspannen sich um diese Frage regelrechte Kämpfe um die Erinnerung gegen Interessengruppen, die das Geschehene vergessen machen wollten, indem sie die Orte umfunktionierten.80 Ein gutes Beispiel dafür ist die Villa Grimaldi, zwischen 1974–78 ein berüchtigtes Folterzentrum, in dem mindestens 5.000 Menschen gequält wurden und viele ihr Leben ließen. Kurz vor der Rückkehr zur Demokratie hatten die Machthaber das Areal an Privatinvestoren verkauft, die das Land als Bauland aufbereiten ließen. Doch engagierten sich ab 1995 diverse zivilgesellschaftliche Gruppen, um die Villa Grimaldi als Ort des Gedenkens zu erhalten. Anstatt das Folterzentrum wieder aufzubauen, entschied man sich, die Ruinen als ,,Friedenspark“ zu erhalten, wo unter anderem Führungen durchgeführt werden.81 Ähnlich verfuhr man in der Folgezeit mit weiteren Terrorzentren der Diktatur wie etwa dem Nationalstadion, das 2004 in Víctor Jara-Stadion umbenannt wurde, da der Sänger dort 1973 ermordet wurde. Heute existiert mit der unter der Regierung Bachelet eingeweihten ,,ruta de la memoria“ ein Weg, auf dem sich die wichtigsten Stätten des Terrors in der Hauptstadt und deren Vororten besuchen lassen. Die entscheidenden erinnerungspolitischen Akteure waren dabei zweifellos die Organisationen der Angehörigen und die Opferverbände, die in vielen Fällen eine abwartende oder auch offen obstruktive Haltung seitens der Regierenden überwinden mussten. So geht mittlerweile ein Drittel aller Gedenkstätten auf private Initiativen zurück, ein weiteres Drittel ist an oder in öffentlichen Gebäuden

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Die Parallele zum Vietnamdenkmal in den USA ist hier naheliegend. Siehe Wagner-Pacifici/Schwartz, Die Vietnam-Veteranen-Gedenkstätte. Tocornal, Escenarios de la memoria en conflicto, S. 41f. Elisabeth Jelin/Victoria Langland, Introducción. Las marcas territoriales como nexo entrepasado y presente, in: Dies., Monumentos, memoriales y marcas territoriales, S. 1–18, hier S. 11. Lazzara, Tres recorridos por Villa Grimaldi, S. 127–134.

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untergebracht und nur bei einem Drittel handelt es sich um staatlich finanzierte öffentliche Denkmäler.82 Im Gegensatz zur Hartnäckigkeit der Nichtregierungsorganisationen war die Haltung der chilenischen Regierungen seit der Rückkehr zur Demokratie keineswegs einheitlich. Der anfängliche erinnerungspolitische Enthusiasmus unter Aylwin erlahmte schnell und kam unter der Regierung von Eduardo Frei (1994–2000) fast gänzlich zum Erliegen. In der Tat verkündete Frei, dass ihn nicht die Vergangenheit, sondern nur die Zukunft interessiere.83 Erst die Festnahme Pinochets in London 1998 führte zu einer Trendwende. Als sich dann 2003 der 30. Jahrestag des Putsches näherte, erlangte die Erinnerungsproblematik eine neue Relevanz und zahllose Initiativen nahmen sich des Themas an. In der Tat entstand rund die Hälfte aller Gedenkstätten zu Ehren der Verschwundenen und Ermordeten nach 2003.84 Selbst Pinochets ,,Altar des Vaterlands“ erfuhr in diesem Zusammenhang eine grundlegende Umgestaltung unter der Regierung von Ricardo Lagos, der seine Amtszeit bewusst unter das Motto ,,Es gibt kein Morgen ohne Gestern“ stellte. Der monumentale Heldenkult der Pinochet-Ära war damit beendet. Unter Lagos’ Nachfolgerin Michelle Bachelet (2006–2010), selbst ein Folteropfer in der Villa Grimaldi in den 1970er Jahren, wurden jüngst der 30. August als ,,Tag der Verschwundenen“ institutionalisiert sowie weitere Gedenkstätten eingeweiht. Insbesondere die Eröffnung des neuen Erinnerungsmuseums in der Hauptstadt am Ende von Bachelets Amtszeit kann als Meilenstein der chilenischen Erinnerungspolitik gewertet werden.

Schlussbetrachtung Die Kriegserfahrungen prägten im chilenischen Fall zweifellos die Formen des Gedenkens an die Opfer und Gefallenen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts bildeten sich Gedenkformen heraus, die denen der jungen europäischen Nationen durchaus ähnelten. Der militärische Unabhängigkeitsführer, der Held der Nationsbildungskriege, das Denkmal und die damit verbundene, regelmäßig wiederholte Feier, all dies waren Bestandteile von Prozessen, die sich auch in Europa finden ließen. Nicht zuletzt auch in ihrer ästhetischen Dimension lehnten sich die Monumente, als zentrale Ausdrucksformen des Gedenkens, an europäische Vorbilder und Moden an, ja wurden von europäischen Künstlern geschaffen. Das 82

83 84

Memoriales en Chile. Homenajes a las Víctimas de Violaciones a los Derechos Humanos, hg. v. Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (FLACSO) und Ministerio de Bienes Nacionales, Santiago 2007, S. 13f. Candina, El día interminable, S. 36. Memoriales en Chile, S. 47.

,,Der Sold Chiles“

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Ziel der chilenischen Eliten war es, mit dem öffentlichen Erinnern an die heroischen Opfer die Einheit der Nation zu stärken. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts sollte sich dies allerdings ändern. Die neuen Formen der politischen Gewalt im Innern erforderten neue Formen des öffentlichen Gedenkens. War das Gedenken an die Opfer, wenn es denn überhaupt organisiert stattfand, zunächst noch potenziell einheitsstiftend, was insbesondere der Kult um den Kriegshelden Prat zeigt, so handelte es sich spätestens seit dem Bürgerkrieg Ende des 19. Jahrhunderts um einen Faktor, der das Land seit jeher mehr spaltet als eint. Dies ist letztlich darauf zurückzuführen, dass die Gefallenen Opfer interner Auseinandersetzungen und Bürgerkriege waren. Die Bedeutung, die der Legitimation des Todes der jeweils eigenen Gefallenen als sinnvolle Opfer für eine gute Sache zukam, erzeugte auf der Gegenseite Ablehnung und die Produktion von eigenen Formen des Gedenkens. Darin spiegelte sich der Kampf unterschiedlicher politischer Parteiungen und Ideologien wider. Das galt auch und gerade dann, wenn eine der betroffenen Gruppen die Macht im Staat innehatte und ihre Version als offizielle durch öffentlich veranstaltete offizielle Akte durchsetzte. Jedoch entstanden im 20. Jahrhundert nicht immer kontrollierbare, inoffizielle Formen des Gedenkens, um die herum sich politische Oppositionsgruppen scharen konnten. Durch diese konflikthafte Ausgangslage hat sich die Hinwendung zu den Opfern, die Gestaltung des Gedenkens an die Gefallenen in Chile immer wieder als komplizierter Akt der Aushandlung herausgestellt, der sich meist über Jahre und Jahrzehnte hinzog und auch heute noch das politische Geschehen nachhaltig beeinflusst.

China Neil J. Diamant

Der gescheiterte Kult Veteranen und Soldatenfamilien in der Volksrepublik Obwohl dieser Aufsatz den chinesischen Umgang mit gefallenen (und lebenden) Soldaten thematisiert, möchte ich mit dem heutigen Israel beginnen (dessen lange Geschichte des Gedenkens in diesem Band von Maoz Azaryahu erörtert wird), um hierüber meine zentralen Vergleichsargumente einzuführen und die Besonderheit des chinesischen Falls herauszuarbeiten. Im April 2007 reiste ich nach Israel. Das war kein Zufall. Ich wuchs seit meinem 13. Lebensjahr in einem israelischen Kibbuz auf, diente zwischen 1982 und 1985 in den israelischen Streitkräften (IDF), erlangte meinen ersten akademischen Grad in diesem Land und unterrichtete in den späten 1990er Jahren für drei Jahre an der Universität von Tel Aviv. Mein vorrangiges Ziel war eine Übung in vergleichender Politik: Sowohl China als auch Israel hatten eine, wie es schien, relativ umfassende, sich auf gefallene Soldaten konzentrierende ,,zivile Religion“ geschaffen; außerdem hatte ich bereits viele Schreine für ,,Märtyrer“ in China besucht. Vor diesem gedanklichen Hintergrund ging ich zu einer Feier in eine dem konservativen Judentum nahestehende Synagoge in Kfar Sava, einem Ort in der Nähe von Tel Aviv. Dort sangen Kinder, darunter viele Pfadfinder, Lieder über tote Soldaten und die Unvermeidlichkeit des Krieges (,,Mein jüngerer Bruder Yehuda“ von Ehud Manor), lasen Gedichte, die den Tod im Krieg beklagten (,,Der verlorene Krieg“ von Haim Hefer) und hielten eine Lobrede auf Lt. Col. Jonathan Netanyahu, einen Offizier der Spezialeinheiten, der während einer Geiselbefreiung 1976 in Uganda getötet wurde. Ein Erwachsener ging zum bima (dem Podium) und las Psalmen vor, um dem Publikum das Konzept eines ,,gerechten“ Krieges zu vermitteln Das war eine ernsthafte und schwermütige Angelegenheit. Alle Anwesenden, von denen viele jemanden in der Armee kannten, der sein Leben verloren hatte, waren bewegt und verließen die Veranstaltung schweigend. Nach dieser Feier fuhr ich nach Ra’anana, um dort ebenfalls an einer Feierlichkeit teilzunehmen. Diese fand im Freien neben dem örtlichen Büro der Organisation der hinterbliebenen Familien der israelischen Streitkräfte (,,Yad LaBanim“) in Anwesenheit zahlreicher Soldaten statt. Lokalpolitiker sowie Eltern, Brüder und Schwestern gefallener Soldaten hielten Reden im Fackelschein.

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Doch Israelis gedenken ihrer Soldaten nicht nur in lokalen und nationalen Feiern. Azaryahu beschreibt, dass sich in Israel am nationalen Gefallenengedenktag alle Programme dem Gedenken an die gefallenen Soldaten und den Opfern des Terrorismus widmen, auch die vielen privaten Fernseh- und Radiosender. Ein Sender überträgt überdies den Namen, Dienstgrad und das Todesdatum eines jeden Soldaten und Opfer des Terrorismus zwischen den späten 1940ern und der Gegenwart. In den Zeitungen sind Artikel über militärisches Heldentum zu lesen, über den Preis, den Familien durch den Verlust von Söhnen und Ehemännern (und gelegentlich Töchtern) im Krieg zahlen, und nicht zuletzt ist den Zeitungen am Unabhängigkeitstag die Nationalfahne beigelegt.1 Auch andere Unternehmen beteiligen sich: In Cafés finden sich Zuckerpäckchen mit Namen und Kurzbiografien berühmter zionistischer und militärischer Helden.2 Nur um das klarzustellen, das heißt nicht, dass alle Israelis glauben, alle ihre Kriege wären gerechte Kriege gewesen – so gibt es etwa eine lebhafte Debatte über die Libanonkriege von 1982 und 2006. Aber es gibt ein Einverständnis über das gemeinsame Leiden, einen Sinn für die gemeinsam erfahrene Geschichte und eine kollektive Würdigung des Militärdienstes und seiner Opfer, selbst wenn politische Entscheidungen kritisch diskutiert werden und die Menschen in der Armee dienen, weil das gesetzlich vorgeschrieben ist. Da die meisten jüdischen Israelis in der Armee dienen und jemanden kennen, der im Krieg starb, sind die zivilen Rituale am nationalen Gefallenengedenktag und dem Unabhängigkeitstag einerseits von privater Bedeutung, doch verstärken sie andererseits auch die Bindung zwischen dem Einzelnen, der Gemeinschaft und dem Staat. Viele israelische Wissenschaftler haben beschrieben, wie umfassend der Kult um die gefallenen Soldaten in Israel ist und wie tief die Verehrung der Gefallenen in der Gesellschaft verankert ist. Selbst nichtstaatliche Gedenkfeiern, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen finanziert werden, scheinen ,,dem gleichen Ethos zu entspringen wie die konventionellen Feierlichkeiten“ und ,,auf dieselben Mythen zurückzugreifen, derweil sie sich in Stil oder politischem Inhalt anpassen“.3 Ich behaupte nicht, dass der israelische Fall einzigartig ist. Der Zionismus wurde nicht nur durch das traditionelle Judentum geprägt, sondern auch stark vom europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts beeinflusst (besonders dem französischen und dem deutschen), weshalb es nicht überrascht, dass 1

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Z. B.: Yonatan Lees, Rikud, k’tiva u’makhela, in: Haaretz, 22.4. 2007; Nurit Palter, Helkat hake’ev hatari b’yoter, in: Yediot Ahronot, 22.4.2007. – Aus dem Englischen übersetzt von Monika Kubrova. Ich sammelte Päckchen mit dem Konterfei von Max Nordau (Journalist, Arzt und ,,rechte Hand“ Herzls), Yosef Trumpeldor (Veteran der russischen Armee, verlor seinen rechten Arm im Russisch-Japanischen Krieg, starb bei der Verteidigung von Tel Hai) und Orde Wingate (Veteran der britischen Armee, liebte die Bibel, Israel und unterstützte Zionismus). Lily Galili, Sie wollen sich distanzieren, aber können es nicht, in: Haaretz, 23.4. 2007.

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Israel, genau wie Europa, über ausgearbeitete und durchdachte Zeremonien, Denkmäler, Lieder und Veranstaltungen für diejenigen verfügt, die für den Staat ihr Leben ließen. Der Fall Israel ist deshalb instruktiv, weil hier politische, militärische und religiöse Themen konvergieren. Der Staat inszeniert Feierlichkeiten, die der breiten Öffentlichkeit zugänglich sind, lokale Behörden und Stadtverwaltungen beteiligen sich, der Militärdienst ist eine gemeinsam geteilte Erfahrung in der Bevölkerung, und die Feierlichkeiten selbst sind mit religiöser Symbolik aufgeladen.4 Das ist nicht allein in Israel so, Organisationen wie die ,,American War Mothers“ und ,,Gold Star Mothers“ argumentierten nach dem Ersten Weltkrieg in den USA, dass ihr Dienst an der Nation als Mütter der Kriegstoten ihnen ,,einen besonderen Anspruch auf das Land gaben“, und sie zögerten nicht, diesen Anspruch im öffentlichen Raum geltend zu machen. Zwischen 1931 und 1933 sponserte die Regierung ,,Gold Star Pilgerreisen“ zu den europäischen Schlachtfeldern, um so den ,,Teilnehmenden und der Gesellschaft im allgemeinen zu bestätigen, dass diejenigen, die in Europa ihr Leben für ihr Land ließen, für eine edle Sache gestorben waren“5 . Die größte der alteingesessenen amerikanischen patriotischen Organisationen, die ,,Daughters of the American Revolution“, unterstützt Veteranen und die Armee und hat sich intensiv für die Verbreitung patriotischer Bildung nicht nur in den Schulen, sondern auch durch Paraden und andere gesellschaftliche Rituale engagiert.6 Die Rolle paramilitärischer Organisationen in Deutschland und deren Förderung eines Kults um gefallene Soldaten in den Jahren zwischen den Weltkriegen ist bekannt und muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden. In allen diesen Fällen finden wir erstens einen Staat mit dem Willen und den Möglichkeiten eine militärisch geprägte Erinnerungsform an den Krieg zu fördern, zweitens Organisationen in der Zivilgesellschaft (besonders mit Mitgliedern, die direkt mit dem Krieg in Berührung kamen wie hinterbliebenen Eltern, Witwen und Veteranen), die dieses Ziel teilen und unterstützen, drittens eine ,,kritische Masse“, die sich über die Rechtmäßigkeit des Krieges, den Beitrag der Soldaten und deren Aufopferung einig ist. Für die Hochachtung toter Soldaten bedarf es meiner Meinung nach einer Wertschätzung lebender Soldaten als gesellschaftlich anerkannter Bürger. Die Wertschätzung hat entweder einen politischen Grund (wenn es beispielsweise um die Wäh4 5

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Zur zivilen Religion in Israel vgl. Charles Liebman/Eliezer Don-Yehiya, Civil Religion in Israel. Traditional Judaism and Political Culture in the Jewish State, Berkeley 1983. G. Kurt Piehler, The War Dead and the Gold Star. American Commemoration of the First World War, in: John Gillis (Hg.), Commemorations. The Politics of National Identity, Princeton 1994, S. 177f. Zum Thema DAR vgl. Barbara Truesdell, Exalting U.S. Ness. Patriotic Rituals of the Daughters of the American Revolution, in: John Bodnar (Hg.), Bonds of Affection. Americans Define their Patriotism, Princeton 1996, S. 273–289.

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lerstimmen der Veteranen geht7 ) oder einen kulturellen Grund (wenn etwa ein bestimmtes Männlichkeitsbild dominiert, wonach Soldaten als ,,richtige Männer“ gelten). Ich erwähne das, um eine Besonderheit im chinesischen Fall hervorzuheben. In China war ,,der Kult um tote Soldaten“, wenn er überhaupt in der einen oder anderen Form existierte, abhängig vom Zentralstaat, besonders von seinem Propagandaapparat, und konnte kaum auf eine breite politische, gesellschaftliche und kulturelle Unterstützung bauen. Auch fehlte ihm die historische ,,Grundlage“, insofern es keine konfuzianische Tradition des Erinnerns an das Leben eines toten Soldaten gibt, der im Konfuzianismus einen niedrigen Stand hat. Mit Ausnahme zweier jährlicher Festveranstaltungen – des chinesischen Frühlingsfests, bei dem die Militärangehörigen assistieren, und des Tages der Armee am 1. August – gab es kaum ein politisches und kulturelles Einvernehmen darüber, dass tote Soldaten von größerer Bedeutung waren als tote zivile ,,Revolutionäre“ (eine sehr viel weiter gefasste Kategorie), dass ihre Familien wichtiger als einfache Bauern für die staatliche Legitimität waren oder dass Soldaten mehr Unterstützung verdienten als gewöhnliche Arbeiter. In diesem Aufsatz möchte ich auf verschiedene Art und Weise zeigen, dass in China eine breite gesellschaftliche Erinnerungspraxis an gefallene Soldaten im Grunde nicht existierte. Zuerst werde ich auf den ,,offiziellen“ Kult eingehen: Welche Formen nahm er an, an wen wurde erinnert, und wie wurde das Gedenken gefördert? Danach möchte ich den Rat vieler meiner Kollegen aus der Politikwissenschaft beherzigen: Folge dem Geld. Zu fragen ist, ob Soldaten- und Märtyrerfamilien materielle Unterstützung erhielten, weil es einen gemeinschaftlichen Konsens darüber gab, dass sie eine zu würdigende Bevölkerungsgruppe sind. Drittens untersuche ich die Kontroversen um den Wert ,,soldatischer“ Beteiligung am Krieg und der Revolution. Erhielten Soldaten Anerkennung für die erfolgreiche Revolution? War sich die Bevölkerung über den Militärdienst während des Koreakriegs einig? Viertens beschäftige ich mich mit evidenten Befunden hinsichtlich der ,,Vergewaltigung und Verführung“ der Ehefrauen und Verlobten von Soldaten der Volksbefreiungsarmee (VBA), bei denen die meisten Täter zivile Staatsfunktionäre waren. Abschließend folge ich Emile Durkheim und prüfe Suizidraten unter Veteranen der Volksbefreiungsarmee. Durkheim vertrat die Auffassung, dass sich Selbstmord, auch wenn er relativ selten auftritt, als Maßstab für die ,,Solidarität“ und das ,,Kollektivbewusstsein“ in einer gegebenen Gesellschaft eignet. Im Fall von China gehe ich davon aus, dass Suizidraten der Veteranen Aufschluss darüber geben, wie ein politisches System darüber befindet, welchen Wert Veteranen (manchmal un7

Zur Rolle der Wahlen im Zusammenhang mit der steigenden Macht der Veteranen in den USA vgl. Theda Skocpol, Protecting Soldiers and Mothers. The Political Origins of Social Policy in the United States, Cambridge 1995.

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bewusst) repräsentieren: die Legitimität der Sache, für die sie gekämpft haben, den Militärdienst im weiteren Sinn sowie die soziale Klasse der Veteranen. Der offizielle Kult war selbstverständlich darauf angelegt, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Revolution und Kriege gerecht und die Toten heilig waren, der Militärdienst hoch zu schätzen sei und die im Krieg kämpfende Klasse der Bauern Respekt verdiene. Anzumerken ist, dass ich chinesisches Archivmaterial aus den 1950er und 1960er Jahren verwende. Dies ist eine Zeit, in der der Kult hätte am wirkungsvollsten sein müssen: Zwei Jahrzehnte nach Chinas größten Kriegen waren die Erinnerung an diese und die Menschen, die sie erlebt haben, noch sehr lebendig.8 In der Reformperiode (nach 1978) konzentrierte man sich weniger auf militärische Angelegenheiten, mit Ausnahme der Errichtung von Denkmälern für Märtyrer, um nach der Katastrophe auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989 die Legitimität des Regimes zu stärken. Anders als zu Beginn der Volksrepublik China dominierten in der Reformzeit Individualismus, Materialismus und ökonomische Möglichkeiten als Zeichen des Zeitgeistes, in dem stärker ,,soldatische“ Werte wie Selbstaufopferung, Kameradschaft und die Orientierung am Kollektiv verdrängt und ersetzt wurden.

Ein offizieller Kult? Dem oberflächlichen Betrachter muss China zwischen den 1950ern und den 1970ern Jahren wie eine hoch militarisierte Gesellschaft erscheinen. Bauern, die einst auf dem Feld im Kontext von Familie und Dorf arbeiteten, wurden jetzt reorganisiert, um in Produktions-,,Brigaden“ zu arbeiten, ein militärischer Begriff, der normalerweise eine Einheit von drei Bataillonen bezeichnet. Fast jedes Jahr erlebten die meisten Bürger ,,Kampagnen“, um die Produktion zu erhöhen oder – unheilvoller – um verschiedene ,,Feinde“ der Kommunistischen Partei wie Grundbesitzer, Konterrevolutionäre oder frühere Funktionäre der Nationalregierung aufzuspüren. Die Vorbilder für militärisches ,,Heldentum“ stammten häufig aus der Zeit vor 1949. In den Jahren 1963 bis 1966 wurden Chinas Schulen ,,militarisiert“: Schüler wurden dazu angeregt, dem selbstlosen Verhalten eines toten Soldaten (Lei Feng) nachzustreben; ihnen wurde beigebracht, zu marschieren und Waffen zu benutzen. Das waren die Jahre, in denen die Volksbefreiungsarmee als Vorbild für die gesamte Gesellschaft ganz oben stand. Während der Kulturrevolution (1966–1976) schien es, als ob China dem Kult um die toten Soldaten zu neuen Höhen verholfen hätte: Die Rote Garde ging als ,,Soldaten“ 8

Ausführlicher zur schwierigen Situation der Kriegsveteranen in der Volksrepublik China Neil J. Diamant, Embattled Glory. Veterans, Military Families and the Politics of Patriotism in China. 1949–2007, Lanham 2009.

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verkleidet auf die Straße, sang Lieder über die Aufopferung der ,,Märtyrer“ der Revolution und übte revolutionäre/militärische Gerechtigkeit an ihren ,,Klassenfeinden“, die der Vorsitzende Mao definierte. Die folgenden Zeilen zum Beispiel stammen aus einem Lied von Marschall Lin Biao, dem damaligen Verteidigungsminister und designierten Nachfolger Maos: ,,Da, wo Opfer unvermeidlich sind, muss man Mut zum Opfer haben, muss man Mut zum Opfer haben! Die eigene Haut nicht ausgenommen. Wenn’s aus ist, ist’s aus, wenn’s aus ist, ist’s aus, Ertönt der erste Schuß, hinaus auf’s Schlachtfeld! Papa (laozi) ist also frisch entschlossen, frisch entschlossen, heute auf dem Schlachtfeld zu fallen!“9

Wenn sie nicht sang, dann marschierte die Rote Garde und zwar militärisch (sie hatte Generäle, Kommandeure und Stellvertreter) und erlebte im Geiste noch einmal die Heldentaten der Roten Armee während des Langen Marsches (1934– 35) oder während des Kriegs gegen die Japaner und gegen die Nationalisten im Bürgerkrieg (1945–49). Bei ,,Gruppenkämpfen“ auf Universitäts- und Fabrikgeländen führten selbsternannte Offiziere und Soldaten mit zumeist improvisierten, manchmal auch echten Waffen abgesprochene ,,Schlachten“ durch.10 Viele Mitglieder der Roten Garde verfassten in den 1980er Jahren ihre Memoiren über die Erfahrungen in jener Zeit. Die Bücher von Gao Yuan (,,Born Red“), Liang Heng und Judith Shapiro (,,Son of the Revolution“) erreichten weltweit ein großes Publikum. Besucher aus dem Westen, die China während der Zeit der Reformperiode besuchten, hatten deshalb den Eindruck, dass China einen ,,Kult“ um seine gefallenen Soldaten pflege. In den 1990er Jahren gab China sehr viele Mittel aus, um der Märtyrer der Revolution in Schreinen und Museen zu gedenken.11 Wurde 9 10 11

Vivian Wagner, Songs of the Red Guards. Keywords Set to Music, in: Indiana East Asian Working Paper Series on Language and Politics in Modern China 2 (1993), S. 5. Für einen Bericht dieser Kämpfe aus erster Hand vgl. William Hinton, Hundred Day War. The Cultural Revolution at Tsinghua University, New York 1973. Die Begriffe ,,Schrein“ und ,,Märtyrer“ sind hier offensichtlich religiös besetzt, obwohl China offiziell atheistisch ist. Im westlichen Verständnis ist ein Märtyrer in der Regel jemand, der einen freiwilligen Tod für eine religiöse Sache, häufig nach Verfolgung, gewählt hat. Im traditionellen China konnte auch eine Witwe als Märtyrerin gelten, die sich selbst tötete, ehe sie einer Vergewaltigung zum Opfer fiel, so jungfräulich blieb und sich damit nach den Werten Konfuzius richtete (anstatt einem Glauben an Gott). Moderne chinesische Staatschefs nutzten den alten Begriff (lieshi) und passten ihn dem revolutionären Rahmen an: Ein heldenhafter Tod für die Sache (Kommunismus, Schutz Chinas vor dem Imperialismus etc.) wurde mit dem Sterben für Gott im Christentum gleichgesetzt. Jedes lokale amtliche Nachrichtenblatt in der Volksbefreiungsarmee enthielt einen Beitrag über seine ,,Märtyrer“ der Revolution. In diesem Sinn bedeutet ,,Schrein“ eine Gedenkstätte für diejenigen, die für die sozialistische Sache gestorben sind und dafür verehrt werden sollen.

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in der Zeit vor den Reformen noch eine heroische und militaristische Metaphorik gepflegt, so betonten viele der nun entstandenen revolutionären Stätten Chinas Rolle als ,,Opfer“, sei es der Imperialisten (die Briten werden als Schmach erfahren) oder der Japaner (die ein noch schlechteres Image als die Briten hatten). Sowohl die Gedenkstätte für das Nanjing-Massaker als auch das Museum ,,Einheit 731“, das die Gräueltaten der japanischen Einheit für biologische Kriegsführung beschreibt, wie auch die Märtyrer-Mausoleen in Nanjing (Yuhuatai Martyr Park) und in Shanghai (Longhua Martyr Park) spielen auf der Klaviatur nationaler Opferstilisierung, um so eine ,,machtvolle emotionale Klammer zu schaffen, die die Bürger an die nationalistische Linie rückbindet, von der sie sich aufgrund ihrer täglichen Erfahrungen im rauen Wirtschaftsklima entfernen könnten“.12 Durch das offizielle Gedenken vor allem an die durch Japan zu Tode gekommenen Soldaten sollte der Volksrepublik China eine ,,moralische Überlegenheit“ zugewiesen und ihr Führungsanspruch in Asien legitimiert werden. Zugleich werden Kritiker von Chinas selbst zu verantwortendem Massensterben wie dem Großen Sprung nach vorn und der Kulturrevolution abgelenkt. Diese sprachlichen, quasi-theatralischen und visuellen Zurschaustellungen des chinesischen Kults um die gefallenen Soldaten sind beeindruckend, doch sollten sie nicht von anderen, ebenso wichtigen Dimensionen des Kultes in Politik und Gesellschaft ablenken. In keiner dieser Darstellungen werden zum Beispiel einzelne Soldaten als Märtyrer hervorgehoben, und ebenso gilt der Kult den ,,Märtyrern“ der Revolution, nicht den Soldaten eines Krieges. Die Märtyrer sind sehr viel zahlreicher als die Soldaten, dazu zählen Journalisten, Studenten, Arbeiter, zivile Parteimitglieder, Bürokraten, Geheimdienstmitarbeiter und andere für die Sache gestorbene Personen. Tatsächlich war ich überrascht, als ich bei meinem Besuch des Longhua Märtyrer Parks im Jahr 2003 keine einzige fotografische Darstellung eines einfachen Soldaten finden konnte, der in der Schlacht um Shanghai ums Leben gekommen war – die einzige Person in Uniform war ein Bataillonskommandeur. Die personalisierten ,,Märtyrererzählungen“, die sich am häufigsten unter den Fotos befanden, gedachten statt dessen der Gewerkschaftsfunktionäre, Studenten und Parteifunktionäre, die in den 1930er und 1940er Jahren, als Shanghai unter der Kontrolle der Nationalisten stand, zur kommunistischen Untergrundbewegung der Stadt gehört hatten. Dieses Soldaten ausschließende Gedenken findet sich auch in Peking, wo es kein zentrales Kriegerdenkmal und auch kein Denkmal des unbekannten Soldaten gibt. Das ist etwa in Hanoi, der Hauptstadt Vietnams, anders. Dabei ist Vietnam ein Land mit dem gleichen konfuzianischen Erbe, und es hat 12

Kirk A. Denton, Horror and Atrocity. Memory of Japanese Imperialism in Chinese Museums, in: Ching Kwan Lee/ Guobin Yang (Hg.), Re-Envisioning the Chinese Revolution. The Politics and Poetics of Collective Memories in Reform China, Stanford 2007, S. 249.

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ebenfalls eine Vergangenheit voller ,,Volkskriege“ gegen fremde Invasoren. Dass die Rolle des Militärs in der Revolution heruntergespielt wurde, zeigt sich auch in der Zusammensetzung der vom Staat organisierten Paraden in den 1950er Jahren, in der zwar häufig in einer militaristischen Sprache von ,,Brigaden“ und ,,Kampagnen“ gesprochen wurde. Dennoch waren Kriegsveteranen von den Paraden ausgeschlossen. Folgt man Chang Tai-Hung, dessen Forschung auf Quellen aus kürzlich geöffneten chinesischen Archiven basiert, sollten hingegen Arbeiter, Künstler und sogar Athleten daran teilnehmen.13 Der moderne ,,Revolutionstourismus“ zeigt eine ähnliche Logik. Fahrten von Studenten zum Geburtsort des Vorsitzenden Mao in der Provinz Hunan, Reisen nach Yanan, der kommunistischen Hauptstadt während des Krieges oder nach Jianyxi, wo in den frühen 1930er Jahren der erste chinesische Sowjet gegründet worden war, Besuche von Märtyrermausoleen – das könnte man als Belege für eine wiedererwachte Militarisierung der Jugend deuten. Doch eigenartiger Weise fehlen wichtige Schlachtfelder wie zum Beispiel Huaihai in diesem Bildungsprogramm. Bis auf den heutigen Tag hat China nichts Vergleichbares zu der in vielen westlichen Staaten üblichen Gedenkform herausgebildet: einer großen nationalen Gedenkstätte, in der exklusiv der Toten des Militärs gedacht und ihr Einsatz geehrt wird. In China jedoch wird demgegenüber toten Gefängniswärtern, Fabrikarbeitern, Bauern, zivilen Verwaltungsmitarbeitern und Parteifunktionären der Regierung die gleiche Ehre zu teil wie den auf dem Schlachtfeld gestorbenen Soldaten – sofern sie für den Sozialismus starben. Dieser Unterschied wird erklärlich, wenn man bedenkt, dass die chinesische Revolution so lange andauerte; manche datieren den Beginn auf 1911, als die Qing-Dynastie zusammenbrach, andere gehen von 1921 aus, als die Kommunistische Partei offiziell gegründet wurde. Dadurch waren verschiedene Bereiche der Gesellschaft vom Umbruch betroffen. Außerdem gab es während der chinesischen Kriege viele politische und militärische Wendungen, mehr noch als bei den Kriegen der klassischen Nationalstaaten im 19. und 20. Jahrhundert. Die Kommunistische Partei wurde zum Beispiel 1921 gegründet und war sehr viel schwächer als die Nationalistische Partei. Unter dem Druck Stalins arbeiteten die Kommunisten und die Nationalisten aber in der Mitte der 1920er Jahre in ihrem Kampf gegen den Imperialismus zusammen, nur um dann zwischen 1927 und 1936 zu Todfeinden zu werden. Anschließend kooperierten sie wieder, um gemeinsam gegen die japanischen Invasoren zu kämpfen. China war während dieses Krieges nicht vereint, sondern in Territorien aufgeteilt; die Kommunisten kontrollierten Gebiete im Nordwesten Chinas, die Nationalisten einige urbane Räume. Keine politische Seite war deshalb in der Lage, in China eine allgemeine 13

Vgl. Chang Tai-Hung, Mao’s Parades. State Spectacles in China in the 1950s, in: The China Quarterly 190 (2007), S. 417f.

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Einberufung zu organisieren. Daraus ergab sich, dass die meisten Soldaten aus den unteren Schichten kamen und Bauern die größte Zahl der Soldaten stellten. Nicht zuletzt waren die meisten ,,Feinde“ Chinas nach 1945 zu einem früheren Zeitpunkt einmal Verbündete gewesen. Dazu gehörten die Vereinigten Staaten, die während des Zweiten Weltkriegs mit China unter nationalistischer Kontrolle verbündet und im Zuge des Koreakrieges zum Feind geworden waren; dazu gehörten Indien und die UdSSR, die beide in den 1950er Jahren noch Verbündete, seit den 1960er Jahren Feinde waren; schließlich Vietnam, mit dem China 1979 einen Grenzkrieg führte. Meine These lautet: Ein Kult um die gefallenen Soldaten konnte sich nicht herausbilden, weil Chinas Revolution zu lange dauerte, weil zu viele Menschen behaupten konnten, ,,geopfert“ und ,,beigetragen“ zu haben, weil unbestimmt blieb, wer genau für einen ,,Sieg“ verantwortlich gewesen war, und weil niemand überzeugend erklären konnte, warum aus Freunden plötzlich Feinde geworden waren. Diejenigen, die sich unter entsprechenden Umständen um ein ernsthafteres Gedenken hätten bemühen und mehr Respekt für das Militär hätten einfordern können, nämlich Veteranenorganisationen oder Kriegswitwen mit einem gewissen ,,sozialen Kapital“, existierten in China entweder nicht – bedingt durch die Gesellschaftsschichten, aus denen Soldaten rekrutiert wurden – oder wurden so vollständig vereinnahmt, dass sie keine Mitsprache bei den Entscheidungen darüber besaßen, wer am meisten der Erinnerung und des Gedenkens würdig war. Deshalb bewegte sich der ,,Kult“ eher auf der Oberfläche und beschränkte sich hauptsächlich auf visuelle Darstellungen und formalistische, zur Schau gestellte Veranstaltungen. Wie wir gleich sehen werden, sollten die Menschen daraus in den seltensten Fällen einen Nutzen ziehen.

Gesellschaftliche Unterstützung der Soldaten- und Märtyrerfamilien Die Frage lautet daher, welche Anerkennung im gesellschaftlichen Alltag die Opfer fanden, die die Angehörigen von Soldaten (junshu) und die Angehöriger von Gefallenen (lieshu) zum Wohle der ganzen politischen Gemeinschaft gebracht hatten. Dann ließe sich der Realitätsgehalt der propagandistischen Formeln bestimmen, die Soldaten mit positiven Attributen wie Patriotismus, Loyalität und Dienstfertigkeit verknüpften. Anders formuliert, um den Realitätsgehalt dieses Kultes besser beurteilen zu können, müssen entsprechende Verhaltenskriterien bestimmt und untersucht werden. Da die meisten Angehörigen des Militärs aus den Reihen der chinesischen Landbevölkerung kamen, sind demnach solche Hilfsprogramme für die junshu und lieshu zu untersuchen, die ihnen zum Beispiel bei der Bestellung und Ernte der Felder halfen, um sie so für die

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zeitweise oder dauerhafte Abwesenheit eines männlichen Familienmitglieds zu entschädigen. Offiziell sollte durch die staatliche Politik der Lebensunterhalt dieser Gruppen gesichert werden. In einer ,,Frage und Antwort“-Broschüre zur Instruktion für ländliche Beamte fand sich 1956 folgende Erklärung: ,,Warum soll eine ländliche Genossenschaft junshu und Veteranen bevorzugt behandeln? Weil ihre geliebten Verwandten zur Volksarmee beigetragen haben oder in der Volksarmee gedient haben. Sie haben einen großen Beitrag für den Staat und das Volk geleistet. Deshalb ist das ganze Land dafür verantwortlich, sich um ihre Produktionsmittel und ihren Lebensunterhalt zu sorgen, und deshalb ist natürlich auch die Genossenschaft verantwortlich.“14 Von diesen Bemühungen war das ,,stellvertretende Feldbestellen“ (daigeng) das vermutlich schwierigste Programm. Die Anfänge des Programms lagen in einigen Hauptgebieten der Revolution vor 1949, aber erst nach 1949 wurde es in größerem Umfang forciert. Der Kern des Programms bestand darin, dass die Dorfbewohner den Beitrag des Militärs und derjenigen, die für die Kommunistische Partei gestorben waren, anzuerkennen hatten und den Familien der Soldaten der Volksbefreiungsarmee und der Märtyrer ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen sollten, besonders während der landwirtschaftlichen Stoßzeiten. Junshu oder lieshu hatten Anrecht auf eine ,,partielle daigeng“ oder eine ,,volle daigeng“;15 ihre Felder wurden teilweise bzw. vollständig von Dritten bestellt. Aus verschiedenen Gründen wurde das daigeng-Hilfsprogramm jedoch 1955 abrupt beendet. Die Gründe dafür lagen hauptsächlich in der Problematik, die offizielle Propaganda ,,revolutionärer Hochwertigkeit“ in lokales Verhalten und Handeln umzusetzen. Obwohl staatliche Richtlinien und andere politische Dokumente eindeutig vom Beitrag der ,,Volksarmee“ sprachen, bedeutete die zeitliche Länge des Bürgerkriegs und der Revolution, dass viele in Stadt und Land zu Recht behaupten konnten, ebenfalls zum Erfolg der Revolution beigetragen zu haben. In den Städten betonten zum Beispiel die Gewerkschaftsfunktionäre, sie hätten gegen die japanischen, britischen und französischen Imperialisten gekämpft, und auf dem Land konnten sich etwa Mitglieder der Miliz oder Ortsvorsitzende damit rühmen, sie hätten der Revolution durch ihre Teilnahme an der Bodenreform zum Durchbruch verholfen. Alle diese Aktivitäten wurden zu dem einen oder anderen Zeitpunkt als ,,ruhmreich“ bezeichnet. Auf das daigeng-Programm hatten nur junshu und lieshu Anspruch. Doch ländliche Funktionäre ohne militärischen Hintergrund beanspruchten ebenfalls schnell Beihilfen, mit der Begründung, ihrerseits berechtigte Opfer gebracht zu haben. In einer internen Ermittlung zu achtzig Gemeinden in der Provinz Henan wurde 14 15

Youdai laodongri wenda, Shanghai Municipal Archives (im Nachfolgenden SMA genannt) B168-1-622 (1956), Bl. 87. Zhujiajiao renmin zhengfu guanyu ,,bayi“ qian hou de youfu gongzuo, Qingpu Archives (im Nachfolgenden QA genannt) 48-2-46 (1951), unpaginiert.

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dem daigeng-Programm zum einen vorgeworfen, dass alles zu chaotisch sei – es gab keinen Plan darüber, wer was und wann zu tun hatte –, zum anderen wurde die aufgeblähte Liste der Begünstigten kritisiert. Märtyrerfamilien und junshu erhielten zwar etwas daigeng, aber Gemeinde- und Dorffunktionäre wurden am meisten begünstigt. 1953 zum Beispiel hatten die drei höchsten Funktionäre in einer Gemeinde 210 Bauern damit beauftragt, ihre Felder zu bestellen, Näharbeiten durchzuführen und ihre Kleidung zu flicken. Der Parteisekretär schickte andere Dorfbewohner zu der Hilfsgruppe, der er selbst angehörte und gab deren Arbeit als seine eigene aus. Der Vorsitzende des Finanz- und Kornkomitees verließ sein Hilfsteam und ließ Arbeiter auf seinem Feld arbeiten als sei er ein daigeng-Begünstigter. Weil sich die Bauern auch noch um ihre eigenen Felder kümmern mussten, erhöhte sich ihr Arbeitspensum immens.16 In einer Untersuchung von 43 Gemeinden in der Provinz Shandong wurde eine ,,ungleiche und unausgeglichene Verteilung der daigeng-Arbeitslast festgestellt“.17 Im Gegensatz zu anderen Berichten erwähnte dieser keine Funktionäre, die unrechtmäßig Hilfe erhalten hatten. In einem Dorf erhielten alle Funktionäre daigeng, doch jene Familien, die offiziell einen Anspruch besaßen, wurden vollständig ignoriert; einige lieshu sagten: ,,Die Toten werden besser behandelt als die Lebenden; die Nahestehenden werden anderes behandelt als die Entfernten.“18 Diese und andere Untersuchungsberichte konzentrierten sich auch auf hunderte von Personen, die sich selbst von der Feldarbeit bei junshu und lieshu freistellten; dazu gehörten Regierungsbeamte der Gemeinden, Mitglieder der Kommunistischen Partei, lokale Vertreter und Funktionäre der Miliz.19 Verschärfend zu der Indienstnahme durch Parteifunktionäre kam hinzu, dass nie generell geklärt worden war, wer offiziell berechtigt war, daigeng zu erhalten. So wurde zum Beispiel in den späten 1940er Jahren in einem ländlichen Pekinger Vorort, in dem während des Zweiten Weltkrieges und des Bürgerkriegs viele Kampfhandlungen stattgefunden hatten, drei Familien, in denen Soldaten an einer Krankheit gestorben waren, lieshu-Status zuerkannt (für den ,,Märtyrerstatus“ bedurfte es einer heldenhafteren Todesart). Doch diesen Status erhielt auch die Familie eines von den Japanern eingesetzten Dorfobersten, der bei der gemeinsamen Flucht mit seinen Dorfbewohnern vor einem Bombenangriff getötet wurde. Aufgrund dieses Chaos gab es ,,nicht wenige Abweichungen“ in den Zuweisungen von daigeng. In der Gemeinde Hou gab es sechs für daigeng berechtigte Haushalte von lieshu und junshu, 16 17 18 19

Henan sheng 1954 nian chunjie, Dongcheng District Archives, Beijing (im Nachfolgenden DDA genannt) 11-7-89, Bl. 150. Shandong sheng yinian lai youfu gongzuo, Shandong Provincial Archives (im Nachfolgenden SA genannt) A20-1-81 (1953), Bl. 18. Youfu gongzuo jiancha zongjie baogao, SA A20-1-29 (1951), Bl. 58. Ebd., Shandong sheng yinian lai youfu gongzuo, SA A20-1-81 (1953), Bl. 18.

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die aber keine erhielten und einige junshu, deren Felder ,,vollständig bestellt werden sollten, aber nur teilweise bestellt wurden“. In manchen Fällen wurde daigeng nur auf Grundlage der Anzahl der arbeitenden Personen in einer Familie zugewiesen.20 Nicht nur der unklare Umfang und die diffusen Grenzen des daigeng trugen zu der Unbeliebtheit des Programms bei, sondern auch die scheinbare Willkür, mit der es umgesetzt wurde. Daigeng sorgte alles in allem für ,,große Kopfschmerzen“. Die lokalen Funktionäre waren sich wahrscheinlich über die Rechtmäßigkeit des Vorgehens im Unklaren, und deshalb wurde improvisiert. Einige Funktionäre verteilten lieber landwirtschaftliche Erzeugnisse, anstatt Arbeiter bereitzustellen, so dass manches Land brach lag. Andere wechselten die Arbeiter auf einem bestimmten Feld turnusmäßig aus und wieder andere Funktionäre schickten Arbeiter für einen bestimmten Zeitraum in einen Haushalt mit ,,bevorzugter Behandlung“.21 Dennoch scheint es, als ob 1951 in den meisten Fällen eine bestimmte Person oder eine bestimmte Bauernfamilie für die Unterstützung der Militär- und Märtyrerfamilien verantwortlich war.22 Eine im Jahr 1952 in Qingpu durchgeführte Untersuchung zeigt, dass 70 % der junshu und lieshu jeweils einem Bauern oder einem Bauernkollektiv zugeordnet waren; die restlichen 30 % wurden von Arbeitern mit kürzeren Auftragszeiten unterstützt.23 Im Jahr 1953 wurde die Arbeitsverpflichtung ausgedehnt, und es waren ,,nicht nur einige Bauern“, die für die junshu und lieshu faktisch zeitweise zu Leiharbeitern wurden.24 Auch wenn es den Anschein hat, dass dies aus der Sicht der junshu und lieshu eine aussichtsreiche Lösung war, so sprachen andere Berichte doch von großen Lücken in der Umsetzung. Kreis- und Bezirksbeamte waren der Auffassung, dass einige Kader in Gemeinden oder Dörfern ,,daigeng vernachlässigen“ oder ,,ihm nicht so viel Aufmerksamkeit schenken“ würden, weil sie es nicht als ihre ,,zentrale Aufgabe“ auffassten.25 Einige erfüllten ihre Pflicht auf dem Papier und beauftragten jemand anderen mit der Erledigung ihrer Arbeiten. Doch manchmal war dieser Helfer ein ,,kleines Mädchen“, manchmal ein früherer Großgrundbesitzer, der über keine praktische Erfahrung im Bestellen der Äcker verfügte, weil er dafür bis 1949 Personal gehabt hatte. So befanden sich die betreffenden Empfänger bestenfalls in der gleichen Lage wie zuvor. In manchen Fällen war das Familieneinkommen so niedrig, dass sie die Grundsteuer 20 21 22 23 24 25

Beijing shi lieshu junshu diaocha dengji, DDA 11-7-? (1955), Bl. 118f. (Zitat). Xianfu zhishi hou ben qu liji zuzhile yi ge jiancha daigeng zu, QA 48-2-46 (1951), Bl. 33. Qingpu xian 1951 nian youfu zongjie, QA 48-1-13, Bl. 9. Qingpu xian 1952 nian minzheng gongzuo, QA 48-1-15, Bl. 2 Qingpu xian 1953 nian mingzheng gongzuo, QA 48-1-19, Bl. 4. Qingpu xian 1952 nian minzheng gongzuo, QA 48-1-15, Bl. 4; Zhujiajiao to Qingpu County, Wei jiehe jiancha daigeng faxian liejunshu shenghuo kunnan, QA 48-2-56 (1953), Bl. 38.

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nicht bezahlen konnten.26 In anderen Fällen wurden zwar genügend Arbeitskräfte im Frühjahr zugewiesen, aber weder wurde Dünger bereitgestellt noch halfen andere Dorfbewohner nach der Aussaat bei der Schädlingsbekämpfung. Auch kamen die Zahlungen der Kommunalverwaltung häufig zu spät, so dass die junshu die helfenden Arbeitskräfte nicht bezahlen konnten.27 Aus der Korrespondenz zwischen dem Bezirk Zhujiajiao und dem Kreis Qingpu geht hervor, dass ,,einige Militär- und Märtyrerfamilien nichts zu essen hatten, andere … vielleicht eine Mahlzeit pro Trag aßen“.28 Und es gab Funktionäre, die mehr nahmen, als ihnen zustand. Einige Berichte nannten weitere Probleme wie die Korruption, das Zurückhalten von Geldern, die für Märtyrerfamilien bestimmt waren, irreführende Berichte für Vorgesetzte in der Partei über das Ausmaß des für Soldatenfamilien bestellten Landes oder auch das Ausstellen falscher Rechnungen und Unterschriftenfälschungen von junshu und lieshu für Hilfsleistungen, die sie tatsächlich nicht erhalten haben.29 Um diese Probleme mit dem daigeng-Programm zu erklären, unterstrichen die Autoren der Jahresberichte und anderer gründlicher Untersuchungen die mangelnde Kontrolle der Kreis- und Bezirksbehörden. Dieser Mangel wiederum wurde häufig auf das allgemeine Durcheinander zurückgeführt, das hinsichtlich der politischen Relevanz des Programms in den zivil-militärischen Beziehungen herrschte. In den Vororten von Shanghai beschwerten sich 1954 Funktionäre für zivile Angelegenheiten darüber, dass ,,daigeng von den Bauern weder als staatspolitische Maßnahme noch als persönliche Pflicht gesehen wird“.30 Im gleichen Jahr vermerkten Beamte in Qingpu im Kreis Baihe, dass aufgrund ,,der fehlenden Propaganda für die daigeng-Maßnahme und ihrer politischen Bedeutung“ sowohl Kader als auch einfache Bauern ,,verwirrt“ darüber waren, was sie tun und warum sie diesen Aufgaben nachkommen sollten.31 Aber das stimmte nur zum Teil. Funktionäre und Bauern wurden als ,,verwirrt“ bezeichnet, weil sich ihr Verständnis des Programms nicht mit den offiziellen Zielen und der offiziellen Begründung deckte. Auch wenn die Vergabe von daigeng in vielen Gemeinden unterschiedlich gehandhabt wurde, verstand 26

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Baihe qu youfu gongzuo, QA 48-2-46 (1952), Bl. 76; Baihe qu zhaokai, QA 48-2-64, Bl. 28; Zhujiajiao qu renmin zhengfu, QA 48-2-46 (1951), unpaginiert; Baihe qu minzheng gongzuo, QA 48-2-73 (1955), Bl. 45. Shandong sheng yinian lai youfu gongzuo, SA A20-1-81 (1953), Bl. 18; Baihe qu youfu gongzuo, QA 48-2-46 (1952), Bl. 76; Baihe qu minzheng gongzuo, QA 48-2-73 (1955), Bl. 45. Zhujiajiao to Qingpu County, Wei jiehe jiancha daigeng, QA 48-2-56 (1953), Bl. 39. Qingpu xian 1951 nian, QA 48-1-13, Bl. 11; Baihe qu minzheng gongzuo, QA 48-2-73 (1955), Bl. 45. Shanghai shi minzheng ju wunian lai youfu gongzuo de jiben qingkuang, SMA B168-1616 (1954), Bl. 10. Baihe qu zhaokai, QA 48-2-64, Bl. 28.

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man dieses Programm doch vielerorts als Teil der von der kommunistischen Partei geführten Revolution auf dem Land, in der Arme gegen reiche Bauern und Grundbesitzer ins Feld ziehen, nicht aber als Form der Anerkennung des militärischen Beitrags oder der Aufopferung der Angehörigen von Soldaten.32 Bereits 1951 vergaben Dorffunktionäre an Verwandte von Soldaten daigeng, ohne das die Volksbefreiungsarmee überhaupt erwähnt wurde, weil ,,jeder während der Bodenreform Land fānshēn [wörtlich: ,,umdrehen“] erhalten hat und deshalb jeder daran teilhaben sollte“.33 In Baihe wurde daigeng weniger als Möglichkeit betrachtet, den junshu zu helfen, sondern als Chance, reiche Bauern und frühere Grundbesitzer zu zwingen, ihren Anteil für die Gemeinschaft zu leisten. Zum Beispiel besaßen in dem Dorf Nanyao zwei ältere junshu zusammen acht mu Boden, der zum daigeng-Programm gehörte. Während des Frühjahrs vergaßen die Dorfbeamten, ihnen Bewohner zu Unterstützung zur Seite zu stellen. Somit wuchs im Sommer nur wenig auf ihren Feldern. Verärgert gingen die beiden zur Kreisverwaltung und beschwerten sich: Während andere ihre Arbeit zumeist erledigt hätten, sei ihr Land noch nicht einmal gepflügt, und somit wäre es auch zu spät, im Herbst etwas zu ernten. Anstatt andere Dorfbewohner zu mobilisieren, schickten die Dorfkader ,,drei Grundbesitzer- und reiche Bauernfamilien, um daigeng abzuleisten“. Ein Mitglied des Gremiums für zivile Angelegenheiten des Kreises sprach sich gegen diese Methode aus, aber der Dorfoberste antwortete: ,,Es gibt keine andere Möglichkeit. Es ist doch egal, ob damit daigengPolitik verletzt wird.“34 Diejenigen junshu, die daigeng erhielten, stellten demnach Begünstigte zweiter Klasse einer für die Landbevölkerung umfassenderen Veränderung dar. Diese war für sie vor allem eine Bodenrevolution, in der es darum ging, Boden zu erhalten – und nicht darum, ob eine Bevölkerungsgruppe aufgrund der Kriegsopfer ihrer Familien besondere Hilfen erhielt. Viele Veteranen waren auch gar nicht vor Ort, als die Bodenreform stattfand. Umgekehrt legitimierten zivile und Milizfunktionäre mit der Teilnahme an der Bodenreform ihren Anspruch auf Vergünstigungen wie daigeng und einen besonderen Status.

Lokale Positionskämpfe Trotz des offiziellen Revolutionsgedenkens und der damit verbundenen Leistungen der Revolutionäre und Märtyrer fielen den heimgekehrten Veteranen – ganz gleich, ob sie gegen die Japaner, die Nationalisten, die Amerikaner oder die Viet32 33 34

Ebd. Qingpu sixan daigeng gongzuo qingkuang jiandan huibao, QA 48-2-27 (1951), Bl. 9. Baihe qu zhaokai, QA 48-2-64 (1954), Bl. 28f.

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namesen gekämpft hatten, gut bezahlte Arbeitsplätze und ein hoher Status nicht einfach zu. Gerade die aus den ländlichen Gebieten stammenden Soldaten der Volksbefreiungsarmee waren häufig viele Monate oder Jahre nicht nach Hause gekommen. In dieser Zeit aber hatte sich die politische Kontrolle verändert und erweitert, waren häufig neue politische Führungspositionen geschaffen und politische Schlüsselmaßnahmen umgesetzt worden, wie zum Beispiel die Bodenreform in den frühen 1950er Jahren. Bei jeder Demobilisierungswelle – 1949 nach dem Krieg gegen Japan und dem Bürgerkrieg, 1955–56 nach dem Koreakrieg und in den frühen 1980er Jahren nach der Kulturrevolution und dem Krieg gegen Vietnam – gab es Funktionäre, die den im Krieg erworbenen Anspruch der Veteranen nicht akzeptierten und sich in einer besseren Position befanden, weil sie vor Ort gewesen waren, als die Früchte des Sieges verteilt wurden. Diese Funktionäre taten ihr Möglichstes, um die Ansprüche der Veteranen zu vereiteln. Die Tatsache, dass viele Veteranen aus verarmten Landesteilen, vor allem aus Nordchina, stammten, in denen der Krieg intensiv geführt worden war, machte ihre Ankunft in der politischen Arena zu einer besonderen Herausforderung. In China war es von Anfang an üblich gewesen, dass Veteranen nach ihrer Demobilisierung an ihre ,,Heimatorte“ (yuan ji an zhi) zurückkehrten, ungeachtet der häufig komplexen politischen, familiären und wirtschaftlichen Probleme, die sie dort erwarteten. Daran ändere sich auch langfristig kaum etwas.35 Oberflächlich betrachtet war die yuan ji an zhi-Politik vernünftig: Warum sollten Soldaten nicht ,,heimkehren“ wollen? Doch vor dem Hintergrund kriegsgeschundener und verarmter ländlicher Gebiete wird deutlich, dass diese Regelung, die sich auf Millionen von Menschen in komplizierten Umständen auswirkte, eine starke Vereinfachung war. Denn die Kriege hatten millionenfach zu sozialer Entwurzelung, zu Flüchtlingsströmen und Familientrennungen geführt. Meinte ,,Heimat“ nun den Ort, an dem man geboren war, oder jenen, in dem man während der Kriege gelebt hatte? Und was passierte in den Fällen, in denen es keinen ,,Ort“ mehr gab, an den man zurückkehren konnte? Amtliche Nachrichtenblätter der jeweiligen Kreise berichteten von vielen Fällen, in denen Veteranen kriegsbedingt in ein Dorf zogen, in dem sie nicht einheimisch waren.36 Die ,,Wiederansiedlung“ erscheint nur auf den ersten Blick als ein einfaches Konzept. Besonders der Krieg gegen die Japaner und der Bürgerkrieg hatten zu hohen Opferzahlen in der Bevölkerung geführt. Wie konnte ein Veteran, der in ein leeres oder zerstörtes Heim zurückkehrte, als heimkehrender Held gefeiert werden? Weder das unausweichliche Chaos noch der Wunsch des

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Offiziell gab es zumindest viele Ausnahmen: Veteranen mit einer besonderen handwerklichen oder technischen Fähigkeit, die einen Arbeitgeber fanden, der sie einstellte, waren eventuell in der Lage einen Aufenthalt in der Stadt zu bekommen. Wuqiang xian zhi (Peking: Fangzhi chubanshe, 1996), 416.

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ländlichen Veteranen nach einem Leben in der Stadt waren Bestandteil der yuan ji an zhi-Politik. Amtliche Nachrichtenblätter aus den 1980er und 90er Jahren und Hunderte von Dokumenten, in denen diese fundamentale Regelung erklärt ist, ermöglichen einen Überblick über ihre Umsetzung. Bei aller quellenkritischen Vorsicht bieten diese Quellen einen Einblick in die yuan ji an zhi-Politik seit den 1950er Jahren. So wurden in der Provinz Anhui zwischen 1950 und 1958 224.344 Veteranen aufgenommen, davon wurden 198.448 (88,5 %) in die ländlichen Gegenden zurückgeschickt, aus denen sie stammten.37 Die nahezu vollständige Rücksendung aufs Land war allgemein verbreitet; im Kreis Nanling wurden 3.233 der 3.990 (90 %) Veteranen erneut Bauern,38 ebenso in Huaiyuan, wo "die meisten Soldaten aus dem ländlichen Raum kamen“.39 Erst während der Kulturrevolution in den Jahren 1970 bis 1971, als die staatlichen Regelungszwänge in diesem Bereich nachließen, sank diese Quote deutlich. Das amtliche Nachrichtenblatt des Wei-Kreises (Hebei Provinz) berichtet, dass von den in diesen beiden Jahren entlassenen Veteranen nur 22 % bzw. 5 % in ihre Dörfer zurückkehrten.40 Mit dem Ende der Kulturrevolution 1972 griff die staatliche Steuerung und Regulierung der ländlichen Bevölkerung wieder: Nur vier von 425 Veteranen (1 %) wurden einem städtischen Betrieb zugewiesen.41 Wie lange die Veteranen auf dem Land blieben, wo sie Arbeit erhalten hatten, lässt sich nicht sagen. Allgemeine Daten lassen aber vermuten, dass der Großteil der Veteranen aufs Land zurückkehrte und dort nach wie vor dem ,,Bauernstand“ angehörte, obwohl die Vorteile des städtischen Lebens auf der Hand lagen. Damit konnte nur eine Minderheit der ländlichen Veteranen eine Position in den politischen Strukturen vor Ort einnehmen. Die Wenigen, die von der Staatspatronage profitierten, hatten ihr Interesse an dem des Staates auszurichten. Nachrichtenblätter und andere Quellen zeigen den Minderheitenstatus der Veteranen in der lokalen politischen Verwaltung und die begrenzten Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. In der Provinz Hebei im Yi-Kreis hatten 21 % der heimgekehrten Veteranen Positionen auf der Dorf- und Kreisebene inne,42 der Prozentsatz in der Provinz Anhui im Jinzhai-Kreis war ähnlich hoch.43 Zweifelsohne waren diese vom Glück begünstigten Veteranen – wie auch diejenigen, die am Langen Marsch teilgenommen hatten und politische Privilegien genossen – der kommunistischen Partei gegenüber dankbar und erinnerten sich gerne an ihre 37 38 39 40 41 42 43

Anhui sheng zhi: minzheng zhi (Hefei: Anhui renmin chubanshe, 1993), 140. Nanling xian zhi (Hefei: Huangshan chubanshe, 1994), 499. Huaiyuan xian zhi (Shanghai: Shanghai kexue yuan chubanshe, 1990), 394. Wei xian zhi (Zhongguo sanxia chubanshe, 1995), 497. Yihua xian zhi (Hebei renmin chubanshe, 1993), 716. Yi xian zhi, 360. Jinzhai xian zhi, 527.

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Militärzeit. Doch die meisten dürften weitaus weniger Glück gehabt und keine politischen Positionen erlangt haben, besonders die lukrativeren Stellen wie die des Dorf- oder Kreisparteisekretärs nicht. In einigen Gebieten war der Prozentsatz der Begünstigten niedriger. In der Provinz Shandong im Kreis Dongping (1950–1981) wurden 17 % der heimkehrenden Veteranen (3.100 von 17.842) Kader in Produktionskollektiven oder Brigaden.44 Die amtlichen Nachrichtenblätter schweigen in der Regel über ihren genauen Status in der Hierarchie und nennen sie einfach ,,Kader“ ohne zu erwähnen, ob sie Dorf- oder Kreis-,,Chefs“ (Zhang) waren, oder wie lange sie die Stellung innehatten. Ralph Thaxton hat festgestellt, dass sich die Kriegsheimkehrer der Jahre 1953 bis 1955 im Dorf Henan ,,einem Parteiführer gegenüber sahen, der jede Bedrohung seiner Macht durchkreuzen konnte“.45 Im Südwesten gab es Fälle, in denen Bandenanführer, Grundbesitzer oder Mitglieder von Geheimgesellschaften Dienstposten bis hin zum Bezirkschef in der Verwaltung erhielten.46 Diese Beamten unterstützen selbstverständlich nicht die Vorstellung, dass Militärangehörige einen hohen politischen Status verdient hätten. Die vergleichsweise schwache Position der Veteranen auf der lokalen Führungsebene wirkte sich auf die Chancen der heimgekehrten Soldaten aus. Berichte aus den 1950er und 1960er Jahren belegen ein gespanntes und manchmal sogar feindliches Verhältnis zwischen den heimkehrenden Veteranen und ihren Familien auf der einen Seite sowie den lokalen Kadern, die in der Regel keine militärische Karriere gemacht hatten, auf der anderen Seite. Boden, Macht und andere Ressourcen waren hart umkämpft, dabei befanden sich die Veteranen in der Regel in der schwächeren Position. In einem Bericht aus der Provinz Shandong heißt es zum Beispiel, dass fehlendes Land ,,ein Problem“ für heimkehrende Veteranen aus dem Koreakrieg war; das schloss auch Veteranen aus dem Bürgerkrieg und dem Krieg gegen Japan ein.47 Das war eine Untertreibung. Dem handschriftlichen Bericht über eine Kreisversammlung der Provinz zufolge gab es ,,Unruhen“ gegen die Regierung, die von Veteranen und früheren Kriegsgefangenen verursacht wurden, denen es an Land und Unterkunft fehlte.48 Berichte des People’s Daily in den 1950er Jahren sprachen auch von der ,,Diskriminierung“ der Kriegsheimkehrer.49 Ein Veteran formulierte es so: ,,In der Armee sprachen wir über alles, aber in unseren Dörfern ignorieren uns die 44 45 46

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Dongping xian zhi (Jinan: Shandong renmin chubanshe), 373. Vgl. Ralph Thaxton, Catastrophe and Contention in Rural China, Cambridge 2008, S. 82f. Jeremy Brown, From Resisting Communists to Resisting America. Civil War and Korean War in Southwest China, in: Ders./Paul Pickowicz (Hg.), Dilemmas of Victory. The Early Years of the People’s Republic of China, Cambridge 2007, S. 111 und S. 114. SA A20-1-109, Bl. 5. SA A20-1-41 (1952), Bl. 69. People’s Daily, 18.4.1956.

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Kader einfach und tun so, als ob wir keine Mitglieder des gemeinsamen Hilfskollektivs wären. In der Armee fühlten wir uns willkommen, aber hier wird uns immer nur die kalte Schulter gezeigt. Wie können wir uns da für unsere Arbeit begeistern?“ Dieser Übergang vom Soldat zum Zivilisten wurde noch durch etwas anderes erschwert: ,,In der Armee war ich Zugführer, ich habe Männer geführt. Jetzt werden mir Anweisungen gegeben. Der Kreisparteisekretär spricht nicht mit mir und hört mir nicht einmal zu. Hinzu kommt, dass er auf mich herabblickt! Ich halte das nicht aus.“50 Noch problematischer für die Veteranen war der Zeitpunkt ihrer Rückkehr: Die Bodenreform war in den meisten Landesteilen bis 1953, das heißt vor der Rückkehr der meisten Veteranen, abgeschlossen. 1954 bis 1957, als ca. 5,2 Mio. Veteranen entlassen wurden,51 lief bereits die Kollektivierung der Landwirtschaft. Außerdem war ihre Leistungsfähigkeit geringer: sie hatten lange nicht mehr auf dem Feld gearbeitet und waren in der Regel älter und schwächer. Auch waren die meisten von einer Rückkehr auf die Felder wenig begeistert. Veteranen, die in die Städte gingen, hatten es noch schwerer, nach ihrer Entlassung ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. In den Fabriken, Krankenhäusern, Gewerkschaften, Verlagshäusern, Parteigremien und Bildungseinrichtungen erreichten die Veteranen nie die ,,kritische Masse“, um ihren Anspruch auf einen höheren Status einlösen zu können. In der Regel kämpften sie nur um ihren Positionserhalt. Funktionäre, die durch eine Gewerkschaftszugehörigkeit in den 1930er Jahren, aufgrund höherer Bildungsabschlüsse oder weil sie während des Krieges als Schreiber oder Propagandisten gearbeitet hatten, zu Macht gekommen waren, sahen keinen Grund, Veteranen eine bedeutende Rolle im politischen Apparat der Nachkriegszeit spielen zu lassen. So wiesen etwa Kader der Hongxiangxin Bootsreparaturfabrik in Shanghai Veteranen mit den Worten zurück: ,,Unsere Arbeiterklasse hat 30 Jahre hart für diese Gewerkschaft gekämpft. Ihr könnt nicht einfach beitreten und Macht und Vergünstigungen genießen.“52 Berichte überernsthafte Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt kamen in den frühen 1950er Jahren aus allen Landesteilen und erstreckten sich bis in die Zeit der Kulturrevolution. Die Veteranen waren schon stigmatisiert ob ihrer Verbindung zum Militär und dem ,,stolzen/arroganten“ (jiao’ao) Verhalten, das viele von ihnen an den Tag legten, nachdem sie als ,,Kriegshelden“ im Krieg gegen Japan, im Bürgerkrieg oder im Koreakrieg bezeichnet worden waren. Ein früher Bericht (1953) aus Qingdao in der Provinz Shandong besagt, dass unter den 10.000 Personen, denen eine ,,langfristige Arbeit“ gegeben wurde, nur acht 50 51 52

QA 48-2-105 (1957), Bl. 135 und Bl. 139f. SMA B1-2-1958 (1957), Bl. 21. SMA B168-1-628 (1957), Bl. 74.

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Veteranen waren. Als Mitarbeiter der Abteilung für zivile Angelegenheiten die Arbeitgeber kontaktierten, wurde ihnen mitgeteilt: ,,Wir benötigen niemand“. Hieraus ergab sich, dass in den ersten zwei Quartalen des Jahres 1953 48 % der heimkehrenden Veteranen arbeitslos waren, und ,,es wurden immer mehr“.53 Ein Bericht hielt fest, dass ,,nicht wenige“ Arbeitsverbände verschiedene Methoden nutzten, um keine Veteranen anstellen zu müssen. Unternehmen, die Sicherheitskräfte suchten, hatten an das örtliche Arbeitsbüro nur eine Bitte: ,,Schickt uns bloß keine Veteranen“. Folgt man Untersuchungsbeamten, so besaßen Veteranen den Ruf, ,,Probleme“ zu haben, auch sei ,,mit ihnen schwer auszukommen“, und außerdem wären sie ,,schwierig zu führen“.54 Diskriminierung am Arbeitsplatz, auch wenn sie für die Veteranen frustrierend war, ist nicht unüblich in der Geschichte der Nachkriegsdemobilisierung. Veteranen sahen sich oft mit dem Problem konfrontiert, nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg keine Arbeit zu finden. In China jedoch resultierte die Diskriminierung der Veteranen aus dem grundsätzlichen Streit, ob die Sache, der die Veteranen gedient hatten, Vergünstigungen wert war. Im Fall des Koreakriegs zum Beispiel hatten große Teile der Bevölkerung Shanghais weitreichende Zweifel am Grund des Krieges. Warum sollte Nordkorea ihre Aufopferung verdienen und warum die USA plötzlich ein Feind sein? Die Reaktion der Parteikader und der einfachen Arbeiter auf die Protagonisten des Krieges beunruhigte die Ermittler der Partei. Im Bezirk Penglai sprachen Kader davon, dass Nordkorea von China nur politische Unterstützung bekommen und sich ansonsten ,,allein befreien“ solle. Vielen lokalen Kadern war die UdSSR trotz des 1950 unterzeichneten russisch-chinesischen Vertrags für Frieden, Sicherheit und Freundschaft verdächtig. Sie fragten, warum die chinesische Außenpolitik nicht darauf abziele, ,,der amerikanischbritischen Allianz“, sprich: der NATO beizutreten, statt gegen die USA zu kämpfen. Da Shanghai ein Industriezentrum war, würden die USA sehr wahrscheinlich mit der Atombombe und der Marineinfanterie angreifen.55 Einfache Arbeiter wären, so lautete das Resümee der Ermittler, ebenso ,,durcheinander“. Als Beleg zitierten sie beispielsweise folgende Aussagen: ,,Penizillin ist amerikanisch; und selbst in ihren schlimmsten Zeiten waren die USA nicht halb so schlimm wie die japanischen Teufel. / Die USA sind besser als Japan. In der Vergangenheit haben sie uns Mehl und Milchpulver gegeben. / Es lohnt sich nicht, diesen faulen Nordkoreanern zu helfen. / Die UdSSR möchte, dass China ,die Brautkutsche trägt‘ (die schwere Arbeit macht, während der Braut die ganze Ehre zufällt); sie wollen, dass China brennt, und sie dann die ganze Hirse ernten können. / Westkorea, Ostkorea – ich verstehe nicht worin der Unterschied 53 54 55

SA A20-1-109, Bl. 4. Shandong xingzheng gongbao, 24. März 1955, 12. SMA A22-2-25, Bl. 54f.

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besteht.56 / Wo liegt Nordkorea? / Ist Stalin Nordkoreas Führer? / Wir verstehen nur die vier Worte: ,Widersteht Amerika, unterstützt Korea‘; wenn ihr uns fragt warum, können wir es euch nicht sagen. Alle Berichte gehen zum Ost-Ohr rein und zum West-Ohr wieder raus.“57 Lokale Funktionäre versuchten, diese ,,irrtümlichen“ Ansichten zu ,,korrigieren“. In einer Rede, die sich an ranghöhere Arbeiter richtete, beanstandete der stellvertretende Vorsitzende der Allchinesischen Textilgewerkschaft, dass selbst solche Arbeiter, die den ,,immanenten Charakter des Papiertigers namens amerikanischer Imperialismus erkannten“, ,,dennoch kaum Hass gegenüber den Vereinigten Staaten empfanden“ und ,,die Idee nicht verstanden, dass Amerika schon immer unser Feind war“.58 Diese Skepsis wurde von einem großen Teil der gebildeten Kreise in der Stadt geteilt. Nur wenige akzeptierten die Begründung für den Krieg, und viele fürchteten sich vor ihm. Fehlender Enthusiasmus schien ein ,,allgemeines Phänomen“ zu sein. Einige weigerten sich aus Angst vor einer Rückkehr der Nationalisten auf das Festland, rote Schals zu tragen oder zu unterrichten. Ein Lehrer erklärte: ,,Als die Nationalistische Partei [oder Kuomintang, kurz KMT, unter Chiang Kai-shek] hier war, sagten wir, ,die KMT ist gut‘. Jetzt ist die Kommunistische Partei hier, und wir sagen: ,Die Kommunistische Partei ist gut und dient dem Volk‘. Jetzt kehrt die KMT zurück. Was sollen wir machen?“59 Angesichts dieser Auffassungen über den Koreakrieg sowie seines wenig heldenhaften Endes überrascht es nicht, dass die Veteranen kaum Früchte ihres Sieges ernten und sozialem Status und politischen Einfluss gewinnen konnten. Für die heimgekehrten Kriegsgefangenen, deren Gefangenschaft als Schande betrachtet wurde, war die Situation häufig noch schlechter. Oft wurden Veteranen generell als Kriegsgefangene beschimpft. So war es bis 1956 in Shanghaier Fabriken üblich, ,,einen Veteranen Kriegsgefangenen zu nennen“ und damit zu stigmatisieren.60 In dieser Hinsicht scheinen sich Nachkriegserfahrungen in China von den Erfahrungen in vielen anderen Ländern zu unterscheiden, insbesondere in den (vermeintlich) siegreichen Länder. In der UdSSR zum Beispiel konkurrierten Partisanen und Funktionäre mit den Veteranen der Roten Armee um Prestige, Status, Macht und die Entscheidung, ,,was das Vermächtnis des Krieges sein sollte“, doch die Erstgenannten gingen als klare Verlierer diesem Streit her56 57 58 59 60

In shanghainesisch wird Nordkorea, oder chao xian, wie chao xi ausgesprochen, das bedeutet ,,Westkorea“ auf Mandarin. SMA C1-2-361, Bl, 33; SMA A22-2-25, Bl. 55; SMA C1-2-121, Bl. 40; SMA A22-2-45, Bl. 147. SMA C1-2-121, Bl. 40. SMA C1-2-121 (1950), Bl. 22. SMA B168-1-628, Bl. 97f.

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vor.61 In den USA stand ,,der Frontsoldat“ nach dem Zweiten Weltkrieg in der Statushierarchie ,,ganz oben“; er war ,,die einzige Person, die man nicht zu fragen brauchte: ,Was hast Du für den Krieg getan?‘ Der Soldat musste sich nicht rechtfertigen“.62 Dennoch besorgt über Animositäten zwischen Veteranen und Zivilisten, veröffentlichte das Büro für Kriegsinformationen eine Broschüre mit Hinweisen, wie mit dem Thema Aufopferung umgegangen werden sollte: ,,Der Begriff ,Aufopferung‘ im Zusammenhang mit Verdiensten der Zivilisten ist im Vergleich zu den weitaus größeren Beiträgen der kämpfenden Soldaten extrem unangebracht und unpassend.“63 In China genossen Veteranen und Soldatenfamilien offiziellen ,,Ruhm“, aber dieses Privileg wurde auch vielen anderen Funktionären zuteil, die in irgendeiner Art und Weise zum ,,Sieg“ beigetragen hatten. Relevanter waren hingegen die nichtoffiziellen Sichtweisen, da sich diese stark auf den alltäglichen Umgang mit Veteranen auswirkten. Der Koreakrieg war umstritten, ebenso die Notwendigkeit und der Nutzen des Krieges gegen Vietnam in den 1970er Jahren. Vietnam war, wie die UdSSR, über viele Jahre ein Verbündeter Chinas, so dass der Anspruch der Veteranen und ihrer Familien auf Ruhm und Ehre ebenfalls leicht angreifbar und somit ihre politische Stellung unsicher war.

Das Fleisch der Revolutionäre Ein weiteres Beispiel für die fehlende Gestaltungskraft des ,,Kultes“ möchte ich anhand der Beziehung zwischen lokalen Funktionären und den Soldatenfamilien (junshu) geben. Wie ausgeführt, beschränkten die Soldaten und ihre Familien ihre Forderungen auf materielle Dinge. Sie wollten Hilfe bei der Ernte, brauchten Korn, benötigten Sozialhilfe. Diese Formen der Unterstützung waren notwendig, weil die Abwesenheit eines körperlich gesunden jungen Mannes das Einkommen minderte. Auf symbolischer Ebene bedeutete staatliche Unterstützung eine angemessene Form der Anerkennung für die Opfer. Doch vom soziologischen Standpunkt bedeutete der Militärdienst noch etwas anderes: Ehefrauen und Verlobte waren ohne Mann sexuell und wirtschaftlich angreifbar. Als Maßstab, ob sich der Kult (der in den Jahren vor der Kulturrevolution in Propagandakam61

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Amir Weiner, Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution, Princeton 2001, S. 9, 70, 73; Mark von Hagen, The levee en masse from Russian Empire to Soviet Union, in: Daniel Moran/Arthur Waldron (Hg.), The People in Arms, Cambridge 2003, S. 187. Normalen Armeetruppen wurde nach dem Sieg in der Schlacht um Stalingrad Verdienste ,,auf Kosten von Partisanen und Einheiten der Bürgerwehr“ zugeschrieben. Samuel Stouffer u. a., The American Soldier. Combat and its Aftermath, Princeton 1949, Bd. 2, S. 309. Andrew J. Huebner, The Warrior Image. Soldiers in American Culture from the Second World War to the Vietnam Era, Chapel Hill 2008, S. 22.

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pagnen voll zur Entfaltung kam) in der Praxis durchsetzte oder nicht, ist diese Analyseebene ebenfalls entscheidend. Anders als Veteranen, die mit ihren Ansprüchen auf politische Macht und Status für andere Funktionäre zur Bedrohung wurden, waren junshu politisch harmlos. Falls der Kult auch nur moderat erfolgreich war, würden die Familien der Soldaten mit etwas Respekt behandelt werden – und politisch betrachtet wenig kosten. Wie aber aus Unterlagen der frühen 1960er Jahre hervorgeht, waren Frauen von Soldaten für die zurückgebliebenen männlichen Funktionäre ,,Freiwild“. In Shanghai, das für seinen linksgerichteten Radikalismus in den ,,militaristischen“ Jahren vor der Kulturrevolution berühmt war, erschien eine große Anzahl vertraulicher Untersuchungsberichte, die den revolutionären Ruf der Stadt gefährdeten. Beamte, die diese Berichte in den 1960er Jahren lasen, schüttelten vermutlich ihre Köpfe über die wortwörtliche und riskante Auslegung der sogenannten Fleisch und Blut-Beziehung, die angeblich zwischen den im Militär Dienenden und den Parteikadern bestehen sollte: Kader und andere Funktionäre unterhielten sexuelle Beziehungen zu Verlobten und Ehefrauen von Soldaten. In einem Bericht des Büros für zivile Angelegenheiten an das Shanghaier Parteikomitee wurde dieses Phänomen, das als ,,die Ehe eines Soldaten ruinieren“ bekannt war, als ,,wirklich ernst“ bezeichnet; es betraf Soldaten in städtischen wie in ländlichen Gebieten.64 Im Bericht heißt es, dass allein 1963 im Gebiet von Shanghai 253 Fälle ,,entdeckt“ worden seien, 193 in den ländlichen Vororten, 60 in der Stadt. Die meisten Täter waren in herausgehobenen Positionen. In den Vororten waren 57,4 % der Täter Kader auf Gemeindeebene, in den Dörfern waren sie Kader in den Produktionsbrigaden oder Produktionsgruppen. Mitglieder der Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Jugendliga kamen häufig in den allgemeinen Statistiken vor (39 %) vor, aber die Schuld wurde in gleichem Maße auch ,,schlechten Elementen, Rowdys und Strolchen“ gegeben. Durch die Armut der Familien und die Ressourcen, die den Funktionären zur Verfügung standen, eröffneten sich Möglichkeiten der sexuellen Ausbeutung. Örtliche Funktionäre näherten sich den Soldatenfrauen, indem sie ,,sich Sorgen um diese machten“. Diese Annäherungsversuche entwickelten sich schnell zu einem prostitutionsähnlichen Austausch von Sex gegen Essen oder gegen die Einladung zu Freizeitaktivitäten wie den Besuch der Oper. Die Tatsache, dass diese Frauen bereits mit Soldaten verheiratet waren, die ,,das Vaterland verteidigten“, interessierte nicht. In den Jiangnan-Werften von Shanghai etwa hatte ein Herr Ye, Mitglied der Kommunistischen Partei, Sex mit einer Frau Yang, deren Ehemann in der Armee war. Um Frau Yang davon zu überzeugen, sich von ih64

Das Shanghaier Büro für zivile Angelegenheiten an das Shanghaier Parteikommitee, Guanyu baohu junren hunyin qingkuang de jiancha he jinhou yijian de qingshi baogao, SMA B168-1-223 (1964), Bl. 13f., danach das Folgende und die Zitate.

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rem Ehemann scheiden zu lassen, sprach er von der hohen Wahrscheinlichkeit, dass China, sollte es angegriffen werden, verlieren würde. ,,Möchtest Du eine Konterrevolutionärin werden, wenn Chiang Kai-shek das Festland angreift und hierher zurückkehrt? Du wirst Witwe sein, wenn du mit einem Soldaten verheiratet bist.“ Scheidungen und außereheliche Geburten waren nicht unüblich – aus diesen Shanghaier Beziehungen gingen 54 Babys hervor, weitere dreißig wurden für 1965 erwartet, 32 Soldaten wurden aufgrund außerehelicher Beziehungen ihrer Frauen geschieden und 32 weitere lösten ihre Verlobung. Den Bauern war dieses Problem bekannt. Das Lob, mit dem das Militär für die Verteidigung Chinas gegen Feinde von außen durch die staatlichen Agitatoren überschüttet wurde, konnte nicht die realen, beinahe spürbaren Gefahren aufwiegen, denen Soldaten ausgesetzt waren. Einige junge Männer wurden gewarnt: ,,Falls du verheiratet bist, gehst du besser nicht in die Armee“. Soldaten, die von diesen Problemen hörten, beantragten Urlaub, um ,,Verwandte zu besuchen“, tatsächlich aber wollten sie prüfen, ob ihre Ehefrauen und Verlobten nicht bereits durch Dorffunktionäre verführt worden waren. Wenn örtliche Funktionäre mit diesem Thema konfrontiert wurden, sahen sie sich nicht in der Verantwortung – ,,Wenn sich die Soldaten nicht offiziell beschweren, können wir nichts tun“ –, beschuldigten die Ehefrauen der Soldaten oder argumentierten, das sexuelle Beziehungen zwischen Frauen von Angehörigen der Volksbefreiungsarmee und Dorfbewohnern ,,ein normales Sexproblem sei“, das keiner weiteren Aufmerksamkeit bedürfe. Es gibt nur wenig Belege dafür, dass sich die Situation zwischen 1964 und 1966, den Jahren der Hochzeit der ,,Militarisierung“ vor der Kulturrevolution, verbessert hatte. Ein landesweit zirkulierender ,,Situationsbericht“, herausgegeben im März 1966 vom Politischen Büro der Militärregion Guangzhou, vermerkte 16 Fälle von Ehebruch ,,vor kurzer Zeit“, sechs davon wurden als ,,Verführung/Vergewaltigung“ eingestuft, acht Fälle sollen in gegenseitigem Einvernehmen stattgefunden haben. Von den Ehefrauen der Soldaten hieß es, dass sie ,,über nur wenig politisches Bewusstsein verfügten und materiellen Dingen sehr zugetan waren“.65 Der Bericht von Guangdong scheint zumindest so weit gewirkt zu haben, dass Papier von einem Beamtenapparat zum nächsten geschoben wurden. Während des ersten Sommers der Kulturrevolution (1966) ordneten der Oberste Gerichtshof und das Innenministerium an, sich ernsthafter mit dem Problem des ,,Ruinierens der Soldatenehen“ zu beschäftigen, da viele Soldaten ,,unzufrieden“ seien. Sie beriefen in Shanghai eine gemeinsame Ver-

65

Das Problem war nicht auf Südchina begrenzt. In den nördlichen Provinzen Shandong, Shanxi und anderen Provinzen (die über ein stärkeres militärisches Erbe als die Provinzen im Süden verfügten) wurde von ähnlichen Problemen berichtet; Guanyu junren hunyin caoshou pohuai qingkuang baogao, SMA B168-1-132, Bl. 24f.

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sammlung ein, an der auch Offiziere der dortigen Garnison teilnahmen.66 Das Problem war den Funktionären der Garnison durchaus vertraut. Sie hatten erst zwei Jahre zuvor eine großangelegte Untersuchung von 28 Gemeinden im Kreis Nanhui finanziell unterstützt und 1965 darüber berichtet. In 23 Fällen (82 %) hatten Frauen oder Verlobte von Soldaten mit andern Männern Beziehungen. Insgesamt gab es 61 Fälle. Die Garnisonsoffiziere sahen in den zivilen Parteifunktionären die Haupttäter (in knapp über 50 % aller Fälle), beschuldigten aber auch die Gerichte, das Problem nicht ernst genug zu nehmen und beschwerten sich, dass die Urteile ,,zu milde“ ausfielen. Als Beispiel für die Ignoranz führten sie einen Gemeindebuchhalter an: Ein Herr Su unterhielt Beziehungen zu zwei Ehefrauen von Soldaten. Lokale Funktionäre wussten darum, schwiegen aber. Der Fall kam nur ans Licht, weil eine der beiden Frauen ,,ihr Baby in der Toilette des Gemeindehauses ertränkte und dort gleichzeitig eine Versammlung stattfand“.67 Die Auswirkungen auf die Soldaten waren unverkennbar. Einige verließen unerlaubt die Truppe, unmittelbar nachdem sie von den außerehelichen Beziehungen ihrer Ehefrauen erfahren hatten. Andere, denen diese zur traurigen Gewissheit wurde, ,,fielen augenblicklich in ihren Betten in Ohnmacht und standen erst nach mehreren Tagen wieder auf“. Soldaten zogen durch die Dörfer, um Väter von Söhnen im rekrutierungsfähigen Alter zu ermutigen, die rekrutierenden Kader zu fragen, ,,ob sie schon wieder ein Auge auf Schwiegertöchter geworfen haben“.68 Im politisch heißen Sommer von 1966 konnte der Kontrast nicht stärker sein: Auf der einen Seite Mao, der den Kult um das Militär vorantrieb und junge Männer der Roten Garde, die überzeugt waren, die ,,kleinen Soldaten“ des Vorsitzenden Maos zu sein; auf der anderen Seite echte Soldaten, die ihre Truppe ohne Erlaubnis verließen, Familien, die sich über den Missbrauch von Kadern empörten, Ehefrauen von VBA-Soldaten, die vergewaltigt wurden und ihre Babys abtreiben ließen sowie eine Beschwerde des Obersten Gerichtshofs von Shanghai über ,,den ganz miserablen Begriff von nationaler Verteidigung und Unterstützung von Soldatenfamilien“.69

Tod Nirgends zeigt sich der Widerspruch zwischen der offiziellen Propaganda des Soldatengedenkens und dem tatsächlichen Leben deutlicher als in den Fällen von Selbstmord und versuchtem Selbstmord. So wenig wie ,,Verführung“ und 66 67 68 69

Guanyu guanche shixing zuigao fayuan neiwubu, SMA B168-2-132, Bl. 28. Ebd., Bl. 29f. Ebd., Bl. 34. Ebd., Bl. 38.

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Vergewaltigung von Ehefrauen durfte es unter den ,,ruhmreichen“ Soldaten einen Selbstmord geben. Auch hier zeigt sich, dass die persönlichen Umstände der Veteranen ausschlaggebender für ihre Behandlung waren als die ideologischen Leitbilder. Die wichtigsten biographischen Faktoren, die Selbsttötungen unter den Veteranen begünstigten, waren Krankheiten und Eheprobleme. Beide Probleme machten Veteranen vom Wohlwollen ziviler Funktionäre abhängig, das ihnen häufig nicht zuteil wurde. Die meisten Berichte und Untersuchungen über Veteranen thematisieren gesundheitliche Probleme, unter denen chronische Krankheiten, posttraumatisches Stresssyndrom (damals als ,,Wahnsinn“ diagnostiziert), Depression und eine Reihe unerklärbarer Krankheiten besonders häufig auftraten. Viele der aus dem Koreakrieg in ihre Dörfer Heimkehrenden waren krank oder verwundet, und es mangelte ihnen oft an Boden, Haus und Familie, auch weil sie wegen chronischer Krankheiten nicht arbeiten konnten.70 Ein Bericht aus Shanghai von 1951 vermerkt, dass nur 228 von 406 Veteranen (56 %) ,,ohne Krankheit seien“. Nahezu 100 Veteranen würden an Atemwegs- oder Verdauungskrankheiten und 16 unter psychiatrischen Auffälligkeiten leiden.71 In einem weiteren Shanghaier Bericht aus dem Jahr 1952 heißt es von 2105 Veteranen, dass die ,,meisten nicht gesund“ waren. Chronische Krankheiten waren hier weitverbreitet (818 Veteranen oder 38,8 %), einige litten unter sexuell übertragbaren Krankheiten (89 Veteranen oder 4,2 %) und psychischen Erkrankungen (32 Veteranen oder 1,5 %). Nur 893 der 2105 Veteranen (42 %) waren bei guter Gesundheit.72 Um 1951 wurden in der Provinz Shandong 20 % der Veteranen als behindert diagnostiziert (ungefähr 100.000 Menschen). Davon lebten 98 % in Dörfern.73 Von den 550.000 Veteranen, die hier lebten, hatten 1956 60.000 chronische Krankheiten (11 %), 1960 lag die Zahl bei 52.000.74 Berichte aus Liaoning, Peking, Shanxi und Hebei sprachen ebenfalls von Dutzenden von Veteranen, die an Lungenkrankheiten, psychischen Erkrankungen und unter alten Wunden litten, oder die gestorben waren, ohne medizinische Hilfe erhalten zu haben, während Hunderte auf eine Einweisung in ein Krankenhaus warteten.75 Zu den Problemen der Veteranen in der Nachkriegszeit gehörte es auch, eine 70 71 72 73 74

75

Liaoning sheng zhi: minzheng zhi (Shenyang: Liaoning kexue jishu chubanshe, 1996), 104; ein Bericht aus der Provinz Liaoning. Shenti jiankang qingkuang tongji biao, SMA B168-1-600, Bl. 113. Di yipi huixiang zhuanye junren, SMA B168-1-607, Bl. 54. SA A20-1-029 (1951), Bl. 17. Guanyu 1957 nian ban nian fuyuan gongzuo de jiben qingkuang, SA A1-2-516, Bl. 19; Shandong sheng minzheng ting/weisheng ting, Guanyu jiaqiang fuyuan junren manxing bing zhiliao gongzuo, SA A20-1-295 (1960), Bl. 43. Liaoning sheng zhi: minzheng zhi (Shenyang: Liaoning kexue jishu chubanshe, 1996), 104; Guowuyuan jundui ganbu anzhi gongzuo xiaozu bangongshi, Herausg., Jundui ganbu zhuanye fuyuan gongzuo wenjian huibian (im Nachfolgenden Jundui ganbu genannt) (Peking: Laodong renshi chubanshe, 1983), 161f.

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Ehefrau zu finden und eine Familie zu gründen, besonders in den 1950er Jahren, als die Scheidungsgesetze liberalisiert wurden. Viele Veteranen waren in einer Lebensphase im Krieg gewesen, in der sie (und ihre Eltern und Verwandten) unter normalen Umständen aktiv nach einer Partnerin gesucht hätten. Somit waren die meisten Veteranen Junggesellen und sorgten sich um ihre Aussichten auf Ehe und Familie.76 Während die offizielle Propaganda die Soldaten kontinuierlich als gesellschaftlich privilegierte Gruppe darstellte, belegen die Suizide, in welchem Ausmaß Veteranen unter gesundheitlichen und familiären Problemen zu leiden hatten. Offiziell töteten sich zwischen 1953 und 1957 ungefähr 4.000 Veteranen; diese Zahl wird dem Phänomen freilich nicht gerecht, denn in den frühen 1950er Jahren gab es keine landesweite Erfassung von Selbstmorden.77 Gründe für die Selbsttötungen (durch Erhängen, Erschießen, Vergiften, dem Sprung in einen Brunnen, einen Fluss oder von hohen Gebäuden78 ) waren häufig chronische Schmerzen, Behinderung, Armut, Missbrauch, Verhöhnung sowie eheliche und familiäre Probleme. Seltener spielten politisch motivierte Gründe eine Rolle. Die Suizide waren nicht einfach das Produkt der frühen und chaotischen Phase der Demobilisierung, sondern hielten bis in die 1960er Jahre an, das heißt, ca. 15 Jahre nachdem der Staat funktionierende Verwaltungsämter eingerichtet hatte, die die Veteranen bei der Wiederansiedlung und der Verbesserung ihrer gesundheitlichen Lage unterstützen sollten. Es gab bereits 1951 die ersten Hinweise auf häufige Selbsttötungen unter Veteranen. Eine Analyse von 34 Suizidversuchen in Shanghai, von denen über zehn tödlich endeten, ergab, dass sieben Versuche auf Armut und fünf auf ,,Untreue oder ehelichen Probleme“ zurückzuführen waren. Weitere fünf Veteranen litten unter ,,psychiatrischen Störungen und waren der Lächerlichkeit preisgegeben“.79 In einem Zeitraum von mehreren Monaten begingen 33 Veteranen in Sichuan Selbstmord, zumeist aufgrund von ,,ehelichen Problemen, Armut und dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Depression, da sie unheilbar krank waren“.80 Mitte der 1950er Jahre wurden ähnliche Gründe auch für Peking und Shanghai festgestellt. Durch eine Untersuchung von 43 Suizidversuchen zwischen 1954 und 1956, von denen elf tödlich endeten, wurde deutlich, dass 30 % durch ,,eheliche Probleme und unerwiderte Liebe“ motiviert waren und 21 % der Veteranen unter ,,psychischen und chro-

76 77 78 79 80

Zitiert in: John Gittings, The Role of the Chinese Army, London 1967, S. 98. Berichtet von General Fu Qiutao, Vorsitzender des Nationalen Veteranenkomitees, SMA B1-2-1958 (1957), Bl. 30. Eine Liste findet sich in dem Bericht von 1963, Guanyu fuyuan tuiwujunren zisha qingkuang de baogao, SMA B168-1-209, Bl. 24. Shanghai shi jiancha fuyuan junren anzhi gongzuo, SMA B168-1-517, Bl. 139. Jundui ganbu, 159.

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nischen Krankheiten litten“.81 1955 wurde beispielsweise aus Shanghai vom Fall eines auswärtigen Veteranen berichtet, der mit einer psychischen Krankheit in die Stadt gekommen war. Hier verschlimmerte sich sein Zustand, weil er zur Zielscheibe andauernder Verhöhnung wurde. Als ,,er in ein Badezimmer eingesperrt wurde, schrie er, dass er sich umbringen werde“.82 Das Shanghaier Ministerium für zivile Angelegenheiten notierte 1957 ,,nicht wenige“ (d.h. ,,viele“) Fälle von Veteranenselbstmorden und Parteiausschlüssen.83 Suizide im ländlichen Raum folgten einer ähnlichen Logik. Ein Untersuchungsbericht von 24 Selbsttötungen zwischen Januar und Juni 1954 ergab, dass 18 Veteranen ,,eheliche Probleme“ oder ,,Familienstreitigkeiten“ hatten, drei unter Armut litten und sich ein Veteran umgebracht hatte, weil er sich aufgrund von Alter und Krankheit depressiv fühlte. Obwohl diese Suizidrate unter der Rate früherer Jahre lag, in denen sich 89 Veteranen töteten, hielt der Bericht fest, dass die Wiederansiedlung der Veteranen, ,,beklagenswert unzureichend“ durchgeführt wurde.84 Ein Gutachten von 1955, das vom Parteikomitee der Provinz für das Innenministerium erstellt wurde, konzentrierte sich speziell auf die Probleme, die ländliche Veteranen zu Suiziden veranlassten.85 Eine 1957 durchgeführte Untersuchung nannte keine Zahlen, lenkte aber die Aufmerksamkeit auf die ,,ernsthaften“ Probleme der Veteranen, die ,,Selbstmord begingen, Unruhen auslösten und die Provinz fluchtartig verließen“.86 Und während des Großen Sprungs nach vorn verließen schwerbehinderte Veteranen ihre Dörfer, um sich Hilfe bei den Kreisregierungen und der Provinzhauptstadt zu holen, da ihre Probleme vor Ort kein Gehör fänden, was wiederum ,,den Ruf der Partei und der Regierung“ schädigte.87 In anderen Berichten wiederum werden die Gründe für Suizidversuche auf dem Land genau aufgelistet. Die Selbstmorde im Kreis Qingpu resultierten aus ,,chronischen Krankheiten“, ,,ehelichen Streitigkeiten“, ,,politischen Problemen“ und ,,unhaltbaren Beschuldigungen“

81 82 83

84 85 86 87

Guanyu jiancha fuyuan junren anzhi gongzuo, SMA B168-1-628 (1957), Bl. 72f.; Minzheng jianbao, 15.8.1956, 56. Youfu gongzuo buchong fanyan, SMA B168-1-619, Bl. 30. Für vierzig Suizidversuche (zwölf mit letalem Ausgang) stellte das Ministerium folgende Ursachen zusammen. Finanzielle Schwierigkeiten: 7, Eheprobleme: 8, Panik, verursacht durch Fremdgehen: 3, Zusammengeschlagen, Rache genommen: 5, Unangemessene Arbeitsplätze: 7, Politische Vergangenheit: 5, Sonstiges: 5. Jiben qingkuang baogao, SMA B168-1-633, Bl. 78; Guanyu fuyuan tuiwujunren zisha qingkuang de baogao, SMA B1681-209, Bl. 21. Guanyu 1954 nian, SA A20-1-109, Bl. 48. SA A20-1-133 (1955); für 1957 siehe SA A1-2-422. Guanyu quansheng fuyuan anzhi gongzuo, SA A1-2-516, Bl. 17. Guanyu 1960 nian 1-5 yue de youfu fuyuan anzhi gongzuo qingkuang de baogao, SA A201-295, Bl. 103 (ein Bericht aus dem Jahr 1960).

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gegenüber den Veteranen.88 1962 setzten lokale Funktionäre den Grad der Erwerbsunfähigkeit herauf, entzogen den Veteranen Zusatzleistungen und versagten ihnen finanzielle Unterstützungen. Dies führte ebenfalls zu Selbsttötungen.89 Anscheinend waren nur wenige Funktionäre davon überzeugt, dass der Armeedienst gegen Japan, die Nationalisten oder die Vereinigten Staaten Veteranen zu Vergünstigungen und einer angemessenen Behandlung berechtigte. Die offizielle Propagierung positiver Attribute von Militärangehörigen wurde gründlich ignoriert, in den Städten wie auf dem Land.

Zusammenfassung China entwickelte keinen speziellen Kult um seine gefallenen Soldaten. Dieser Befund ist auf historische Ursachen – die lange Zeitspanne der Revolution und die Vielzahl der Akteure – und politische Faktoren – die mangelnde Legitimation der Kriege – zurückzuführen. An tote Soldaten wurde, wenn überhaupt, nur als Teil einer umfangreicheren Personengruppe erinnert, die ,,Ruhm“ als Mitglieder der ,,revolutionären Familie“ erworben und dafür Erinnerung verdient hatten. Auf den ersten Blick scheint das nicht problematisch zu sein, doch die Quellen belegen, dass sich die Militärangehörigen in der Nachkriegszeit langwierige Kämpfe um den Zugang zu den spärlichen materiellen und symbolischen Ressourcen mit Menschen liefern mussten, denen Verdienste im zivilen Bereich zugeschrieben wurden. Zivile Funktionäre und einfache Bürger stellten die Ansprüche von Veteranen- und Soldatenfamilien auf einen besonderen Status und eine privilegierte Position in der Nachkriegsgesellschaft nachdrücklich in Frage. Da es keinen nationalen Konsens darüber gab, ob die Kriege rechtmäßig gewesen waren, welche Gruppe welchen Anteil am Erfolg gehabt hatte und wer am Ende hohes Ansehen verdient hatte, mussten sich die Soldaten und ihre Angehörigen in der Konkurrenz um die Ressourcen für Gesundheit, Arbeit und Nahrung immer wieder neu behaupten. Diese Situation ist in Nachkriegsgesellschaften nicht ungewöhnlich. Zwei Elemente unterscheiden jedoch den Fall China von anderen. Erstens war es Veteranen, Witwen und Soldatenfamilien nicht gestattet, sich zu organisieren und für eine bessere Behandlung einzusetzen. China besitzt kein Äquivalent zum Sowjetischen Komitee der Kriegsveteranen oder der American Legion of Veterans of Foreign Wars (USA), der Returned Servicemen League (Australien), der British Legion (Großbritannien), der Irgun Nechei Zahal (Militärische 88 89

Qingpu xian 1950-1956 nian fuyuan junren zisha beisha diaocha tongjibiao, QA 48-2-98, Bl. 112. Guanyu 1962 nian laixin laifang gongzuo de qingkuang baogao, SA A20-1-332 (1963), Bl. 81f.

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Behinderte der Israelischen Streitkräfte) oder der Yad LaBanim (Hinterbliebene Eltern in Israel). Durch das Verbot derartiger Verbände, die ein militärisch geprägtes Gedenken an die chinesischen Kriege hätten durchsetzen können, konnte sich kein eigenständiger Kult um die gefallenen Soldaten entwickeln. Zweitens waren dafür kein politischer und ideologischer Raum und keine gesellschaftliche Perspektive vorhanden. Denn offiziell dominierte der Kult um sozialistische Märtyrer, welcher die Grenze zwischen Militär und zivilem Bereich nivellierte und vor allem die Partei und ihre Aktivisten privilegierte. Nicht die Gleichheit des militärischen Todes im Krieg stand hier im Mittelpunkt, sondern der besondere Tod aus ideologischer Überzeugung, wie ihn der Begriff des Märtyrers widerspiegelte. Insofern sind die israelischen Gedenk- und Erinnerungspraktiken, auf die ich zu Beginn hinwies, denen Chinas diametral entgegengesetzt. Die meisten der israelischen Kriege wurden als ,,notwendig“ betrachtet. In der israelischen Gesellschaft gibt es eine Reihe von Organisationen, die sich für militärische Rituale und die Ehrung der Gefallenen einsetzen. Nur wenige bestreiten die grundlegende Prämisse, dass gefallene Soldaten mehr für Israels Unabhängigkeit und Sicherheit geleistet haben als Partei- oder Gewerkschaftsfunktionäre. Keine dieser Grundbedingungen, die sich auch in vielen europäischen und amerikanischen Staaten und Gesellschaften nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg finden lassen, existierten in China.

Deutschland Manfred Hettling/Jörg Echternkamp

Heroisierung und Opferstilisierung Grundelemente des Gefallenengedenkens von 1813 bis heute Die Ursprünge des modernen Gefallenengedenkens in Deutschland liegen im frühen 19. Jh. Die Befreiungskriege gegen die napoleonische Expansionspolitik lieferten zwar den Anlass, doch die fundamentalen Veränderungen in der gesellschaftlichen Repräsentation des toten Soldaten vollzogen sich im Schnittpunkt zweier säkularer gesellschaftlicher Umbrüche, die deutlich über den Ereignishorizont von 1813 hinausreichen und die sich – vereinfachend – mit den Begriffen Nation und Revolution charakterisieren lassen. Einerseits hatte sich in den Kriegen des 18. Jh. eine Veränderung der Fremd- und Selbstwahrnehmung angebahnt. Insbesondere der Siebenjährige Krieg hatte in Preußen eine Teilhabe der Bevölkerung am Kriegsgeschehen begünstigt, die das militärische Geschehen nicht mehr nur als Anliegen des Fürsten verstand, von dem der einzelne Untertan möglichst nicht betroffen werden wollte, sondern als Geschehen, das die ,,Nation“ als solche und jedes Mitglied gleichermaßen betreffe. In seinem politischen Testament hatte Friedrich II. 1768 nochmals das alte Ideal einer vollkommenen Trennung von kriegführendem Fürsten und einer von der Kriegführung unberührten Bevölkerung beschrieben, welches es ermögliche, auch im Krieg die Grenzen so zu schützen, ,,daß der friedliche Bürger ruhig und ungestört in seiner Behausung bliebe und nicht wüßte, daß seine Nation sich schlägt, wenn er es nicht aus den Kriegsberichten erführe“. Einschränkend erklärte er jedoch, sich auf die in Preußen nach dem 1763 beendeten Krieg nur zu gegenwärtige Erfahrung beziehend, ,,wenn wir nicht mit ganz Europa zu kämpfen hätten“.1 Die Erfahrung der im Lande geführten Schlachten, der Bedrohung des Staates, der Gefährdung bürgerlichen Lebens und bürgerlichen Eigentums durch die Truppen hatte in Preußen zu Manifestationen einer bürgerlichen Teilhabe am Schicksal des Königs und des Landes geführt, die über die unmittelbare eigene Existenz hinausging.2 Was zeitgenössisch als ,,Patrio1 2

Richard Dietrich (Hg.), Politische Testamente der Hohenzollern, München 1981, S. 268. Zum Patriotismus vgl. Rudolf Vierhaus, ,,Patriotismus“. Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: Ders. (Hg.), Deutsche patriotische und gemeinnützige Gesellschaften, München 1980, S. 9–30; Reinhart Koselleck, Patriotismus. Gründe und

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tismus“, als ,,Liebe zum Vaterland“ bezeichnet wurde, fasste die Vorstellung einer Zusammengehörigkeit von König und Untertanen als Nation in Worte, die zusätzlich durch die Abgrenzung von anderen Nationen gespeist wurde. Der Zusammenhang von Ausgrenzung und Integration, von Feindschaft und politischer Identität war einer der tiefgreifenden Wirkungszusammenhänge, der an die Durchsetzung der ,,Nation“ gekoppelt war.3 Andrerseits bahnte sich eine innere Mobilisierung an, die in der Bereitschaft zur Verteidigung des Gemeinwesens einen Ausdruck fand, aber keineswegs darauf zu reduzieren ist. Der Patriotismus beanspruchte die aktive Teilhabe des einzelnen Bürgers an den Geschicken des Gemeinwesens; die Verteidigung mit der Waffe war nur ein Ausdruck dieser neuartigen Bereitschaft, Ziele jenseits des individuellen oder ständischen Eigeninteresses zu verfolgen. Diese allgemeine Mobilisierung der Bürger war untrennbar verbunden mit dem Anspruch auf Partizipation, die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen und wurde damit zur Herausforderung der alten ständisch verfassten Herrschaftsordnung. Darin lag das potentiell politisch Revolutionäre dieser Mobilisierung. Das Gefallenengedenken spiegelt diese Veränderung wider. Denn es stellt einen Kernbereich der Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Gemeinwesen dar. Die Entwicklung neuer sprachlicher Formen wie ,,Gefallener“ oder ,,Krieger“ sowie die Aufwertung des Begriffs und des gesellschaftlichen Ansehens des Soldaten um 1800 sind bereits Ausdruck dieser Transformation, ebenso wie der neuartige Anspruch des Einzelnen, als Bürger mit Waffengewalt das eigene Gemeinwesen zu verteidigen. Sich für das Gemeinwesen auch mit dem eigenen Leben einzusetzen wurde zum Anspruch an bürgerliche Mittelschichten in den deutschen Ländern und zum Ideal einer liberalen ,,Bürgertugend“, welche als ,,höchste Pflicht die der Aufopferung und des Todes für das Vaterland“ definierte.4 Im Gefallenengedenken wurden damit nicht nur Vorstellungen von Nation und Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht, sondern auch Grundüberzeugungen von politischer Teilhabe und demokratischer Egalität.

3

4

Grenzen eines neuzeitlichen Begriffs, in: Robert von Friedeburg (Hg.), ,,Patria“ und ,,Patrioten“ vor dem Patriotismus. Pflichten, Rechte, Glauben und die Rekonfigurierung europäischer Gemeinwesen im 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2005, S. 535–552. Zu den nationalen Kriegsphantasien im Gefolge des Siebenjährigen Krieges siehe: Hans-Martin Blitz, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert, Hamburg 2000. Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992, S. 11; zum frühen Nationalismus in Deutschland vgl. Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt 1998. Carl Theodor Welcker, Bürgertugend, in: Carl v. Rotteck/Carl Theodor Welcker, Das Staatslexikon. Encyklopaedie der Staatswissenschaften, Bd. 2, Altona2 1846, S. 763–770, hier S. 765.

Heroisierung und Opferstilisierung

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Deshalb legt der folgende Beitrag den Akzent auf die politische Funktion des Totenkultes und fragt nach Beziehungen zwischen dem einzelnen Bürger und dem Gemeinwesen. Wir gehen davon aus, dass im Gefallenengedenken Grundfragen politischer Kollektivität und der Bindung des Einzelnen an die politische Ordnung thematisiert werden. Kriegerdenkmäler als zentrale Ausdrucksform des Gefallenengedenkens sind, wie jede Form von Erinnerungskultur, ,,Identitätsstiftungen der Überlebenden“ (Reinhart Koselleck), die keine Aussage über die Motive und Überzeugungen derer zulassen, an die erinnert wird. Ihrem gewaltsamen Tod wird erst nachträglich Sinn zugeschrieben. Nur die Deutungen ex post sind im Gefallenengedenken empirisch greifbar. Diese Spannung ist nicht lösbar: Zwar geht es immer um den gewaltsamen Tod des anderen, doch wird der als Mitglied des eigenen Gemeinwesens in Erinnerung gerufen. Dabei werden in der Regel Kriegsgeschichten erzählt, die den Tod, die Realität des Sterbens und insbesondere des Tötens höchstens am Rande erwähnen (Michael Geyer). Das hat sich erst mit der Thematisierung des Massenmordes in den Lagern des 20. Jh. geändert, die neuartige Formen der Repräsentation hervorgerufen hat. Jede Form des Gefallenengedenkens kann daher ideologisch aufgeladen werden, weil ihr stets eine politische Funktion zukommt. Sie geht aber in dieser politischen Funktionalisierbarkeit nicht auf.5 In der preußisch-deutschen Tradition haben sich die einzelnen Grundelemente des modernen Gefallenengedenkens als einer spezifischen Traditionsbildung in den Befreiungskriegen nach 1813 herausgebildet. Seither haben sich einzelne Elemente weiterentwickelt, differenziert oder abgeschwächt, doch sind – betrachtet man die zwei letzten Jahrhunderte im Überblick – wenig neuartige hinzugekommen. Deshalb sollen erstens jene Einzelbestandteile beschrieben werden, die 1813 geprägt wurden und das Arsenal des neuzeitlichen Totenkultes in Deutschland darstellen. Dieses Arsenal lässt sich mit vier Begriffen skizzieren: Individualisierung, Ritualisierung, Monumentalisierung und politisierte Religion. Zweitens werden die wichtigsten Etappen in der Entwicklung des Gefallenengedenkens skizziert. Drittens werden aktuelle Tendenzen des neuen, 5

Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–275; Michael Geyer, Eine Kriegsgeschichte, die vom Tod spricht, in: Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt 1995, S. 136–161. Betont ideologiekritisch, sich ganz auf die auch mögliche politische Instrumentalisierung des Gefallenengedenkens konzentrierend: Wolfgang Kruse, Strukturen, Entwicklungslinien und Perspektiven der öffentlichen Erinnerung an die Toten moderner Kriege in Deutschland und Westeuropa, in: Günter Morsch (Hg.), Mittel- und langfristige Perspektiven für den Waldfriedhof Halbe, Berlin 2009, S. 103–118. Exemplarisch für die Darstellung des Todes in den Lagern nur James E. Young, Beschreiben des Holocaust (1988), Frankfurt 1992; Saul Friedländer, Probing the Limits of Representation. Nazism and the ,,final solution“, Cambridge/ Mass. 1992.

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auf die Bundeswehr bezogenen Gedenkens an tote Soldaten vorgestellt – geht es doch erstmals um Soldaten, die im Auftrag der Demokratie im Einsatz waren.

Die Entstehung des modernen Gefallenengedenkens 1813 Noch im 18. Jh. war der einfache Soldat nicht denkmalsfähig; in aller Regel wurden die gefallenen Soldaten nach einer Schlacht sogar ohne großen Aufwand in Massengräbern bestattet, oft nach Leichenfleddereien durch die überlebenden Soldaten und Zivilisten. Das Begraben hatte primär hygienische Gründe, deshalb wurden sehr oft Sieger und Verlierer gemeinsam verscharrt.6 Auch noch nach der Völkerschlacht bei Leipzig wurde der Großteil der 90.000 Leichen in Kohorten beerdigt, wobei man weder nach Nationalitäten trennte, noch die Einzelnen irgendwie identifizierte oder erinnerte, geschweige denn die Angehörigen informierte.7 Einzelgräber finden sich fast nur für adlige Offiziere, die oft vorläufig auf dem Schlachtfeld bestattet und später in die Familiengräber umgebettet wurden. Die preußische Mobilisierung zum Kampf gegen die französische Besatzung konnte gleichzeitig an die in Teilen der Bevölkerung durchaus vorhandene Bereitschaft zum kriegerischen Einsatz anknüpfen und wertete die Teilhabe des einzelnen Bürgers am Krieg auf. Der preußische Kriegseintritt gegen Napoleon basierte 1813 sowohl auf einer in der Bevölkerung verbreiteten aggressiven Stimmung gegen die französische Besatzung als auch auf einer dynastisch kalkulierenden Koalitionspolitik des Monarchen. 1813 verband sich die funktionale Notwendigkeit, Männer sehr schnell zum Kriegsdienst zu bewegen, ohne wie gewohnt Zwang anwenden und sie jahrelang drillen zu müssen, mit einer erstmals auch in bürgerlichen Kreisen vorhandenen Begeisterung zum Waffendienst als ,,Krieger“. Wie negativ das allgemeine Bild des Soldaten dabei noch war, zeigt die verbreitete Ablehnung der allgemeinen Wehrpflicht, die von den preußischen Reformern und der monarchischen Führung eingeführt wurde. Barthold Georg Niebuhr, keineswegs napoleonfreundlich gesinnt, verdammte sie noch 1808. Durch sie, urteilte der Althistoriker, seien auch die Römer ,,im Grunde immer Barbaren“ geblieben, die ,,Unterbrechung des Berufs durch Soldatendienst“ störe sowohl das Gewerbe als auch die Erziehung der Einzelnen, diesen ,,dummen Friedensdienst“ müsse man ablehnen – nur der ,,wirkliche Kriegs6 7

Als ein Beispiel vgl. Marco Arndt, Vor 250 Jahren. Die Schlacht bei Kesselsdorf am 15. Dezember 1745, in: Sächsische Heimatblätter 6 (1995), H. 1, S. 361–365. Johann Christian Reil (Arzt aus Halle, Prof. in Berlin) an Frhr. vom Stein, 26.10.1813, in: Die Befreiungskriege in Augenzeugenberichten, München 1973, S. 192–195.

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dienst [ … ] für einige Zeit“ zeuge Positives. 1813 dann war auch Niebuhr zum Kriegs- und Kriegsdienstemphatiker geworden, es trieb ihn ,,unwiderstehlich, mich an das Militär anzuschließen“. Im März des Jahres, schon vor dem Abzug der Franzosen, fing er an, ,,das Exercieren heimlich zu üben“, denn man könne nicht von der Armee und den Soldaten allein den Kampf für die Freiheit fordern, vielmehr ,,müssen wir es auch selber tun“.8 Die Begeisterung in der preußischen Bevölkerung war jedoch, entgegen der späteren borussischen Legende, nicht allgemein verbreitet. Nicht der König rief, und alle, alle kamen. Vielmehr riefen maßgebliche Teile der Bevölkerung und der Eliten, und schließlich gab der König nach und versuchte die nationale Stimmung monarchisch einzubinden. Die berühmten Aufrufe des Königs im Frühjahr 1813 appellierten an die nationale Stimmung, forderten zur Beteiligung am Krieg auf und verteidigten zugleich die monarchische Kompetenz in diesen Fragen.9 Eine geschickte propagandistische Inszenierung etablierte die Formel ,,Mit Gott für König und Vaterland“ zum zentralen Sinnspruch der Befreiungskriege und des Gefallenengedenkens. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. verstand die Verbindung von König und Vaterland jedoch keineswegs additiv und damit fortschrittlich, sondern konsekutiv und damit traditionell: Nur was dem Monarchen passend erschien, könne dem Vaterland recht sein.10 Die Entstehung des modernen Gefallenengedenkens ist Teil einer umfassenderen Wandlung der vormodernen Totenmemoria, denn auch die zivile Grabkultur und das zivile Totengedenken haben sich an der Wende zum 19. Jh. fundamental verändert. An die Stelle komplexer Vorstellungen von der Gegenwart der Toten und ihrer realen Verbundenheit mit den Lebenden trat nun die 8

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Niebuhr an Altenstein, 5.11.1808, in: Die Briefe Barthold Georg Niebuhrs, hg. von Dietrich Gerhard und William Norvin, Berlin 1926, Bd. 1, S. 496 und S. 498; Niebuhr an Dore Hensler, 22.1.1813, in: Ebd. Bd. 2, Berlin 1929, S. 363, (an Dore Hensler 21.3.1813), S. 377. Auch Schleiermacher, Fichte und andere Bildungsbürger sprachen 1813 nicht nur über den Krieg, sondern versuchten selber ,,Krieger“ zu werden; Herfried Münkler, ,,Wer sterben kann, wer will den zwingen“. Fichte als Philosoph des Krieges, in: Johannes Kunisch/Herfried Münkler (Hg.), Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geiste der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 241–259. ,,An mein Volk“, ,,An mein Kriegsheer“ und zur Bildung der Landwehr (17. März 1813); vgl. dazu Julius von Pflug-Hartung, Die Aufrufe ,,An mein Volk“ und ,,An mein Kriegsheer“, 1813, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 26 (1913), S. 265–274. Gerhard Graf, Gottesbild und Politik. Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813–1815, Göttingen 1993, S. 28; vgl. auch ders., Die Devise ,,Mit Gott für König und Vaterland!“ Eine Orientierung auch für die Disziplin Kirchengeschichte, in: Pastoraltheologie 74 (1985), S. 478–497; Karen Hagemann, ,,Mannlicher Muth und Teutsche Ehre“. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002, S. 281–289.

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Erinnerung. Vereinfacht formuliert: Tote wurden nicht mehr durch Praktiken (memoria) vergegenwärtigt, um in der Welt der Lebenden präsent zu sein, in der sie auch als Verstorbene bestimmte Funktionen übernehmen konnten. Stattdessen bewahrte man sie fortan durch (individuelle oder kollektive) Erinnerungskonstruktionen im Gedächtnis. Die mittelalterliche memoria zielte darauf, durch Riten eine Gegenwart der Toten unter den Lebenden darzustellen, während das neuzeitliche Totengedenken die Erinnerung der Lebenden an die Verstorbenen als Vergangene zum Kern hat. Vielfältige Formen der Repräsentation und der Funktionalisierung des Gedenkens erwuchsen daraus.11 Beeinflusst wurde dadurch nicht nur die zivile Grabkultur in hohem Maße. Nur weil die Toten aus der Gegenwart der Lebenden verschwanden und an sie nur noch erinnert wurde,12 konnte auch ein Gefallenengedenken im nationalen Rahmen entstehen. Die potentiell unbegrenzte Memorierungsleistung der Überlebenden symbolisiert seither auch den Anspruch auf eine Dauerhaftigkeit des politischen Gemeinwesens, dem auf diese Weise eine innerweltliche Unsterblichkeit attestiert wird. Der im Kontext der Befreiungskriege sich entwickelnde politische Totenkult war Teil dieser Traditionsbildung; vier Dimensionen bestimmen seine Gestalt bis heute. Individualisierung

Die neuen Erscheinungsformen des Gefallenengedenkens, die 1813 entstanden, sind Teil dieser Mobilisierung und Restabilisierung der traditionellen monarchischen Autorität. Der erstrebten aktiven Teilhabe des Einzelnen – seiner fraglosen Bereitschaft zum ,,Tod fürs Vaterland“, wie es seit dem 18. Jahrhundert, an antike Formeln anknüpfend,13 wieder hieß, – korrespondierte 1813 die landesweit umgesetzte individuelle Nennung des Namens jedes Einzelnen Gefallenen. Das wurde in den Jahren nach 1813 in Preußen erstmals in der Neuzeit in einem Staat umgesetzt. Während der Leichnam in der Regel noch anonym im Massengrab endete, ordnete Friedrich Wilhelm III. am 5. Mai 1813 an, in jeder Kirche auf Gemeindekosten eine Tafel mit den Namen aller Gefallener dieser Gemeinde zu errichten. Auch an die einfachen Soldaten wurde erinnert, auch ihre Leistung für 11

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Zur Veränderung der Erinnerungsformen und -funktionen im Umbruch zwischen Vormoderne und Moderne: Otto Gerhard Oexle, Memoria als Kultur, in: Ders. (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 9–78. Ders., Die Gegenwart der Toten, in: Herman Braet/Werner Verbeke (Hg.), Death in the Middle Ages, Leuven 1983, S. 19–77, bes. S. 19–26; zum zivilen Friedhofswesen siehe Barbara Happe, Ordnung und Hygiene. Friedhöfe in der Aufklärung und die Kommunalisierung des Friedhofswesens, in: Raum für Tote, hg. vom Museum für Sepulkralkultur Kassel, Braunschweig 2003, S. 83–110. Vgl. zur berühmten Horazstelle Dieter Lohmann, Dulce et decorum est pro patria mori, in: Schola Anatolica. Freundesgabe für Hermann Steinthal, Tübingen 1989, S. 336–372.

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Abbildung 1: ,,Gedächtnistafel“ für 1813, Caputh (Kirchenkreis Potsdam), errichtet nach 1815 (Foto: Burkhart Franck).

das ,,Vaterland“ wurde gewürdigt, dezentral in den Gedenktafeln der Gemeinden auf individuelle Weise,14 zentral auf staatlicher Ebene durch ein nationales Denkmal. Diese Namensnennung und Aufwertung des Einzelnen bestand 1813 in Preußen ausschließlich aus einer egalitären Nivellierung, sie war nicht mit einer politischen Partizipation verbunden. Indem an alle Gefallenen unabhängig von ihrem Stand und Rang, erinnert wurde (erst viel später erhielten alle den 14

Die Gedächtnistafeln, wie sie zeitgenössisch meist genannt wurden, sind bisher kaum untersucht worden und werden selten beachtet. Auf Initiative und Betreiben Friedrich Wilhelms III. versuchte die preußische Bürokratie, eine möglichst einheitliche Gestaltung durchzusetzen, was nicht immer gelang. Erfolgreich war die preußische Verwaltung jedoch darin, in allen Kirchen des Landes diese Tafeln durch die Gemeinden errichten zu lassen und die Namen aller Gefallenen aus diesen Gemeinden öffentlich bekannt zu machen. 1813 war die Errichtung dieser Tafeln in den Kirchen durch die staatliche Verordnung Pflicht, nach den späteren Kriegen wurde die Errichtung den Gemeinden jeweils freigestellt, langfristig verschob sich die umfassende Namensnennung dann vom kirchlichen in den weltlichen Bereich, auf die Kriegerdenkmäler. Die Variationsbreite der Tafeln allein im Stadtgebiet von Potsdam ist gut dokumentiert bei Sylvia Müller-Pfeifruck, Die Kriegergedächtnistafeln für den Befreiungskrieg 1813–15 in den Kirchen der Landeshauptstadt, in: Brandenburgische Denkmalpflege 18.2009, H. 1, S. 83–96.

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Anspruch auf ein Einzelgrab), stellte man alle in den gleichen unmittelbaren Bezug zur Nation und zum Monarchen. Die dem äußeren Anspruch nach gleiche Ehrung aller wurde damals zuerst für die Lebenden vorgenommen: Das von Karl Friedrich Schinkel entworfene ,,Eiserne Kreuz“, am 10. März 1813 für die Dauer des Krieges gestiftet, sollte den Verdienst im Kampf unabhängig von Stand und Rang würdigen. Damit waren in Preußen und Deutschland zum ersten Mal alle gesellschaftlichen Kreise gleichermaßen ordensfähig. Die Stiftung der Gedenktafeln für die Gefallenen erfolgte erst zwei Monate später, die Individualisierung und Egalisierung der Toten hinkte damit derjenigen der Lebenden hinterher.15 Zugleich wurde die politische Sprengkraft der Individualisierung dadurch gemindert, dass sich die Namenstafeln nicht im öffentlichen Raum, sondern im Inneren der Kirche befanden. Aufgewertet wurde der Einzelne hier als preußischer Christ, nicht als preußischer Bürger; die Aufwertung des Einzelnen führte 1813 noch nicht zu einer politischen Demokratisierung.

Ritualisierung

Nach 1813 entstanden säkulare Gedenkpraktiken und -formen (Gedenkfeiern und -tage, Todestage, Grabpflege), die nicht in den religiösen oder privaten Trauer- und Gedenkformen aufgingen. Was 1813 auf monarchische Anordnung hin im kirchlichen Raum als religiöse Feier vollzogen wurde, löste sich in der Folgezeit von der Bindung an die Religion. Zentrale Gedenktage gibt es heutzutage in nahezu allen Staaten, in Preußen wurde ein derartiger zentraler Erinnerungstag erstmals 1816 durch eine Kabinettsordre gestiftet, zur Würdigung und gemeinstaatlichen Erinnerung an die Gefallenen von 1813. Verordnet wurde ein allgemeiner ,,Feiertag zum Gedächtnis der Entschlafenen“. Dieser transformierte die zentrale staatliche Feier für die Gefallenen der Freiheitskriege, die am 4. Juli 1816 in ganz Preußen gefeiert worden war, bändigte aber eine politische Aufladung des Rückbezugs an die patriotische Teilhabe und politische Aktivität der Bevölkerung, indem der Gedenktag an die Kriegstoten als religiöser Feiertag ge15

Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. 1, Heidelberg 1985, S. 75f. Das Eiserne Kreuz wurde erster und zweiter Klasse gestiftet, zuerst musste die zweite Klasse erworben werden, bevor man die erste verliehen bekommen konnte. Der König verordnete zwar einerseits, dass mit dem Eisernen Kreuz ,,der Soldat mit dem General ganz gleich“ geehrt werden würde, schob dann aber eine ständische Differenzierung nach, die funktional begründet wurde, indem er erläuterte, dass die Verdienste eines Generals für den Staat unstrittig viel größer seien als die eines Soldaten, da sein Wirkungskreis viel umfangreicher sei – selbst wenn ein Soldat das Eiserne Kreuz öfter erhielte als der General; Max Zimmermann, Das Eiserne Kreuz, Berlin 1914, S. 7f.; zur späteren Geschichte vgl. Ralph Winkle, Der Dank des Vaterlandes. Eine Symbolgeschichte des Eisernen Kreuzes 1914– 1936, Essen 2007.

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staltet wurde.16 Da er bald am letzten Sonntag des Kirchenjahres stattfand und sich an die katholischen und protestantischen Totenfeiertage Allerseelen bzw. Totensonntag (der jedoch im 18. Jh. kaum noch gefeiert worden war) anlehnte, wurde die Erinnerung an die Toten der Freiheitskriege einerseits kanalisiert und andererseits durch den religiösen Rahmen domestiziert.17 Zur Ritualisierung gehören aber genauso Erinnerungsfeiern der Teilnehmer, die sich auf die gemeinsame Beteiligung an den Feldzügen bezogen. Nach 1815 entstanden in Preußen zudem zahlreiche Vereine von ehemaligen Kriegsteilnehmern, die seit 1842 gemäß einer Kabinettsordre als ,,Krieger-Begräbniß-Vereine“ geführt wurden – auch das war ein Versuch, ihre politische Bedeutung zu begrenzen.18 Die Kriegervereine erlangten eine immer größere Bedeutung für die Gestaltung des Gedenkens. Sie initiierten in den meisten Fällen den Bau eines Denkmals und stellten – bis 1933 – eines der wichtigsten Scharniere für die Verbindung von Militär und Gesellschaft dar.

Monumentalisierung

An Vorschlägen für ein zentrales, gemeinsames Denkmal mangelte es 1813 und in den Jahren danach nicht. Bereits 1813 entwarf Schinkel im Auftrag einer Korporation von Ständen einen ,,Brunnen der Begeisterung“, und 1814 – um ein weiteres Beispiel zu geben – propagierte Ernst Moritz Arndt zum Jahrestag der ,,Völkerschlacht“ die Idee eines Denkmals. Dieses sollte, das war der Tenor, kein Denkmal der Fürsten und Feldherren sein, sondern der Gefallenen und des Volkes, wohin ,,unsere Urenkel noch Wallfahrten gehen“ werden, so Arndt.19 Aus diesen Plänen, die sich auf die erst noch politisch zu einende deutsche Nation bezogen, wurde jedoch nichts. Stattdessen ließ der preußische König 1821 ein ,,Krieges-Denkmal auf dem Kreuzberge“ als ,,Anerkenntniß edler Hingabe für 16

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Erst der Volkstrauertag, 1925 auf Initiative des Volksbundes deutsche Kriegsgräberfürsorge nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt, wurde ganz als säkularer Gedenktag beschlossen; vgl. Alexandra Kaiser, Von Helden und Opfern. Eine Geschichte des Volkstrauertages, Frankfurt 2010. Paul Graff, Beiträge zur Geschichte des Totenfestes, in: Monatsschrift für Pastoraltheologie 2 (1905/06), S. 62–76. Das Kirchenjahr beginnt mit dem vierten Sonntag vor dem 25.12., der Totensonntag liegt damit auf dem fünften Sonntag vor dem ersten Weihnachtstag. Seit 1848 bezeichneten sie sich selber allgemeiner als ,,Kriegervereine“ oder ,,Veteranenvereine“, Eckhard Trox, Militärischer Konservativismus. Kriegervereine und ,,Militärpartei“ in Preußen zwischen 1815 und 1848/49, Stuttgart 1990, S. 41. Thomas Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal. Die Pläne von 1815, in: Festschrift Otto von Simson, Berlin 1977, S. 412–431, hier S. 412; vgl. auch Jürgen Döring, Das ,,Zeitalter der Monumenten-Wuth“. Zum Denkmalverständnis um 1800, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 29 (1990), S. 111–149; Klaus Lankheit, Friedrich Weinbrenner und der Denkmalskult um 1800, Basel 1979.

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Manfred Hettling/Jörg Echternkamp Abbildung 2: Kreuzbergdenkmal, Berlin 1821 (Foto: Manfred Hettling).

König und Vaterland“ errichten, das erste Beispiel dieses neuen Typs im deutschen Kontext.20 Friedrich Wilhelm III. achtete sorgsam darauf, dass es als Stiftung des Monarchen für das Volk gestaltet wurde. Die Inschrift artikulierte dieses Verständnis eindeutig: ,,Der König dem Volke, das auf seinen Ruf hochherzig Gut und Blut dem Vaterlande darbrachte; den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur Anerkennung, den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung.“ Sie stammte von August Böckh, einem Altphilologen, knüpfte aber nicht an antike Muster an. Das Kreuzbergdenkmal – eine gusseiserne, pyramidenförmig aufgebaute Säule im gotischen Stil, mit dem Eisernen Kreuz an der Spitze – war zwar dem Volk gewidmet und betonte dessen Untertänigkeit gegenüber dem Monarchen. Es unterlief aber nicht nur mit der Inschrift die Demokratisierungstendenz und orientierte sich – leicht kaschiert – noch immer an den vormodernen Ausdrucks20

Die Königliche Eisen-Giesserei zu Berlin 1804–1874, Ausstellungs-Kat. Stadtmuseum Berlin, Berlin 2004, 44f.; Michael Nungesser, Das Denkmal auf dem Kreuzberg von Karl Friedrich Schinkel, Berlin 1987.

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formen, den Fürsten- und Feldherrendenkmälern. Die im Sockel als Statuen angebrachten Genien symbolisierten die Schlachtorte, ihre Gesichtszüge aber waren Fürsten und Feldherrn nachgebildet.21 Damit blieb die beginnende Individualisierung des Gefallenengedächtnisses, die sich in den Gedächtnistafeln in den Kirchen manifestierte, in ein breites Spektrum herkömmlicher Formen wie Denkmäler für Feldherren (etwa Blücher), Schlachtfelddenkmälern (von Großbeeren bis Waterloo) und Fürstendenkmälern eingebettet. Auch das Kreuzbergdenkmal repräsentiert noch diesen traditionell-monarchischen Deutungsrahmen, ohne indes noch den Fürsten selber in den Mittelpunkt stellen zu können. Politisierte Religion

Auch im neuen staatlichen Totenkult blieb die Religion präsent. Erstens war jede Sinndeutung des Todes noch an den christlich-religiösen Deutungskontext von Auferstehung und göttlichem Gericht gebunden; zweitens wurde die ,,Nation“ mit religiösen Deutungsmustern verbunden; drittens übernahm die Kirche, vor allem im 19. Jh., eine zentrale Rolle im säkularen Gefallenengedenken. 1813 wurde in Preußen die protestantische Kirche extensiv in Anspruch genommen, sowohl für die mentale Mobilisierung der Bevölkerung zum Krieg als auch für die Memorialisierung. Eine Bedingung hierfür war einerseits die enge Verzahnung von Staat und Kirche, da der preußische König weltliches und kirchliches Oberhaupt zugleich war, andererseits eine fundamentale Intensivierung der religiösen Orientierung nach 1800, die sich in relativ kurzer Zeit vollzog. 1815 gehörte Religion nach der aufklärerischen Skepsis des 18. Jh. ,,wieder zum Grundgefühl der Zeitgenossen wie zu ihrer Reflexion auf Welt, Leben und Sinn“.22 Thematisierungen sowohl des Todes (auch des Soldatentodes) als auch der Nation waren deshalb eng an religiöse Deutungen gebunden. Der religiöse Volkskrieg, der damals von russischer Seite propagiert worden war, fand auch in Preußen einen Resonanzboden, wo sich die Geistlichen bereitwillig um die ideologische Betreuung der Bevölkerung kümmerten. Gewohnt, die Interessen des Staates wahrzunehmen, segneten die Prediger die ausziehenden Freiwilligen ein und organisierten Spendensammlungen. Zu einzelnen Anlässen wie etwa dem Beginn des Feldzugs am 28. März 1813 wurden beiden Konfessionen im ganzen Land entsprechende Predigten aufgetragen, der Bezug auf eine bestimmte Bibelstelle (Jeremias 17, 5–8) vorgegeben sowie die Verlesung des königlichen Aufrufs ,,An mein Volk“ von der Kanzel befohlen. Ein regierungsamtlicher Aufruf verpflichtete die Geistlichen darüber hinaus am 24. März, den ,,Geist“ der Bevöl21 22

Ebd., S. 55. Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal, S. 412–443; ders., Deutsche Geschichte 1800– 1866, München 1983, S. 404 (Zitat).

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kerung so zu beeinflussen, ,,daß jeder nicht sich lebe, sondern dem Vaterland,“ und daraus ein ,,besseres Geschlecht“ entstehen möge. Die Pastoren wurden zu ,,Feldpredigern“ und zu nationalen Erziehern mit dem Auftrag, die innere Läuterung jedes Einzelnen zu befördern. Von der Kanzel aus überhöhten Prediger wie Friedrich Schleiermacher den Feldzug zu einem ,,heiligen Krieg“.23

Grundformen des Gedenkens Opfer für …

In Deutschland lassen sich idealtypisch drei große Phasen des Gefallenengedenkens unterscheiden. Die erste beginnt, wie erwähnt, 1813 und dauert bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Sie ist geprägt durch zwei relativ kurze und siegreiche kriegerische Konflikte, die antinapoleonischen Feldzüge 1813–1815 und die preußisch-deutschen Einigungskriege 1864, 1866 und 1870/71. In ihnen wurde ein heroisierendes Gefallenengedenken nachhaltig geprägt, welches das individuelle Opfer für die zu errichtende Nation in den Mittelpunkt des Gedenkens stellte und bis 1914 in einer latenten Spannung zwischen monarchischem und nationalem Bezug stand. Der ,Tod fürs Vaterland‘ erschien einer großen Mehrheit der Bevölkerung im 19. Jh. als heldenhaft ,,männlich“. Dass Krieg ein Instrument staatlichen Handelns sein konnte, wurde nicht in Frage gestellt.24 Die politischen Erfolge 1815 und 1871 legitimierten in den Augen der Zeitgenossen den Gefallenentod, denn die Entscheidung zum Krieg hatte sich jeweils ex post aus der Sicht des Siegers als richtig und berechtigt erwiesen. Zudem blieben die Gefallenenzahlen in diesen Feldzügen verglichen mit den großen Kriegen im 17./18. und 20. Jh. relativ niedrig. Bei der ,,Völkerschlacht“ 1813 lag die Zahl der preußischen Verluste bei etwa 16.000, 1864 bis 1871 insgesamt bei knapp 45.000.25 Nach 1870 wurden erstmals Soldatenfriedhöfe angelegt, wobei die 23

24 25

Gneisenau und andere bürgerliche Reformer hatten das schon länger gefordert, Georg Heinrich Pertz, Das Leben des Generalfeldmarschalls Grafen Neithardt von Gneisenau, Bd. 2, Berlin 1894, S. 112–142; Friedrich Schleiermacher, Die große Veränderung, deren unser Volk sich erfreut, von Seiten unserer Würdigkeit vor Gott betrachtet. Ueber Jerem. 17,5–8 und 18,7–10, in: Ders., Predigten, Bd. 4, Berlin 1835, S. 37–50, hier S. 38; dazu Matthias Wolfes, Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Bd. 1, Berlin 2004, 349–365; vgl. allgemein Gerhard Graf, Gottesbild und Politik. Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813–1815, Göttingen 1993, S. 33–36, der Aufruf an die Geistlichkeit vom 24.3.1813 ebd. S. 124f. Zu den Männlichkeitsbildern in Bezug auf den Militärdienst vgl. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. Gerhard Graf, Die Völkerschlacht bei Leipzig in zeitgenössischen Berichten, Leipzig, 1988, S. 16; Lurz, Kriegerdenkmäler, Bd. 2, S. 125; Bd. 3, S. 30.

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Angehörigen beider kriegführenden Nationen oft noch auf demselben Friedhof bestattet wurden. Neu war die Dauerhaftigkeit des Soldatengrabs. Deutschland und Frankreich verpflichteten sich im Friedensvertrag von 1871, die Gräber der auf ihrem Gebiet ruhenden Soldaten zeitlich unbegrenzt zu erhalten. Das ,,dauernde Ruherecht“, das bis heute für Soldatenfriedhöfe gilt, wurde erstmals 1872 für Gräber in Elsass-Lothringen beschlossen und symbolisierte sowohl die gestiegene Wertschätzung des Gefallenen als auch den Anspruch der Nation auf Unsterblichkeit.26 Die ,,Kriegerdenkmäler“, die vor allem nach 1871 und in einer zweiten Welle seit den 1890er Jahren errichtet wurden, spiegeln diese Popularisierung des Krieges wider. Sie bemühen sich um eine Visualisierung der Sinnhaftigkeit des Opfers der Gefallenen, indem sie entweder den Sieg symbolisieren (etwa mit antiken Siegesgöttinnen), den Fürsten als siegreichen Feldherren und Einiger der Nation darstellen (Kaiser Wilhelm I.) oder die Symbolik des neuen Staates (etwa den Reichsadler) präsentieren und zugleich die Namen der Gefallenen aufführen.27 Die Soldaten selber werden auf den Denkmälern kaum figürlich repräsentiert, im Unterschied zu den Denkmälern nach 1918. Von der Popularisierung des Gefallenengedenkens zeugen auch die Stifter der Denkmäler: Nur eine kleine Zahl geht auf fürstliche Initiativen zurück, die große Mehrheit wurde durch das Militär (Regimentsdenkmäler) oder durch private Vereine oder die jeweiligen Gemeinden errichtet. Das 1813 entstandene Arsenal von Denkmälern, Gedenktagen, Orden und Gedenkfeiern wurde nach 1870 ausdifferenziert, jedoch nicht grundsätzlich verändert. Erwähnt seien der Sedantag am 2. September zur Erinnerung an den Sieg über Napoleon III., die erneute Verleihung des Eisernen Kreuzes, die Feierlichkeiten am örtlichen Kriegerdenkmal und die religiöse Überhöhung des Krieges gegen Frankreich zum Kreuzzug. Die Bevölkerung adaptierte all diese Gedenkformen und -praktiken und bekräftigte so die Bedeutung der als Helden geehrten

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Lurz, Kriegerdenkmäler, Bd. 2, S. 134. Noch 1864 war die Zahl der Gefallenen gering, so dass die Toten in der Regel auf den zivilen Friedhöfen beigesetzt wurden; 1866 erfolgte dann die Bestattung entweder in Massengräbern auf dem Schlachtfeld oder auf den zivilen Friedhöfen in Schlachtfeldnähe. Zu den Denkmälern der Einigungskriege vgl. die zeitgenössische Zusammenschau bei Fritz Abshoff, Deutschlands Ruhm und Stolz. Unsere hervorragendsten vaterländischen Denkmäler in Wort und Bild, Berlin o.J. (1904); sowie die – mehr auf Bismarck- und WilhelmDenkmäler konzentrierte – Arbeit von Reinhard Alings, Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal. Zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich 1871–1918, Berlin 1996; allgemein zur Rezeption der Einigungskriege in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs, jedoch ohne Berücksichtigung der Kriegerdenkmäler: Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913, München 2001; viele Hinweise auf Einzelnes, doch ohne eine überzeugende Systematisierung: Lurz, Kriegerdenkmäler, Bd. 2.

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Gefallenen.28 In Deutschland entwickelte sich im Lauf des Jahrhunderts, wie in anderen europäischen Gesellschaften auch, ein positives Bild des ,,Opfers für das Vaterland“. Damit einher gingen heroisierende Vorstellungen vom soldatischen Einsatz in einem Kriege, der – was man nicht vergessen darf – als eine selbstverständliche Option staatlichen Handelns galt. Mit diesen auf 1813 und 1864 bis 1871 bezogenen Erinnerungsbildern im Kopf zogen die Menschen dann 1914 in den nächsten Krieg – der radikal andere Kriegserlebnisse vermittelte. Opfer an sich

Mit dem Ersten Weltkrieg beginnt die zweite Phase des Gefallenengedenkens, denn in den Schützengräben des Weltkrieges rückte ein mythisiertes Kriegserlebnis des Aushaltens in den Mittelpunkt der Erinnerung – nicht nur, aber vor allem in den ,,Verlierergesellschaften“. Der Gefallenenkult, von der Frage des Sieges entkoppelt, geriet zum zentralen Bestandteil des Nationalismus; der Bezug auf den Kaiser hatte sich bereits zu Kriegsbeginn verflüchtigt. Als Wilhelm II. im November wenig heldenhaft ins niederländische Exil flüchtete und vor der Zumutung eines inszenierten heroischen Opfertodes auf dem Schlachtfeld davonlief, hatten sich Gefallenengedenken und politische Legitimationsdeutung längst vom Monarchen gelöst. Von der 1813 geprägten Trias Gott – König – Vaterland überdauerte nun allein die nationale Komponente. Der Mythos des nationalen Kriegserlebnisses wurde in einem spezifischen ,,Erlebnisraum“ greifbar, der das Gefallenengedenken bestimmte.29 Dazu gehörten zum einen die Soldatenfriedhöfe, verwiesen die Begrabenen doch auf die Aura des Kriegserlebnisses, indem ihr Sterben den Überlebenden als Bestätigung der Außeralltäglichkeit diente und den Kriegsschauplatz zum mythischen Ort werden ließ; zum anderen die Denkmäler als Zeichen, die in der Heimat auf diesen Ort verwiesen und zugleich als ritueller Ort für wiederkehrende Feiern dienten, die sich auf die Toten und das Kriegserlebnis bezogen. 28

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Die Inschriften der Denkmäler verwenden vor allem drei Bezeichnungen. Ein Gemeinschaftsbezug zwischen Überlebenden und Gefallenen wurde auf den Regimentsdenkmälern (oder bei Stiftungen von Kriegervereinen) als militärischer Zusammenhang dargestellt und die Toten als ,,Kameraden“ tituliert, in den städtischen Denkmälern wurden die Toten als ,,Söhne“ familial definiert oder als ,,Helden“ überhöht; Lurz, Kriegerdenkmäler, Bd. 2, S. 364. Zum Mythos des Kriegeserlebnisses und seinen primären Symbolen, den Soldatenfriedhöfen, Kriegerdenkmälern und Gedenkfeiern vgl. George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993, S. 13f., konzeptionell zum Begriff Erlebnisraum und der Einheit von Bezugsereignis (Historie), Denkmal (Objekt), Fest (Ritual) vgl. Manfred Hettling, Erlebnisraum und Ritual. Die Geschichte des 18. März 1848 im Jahrhundert bis 1948, in: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 417– 434.

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Zwar lässt sich diese Mythisierung des Kriegserlebnisses in allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Staaten beobachten und in zugespitzter Weise in den Verliererstaaten, doch in Deutschland wurde es auf besondere Weise ideologisch überhöht und politisch aufgeladen. Während in Italien, der Türkei und Russland die nationalen bzw. revolutionären Neugründungen unter faschistischem, jungtürkischem oder sozialistischem Vorzeichen neue politische Legitimationen anboten und deshalb weniger auf den Weltkrieg Bezug nahmen, ja ihn zum Teil ausblendeten, stellten Krieg und Kriegserlebnis in Deutschland den zentralen Deutungszusammenhang dar – für alle politischen Lager. Das Gefallenengedenken war deshalb in die politischen Konflikte und Deutungskonkurrenzen der Weimarer Republik untrennbar verwickelt. Einerseits verhinderte das ein gesamtstaatliches Denkmal, andererseits wurde das Gefallenengedenken dadurch in parteipolitische Auseinandersetzungen hineingezogen. Das führte zu milieuspezifischen Erinnerungskulturen mit einem regelrechten ,,Krieg der Denkmäler“.30 Die Überhöhung des Kriegserlebnisses wurde in den zehntausenden Kriegerdenkmälern besonders sichtbar. In den meisten Fällen erinnerte eine figürliche Darstellung des uniformierten Soldaten an die ,,Opfer“ der 1,8 Mio. Gefallenen. Diese blieben ,,Helden“, sie wurden als Krieger, d.h. in Uniform, dargestellt, nicht als Bürger,31 auch wenn sich nicht beantworten ließ, für welches politische Ziel, für welche politische Ordnung sie gefallen waren. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Hamburger Dammtordenkmal, ein Regimentsdenkmal (76. Infanterieregiment), das auch als Gegendenkmal gegen das von einem sozialdemokratisch und liberal dominierten Senat errichtete Barlachdenkmal vor dem Rathaus gedacht war. Dieses verweigerte mit einem überlebensgroßen Relief ,,Trauernde Mutter mit Kind“ und der Inschrift ,,40.000 Söhne der Stadt ließen ihr Leben für Euch“ jedes Heroisierungsangebot. Dem setzte das Dammtordenkmal die Inschrift ,,Deutschland muß leben/und wenn wir sterben müssen“ und eine dezidierte Überhöhung des Opfers entgegen.32 30

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Christian Saehrendt, Der Stellungskrieg der Denkmäler. Kriegerdenkmäler im Berlin der Zwischenkriegszeit 1919–1939, Bonn 2004; zu den gescheiterten Plänen, in Weimar ein zentrales ,,Reichsehrenmal“ zu errichten, vgl. Benjamin Ziemann, Die deutsche Nation und ihr zentraler Erinnerungsort. Das Nationaldenkmal für die Gefallenen im Weltkriege und die Idee des Unbekannten Soldaten 1914–1935, in: Helmut Berding u. a. (Hg.), Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 67–91; Henrik Hilbig, Das Reichsehrenmal bei Bad Berka. Entstehung und Entwicklung eines Denkmalprojekts der Weimarer Republik, Aachen 2006. Michael Jeismann/Rolf Westheider, Wofür stirbt der Bürger? Nationaler Totenkult und Staatsbürgertum in Deutschland und Frankreich seit der Französischen Revolution, in: Reinhart Koselleck/Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 23–50. Hugo Sieker, Das Hamburger Ehrenmal im Wandel der Zeiten, in: Hamburger Mittel- und Ostdeutsche Forschungen 7.1970, S. 9–38; Hans Walden, ,,Symbol deutschen Soldaten-

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Abbildung 3: Dammtordenkmal Hamburg, Richard Kuöhl, 1936 (Foto: Manfred Hettling).

Der Bezug zum Kaiserreich, das den Krieg begonnen hatte, war obsolet geworden; den Bezug zur Weimarer Republik, die aus der Niederlage entstanden war, lehnte die Mehrheit ab. In den offiziellen staatlichen Feiern zum Gedenken an die Toten des Weltkrieges bestimmte hingegen die Trauer den Grundton. So wurde etwa auf der Reichstagsfeier am 3. August 1924 zum Gedenken an die Gefallenen weder eine politische Sinndeutung des Kriegstodes noch eine Legitimation der eigenen politischen Ordnung (der Weimarer Demokratie) versucht, stattdessen wies man auf das gemeinsame ,,Erlebnis einer im Leid geeinten Schicksalsgemeinschaft“ hin, die aus diesem Leid, dem Tod der Gefallenen, neue Zuversicht schöpfen sollte.33 Ein politisches Ziel konnte damit nicht verbunden werden, das scheiterte auch an der politischen Fragmentierung. Ein großes Transparent, das die Front des Reichstags zur Feier im Sommer 1924 schmückte,

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tums“. Zum Kriegerdenkmal am Stephansplatz in Hamburg, in: Sammlung. Jahrbuch 2 für antifaschistische Literatur und Kunst, Frankfurt 1979, S. 97–104. Überregional bekannt geworden ist das Denkmal durch die langwierigen Diskussionen in den 1970er Jahren, ob das Denkmal abgerissen werden sollte, und vor allem durch die dann beschlossene Lösung, es stehen zu lassen und zugleich ein Gegendenkmal daneben zu errichten, das ,,Mahnmal gegen den Krieg“ von Alfred Hrdlicka, wovon jedoch nur zwei der ursprünglich geplanten vier Teile finanziert und aufgestellt werden konnten (1983, 1986). Sabine Behrenbeck, Gefallenengedenken in der Weimarer Republik und im ,,Dritten Reich“, in: Sabine R. Arnold u. a. (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 35–55, hier S. 44.

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brachte das auf den Begriff: ,,dem lebenden Geiste unserer Toten“ stand dort zu lesen. Was dieser Geist sei und was die Lebenden daraus gewinnen könnten, das blieb jedoch unbestimmt. Das grundlegende Deutungsmuster war auch weiterhin ein Appell an die Lebenden, sich des Vermächtnisses der Toten anzunehmen. Darin lag nichts anderes als eine Verpflichtung ohne inhaltliche Bestimmung, was Raum ließ für unterschiedlichste parteipolitische Interpretationen, nicht zuletzt für Radikalisierungen. Im Nationalsozialismus wurde der Rekurs auf den Mythos des Kriegserlebnisses zum Programm. Nun definierte man den Krieg und den Kriegstod (wie auch den Tod der ,,alten Kämpfer“, der nationalsozialistischen Aktivisten vor 1933) in eine Bedingung des eigenen Erfolges um. Die Trauerfeiern wurden zu Siegesfeiern verwandelt. ,,Der Führer will nicht, daß der 9. November ein Trauertag wird, er soll ein Siegstag sein“, notierte Joseph Goebbels 1936 in seinem Tagebuch über den gescheiterten Sturm auf die Feldherrnhalle 1923.34 Diese Deutungsverschiebung erfasste auch die Toten des Weltkrieges. Schon 1934 wurde der ,,Volkstrauertag“, der dem Andenken der Weltkriegstoten gewidmet war, in ,,Heldengedenktag“ umbenannt. Weil der Gedenktag ,,Volkstum und Volkskraft stärkt“, argumentierte Ende 1933 der ,,Bundesführer“ des ,,Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ Siegfried Emmo Eulen, dürfe er kein Tag der Trauer bleiben, sondern müsse ,,ein Tag der Erhebung werden, ein Tag des Aufgehens der blutigen Saat“.35 Im Nationalsozialismus wurde der gewaltsame Tod – der Tod im Krieg wie der Tod der eigenen Anhänger in den politischen Kämpfen der Weimarer Zeit – zu einem heroischen Opfer stilisiert, das den eigenen Erfolg erst ermöglicht habe. Es blieb ein Kampf- und Opfermythos, denn gefeiert wurden Kampf und Einsatz selbst, ohne dass diese an eine bestimmte politische Ordnung gebunden gewesen wären. Im Mittelpunkt dieses Mythos stand die Hingabe um ihrer selbst willen, beschworen wurde ein Opfer an sich – dadurch sollte sich das Volk, die Rasse auszeichnen und eine neue Qualität, eine neue Reinheit gewinnen. Der Einzelne wurde darin entwertet, nicht nur durch die schiere Masse der Verluste und die militärische Sinnlosigkeit des Kampfes (wie bei Stalingrad 1942/43), sondern auch durch die Aufgabe der Freiwilligkeit. Denn die Bereitschaft zum Opfer für das Vaterland wurde weder als bürgerliche noch als nationale Teilhabe am Gemeinwesen, sondern als rassische Qualität und völkische Aufgabe insze34

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Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hg. von Elke Fröhlich, Bd. 2, München 1987, S. 725 (14.11.1936); am ausführlichsten dazu Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Köln 1996. Fritz Schellack, Nationalfeiertage in Deutschland 1871 bis 1945, Frankfurt 1990, S. 299f.; Thomas P. Petersen, Die Geschichte des Volkstrauertages, Kassel2 1999; Kaiser, Von Helden und Opfern.

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niert. Angesichts der Gefahr war nicht Verantwortung für etwas gefragt, sondern ,,Haltung“.36 Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft

Nach 1945 war diese Heroisierung des Opfers obsolet geworden: Die Millionen an Toten und die Dimension der Verbrechen stellten jeglichen politischen Sinn des Sterbens in Frage. Die dritte Phase des Gefallenengedenkens zeichnet sich deshalb in Deutschland durch eine radikale Verweigerung der Sinnhaftigkeit des gewaltsamen Todes als Opfer für etwas oder als Opfer an sich aus. Gedenken wurde primär ,,sinnfordernd“, vor allem wenn es um die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen ging.37 Dieser Verzicht auf das Überhöhen des gewaltsamen Todes war in der Bundesrepublik mit langwierigen inneren Konflikten um die Gestaltung der Erinnerung an die Toten verbunden. Das Gefallenengedenken entwickelte sich parallel zu der Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen (und bald auch der sozialistischen) Verbrechen und ist deshalb nur in diesem Spannungsverhältnis zu verstehen. Zahlreiche Konflikte prägten das bundesdeutsche38 Soldatengedenken, weil es nicht von den verbrecherischen Zielen des militärischen Handelns gelöst werden konnte; das verhinderte jedes ehrende Andenken oder eine besondere Würdigung ihres Todes. Auch wenn die Veteranenverbände und vor allem Konservative über Jahrzehnte hinweg immer wieder ein zentrales Denkmal forderten, gebaut wurde es nie. Stattdessen erinnerten in aller Regel Zusatztafeln auf den Denkmälern für den Ersten Weltkrieg an die Gefallenen – mit der impliziten Übernahme der Deutungsangebote aus den 1920er und 1930er Jahren. Neue Denkmäler waren betont unpolitisch und nutzten religiöse Deutungsangebote und Symbole – das christliche Kreuz ersetzte das Eiserne Kreuz. Dann stehen die Namen der ,,Helden“ von 1914–18 (oder des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71) neben den Namen der ,,Opfer“ von 1939–1945. Denkmäler des Ersten Weltkrieges konnten um steinerne Gedenktafeln für die Opfer des Krieges von 1870/71 oder von 1939–1945 erweitert werden.39

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Zu ,,Haltung“ als erstrebtem Verhaltensmodell im Nationalsozialismus vgl. die Hinweise bei Jürgen Matthäus u. a. (Hg.), Ausbildungsziel Judenmord? ,,Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der Endlösung, Frankfurt 2003. Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, S. 274. Auf das Gefallenengedenken in der DDR wird hier nicht eingegangen, da es von offizieller Seite in der DDR nur Denkmäler für Widerstandskämpfer, für Opfer des Faschismus (vgl. die Neue Wache) und für Soldaten der sowjetischen Roten Armee gab. Vgl. die Abb. beim Denkmalprojekt Gefallenendenkmäler, http://www.denkmalprojekt. org/2009/reischach_1870-71_wk1u2_bay.htm.

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Seit den 1980er Jahren wurde jedoch kritisch diskutiert, wie die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus thematisiert und verbunden werden konnte mit dem Gedenken an die Soldaten, die für das nationalsozialistische Deutschland gekämpft hatten. Die komplexe Gemengelage von heterogenen Täter- und Opferschaften verhinderte bis zur Neugestaltung der Neuen Wache 1993 die Errichtung einer zentralen staatlichen Gedenkstätte. Stattdessen entstanden verschiedene Ersatzlösungen. Erstens wurden im Kommunalen die bestehenden Denkmäler durch bloße Namenstafeln oder den Rekurs auf eine christliche Symbolik ergänzt; zweitens wurden drei zentrale ,,Ehrenmale“ der Teilstreitkräfte Marine, Luftwaffe und Heer fortgeführt bzw. neu angelegt,40 die ohne jede direkte politische Sinnstiftung der Soldaten als bloßer militärischer Funktionsträger gedachten. Sie entnationalisierten und universalisierten den Gefallenenkult, um politischen Deutungsschwierigkeiten zu entgehen. Drittens schließlich kam es zu einem Kompromiss, der sich in der Formel ,,Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ manifestierte. In den 1960er Jahren wurden mit dieser Formulierung auch die Toten in der DDR und an der innerdeutschen Grenze gewürdigt und in ein Gedenken einbezogen, das die totalitäre Gemeinsamkeit von NS- und SED-Diktatur betonte.41 Dadurch ließen sich die Opfer des Nationalsozialismus leichter in die bundesdeutsche Gedenkkultur integrieren. Das zentrale Denkmal für die gefallenen Soldaten der Wehrmacht, das die Veteranenverbände immer wieder gefordert hatten, scheiterte jedoch an der Aufgabe, auch die Opfer des NS-Regimes zu berücksichtigen. Die Neue Wache repräsentierte in den frühen 1990er Jahren dann einen doppelten Kompromiss.42 Erhalten blieben die sterblichen Überreste des unbekannten Widerstandskämpfers und des unbekannten KZ-Insassen, die 1960 dort beigesetzt worden waren. Damit wurden spezifische Symbole des DDR-Gedenkens integriert, das sich ganz auf die (kommunistischen) Opfer des Nationalsozialismus (und die Gefallenen der Roten Armee) konzentriert und für die gefallenen Wehrmachtsoldaten keine Denkmäler errichtet hatte. Integriert 40

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Dazu und zum Folgenden ausführlicher Manfred Hettling, Militärisches Ehrenmal oder politisches Denkmal? Repräsentationen des toten Soldaten in der Bundesrepublik, in: Herfried Münkler/Jens Hacke (Hg.), Wege zur Bundesrepublik. Politische Mythen, kollektive Selbstbilder, gesellschaftliche Identitätspräsentation, Frankfurt am Main 2009, S. 131–52. Bezeichnenderweise wurde das Kriegsgräbergesetz (1952) in einer Novellierung 1965 umbenannt in ,,Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ und zugleich der Zuständigkeitsbereich um die beiden genannten Gruppen erweitert. Die Schinkelsche Wache entstand nach 1816 als Wachhaus und Gedenkort für die preußischen Gefallenen in den napoleonischen Kriegen; 1931 wurde sie von Heinrich Tessenow zum preußischen Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges umgestaltet; 1960 in der DDR als ,,Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“ umgestaltet, 1993 zur ,,Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ umgeändert.

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wurde aber auch der in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren immer stärker gewordene Bezug auf die Opfer des Nationalsozialismus. Die Inschrift der Neuen Wache nahm die berühmte Formel Richard von Weizsäckers auf, der in seiner Gedenkrede zum 8. Mai 1985 die verschiedenen Opfergruppen ausführlich und ausdrücklich benannt hatte.43 Auch wenn die Formel die 3,5 Mio. gefallenen Soldaten eher beiläufig erwähnte, akzeptierten die Veteranenverbände das Denkmal, nicht zuletzt gedrängt durch den nationalkonservativen CDUPolitiker Alfred Dregger. Seither wird am Volkstrauertag dort der gefallenen Soldaten und der Opfer der deutschen totalitären Systeme im 20. Jahrhundert gedacht. In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert der Bezug zu den nationalsozialistischen Opfern, diese stehen im Zentrum der bundesdeutschen Gedenkkultur. Die Formel ,,Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“, die sich allgemein durchgesetzt hat, schließt die gefallenen Soldaten der Weltkriege ein, was die aktive Dimension ihres Handelns ausblendet und eine politische Diskussion ausschließt. Die in der Bundesrepublik so verbreitete Identifikation mit den Opfern44 hat dazu geführt, dass die aktive Dimension des Handelns, ohne die es kein Opfer für etwas gäbe, nicht mehr artikuliert wird, ja im Rahmen der bundesdeutschen Erinnerungsmuster in Bezug auf den gewaltsamen Tod gar nicht mehr dargestellt werden kann. Das begrenzte die Möglichkeit, die tradierten Formen des Gefallenengedenkens und der Erinnerungskultur auf eine neue Situation zu übertragen – mit der Folge, dass es für die etwa 2.600 Soldaten der Bundeswehr, die seit 1955 während ihres Dienstes ums Leben gekommen sind, keine angemessenen Formen des öffentlichen Gedenkens gab.

Die Transformation des politischen Totenkults seit dem Ende des Kalten Krieges Mitte der 1990er Jahre wurden die bundesdeutschen Gedenkformen und inhalte von einer veränderten politischen Gegenwart überholt – genau in dem Moment, als sich nach langwierigen Konflikten ein Konsens gebildet hatte, den die umgestaltete Neue Wache als zentrales bundesrepublikanisches Denkmal symbolisierte.45 Nach dem Ende des Kalten Krieges vollzog sich ein sicher43

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An der Neuen Wache werden die verschiedenen Opfergruppen auf einer Tafel nach der universalisierenden Sequenz ,,Die Neue Wache ist der Ort der Erinnerung und des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ detailliert aufgezählt, ohne einen spezifischen nationalen Bezug. Vgl. als kritische Bilanz der bundesdeutschen Erinnerungskultur Ulrike Jureit/Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010. Zur Neuen Wache vgl. Christoph Stölzl (Hg.), Die Neue Wache Unter den Linden. Ein deutsches Denkmal im Wandel der Geschichte, Berlin 1993. Die Ausdifferenzierung des

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heitspolitischer Paradigmenwechsel, dem in weiten Teilen der Bevölkerung ein verändertes Verständnis von Sicherheit und Verteidigungspolitik folgte. Die NATO ging dazu über, auch außerhalb ihres Gebietes mit militärischen Mitteln Frieden zu sichern und notfalls zu erzwingen. Als die Bundeswehr im Rahmen der NATO-Missionen seit 1996 in Bosnien-Herzegowina, seit 1999 im Kosovo und seit 2002 in Afghanistan zu ,,Auslandseinsätzen“ aufbrach, rechtfertigte man das damit, ,,die Sicherheit der Bundesrepublik wird auch am Hindukush verteidigt“.46 Die Bundeswehr hat sich inzwischen von einer Armee zur Verteidigung des eigenen Territoriums zu einer weltweit operierenden ,,Armee im Einsatz“ transformiert und wird in Systemen kollektiver Sicherheit mit völkerrechtlichem Mandat zur Sicherung der internationalen Friedensordnung in anderen Ländern ,,eingesetzt“. Die anfänglich grundsätzliche Zustimmung der Öffentlichkeit zu diesen Einsätzen und die relativ hohe Wertschätzung der Bundeswehr47 gehen jedoch mit einer begrenzten Bereitschaft der bundesdeutschen Gesellschaft einher, dafür Tote in Kauf zu nehmen. Eine heroismusskeptische Gesellschaft wie die deutsche bleibt – im Jargon der Militärsoziologen – casual shy. Der ,,neue“ Kriegstod stellt die Gesellschaft jenseits der privaten Trauer vor grundsätzliche politische Probleme, für die – das ist das Besondere in Deutschland – nicht einfach an historische Deutungsformen angeknüpft werden kann. Denn diese Toten48 , vom demokratischen Souverän zum aktiven Handeln in den Einsatz geschickt, können nicht mehr umstandslos als passive ,,Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ erinnert werden. Welche neuen Formen des Gedenkens und der Legitimation des Soldatentodes zeichnen sich nun in der Gegenwart ab? Zu unterscheiden sind die unterschiedlichen Akteure und ,,Gedenk-Gemeinschaften“: erstens das staatspolitische Gedenken ,,von oben“ (in Bund, Ländern

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Gedenkens vollzog sich, wenn man so will, in beide Richtungen. Einerseits erforderten die Toten der Bundeswehr eine Repräsentation, andererseits entwickelte sich die Denkmalslandschaft für die Opfer der nationalsozialistischen Verbrecher immer weiter aus. So Verteidigungsminister Struck 2002; vgl. die bislang beste Bilanz von Hans J. Gießmann/ Armin Wagner (Hg.), Armee im Einsatz. Grundlagen, Strategien und Ergebnisse einer Beteiligung der Bundeswehr, Baden-Baden 2009. Zwischen 1997 und 2009 bewegt sich der Anteil der Bundesbürger, die eine ,,positive“, ,,eher positive“ und ,,sehr positive“ Einstellung gegenüber der Bundeswehr haben, zwischen 76 % (1997) und 86 % (2003, 2007, 2009). Im Alltag nehmen 2009 90 % der Bundesbürger die Bundeswehr positiv wahr; bei Gesprächen in der Familie 86 %. Das Vertrauen auf die Bundeswehr ist auf hohem Niveau stabil: 2006: 75 %, 2007: 85 %, 2009: 88 %; vgl. Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in Deutschland. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung Oktober/November 2009, Kurzbericht, hg. Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg 2010, S. 18f. u. S. 24, Abb. 5.1. In Afghanistan etwa sind bis Mai 2012 52 Bundeswehrsoldaten ums Leben gekommen, davon 34 durch ,,Fremdeinwirkung“.

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und Gemeinden), zweitens die binnenmilitärische Praxis und drittens ein gesellschaftliches Gedenken ,,von unten“ mit privat-öffentlichem Charakter.

Staatspolitische Gedenkformen

Am ,,Volkstrauertag“ wurde erstmals 2006 auf der zentralen Feier in Berlin von Kanzlerin Angela Merkel in einer Trauerrede nicht nur der Soldaten der beiden Weltkriege, sondern auch jener ,,jungen Männer“ gedacht, die in Auslandseinsätzen ihr Leben verloren hatten. Das ,,deutsche, europäische und transatlantische Engagement“ sei, so Merkel, ein ,,Vermächtnis der Kriegstoten“.49 Die neuen Auslandseinsätze werden auch in den lokalen Gedenkkulturen inzwischen eher selbstverständlich in die Geschichte der nationalen Kriege eingeordnet. Während die staatliche Politik und nationale Öffentlichkeit noch darüber streiten, ob die Bundeswehrsoldaten Krieg führten, sind die Toten in den Gemeinden und Garnisonsstandorten bereits in die Gemeinschaft der in den Weltkriegen Gefallenen integriert worden.50 Wie bei der symbolischen und inhaltlichen Erweiterung bestehender Denkmäler stößt diese Sinnstiftung aber an Grenzen. Die Diskrepanz zwischen dem historischen Bezug zur vergangenen deutschen Gewaltherrschaft und der politischen Distanzierung von ihr auf der einen Seite, und dem aktuellem politischen Bezug zu demokratisch legitimiertem militärischen Einsätzen auf der anderen Seite lässt sich nicht überzeugend überwinden. Im Gegensatz zu anderen Staaten kann das Gefallenengedenken in Deutschland deshalb nicht einfach an nationale Traditionen anknüpfen und diese stetig weiterentwickeln. Was deshalb hinsichtlich des zentralen Gedenktages erst vereinzelt gefordert wird, eine strikte Trennung der staatspolitischen Gedenkformen für die Toten vor 1945 und die des eigenen Gemeinwesens,51 ist im Monumentalbereich be49

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Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der zentralen Gedenkstunde zum Volkstrauertag am 19. November 2006 in Berlin: Die Bundesregierung, http:// www.bundesregierung.de/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/11/2006-11-19-rede-bkinvolkstrauertag.html (20.5.2010). Ähnlich auch im ,,Ehrenmal des Heers“ in Ehrenbreitstein, wo neben dem Denkmal zur Erinnerung an die Toten der Weltkriege 2006 ein Gedenkstein errichtet wurde mit der Inschrift ,,Den Heeressoldaten / der Bundeswehr, die für / Frieden, Recht und Freiheit / Ihr Leben ließen“; vgl. Hettling, Militärisches Ehrenmal oder politisches Denkmal? Von kirchlicher Seite wurde jüngst die Forderung nach einem eigenen Gedenk- und Ehrentag für die im Dienst ums Leben gekommenen Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr laut. Weil der Volkstrauertag an Hass, Elend und ,,ungerechte Gewalt“ bis 1945 erinnere, sei er als Termin für die ums Leben gekommenen ,,Bürger in Uniform“ ungeeignet, meinte 2009 Militärgeneralvikar Walter Wakenhut. An dem neuen Gedenktag sollte das politische Gemeinwesen seiner Soldaten historisch unbelastet und würdevoll gedenken können; vgl. Militärgeneralvikar Wakenhut zum Ehrenmal der Bundeswehr (Interview), Berlin, in: Katholische Nachrichtenagentur, 4.9.2009.

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Abbildung 4: Empfang des kanadischen Generalstabschefs vor dem ,,Bundeswehr-Ehrenmal“, Berlin 2010 (Foto: Bundeswehr/Mediendatenbank).

reits in einem ersten Exempel realisiert. Am 8. September 2009 wurde in Berlin auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums das ,,Bundeswehr-Ehrenmal“ eingeweiht.52 Das ,,Ehrenmal“ ist nicht allein den gestorbenen Soldaten, sondern allen militärischen und zivilen Angehörigen der Bundeswehr gewidmet, die in Folge der Ausübung ihrer Dienstpflichten ihr Leben verloren haben. ,,Den Toten unserer Bundeswehr – Für Frieden, Recht und Freiheit“ lautet die Widmung, die auf die Frage nach dem ,,Wofür“ des Soldatentods eine erste Antwort geben soll. Verteidigungsminister Franz Josef Jung hatte 2005 – nach einem Truppenbesuch in Afghanistan – die Errichtung eines ,,Ehrenmals“ vorgeschlagen. Das Ministerium organisierte und lenkte daraufhin den Prozess der Errichtung. Eine öffentliche Debatte und offene Ausschreibung, wie es sonst inzwischen üblich ist, fand nicht statt. Im Zuge der verhaltenen öffentlichen Diskussion wurde 52

Vgl. ausführlich dazu Manfred Hettling, Gefallenengedenken – aber wie? Das angekündigte ,,Ehrenmal“ für die Bundeswehrsoldaten sollte ihren demokratischen Auftrag darstellen, in: Vorgänge 2007, H 1, S. 15–22; ders., Militärisches Ehrenmal oder politisches Denkmal?; ders./Jörg Echternkamp (Hg.), Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Bundesrepublik, Göttingen 2009; Bilder des Denkmals und das offizielle Deutungsangebot sind einsehbar unter http://www.bmvg.de.

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Abbildung 5: ,,Bundeswehr-Ehrenmal“, Cella (Foto: Manfred Hettling).

die ursprüngliche Planung stillschweigend modifiziert. Statt eines altarähnlichen Steinblocks (der offenkundig Heinrich Tessenows Gestaltung der Neuen Wache in der Weimarer Republik zitiert hätte) soll nun eine versetzte Bodenplatte den Einschnitt des Todes symbolisieren, assoziiert jedoch als geöffnete Grabplatte auch ein christliches Auferstehungsversprechen, das indes nicht expliziert wird. Aufleuchtende und verlöschende LED-Lämpchen projizieren die Namen der Toten im kurzzeitigen Wechsel an die Wand.53 Ob und in welchem Umfang sich das ,,Bundeswehr-Ehrenmal“ zu einem Ort der Trauer für die Angehörigen oder der Gesellschaft insgesamt entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Gedenken wird hier nicht primär als staatsbürgerliches Handeln gestaltet, sondern als militärische Erinnerung. Denn die Erinnerung an die Gefallenen wird an die Armee delegiert, ein besonderer Anspruch an die Gesellschaft oder ein Anspruch der Gesellschaft auf Teilhabe kommen darin nicht zum Ausdruck. Dem entspricht eine Unsicherheit über die Inhalte des Gedenkens. Es gibt schlicht keine bundesdeutschen Gedenkpraktiken, an die sich anknüpfen ließe; alle etablierten Erinnerungsformen beziehen sich auf die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Das Gedenken an die Gefallenen vollzieht sich bisher vorwiegend im Binnenraum der militärischen oder politischen Exekutive. Beispielsweise besuchten Einheiten vor ihrem Einsatz in Afghanistan das ,,Ehrenmal“, oder legten der Kommandeur der internationalen Schutztruppe ISAF, US-General 53

Die Namen der Gefallenen – zuerst war vorgesehen, dass die Toten anonym bleiben sollten – können auf der Website des Verteidigungsministeriums aufgerufen werden; vgl. auch Bundesminister der Verteidigung (Hg.), Das Ehrenmal der Bundeswehr, Berlin 2009 (offizielle Broschüre, die am Ehrenmal verteilt wird).

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Stanley McChrystal, und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg dort 2010 gemeinsam Kränze nieder und versicherten sich der wechselseitigen Unterstützung im Afghanistan-Krieg.54 Zugleich ließen die ersten Versuche, das Trauergedenken staatspolitisch zu füllen, eine unübersehbare rituelle und semantische Unsicherheit erkennen. Die Bundesregierung hatte sich, mit Ausnahme des Verteidigungsministers, aus dem Gefallenengedenken für die Bundeswehrsoldaten zunächst jahrelang herausgehalten; bei Trauerfeiern suchte man vergebens nach hochrangigen Regierungsvertretern. Das änderte sich schlagartig im April 2010. Drei Angehörige der Luftlandebrigade 31 waren am Karfreitag 2010 in Afghanistan in den bislang schwersten Gefechten in der Geschichte der Bundeswehr ums Leben gekommen. Nach einer ersten Trauerfeier für die drei getöteten Soldaten in Afghanistan wurden die Särge mit einer Regierungsmaschine nach Deutschland überführt und ein Trauergottesdienst mit staatspolitischem Anspruch gestaltet.55 An der kirchlichen Feier in der evangelischen St.-Lamberti-Kirche in Selsingen nahmen am 9. April 2010 unter anderem der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, der Generalinspekteur der Bundeswehr, Volker Wieker, der Verteidigungsminister zu Guttenberg und die Bundeskanzlerin Merkel teil. Die niedersächsische Gemeinde stand ganz im Zeichen der Trauer: Menschen säumten die gesperrte Hauptstraße, Fahnen wehten auf Halbmast, die Ortseingangsschilder waren schwarz umflort, Taxifahrer hatten ein Trauerbändchen an den Außenspiegeln befestigt, ein Foto der drei Toten hing in den Schaufenstern der Geschäfte. Im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes sprachen der Minister und die Kanzlerin, die sich vor jedem der mit schwarz-rot-goldenen Fahnen bedeckten Särge verneigte. Die Unsicherheit im Umgang mit den Toten der Bundeswehr spiegelt sich in einem Changieren der Begriffe, mit denen über den Tod der Soldaten öffentlich gesprochen wird. Sind die deutschen Soldaten ,,gefallen“? Haben sie in einem ,,Krieg“ gekämpft? Sind es ,,Helden“? Diese Begriffe haben die Deutschen jahrzehntelang vor allem mit den Weltkriegen verbunden – und sich davon distanziert. Die Bundeswehr führe in Afghanistan keinen Krieg, weil hier nicht zwei souveräne, über ein Gewaltmonopol verfügende Staaten einen zwischenstaatlichen Konflikt austrügen, weshalb die Bundeswehr lediglich an ,,internationalen Friedens- und Hilfsmissionen“ teilnehme und ,,der Stabilisierung dienende Operationen im Einsatzgebiet“ unterstütze, lau54

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Freilich eignet sich das Ehrenmal als Ort von höchster Symbolkraft auch als Zielscheibe des ebenso symbolischen Protests. So rief der Berlin-Brandenburger Landesverband der DFG-VK im Februar 2010 dazu auf, sich beim nächsten Toten am Ehrenmal zu betrinken – womit er auch unter Kriegsgegnern auf Ablehnung stieß; vgl. kritisch: http://www.taz.de/1/ politik/deutschland/artikel/1/kein-schampus-auf-gefallene. Vgl. Tagesspiegel, 10.4.2010, S. 1, 3 und 15.

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tete zunächst die Sprachregelung. Weil Bundeswehrsoldaten es nicht mit ,,Kombattanten“ zu tun hätten, sondern mit ,,Verbrechern“ und ,,Terroristen“ (so Verteidigungsminister Jung 2009), war bis Oktober 2008 auch nicht von ,,Gefallenen“ die Rede, wenn deutsche Soldaten dabei ,,ums Leben kamen“, ,,verunfallten“ oder ,,getötet wurden“. Eine sprachliche Verschiebung zeichnete sich dann erstmals 2008/09 ab. Nachdem zwei Bundeswehrsoldaten bei einem Anschlag in Kundus am 20. Oktober 2008 getötet worden waren, hieß es von einem toten Soldaten offiziell, dass er ,,im Einsatz für den Frieden gefallen“ sei. Brigadegeneral Jürgen Setzer, Kommandeur vor Ort, gedachte am Volkstrauertag 2009 in Mazar-e Sharif der Soldaten, die ,,für ein besseres Afghanistan und die Sicherheit unseres Landes gefallen sind“.56 Formeln wie ,,Stabilisierungseinsatz“ waren überholt, als der neue Verteidigungsminister zu Guttenberg Ostern 2010 zunächst im Bundestag von ,,kriegsähnlichen Zuständen“ in Afghanistan, dann explizit von ,,Krieg“ sprach – wenn auch mit der Einschränkung, dass dies ,,umgangssprachlich“ sei. Die Bundeskanzlerin traf kurz darauf eine weitere Unterscheidung. Sie ,,verstehe“, dass viele Soldaten lieber von einem ,,Krieg“ als von einem ,,bewaffneten Konflikt“ sprächen, stellte jedoch klar, dass von einem Krieg im völkerrechtlichen Sinne keine Rede sein könne. Die Presse hatte für derlei feine Unterschiede keinen Platz und griff die plakative Sprache sofort auf.57 In einer Gedenkrede für deutsche und verbündete afghanische Soldaten formulierte zu Guttenberg, sein Mitgefühl gelte den Familien dieser ,,gefallenen beziehungsweise ums Leben gekommenen afghanischen Soldaten“. Damit wurde die Sinnhaftigkeit des Soldatentodes implizit wieder artikulierbar. ,,Die versehentlich Getöteten ,kommen ums Leben‘, die anderen ,fallen‘. Die ,Gefallenen‘ sterben einen sinnvollen Tod, die ,ums Leben Gekommenen‘ einen sinnlosen. Erstere fallen, Letztere haben einen Unfall.“58 Aktuell scheint auch die Bereitschaft zu wachsen, das klassische Vokabular des Heldentums zu reaktivieren. Verteidigungsminister zu Guttenberg benutzte in seiner Trauerrede im April 2010 dazu einen rhetorischen Umweg: Die Frage einer seiner beiden kleinen Töchter, ob die getöteten Soldaten ,,drei tapfere Helden“ seien, habe er mit ,,Ja“ beantwortet. Für die Angehörigen der Gefallenen haben diese begrifflichen Fragen, was oft übersehen wird, handfeste Folgen. Lebensversicherungen zum Beispiel schließen mit der sogenannten Kriegsklausel Zahlungen bei bestimmten Bedingungen aus.59 Auch in den Details 56

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Ebenso hieß es, die traditionelle bundesdeutsche Formel aufgreifend, ,,wir gedenken unserer gefallenen Kameraden. Wir gedenken aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Gott segne sie“; http:\\www.deutschesheer.de. Vgl. Kanzlerin verneigt sich vor unseren Gefallenen, in: Bild, 10.4.2010. Claude Haas, Krieg ist plötzlich ein tröstendes Wort, in: DIE ZEIT, 24.4.2010. Bis 2009 musste in über zwanzig Fällen der Bund die Versicherung übernehmen, vgl.

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versorgungsrechtlicher Ansprüche und Regelungen steht in der Bundesrepublik ein Lernprozess mit der Gestaltung der Folgen des gewaltsamen Todes noch aus. In der öffentlichen Debatte geht es jedoch um Sinn-, nicht um Versicherungsfragen. Das Tasten der politischen Akteure nach dem adäquaten begrifflichen Ausdruck spiegelt eine eklatante und unübersehbare Kluft zwischen der gewalterfüllten Realität in Afghanistan und der normativ aufgeladenen Distanzierung von Krieg in der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Die politischen Repräsentanten haben bisher versucht, den gewaltsamen Tod der Soldaten positiv zu interpretieren, ihn als sinnvoll zu deuten, ohne aber einer Rechtfertigung des Krieges verdächtigt werden zu können. Wie schmal der Grat ist, zeigte der Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler im Mai 2010, der für seine offene Bemerkung, die Auslandseinsätze lägen auch im wirtschaftlichen Interesse Deutschlands, ungewöhnlich heftig kritisiert worden war. Binnenmilitärisches Totengedenken

An den Gedenkorten der Teilstreitkräfte in Laboe, Fürstenfeldbruck und Koblenz-Ehrenbreitstein traten die Toten der Bundeswehr gegenüber den Millionen Gefallenen der Weltkriege in den Hintergrund. Da neben gefallenen Wehrmachtssoldaten kein positiver Sinnbezug möglich war, entstanden in den letzten Jahren andere Formen, an die ums Leben gekommenen ,,eigenen“ Kameraden zu erinnern (durchaus mit partiellem Rückgriff auf traditionale Elemente wie das Eiserne Kreuz, das in der Bundeswehr von Anfang an als Symbol verbreitet war). Die Initiative hierfür ging eher von unten, von den Soldaten bzw. den Einheiten, aus. Diese neue Gedenkkultur der Bundeswehr ist im Inland und an den Standorten im Einsatzgebiet durch die gleiche Formensprache bestimmt.60 Nationale Verweise fehlen in diesem binnenmilitärischen Gedenken weitgehend, für politische Sinnbezüge steht die Formel ,,Für Frieden, Recht und Freiheit“, im Mittelpunkt stehen die Nennung des Namens und religiöse Trauerbezüge. Ein traditionelles Mittel des stetigen öffentlichen Erinnerns ist die Namenspatronage. Erstmals wurde 1992 eine Liegenschaft der Bundeswehr nach einem verstorbenen Vorbild benannt, als sich die Unteroffiziersschule des Heeres in Delitzsch (Sachsen) den Namen ,,Feldwebel-Boldt-Kaserne“ gab. Erich Boldt war 1961 ums Leben gekommen, weil er zwei Soldaten während der Ausbildung

60

Wegen Kriegsklausel. Versicherung verweigert Zahlung für tote Soldaten, in: Die Welt, 10.7.2009. Vgl. Loretana de Libero, Einsatzarmee und Erinnerung. Gedenkkulturen in der Bundeswehr, in: Bernhard Chiari/Magnus Pahl (Hg.), Auslandseinsätze der Bundeswehr, Paderborn 2010, S. 279–287.

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vor einer Sprengladung geschützt hatte.61 An der Offiziersschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck wurde bereits 1977 das Auditorium Maximum nach dem Oberleutnant Ludger Hölker benannt, der durch die Verhinderung einer Flugkatastrophe in Straßberg sein Leben verloren hatte. Auch Straßennamen dienen dem Gefallenengedenken: Im Feldlager in Prizren (Kosovo) wurde eine ,,Straße“ nach dem ersten Soldaten benannt, der im KFOR-Einsatz zu Tode kam. Der Fall des Oberstabsarztes Sven Eckelmann, der am 30. Mai 1999 in einem ,,Fuchs“Panzer von einer maroden Brücke in Albanien gestürzt war, machte nicht zuletzt deshalb Schlagzeilen, weil die Hardthöhe der Witwe die Einmalzahlung von 38.000 DM verweigerte – schließlich, so das Argument, hätte diese Art von Unfall auch in Deutschland passieren können.62 Nach wie vor aber markiert der Gedenkstein, meist ein roher Findling oder ein Obelisk, an dem häufig eine Tafel mit den Namen der Toten angebracht ist, den privilegierten Ort des Gedenkens im öffentlichen Raum. In den Gemeinden entstehen vereinzelt neue Denkmäler: Im ostfriesischen Leer, dem Standort des Kommandos ,,Schnelle Einsatzkräfte Sanitätsdienst“, wurde 2009 neben dem Ehrenmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten, einem BacksteinRondell, ein kleiner Gedenkstein errichtet. Er erinnert an die Angehörigen der Bundeswehr, die in Auslandseinsätzen ihr Leben verloren haben:63 ,,Den Toten zur Ehre, den Lebenden zum Trost“ lautet der erste Teil der Inschrift oberhalb eines Eisernen Kreuzes; darunter heißt es: ,,Den Toten unserer Bundeswehr. Für Frieden, Recht und Freiheit“. Diese lokalen Denkmäler repräsentieren eine Verbindung zwischen Gemeinde und Soldaten: Die Kommune zeigt ihre Verbundenheit mit den am Ort stationierten Einheiten und mit den Soldaten im Auslandseinsatz. Daneben werden insbesondere von den militärischen Einheiten selber Gedenksteine aufgestellt. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen. In der WerratalKaserne erinnert ein Gedenkstein an die verstorbenen und gefallenen Soldaten des Standorts Bad Salzungen, wo seit 1990 29 Soldatinnen und Soldaten namentlich geehrt wurden. Unter einem Eisernen Kreuz lautet die goldfarbene Inschrift ,,Zum Gedenken an unsere Kameraden“; vor dem Findling ist Platz für Kränze und ein Ewiges Licht, das an die Gegenwart Gottes erinnert. In der BlücherKaserne in Berlin-Kladow erinnert seit dem 12. Oktober 2007 ein Gedenkstein 61

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Bereits 1982 war zu Ehren des Feldwebels der ,,Feldwebel-Boldt-Preis“ gestiftet worden, den der Bund Deutscher Pioniere e.V. dem jeweiligen Jahrgangsbesten der Feldwebellehrgänge an der Pionierschule/FSH BauT verleiht. Das Berliner Verwaltungsgericht bestätigte diese Auffassung 2002. Der Bundestag verabschiedete 2004 das ,,Einsatzversorgungsgesetz“, demzufolge es keine Rolle mehr spielt, ob ein Soldat Opfer eines Anschlags oder eines Unfalls wurde. Die Witwe eines getöteten Berufssoldaten erhält nun eine einmalige Entschädigung von 60.000 Euro und sechzig Prozent seines Ruhestandsgehalts. http://www.sanitaetsdienst-bundeswehr.de (27.2.2010).

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an Alexander Arndt, den ersten bei einem Auslandseinsatz getöteten Bundeswehrsoldaten. Der damals 26jährige Sanitätsfeldwebel gehörte zum deutschen Anteil der UNTAC-Mission in Kambodscha und war im deutschen Feldhospital als Krankenpfleger eingesetzt. Am 14. Oktober 1993 war er in Phnom Penh erschossen worden. Auf dem von zwei Lebensbäumen eingerahmten Findling, gestiftet von seinem Regiment, sind ein Eisernes Kreuz und eine Gedenktafel angebracht.64 In Frankenberg (Hessen) haben die Soldaten des Bataillon Elektronische Kampfführung 932 der Burgwald-Kaserne den vier Soldaten, die am 7. Juni 2003 in Kabul einem Sprengstoffanschlag zum Opfer fielen, einen Ehrenstein aus Basalt gesetzt; eine Tafel nennt die Namen. Auch in den Einsatzgebieten wurde auf diese Formensprache zurückgegriffen. In Sarajewo erinnern im Garten der deutschen Botschaft seit August 2007 ein Felsbrocken und eine Gedenktafel an die 16 deutschen Soldaten, die während des Einsatzes in Bosnien-Herzegowina ums Leben gekommen sind. Der tonnenschwere Gedenkstein stand zunächst im Feldlager Rajlovac, dem Sitz des deutschen Einsatzkontingentes von EUFOR.65 Eine vergleichsweise komplexe Gedenklandschaft ist in den letzten Jahren in Afghanistan entstanden. In Camp Warehouse steht das Internationale Ehrenmal. Die von Lorbeerzweigen eingerahmte Inschrift lautet: ,,DEN TOTEN ZU EHREN“. Die Namen der Toten und ihre Nationalität wurden auf Gedenktafeln an einer Ziegelmauer hinter dem Marmorblock festgehalten. Das Gedenken ist weder auf Deutsche noch auf Soldaten beschränkt. Als 2007 vier Polizisten der Deutschen Botschaft bei einem Attentat ums Leben kamen, wurde hier am 15. August die Gedenkandacht gehalten.66 Die Inschrift der Gedenktafel lautet: ,,In Remembrance of [ … ] who gave their lives in the service of the Federal Republic of Germany“. Ein ,,Ehrenhain“ wurde im Camp Marmal in Mazar-e Sharif angelegt. Hier wurde 2009 der sechs Bundeswehrsoldaten gedacht, die in Afghanistan ums Leben gekommen waren.67 Das zentrale Ereignis des religiösen Totenrituals ist nach wie vor der Gedenkgottesdienst für die gefallenen Soldaten am Standort der Gefallenen. Durch eine Mischung traditioneller und neuer Formen sollen nicht zuletzt jüngere Soldaten angesprochen und auch kirchenfremde Personen erreicht werden. So fand im April 2010 in der Evangelisch-Lutherischen Bartholomäuskirche 64 65 66 67

Ebd. http://www.einsatz.bundeswehr.de (27.2.2010). http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de (15.5.2010). Auf dem Internationalen Flughafen von Kabul steht seit dem 3. September 2003 ein ,,Berliner Bär“ auf einem rötlich-sandsteinernem Sockel. Indem der deutsche Botschafter Rainer Eberle daran erinnerte, dass der Berliner Bär für Frieden und Freiheit stehe, schlug er eine symbolpolitische Brücke aus der deutschen in die afghanische Hauptstadt. Frieden und Freiheit: Das wünschte man auch dem Land am Hindukush. Vgl. http://www.berlin.de/ rbmskzl/rathausaktuell/archiv/2003/09/03/14806/index.html.

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in Boostedt ein Gedenkgottesdienst statt, in dem Soldatinnen und Soldaten aufgefordert wurden, ihre Gefühle auf sogenannte Gedenkzettel zu schreiben und diese an einem Holzkreuz zu befestigen. Nicht im Evangelischen Kirchengesangbuch, sondern in der Popmusik sollten die Soldaten unter dem Leitsatz ,,Kein Leid kann so tief sein“ mit ihren Kameraden eine Melodie finden, die ihren Ängsten Ausdruck gab.68 Zum Ende des Gottesdienstes gedachten die Anwesenden der gefallenen Soldaten mit einer Schweigeminute – einem rituellen Ausdrucksmittel gemeinsamer Trauer, das nicht religiös konnotiert ist und auch jenen die Möglichkeit zur öffentlichen Bekundung ihrer Trauer gibt, die mit den Gefallenen nicht persönlich bekannt waren.69 Das spezifisch religiöse Trostangebot, ganz gleich ob von protestantischer oder katholischer Seite, zielt auf die Transzendenz des menschlichen Todes, nicht auf politische Deutungen. So versuchten etwa während eines ökumenischen Trauergottesdienstes Militärgeneralvikar Walter Wakenhut und der Militärgeneraldekan Matthias Heimer angesichts der vier Särge ,,die unausweichliche Frage nach dem Sinn des Todes im Einsatz zu beantworten“, indem sie den Tod als Übergang zum ewigen Leben deuteten: ,,Wir stehen heute vor diesen tragisch zu Ende gegangenen Leben und legen sie zurück in Gottes Hände“. Wenn die Geistlichen dann jedoch auch einen irdischen Zweck benannten und den Tod als ein Opfer dafür deuteten, dass andere in Frieden und Freiheit leben könnten, verbanden sie politische Ziele mit religiösen Deutungen. Dem Gläubigen, den diese irdischen Antworten auf die Sinnfrage nicht überzeugen, blieb und bleibt als letzter Trost das ,,Vertrauen“ auf Gott.70

Private Erinnerungsformen

Kerzen, Kreuze, Kondolenzbücher – die bekannten Elemente des Totenkultes finden sich ab etwa 2005 in der neuen virtuellen, interaktiven und kollaborativen Welt des Web 2.0. Institutionen wie Schulen, Universitäten und das Vereinswesen (Kriegervereine, Feuerwehr, Schützenvereine), die bis in die Zwischenkriegszeit zu den wichtigsten sozialen Trägern des Gefallenengeden68 69

70

In Anlehnung an das Lied von Xavier Nadoo, ,,Halte Durch“; vgl. den Bericht unter: http:// www.militaerseelsorge.bundeswehr.de. Schweigeminuten haben sich in vielen Ländern als Ausdrucksformen eines Gefallenengedenkens entwickelt, welches nationsweit zelebriert werden; vgl. etwa die Beiträge von Stefan Goebel und Maoz Azaryahu in diesem Band. In Deutschland kam es nach 1918, auf Grund der politischen Zersplitterung zu keinen analogen Ritualen, welche die gesamte Nation integrierten. Der Gottesdienst fand am 24. April 2010 im Ingolstädter Liebfrauenmünster statt. Vgl. den Bericht unter: http://www.militaerseelsorge.bundeswehr.de.

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kens zählten, treten heutzutage kaum in Erscheinung; die Erinnerung beschränkt sich gegenwärtig auf das militärische Milieu einerseits, den Verwandten- und Freundeskreis andererseits. Eine im eigentlichen Sinne gesellschaftliche und breite öffentliche Gedenkkultur existiert in der Bundesrepublik bisher nicht. Doch die Online-Plattformen der Trauer und die digitalen Möglichkeiten der Mitwirkung haben das Netz der Trauernden nach außen weiter gezogen und nach innen dichter geknüpft. Dabei sticht ein Merkmal des Gefallenengedenkens deutlich hervor. Die zuerst in der Französischen Revolution erhobene Forderung, jedes Gefallenen namentlich zu gedenken, wird hier unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft aktualisiert. Dieses Bedürfnis hat sich in Deutschland gegen eine restriktive staatliche Informationspolitik durchgesetzt, die die Namen der Gefallenen aus Datenschutzgründen, wie es hieß, zuerst nicht veröffentlichen wollte. Der nationalstaatliche Regulierungsversuch scheiterte aber an der globalen Dimension des Internet: Wer sich in Deutschland über die Namen und Gesichter der gefallenen Bundeswehrsoldaten informieren wollte, konnte das über amerikanische Websites machen. Auch im ,,Bundeswehr-Ehrenmal“ sollte zunächst die Namensnennung unterbleiben, sollten die Erinnerten anonym bleiben und die Erinnerung damit nicht personenorientiert geschehen. Dagegen hat sich in den vergangenen Jahren zunächst in den Online-, bald auch in den Print-Medien die Tendenz durchgesetzt, die Toten zu ,,veröffentlichen“, den Gefallenen ein Gesicht und einen Namen zu geben, wie das außerhalb Deutschlands bereits üblich war. Die New York Times informiert etwa auf ihrer Seite ,,Faces of the Dead“ mit den entsprechenden Suchfunktionen über jeden im Irak und in Afghanistan gefallenen Armeeangehörigen mit Bild, Alter, Heimatstadt und Kriegsschauplatz.71 Nach diesem Muster zeigt inzwischen auch Spiegel online72 ein Foto aus Lebzeiten und informiert über Todesursache und Trauerfeier. Spezielle Internet-Plattformen fungieren als eine Art virtuelle Neufassung von Kriegerdenkmälern.73 Zugleich dienen diese Plattformen als Multiplikatoren für die tradierten Gedenkformen, indem sie beispielsweise die am Denkmal im Einsatzgebiet angebrachten Gedenktafeln reproduzieren. Diese Formen des virtuellen Gedenkens sollen auch als Korrektiv für den – von den Betreibern ausdrücklich beklagten – Mangel an Aufmerksamkeit und Wertschätzung in der Öffentlichkeit wirken. 71 72 73

http://www.nytimes.com (15.5.2010). http://www.spiegel.de/flash/0,5532,19180,00.html Bundeswehr in Afghanistan, Gefallene Soldaten/Orte der Anschläge/Einsatzorte der Bundeswehr. Die Website www.das-kriegerdenkmal.de/bundeswehr.html etwa gehört zu einer privat betriebenen ,,Internetpräsenz“ im Aufbau, die der ,,Gefallenen aller Kriege und aller Länder gedenken“ will; andere sind www.soldatengedenken.de oder http://kameradengedenken.de.

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Neben diesen umfangreichen virtuellen Inventaren gibt es zahllose Varianten von Fotogalerien oder Gedenkvideos, die einem oder einer kleinen Gruppe von gefallenen Bundeswehrsoldaten gewidmet sind. Angehörige und ehemalige Kameraden nutzen die kostenlosen Möglichkeiten der Internet-Videoportale YouTube oder MyVideo, um zu Lebzeiten aufgenommene Videoclips hochzuladen oder durch die Montage von Porträtfotos, Bildern der Sterbeorte und symbolischen Versatzstücken wie der schwarz-rot-goldenen Fahne einen GedenkVideoclip zu kreieren, der in der Regel mit Untertiteln, Kommentaren aus dem Off oder Musik unterlegt wird.74 Einige Plattformen und Clips beziehen sich auf die Gefallenen einer spezifischen Mission,75 andere auf eine der Teilstreitkräfte der Bundeswehr,76 wieder andere bleiben unspezifisch.77 Diese virtuellen Formen des politischen Totengedenkens setzen ein zentrales Element des neuzeitlichen Gefallenengedenkens auf eine neue Weise fort. Das auf das einzelne Individuum konzentrierte Gedenken spiegelte den Fundamentalprozess der Demokratisierung und Gleichheit wider.78 Die Datenbanken, Fotogalerien und persönlichen Videos des Web 2.0 verlängern daher das ältere Bemühen, den toten Soldaten durch eine Namensnennung und eine Bestattung im Einzelgrab der Anonymität zu entreißen, in das digitale Zeitalter. Auch musikalisch verbindet sich Altbekanntes mit Neuem, Nationales mit Internationalem. Während zum Beispiel der Clip ,,Gedenken an die gefallenen Soldaten in Afghanistan V. 01“ mit Uhlands fast 200 Jahre altem Lied ,,Der gute Kamerad“ unterlegt ist,79 erklingt im Video-Stream ,,ISAF Tribute (Bundeswehr)“ die 2003 erschienen Ballade ,,My Immortal“ der US-amerikanischen Band Evanescence.80 Mittlerweile ist die Todesgefahr der Bundeswehrsoldaten gar zum Sujet eines deutschen Schlagers geworden, der sich an dieser Stelle ebenfalls findet. Das Cover des Liedes der rheinischen Schlagersängerin Yvonne König ,,Gott schütze Euch!“ zeigt die intakte Erkennungsmarke als Symbol des individuellen lebenden Soldaten und nimmt damit ein Motiv des Berliner 74

75 76 77 78

79 80

Vgl. http://www.jan-erik-schaefsmeier.beepworld.de/unvergessen.htm; zum Gedenken an den in Kunduz 2008 gefallenen Mischa Meier: http://www.youtube.com/watch?v= GtJDAWgWZgo&feature=related. Vgl. für ISAF den Clip ,,The forgotten Comrades (German/American ISAF Tribute)“: http://www.youtube.com/watch?v=_sVQMMB84p4. Vgl. zur Marine: http://www.marineforum.de/forum/zum_gedenken_gefallener_ kameraden_der_bundeswehr-t11028.html. Vgl. http://www.myvideo.de/watch/2457810/Im_gedenken_an_alle_gefallenen_ Bundeswehr_Soldaten. Reinhart Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München2 1995, S. 335. http://www.youtube.com/watch?v=PEE_qrhvyRI (25.10.2010); zu Uhlands Lied vgl. Kurt Oesterle, Die heimliche deutsche Hymne, in: taz Magazin Nr. 6597, 10.11.2001, S. 4. http://www.youtube.com/watch?v=3BHNmMlt100 (25.10.2010).

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,,Ehrenmals“ von 2009 auf, bei welchem Metallpanelen mit ausgestanzten Formen ganze und halbierte Erkennungsmarken erahnen lassen.81 Im Hinblick auf den politischen Charakter des Gefallenengedenkens fällt ein medienspezifisches Novum besonders auf. Das Web 2.0 als interaktives Medium bietet nicht nur jedem die Chance, selbst visuelle Gedenkbotschaften zu verbreiten. Jeder hat auch die Möglichkeit, diese Botschaft zum Anlass zu nehmen, seine eigene Meinung zu äußern. Statt auf Konsens zielender, extrem verknappter Inschriften finden sich hier vielfältige, teils auch widersprüchliche und weitschweifige Erläuterungen. Der Clip ,,ISAF Tribute (Bundeswehr)“ zum Beispiel wurde zwischen Mai 2007 und 2010 mehr als 110.000 Mal aufgerufen und mit Hunderten von Kommentaren versehen.82 Vor allem die in der Forschung bislang wenig beachteten Militär-Blogs haben Gedenk-Rubriken eingerichtet, in denen sich die Einträge individueller Nutzer aneinanderreihen. Der ,,Streitkräfte-Blog mit dem robusten Mandat“ ist ein Beispiel hierfür.83 Die Funktion solcher Militärblogs, als Ventil für die Truppe zu dienen, ist im Falle der öffentlichen Trauerarbeit besonders einsichtig.84 Auch ein längst vorhandenes soziales Netzwerk wie Facebook verknüpft die am ,,Soldatengedenken“ Interessierten zu einer virtuellen Gemeinschaft und bietet Veranstaltungstipps, etwa zu Ort und Zeit des nächsten Schweigemarsches. Soziale Netzwerke und Internet-Foren vermitteln lokalen und regionalen Initiativen der Trauerbekundung eine überregionale Resonanz. ,,Von unten“ organisierte Schweige- und Trauermärsche wie etwa in Würzburg am 2. Mai 201085 sind ebenso neue Formen der sozialen Praxis des politischen Totenkults wie die private Initiative, mit einem ,,Gelben Band der Solidarität“ am Revers sein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen.86 Das Totengedenken auf privat organisierten Plattformen im Internet öffnet auch Raum für ungehinderte politische Deutungen. Da kaum zu bestimmen ist, 81

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85 86

Textauszug: ,,Euer Auftrag lautet ,Frieden‘ / Ihr wollt helfen, seid bereit / Wir hoffen nur, es geht Euch gut / Und es gibt ein Wiedersehen / Gott schütze Euch, Gott schütze Euch / […] / Gott schütze Euch, Gott schütze Euch, / Bis wir uns wiedersehen“ (Carlton Musikvertrieb GmbH). http://www.youtube.com/watch?v=3BHNmMlt100 (25.10.2010). http://soldatenglueck.de/category/bundeswehr/gedenken. Vgl. zu den französischen und amerikanischen Militär-Blogs die Analyse von Marine Chatrenet, Les Blogs Militaires, August 2007 (= Les thématiques du Centre d’études en sciences sociales de la défense No. 9). Die Militärsoziologin nennt u. a. folgende Funktionen: Unterhalten von Soldaten, ihren Angehörigen oder militärnahen Zivilisten zeichnen Militärblogs mehrheitlich ein positives Bild der Armee (Stolz, Leistung), tragen zu einer Verbreitung der militärischen Kultur im zivilen Bereich bei, dienen als Barometer der Moral der Truppe, stützen diese als Ventil für Unzufriedenheit und als Möglichkeit, mit den Angehörigen in Kontakt zu bleiben. Militärblogs modernisieren die bislang hierarchische Kommunikation innerhalb des Militärs von oben nach unten durch ihren bottom up Ansatz. http://www.facebook.com/video/video.php?v=1168325508618. Zur Verwendung des weltweiten Symbols in diesem Kontext vgl. www.gelbe-schleife.de.

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wer genau sich hier artikuliert und wo diese Meinungsäußerungen im Spektrum der allgemeinen Öffentlichkeit liegen, sind die politischen Äußerungen im neuen Medium schwer zu interpretieren. Eine populare Trauerkultur, die auf der lokalen Gemeinschaft der Standorte basiert und neue Ausdrucksformen entwickelt hat – wie in den USA87 – gibt es in der Bundesrepublik bisher nicht.

Fazit Eine Bilanz der Grundelemente und Formwandlungen des politischen Totenkultes in Deutschland fällt unterschiedlich aus, je nachdem, welche zeitliche Perspektive gewählt wird. Überblickt man im langen Bogen die Entwicklung von den Anfängen im frühen 19. Jh. bis heute, wird eine Kontinuität in zentralen Bestandteilen sichtbar. Betrachtet man jedoch nur den Zeitraum von 1945 bis heute, treten eher Veränderungen hervor. Wenige Grundkonstellationen und Deutungsformen, bedingt auch religiös-kulturelle Setzungen, stellen den Rahmen dar für die Gestaltung des politischen Totenkultes. In den verschiedenen politischen Ordnungen wurden unterschiedliche Akzente gesetzt, die politische Gestaltbarkeit des Totenkultes erscheint jedoch nicht als beliebig. Betrachtet man nur die Entwicklung seit 1945, treten zwei gegensätzliche Tendenzen hervor. Auf der einen Seite fällt in der ,,alten“ Bundesrepublik die Abwendung von der Legitimation des Krieges seit Kriegsende auf, die in Deutschland durch die normative Distanzierung von Nationalsozialismus und die Erinnerungskultur gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus gestützt und intensiviert wurde und zu einer moralisch aufgeladenen Ablehnung kriegerischer Interventionen an sich führte. Das wurde zusätzlich befördert durch das Fehlen jeglicher kriegerischer Erfahrungen, die viele europäische Nachbarn seit 1945 – im Unterschied zu Deutschland – in den Konflikten der Dekolonisierung oder im Rahmen internationaler Interventionen gemacht haben. Seit sich die Bundesrepublik jedoch, 1992 beginnend, an derartigen Interventionen beteiligt und diese wiederum moralisch legitimiert, ist die deutsche Gesellschaft zunehmend gezwungen, sich wieder an ,,Krieg“ zu gewöhnen und sich über politische Deutungsmuster dafür zu verständigen. Auf der anderen Seite kann man die Entwicklung seit den Befreiungskriegen wie folgt bilanzieren. Die Individualisierung (durch die namentliche Erinnerung und individuelle Bestattung des einzelnen Gefallenen), die Ritualisierung (in Form öffentlicher Praktiken der Gedächtnisbewahrung) und die Monumentalisierung (vor allem durch Denkmäler als Ausdrucksform der öffentlichen Erinnerung) haben sich als Kernelemente des neuzeitlichen Totenkults über alle 87

Vgl. dazu den Beitrag von Michael Geyer in diesem Band.

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Epochen- und Systemwechsel hinweg erhalten und das Gefallenengedenken in Deutschland geprägt, unabhängig von der politischen Form des staatlichen Gemeinwesens. Dieser Befund umfasst auch die Jahrzehnte nach 1945, als sich in der DDR das Totengedenken auf die Widerstandskämpfer und Angehörigen der Roten Armee konzentrierte und in der Bundesrepublik die Gefallenen der Wehrmacht eher in die lokalen Erinnerungspraktiken integriert wurden, sich eine zentrale bundespolitische Gedenkkultur für die Gefallenen des Weltkrieges jedoch nicht entwickelte. Diese Kontinuität lässt sich für das vierte Element, die politisierte Religion, nicht beobachten. Religiöse Institutionen und Deutungsfiguren werden für das staatspolitische Totengedenken nicht mehr unmittelbar in Anspruch genommen. Die Religion und die religiösen Trauer- und Deutungsangebote haben aber überdauert. Das zeigte sich einerseits im privaten Bereich, indem das christliche Versprechen einer Überwindung des Todes auch in einer tendenziell säkularen Gesellschaft in der Extremsituation des Verlustes von Angehörigen als tröstendes Angebot akzeptiert wird. Die Militärseelsorge der Bundeswehr besteht heute als unabhängige Einrichtung der Kirche und ist nicht in die Militärhierarchie integriert. Gleichzeitig sieht sich die Militärseelsorge selber als eine dem einzelnen Soldaten verpflichtete Institution an und nicht als staatspolitische Legitimationsquelle. Andererseits wird der Wandel auf indirekte Weise im Bereich des Politischen deutlich, indem die Politik heutzutage weniger die Religion in den Dienst nimmt und die eigene Rat- und Sprachlosigkeit hinter religiösen Formen verbirgt. In der bundesdeutschen Gegenwart gibt es indes keine direkten Rechtfertigungen politischer Entscheidungen durch religiöse Institutionen – diese Form der Sakralisierung von Politik ist überholt.88 In dem Maße, wie man keine politischen Sinnangebote formulieren kann (oder will), kommt den religiösen Trauer- und Deutungsformen damit eine vorläufige Stellvertreterfunktion zu. Darüber hinaus erscheinen im langfristigen Vergleich zwei Befunde besonders bemerkenswert. Erstens zeichnete sich bereits im 19. Jh. ab, dass die auf den Monarchen bezogenen Deutungsmuster verblassten, die 1813 dezidiert gegen den Patriotismus ,,von unten“ verteidigt worden waren und viele Elemente des Totenkults wie die Gedenktage, die Denkmäler und Orden geprägt hatten. 88

Vgl. mit weiterführender Literatur Angela Dörfler-Dierken, Reformen in der Militärseelsorge. Feldgeistlicher, Befreiungsprediger, Seelsorger der Bundeswehr, in: Karl-Heinz Lutz u. a. (Hg.), Reform, Reorganisation, Transformation. Zum Wandel in deutschen Streitkräften von den preußischen Heeresreformen bis zur Transformation der Bundeswehr, München 2010, S. 505–522; zur Friedensethik auf evangelischer Seite vgl. die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland ,,Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007), die vom Leitbild des gerechten Friedens ausgeht; sowie Angelika Dörfler-Dierken/ Gerd Portugall (Hg.), Friedensethik und Sicherheitspolitik. Weißbuch 2006 und EKD-Friedensdenkschrift 2007 in der Diskussion, Wiesbaden 2010; für die katholische Seite etwa Dürfen Christen Krieg führen? in: Liborius-Magazin 3 (2010).

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Auf die Dauer war diesem Versuch einer monarchischen Loyalitätserzwingung kein Erfolg beschieden, spätestens im Ersten Weltkrieg waren die Soldaten, folgt man den Identitätskonstruktionen der Überlebenden, nicht mehr für den Hohenzollernkaiser gefallen – dessen Großvater noch auf vielen Denkmälern zur Erinnerung an 1870/71 stand –, sondern für ,,Deutschland“. Dass Wilhelm II. im November 1918 den Opfertod an der Front ablehnte und lieber ins Exil ging, ist Teil dieser Auflösung: Der Soldatentod war nicht mehr auf den Monarchen und ein besonderes Treueverhältnis zu ihm bezogen; die Verweigerung Wilhelms II., den ,,Soldatentod“ auf dem Schlachtfeld zu suchen, trug umgekehrt zum Ende der Monarchie in Deutschland bei. Ein zweiter Befund erweist sich aber als bedeutender, weil er bis zur Gegenwart reicht. Ein bürgerlicher, ja staatsbürgerlicher Totenkult hat sich in Deutschland kaum ausgebildet. Zu den komplexen Ursachen hierfür zählt, dass die preußische Monarchie im 19. Jh. einen staatsbürgerlichen politischen Totenkult dezidiert zurückgedrängt hatte und dass sich im 20. Jh. nach den Kriegsenden jeweils die Herausforderung stellte, nach Niederlage und Systemwechsel in der neuen Ordnung die Verantwortung für die Toten der alten Ordnung zu übernehmen. Nach 1918 fiel die Gesellschaft in dieser Frage auseinander. Nach 1945 drängte man das politische Totengedenken an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung ab und verbarg die ungelösten politischen Deutungsfragen auf den kommunalen Friedhöfen, indem man schlichte Zusatztafeln an den bestehenden Denkmälern anbrachte. Beides verhinderte die Ausbildung explizit politischer Deutungsangebote. Stattdessen ist das Gefallenengedenken in Deutschland in besonderer Weise durch militärische Elemente bestimmt. Viele Formen und Beispiele des Gedenkens wurden im Militärischen gestiftet, die Kriegervereine waren bis 1933 die wichtigsten zivilen Organisationen für die Errichtung von Denkmälern, auch die Sprache des Gedenkens ist dadurch beeinflusst, bis hin zur besonderen Wertschätzung kriegerischer Qualitäten.89 Ob die Bundesrepublik inzwischen davon frei ist und weniger die militärische Qualität der ,,Ehre“ in neu errichteten ,,Ehrenmalen“ im Mittelpunkt des Gefallenengedenkens steht als eine internationale Völkergemeinschaft und ihre übergreifenden Werte, das wird sich zeigen. Die Europäisierung der Militärpolitik, so mühsam sie seit Jahren vorankommt, wird diese Entwicklung weiter vorantreiben, zugleich aber eine politische Gestaltung des Gefallenengedenkens geradezu erzwingen.

89

Für die Denkmäler nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Jeismann/Westheider, Wofür stirbt der Bürger?

Finnland Agilolf Kesselring

Zwischen Adler und Bär Militärische Tradition und Erinnerungskultur

Militärisches Sterben steht auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts stets im Kontext nationaler politischer und strategischer Entscheidungen. Es ist zugleich eingebettet in die historisch entwickelten kulturellen Codes einer (nationalen) Gesellschaft und der darin agierenden Untergruppe, der sozialen Organisation der Streitkräfte eines Landes. Diese entwickeln wiederum spezifische Formen, Symbole und Praktiken zur Erinnerung. Militärische Tradition – eine bewusste Auswahl aus der Geschichte – spielt dabei ebenso eine Rolle wie historisch entwickeltes militärisches Brauchtum. Während Tradition und Brauchtum ebenso wie die politischen und strategischen Entscheidungen der nationalen Ebene zugeordnet werden können, findet soldatisches Sterben heutzutage im multinationalen Umfeld statt. Der gewaltsame, spezifisch soldatische Tod zum Beispiel durch Schussverletzungen oder Sprengstoffanschläge ist heute eine Begleiterscheinung multinationaler Auslandseinsätze, etwa im Rahmen der Vereinten Nationen oder der NATO. Der vorliegende Beitrag skizziert zunächst die historischen, strategischen und kulturellen Rahmenbedingungen der finnischen Erinnerungskultur. Anschließend werden Formen, Symbole und Praktiken dargestellt und mögliche Wandlungen im Zuge der fortschreitenden Multinationalisierung der militärischen Einsätze Finnlands diskutiert. Bis heute sind 47 Finnen als Angehörige der Friedenstruppen ums Leben gekommen, zuletzt am 23. Mai 2007 ein Unteroffizier in Afghanistan. Dies zeigt, dass die Frage der militärischen Erinnerungskultur aktuell ist. Ausdrückliche Debatten hierüber blieben in Finnland jedoch bis heute aus. Erst ein weiter Blick, der die finnische militärische Erinnerungskultur in den Kontext von Gesellschaft, Geschichte, Politik, Strategie und spezifisch militärischen Traditionen stellt, macht Brüche und Kontinuitäten deutlich.

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Historische und strategische Rahmenbedingungen finnischer Erinnerungskultur Finnland hat sich sein westlich-demokratisches System im Gegensatz zu anderen Opfern des Hitler-Stalin-Paktes erhalten, trotz seiner späteren Kriegführung an der Seite Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und trotz der rund siebzig Jahre Nachbarschaft zur Sowjetunion mit einer 1.300 km langen Grenze. Seine Geschichte vollzog sich im Wechselspiel aus schwedischen, russischen und deutschen kulturellen und machtpolitischen Einflüssen. Diese Stellung Finnlands zwischen deutschem Adler und russischem Bär wird auch im finnischen Staatswappen deutlich. Es zeigt den schwedischen (folkunger) Löwen, auf einem tatarischen Krummschwert stehend mit einem christlichen geraden Schwert in der geharnischten rechten Hand.1 Bis 1809 bildete Finnland als östlichster peripherer Teil des Schwedischen Reiches in geostrategischer Hinsicht den Vorposten gegen das – seit der Gründung St. Petersburgs (1703) sich immer stärker nach Westen wendende – Russische Reich. Symbolisch steht hierfür die Festung Nevanlinna (schw. Nyenkans, auch Nyenskantz). Die 1642 gegründete schwedische Stadt an der ,,Nevaschanze“ sicherte den Osthandel und stellte den äußersten östlichen Vorposten des Schwedenreiches dar. Die Bevölkerung war überwiegend deutsch, finnisch und holländisch. 1703 zerstörten die Russen die Stadt.2 Die Festung Nevanlinna findet sich heute noch im Wappen der finnischen Nationalen Verteidigungsuniversität – wenn auch ohne die Fluten der Neva – wieder.3 Als Folge des Finnischen Krieges (1808–1809) fiel Finnland im Frieden von Hamina als Großfürstentum an Zar Alexander I. In der Folge diente dieses Gebiet als Glacis Petersburgs. Das Land erlangte seine staatliche Unabhängigkeit vom durch Krieg und Revolution geschwächten Sowjetrussland im Dezember 1917. Der im Jahr 1918 folgende finnische Bürgerkrieg zwischen den von sowjetrussischer Seite unterstützten Roten Garden und den durch das Deutsche Kaiserreich unterstützten ,,Weißen“ gilt auch als finnischer Unabhängigkeitskrieg. Als bedeutendste Figur dieser Zeit ist zum einen der ,,weiße“ zaristische General Carl Gustaf Emil Freiherr von Mannerheim zu nennen. Zum anderen kommt den in Deutschland ausgebildeten jüngeren ,,Jägeroffizieren“ eine die finnischen Streitkräfte konstituierende Rolle zu. Mit kurzen Ausnahmen war Mannerheim bis 1944 Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte, zuletzt als Marschall von Finnland. Er führte die Armee in zwei Kriegen gegen die Sowjet1 2 3

Siehe Eintrag: Finnland, in: Karl-Heinz Hesmer, Flaggen und Wappen der Welt. Geschichte und Symbolik der Flaggen und Wappen aller Staaten, Gütersloh 1992. Kustaa H. J. Vilkuna, Nyen (Nyenkans /Nevanlinna), Eintrag in Homepage: Ostseestädte, http://www.baltictowns.com/rostock/city/nyen/info/de_nyen.html (12.9.2009). Timo Liene, Hands on the Hilt. A Brief history of Finnish Officer Training, Jyväskylä 2000, S. 64 und S. 70.

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union, wobei ihm sowohl im Winterkrieg 1939 als auch im Fortsetzungskrieg 1941–1944 beachtliche Abwehrerfolge gegen einen überlegenen Gegner gelangen. Die in Finnland stehende deutsche Wehrmacht wurde 1944 auf Drängen Stalins im Lapplandkrieg an einer Festsetzung in Finnlands Norden gehindert. Von 1944 bis 1946 leitete Mannerheim als greiser Staatspräsident den Frieden mit Stalins Sowjetunion ein. Die im Lager Lockstedt ausgebildeten Angehörigen des aus finnischen freiwilligen Aktivisten bestehenden Königlich Preußischen Jägerbataillons Nr. 27 bildeten hingegen den Stamm der finnischen Streitkräfte. Sie stellten Mannerheims erfolgreichste Kommandeure im Bürgerkrieg, bauten nach 1918 an entscheidenden Stellen die Streitkräfte der Republik Finnland auf und standen als Stabschefs und Divisionskommandeure in den entscheidenden Abwehrschlachten gegen die Sowjetunion. Nach 1944 und bis in die 1960er Jahre führte stets ein ,,Jägeroffizier“ die Armee.4 Doch obwohl der Hitler-Stalin-Pakt wie auch die westlichen Alliierten auf der Konferenz von Teheran Finnland eindeutig der sowjetischen Einflusssphäre zuordneten und das Land zu den Verliererstaaten des Zweiten Weltkrieges gehörte, wurde es anders als Ungarn oder Rumänien nicht militärisch besetzt und nicht ,,sowjetisiert“. Die Gründe hierfür sind im Mythos der Wehrhaftigkeit der finnischen Armee zu suchen. Nicht nur die legendären Abwehrschlachten des Winterkrieges, die Schlachten von Tolvajärvi und Suomussalmi, sondern auch der Abwehrsieg der Schlacht von Ihantala 1944 schufen die machtpolitische Grundlage für die spätere finnische Neutralität.5 Von 1948 und bis 1992 war Finnland durch den Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Beistand (FZB-Vertrag), eine Art Defensivbündnis für den Fall eines deutschen Angriffes, mit der Sowjetunion verbunden. Bis 1955 unterhielt die Sowjetunion einen Militärstützpunkt in Porkkala – in Artillerieschussweite zur finnischen Hauptstadt Helsinki. Die auf Neutralität ausgerichtete Nachkriegspolitik Finnlands, welche die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion berücksichtigte und gleichzeitig das freiheitlich demokratische System bewahrte, zeigte erste Erfolge, als Finnland 1955 Mitglied im Nordischen Rat und den Vereinten Nationen wurde. Gleichwohl wurden allzu große Zugeständnisse an die Sowjetunion im Westen sprichwörtlich als ,,Finnlandisierung“ – als eine Art schleichende Sowjetisierung – wahrgenommen. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion bildete die finnische Neutralität im bipolaren Mächtekonflikt die außenpolitische Doktrin Finnlands. Den finnischen Streitkräften kam in dieser Zeit die Aufgabe zu, die politische Glaubwürdigkeit der Neutralität militärisch abzusichern und den FZB-Vertrag zu bedienen, ohne sich jedoch sowjet-kommunistisch unterwan4 5

Vgl. Agilolf Kesselring, Des Kaisers ,,finnische Legion“. Die finnische Jägerbewegung im Ersten Weltkrieg im Kontext der deutschen Finnlandpolitik, Berlin 2005. Vgl. Heikki Ylikangas, Romahtako rintama? Suomi Puna-Armeijan puristuksessa kesällä 1944, Helsinki 2007; Stefan Fors, Tali-Ihantala 1944. Elokuva ja historia, Helsinki 2007.

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dern zu lassen.6 Dies stellte eine Gratwanderung dar, wobei der Traditionspflege im Sinne der Eigenständigkeit und Wehrhaftigkeit die wichtige Funktion ,,innerer Rüstung“ zukam. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion suchte Finnland nicht, wie andere in der Geschichte stets zwischen dem deutschen Adler und dem russischen Bären stehende kleinere Staaten den raschen Weg in die NATO, sondern setzte auf die europäische Einigung und die nordische Zusammenarbeit. Seit 1995 ist Finnland Mitglied der EU. Mit der NATO ist Finnland seit 1994 im Rahmen des Programms ,,Partnership for Peace“ lose verbunden. Der Logik eines wehrhaften aber bündnisfreien Staates folgend, engagierte sich Finnland seit seiner Mitgliedschaft (1955) stark in den Vereinten Nationen. So nahmen die finnischen Streitkräfte in ihrer Geschichte mit insgesamt 32.000 Soldaten an UN-Friedensmissionen teil. Der erste Einsatz im Rahmen der UN erfolgte bei der Suez-Krise 1956/57 mit einem 440 Mann starken Kontingent. Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen stärkten auf der politischen Ebene das Bild des neutralen Finnlands, auf der militärischen Ebene sorgten sie dafür, hinsichtlich Einsatzgrundsätzen und Ausbildung als bündnisfreies Land nicht in die Isolation zu geraten. Indirekt dienten UN-Einsätze also politisch der staatlichen Selbständigkeit und militärisch der Bewahrung der Fähigkeit zur Landesverteidigung. Mit dem Eintritt in die EU änderte das finnische Parlament das Friedenschutzgesetz dahingehend, dass seitdem finnische Friedenstruppen auch in anderen als von der UN geführten Operationen eingesetzt werden können. 1999 waren insgesamt 1.800 finnische Soldaten bei Stabilisation Force (SFOR) in Bosnien und Kosovo Force (KFOR) im Kosovo eingesetzt. Beide Einsätze wurden und werden von der NATO geführt. Derzeit hat das finnische KFOR-Kontingent etwa eine Stärke von 450 Soldaten. Insgesamt haben rund 15.000 finnische Soldaten im Kosovo gedient. Seit 2002 stellt Finnland ca. sechzig Soldaten für die International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. Zwischenzeitlich war das finnische Afghanistan-Kontingent auf rund 120 Soldaten angewachsen, wobei Finnen sowohl in Kabul als auch im Rahmen sogenannter ,,Provincial Reconstruction Teams“ in Masar-e-Sharif im Norden Afghanistans eingesetzt werden. Derzeit (2010) sind etwa neunzig finnische Soldaten in Afghanistan stationiert. Insgesamt haben etwa 58.000 finnische Soldaten in Afghanistan gedient.7 Analog zur Argumentation in Zeiten des Kalten Krieges, wird der finnische Einsatz in Afghanistan politisch mit der Zugehörigkeit zur westlichen Wertegemeinschaft und militärisch mit 6

7

Ausführlicher zur strategischen Position Finnlands, siehe Agilolf Kesselring, Die Nordatlantische Allianz und Finnland 1949–1961. Perzeptionsmuster und Politik im Kalten Krieg, München 2009, S. 65–92. Mission of Finland to NATO, Brussels, http://www.finlandnato.org/public/default.aspx? nodeid=31554&contentlan=2&cultureen-U (12.9.2009).

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dem Zuwachs militärischer Fähigkeiten im internationalen Rahmen begründet.8 Hieraus kann gefolgert werden, dass finnische Soldaten, wenn diese im Auslandseinsatz fallen, der Theorie nach indirekt im Rahmen der erweiterten Vaterlandsverteidigung den Tod finden – ob auf dem Sinai, am Hindukusch oder im Balkan. So erscheint die organisatorische Einbettung des Einsatzes (etwa im Rahmen der UN oder der NATO) und der spezifische Auftrag vor Ort wie auch die Todesursache (Tod im Gefecht, Unglück) für die politische Intention staatlicher Erinnerung eher zweitrangig.

Gesellschaftlicher Rahmen: Militär, Staat und Religion in Finnland Der nationale Umgang mit den im Einsatz gestorbenen, sprich: gefallenen Soldaten ist auch in Finnland aus der Wechselwirkung zwischen (zivil)gesellschaftlicher öffentlicher Erinnerung, staatlicher (politischer) Erinnerungspolitik und militärischer Tradition des Totenkultes zu begreifen. Die Grenzen zwischen diesen theoretisch unterscheidbaren Erinnerungskulturen verschwimmen freilich in der Praxis, da die Soldaten der finnischen Wehrpflichtarmee selbst einen Teil der Gesellschaft und die Streitkräfte ein politisches Exekutivinstrument darstellen. Ferner hat der Umgang mit Tod auch stets etwas Individuelles, wird in der Kleingruppe der Familie verarbeitet und erinnert und ist nicht zuletzt eine Frage des Verhältnisses von Gesellschaft, Staat und Militär zur Religion. Für die Frage wie die finnische Gesellschaft mit ihren in Krieg und Einsatz gefallenen Soldaten umgeht, mag die in Deutschland insbesondere von Herfried Münkler vertretene These, dass die westlichen Gesellschaften ,,postheroische Gesellschaften“ seien, als Ausgangspunkt dienen.9 Das finnische Beispiel scheint die These der postheroischen westlichen Gesellschaften zu widerlegen. Schon bei flüchtiger Betrachtung fällt auf, dass die finnischen Streitkräfte unter weiten Teilen der Bevölkerung eine hohe Anerkennung genießen. In Finnland kamen im Jahr 2008 rund siebzig Prozent der Männer im fraglichen Alter der Wehrpflicht nach.10 Probleme bereitet weniger die Wehrbereitschaft als die sinkende Tauglichkeitsrate der jungen Männer. 8

9 10

Jarno Limnéll / Charly Salonius-Pasternak, Miksi Afganistan on tärkeä Suomelle? Maanpuolustuskorkeakoulu Strategian laitos, Julkaisusarja 4: työpapereita No. 30, Helsinki 2009, S. 8–10. Vgl. Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006. Joonas Laitinen, Kaskeala. Suomi siirtynyt valikoivaan asevelvollisuteen, in: Helsingin Sanomat, 30.6.2009.

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Doch es sind weniger diese aktuellen Zahlen als die Präsenz der Erinnerung im Alltag, die das Verhältnis der finnischen Mehrheitsbevölkerung zu ,,ihren“ Soldaten zeigen. Deutlich wird dies etwa in der Bedeutung der Veteranen als Träger der finnischen Unabhängigkeit. Die noch lebenden rund 66.000 finnischen Kriegsveteranen sind in Finnland in unterschiedlichen Vereinen zusammengeschlossen und in der Öffentlichkeit nicht zuletzt durch die von den Streitkräften unterstützten Straßensammlungen präsent. In den Medien finden sie beispielsweise durch die Aktion ,,Veteranen unserer Kriege“ Beachtung, bei der für 25 Euro reflektierende Anhänger in Form von Veteranenabzeichen verkauft werden. Werbung für diese Kampagne erscheint auf allen Fernsehsendern zur besten Sendezeit, die Aktion wird unter anderem von Finnlands führender Bank, der Nordea Bank, unterstützt.11 Im Jahr 2007 legte eine führende finnische Schokoladenfabrik anlässlich der Feierlichkeiten zum 90. Jahrestag der Unabhängigkeit eine Schokoladensonderreihe auf, deren Erlös der Unterstützung der Kriegsveteranen zukam – mit Veteranen lässt sich werben. Solche Praktiken, die in Deutschland undenkbar erscheinen, spiegeln die hohe Anerkennung der Veteranen in Staat und Bevölkerung wider. Als offizieller Gedenktag ist hingegen der ,,Nationale Tag der Veteranen“12 relativ jung. Er wird seit 1987 begangen, dem Festjahr zum 70. Jubiläum der finnischen Unabhängigkeit. Dies zeigt eine Geschichtssicht, in der die Veteranen als wesentliche Träger der staatlichen Unabhängigkeit Finnlands begriffen werden,13 aber auch, dass die staatliche Unabhängigkeit des Jahres 1917 den Fluchtpunkt des nationalen historischen Narratives bildet. Der Veteranentag wird am 27. April begangen. Das Datum bezieht sich auf den 27. April 1945, als den Tag des Kriegsendes im Lapplandkrieg.14 Die Wahl dieses Datums im Jahr 1987 zeigt zweierlei: Zum einen wurde es erst zur Zeit der Perestrojka in der Sowjetunion und der Präsidentschaft von Mauno Koivisto in Finnland möglich, einen nationalen Veteranentag einzuführen, ohne dabei außenpolitische Komplikationen herbeizuführen; schließlich waren die meisten Veteranen im Kampf gegen die Sowjetunion gestanden. Zum anderen bezieht sich das Datum auf den Abmarsch der letzten Wehrmachtsteile 11

12 13

14

Inzwischen (2011) werden die reflektierenden Anhänger in Form einer Kokarde für € 12 verkauft. Das Sortiment wurde erweitert: An Mannerheim erinnernde Anstecker mit einem «M», (€ 20), eiserne Landesverteidigungsringe und Luftverteidigungsringe aus dem Jahr 1940 (€ 100) sowie eine Junkers-Medaille (€ 20). http://www.veteraanit.fi/epages/GPL.sf/ fi_FI/?ObjectPath=/Shops/24032009-134769/Categories/%22Muut%20tuotteet%22 (26.11.2011). Finn. Kansallinen veteraanipäivä. Siehe die ausdrückliche Verbindung zwischen Veteranen und Unabhängigkeit in der Kapitelüberschrift ,,Veteraanien perintö-vapaaa isänmaa“ (Das Erbe der Veteranen – ein freies Vaterland) bei: Markku Honkasalo, Sotiemme Veteranien Päivä. Kansallinen veteraanipäivä 20 vuotta 1987–2007, Helsinki 2007, S. 137. Ebd., S. 6.

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aus Finnland und passte somit in den Rahmen des FZB-Vertrages. Der Nationale Tag der Veteranen ist in Finnland nicht nur offiziell Beflaggungstag,15 er wird auch privat in weiten Teilen der Bevölkerung durch das Abbrennen eines Windlichtes vor der Haustür begangen. Die finnische Unabhängigkeit personifiziert der langjährige Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte, Marschall von Finnland Mannerheim. Dem deutschen ,,Bismarck-Hering“ vergleichbar, gibt es eine Fülle von Produkten, die mit dem Namen Mannerheim oder seinem Spitznamen Marski beworben werden. Sie reicht von Brot über Schnaps bis hin zu Desserts. Feldmarschall Mannerheim wurde an seinem 75. Geburtstag, dem 4. Juni 1942 zum Marschall von Finnland ernannt. Seitdem wird an diesem Datum der Tag der Fahne der finnischen Streitkräfte begangen. Seit 1950 wird der Gedenktag nicht mehr unter dem Namen Mannerheims Geburtstag, sondern als ,,Fahnentag der Streitkräfte“16 begangen. Seit 1947 ist der Tag nationaler Beflaggungstag.17 Eng mit der Person Mannerheims ist auch der ,,Gefallenenerinnerungstag“18 verbunden. Bis 1940 wurde von Staats wegen ausschließlich der Gefallenen der ,,weißen“ Seite des Bürgerkrieges von 1918 gedacht. Gedenktag war der 16. April, der offizielle Siegestag der Truppen Mannerheims. Der gemeinsame Feind im Winterkrieg führte jedoch die bis dahin tief gespaltene finnische Nation zusammen. Eine finnische Bischofskonferenz schlug 1940 vor, dass am 19. Mai 1940, einem Sonntag, mit Trauer- und Erinnerungsgottesdiensten der Gefallenen des Winterkrieges gedacht werden sollte. Mannerheim befahl daraufhin, nicht mehr am 16. April der Gefallenen und des Sieges mit Paraden und Beflaggung als Fahnentag der Streitkräfte zu gedenken, sondern, dass an jedem dritten Sonntag im Mai aller Gefallenen, also der Gefallenen beider Bürgerkriegsparteien und des Winterkrieges an einem ,,gemeinsamen religiösen Erinnerungstag“ gedacht werden sollte. Seit 1977, dem 60. Jubiläumsjahr der finnischen Unabhängigkeit, ist der Gefallenenerinnerungstag nationaler Beflaggungstag. Es war jedoch bereits ab 1956 die Beflaggung für diesen Tag geregelt, wobei zwischen 10 und 14 Uhr die Flaggen auf Halbmast zu setzen waren. Seit 1995 (dem 50. Jahr nach Ende der Kriegshandlungen) wird nicht mehr Halbmast gesetzt.19 Eine weitere Besonderheit der finnischen Gesellschaft stellt die Verbindung von Kirche und Staat dar. Nach dem Verständnis der finnischen evangelisch15 16 17 18 19

An Beflaggungstagen wird in Finnland nicht nur an staatlichen oder kommunalen Gebäuden beflaggt, sondern (freiwillig) auch in großer Zahl an privaten Gebäuden. Finn. Puolustusvoimain lippujuhlan päivä. Homepage: Veteraaniperinne (Veteranentradition) des Tammenlehvän Perinneliitto, http:// www.veteraaniperinne.fi/sivu.php?id=168 (12.9.2009). Finn. Kaatuneitten muistopäivä. Homepage: Veteraaniperinne (Veteranentradition) des Tammenlehvän Perinneliitto, http:// www.veteraaniperinne.fi/sivu.php?id=166 (12.9.2009).

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lutherischen Kirche ist diese zwar keine ,,Staatskirche“20 , wohl aber eine ,,Volkskirche“.21 Als solche nimmt sie viele Aufgaben wahr, die in anderen Ländern dem Staat vorbehalten sind: standesamtliche Aufgaben etwa wie die Namensgebung (Taufe), die Eheschließung (kirchliche Trauung) und die Dokumentation von Sterbefällen. Dabei stellen diese administrativen Aufgaben der Kirche nicht etwa wie in Deutschland zusätzliche Möglichkeiten des Zeremoniells dar, sondern stehen alternativ zum staatlichen Angebot. Die Taufe ersetzt einen Namenseintrag beim Standesamt, die kirchliche Trauung die standesamtliche Eheschließung.22 Dieser engen Verbindung von Kirche und Staat entsprechend wird die finnische Militärkirche von einem uniformierten Militärpropst geführt, dem neben den seelsorgerischen auch administrative Aufgaben wie die Betreuung der Gefallenen im Krieg und in Friedenseinsätzen obliegen. Soweit ist zusammenfassend festzustellen, dass in der finnischen Gesellschaft Erinnerungstage, die eng mit der finnischen Geschichte verbunden sind, einen Teil des Alltags bilden. Dabei spielt sowohl die starke Position der finnischen evangelisch-lutherischen Volkskirche, die weitestgehend ungebrochene Befürwortung der finnischen Streitkräfte und die präsente Erinnerung an die finnische Unabhängigkeitserklärung von 1917 und deren erfolgreiche Verteidigung im finnischen Winterkrieg (und weniger prominent auch im Fortsetzungs- und Lapplandkrieg), personifiziert durch die Person Mannerheims, eine maßgebliche Rolle. Der Begriff des ,,Postheroismus“ scheint also nicht auf die finnische Gesellschaft zuzutreffen. Der Begriff des ,,Helden“ (finnisch sankari) findet sich in der Alltagssprache etwa im Begriff des ,,Geburtstagshelden“ (päivänsankari). Die meist innerhalb von Gemeindefriedhöfen angelegten Soldatenfriedhöfe des Zweiten Weltkrieges heißen nach wie vor ,,Heldenbereich“ (sankari-alue). Insbesondere seit den 1990er Jahren und ausgelöst durch ,,runde“ Erinnerungsdaten (vor allem des Unabhängigkeitstages) ist eine Rückbesinnung auf die Leistungen der Weltkriegsgeneration festzustellen. Dies zeigt auch das Projekt eines monumentalen Mannerheim-Films des finnischen Hollywood-Produzenten Renny Harlin (Lauri Mauritz Harjola), das angesichts schwacher Finanzierung zu einer ,,nationalen Aufgabe“ stilisiert wurde.23

20 21 22 23

Finn. Valtiokirkko. Die finnische evangelisch-lutherische Kirche war bis 1870 Staatskirche im Großfürstentum Finnland. Finn. kansankirkko. Homepage: Suomen evankelis-luterilainen kirkko (Evangelisch-lutherische Kirche Finnlands), http://www.evl.fi (12.9.2009). Homepage: Suomen elokuvasäätiö (Finnische Filmstiftung), Mannerheim, http:// www.ses.fi/elokuva.asp?id=993 (12.9.2009). 2010 konnte auf der Berlinale eine Finanzierung des mit 12,7 Mio Euro teuersten Films der finnischen Filmgeschichte mit Hilfe eines deutschen Partners gefeiert werden. Die Premiere des Films wurde für Ende 2011

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Der finnische Fundus militärischer Traditionen Im Unterschied zur Bundeswehr besitzt das finnische Militär ein ungebrochenes Traditionsverständnis, das vom Spätmittelalter bis heute reicht. Das Augenmerk liegt jedoch auch hier auf der Zeit der staatlichen Unabhängigkeit. Vier Säulen der Tradition lassen sich unterscheiden. Mannerheim ist gleichermaßen das Sinnbild des ,,weißen“ Finnlands, des Winter-, Fortsetzungs- und Lapplandkrieges sowie des demokratischen Finnland. Wurde Mannerheim 1918 noch als ,,Russenoffizier“ von den deutsch-geprägten Jägeroffizieren kritisch beäugt, entwickelte er sich im finnischen Bürgerkrieg zu einer Integrationsfigur für die Bürgerlichen/“Weißen“ und im Zweiten Weltkrieg dann für alle Finnen. Seine Person wurde zur Chiffre der Kontinuität wehrhafter finnischer Unabhängigkeit von der Sowjetunion; zugleich personifiziert seine mythisch überhöhte Figur die Streitkräfte. Ein Bild Mannerheims hängt in nahezu jeder militärischen Amtsstube neben dem Bild des amtierenden Staatspräsidenten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Die kollektive Erinnerung an den Marschall von Finnland bildet die erste Säule der finnischen Militärtradition. Eine zweite, bis heute wichtige Säule der Tradition der finnischen Streitkräfte ist die Erinnerung an die finnischen Freiwilligen des Ersten Weltkriegs, die meist studentischen Unabhängigkeitsaktivisten, aus denen das Königlich Preußische Jägerbataillon Nr. 27 bestand. In der ersten Phase der finnischen staatlichen Unabhängigkeit spielte das Deutsche Kaiserreich die dominierende Rolle. Der Einsatz der deutschen Ostseedivision zur Befreiung Helsinkis von den ,,Roten“ im April 1918 wird bis heute weitgehend positiv erinnert.24 Die Streitkräfte Finnlands wurden nach dem finnischen Bürgerkrieg/Unabhängigkeitskrieg 1918 mit Hilfe deutscher Offiziere nach preußisch-deutschem Muster geformt. Es war dies die Zeit, als Finnland ein Königreich unter Friedrich Karl von Hessen werden sollte. Hierzu kam es angesichts des deutschen Verlustes des Ersten Weltkrieges jedoch nicht mehr: In Finnland wurde unter dem als ,,Reichsverweser“ eingesetzten General Mannerheim 1919 die seitens der Ententemächte geforderte republikanische Staatsform durchgesetzt. Die preußisch-deutsche Militärtradition hingegen blieb. 1921 wurde mit Lauri Malmberg erstmals ein Jägeroffizier Kommandeur der Schutzkorps und 1924 sogar finnischer Verteidigungsminister. Die Jägeroffiziere Oberst Siilasvuo und Oberst Paavo Talvela legten im Winterkrieg mit den berühmten Gegenangriffen von Suomussalmi bzw. Tolvajärvi den Grundstein zum Mythos vom Kampf des finnischen David gegen den sowjetischen Goliath. Die Generale Lennart Oesch und Rubens

24

angekündigt, das Datum ist derzeit jedoch nicht absehbar. http://www.solarfilms.com/ uutiset/2010/fi_FI/mannerheimrahoitus/ (26.11.2011) Vgl. Laura Kolbe / Sami Nyström, Helsinki 1918. Pääkaupunki ja sota, Helsinki 2008.

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Lagus, die den verhinderten Durchbruch der Roten Armee an der Karelischen Landenge 1944 versinnbildlichen, waren ebenfalls 27er Jäger.25 Von 1926 bis 1959 war der Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte mit Ausnahme der Kriegsjahre, in denen Mannerheim kommandierte, stets ein ehemaliger ,,deutschausgebildeter Jäger“. Die dritte Säule der Tradition bilden die finnischen/schwedischen Einheiten seit den Zeiten des Königs Gustav I. von Schweden, Gustav Wasa (Kustaa Vaasa, 1523–1560), bis zum Frieden von Hamina 1809. Das finnische Staats- und Streitkräftewappen findet sich an dessen Sarkophag. Eine vierte Säule bilden die finnischen Verbände (acht aktive Bataillone) des Großfürsten von Finnland, also des russischen Zaren von 1809 bis zu deren Auflösung im Wehrpflichtgesetz von 1901 bzw. 1905 im Falle des finnischen Gardebataillons in Helsinki.26 Die auf die Streitkräfte des seit 1917 eigenstaatlichen Finnlands gerichteten Traditionssäulen Mannerheim, 27er Jäger und Winterkrieg bzw. Zweiter Weltkrieg spielen indes eine weit größere Rolle, als diejenigen der schwedischen oder russischen Herrschaft. Hierbei folgen die Streitkräfte in ihrem Selbstverständnis einem Narrativ, welches auf die Kontinuität im Auftrag der Streitkräfte abhebt: Die Verteidigung der Unabhängigkeit Finnlands.

Formen, Symbole und Praktiken zur Thematisierung des Soldatentodes bis heute Bis 1955/56 gab es keine offiziellen Richtlinien für die Tradition in den finnischen Streitkräften; sie entwickelte sich einfach weiter. Erst 1956, nach dem Abmarsch der Sowjettruppen aus Porkkala, bestätigte der Staatspräsident neue Namen, Jahrestage, Ehrenmärsche und Traditionen der Truppenverbände. Zu dieser Zeit befanden sich die ersten finnischen Truppen im UN-Blauhelmeinsatz. Interessanterweise ist dies auch der Zeitpunkt, an dem die Erinnerung der Gefallenen des Zweiten Weltkrieges neu geregelt wurde. Die Erinnerung der Soldaten vergangener Kriege konnte auch in Finnland nicht von den aktuellen Einsätzen gelöst betrachtet werden. Mannerheim blieb die zentrale Integrationsfigur. Als er 1951 in der Schweiz starb, folgte ein Staatsbegräbnis auf dem Friedhof Hietaniemi in Helsinki. Auf diesem zentralen Friedhof der Hauptstadt liegen alle finnischen Staatspräsidenten außer Pehr Evind Svinhufvud und Kyösti 25 26

Vgl. Matti Lauerma, Kuninkaallinen Preussin Jääkäripataljoona 27. Vaiheet ja vaikutus, Porvoo 1966. Dieses Traditionsverständnis wird sowohl durch die die Tradition der Streitkräfte thematisierende Abteilung der Dauerausstellung im Sota-museo (Kriegsmuseum) in Helsinki, als auch – noch ausgeprägter – im Traditionsraum der finnischen Nationalen Verteidigungsuniversität deutlich.

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Abbildung 1: Grab des Marschalls von Finnland Carl Gustaf Emil Freiherr von Mannerheim am Heldenkreuzplatz des Friedhofs HelsinkiHietaniemi (Foto: Agilolf Kesselring).

Abbildung 2: Heldenkreuz am Friedhof Helsinki-Hietaniemi (Bildhauer Wäinö Aaltonen) (Foto: Agilolf Kesselring).

Kallio begraben. Das Begräbnis des verstorbenen Marschalls und Staatspräsidenten wurde zu einer beeindruckenden Massenkundgebung über die Parteigrenzen hinweg. Im westlichen Ausland wurde dies auch als Bekundung des finnischen Wehrwillens angesehen. Seit 1951 gibt es am Weihnachtsabend auch eine militärische Ehrenwache an Mannerheims Grab. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass 2009 der Generalstab des finnischen Heeres nach Mikkeli verlegt wurde. Zwar ist diese Entscheidung auch im Rahmen der Förderung strukturschwächerer Gebiete zu sehen, doch spielte die Tradition eine nicht unbedeutende Rolle. In Mikkeli befand sich im finnischen Bürgerkrieg 1918 wie auch im Winter- und Fortsetzungskrieg Mannerheims Hauptquartier. Das Stadtwappen schmücken heute zwei gekreuzte Marschallstäbe. Der Friedhof in Hietaniemi (Helsinki) ist der zentrale Erinnerungsort für die finnischen Gefallenen. Bereits 1939 wurden dort in einem speziellen Hel-

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denbereich ,,sankari-alue“ Gefallene des Winterkrieges begraben. 1940 und im Fortsetzungskrieg 1941 kamen weitere Gefallene hinzu. Insgesamt liegen dort 3.159 finnische und 121 deutsche Soldaten. Dieser Teil des Friedhofs wurde schließlich als Heldenfriedhof von Arvo Muroma geplant und nach dessen Tod von Matti Siitonen angelegt. In Hietaniemi befindet sich auch der 1833 errichtete Friedhof der Suomen Kaartin hautausmaa, heute Kaartin hautausmaa. Nach Schließung der ,,Garde-Gemeinde“ 1914 wurden dort auch einige Jäger beerdigt. Seit 1948 gibt es regelmäßig am Weihnachtsabend eine Ehrenwache am Heldenfriedhof. 1954 wurde ein großes Kreuz, das ,,sankariristi“ (Heldenkreuz) von Wäinö Aaltonen in unmittelbarer Nähe errichtet. Hier findet seitdem die Ehrenwache statt. Ähnliche Wachen finden sich an Weihnachten auf den Heldenfriedhöfen im ganzen Land. In einigen Verbänden ist auch ein Weihnachtsmarsch (Joulumarssi) zu Ehren der im Krieg Gefallenen üblich, seit 1970 beispielsweise in der Nyland-Brigade, den traditionellen ,,finnischen marines“. Die Ehrenwachen bzw. Ehrenmärsche an Heiligabend entsprechen dem finnischen Brauch, an diesem Tag die Verstorbenen auf den Friedhöfen zu besuchen. Nicht nur der Friedhof von Hietaniemi verwandelt sich dann in ein eindrucksvolles Lichtermeer. Am 29. Mai 2006, 50 Jahre nach dem ersten finnischen Einsatz von Friedenstruppen, am ,,UN-International Peacekeepers Day“, wurde auf dem Heldenkreuzplatz (Sankariristi aukio) ein Gedenkstein für die 45 Finnen errichtet, die in den ersten fünfzig Jahren im Rahmen der UN-Friedenstruppen gestorben sind. Der offizielle Name des Denkmals lautet ,,Denkmal für die in Operationen verstorbenen Peacekeeper“.27 Das Denkmal schließt die 31 im UN-Rahmen durch Krankheiten oder Verkehrsunfälle gestorbenen finnischen UN-Soldaten ebenso ein wie die 14 im Einsatz gefallenen UN-Soldaten.28 Das Werk von Matti Peltokangas besteht aus einem Stein und einer Urne. Während der Stein für Finnentum, Sicherheit und Stabilität stehen soll, symbolisiert die Urne nach Aussage des Künstlers Introspektion. Der Gedenkstein ist als Reverenz an Staat und Parlament aus demselben Stein, wie das Parlamentsgebäude, um daran zu erinnern, dass die UN-Friedenstruppen im Dienste für Staat und Nation gefallen sind.29 Die Inschrift, die auf Finnisch, Schwedisch und Englisch aufgebracht ist, lautet: ,,In honour of the Finnish Peacekeepers who lost their lives in the service of peace“.

27 28 29

Finn. Operatioissa menehtyneiden rauhanturvaajien muistomerkki. Kati Marjasuo, Rauhanturvaajina kuolleet saivat muistomerkin, in: Helsingin sanomat, 29.5.2006. Homepage: Suomalainen rauhanturvaminen 50 vuotta (50 Jahre finnisches Peacekeeping), http://tietokannat.mil.fi/rt50v/content.php?language=fi_FI&page_id=8&active_ mother=3 (12.9.2009).

Zwischen Adler und Bär Militärische Tradition und Erinnerungskultur

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Abbildung 3: Denkmal für die in Operationen verstorbenen ,,Peacekeeper“ am Heldenkreuzplatz des Friedhofs Helsinki-Hietaniemi (Foto: Agilolf Kesselring).

Seit der Einweihung des Denkmals starben der UN-Militärbeobachter Kapitänleutnant Jarno Mäkinen im Juli 2006 im Libanon und Unteroffizier der Grenzwacht Petri Tapio Immonen im Mai 2007 in Afghanistan. Immonen, der durch einen Bombenanschlag (ferngezündete Artilleriegranate) umkam, ist damit der erste finnische Gefallene einer NATO-geführten Operation. Militärpfarrer begleiteten von Anfang an die Auslandseinsätze im Rahmen der Vereinten Nationen wie der NATO. Bei der Einweihung des PeacekeeperDenkmals predigte der finnische Militärpropst selbstverständlich in ordensgeschmückter Uniform. Die Militärkirche regelt auch im Einvernehmen mit den Angehörigen die praktischen Seiten eines Begräbnisses im Einsatz gefallener Soldaten. Für gewöhnlich wird der Sarg mit dem Leichnam, mit einer finnischen Fahne bedeckt, in die Heimat geflogen, von den ehemaligen Kameraden am Flughafen abgeholt und nach Erledigung der Formalitäten an den von den Angehörigen bestimmten Begräbnisort – in der Regel die heimatliche Kirchengemeinde – überführt. Gedenkveranstaltungen finden meist sowohl am Einsatzort als auch auf dem Heimatflughafen und im Verband des Gefallenen statt. Die Angehörigen entscheiden, inwieweit die Streitkräfte in die Begräbniszeremonie eingebunden werden. Oft halten Kameraden oder Vorgesetzte eine Grabrede, doch auch ein Begräbnis ohne militärische Beteiligung ist möglich, wenn die Familie das wünscht.30 Insgesamt stellt also ,,der letzte Weg zurück in die Heimat“ den praktischen Rahmen für das Abschiednehmen, die Ehrung und die Trauer dar. Höhepunkte auf diesem Weg bilden drei Trauerfeiern: Die erste bei den Kameraden im Einsatzland, die zweite am Heimatflughafen und die dritte am heimatlichen Friedhof. So wurde der in Afghanistan gefallene Unteroffizier unmittelbar nach 30

Telefongespräch des Verfassers mit dem Büro des Militärprobstes am 23.10.2007 und 4.8.2008.

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Agilolf Kesselring

dessen Tod in einem provisorischen mit einer finnischen Fahne bedeckten Sarg auf der Ladefläche eines Militärlastkraftwagens vom Ort des Anschlags in den Stützpunkt gebracht. Fotos zeigen eine Ehrenwache von vier Kameraden – entsprechend der Gefahrenlage im Kampfanzug mit Helm und Splitterschutzweste – stehend neben dem Sarg. Auch, oder gerade weil Gefahr droht, war dieses ,,letzte Geleit“ ins Feldlager von den Kameraden so gewünscht. Im sicheren Stützpunkt wurde dann eine Feldtrauerfeier veranstaltet. Da der finnische Militärpfarrer aufgrund der weiten Entfernungen erst zwei Tage später vor Ort sein konnte, vollzogen zwei norwegische Militärpfarrer die Zeremonie. Die finnische Fahne wurde bei dieser Zeremonie auf Halbmast gesetzt. Auf seiner ,,letzten Reise in die Heimat“ wurde der Verstorbene von einem finnischen Militärpropst sowie zwei Kameraden aus seiner Einheit in Afghanistan begleitet.31 Knapp eine Woche später konnte der Leichnam des Gefallenen mit militärischen Ehren am Flughafen Helsinki-Vantaa entgegengenommen werden: Am Flugplatz hielt der Feldpropst eine zwanzigminütige Trauerfeier ab. Bei dieser war neben den Angehörigen, Freunden und Kameraden des Verstorbenen auch Innenministerin Anne Holmlund (die Grenzwacht untersteht dem Innenministerium) sowie hohe Vertreter der Armee und der Grenzwacht zugegen. Sechs Kameraden aus dem finnischen Heimatstützpunkt trugen den Sarg zu den Klängen des Narvamarsches über einen ausgebreiteten roten Teppich. Es folgten eine Abordnung der Militärkapelle der Garde sowie ein Ehrenzug mit der Truppenfahne des Grenzwachtverbandes.32 Anschließend wurde der Gefallene in seinen Heimatort Sippola verbracht, um dort mit militärischen Ehren beigesetzt zu werden. Verteidigungsminister Jyri Häkämies legte nach den nächsten Angehörigen einen Kranz am Grab nieder. Etwa 300 Menschen waren bei der Trauerfeier anwesend. Gespielt wurde auch hier der Narvamarsch, ein Stück, das traditionell bei Soldatenbegräbnissen erklingt. Der Marsch war 1818 zu Ehren von König Karl XII. an dessen 100. Todestag komponiert worden. Am Grab gaben sechs Grenzsoldaten drei Salutschüsse ab. Die Staatspräsidentin, der Parlamentspräsident, der Verteidigungs- und die Innenministerin ließen Kondolenzadressen übermitteln. Im Parlament und in der Regierung wurden Schweigeminuten abgehalten.33 31

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33

Homepage: Ilta-Sanomat (Abendzeitung), Artikel: Afganistanin kaatunut Suomeen tiistaina (In Afghanistan Gefallener am Dienstag zurück in Finnland) vom 25.5.2007, http://www.iltasanomat.fi/uutiset/kotimaa/uutinen.asp?id=1374654&ref=lk_hs_ko_1 (27.4.2010). Homepage: Ilta-Sanomat (Abendzeitung), Artikel: Rauhanturvaaja otettiin vastaan sotilallisin kunnianosoituksin (Peacekeeper wurde mit militärischen Ehrenbezeugungen empfangen) vom 31.5.2007, http://www.iltasanomat.fi/uutiset/kotimaa/ uutinen.asp?id=1376700&ref=lk_is_ko_1 (27.4.2010). Homepage: Ilta-Sanomat (Abendzeitung), Artikel: Suomalainen rauhanturvaaja kuoli pommi-iskussa Afganistanissa (Finnischer Peacekeeper starb bei Bombenexplosion in Afgha-

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Der Tod eines einzelnen Soldaten im Rahmen einer NATO-Operation in Afghanistan lässt die Öffentlichkeit noch nicht nach einem gesonderten Denkmal rufen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob zukünftig der Soldaten, die unter NATO-Kommando fallen, an dem Erinnerungsort der UN-Friedenstruppen gedacht werden wird. Während Mäkinens eindeutig die formellen Voraussetzungen dafür erfüllt, dass ihrer am UN-Denkmal in Hietaniemi gedacht werden kann, ist dies für Immonen zumindest der Theorie nach fraglich. Das Denkmal wurde mit Geld der UN Association of Finland, der Veteranenvereinigung der finnischen UN-Kompanie34 sowie des Finnischen Verbandes der Peacekeeper35 initiiert und finanziert und ist eindeutig für die im UN-Einsatz verstorbenen Soldaten konzipiert. Bei der Einweihung waren die finnischen UN-Veteranen im schwarzen Anzug mit Orden gekleidet, dazu trugen sie das blaue UN-Barett und die UN-blaue Krawatte. Sollten in der Zukunft weitere finnische Soldaten im NATO-Einsatz fallen, so wäre entweder die Errichtung eines weiteren Denkmals am Heldenkreuzplatz denkbar – welches dort die Erinnerung an Mannerheim und die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges mit dem Gedenken an die Gefallenen der UN-Friedenseinsätze verbände – oder eine ,,Umnutzung“ des UNDenkmals, welches ja offiziell ein Peacekeeper-Denkmal ist, wenngleich es sich im Namen nicht ausdrücklich auf die Vereinten Nationen bezieht. Der Finnische Verband der Friedenstruppen steht nach eigenem Verständnis finnischen Soldaten offen, die in Friedenstruppen im Rahmen der UN, der NATO, der EU und der OSZE gedient haben.36 Die Vereinszeitschrift ,,Sinibaretti“ (blaues Barett) wurde mit der ersten Ausgabe 2009 in ,,Rauhanturvaaja“ (Peacekeeper) umbenannt. Damit entfällt der ausschließliche UN-Bezug früherer Jahre. Gewissermaßen ist dies eine Abkehr von der Tradition aus Zeiten des Kalten Krieges, während dessen militärische Auslandseinsätze ausschließlich im Kontext der UN stattfanden, um die Neutralität Finnlands zu unterstreichen. Eine ähnliche Entwicklung wäre auch in Bezug auf das Peacekeeper-Denkmal möglich. Schließlich sind nach traditionellem finnischem Verständnis alle verstorbenen finnischen Soldaten gleichermaßen Helden, da diese für den Erhalt der staatlichen Unabhängigkeit Finnlands stehen. Die kollektive Erinnerung an gefallene Soldaten ist stets politisch aufgeladenen. Unmittelbar nach dem Tod des Unteroffiziers in Afghanistan forderten die kleineren finnischen Oppositionsparteien, wie etwa die linke Allianz, die Grünen und die rechtsgerichteten ,,Wahren Finnen“ (,,Perussuoma-

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nistan) vom 23.5.2007, http://www.iltasanomat.fi/uutiset/kotimaa/uutinen.asp?id=1372457 (7.4.2010), Artikel: Haloselta surunvalittelut kaatuneen omaisille (Beileidsbekundung von Halonen für die Angehörigen des Gefallenen) vom 23.5.2007, http://www.iltasanomat.fi/ uutiset/kotimaa/uutinen.asp?id=1372473 (7.4.2010). Finn. YK:n Suomen komppanian veteraanit. Finn. Suomen rauhanturvaajanliitto Ry. Homepage: Rauhanturvaajaliitto, http://www.rauhanturvaajaliitto.fi/esittely (12.9.2009).

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laiset“) die Regierung auf, zu prüfen, ob der Einsatz in Afghanistan fortgeführt werden solle. Der Verband der finnischen Peacekeeper wehrte sich 2009 vehement gegen die Einlassung zweier Nachwuchswissenschaftler, dass Finnland in Afghanistan ,,Krieg führe“ und nicht ,,Frieden schaffe“. Zukünftige Bewertungen des Einsatzes finnischer Truppen unter NATO-Kommando im Rahmen der Partnership for Peace werden sich auf die Erinnerungskultur in Finnland auswirken.

Frankreich Mechtild Gilzmer

,,A nos morts‘‘ Wandlungen im Totenkult vom 19. Jahrhundert bis heute ,,A nos morts“, so lautet der Titel einer Hip-Hop-Performance, die mit Songs, poetischen Texten, Break-Dance und einer beeindruckenden Choreographie vor historischen Fotos und Filmausschnitten an die Soldaten aus den französischen Kolonien erinnert, die 1914–18 an vorderster Front für Frankreich gekämpft haben und die im Zweiten Weltkrieg mithalfen, Europa vom Faschismus zu befreien. Das multimediale Projekt, das unter dem Titel ,,Die vergessenen Befreier“ im Herbst 2009 auch in Deutschland zur Aufführung kam, geht auf die Initiative des Hip-Hop-Musikers Yan Gilg zurück, der damit den gefallenen Soldaten ein ungewöhnliches künstlerisches Denkmal setzt. ,,Unsere Toten“, das sind in diesem Fall Männer und Frauen aus den ehemaligen französischen Kolonien, mit denen sich der Musiker Gilg und die Mehrzahl der beteiligten Künstler aufgrund ihres Migrationshintergrunds in besonderer Weise verbunden fühlen. Insofern greift der Titel ,,A nos morts“ die übliche Formel, mit der die Franzosen auf ihren Denkmälern an ihre toten Soldaten erinnern subversiv-kritisch auf, denn in diesem Fall sind gerade nicht sie gemeint, sondern die ,,Anderen“, diejenigen, die im offiziellen Gedenken nicht oder nur selten vorkommen. Angeregt wurde der Initiator des Projekts durch den Film ,,Indigènes“ des aus Algerien stammenden Regisseurs Rachid Bouchareb, dessen großer Erfolg in Frankreich die Bedeutung des Gefallenengedenkens in der kritischen Auseinandersetzung mit der französischen Kolonialpolitik zeigt. Im Zusammenhang mit einer gescheiterten Migrationspolitik erhalten die Rückbesinnung und der Verweis auf den Beitrag der Kolonialsoldaten im Krieg an der Seite Frankreichs eine wichtige Funktion der Identitätsstiftung für die zweite und dritte Generation der Einwanderer. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass 2006, also zeitgleich mit dem spektakulären Erfolg von Rachid Boucharebs Film, nach langjährigen Verhandlungen endlich die Pensionen der noch lebenden Veteranen aus den ehemaligen Kolonien denen ihrer französischen Kollegen angeglichen wurden. Von 350.000 ,,Eingeborenen“ in den französischen Truppen bei den Alliierten, die den Zweiten Weltkrieg überlebten, sind heute noch 84.000 am Leben. Vorher erhielten sie im Durchschnitt ein Drittel der Bezüge ihrer ,,herkunftsfranzösischen“ Mitkämpfer. Diese historische Ungerechtigkeit

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war seit langem bekannt; 2001 verurteilte der Oberste Gerichtshof deswegen sogar die Regierung. Die Bezüge waren unmittelbar nach der Unabhängigkeit Ende der fünfziger Jahre eingefroren und unter Hinweis auf die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten seither nicht erhöht worden. Dass es nun schließlich zu einer finanziellen Gleichbehandlung und Gleichstellung aller Veteranen unabhängig von ihrem Wohnort kam, wird in den französischen Medien mitunter auch als direkte Folge und Ergebnis des unmittelbar die Emotionen ansprechenden Spielfilms von Bouchareb gewertet. So wird gerne kolportiert, der Staatspräsident Jacques Chirac sei durch den Film dermaßen beeindruckt und betroffen gewesen, dass er sich persönlich für eine Erhöhung der Bezüge eingesetzt habe. Doch in Wirklichkeit war der Beschluss schon seit einiger Zeit durch den amtierenden Veteranenminister Hamlaoui Mekachera vorbereitet worden. Dieses Beispiel veranschaulicht einmal mehr, dass sich die Art und Weise wandelt, wie eine Gesellschaft, ein ,,politisches Gemeinwesen“ der Opfer vergangener Kriege gedenkt und dass diese Form des Gedenkens Ausdruck einer bestimmten Wahrnehmung und Deutung der Vergangenheit, aber auch der Gegenwart ist. Der Platz, den Kolonialsoldaten beispielsweise im französischen Gefallenengedenken einnehmen, hat seit 1918 verschiedene Phasen durchlaufen, an denen sich wie an einem Seismographen das Verhältnis Frankreichs zu seinen Kolonien ebenso wie das eigene Selbstverständnis als Nation ablesen lässt. Es war zum Beispiel keineswegs so, dass die Kolonialsoldaten in der Vergangenheit keinen Platz im nationalen Gedenken gefunden hätten, denn als Teil des französischen Empire waren sie Ausdruck der nationalen Größe Frankreichs und seiner Bedeutung als Weltmacht, und ihre Teilnahme am Krieg zeugte davon. In Entschädigungsfragen waren sie seit 1919 ihren französischen Mitstreitern gleichgestellt. Ebenfalls im Jahr 1919 war im Wald von Vincennes ein eigenes Denkmal im Gedenken an die Kolonialtruppen eingeweiht worden. Bereits 1914 wurden genaue Vorschriften für die Bestattung muslimischer Soldaten erlassen, die die Ausrichtung der Gräber nach Mekka, die Ausstattung der Gräber mit Koranversen und das Anbringen von Halbmond und Stern an der Stelle von Kreuzen vorsehen. Diese Regeln fanden ab 1920 auf den großen Soldatenfriedhöfen Anwendung. Insgesamt wurden jedoch zwischen 1918 und 1950 staatlicherseits nur wenige spezifische Denkmäler für die Kolonialsoldaten errichtet. Eine Wende setzte nach dem Zweiten Weltkrieg insofern ein, als das Verhältnis Frankreichs zu den Kolonien 1944 auf der Konferenz von Brazzaville neu definiert wurde. Hintergrund der Konferenz war der Versuch de Gaulles, die afrikanischen Kolonien stärker in den Kampf um die Befreiung Frankreichs einzubinden. Die grundlegende Neuordnung beinhaltete die Umwandlung der Kolonien in den Zusammenhalt einer ,,Französischen Union“. Diese Konzeption floss denn auch ganz folgerichtig und konsequent in die staatliche Denkmalerrichtung und den Gefallenenkult nach dem Krieg ein. Bereits im November

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1945 hatte de Gaulle den Grundstein für ein nationales Denkmal am MontValérien in der Nähe von Paris gelegt. Dort sollte laut Ministerratsbeschluss der provisorischen Regierung ein nationales Denkmal für den Zweiten Weltkrieg errichtet werden. Am 10. November wurden die sterblichen Überreste von insgesamt 15 Opfern des Zweiten Weltkriegs (darunter auch zwei Frauen) zum Mont-Valérien gebracht, wo man sie in einer provisorischen Krypta bestattete. Drei der insgesamt 15 ausgewählten Opfer stammten aus den Kolonien, zwei weitere der aufgebahrten Soldaten waren bei Kämpfen in den Kolonien gefallen, so dass ein Drittel der als ,,repräsentativ“ angesehenen Opfer am Mont-Valérien das koloniale Frankreich symbolisiert. Doch die Idee der ,,Union Française“, einer übernationalen Verbundenheit von Kolonien und Mutterland, musste langfristig scheitern, und dies spiegelten auch die Denkmalerrichtung und das Totengedenken wider. So kamen beispielsweise spezifische Erfahrungen der Kolonialsoldaten – die an ihnen verübten rassistisch begründeten Massaker durch deutsche Soldaten im Rahmen des deutschen Vormarschs 1940 – im Gedenken kaum vor.1 Stattdessen erlebte Frankreich in den sechziger Jahren und nicht zufällig zeitgleich zur Dekolonialisierung eine Hochphase nationaler Denkmalerrichtung, bei der der Akzent auf der Heroisierung und Mystifizierung eines patriotisch motivierten französischen Widerstands lag. Erst in den letzten Jahren sind die Kolonialsoldaten als spezifische Akteure innerhalb der französischen Armee und der beiden Weltkriege auch von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen und erinnerungspolitisch genutzt worden. Für die Nostalgiker aus den früheren Kolonien verkörpern sie die enge Bindung zwischen Afrika und Frankreich, für ihre Nachkommen bieten sie die Möglichkeit einer positiven Deutung der eigenen Geschichte und Herkunft und für die Menschenrechtsaktivisten eine neue transnationale Projektionsfläche. Dabei wird auch deutlich, dass die Erinnerung an den Krieg und an die Gefallenen inzwischen von verschiedenen Akteuren und Medien (Zivilgesellschaft, Film) getragen wird und sich keineswegs einheitlich gestaltet. Diese Aufsplitterung in Opfergruppen und partikulare Gedenkinteressen entspricht der Auflösung eines nur gedachten einheitlichen politischen Gemeinwesens, das in der Realität jedoch immer über die Ausgrenzung eines ,,Anderen“ funktionierte. An die Stelle der Nation, die sich im Gefallenengedenken spiegelte und ihrer selbst vergewisserte, tritt nun eine Vielfalt von Interessengruppen, denen es um Anerkennung und Wiedergutmachung geht. Im Unterschied dazu zielte der politische Totenkult, dessen Entwicklung und Transformation ich nun im Folgenden skizzieren werde, auf die symbolische Herstellung nationaler Einheit. 1

Vgl. dazu Raffael Scheck, Hitlers African Victims. The German Army Massacres of Black French Soldiers in 1940, Cambridge 2006. Des Weiteren auch: Armelle Mabon, Prisonniers de guerre indigènes, Paris 2010.

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Die Entwicklung des Gefallenenkults in Frankreich bis 1944 Die Ursprünge des republikanisch-patriotischen Totenkults

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde erstmals eine gesetzliche Regelung für die Errichtung von Denkmälern erlassen.2 Zu den zahlreichen Maßnahmen, mit denen der im Juli 1815 an die Macht gekommene Ludwig XVIII. die Abkehr von revolutionär-demokratischen Prinzipien vollzog, gehörte auch die Reglementierung des Totengedenkens und der öffentlichen Ehrungen. Den äußeren Anlass boten die auf dezentraler Ebene von lokalen militärischen und administrativen Körperschaften eigenmächtig initiierten Ehrungen und Denkmalerrichtungen. Die Mobilisierung einer großen Zahl von Männern, die ihr Leben in den Revolutionsheeren für das Vaterland statt für den König opferten, bildete den Beginn des modernen Totenkults. Indem Ludwig XVIII. die alleinige Entscheidungsgewalt über die Ehrung der Toten für sich beanspruchte, meldete sich die – wenn auch konstitutionelle – Monarchie noch einmal zu Wort und bestimmte: ,,Le droit de décerner des récompenses publiques est un des droits inhérents à notre couronne [ … ] Dans la monarchie, toutes les grâces doivent émaner du Souverain: et c’est à nous seul qu’il appartient d’apprécier les services rendus à l’Etat et d’assigner des récompenses à ceux que nous jugerons en être dignes. [ … ] Article 1er. A l’avenir, aucun don, aucun hommage [ … ] ne pourront être votés, offerts ou décernés [ … ] sans notre autorisation préalable.“3 Doch der Monarch konnte die neuzeitliche Wende zur transzendenten Sinnleistung des Todes, zum innerweltlichen Anspruch der Todesdarstellungen nicht mehr aufhalten. Auch wenn dieser Erlass bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts Gültigkeit hatte, so entwickelte sich die Ehrung der gefallenen Krieger in der Praxis im 19. Jahrhundert zu einer republikanisch patriotischen Inszenierung. Jenseits aller Unterschiede zwischen den einzelnen Denkmälern bestand die demokratische Grundbestimmung, die Botschaft des Denkmals darin, dass der Geehrte für das Volk, die Nation, das Vaterland gefallen war. Eine weitere strukturelle Gemeinsamkeit des politischen Totenkults besteht in der Säkularisierung. Die Jenseitshoffnung wird in eine irdische Zukunftshoffnung transponiert. Der Tod jedes Einzelnen soll im Gedächtnis bleiben und wird nicht in der Hoffnung auf das Jenseits relativiert, sondern durch das Diesseits legitimiert. 2 3

,,Ordonnance du 10 juillet 1816“, Gesetzliche Grundlagen für die Denkmalerrichtung. Lose Blattsammlung im Archiv des Verteidigungsministeriums, Paris, ohne Signatur. Ebd.

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Nach dem Ersten Weltkrieg: Ein ganzes Volk gedenkt seiner Toten

Mit dem Ersten Weltkrieg vollzog sich ein Wandel in der Denkmalpolitik. Die Vielzahl der Opfer, ihre Herkunft aus allen Regionen Frankreichs und das Ausmaß der Trauer der Hinterbliebenen ließen es sinnvoll erscheinen, das Gedenken zu dezentralisieren. So wurde die Entscheidung über die Errichtung von Denkmälern im Juli 1922 in Abweichung der Regelung von 1816 auf die regionale Ebene verlegt und die Entscheidungsgewalt über diejenigen Denkmäler, die außerhalb der Militärfriedhöfe errichtet wurden, dem Präfekten übertragen. Verschiedene Gesetze hatten die Ehrung der Gefallenen des Ersten Weltkriegs bereits ab 1915 genauer festgelegt und die Bezeichnung ,,Mort pour la France“ eingeführt und definiert. Mit weiteren gesetzlichen Regelungen vom 25. Oktober 1919 und 15. Juli 1920 wurden die Gemeinden aufgefordert, die Betroffenen ihrer Gemeinden namentlich zu ehren und sie auf den Kriegerdenkmälern unter dem neu eingeführten Begriff ,,Mort pour la France“ aufzulisten. Außerdem war darin die finanzielle Unterstützung durch den Staat festgelegt worden. Die massenhafte Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben zeugt von der Tragweite des nationalen Traumas, doch diese ,,Denkmalfrenesie“ erwies sich als problematisch. Man befürchtete, dass die ehemaligen Schlachtfelder mit Denkmälern übersät würden, sodass kein Platz mehr für zentrale, der Bedeutung der Ereignisse entsprechende (nationale) Denkmäler bliebe: Um eine Zersplitterung der Denkmallandschaft zu vermeiden, wurde deshalb einige Monate später – im November 1922 – präzisiert, dass die Befugnisse des Präfekten auf die in den Gemeinden zu errichtenden Denkmalsprojekte begrenzt seien. Außerhalb der Gemeinden lag die Entscheidungsgewalt weiterhin in zentraler Hand. Das hieß, dass alle Denkmäler, die sich außerhalb der Gemeinden befanden – vor allem jene, die an den Kriegsschauplätzen selbst errichtet werden sollten –, der Zustimmung des Staatspräsidenten bedurften. Des Weiteren wurde unterschieden zwischen Denkmälern auf den Militärfriedhöfen (für die das neu gegründete Veteranenministerium zuständig war) und Denkmälern, die außerhalb solcher Friedhöfe zur Erinnerung an herausragende Kampfhandlungen oder Kriegsereignisse errichtet werden sollten. Für diese – ebenso wie für Denkmäler, die den alliierten Mitstreitern gewidmet sind – war das Kriegsministerium zuständig. Die eingereichten Projekte wurden unter ästhetischen Gesichtspunkten von der im Erziehungsministerium angesiedelten ,,Commission des Monuments Historiques, Section des Vestiges et Souvenir de Guerre“ geprüft. Hervorgehoben sei an dieser Stelle die exklusive Zuständigkeit des Veteranenministeriums für die Militärfriedhöfe und die nationalen Kriegsgräberstätten. Unter Vichy wurde die Rolle des Staates als des alleinigen Entscheidungsträgers in der Denkmalpolitik wieder verstärkt und die Bewilligung eines Denkmals an eine Begutachtung durch den im Erziehungsministerium angesiedelten Staatssekretär für den Bereich der Schönen Künste gebunden. Außerdem

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benötigte jedes Kriegerdenkmal die Zustimmung des Innenministeriums in Abstimmung mit den zuständigen Abteilungen des Kriegsministeriums. Bei Nichteinhaltung drohte der Abriss des Denkmals auf Anordnung des Präfekten.

Denkmäler in Frankreich nach 1944 und der Prozess ihrer Errichtung4 Eine komplexe Denkmallandschaft entsteht in den ersten Nachkriegsjahren

Bei einer ersten Betrachtung der verschiedenen nach 1945 in Frankreich errichteten Denkmäler, Gedenktafeln und Gedenkstätten fallen zunächst Quantität, Vielfalt und Komplexität des Gedenkens auf. Insgesamt hatte der Zweite Weltkrieg in Frankreich zwar weniger Opfer als der Erste gefordert, doch war er in anderer Hinsicht ,,umfassender“. Er hatte viele Gesichter, und die Denkmäler spiegeln dies wider. Deshalb brachte das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs eine ganz eigene, sehr komplexe Denkmallandschaft hervor. Nach der Befreiung Frankreichs begannen die Hinterbliebenen unverzüglich, Initiativen für die würdige Erinnerung an die Opfer zu ergreifen. Diese reichten von der spontanen Errichtung einer Gedenktafel über das Aufstellen eines Gedenksteins bis hin zu regional bedeutenden Projekten, die auf eine möglichst umfassende Erinnerung zielten. Dabei spielten sowohl die Familien als auch die Gemeinden, vor allem aber die in zahlreichen Verbänden organisierten ehemaligen Widerstandskämpfer eine zentrale Rolle. In der unmittelbaren Nachkriegszeit herrschte zunächst Verwirrung im Hinblick auf die nun gültige und verbindliche Rechtsnorm. Dies erklärt die Fülle von Denkmalprojekten, die spontan errichtet wurden, ohne ein offizielles Genehmigungsverfahren durchlaufen zu haben. Am 16. Januar 1947 wurde schließlich ein Gesetz verabschiedet, das die Kompetenzen klar regelte: Der Präfekt erhielt das Recht, über die Errichtung von Denkmälern in seinem Departement zu entscheiden, allerdings mit der – nicht unwichtigen – Einschränkung, dass das Denkmal keine Skulptur beinhalten und nicht mehr als 500.000 Francs kosten dürfe. Da die Mehrzahl der Entwürfe jedoch in irgendeiner Form skulptural waren – dazu gehörte ja schon ein lothringisches Kreuz – fielen sie automatisch in die Kategorie der von Paris zu bewilligenden Denkmäler. Das Gesetz von 1947 stellte den Versuch dar, die chaotisch und anarchistisch angelaufene Denkmalerrichtung der unmittelbaren Nachkriegszeit in geregelte Bahnen zu lenken. 4

Eine ausführliche Darstellung findet sich in: Mechtild Gilzmer, Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944, München 2007.

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Doch insgesamt ist zu sagen, dass die zum Zweck der Kontrolle der Denkmalprojekte eingerichtete Kommission ihr Ziel nicht erreicht hat. In der Vielzahl der in dieser Zeit errichteten steinernen Zeugnisse für die Toten spiegelt sich eine facettenreiche, teilweise widersprüchliche Sicht auf die Geschichte, die von den Akteuren und Denkmalbetreibern durchaus unterschiedlich gedeutet wurde. Dies trifft vor allem für die zahlreichen privaten, zivilgesellschaftlichen und dezentralen Initiativen zu. Immerhin sind drei Viertel aller Denkmäler bereits vor 1950 entstanden; die ikonographische Prägung der Denkmallandschaft fand also in den ersten Jahren nach dem Krieg statt.

,,Mort pour la France‘‘ oder: Wer ist denkmalfähig?

Sehr schnell tauchte in der Praxis der Denkmalerrichtung ein zentrales Problem auf. Angesichts der Vielzahl und der Verschiedenartigkeit der Opfer stellte sich die Frage, wer das Recht hat, auf dem Denkmal zu erscheinen und wer nicht. Der Kampf um die Denkmalfähigkeit eines Verstorbenen wird den Prozess der Errichtung und auch noch die Gedenkfeierlichkeiten aus Anlass der Jahrestage in hohem Maße bestimmen und prägen. Zunächst wurde die Frage aufgeworfen, wem die Bezeichnung ,,Mort pour la France“ zustehe und ob alle die Personen, denen sie zugebilligt worden war, auch auf dem Denkmal erscheinen dürften. Grundsätzlich lag die Entscheidung darüber, ob ein Verstorbener die Bezeichnung ,,Mort pour la France“ tragen durfte, beim Veteranenministerium. Das Problem war unmittelbar nach dem Krieg von den betroffenen Behörden schon erkannt und durch Dekret geregelt worden. Mit Beschluss vom 2. November 1945 hatte die provisorische Regierung das Recht auf die Bezeichnung ,,Mort pour la France“ auch auf zivile Opfer ausgedehnt.5 Damit waren in erster Linie zunächst die Widerstandskämpfer gemeint, die ja nicht unbedingt immer einen militärischen Status hatten und die nun auch mit dieser Ehrung auf den Kriegerdenkmälern erscheinen durften. Gleichzeitig wurde damit der Tatsache Rechnung getragen, dass die Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg in weitaus größerem Maß in die Kampfhandlungen einbezogen und Opfer geworden war. Doch in der Praxis stieß deren gleichwertige Ehrung auf hartnäckigen Widerstand vor allem der lokalen Veteranenverbände, die ihre Kriegerdenkmäler ausschließlich für soldatische Opfer reserviert sehen wollten. Vor allem in den Augen der überlebenden Soldaten bestand der heldenhafte und wahrhaft denkmalwürdige Tod einzig im patriotischen Opfer auf dem Schlachtfeld. Die Form der Erinnerung an die Verstorbenen ist daher uneinheitlich; sie spiegelt im Grun5

Archive des Verteidigungsministeriums, Gesetzliche Grundlagen: Journal officiel du 5 novembre 1945.

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de die ganze Komplexität der kriegerischen Auseinandersetzungen und der Entwicklung des geschichtlichen Bewusstseins wider.

Das Ende des dreißigjährigen deutsch-französischen Krieges (1914–1944)

Ein Blick auf die über das ganze Land verstreuten Denkmäler belegt, dass die Überlebenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur die Widerstandskämpfer, sondern auch andere Opfergruppen ehrten wie die Soldaten der regulären Armee, die Zwangsarbeiter des ,,Service du Travail Obligatoire“ (STO) oder die elsässischen Zwangsrekrutierten. In der Forschungsliteratur wurde bisher davon ausgegangen, dass das Gedenken an die in den kriegerischen Auseinandersetzungen von 1939/40 gefallenen Soldaten aus Scham für die peinliche Niederlage und die offenkundig gewordene Schwäche der Militärs verdrängt und stattdessen die Résistance in den Vordergrund gerückt worden sei, um von der Schmach abzulenken. Diese These findet sich ebenso wenig bestätigt wie die Vermutung, dass neue Denkmäler nur für die Résistance errichtet werden durften. Das belegt ein Blick in die Archivunterlagen der ,,Commission des Monuments Commémoratifs“ (CCMC). Daraus geht unter anderem hervor, dass ein Drittel aller Anträge zwischen 1947 und 1968 der Errichtung von klassischen Kriegerdenkmälern galt. Eine Durchsicht der Gesamtunterlagen der CCMC belegt, dass weitaus mehr ,,monuments aux morts“ beantragt und gebaut wurden als solche, die eindeutig und ausschließlich dem Widerstand gewidmet waren. Die meisten Initiativen galten neuen Denkmälern, die an die beiden Kriege erinnerten. Diese Denkmäler stehen in einem ,,Erinnerungsraum, der die Kontinuität der beiden Kriege ikonographisch betonte“.6 Das soldatische Opfer der beiden Kriege soll geehrt und Versäumtes nachgeholt werden. Die vorgeschlagenen Entwürfe fanden meistens die Zustimmung der mit der Bewilligung beauftragten staatlichen Kommission. Sie imitierten vertraute Modelle und wagten keine ästhetischen Experimente, sondern variierten die bekannten Vorbilder: den Sockel mit Obelisk oder Stein mit den typischen Motiven wie Eichenlaub, Palmwedel oder Soldatenkopf mit Helm. Das lothringische Kreuz über den Jahreszahlen der beiden Kriege markiert das siegreiche Ende des dreißigjährigen Krieges als Ergebnis des gaullistischen Widerstands. Das lothringische Kreuz, dessen Ursprünge ins Mittelalter und bis zu den Kreuzzügen zurückreichen, war bereits nach der Besetzung von 1871 als Sym6

Reinhart Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 324–43, hier S. 342.

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Abbildung 1: Kriegerdenkmal Évran/Côtes d’Armor, nach 1945 (Quelle: Archives Nationales, FK I 220).

bol des lothringischen Widerstands gegen die Deutschen benutzt worden. Im Juli 1940 trugen die Schiffe des Freien Frankreich dieses Zeichen – ein Kreuz mit zwei Querbalken – auf ihrem Bug. Das Lothringer Kreuz, das zunächst für die Bewegung des Freien Frankreich um de Gaulle stand, erweiterte nach und nach seine Bedeutung und wurde zum Symbol des Widerstands ganz allgemein. Indem also diese Symbole auf den Denkmälern auftauchten, wurde das Kriegerdenkmal um den Aspekt des Widerstands erweitert. Wir haben es dabei mit einer Mischung aus Kriegerdenkmal und Widerstandsdenkmal zu tun. Auf diesen Denkmälern ist dann oft nicht zu unterscheiden, wer als Soldat der französischen Armee in den Kampfhandlungen von 1940, wer als Widerstandskämpfer oder möglicherweise als Opfer von Repression gefallen ist. Diese ikonographische Variante findet sich bei vielen Denkmälern; sie war jedoch unter den mit der Denkmalerrichtung befassten Instanzen nicht unumstritten. Ein Blick auf die Vielzahl der Denkmäler, die in den Regionen Frankreichs in den ersten Jahren nach dem Krieg entstanden sind, widerlegt jedenfalls die Auffassung einer gezielten Trennung in die verschämte Ehrung der Soldaten einerseits und die heroisierende Ehrung der Widerstandskämpfer andererseits.

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Nationales Gedenken zwischen Résistance-Mythos und Opferdiskurs

Neben der bisher skizzierten Denkmalerrichtung auf Gemeindeebene fand auf nationaler Ebene ein Kampf um die politische Deutungshoheit der Vergangenheit statt, bei dem de Gaulle mit einer pompösen Inszenierung nationalen Gedenkens am 11. November 1945 am Mont-Valérien einen vorläufigen Sieg errang. Nach seinem Rücktritt im Januar 1946 wurde das Denkmalprojekt am Mont-Valérien jedoch ,,auf Eis gelegt“. In den folgenden Jahren gab es dann verschiedene andere Versuche, auf regionaler Ebene Denkmäler mit nationaler Bedeutung zu schaffen. Aufgrund der Spezifik der historischen Ereignisse, an die sie erinnerten, durch ihre Monumentalität oder aber durch geschickte ,,Vermarktungsstrategien“ konnten einige dieser Denkmäler überregionale Ausstrahlung und Bedeutung gewinnen: so zum Beispiel das Denkmal für eine der fünf großen Untergrundbewegungen (Maquis) am Mont Mouchet in der Auvergne oder das Denkmal für die im Zusammenhang mit Repressionsmaßnahmen nach Attentaten auf deutsche Soldaten erschossenen, meistenteils kommunistischen Geiseln am Ort ihrer Hinrichtung in Châteaubriant, unweit von Nantes. Von großer Bedeutung ist ebenfalls das in der Charente gelegene monumentale Denkmal bei Chasseneuil in Südwestfrankreich. An diesen Initiativen ebenso wie an der bereits konstatierten anarchistischen Errichtungspraxis der Gemeinden zeigt sich, dass die Gedächtnispolitik im Medium Denkmal in der Nachkriegszeit und der IV. Republik keineswegs so stringent und einheitlich war, wie dies noch immer vermutet wird, und dass neben den Gaullisten und Kommunisten (sprich: den Repräsentanten der Résistance) noch andere Akteure an der Überlieferung der Geschichte und der Entwicklung der Formen des Gedenkens mitwirkten. Zu diesem Ergebnis kommt auch Pieter Lagrou in seiner vergleichenden Studie zu ,,Erinnerungsmilieus“ in Frankreich, den Niederlanden und Belgien.7 Er zeigt, wie sich neben dem Heldendiskurs der Résistance ein nationaler Opferdiskurs entwickelte, der von der Gruppe der deportierten Widerstandskämpfer getragen wurde. Dass die Deportation in der Erinnerung der Nachkriegszeit – nach dem Rücktritt de Gaulles und dem Verlust der politischen Bedeutung der kommunistischen Partei 1947 – eine große Rolle gespielt hat, findet sich in der Denkmalerrichtung dieser Zeit bestätigt. In den fünfziger Jahren nämlich hat es zwei bedeutende Denkmalinitiativen mit nationalem Anspruch für die deportierten Widerstandskämpfer gegeben. Die Überlebenden, die den Lagern entronnen waren, fanden ihr Schicksal und das ihrer verstorbenen Leidensgenossen am Mont-Valérien nicht ausreichend gewürdigt. Außerdem bestand von ihrer Seite der Wunsch, die Singularität der Deportation durch ein 7

Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National recovery in Western Europe. 1945–1956, Cambridge 2000.

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eigenes, nationales Denkmal hervorzuheben. Auch wenn dies an keiner Stelle explizit gesagt wird, so ist doch zu vermuten, dass sich der Wunsch nach einer spezifischen, vom Staat getragenen, nationalen Würdigung dieser Opfer dadurch erklärt, dass der militärische Widerstand, das soldatische Opfer am Mont-Valérien so stark in den Vordergrund gestellt worden war. Unter den dort inhumierten Opfern war die Gruppe der deportierten Widerstandskämpfer unterrepräsentiert, denn die Umstände ihres Todes eigneten sich nicht zur Heroisierung.

Nationale Denkmäler für die Opfer der Deportation

Die Entstehung eines nationalen ,,Mémorial de la Déportation“ im Herzen von Paris geht auf die Initiative einer Gruppe von ehemaligen Widerstandskämpfern zurück, die sich 1952 zum ,,Réseau du Souvenir“ zusammengeschlossen hatten. Auf ihre Initiative geht auch die Einrichtung eines nationalen Gedenktages im Jahr 1954 zur Erinnerung an die Opfer der Deportation zurück. Um diesen aus der Spezifik der Verfolgung und Repression des Zweiten Weltkriegs hervorgegangenen ,,neuen“ Gedenktag begehen zu können, fehlte nun der entsprechende Ort, ein zentrales Denkmal. Nach dem Willen der Initiatoren sollte das Denkmal im historischen Kern von Paris, auf der Ile de la Cité, seinen Platz finden. Indem man das Denkmal an der Stelle errichtete, an der Paris seinen Ursprung hatte, wurde die Geschichte der Deportation mit der Nationalgeschichte Frankreichs aufs engste verknüpft und zu einem Teil von ihr. Für Pieter Lagrou bietet das ,,Mémorial de la Déportation“ denn auch eine stärkere Identifikationsmöglichkeit als das Denkmal am Mont-Valérien.8 Ebenfalls in den fünfziger Jahren wurde auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Lagers Struthof-Natzwiller im Elsaß − einem Ort, der das Opfer der Widerstandskämpfer und Deportierten in hohem Maß symbolisiert − ein nationales Denkmal gebaut. Dieses Lager war das einzige nationalsozialistische Lager auf französischem Boden; es existierte während der gesamten Besatzungszeit von 1940 bis 1944 und diente hauptsächlich – wenn auch nicht ausschließlich – der Internierung politischer Häftlinge aus allen europäischen Ländern. Es handelt sich also um den einzigen konkreten ,,Erinnerungsort“ des Schicksals der französischen Widerstandskämpfer auf französischem Boden und eignete sich besonders gut für das Gedenken. Beendet wurde der Bau der beiden nationalen Denkmäler zur Erinnerung an die Deportation, das ,,Mémorial de l‘Ile de la Cité“ und die Gedenkstätte ,,Struthof-Natzwiller“ Anfang der sechziger Jahre. De Gaulle, der in der Zwischenzeit 8

Ebd., S. 298: ,,The Mémorial de la Déportation, at the tip of the Ile de la Cité, lies in the very heart of Paris. The thousands of faceless names, symbolising a community of the suffering, are much more a rallying symbol than the sixteen heroes of Mont-Valérien.“

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wieder an der Macht war, nahm ihre Einweihung vor und konnte sie auf diese Weise für den gaullistischen Mythos vereinnahmen. Der Résistance-Mythos als Grundlage der V. Republik

De Gaulle war sich der Bedeutung symbolischer Handlungen zur Herstellung der nationalen Einheit und zur Legitimierung seiner Macht sehr bewusst. Die Abschaffung der IV. Republik im Oktober 1958 und die mit der neuen Verfassung der V. Republik verbundene Machtfülle des Präsidenten verlangten nach einer Begründung. Diese lieferte de Gaulle, indem er auf seine Verdienste als erster Widerstandskämpfer und Chef des Freien Frankreich (der Exilregierung France libre), verwies. Aus dem Gründungsmythos der Résistance bezog er seine politische Legitimation. Da er der französischen Gesellschaft damit die Möglichkeit zur inneren Aussöhnung bot und einen Weg wies, die nationale Einheit in dem von ihm geschaffenen Mythos eines widerständischen Frankreichs zu erlangen, konnte er sich ihrer Zustimmung sicher sein. Der Algerienkrieg und die damit einhergehende Erschütterung der französischen Gesellschaft stellten den nationalen Konsens in Frage; sie forderten die Rückbesinnung auf identifikatorische Mittel geradezu heraus. Es galt, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass Frankreich, das Land der Menschenrechte, einem anderen Staat die Unabhängigkeit verweigerte, die Rolle des brutalen Unterdrückers übernahm. Gleichzeitig provozierte die spürbar werdende Politik de Gaulles, der die Unabhängigkeit Algeriens zu akzeptieren begann, eine heftige Konfrontation zwischen den Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit und eine schwere Krise mit den Algerienfranzosen, den weißen französischen Siedlern in Algerien. Um seine Vorstellungen von einer Lösung des Algerienkonfliktes realisieren zu können, musste der General die öffentliche Meinung auf seine Seite bringen und auch um die Zustimmung der Militärs buhlen, mit denen er durch die ruhmreichen Tage der Befreiung Frankreichs in besonderer Weise verbunden war. Dafür boten sich die Erinnerung an die Résistance und ihre Glorifizierung im Medium Denkmal geradezu an. Und so erscheint es folgerichtig, dass de Gaulle nun sein Denkmalprojekt am MontValérien realisierte. Damit machte de Gaulle noch einmal seine Verdienste um Frankreich deutlich, was ihm die Legitimität für sein Handeln in Algerien gab. Mit einem Referendum wurde die Verfassung der V. Republik am 28. September 1958 bestätigt; de Gaulle wurde am 9. Januar 1959 zum Staatspräsidenten gewählt. Knapp sechs Wochen vorher bereits, am 24. November 1958, war auf seine Initiative hin ein Gesetz verabschiedet worden, dass die Einrichtung eines nationalen Widerstandsdenkmals am Mont-Valérien vorsah. Damit wurde der 1945 begonnene und zwischenzeitlich unterbrochene Prozess wieder in Gang gebracht.

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Abbildung 2: Nationales Denkmal am Mont Valérien, Hauts-de-Seine, 1960 (Foto: Mechthild Gilzmer).

Am westlich von Paris bei Suresnes gelegenen Mont-Valérien befand sich seit dem frühen Mittelalter eine religiöse Kultstätte, die ihren Namen vermutlich dem gallo-romanischen Großgrundbesitzer Valerianus verdankt. Während des Zweiten Weltkriegs erhielt der Ort traurige Berühmtheit, da die deutschen Besatzer ihn als Hinrichtungsstätte für Geiselerschießungen und die Hinrichtung von Widerstandskämpfern benutzten. Hier wurden in den Jahren 1940 bis 1944 rund 1000 Männer erschossen. Die exakte Zahl konnte bis heute nicht genau bestimmt werden. Wie in Châteaubriant kam es zu Massenexekutionen als Vergeltungsmaßnahmen für Anschläge auf deutsche Dienststellen und Soldaten. Die als barbarisch empfundenen Massenexekutionen von präventiv in Haft genommenen Kommunisten und die Prominenz mancher Opfer verliehen dem Ort eine starke symbolische Bedeutung, die durch seine religiöse Vergangenheit noch verstärkt wurde. Dies ließ ihn als Erinnerungsort besonders geeignet erscheinen. Indem de Gaulle die sakrale Aura des Ortes zur Inszenierung des gaullistischen Mythos nutzte, verhinderte er zudem, dass die Kommunisten, die hier die weitaus meisten Opfer zu beklagen hatten, sich den Ort symbolisch aneignen konnten. So ist es auch verständlich, dass die Errichtung eines nationalen Widerstandsdenkmals am Mont-Valérien für de Gaulle Priorität hatte. Eingeweiht wurde das Denkmal in einer eindrucksvollen Zeremonie am 18. Juni 1960. Mit dem nachträglich konstruierten Mémorial, dem Denkmal mit de-

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korierter Fassade, lothringischem Kreuz und Krypta, verdrängte de Gaulle die Erinnerung an das, was sich an diesem Ort tatsächlich ereignet hatte. Durch die Auswahl der Toten und die Verbindung zur Ewigen Flamme unter dem Arc de Triomphe – und damit zum unbekannten Soldaten des Ersten Weltkriegs – wurde die komplexe Situation des Zweiten Weltkriegs auf eine militärische Ebene mit dem Ersten Weltkrieg gestellt und auf die einfache Formel gebracht: ,,Wir haben gekämpft und wir haben gesiegt – wie im Ersten Weltkrieg“. De Gaulle hat der Résistance in diesen Jahren auch durch den Besuch der zahlreichen dezentralen Denkmäler in der Provinz seine Referenz erwiesen und dadurch den Mythos der Résistance immer wieder zu neuem Leben erweckt.

Alte und neue Mythen in der staatlichen Erinnerungspolitik Neuauflage des Résistance-Mythos unter François Mitterrand in den achtziger Jahren

Nach 1968 lag die Entscheidung über die Denkmäler im Rahmen der allgemeinen Dezentralisierungsbemühungen wieder in den Regionen und bei den Präfekten. Dass der Staat die Initiative für die Erinnerungspolitik somit anderen Akteuren überließ, ist ein Indiz dafür, dass die Vergangenheit nicht mehr in den Dienst der politischen Gegenwart gestellt wurde. Die Nachfolger de Gaulles, Georges Pompidou und Valérie Giscard d’Estaing schöpfen ihre politische Legitimität weniger aus dem Mythos der Résistance und der Vergangenheit als aus der Gegenwart und der allgemeinen wirtschaftlichen Prosperität. Das ändert sich in den achtziger Jahren. Das allgemein gewachsene gesellschaftliche Interesse am Paradigma der Erinnerung fand auch in der Denkmalpolitik seinen Niederschlag, die nach der Wahl Mitterrands 1981 neue Impulse erhielt. François Mitterrand hatte ein ausgeprägtes Gespür für publikumswirksame Auftritte, bei denen er historische Ereignisse und Personen zur Feier patriotischer Gefühle und der Größe der französischen Nation einsetzte und instrumentalisierte. Mit seinem bewussten Gang zum Panthéon und der Würdigung des Widerstandskämpfers Jean Moulin nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1981 stellte er sich ganz gezielt in eine Traditionslinie mit dem französischen Widerstand. Im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern macht er den Widerstand zu einem zentralen diskursiven Element seiner Amtszeit und knüpfte damit an die gaullistische Tradition an. So richtete er im Veteranenministerium eine besondere Abteilung für die Gedächtnispolitik ein, zu deren Aufgaben unter anderem auch die Inventarisierung aller nach dem

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Krieg entstandenen Denkmäler gehörte. Damit gab es zum ersten Mal seit de Gaulle wieder eine staatliche Denkmalpolitik. Vergessene Opfer finden Eingang in das nationale Gedenken

Aufgrund der intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Zeit der deutschen Besatzung rückten in den achtziger Jahren andere Opfergruppen ins Blickfeld. Die staatlichen Denkmalinitiativen für die einzelnen Opfergruppen trugen dieser Entwicklung Rechnung. So wurden beispielsweise Mitwirkung und Bedeutung der zahlreichen Ausländer im französischen Widerstand in den neunziger Jahren zunehmend thematisiert und mit einem eigenen nationalen Denkmal für die ,,Etrangers dans la Résistance“ gewürdigt, das François Mitterrand 1993 in Besançon einweihte.9 Im Dezember 1988 wurde in unmittelbarer Nähe zum Palais des Sports – und somit an exponierter Stelle – in Paris ein Denkmal für die emblematische Widerstandskämpferin Berty Albrecht errichtet, die 1943 in Gestapohaft umkam. Mit dieser Initiative rückte der Staat den Anteil der Frauen, ihren spezifischen Beitrag und ihre besondere Rolle im Widerstand ins öffentliche Bewusstsein. Andere staatliche Denkmalinitiativen in den neunziger Jahren sind im Zusammenhang mit den Feiern zum 50. Jahrestag der Befreiung und den Bemühungen um eine angemessene und herausragende Würdigung der Opfer zu sehen, beispielsweise die Errichtung eines Denkmals 1994 in Vassieux-en-Vercors in Erinnerung an die zahlreichen zivilen Opfer, die bei den Kämpfen um den berühmten Maquis ums Leben kamen. Die Shoah rückt ins Zentrum der nationalen Gedenkpolitik

Mit der Errichtung eines nationalen Denkmals für die deportierten und ermordeten Juden erhielt schließlich auch die Shoah eine spezifische, partikulare Form im französischen Erinnerungsraum. Zwar hatte es bereits unmittelbar nach dem Krieg zahlreiche Initiativen gegeben mit dem Ziel, an die jüdischen Opfer zu erinnern, doch diese Denkmalerrichtungen oder das Anbringen von Gedenktafeln gingen auf Einzelinitiativen jüdischer Organisationen und Interessenverbände zurück. Auffällig ist hierbei, dass sich darunter auch zahlreiche Denkmäler befinden, auf denen die Toten nicht explizit als Opfer des Genozids an den Juden erscheinen. Ein herausragendes Beispiel für diese Auslassung stellt das 1949 errichtete Denkmal für die in 9

Die interessante Geschichte dieses Denkmals und ein Überblick über andere Denkmäler für ausländische Widerstandskämpfer findet sich in: Serge Barcellini/Anette Wieviorka, Passant, souviens-toi! Les lieux du souvenir de la seconde guerre mondiale en France, Paris 1995, S. 277ff.

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Abbildung 3: Nationales Denkmal in Erinnerung an die Opfer der Shoah, Paris, 1994 (Foto: Mechthild Gilzmer).

Auschwitz Ermordeten auf dem Friedhof Père-Lachaise dar. Erst 1995, aus Anlass des 50. Jahrestages der Befreiung des Lagers, wurden die jüdischen Opfer in einer korrigierten Denkmalinschrift explizit von denjenigen aus politischen Gründen Verfolgten unterschieden. Die Erinnerung an die Shoah wurde in den neunziger Jahren Teil der offiziellen, staatlichen Erinnerungspolitik. Dies betraf auch die zahlreichen Lager, in denen Juden interniert und von wo aus sie deportiert wurden. In einem der bekanntesten, dem ehemaligen Internierungslager ,,Les Milles“ bei Aix-en-Provence, richtete der französische Staat im Jahr 2000 eine nationale Gedenkstätte ein. Die hier schwelenden Konflikte zwischen den verschiedenen konkurrierenden Erinnerungen, zwischen den aus politischen Gründen internierten Vertretern der internationalen Lagergemeinschaft einer ersten Internierungsphase und den jüdischen Opfern der späteren Phase, in der das Lager als Transitlager diente, sind paradigmatisch für die Schwierigkeit, eine gemeinsame Basis für die Erinnerung zu finden.

Denkmäler für die soldatischen Opfer der Kolonialkriege

Ebenfalls an einem Ort an der Mittelmeerküste, in der Hafenstadt Fréjus, wurde 1983 eine nationale Gedenkstätte für die soldatischen Opfer des Kolonialkriegs

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in Indochina eingerichtet. Darüber hinaus entstand hier ein Soldatenfriedhof für die im Indochinakrieg Gefallenen, der am 16. Februar 1993 in Anwesenheit des Staatspräsidenten François Mitterrand eingeweihte wurde. Fréjus nimmt in der Erinnerung an die Kolonialtruppen insgesamt eine besondere Rolle ein. Seit 1981 gibt es hier ein auf private Initiative hin gegründetes Museum, das der vierhundertjährigen Geschichte der Marine- und Kolonialtruppen gewidmet ist. Es bietet einen chronologischen Überblick über die Geschichte der Marinetruppen von 1622 bis heute und hat das erklärte Ziel, die zivilisatorische Rolle Frankreichs als Kolonialmacht und seinen Einfluss in der Welt herauszustellen. Es beherbergt inzwischen auch ein Forschungszentrum für geschichtliche Studien der Übersee-Truppen. Am gleichen Ort wurde in den neunziger Jahren ein Denkmal zu Ehren der sogenannten ,,schwarzen Armee“ erbaut, das der frühere Bürgermeister und ehemalige Verteidigungsminister François Léotard am 1. September 1994 einweihte. Das Denkmal war ursprünglich in Reims zu Ehren und im Gedenken an afrikanische Soldaten in der französischen Armee erbaut und von den Deutschen 1940 zerstört worden. In Fréjus wurden demnach unterschiedslos an die im Rahmen der kolonialen Eroberungsgeschichte oder der Unabhängigkeitskriege gefallenen französischen Soldaten und die aus eben diesen Kolonien stammenden Soldaten erinnert. Da wird im Tod geeint, was die Geschichte durch Zwang zusammenführte. Man kann in diesem Gedenken auch die Kontinuität kolonialen Handelns sehen, die Vereinnahmung des ,,fremden“ Opfers in die Meistererzählung der eigenen nationalen Größe. Ein ähnliches Dilemma galt es im Fall des nationalen Denkmals für die in Algerien, Marokko und Tunesien gefallenen Soldaten zu lösen, das im Dezember 2002 in Paris in der Nähe des Eiffelturms und der Seine am Quai Branly eingeweiht wurde. Das ,,Mémorial National de la guerre d’Algérie et des combats du Maroc et de la Tunisie“ besteht aus drei Säulen in den Farben der Trikolore. Die Namen von insgesamt 22.959 Franzosen und Algeriern – sogenannte Harkis, die auf der Seite der Franzosen gekämpft hatten – die zwischen 1952 und 1962 in Nordafrika gefallen sind, erscheinen darauf als Leuchtbänder. Bei der Einweihung des Denkmals stellte der Staatspräsident Jacques Chirac die zu ehrenden Toten in eine Erinnerungsgenealogie mit den gefallenen Soldaten der beiden Weltkriege.10 Die Ehrung der Gefallenen ist nicht unumstritten, denn von einigen ist bekannt, dass sie während des Krieges gefoltert haben. Auch die im September 2003 getroffene Entscheidung, den 5. Dezember, also den Jahrestag der Einweihung des Denkmals, zum offiziellen, nationalen Gedenktag für die in Nordafrika gefallenen Soldaten zu wählen, verweist auf Konflikte, die mit der Erinnerung an den Algerienkrieg verbunden sind: Die verschiedenen 10

A Paris, M. Chirac rend hommage aux ,soldats d’Afrique du Nord‘. Inauguration d’un mémorial de la Guerre d’Algérie, in: Le Monde, 07.12.2002, S. 9.

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Abbildung 4: Nationales Denkmal für den Algerienkrieg, Paris, 2002 (Foto: Mechthild Gilzmer).

Interessenverbände und Politiker nämlich konnten sich im Vorfeld bei der Einrichtung dieses Gedenktages nicht auf ein Datum mit konkretem Bezug zum Algerienkrieg einigen. Für die Algerienfranzosen endete der Krieg keineswegs mit dem 19. März 1962, dem Tag des Waffenstillstands, da es danach noch zu Übergriffen und Massakern an der Zivilbevölkerung gekommen war. So erklärt sich die ungewöhnliche Entscheidung, das offizielle Gedenken von der Geschichte abzukoppeln und mit dem Datum der Errichtung des Denkmals zu verknüpfen. Wie sehr die Auseinandersetzung um den Algerienkrieg an ein Tabu rührte, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass dieser Konflikt so lange nicht beim richtigen Namen genannt werden durfte. Erst am 10. Juni 1999 beschloss die französische Nationalversammlung, dass die Ereignisse in Algerien in Zukunft nicht mehr als ,,Aufrechterhaltung der Ordnung“, sondern als Krieg bezeichnet werden. Mit dieser Entscheidung hat Frankreich ein weiteres schmerzhaftes und wenig ruhmreiches Kapitel seiner Vergangenheit als Teil der eigenen Geschichte akzeptiert und integriert. Die Tatsache, dass auf den Leuchtbändern der Säulen des Denkmals am ,,quai Branly“ auch die Namen der algerischen Hilfstruppen erscheinen, beweist, dass Frankreich nun auch mit der Erinnerung und Ehrung der Harkis Ernst macht.

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Der Beitrag und das Opfer dieser algerischen Hilfstruppen, die auf Seiten der französischen Armee kämpften, wurden im Oktober 2001 erstmalig mit einem offiziellen Staatsakt gewürdigt. Doch die Ehrung der Betroffenen kommt spät. Bereits seit vierzig Jahren kämpfen die von den Algeriern geächteten Harkis, die ihr Engagement auf der Seite der Verlierer teuer bezahlen mussten, um die Anerkennung ihres Opfers und vor allem um das offizielle Eingeständnis der französischen Schuld an ihrem Drama. Denn nach dem Waffenstillstand von Evian, als die französischen Truppen aus Algerien abzogen, überließ man die Mitstreiter ihrem vorhersehbaren Schicksal, der grausamen Rache der Nationalen Befreiungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) an den ,,Vaterlandsverrätern“. Zwischen 30.000 und 100.000 Angehörige der französischen Hilfstruppen sollen in den Wochen nach dem Abzug massakriert worden sein. Die französischen Offiziere hatten die Order, die Harkis zu entwaffnen. Außerdem wurde ihnen verboten, sich für ihre Untergebenen einzusetzen und ihnen bei der Flucht aus Algerien behilflich zu sein. Viele Militärs plagt heute noch das schlechte Gewissen, weil sie ihre Schutzbefohlenen einfach im Stich gelassen haben. Einige der Offiziere setzten sich damals über die Order hinweg – selbst wenn sie mit harten Sanktionen rechnen mussten.

Totengedenken und Erinnerungspolitik in Frankreich im 21. Jahrhundert Bedingt durch die zunehmende Sensibilisierung für die historische Komplexität und die Wahrnehmung der Unterschiede der Akteure, Formen und Zielsetzungen des Widerstands veränderte sich in den achtziger Jahren die Denkmalerrichtung. Es ist nun bemerkenswert, dass mit Beginn des 21. Jahrhunderts die drei bedeutendsten nationalen Denkmäler und Erinnerungsorte am Mont-Valérien, in Struthof-Natzwiller und auf der Ile de la Cité verändert, erweitert und korrigiert wurden. Bereits Mitte der achtziger Jahre begann man im Veteranenministerium über eine konzeptuelle Überarbeitung des ,,Mémorial du Mont-Valérien“ nachzudenken. Auslöser war unter anderem die Forderung von Serge Klarsfeld, dem Präsidenten des einflussreichen Verbandes der Fils et Filles des Déporté Juifs de France (FFDJF), nach getrennter Auflistung der jüdischen Opfer am Mont-Valérien. Die Polemik um die Opfer führte schließlich zu einem neuen Denkmalprojekt, das auf die Initiative der Sozialisten zurückging. Im Oktober 1997 brachte der frühere Justizminister und Senator Robert Badinter im Senat einen Gesetzesvorschlag ein ,,relative à l’édification d’un monument au Mont-Valérien portant le nom des résistants et des otages fusillés dans les

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lieux de 1940 à 1944.“11 Badinter begründet die Gesetzesinitiative damit, dass die Opfer vom Mont-Valérien bisher anonym geblieben seien: ,,Or, dans la plupart des lieux de France où des héros ont donné leur vie, un monument, une plaque, conserve leurs noms. Il n’en va pas ainsi au mont Valérien alors que les fusillés ne sont pas anonymes comme le soldat inconnu de l’Arc de Triomphe.“12 Zwar sei hier am Mont-Valérien nach dem Krieg eine Gedenkstätte errichtet worden, wo alljährlich die Gedenkfeierlichkeiten zum 18. Juni stattfänden,“ erklärt Badinter weiter, doch ,,le coeur de ce site est constitué par la clairière des fusillés. Nulle part, pourtant, ne sont inscrit les noms de ceux qui accomplirent l’ultime sacrifice.“13 Dieser Hinweis kann durchaus als versteckte Kritik an der bisherigen gaullistischen Konzeption und Nutzung des Ortes gelesen werden, die ja gerade im Verschweigen der konkreten Opfer bestanden hatte. Es fragt sich nun, wie das Anliegen, den Opfern einen Namen und damit eine Identität zu geben, denkmaltechnisch umgesetzt werden konnte. Zunächst hatte sich die mit dem Denkmalprojekt betraute Kommission auf einen Text für das Denkmal geeinigt: ,,Aux résistants et aux otages fusillés au Mont-Valérien par les troupes nazies 1941–1944.“ Durch den Zusatz ,,et à tous ceux qui n’ont pas été identifiés“ sollten auch alle diejenigen in die Erinnerung aufgenommen werden, die möglicherweise nicht identifiziert werden konnten. Auffällig ist zunächst die Tatsache, dass der Tod nicht begründet wurde, die Gedenkformel keine nachträgliche Sinnstiftung (,,Mort pour la France“) enthielt. Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Toten in Widerstandskämpfer und Geiseln unterschieden wurden, was der historischen Wahrheit entsprach und eine wichtige Differenzierung darstellte. Eine Ausschreibung für den Denkmalentwurf führte erst beim zweiten Anlauf zu einem Ergebnis. Von den eingegangenen Wettbewerbsentwürfen wurde schließlich der Beitrag des jungen Künstlers Pascal Convert von der Jury ausgewählt. Converts Denkmal besteht aus einer 2,18 m großen Glocke aus Bronze, mit einem Durchmesser von 2,70 m, auf der die Namen der Opfer nach Jahren angeordnet und in alphabetischer Reihenfolge erscheinen. Diese Glocke wurde in unmittelbarer Nähe der Kapelle aufgestellt, das heißt nicht am Ort der Hinrichtungen selbst, der weiterhin seinen sakralen Charakter behalten soll. Die Glocke selbst ist nach Aussagen des Künstlers keinesfalls als religiöses, sondern als universelles Symbol zu verstehen. Das Denkmal wurde im April 2002 fertig gestellt und nach einigen gescheiterten Anläufen schließlich im September 2003 eingeweiht. 11 12 13

Compte rendu analytique officiel de la Séance du Sénat du mercredi 22 octobre 1997, S. 1. Archiv des Verteidigungsministeriums, Paris, Akte Mont-Valérien Ebd. Ebd.

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Abbildung 5: Denkmal Mont Valérien, Hauts-de-Seine, 2003 (Foto: Mechthild Gilzmer).

Die Modifikation des zweiten bedeutenden nationalen Denkmals, des ,,Mémorial de la Déportation“ auf der Ile de la Cité in Paris, entspringt ebenfalls dem Bemühen um historische Präzision. Auch in diesem Fall war der Auslöser die Kritik an der undifferenzierten Inschrift des Denkmals, das an die 200.000 Opfer der Deportation erinnerte, ohne jedoch zwischen den deportierten Widerstandskämpfern und den Opfern des Genozids zu unterscheiden.14 Ziel der Überarbeitung der Inschriften des Denkmals und des präsentierten Bildmaterials durch das Verteidigungsministerium war es, diesen Unterschied deutlich zu machen und die Zahl der Opfer möglichst präzise anzugeben. Außerdem wurde die vorhandene Ausstellung aktualisiert. Ungeachtet der komplexen historischen Realität und der unterschiedlichen Herkunft der Inhaftierten basierte das Erinnerungsmodell in Struthof-Natzwiller auf der Vorstellung einer homogenen Opfergruppe, die sich vorrangig aus den Reihen des französischen Widerstands zusammensetzt. Um die Defizite in der Gestaltung des Denkmals auszugleichen und die Gedenkstätte zeitgemäß zu gestalten, wurde im Jahr 1999 auf Initiative des damaligen Staatssekretärs im Verteidigungsministerium die Idee eines europäischen Erinnerungsortes entwi14

Die genaue Inschrift lautet: ,,Le martyre de 200.000 Français inconnus déportés pour extermination dans la nuit et le brouillard nazi“.

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ckelt. Dieser soll an die Aktualität des Widerstands erinnern und beim Besucher das Bewusstsein für die Verteidigung der Menschenrechte wachrufen, denn: ,,Le combat du résistant déporté des années 40 est de toutes les époques et assimilable au combat contre tous les totalitarismes.“15 Die beschriebenen Veränderungen an den drei nationalen Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs spiegeln die fundamentale Veränderung in der Bedeutung des Totengedenkens im postnationalen Zeitalter wieder. Die Opfer werden individualisiert; ihr Tod erscheint als das, was er war: das Ergebnis rassistischer Verfolgung und totalitärer Herrschaft. Wenn der gewaltsame Tod überhaupt nachträglich legitimiert wird, dann nicht mit der Verteidigung des Vaterlandes, sondern unter Bezug auf universale Werte. Die Betonung liegt auf der zivilgesellschaftlichen und pädagogischen Funktion. Damit geht jedoch mitunter eine Enthistorisierung und grobe Vereinfachung der geschichtlichen Ereignisse einher. Dies führt dann auch zur beliebigen Nutzung und Instrumentalisierung der Vergangenheit.

Schlussbemerkungen In den letzten zwanzig Jahren wurde in Frankreich die Spezifik der Verfolgung und Vernichtung der Juden und auch die Mitschuld der Franzosen an diesem Kapitel des Zweiten Weltkriegs zunehmend thematisiert. Dabei ist es zu ähnlichen Prozessen gekommen, wie sie Peter Novick und Norman Finkelstein für Amerika beobachtet haben und wie sie Zeithistoriker wie Jean-Pierre Azéma und Henry Rousso für Frankreich kritisiert haben. Auch in Frankreich wird das berechtigte Anliegen, die Geschichte der Shoah aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken, von anderen Interessen überlagert, für partikulare Anliegen genutzt und politisch instrumentalisiert. Als Beispiel mag dafür der Vorschlag des ehemaligen französischen Staatspräsidenten gelten, der im Januar 2008, beim jährlichen Treffen mit dem Dachverband jüdischer Organisationen in Frankreich mit der Forderung, Schülern der Grundschule die Patenschaft für je eines der 11.000 in den Vernichtungslagern der Nazis ermordeten jüdischen Kinder aus Frankreich zu übertragen, eine scharfe Kontroverse auslöste. Historiker, Psychologen sowie Vertreter von Lehrerverbänden und nicht zuletzt auch der jüdischen Gemeinde selbst warnten davor, den Kindern statt historischer Tatsachen Emotionen zu vermitteln. Besonders scharf ging der Historiker Henry Rousso mit Sarkozy ins Gericht und warf ihm vor, dass er ein ,,Erinnerungsmarketing“ betreibe. Rousso, der sich intensiv mit Fragen der Vergangenheitspolitik in Frankreich, 15

Archiv des Verteidigungsministeriums, Paris, Akte ,,Struthof, Centre européen du résistant déporté dans le système concentrationnaire nazi“, ohne Signatur

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mit den einzelnen Etappen in der Verdrängung und Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und vor allem mit der Bedeutung Vichys beschäftigt hat, fragt nach dem tieferen Sinn der Vergangenheitspolitik des Präsidenten. Welche Bedeutung kann mit dieser Geste vermittelt werden, welches zukunftsweisende Bild kann für die Kinder mit diesem Erinnern verbunden werden? Warum gerade diese Opfer und keine anderen? Welche ,,Botschaft“ vermittelt die Übernahme der Patenschaft? Welche Werte sind damit verbunden? Eine Antwort auf diese Frage mag ein anderer symbolischer Akt geben, mit dem Sarkozy den Beginn seiner Präsidentschaft ins Bild setzte. Anknüpfend an Mitterrands symbolische Geste im Jahr 1981, als der neue sozialistische Staatspräsident mit einem großartig inszenierten Gang zum Panthéon den Widerstandskämpfer Jean Moulin ehrte und damit die Legitimation für sein neues Amt aus dem Widerstand bezog, ließ Sarkozy bei seiner Amtsübernahme im Bois de Boulogne, wo am 16. August 1944 35 junge Widerstandskämpfer unter dramatischen Umständen erschossen worden waren, den Abschiedsbrief des im Oktober 1941 von Deutschen erschossenen 17-jährigen Guy Môquet von einer Schülerin vorlesen, und er kündigte an, dass dieser Brief von nun an zu Beginn eines jeden Schuljahres in allen französischen Schulen vorgelesen werden solle. Sarkozy sah in der patriotischen Bereitschaft des jungen Mannes, sein Leben für Frankreich zu opfern, ein Vorbild für die junge Generation. Mit der Würdigung Guy Môquets bewies Sarkozy einmal mehr, dass er im Grunde keine klare politische Idee oder Überzeugung vertritt. Möglicherweise fehlten ihm aber auch schlicht die genauen Kenntnisse über den geschichtlichen Hintergrund der Erschießung, denn es ist zumindest erstaunlich, dass er, dessen Partei für die politische Mitte bzw. Rechte steht, sich auf einen überzeugten Kommunisten bezog. Dazu muss man wissen, dass die kommunistische Partei nach dem Hitler-Stalin-Pakt im August 1939 also bereits in der III. Republik unter Daladier, verboten war und viele Mitglieder verhaftet und verfolgt wurden. Guy Môquet war 1940 aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung und Aktivitäten festgenommen und präventiv interniert worden. 1941 wurde er gemeinsam mit 26 weiteren Geiseln in Châteaubriant als Reaktion auf ein von drei jungen Kommunisten verübtes Attentat auf einen ranghöheren deutschen Wehrmachtsangehörigen in Nantes erschossen. Um einen Widerstandskämpfer im eigentlichen Sinn handelt es sich bei ihm insofern nicht, als er aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung und Parteizugehörigkeit, nicht aber wegen konkreter widerständischer Aktionen verhaftet worden war. Zwiespältige Erinnerungen ruft das Geiseldrama bei den Franzosen auch insofern wach, als die Erschossenen bereits 1940 und nicht von den Deutschen festgesetzt und die Mehrzahl von ihnen vom Innenminister Vichys, Pierre Pecheu, ausgewählt und benannt worden waren. In der Vergangenheit hatte de Gaulle seinen RésistanceMythos stets hartnäckig gegen den Opfer-Mythos der kommunistischen Partei als des ,,Parti des fusillés“ verteidigt. Die Kommunisten waren aufgrund ihrer

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abwartenden Haltung und ihrer Rücksichtnahme auf den deutsch-sowjetischen Pakt immer wieder kritisiert und ihr Beitrag zur Résistance dadurch diskreditiert worden. Insofern erinnert die Erschießung von Guy Môquet in Châteaubriant an die Schattenseiten der Kollaboration und die Spaltung und Brüche in der französischen Gesellschaft. Während die Zeitung ,,Libération“ und die kommunistische Partei Sarkozys Initiative unter den Schlagworten ,,message fort“ und ,,devoir de mémoire“ begrüßten, lehnen viele Historiker und Pädagogen die Instrumentalisierung der Geschichte ab. Die bizarren Ideen Nicolas Sarkozys können als vorläufiger Höhepunkt einer Entwicklung angesehen werden. Diente das Gedenken an die Toten früher der Herstellung nationaler Einheit, so gilt heute genau das Gegenteil. Einzelne Opfergruppen treten aus dem Schatten der Geschichte hervor und reklamieren Anerkennung und vor allem auch Entschädigung. Ob die ehemaligen Angehörigen der kolonialen Streitkräfte des Zweiten Weltkriegs, die Kinder der algerischen Männer und Frauen, die auf Seiten der Franzosen kämpften, oder die aus Algerien vertriebenen Algerienfranzosen, sie alle sehen sich als Opfer von historischem Unrecht, das es wieder gutzumachen gilt. Mit immer neuen Gesetzen, Verordnungen und symbolischen Aktionen versucht der Staat darauf zu reagieren. Dabei kommen dann mitunter ebenso bizarre Gesetze zustande, wie jenes vom Februar 2005, das eine positive Darstellung der Leistungen der französischen Kolonialisierung vorsieht und auf gute Lobbyarbeit der vor allem in Südfrankreich lebenden ,,pieds-noir“ zurückzuführen ist. Dieser Prozess geht einher mit einer völligen Enthistorisierung der Ereignisse, in denen Menschen nicht mehr als Handelnde, als Akteure von Geschichte, sondern nur noch als Opfer von Geschichte gesehen werden, die quasi naturhaft über sie hereingebrochen ist. Dass historische Situationen auch immer Handlungsmöglichkeiten bieten, dass sie in analysierbaren Kontexten stehen, die dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden, einzugreifen, sich zu widersetzen oder auf Missstände hinzuweisen, fällt dabei völlig unter den Tisch. Und es ist insofern auch kein Zufall, dass Sarkozy einen 17-jährigen jungen Mann bzw. Kinder als Bedeutungsträger ausgewählt hat. In beiden Fällen ist die symbolische Repräsentation stark mit Emotionen und der Vorstellung von Unschuld verbunden. Verdrängt wird dabei, dass die Kriege und Verbrechen der Vergangenheit konkretes Ergebnis machtpolitischer Interessen und zielgerichteten Handelns und Verhaltens von Einzelnen und Gruppen waren, kurz: dass es Täter gab.

Großbritannien Stefan Goebel

Brüchige Kontinuität Kriegerdenkmäler und Kriegsgedenken im 20. Jahrhundert Die Präsenz des Ersten Weltkrieges im historischen Bewusstsein der Briten von heute ist ungebrochen.1 Der größte Erinnerungskonflikt der Gegenwart betrifft nicht die Toten der umstrittenen Kriege in Afghanistan und im Irak, sondern Tote aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Hart gekämpft wurde im vergangenen Jahrzehnt um die politische und juristische Rehabilitierung oder nachträgliche Begnadigung derjenigen, die 1914–18 als Deserteure exekutiert wurden, obwohl sie nervlich zusammengebrochen waren. 306 britische Soldaten wurden 2006 postum begnadigt: Soldaten, von denen man heute annimmt, dass sie keine Feiglinge waren, weil sie unter Schock – ,,shell-shock“ – standen. ,,Shell-shock“ ist ein Wort, das für viele Briten die Erfahrung des industrialisierten Krieges versinnbildlicht. Der Begriff wurde 1915 von einem Mediziner geprägt und fand schnell Eingang in die Umgangssprache. Eine medizinische Diagnose entwickelte sich zur kulturellen Metapher. Seit den 1920er Jahren steht ,,shell-shock“ nicht nur für eine spezifische Kriegsverwundung, sondern für eine neue Art des Krieges. Der Begriff ,,shell-shock“ ist ein Beispiel dafür, dass eine Kultur definiert ist durch ihre unübersetzbaren Wörter (wie es Salman Rushdie einmal gesagt hat). Denn der Begriff ,,shell-shock“ und seine Konnotationen haben keine Entsprechung in anderen Sprachen.2 Der Erste Weltkrieg steht hier im Mittelpunkt, weil er bis heute Fluchtpunkt der britischen Erinnerungskultur geblieben ist. Während und nach dem Great 1

2

Großbritannien und nicht das Vereinigte Königreich werden hier behandelt. Zum Gedenken an den Krieg und Bürgerkrieg in Irland vgl. Keith Jeffery, Ireland and the Great War, Cambridge 2000, S. 107–143; Anne Dolan, Commemorating the Irish Civil War. History and Memory, 1923–2000, Cambridge 2003; Helen Robinson, Remembering War in the Midst of Conflict. First World War Commemorations in the Northern Irish Troubles, in: Twentieth Century British History 21 (2010), S. 80–101. Vgl. Jay Winter, Remembering War. The Great War Between Memory and History in the Twentieth Century, New Haven 2006, S. 43–45 und S. 52–76; ders., Shell-Shock and the Cultural History of the Great War, in: Journal of Contemporary History 35 (2000), S. 7–11; Stefan Goebel, Beyond Discourse? Bodies and Memories of Two World Wars, in: Journal of Contemporary History 42 (2007), S. 377–385.

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War, dem ,,Großen Krieg“, wie er bis heute genannt wird, entstanden die Narrative, Symbole und Rituale, die bis in die Gegenwart den Rahmen des Kriegsgedenkens abstecken: Das sind neben ,,shell-shock“ vor allem die ,,poppies“, die stilisierten Mohnblumen zum Einstecken ins Knopfloch, und die Gedenktage Armistice Day bzw. Remembrance Sunday im November. Trotzdem wäre es voreilig, von einer absoluten Kontinuität zu sprechen. Im Gefolge des Zweiten Weltkrieges gab es bei aller äußerlichen Kontinuität auf der Ebene visueller und ritueller Repräsentationen doch diskursive Verwerfungen und neue Akzentsetzungen, wie nach einer Skizze der Entwicklung im 19. Jahrhundert in einem weiteren Abschnitt gezeigt wird. Im abschließenden Teil wird auf Entwicklungen am Beginn des 21. Jahrhunderts eingegangen.3

19. Jahrhundert: Land ohne Kriegerdenkmäler Auf dem Gebiet der Erinnerungskultur war Großbritannien im 19. Jahrhundert lange Zeit einen Sonderweg gegangen. Der Herzog von Wellington betrachtete die Soldaten als ,,scum of the earth“, und der einfache Kriegstote war für Wellingtons Zeitgenossen nicht erinnerungs- und denkmalfähig. Die Armee rekrutierte sich großenteils aus Ausreißern, die oftmals alle Brücken zu ihren Herkunftsorten abgebrochen hatten. Der bürgerliche, patriotische Kriegsfreiwillige, der so wichtig für die Entstehung des politischen Totenkultes in Kontinentaleuropa gewesen war, blieb den Briten bis weit in zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts unbekannt. Darüber hinaus unterhielten die Regimenter bis in die 1880er Jahre kaum Beziehungen zu den Gemeinden und zur Zivilbevölkerung ihrer Standorte.4 Die öffentliche Erinnerung an die einfachen Kriegstoten spielte daher im öffentlichen Raum außerhalb des Militärs lange Zeit keine gesellschaftliche Rolle. Einen gewissen Einschnitt bedeutete der Krimkrieg, in dem sich erstmals Männer aus der entstehenden middle classes als Freiwillige meldeten. Nach 1853–56 entstanden dann auch in Ansätzen die ersten Denkmäler, durch die einfacher Soldaten gedacht wurde. Im National Inventory of War Memorials 3

4

Zur Theorie des individuellen und kollektiven Erinnerns vgl. Jay Winter/Emmanuel Sivan, Setting the Framework, in: dies. (Hg.), War and Remembrance in the Twentieth Century, Cambridge 1999, S. 6–39. Vgl. David French, Military Identities. The Regimental System, the British Army, and the British People, c. 1870–2000, Oxford 2005; Gerard J. DeGroot, Blighty. British Society in the Era of the Great War, London 1996, S. 14–30; zu Kontinentaleuropa vgl. George L. Mosse, Fallen Soldiers. Reshaping the Memory of the World Wars, New York 1990, S. 15– 50.

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sind 355 Krimkriegs-Denkmäler verzeichnet, wobei die große Mehrheit an Offiziere erinnert und von deren Angehörigen gestiftet wurde.5 Die Akzentverschiebung vom Soldaten zum Bürger, die sich in einzelnen Denkmälern des Krimkrieges andeutete, wurde nach dem Burenkrieg (1899 bis 1902) vollzogen. Nach 1902 entstanden in größerem Umfange moderne, kommunale Kriegerdenkmäler in denen die ,,fallen heroes“ als Bürger-Soldaten erinnert wurden.6 Im Vergleich zu den Denkmälern nach dem Ersten Weltkrieg fallen zwei Besonderheiten ins Auge: Zum einen bedeutete der Krieg in Südafrika keinen gravierenden emotional-demographischen Einschnitt, und zum anderen folgten Kriegerdenkmäler dem Trend zu einem sozialen und politischen Totenkult innerhalb der middle classes. Trauer spielte dagegen eine untergeordnete Rolle in der Symbolik der Objekte und Choreographie der Feiern nach dem Krieg von 1899–1902, und dort wo sie zum Ausdruck kam, verlief sie in den vorgegebenen Bahnen viktorianischer – das heißt: konformistisch-beruhigender – Trauerrituale. Aufwendige Beerdigungen und ein stilvoll gestaltetes Grabmal besaßen insbesondere in den middle classes einen hohen Stellenwert. Zu den sozialen Ambitionen viktorianischer Trauerkultur traten nun politische Hoffnungen hinzu. Besonders im jüdischen Bürgertum dienten Denkmalsprojekte als Demonstration politischer Loyalität und sozialer Angepasstheit.7 Auch wenn die einfachen Soldaten die kaum erinnerungswürdigen Parias der britischen Gesellschaft waren, spielten doch romantische Vorstellungen von Kriegern und ihren Heldentaten eine wichtige Rolle im kulturellen Leben der viktorianischen Gesellschaft. Vor allem die Ritter des Mittelalters spornten die Phantasie der Zeitgenossen an. Ritterlichkeit war zu Beginn des 19. Jahrhundert wieder in Mode gekommen und bei Kriegsausbruch 1914 ein fester Bestandteil der Kultur des britischen Establishments. Ritterlichkeit war ein Konzept, das auf verschiedenen Ebenen operierte. Es war zuallererst ein ästhetisches Phänomen. Rittertourniere oder Kostümbälle mit Prinz Albert und Königin Viktoria, 5

6

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Studien über Denkmäler und Erinnerungskultur nach dem Krimkrieg sind ein Forschungsdesiderat. Einen Überblick bietet das am Imperial War Museum, London (IWM) angesiedelte United Kingdom National Inventory of War Memorials, http://www.ukniwm.org.uk (30.11.2011). Vgl. etwa Dicky Sam, A South African War Memorial [Leserbrief], in: Liverpool Mercury, 22.11.1900, S. 8; Anne Christine Brook, God, Grief and Community. Commemoration of the Great War in Huddersfield, c. 1914–1929, Phil. Diss., Leeds 2009, S. 85. Die Erinnerungskultur des Burenkrieges ist bislang nur rudimentär erforscht. Vgl. Mark Connelly/Peter Donaldson, South African War (1899–1902) Memorials in Britain. A Case Study of Memorialization in London and Kent, in: War & Society 29 (2010), S. 20–46; Edward M. Spiers, The Scottish Soldier and Empire, 1854–1902, Edinburgh 2006, S. 204– 206. Einen zeitgenössischen Überblick bietet James Gildea, For Remembrance and in Honour of Those Who Lost Their Lives in the South African War 1899–1902, London 1911. Zur viktorianischen Trauerkultur vgl. Pat Jalland, Death in the Victorian Family, Oxford 1996.

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die Romane eines Walter Scott oder die Kunst der Präraffaeliten stießen auf reges Interesse, gaben sie doch ein ästhetisches Gegengewicht zur wahrgenommenen Hässlichkeit des Industriezeitalters. Auf einer zweiten, normativen Ebene entwickelte sich Ritterlichkeit zu einem gesellschaftlichen Wert, zu einem Verhaltensvorbild für Männer. Der Gentleman des 19. Jahrhunderts berief sich auf den mittelalterlichen Ritter als Paten. Gentleman und Ritter folgten angeblich einem identischen Verhaltenskodex, der von Pflichtgefühl, Mut, Ehre, Glaube und vor allem Fairness geprägt war.8

Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit: Die Ausbildung einer britischen Erinnerungskultur In Folge des Ersten Weltkrieges wurde jeder britische Gefallene als tapferer, pflichtbewusster, ehrenhafter, fairer und christlicher Ritter gefeiert, ganz gleich welcher sozialen Klasse er angehörte oder welche Position er in der Armee innegehabt hatte. Ritterlicher Anstand und Fairness waren aus dem öffentlichen Erinnerungsdiskurs nach 1914–18 nicht wegzudenken. Beispielsweise hieß es bei der Einweihung des Kriegerdenkmals von Pembrokeshire in Wales über die Toten: ,,Not only were they gallant in action, they were chivalrous to their enemies“.9 Fairness gegenüber dem Gegner war der eigentliche Kern des ritterlichen Verhaltenskodex, und Redner auf Gedenkveranstaltungen wiesen das Bild des Soldaten als blutrünstigem Killer weit von sich. Die Vorstellung von ritterlicher Fairness garantierte vielmehr, dass der Soldat auch im Kriege seinen zivilen Anstand wahren konnte. Das wurde nicht nur in Trauerreden betont, sondern auch visuell ausgedrückt: In Denkmälern wurden die Gefallenen (,,the fallen“) 8 9

Vgl. Mark Girouard, The Return to Camelot. Chivalry and the English Gentleman, New Haven 1981. Pembrokeshire’s War Memorial, in: Pembrokeshire Telegraph, 07.09.1921, S. 5. Zu Denkmälern des Ersten Weltkrieges allgemein vgl. Alex King, Memorials of the Great War in Britain. The Symbolism and Politics of Remembrance, Oxford 1998; Mark Connelly, The Great War, Memory and Ritual. Commemoration in the City and East London, 1916–1939, Woodbridge 2002; Angela Gaffney, Aftermath. Remembering the Great War in Wales, Cardiff 1998; Peter Donaldson, Ritual and Remembrance. The Memorialisation of the Great War in East Kent, Newcastle 2006; Catherine Moriarty, Private Grief and Public Remembrance. British First World War Memorials, in: Martin Evans/Ken Lunn (Hg.), War and Memory in the Twentieth Century, Oxford 1997, S. 125–142; Keith Grieves, Investigating Local War Memorial Committees. Demobilised Soldiers, the Bereaved and Expressions of Local Pride in Sussex Villages, 1918–1921, in: Local Historian 30 (2000), S. 39–58. Soldatenfriedhöfe werden hier nicht behandelt. Vgl. dazu Philip Longworth, The Unending Vigil. A History of the Commonwealth War Graves Commission 1917–1984, London2 1985.

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Abbildung 1: St. Georg. Kriegerdenkmal von H. C. Fehr. Leeds, 1922 (Foto: Stefan Goebel).

mit Vorliebe als Ritter in voller Rüstung dargestellt.10 Die zentrale Bedeutung von Ritterlichkeit als Verhaltensmuster war jedoch Ausdruck einer florierenden Zivilgesellschaft. Der Begriff ,,Ritterlichkeit“ bündelte Eigenschaften, die man mit edel, kontrolliert, respektvoll skizzieren kann – er erinnerte weniger an das kriegerische Element des Ritters. Deshalb konnte Ritterlichkeit zum männlichen Verhaltensideal der zivilen Gesellschaft werden. Anders als in Deutschland spielten Kriegsveteranen in der öffentlichen Erinnerung an den Weltkrieg nur eine marginale Rolle. Denkmalskommissionen setzten sich fast ausschließlich aus Zivilisten zusammen; Veteranen konnten höchstens indirekten Einfluss auf die Gestaltung von Denkmälern und die 10

Vgl. Stefan Goebel, The Great War and Medieval Memory. War, Remembrance and Medievalism in Britain and Germany, 1914–1940, Cambridge 2007; ders., Cultural Memory and the Great War. Medievalism and Classicism in British and German War Memorials, in: Polly Low u. a. (Hg.), Cultures of Commemoration. War Memorials, Ancient and Modern, Oxford 2012, S. 131–154. Dagegen betont die klassische Studie von Paul Fussell, The Great War and Modern Memory, London 1975 die Modernität des Erinnerungsdiskurses.

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Choreographie von Gedenkfeiern ausüben. Die Erinnerungsarbeit lag in den Händen von zivilen Eliten mittleren und fortgeschrittenen Alters, die häufig weder den Krieg noch das Militär aus erster Hand kannten. Folglich hatten diese Architekten der Erinnerung wenig zu sagen über das Kriegserlebnis des Soldaten. Stattdessen feierten sie die Ritterlichkeit ihrer Truppen – eine Verhaltensnorm, die lange vor dem Ersten Weltkrieg im öffentlichen Leben fest verankert gewesen war.11 Neben den zivilen Eliten spielten vor allem die Familien der Gefallenen die prominenteste Rolle im öffentlichen Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Das Kriegerdenkmal für die Nation und das Empire, der Cenotaph in Whitehall, im administrativen Herzen der Hauptstadt, entstand auf Druck ,,von unten“. Ursprünglich hatte die Regierung den Architekten Edwin Lutyens nur damit beauftragt, ein provisorisches Monument aus Anlass der Siegesfeier im Juli 1919 zu entwerfen. Doch die Siegesparade entwickelte sich zum Trauermarsch, und aus dem Provisorium wurde das zentrale britische Kriegerdenkmal. Das war nicht Erinnerungspolitik, sondern Krisenmanagement. Die Politiker hatten die Stimmung der Bevölkerung grundlegend falsch eingeschätzt: Das Feiern des militärischen Sieges erwies sich als schwacher Trost für Menschen, die einen Bruder, Vater, Sohn oder auch nur einen entfernten Verwandten verloren hatten.12 Nach dem Fiasko der Siegesparade wurde ein Komitee eingesetzt, um eine Form des Gedenkens auszuarbeiten, die den Bedürfnissen der Trauernden gerecht wurde. Lutyens’ schmuckloses Denkmal wurde nun in dauerhaftem Material ausgeführt. Das abstrakte Design besticht bis heute durch seine absolute Schlichtheit: ,,It says so much because it says so little“, formulierte Jay Winter prägnant. Das trifft auch auf den Erinnerungsritus zu, in den das Denkmal eingebettet wurde. In den 1920er und 1930er Jahren markierten zwei Schweigeminuten (,,the silence“) alljährlich den Tag, an dem die Kriegshandlungen 1918 eingestellt worden waren. Am 11. November um elf Uhr kam das ganze Land für zwei Minuten der Besinnung und des Gedenkens zum Stillstand. Die größte 11 12

Vgl. Goebel, Great War and Medieval Memory, S. 187–230. British Library, London, IOR, MSS Eur F 112/318, Correspondence and Papers of the Cabinet Committee to Make Arrangements for the Unveiling of the Cenotaph and the Burial of the Unknown Warrior, 1920; vgl. David Cannadine, War and Death, Grief and Mourning in Modern Britain, in: Joachim Whaley (Hg.), Mirrors of Mortality. Studies in the Social History of Death, London 1981, S. 217–226; Jay Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995, S. 103f.; vgl. dagegen Adrian Gregory, The Last Great War. British Society and the First World War, Cambridge 2008, S. 249–257. Schottland und Wales besitzen eigene nationale Kriegerdenkmäler. Vgl. Gaffney, Aftermath; Jenny Macleod, ,,By Scottish hands, with Scottish money, on Scottish soil“. The Scottish National War Memorial and National Identity, in: Journal of British Studies 49 (2010), S. 73–96.

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Abbildung 2: Cenotaph von Edwin Lutyens. Whitehall, London. 1920 (Foto: Stefan Goebel).

Stille herrschte am Cenotaph in London, wo die Hauptfeierlichkeiten zum Armistice Day stattfanden.13 Ein Cenotaph, ein leeres Grabmal, angelehnt an antike Vorbilder, frei von christlichen Symbolen, mit knapper Inschrift (,,The Glorious Dead“) und eingebettet in ein rituelles Schweigen – bei solch einem minimalistischen Konzept war Streit programmiert. Vor allem die anglikanische Kirche fühlte sich herausgefordert und verlangte nach einer konkreteren und vor allem christlichen Botschaft, zumal der Cenotaph nur wenige hundert Meter von Westminster Abbey entfernt platziert worden war. Schließlich setzte sich der Dekan der anglikanischen Königskirche mit seinem Vorschlag für ein Gegendenkmal durch. Am 11. November 1920 wurde als Pendant zum leeren Grabmal ein unbekannter Krieger von der Westfront nach Großbritannien überführt und in Westminster Abbey beigesetzt. Dies war die symbolische Rückführung eines einzelnen Soldaten in ein Land, das (im Gegensatz zu Frankreich und den USA) eine strikte Politik der Nicht-Repatriierung verfolgte. Die Erde, in der dieser Unknown Warrior seine letzte Ruhe fand, stammte von französischen Schlachtfeldern.

13

Vgl. Adrian Gregory, The Silence of Memory. Armistice Day 1919–1946, Oxford 1994.

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Stefan Goebel Abbildung 3: Denkmal für die Frauen des Zweiten Weltkrieges von John W. Mills. Whitehall, London. 2005 (Foto: Stefan Goebel).

Ein Staatsbegräbnis für einen Unbekannten war ein Novum in der Geschichte der britischen Krönungskirche. War dies vielleicht auch ein Moment der ,,Demokratisierung“ des Kriegsgedenkens in Großbritannien?14 Die egalitäre Tendenz wurde bereits von den Zeitgenossen kontrovers diskutiert. Für den liberalen Manchester Guardian hatte die Beisetzung des Unknown Warrior demokratische Konnotationen, denn das Hauptschiff einer Kirche sei in der Vergangenheit traditionell der Ort des Volkes gewesen. Dagegen sprach der sozialistische Daily Herald zunächst von einem Täuschungsmanöver des Establishments, das von den realen Problemen der Überlebenden ablenken solle. Der Herausgeber der Zeitung machte allerdings schnell eine Kehrtwendung. Bereits einen Tag nach der Beisetzung des Unknown Warrior feierte er ihn als Repräsentanten der kleinen Leute und begrüßte, dass dieser seine Grabstätte mit den ,,Königen längst vergangener Zeiten“ teile.15 14

15

Zur Demokratisierungsthese vgl. Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276. A Nation’s Remembrance and Devotion, in: Manchester Guardian, 12.11.1920, S. 9; Francis Meynell, The Unknown Warrior, in: Daily Herald, 11.11.1920, S. 4; England Honours

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Die räumliche Nähe zu den Gräbern englischer Könige, vor allem Heinrichs V., spielte auch eine zentrale Rolle in den Kommentaren der konservativeren Presse. Die Times stellte den Unknown Warrior in die Tradition der Toten der mittelalterlichen Schlacht an der Somme, das heißt der Schlacht von Agincourt, aus der Heinrich V. und seine Bogenschützen 1415 als Sieger hervorgegangen waren: ,,Fitly will he [Unknown Warrior] rest in French soil, the gift of French hands, beneath the chapel where hang the helmet and the sword of the conqueror of Agincourt. His blood and the blood of his great company, now sleeping in that same soil across the Channel.“16 Die Feudalisierung des Unknown Warrior – dieses ,,Repräsentanten der kleinen Leute“ – war schon in der Wortwahl angelegt. Anders als die Franzosen bestatteten die Briten am 11. November 1920 keinen ,,Unbekannten Soldaten“, sondern einen ,,warrior“. Die offizielle Begründung lautete, dass ,,warrior“ eine ,,neutrale“ Bezeichnung sei, die im Gegensatz zu ,,soldier“ alle drei Waffengattungen einschließe.17 Dazu bemerkte eine Veteranenzeitschrift: ,,The name Warrior of itself stands for something more than the word Soldier“.18 Bezeichnenderweise nahm weder die liberale noch die linke Presse Anstoß an diesem ,,something more“, denn das Wort ,,warrior“ war zwar kaum ,,neutral“, aber auch nicht negativ besetzt. Das gewisse Etwas des ,,warrior“ wurde zusätzlich betont durch die Ausgestaltung des Grabes. Zunächst stiftete der König als Grabbeilage ein historisches Schwert aus seiner Waffensammlung, dass als KreuzritterSchwert (,,Crusader’s sword“) bekannt wurde. Im folgenden Jahr, zum Armistice Day 1921, erhielt der Unknown Warrior eine neue Grabplatte, deren wortreiche Inschrift sich an die eines Bischofsgrabes aus dem 14. Jahrhundert anlehnte.19 Der Kontrast zwischen dem leeren und dem symbolischen Grabmal, zwischen der neoklassizistischen Schlichtheit des Cenotaph und dem neo-mittelalterlichen Prunk des Unknown Warrior sticht ins Auge, doch sollte dieser Gegensatz nicht überbewertet werden. In der rituellen Praxis des Armistice Day bildeten sie eine Einheit. Millionen von Trauernden begaben sich in den 1920er und 1930er Jahren auf Pilgerfahrt nach Whitehall, wo sie in Gedanken und Gebeten versunken

16 17 18 19

Its Unknown Dead, in: Daily Herald, 12.11.1920, S. 1; vgl. auch Goebel, Great War and Medieval Memory, S. 32–35 und S. 43–46. Armistice Day, in: The Times, 11.11.1920, S. 15. Public Record Office (PRO), The National Archives, CAB 27/99, S. 57, Memorandum Summarising the Dean of Westminster’s Suggestion, 15.10.1920. Herbert Jeans, In Death’s Cathedral Palace. The Story of the Unknown Warrior, in: British Legion Journal 9 (1929), H. 5, S. 118. Vgl. K[en] S. Inglis, Entombing Unknown Soldiers. From London and Paris to Baghdad, in: History and Memory 5 (1993), H. 2, S. 15; Carine Trevisan/Elise Julien, Cemeteries, in: Jay Winter/Jean-Louis Robert (Hg.), Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914– 1919, Bd. 2: A Cultural History, Cambridge 2007, S. 455–465.

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vom Cenotaph zum Unknown Warrior weiterzogen. Das politisch-administrative Zentrum Großbritanniens und des Empires verwandelte sich alljährlich zum 11. November in einen imaginierten Friedhof. Politische und kirchliche Entscheidungsträger haben Cenotaph und Unknown Warrior zwar gestiftet, doch erst durch die Präsenz der Pilger, wie die Trauernden sich selber bezeichneten, erhielten beide Denkmale einen tieferen Sinn.20 In individuellen und kollektiven Pilgerreisen nach Whitehall und Westminster Abbey verschmolzen öffentliches Gedenken und private Trauer, verschmolzen die Geschichte der Nation und Familienschicksale. Diese Verbindung wurde besonders sinnfällig in der Schaffung des Empire Field of Remembrance auf dem Kirchhof von St. Margaret gegenüber von Westminster Abbey. Ab November 1928 waren die Hinterbliebenen jährlich zum Armistice Day eingeladen, ,,poppies“ und kleine Kreuze in den Rasen vor St. Margaret’s Church zu pflanzen, im Gedächtnis an gefallene Verwandte oder Bekannte. Die ,,poppies“ und Kreuzchen fungierten als öffentliche Markierungszeichen privater Trauer an einem historischen Ort.21 Für die Briten bedeutete der 11. November nicht nur Armistice Day, sondern auch Poppy Day. An diesem Tag verkauften ehrenamtliche Helfer, meistens Frauen, stilisierte Mohnblumen aus roter Baumwolle oder Seide, die von Kriegsversehrten hergestellt worden waren. Der Klatschmohn erinnerte an die Mohnblumenfelder in Flandern; die rote Farbe an das dort vergossene Blut. Am 11. November zeigte sich fast niemand in der Öffentlichkeit ohne ,,poppy“ am Revers.22 Das Tragen von ,,poppies“ war zu einer sozialen Pflicht geworden – nicht gegenüber den Toten, sondern gegenüber den vom Krieg gezeichneten Überlebenden, denn die Einnahmen flossen bedürftigen Veteranen und den Hinterbliebenen gefallener Soldaten zu. Der Armistice Day ehrte die Toten; der Poppy Day lenkte dagegen die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Überlebenden (vor allem der ehemaligen Kriegsteilnehmer und ihrer Familien, die von der staatlichen Wohlfahrt oft stiefmütterlich behandelt wurden).23 In der Praxis des 11. Novembers vermengten sich Karitas und Kommemoration, denn überall wurden Kriegerdenkmäler mit ,,poppies“ geschmückt. Veranstaltet wurde Poppy Day von dem Veteranenvereinigung British Legion unter der Schirmherrschaft von Douglas Haig, des ehemaligen Oberbefehlshabers des Britischen Expeditionsheeres an der Westfront. Verglichen mit den mitgliederstarken deutschen 20 21 22 23

Vgl. David W. Lloyd, Battlefield Tourism. Pilgrimage and the Commemoration of the Great War in Great Britain, Australia and Canada, 1919–1939, Oxford 1998. Vgl. IWM, Department of Printed Books, Eph. Mem., K 94/113, British Legion Poppy Factory, The Empire Field of Remembrance, Richmond o.J. Als literarisches Beispiel vgl. Dorothy L. Sayers, The Unpleasantness at the Bellona Club, London 1928. Vgl. Gregory, Silence of Memory, S. 93–117; Deborah Cohen, The War Come Home. Disabled Veterans in Great Britain and Germany, 1914–1939, Berkeley 2001.

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Veteranenverbänden war die British Legion eine schwache Organisation, die keinen größeren Einfluss auf das öffentliche Gedenken jenseits der ,,poppy“Aktion ausüben konnte. Das hing nicht unwesentlich mit dem geringen Organisationsgrad der britischen Veteranen zusammen. Nur um die zehn Prozent der ehemaligen Kriegsteilnehmer traten der British Legion in der Zwischenkriegszeit bei, denn die Legion erinnerte viele Veteranen zu sehr an den Militärdienst – eine Erfahrung, die viele Männer lieber vergessen wollten.24 Veteranen spielten im öffentlichen Gedenken am 11. November nur eine Nebenrolle. Das Armistice Day-Ritual bot vor allem ein Forum für die Trauer der Hinterbliebenen. Das soldatische Kriegserlebnis kam dagegen im öffentlichen Raum außerhalb der Treffpunkte ehemaliger Regiments- und Bataillonsangehöriger nie recht zum Ausdruck.25 Im Großbritannien der 1920er und 1930er Jahre gab es kein Äquivalent des deutschen Kultes des ,,Kriegserlebnisses“ und seiner Augenzeugen. Wenn in der Öffentlichkeit das soldatische Kriegserlebnis thematisiert wurde, dann in der Sprache des traumatischen ,,shell-shock“.

Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit: Bewährte Rituale, neue Diskurse Im Zweiten Weltkrieg wurde Poppy Day fortgesetzt. Das Spendenaufkommen war im November 1939 größer denn je. Dagegen beschloss das Kriegskabinett, das offizielle Armistice Day-Ritual am Cenotaph für die Dauer des Krieges einzustellen (allerdings wurde privates Gedenken dort nicht verboten). Die zentrale Gedenkveranstaltung wurde also ausgerechnet zu dem Zeitpunkt ausgesetzt, als man die Gesellschaft für einen neuen Krieg mobilisierte. Diese Entscheidung verdeutlicht, dass das Kriegsgedenken am 11. November nicht primär politisch motiviert war. Die ,,silence“ am 11. November gab Raum zur individuellen Besinnung im kollektiven Rahmen. Sogar am Cenotaph, mitten in Whitehall, wurde kein ,,politischer Totenkult“ inszeniert, sondern Trauer legitimiert. Das analytische Vokabular Reinhart Kosellecks und George L. Mosses greift hier nicht bzw. würde den britischen Fall eher verzerren als erhellen.26 24 25 26

Vgl. Adrian Gregory, Peculiarities of the British? War, Violence and Politics: 1900–1939, in: Journal of Modern European History 1 (2003), H. 1, S. 51f. Zur privaten Erinnerungskultur der Veteranen vgl. Mark Connelly, Steady the Buffs! A Regiment, a Region, and the Great War, Oxford 2006, S. 220–222. Vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: ders./Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 9–20; Mosse, Fallen Soldiers; vgl. dagegen Winter, Sites of Memory, S. 78–116; Cannadine, War and Death, S. 219; Gregory, Silence of Memory, S. 172f. Gregory hat seine Position inzwischen revidiert. Vgl. ders., Last Great War, S. 249–257.

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Informell wurde die ,,silence“ weiterhin eingehalten. Im Laufe des Krieges verlor der Armistice Day jedoch an Bedeutung. 1941 hielt Mass Observation (ein Hybrid zwischen Sozialforschungsinstitut und sozialer Bewegung) fest, dass die zwei Schweigeminuten in London fast nur noch am Cenotaph eingelegt wurden; in den anderen Stadtteilen Londons ging das öffentliche Leben wie gewohnt weiter. Auch wurden ,,poppies“ viel seltener im Knopfloch zur Schau getragen. Wo der Armistice Day noch feierlich begangen wurde, verschwammen die Grenzen zwischen Erinnerungen und Eindrücken aus den beiden Weltkriegen. Im Empire Field of Remembrance gegenüber Westminster Abbey pflanzte man nun auch ,,poppies“ für die zivilen und militärischen Toten des Zweiten Weltkrieges.27 Mit dem Ende der Kampfhandlungen 1945 stellte sich die Frage nach einem nationalen bzw. imperialen Gedenktag für die Kriegstoten erneut. Eine Vielzahl von Alternativen zum 11. November stand zur Debatte: zum Beispiel der 8. Mai (VE-Day), der 14. August (der Tag der Unterzeichnung der AtlantikCharta) oder der 15. August (VJ-Day). Doch kein Datum schien geeignet, den Zweiten Weltkrieg in seiner Gesamtheit zu symbolisieren. In Ermangelung einer wirklichen Alternative kam der Armistice Day wieder auf die Tagesordnung. Tatsächlich wurde das Ritual des Armistice Day – das Gedenken am Cenotaph und die ,,silence“ – wiederbelebt; der Termin jedoch wurde 1946 auf Druck der Kirche auf einen Sonntag (Remembrance Sunday) verlegt. Der Gedenktag war in den ersten Nachkriegsjahren zunächst beweglich und konnte auf einen Sonntag vor oder nach dem 11. November fallen. Dieses Arrangement erwies sich als zu kompliziert, und 1956 legte die Regierung den zweiten Sonntag im Monat als Remembrance Sunday fest.28 Remembrance Sunday war keine Neuheit, hatte aber in der Vergangenheit im Schatten des Armistice Day gestanden. Bereits in der Zwischenkriegszeit hatten die Kirchen und die British Legion diesen Tag feierlich begangen. Während am Armistice Day die trauernden Familien und vor allem die Mütter und Witwen im Vordergrund gestanden hatten, spielten am Remembrance Sunday die Mitglieder der British Legion eine prominente Rolle. Die Verlegung der öffentlichen Gedenkveranstaltung auf einen Sonntag ermöglichte berufstätigen Kriegsveteranen eine zahlreichere Teilnahme, denn der Armistice Day war kein gesetzlicher Feiertag gewesen. Die offiziellen Feierlichkeiten im November nahmen dadurch bisweilen den Charakter eines Veteranentreffens an.29 27 28

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Mass Observation Archive, Brighton, FR 980, Armistice Day 1941, 14.11.1941. Remembrance Day Fixed, in: The Times, 20.06.1946, S. 4; Cenotaph. A Memorial of Both Wars, in: The Times, 08.10.1946, S. 4; Remembrance Sunday Fixed, in: The Times, 22.06.1956, S. 10. Vgl. Gregory, Silence of Memory, S. 212–221; Connelly, Great War, Memory and Ritual, S. 151–153.

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Aus der exponierten Rolle der Veteranen am Remembrance Sunday darf jedoch nicht geschlossen werden, dass dem soldatischen Kriegserlebnis nach 1945 ein breiterer Raum geschenkt wurde als in der Zwischenkriegszeit. Das Gegenteil war der Fall: Der Zweite Weltkrieg wurde als ,,people’s war“, als Krieg der kleinen Leute, mythisiert.30 Im Mittelpunkt dieser Repräsentation stehen die Ereignisse des Jahres 1940, insbesondere der ,,Blitz“. Der Begriff ,,Blitz“, abgeleitet aus dem deutschen Wort ,,Blitzkrieg“, bezeichnet die Bombenangriffe der Luftwaffe auf britische Städte (insbesondere auf London) vom Herbst 1940 bis zum Frühjahr 1941. Im Gegensatz zum deutschen Begriff ,,Blitzkrieg“ konnotiert ,,Blitz“ allerdings nicht die Art der Kriegsführung, sondern die Kriegserfahrung der Opfer, das heißt die Leidensfähigkeit und den Durchhaltewillen der Zivilbevölkerung. ,,Britain Can Take It!“ (so der Titel eines Propagandafilms von 1940) lautete der Schlachtruf der Heimatfront und später das Motto des Erinnerungsdiskurses.31 Nach dem Krieg schien es nur folgerichtig, des ,,people’s war“ auf einer Art und Weise zu gedenken, die nicht nur den (soldatischen) Tod, sondern auch das Überleben in den Vordergrund stellte. Man diskutierte Denkmalstypen, die die Erinnerung an die Toten mit der Schaffung gemeinnütziger Einrichtungen für die Lebenden verbanden. Meinungsumfragen in den 1940er Jahren ergaben eine weit verbreitete Abneigung gegen kostspielige Monumente und Zustimmung zu ,,nützlichen“ Denkmalsprojekten, die zu der sozialpolitischen Aufbau- und Aufbruchsstimmung nach 1945 passten.32 Die Idee des ,,utilitarian memorial“ war allerdings nicht neu. Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurden vielerorts ,,nützliche“ Erinnerungsprojekte erwogen, aber selten realisiert. Befürworter von ,,utilitarian memorials“ stammten häufig aus dem protestantisch-nonkonformistischen Spektrum, das eine Aversion gegen üppigen Bilderschmuck hegte. Doch in der Praxis des Gedenkens erwiesen sich ,,utilitarian memorials“ als

30

31

32

Vgl. Angus Calder, The People’s War. Britain 1939–45, London 1969; John Ramsden, Mythen und Realitäten des ,,People’s War“ in Großbritannien, in: Jörg Echternkamp/Stefan Martens (Hg.), Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung, Paderborn 2007, S. 65–77; Geoff Eley, Finding the People’s War. Film, British Collective Memory, and World War II, in: American Historical Review 106 (2001), S. 818–838. Vgl. Mark Connelly, We Can Take It! Britain and the Memory of the Second World War, Harlow 2004, S. 128–153; ders., ,,We Can Take It!“. Großbritannien und die Erinnerung an die Heimatfront im Zweiten Weltkrieg, in: Echternkamp/Martens, Der Zweite Weltkrieg in Europa, S. 79–96; ders./Stefan Goebel, Zwischen Erinnerungspolitik und Erinnerungskonsum. Der Luftkrieg in Großbritannien, in: Jörg Arnold u. a. (Hg.), Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, Göttingen 2009, S. 50–65; Malcolm Smith, Britain and 1940. History, Myth and Popular Memory, London 2000; Angus Calder, The Myth of the Blitz, London 1991. Vgl. Arnold Whittick, War Memorials, London 1946, S. 1f.; Hansard’s Parliamentary Debates. Lords, Bd. 134, 14.02.1945, Sp. 1016–1054.

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ungeeignet, das Bedürfnis der trauernden Angehörigen nach Ersatzgräbern für ihre Toten zu stillen.33 Ein Krankenhausbett, ein Sportplatz oder ein Stipendium konnten in Großbritannien (und auch in den Dominions des Commonwealth) durchaus als ,,war memorial“ konzipiert werden, denn der englische Begriff ist sehr viel offener als seine französischen oder deutschen Entsprechungen. Ein ,,war memorial“ kann, muss aber nicht plastisch-monumentaler Art sein; es kann, muss aber nicht Tod und ,,sacrifice“ in den Vordergrund stellen. Ein Argument für ,,utilitarian memorials“ nach 1945 war pragmatischer Natur: Warum sollten plastische Kriegerdenkmäler geschaffen werden, wenn bereits fast jede Gemeinde eines aus der Zeit nach 1914–18 besaß?34 Ob der Zweite Weltkrieg tatsächlich mehr ,,utilitarian memorials“ hervorgebracht als der Erste, ist von der Forschung noch nicht hinreichend geklärt. Neue plastische Denkmäler entstanden nach Kriegsende vor allem in den Städten, die von deutschen Bombern und V-Raketen heimgesucht worden waren. Die Errichtung von Kriegerdenkmälern im klassischen Sinne blieb dagegen die Ausnahme. Nach 1945 gab es keine Welle von Denkmalssetzungen wie nach 1914–18. In der Regel wurden bestehende Kriegerdenkmäler lediglich neu geweiht, um die Daten 1939–45 aktualisiert (so etwa der Cenotaph in London 1946) und um die (relativ wenigen) Namen der toten Soldaten erweitert. Dabei fällt auf, dass die Denkmalsfrage in vielen Gemeinden nicht als dringlich behandelt wurde. Vielerorts wurden bestehende Kriegerdenkmäler erst während der 1950er Jahre umgestaltet.35 Ein interessantes Beispiel bietet das Pembroke College in der Universitätsstadt Cambridge. Nach dem Ersten Weltkrieg errichtete das College ein Kriegerdenkmal in einem Säulengang, der den Haupteingang mit der Kapelle verbindet. Die Namen der gefallenen Dozenten, Studenten und Bediensteten wurden auf einer großen, auffälligen Gedenktafel verewigt. Für die Namen der Toten des Zweiten Weltkrieges bot das existierende Denkmal jedoch nicht genügend Platz. Die Leitung des College entschied sich daher für eine pragmatische Lösung: Die 33

34

35

Vgl. K[en] S. Inglis, War Memorials. Ten Questions for Historians, in: Guerres mondiales et conflits contemporains 42 (1992), H. 167, S. 10; ders., The Homecoming. The War Memorial Movement in Cambridge, England, in: Journal of Contemporary History 27 (1992), S. 583–605; vgl. dagegen Gregory, Last Great War, S. 257–263. Vgl. Dan Todman, The Great War. Myth and Memory, London 2005, S. 59; Mosse, Fallen Soldiers, S. 220f.; Nick Hewitt, A Sceptical Generation? War Memorials and the Collective Memory of the Second World War in Britain, in: Dominik Geppert (Hg.), The Postwar Challenge. Cultural, Social, and Political Change in Western Europe, 1945–58, Oxford 2003, S. 82–85. Vgl. United Kingdom National Inventory of War Memorials, http://www.ukniwm.org.uk (30.11.2011) sowie die reich bebilderte Bestandsaufnahme von Derek Boorman, For Your Tomorrow. British Second World War Memorials, York 1995.

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Namen der Toten von 1939–45 wurden einfach auf der Rückseite der Säulen verewigt – schwer zu entdecken und noch dazu in einer viel kleineren Schriftgröße. Der Zweite Weltkrieg wurde somit zu einem kaum sichtbaren, geradezu banalen Nachtrag zum ,,Großen Krieg“. Kriegerdenkmäler im großen Stile wurden in der zweiten Nachkriegszeit nicht mehr gebaut. Die monumentale Leerstelle, die so in der Erinnerungskultur entstand, ist sicherlich kein rein britisches, sondern ein europäisches Phänomen.36 Allerdings trifft dies nur auf Kriegerdenkmäler im klassischen Sinne zu. Unter den Erinnerungswerken der Zeit nach 1945 ragt zumindest eines hervor: die Kathedrale von Coventry. Das Erinnerungsprojekt der Kathedrale vereinigt in sich scheinbar widersprüchliche Tendenzen; es ist sinnstiftend, aber eingebettet in eine postheroische Ablehnung von Krieg und Gewalt.37 Es liefert keine affirmativen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Sterbens. Vielmehr liegt das sinnstiftende Potential im Akt des Gedenkens an sich. Im November 1940 traf der ,,Blitz“ der Luftwaffe die mittelenglische Stadt Coventry. Die gotische Kathedrale brannte bis auf die Grundmauern aus. Auf den Ruinen des Gotteshauses wurde noch zu Kriegszeiten der ideelle Grundstein für das wohl ambitionierteste europäische Erinnerungsprojekt der Nachkriegszeit gelegt. Bereits in seiner Andacht zum Weihnachtsfest 1940 predigte der Domprobst Frieden und Versöhnung mit dem Gegner und zeichnete damit das pazifistische Programm für die Nachkriegszeit vor. Coventry entwickelte sich zum Dreh- und Angelpunkt postnationaler Erinnerungsarbeit im Nachkriegseuropa. In den 1950er und 1960er Jahren fungierte das Chiffre ,,Coventry“ als europäischer, wenn nicht globaler Referenzpunkt des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg, auch jenseits des Eisernen Vorhanges.38 Sichtbare Zeichen der Transnationalität des Erinnerungsortes Coventry waren zum einen der Neubau der Kathedrale, zum anderen das Netzwerk der Nagelkreuzgemeinschaft (,,Cross of Nails“). Wie kein zweites Bauprojekt der Nachkriegszeit hat Coventry Cathedral weltweite Aufmerksamkeit erhalten. Spenden trafen aus der ganzen Welt ein – auch aus Westdeutschland. Der Bundespräsident und der Bundeskanzler steuerten größere Schecks bei; die Evangelische Kirche 36

37 38

Vgl. Richard Bessel/Dirk Schumann, Introduction. Violence, Normality, and the Construction of Postwar Europe, in: dies. (Hg.), Life after Death. Approaches to a Cultural and Social History of Europe during the 1940s and 1950s, Cambridge 2003, S. 2. Vgl. Manfred Hettling, Nationale Weichenstellungen und Individualisierung der Erinnerung. Politischer Totenkult im Vergleich, in diesem Band. Vgl. Stefan Goebel, Coventry und Dresden. Transnationale Netzwerke der Erinnerung in den 1950er und 1960er Jahren, in: Dietmar Süß (Hg.), Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung, München 2007, S. 111–120 sowie ausführlicher ders., Commemorative Cosmopolis. Transnational Networks of Remembrance in Post-War Coventry, in: ders./ Derek Keene (Hg.), Cities into Battlefields. Metropolitan Scenarios, Experiences and Commemorations of Total War, Farnham 2011, S. 162–183.

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Abbildung 4: Kathedrale von Coventry. Neubau von Basil Spence. 1962 (Quelle: Cathedral Archives Coventry).

Deutschlands stiftete bunte Glasfenster für die ökumenische Kapelle; und Kiel, die westdeutsche Partnerstadt Coventrys, schickte einen symbolischen Stein aus einer von Bomben zerstörten Kieler Kirche, den ,,Kiel Stone of Forgiveness“.39 Diese Spenden wurden in Coventry nicht als ein einseitiger Akt der Wiedergutmachung aufgefasst, sondern als Ausdruck gegenseitigen Vergebens. Als der Neubau im Mai 1962 eingeweiht wurde, feierte man das Gotteshaus des Architekten Basil Spence überschwänglich als einen internationalen Schrein und Wallfahrtsort für Menschen aus der ganzen Welt.40 Tatsächlich wirkte die neue Kathedrale – in die Spence die Ruine der zerstörten Kirche geschickt integriert hat – wie ein Magnet auf ausländische Besucher und vor allem auf deutsche Christen. Ab den 1950er Jahren fanden in der Ruine der gotischen Kirche regelmäßig Gottesdienste in deutscher Sprache statt. Der Probst erinnert sich: ,,I took every opportunity of showing them round. In the sanctuary they would look at the words ,Father forgive’. In the Chapel of Unity I would put the Cross of Nails into their hands and assure them that the Cross of Christ anni39 40

Vgl. Louise Campbell, Coventry Cathedral. Art and Architecture in Post-War Britain, Oxford 1996, S. 221 und S. 277. A New National Monument, in: Builder 202 (1962), S. 1057.

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hilates the guilt of sinful man. […] Again and again the spiritual miracle would happen. Germans still bound in the fetters of war guilt would be suddenly set free, and would go away with a sense of release and tranquil joy.“41 Das Nagelkreuz, das Sinnbild der Friedens-Mission von Coventry Cathedral, besteht aus drei Nägeln, die fünf Jahrhunderte lang die Balken der gotischen Kirche zusammengehalten hatten. Nach dem schweren Luftangriff vom 14. November 1940 lagen die alten Nägel verstreut in der ausgebrannten Kathedrale. Bei den ersten Aufräumarbeiten entstand spontan die Idee, aus diesen Überresten ein Nagelkreuz zu formen. Nach dem Krieg wurde das Nagelkreuz im zerstörten Altarraum aufgestellt und in den Mauerresten der Apsis die Inschrift ,,Father Forgive“ eingemeißelt. Ruine und Nagelkreuz sind keine stummen Zeugen der Zerstörung, sondern Teil eines lebendigen Gedenkrituals. Wochentags wird zur Mittagszeit an diesem Ort eine kurze Andacht gehalten, die ,,Litany of Reconciliation“. Seit Ende des Krieges ist das Nagelkreuz immer wieder auf Reisen geschickt worden, um in der ganzen Welt zu Frieden und Versöhnung aufzufordern. Auch Kopien wurden hergestellt, die sich heute an unzähligen Orten auf der ganzen Welt befinden. Im Laufe der Zeit entstand ein weltweites Netzwerk von Nagelkreuzzentren, zunächst jedoch vornehmlich in Städten, die im Zweiten Weltkrieg stark gelitten hatten. In Deutschland zählen unter anderem die Zentrale der Aktion Sühnezeichen in Berlin und das Diakonissenkrankenhaus in Dresden zu den Partnern in der Nagelkreuzgemeinschaft. Die Mitglieder der Nagelkreuzgemeinschaft verbindet dreierlei: die Mission für Frieden und Verständigung weltweit, das Symbol des Nagelkreuzes und die gemeinsame Liturgie der ,,Litany of Reconciliation“.42 Am Remembrance Sunday 1964 begann das spektakulärste Erinnerungsprojekt der Kathedrale. Der Domprobst stellte seine Pläne für ein Zeichen der Aussöhnung mit den Menschen der Stadt Dresden vor – Bürgern eines Staates, den die britische Regierung zu diesem Zeitpunkt gar nicht anerkannte. Britische Aufbauhelfer sollten in die Elbmetropole geschickt werden, um dort beim Wiederaufbau des zerstörten Diakonissenkrankenhauses mitzuhelfen. Dafür wurde zu Spenden aufgerufen. Der Spendenappell sprach von 200.000 Toten in Dresden.43 Wer mochte bei einer solch hohen Opferzahl die Notwendigkeit der symbolischen Bauarbeiten in Dresden bezweifeln? Wer 41 42 43

Richard T. Howard, Ruined and Rebuilt. The Story of Coventry Cathedral 1939–1962, Coventry 1962, S. 88. Vgl. W[illiam] E. Rose, Sent from Coventry. A Mission of International Reconciliation, London 1980, S. 52–59. Cathedral Archives, Coventry, CCN 20, Dresden. An Appeal for International Reconciliation, [1964]; vgl. Merrilyn Thomas, Communing with the Enemy. Covert Operations, Christianity and Cold War Politics in Britain and the GDR, Oxford 2005.

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mochte da noch Luftmarschall Arthur (,,Bomber“) Harris und seine Bomberbesatzungen verteidigen? Das angebliche Ausmaß menschlichen Leidens in Dresden machte auch den letzten Kritiker des politisch brisanten Projektes mundtot. Unter den Spendern war auch ein Pilot, der an den Luftangriffen auf Dresden im Februar 1945 beteiligt gewesen war. Von Gewissensbissen geplagt, schrieb er an den Domprobst: ,,Now twenty years later your fantastic figures of dead and injured make me feel like a mass murderer.“44 Das war sicherlich nicht die Absicht des Probstes gewesen. Dennoch trug das Dresden-Projekt der Kathedrale indirekt und ungewollt zur Marginalisierung der Flieger des Bomber Command bei, indem es übersteigerte Opferzahlen verbreitete. (Heute kann es als erwiesen gelten, dass maximal 25.000 Menschen bei dem schweren Luftangriff ums Leben kamen).45 Von allen Kriegsteilnehmern hatte Großbritannien den strategischen Luftkrieg mit der größten Energie geführt, und das Bomber Command hat mit mehr als 55.000 Toten dafür einen sehr hohen Blutzoll bezahlen müssen. Während des Krieges hatte der strategische Luftkrieg großen Rückhalt in der Bevölkerung, der Presse und der Politik gefunden. Doch im Frühjahr 1945 wendete sich das Blatt für Bomber Harris und seine Flieger. Nach der Bombardierung Dresdens begannen Politiker sich von der Luftkriegsstrategie zu distanzieren und ihre Hände in Unschuld zu waschen. Die überlebenden Flieger wurden fortan immer wieder von der Regierung brüskiert und die Toten des Bomber Command an den Rand des offiziellen Gedenkens gedrängt.46 An die Stelle der Gemeinschaft und Gleichheit der militärischen Kriegstoten, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg begründet worden war, trat eine Zweiklassengesellschaft. Die soziale Ausgrenzung der Toten des Bomber Command wird besonders augenfällig, wenn man das Gedenken an die Kampfflieger und die Luftschlacht um England (,,Battle of Britain“) zum Vergleich heranzieht. Das Fighter Command wurde bereits 1947 durch eine eigene Seitenkapelle in Westminster Abbey geehrt; das Bomber Command erhielt dagegen erst zehn Jahre nach Kriegsende ein würdiges Denkmal. Dieses befindet sich aber nicht an einem zentralen Platz in der Hauptstadt, sondern ist verteilt auf drei Kathedralen in der englischen 44 45

46

Cathedral Archives, Coventry, CCN 20, Provost Williams an F. J. Salfeld, 30.11.1964. Vgl. Goebel, Commemorative Cosmopolis, S. 180–183. Zur anhaltenden Diskussion um die Zahl der Opfer vgl. Richard J. Evans, Lying about Hitler. History, Holocaust, and the David Irving Trial, New York 2001, S. 154; Rolf-Dieter Müller u. a. (Hg.), Die Zerstörung Dresdens 13. bis 15. Februar 1945. Gutachten und Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen, Göttingen 2010. Vgl. Mark Connelly, Reaching for the Stars. A New History of Bomber Command in World War II, London 2001, S. 137–157. Zu einem anderen Schluss gelangt Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011, S. 486–488.

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Provinz: Ely, Lincoln und York.47 Allein die Wahl des Standorts zeigt, wie gespalten die Erinnerung an den strategischen Luftkrieg war. Sogar innerhalb der Royal Air Force tat man sich schwer mit dem Vermächtnis des Bombenkrieges. 1978 öffnete ein eigenes Battle of Britain Museum im Londoner Stadtteil Hendon dem Publikum seine Pforten; ein Bomber Command Museum am gleichen Standort konnte erst nach größeren Schwierigkeiten fünf Jahre später seine Pforten öffnen. (1988 verscholzen die beiden Museen mit dem Royal Air Force Museum).48 Ein Blick auf die Semantik des Gedenkens an das Bomber Command verdeutlicht die Verwerfung im Erinnerungsdiskurs im Gefolge des Zweiten Weltkrieges. Nach 1914–18 war Ritterlichkeit ein zentraler Tropus gewesen, und vor allem das Fliegerkorps war als ritterliche Gemeinschaft repräsentiert worden. Nach 1945 verschwand Ritterlichkeit aus der Sprache des öffentlichen Gedenkens. Unter allen Kampagnen des Zweiten Weltkrieges ließ sich der strategische Luftkrieg am wenigsten mit dem Ideal des ritterlichen Kampfes vereinbaren. Insbesondere die Bombardierung Dresdens wurde zum Menetekel der Nachkriegsgeneration. Die Folge war zum einen die Marginalisierung der Toten des Bomber Command, zum anderen die Verflüchtigung des Wortes ,,chivalry“ aus dem Erinnerungsdiskurs nach 1945.49 Dieses Vakuum konnten Friedens- und Versöhnungsappelle aus Coventry bis zu einem gewissen Grade in den 1950er und 1960er Jahren füllen. Doch während der 1970er Jahre verlor Coventry an Bedeutung. Diejenigen, die Coventry als europäischen Erinnerungsort konzipiert hatten, schieden aus dem öffentlichen Leben. Das Netzwerk, das sie aufgebaut hatten, war aber auch ein Produkt des Kalten Krieges gewesen. Im Zeitalter der relativen Entspannung ging dieser friedenspolitische Impetus mehr und mehr verloren. Gewiss, bis heute unterhält die Kathedrale sehr ausgiebige Kontakte mit dem Ausland, insbesondere mit Dresden. Doch vom Erfolg der Anfangsjahre beflügelt, brach man zu neuen Ufern auf. Zentren der Nagelkreuzbewegung entstanden in aktuellen Brennpunkten wie Nordirland. Nur geriet dabei fast zwangsläufig die Dimension des Gedenkens in den Hintergrund. Der gemeinsame Nenner war zwar weiterhin der Wille zum Frieden, aber nicht mehr zwangsläufig die Erinnerung an eine konkrete historische Situation. Friedensarbeit und Erinnerungsarbeit verliefen von jetzt an häufig in getrennten Bahnen.

47

48 49

PRO, AIR 14/4032, Bomber Command Wemorial Window, Lincoln Cathedral. General Correspondence, 1953–54; vgl. Adrian Gregory, The Commemoration of the Battle of Britain, in: Paul Addison/Jeremy A. Crang (Hg.), The Burning Blue. A New History of the Battle of Britain, London 2000, S. 217–228. Royal Air Force Museum Archives, London, KE 2/1, Trustees’ Minute Book, 1965–1985. Vgl. Goebel, Great War and Medieval Memory, S. 291–301.

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Am Beginn des 21. Jahrhunderts: Der ,,memory boom‘‘ und die neuen Kriege Queen and Country heißt das Denkmalprojekt für die Toten des Irakkrieges, das der Träger des bedeutendsten britischen Kunstpreises, des Turner Prize, und offizielle ,,war artist“ (ein Amt, das ursprünglich im Ersten Weltkrieg eingeführt worden war) Steve McQueen konzipiert hat. Der Künstler reproduzierte die Gesichter getöteter Soldaten im Stile von Briefmarken der Royal Mail (mitsamt dem Profil der Königin). Bei der Auswahl der Fotografien halfen die Angehörigen mit. Das laufende Projekt wurde erstmals zur Jahreswende 2007/08 im Imperial War Museum ausgestellt. Konzeptionell knüpft es an eine Tradition aus der Zeit des Ersten Weltkrieges an. Das damals neu gegründete Museum hatte sich vorgenommen, von jedem einzelnen getöteten Soldaten ein Bild zu sammeln, und die Hinterbliebenen um die Einsendung von Portraitfotografien gebeten. Dieses ambitionierte Denkmal wurde nie vollendet, aber fünfzehntausend Bilder befinden sich bis heute im Magazin des Museums. McQueen verleiht dem Kriegstod ein Gesicht – und schafft gleichzeitig einen Brückschlag zur Entstehungsphase der modernen Erinnerungskultur in Großbritannien nach 1914–18.50 Queen and Country ist Teil einer erneuerten Erinnerungslandschaft im Herzen der Hauptstadt. Um die Jahrtausendwende entstanden einige recht spektakuläre Denkmäler im Zentrum Londons, darunter das in dunkler Bronze gehaltene Denkmal für die Frauen des Zweiten Weltkrieges (das Lutyens’ Form adaptiert und sich in unmittelbarer Nähe zum weißen Cenotaph befindet) sowie am Hyde Park ein großangelegtes Monument für Tiere, die den Briten und ihren Verbündeten in vergangenen Kriegen gedient haben.51 Diese Denkmäler sind Ausdruck eines generellen ,,memory boom“, in dem bis dahin marginalisierte Gruppen und traumatische Erinnerungen ins Zentrum der öffentlichen Erinnerungskultur vordringen. Der ,,memory boom“ und die Formierung einer ,,generation of memory“ (Jay Winter) hat sicherlich viel mit dem Ende des Kalten Krieges, das 50

51

Vgl. Sarah Crompton, The New Face of Remembrance, in: Daily Telegraph, 08.11.2008, Beilage, S. 1; Roger Tolson, An Inspiring Vision of Service Life, in: Despatches. The Magazine of the Friends of the Imperial War Museum (Winter 2007), S. 7. Einen visuellen Eindruck mit weiterführenden Links vermittelt Queen and Country. A Project by Steve McQueen, http://www.artfund.org/queenandcountry/index.php (30.11.2011). Zur Fotosammlung des IWM vgl. Catherine Moriarty, “Though in a Picture Only” . Portrait Photography and the Commemoration of the First World War, in: Gail Braybon (Hg.), Evidence, History and the Great War. Historians and the Impact of 1914–18, New York 2003, S. 38; Stefan Goebel, Exhibitions, in: Winter/Robert, Capital Cities at War, S. 167–169. Vgl. Sholto Byrnes, Monument to Unsung Army of Women Who Went to War, in: Independent on Sunday, 10.7.2005, S. 21; Remembered at Last. Animals Who Served during Wartime, in: Independent, 25.11.2004, S. 12f.; vgl. auch Joan Beaumont, Nation oder Commonwealth? Der gefallene Soldat und die nationale Identität, in diesem Band.

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heißt dem Abschluss der Nachkriegszeit und dem Generationenwechsel zu tun. Alte und Junge überführen das aussterbende ,,kommunikative Gedächtnis“ des Krieges in einen neuen Aggregatszustand: ein rituell und monumental gesichertes ,,kulturelles Gedächtnis“.52 Als Vorbote des ,,memory boom“ der 1990er Jahre können die Denkmalssetzungen der 1980er Jahre gesehen werden. Die Initiative ergriffen vor allem Veteranen bestimmter Kriegsschauplätze und Waffengattungen, die in der Nachkriegszeit an den Rand der öffentlichen Erinnerungskultur gedrängt worden waren. In den 1980er Jahren entstand zunächst eine Reihe von kleineren Denkmälern, die an die Kämpfe in Burma zwischen 1941 und 1945 erinnerten und von der Burma Star Association initiiert worden waren. Die verlustreiche Burma-Kampagne hatte nach 1945 lange Zeit kaum Beachtung gefunden, was nicht zuletzt daran lag, dass die Befreiung Burmas angesichts der anschließenden Unabhängigkeit und Loslösung vom Commonwealth als ironischer Sieg erschien. Das ,,Vergessen“ Burmas hing aber auch damit zusammen, dass viele der Veteranen aus dem Commonwealth und Empire – vor allem aus dem ebenfalls unabhängigen Indien – stammten.53 Auch die marginalisierten Veteranen des strategischen Luftkrieges versuchten mit einem Denkmal aus dem Schattendasein zu treten, das sie in der Nachkriegszeit gefristet hatten. Vor St. Clement Danes, der Kirche der Royal Air Force in Westminster, enthüllte die Königinmutter als Schirmherrin der Bomber Command Association 1992 eine Statue des 1984 verstorbenen Commander-in-Chief des Bomber Command, Arthur Harris. Das Denkmal bildete zwar den Luftmarschall ab, war aber gleichzeitig den Toten des Bomber Command gewidmet, was allerdings in der hitzigen Diskussion unterging. Die Kontroverse konzentrierte sich ganz auf die (Un)Person Harris – und explizit oder implizit auf die Bombardierung Dresdens. Bezeichnenderweise forderte keiner der Denkmalsgegner den Abriss der Statuen für Harris’ Vorgesetzte, Winston Churchill und Charles Portal. Die Erinnerungspolitik der Nachkriegszeit, die Stigmatisierung eines Einzelnen, fand im Mai 1992 ihren Höhepunkt – und die toten Bomberflieger, die doch eigentlich dem kollektiven Vergessen entrissen werden sollten, gerieten wieder ins kommemorative Abseits.54

52

53 54

Vgl. Winter, Remembering War, S. 1–51; ders., Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den ,,Memory-Boom“ in der zeithistorischen Forschung, in: WerkstattGeschichte (2001), H. 30, S. 5–16; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München2 1997, S. 60. Vgl. Boorman, For Your Tomorrow, S. 63–68; Connelly, We Can Take It!, S. 251. Vgl. John Taylor, ,,London’s Latest Immortal“ – the Statue to Sir Arthur Harris of Bomber Command, in: Kritische Berichte 20 (1992), H. 3, S. 96–102; Connelly, Reaching for the Stars, S. 137–139.

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Die Kontroverse um das Harris-Denkmal gab den Anstoß zur Gründung des britischen Dresden Trust mit dem Ziel, in Großbritannien Spenden für den Wiederaufbau der Frauenkirche zu sammeln. Der Trust unterstützte nicht nur die Baumaßnahmen in Dresden, sondern stiftete auch einen Britisch-Deutschen Garten der Freundschaft, der am 23. Oktober 2006 in Alrewas in der Grafschaft Staffordshire in den westlichen Midlands eingeweiht wurde. Zwei Reihen von Trauerweiden sind dort kreisförmig angeordnet. Ein dritter Kreis besteht aus Gedenksteinen, auf denen die Namen von deutschen und britischen Städten eingraviert sind, die im Zweiten Weltkrieg bombardiert wurden: London und Berlin, Coventry und Dresden, Canterbury und Köln gehören dazu. Alle Steine stammen aus der Ruine der Dresdener Frauenkirche.55 Das Markanteste an dem Freundschaftsgarten ist der Standort. Denn der Garten ist Teil einer großflächigen Gedenkanlage, des 1997 gegründeten National Memorial Arboretum. Auf einer Fläche von gut sechzig Hektar wird dort derjenigen gedacht, die im Dienst der Nation oder der Menschheit seit Ende des Zweiten Weltkrieges ihr Leben gelassen haben, darunter Soldaten, Polizisten, Feuerwehrleute und Mitarbeiter von Wohltätigkeitsorganisationen. Allerdings steht das Gedenken an die Kriegsopfer und insbesondere die Soldaten im Vordergrund. Aus diesem Grunde wird das National Memorial Arboretum auch von der British Legion betreut.56 Der Britisch-Deutsche Freundschaftsgarten befindet sich in nächster Nähe zu Denkmälern für getötete Soldaten der britischen Streitkräfte. Bombenopfer (auch deutsche) haben einen festen Platz in dieser britischen Erinnerungslandschaft gefunden. Der Geist von Coventry – die Botschaft der Versöhnung und Anerkennung gegenseitigen Leidens – ist hier unverkennbar. Das National Memorial Arboretum wächst und gedeiht. Im Oktober 2007 wurde das Kernstück, das Armed Forces Memorial, vollendet und durch Elizabeth II. feierlich eröffnet. In der kreisrunden Anlage aus hellem Portland-Stein sind die Namen von 16.000 Soldaten verewigt, die nach 1945 getötet worden sind. Für weitere 15.000 Namen ist Platz vorhanden. Das Armed Forces Memorial wird ergänzt um ein kleineres Denkmal in Westminster Abbey und ,,rolls of honour“ in drei Londoner Kirchen. Rund zehn Millionen Pfund kostete das Denkmal in Alrewas, das aus öffentlichen Mitteln und privaten Spenden finanziert wurde. Für das Sammeln der Spenden und Zuschüsse zeichnet eine Stiftung unter der Schirmherrschaft von Prince Charles verantwortlich.

55

56

Vgl. War is Over So Let’s be Friends, in: Birmingham Mail, 24.10.2006; Philip Boobbyer, Answering Dresden’s Call, in: For A Change 19 (2006), H. 4, S. 4–7. Zum Dresden Trust vgl. Alan Russell, Why Dresden Matters, in: Paul Addison/Jeremy A. Crang (Hg.), Firestorm. The Bombing of Dresden 1945, London 2006, S. 171–176. Vgl. National Memorial Arboretum, http://www.thenma.org.uk/index.aspx (30.11.2011).

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Abbildung 5: Armed Forces Memorial von Liam O’Connor. National Memorial Arboretum, Alrewas. 2007 (Foto: Red Devil Photography).

An der Einweihungsfeier nahmen die königliche Familie und Premierminister Gordon Brown teil, doch geprägt wurde die Zeremonie durch die Anwesenheit der Trauernden, vor allem der verwaisten Kinder. Ein Mädchen, dessen Vater im Mai 2006 im Irak getötet worden war, verlas einen Brief an ihren Daddy im Himmel.57 Auch wenn der Auftrag der Soldaten im Irak zum Zeitpunkt der Denkmalsweihe politisch und gesellschaftlich umstritten war, wurde das Leid der Hinterbliebenen doch ausnahmslos geteilt. Die Praxis des öffentlichen Gedenkens ist damit an ihren Ursprung nach 1914–18 zurückgekehrt. Britische Kriegerdenkmäler sind nicht Ausdruck eines ,,politischen Totenkultes“, sondern der Anerkennung und Legitimation von Trauer im öffentlichen Raum. Auf Initiative oder in Konsultation mit Angehörigen getöteter Soldaten entstehen auch auf lokaler Ebene neue Kriegerdenkmäler. Beispielsweise plant die Stadt Coventry in Abstimmung mit den Hinterbliebenen ihren ,,fallen soldiers“ Sitzbänke im Park des örtlichen Krematoriums zu widmen. Dieser Denkmalstyp, der die Tradition der ,,utilitarian memorials“ fortsetzt, ist in Großbritannien weit verbreitet, aber eigentlich typischer für das Gedenken an friedlich verstorbene Familienmitglieder als an getötete Soldaten. Die Lokalpresse jedenfalls lobte die Initiative der Stadt als angemessenes Tribut an Coventrys ,,hero soldiers“.58 57 58

Vgl. Nick Britten, Girl Pays Tribute to Father as Fallen Troops are Honoured, in: Daily Telegraph, 13.10.2007, S. 4. Vgl. Les Reid, New War Memorial for Hero Soldiers, in: Coventry Telegraph, 25.2.2010, S. 5.

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Der Begriff ,,Helden“ ist im aktuellen Erinnerungsdiskurs allgegenwärtig, und scheint auch den Hinterbliebenen eine emotionale Stütze zu bieten. Mediale Aufmerksamkeit erregte das gefasste, ja stolze Auftreten der Witwe eines Bombenentschärfers im November 2009, die ihren Mann als ,,hero“ und ,,warrior“ bezeichnete.59 ,,Each one a hero who put country before comfort; service before self, and liberty before life“ schrieb Premierminister Gordon Brown auf das Kärtchen zu dem Kranz, den er im März 2010 an der Basra Memorial Wall niederlegte.60 Dieses Denkmal war ursprünglich von britischen Soldaten in freiwilliger Arbeit vor dem Hauptquartier der Multinationalen Division im Südosten des Irak errichtet worden. Nach dem Abzug der britischen Streitkräfte aus Basra setzten sich Hinterbliebene für die Überführung des Denkmals nach Großbritannien ein. Seit dem Frühjahr 2010 hat die schlichte, V-förmige Ziegelmauer (mit metallenen Namenstäfelchen) im National Memorial Arboretum eine neue Heimstätte gefunden. Unweit des Armed Forces Memorial und der Basra Memorial Wall befindet sich dort auch eine Gedenkstätte für Soldaten aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Das figürliche Denkmal zeigt einen jungen Mann mit verbundenen Augen und gefesselten Händen, so als würde er gerade vor sein Erschießungskommando treten. Die Skulptur bildet den Mittelpunkt einer Anlage von 306 Bäumen. Für jeden der 306 Soldaten, die 1914–18 wegen angeblicher Feigheit oder Fahnenflucht hingerichtet worden waren, ist ein Baum gepflanzt worden. Die Hingerichteten, darunter viele Minderjährige, waren Soldaten, von denen man heute annimmt, dass sie nicht für ihr Verhalten verantwortlich gemacht werden können, weil sie unter ,,shell-shock“ standen.61 Gestiftet wurde das Denkmal von Shot at Dawn (was bezeichnenderweise als SAD abgekürzt wird), einer Initiative, die sich im vergangenen Jahrzehnt lautstark für die Rehabilitierung der exekutierten Kriegsneurotiker eingesetzt hat. In den späten 1990er Jahren hielt SAD jeweils am Samstag vor dem Remembrance Sunday eine eigene Gedenkfeier am Cenotaph ab; seit 2000 nehmen die Aktivisten von SAD und die Familien der Hingerichteten an der offiziellen Parade am Remembrance Sunday teil. Die symbolische Rehabilitierung verlief reibungsloser als die juristisch-politische Begnadigung. Noch 1998 war die Regierung lediglich bereit, ihr tiefes Bedauern auszudrücken; eine Begnadigung (,,pardon“) 59

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61

Vgl. Simon Heffer, Christina Schmid Reminds Us of an Earlier Heroic Age, in: Daily Telegraph, 21.11.2009, S. 26; Terri Judd, War Widow’s Tribute to Her ,,Warrior“ Husband, in: Independent, 25.11.2009, S. 12. Ian Drury/David Wilkes, In His Own Hand. Brown’s Personal Tribute to the Brave, in: Daily Mail, 12.3.2010, S. 5; vgl. auch Service to Rededicate Basra Memorial Wall, BBC News, 11.3.2011, http://news.bbc.co.uk/1/hi/england/8560937.stm (28.11.2011). Vgl. John Ezard, Executed Soldiers Honoured, in: Guardian, 19.2.2000, S. 10.

Brüchige Kontinuität Kriegerdenkmäler und Kriegsgedenken im 20. Jahrhundert

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erfolgte erst 2006.62 Dabei handelte es sich nur oberflächlich um 306 individuelle Schicksale britischer Soldaten. Im Kern geht es vielmehr um die Legitimität des ,,shell-shock“ als eines übergreifenden Narrativs der britischen Erinnerungskultur. Am Beginn des 21. Jahrhundert kehrt das öffentliche Gedenken anscheinend wieder zu seinen Anfängen zurück. Die wichtigsten Narrative, Symbole und Rituale, die nach 1914–18 den Rahmen des Erinnerns bildeten, haben immer noch Bestand oder sind jüngst wiederbelebt worden wie der ,,poppy“ und der Armistice Day. Seit Mitte der neunziger Jahre wird der Armistice Day wieder feierlich begangen. Die ,,silence“, die 1946 auf den Remembrance Sunday verlegt worden war, wird seit 1995 auch wieder am 11. November um elf Uhr für zwei Minuten offiziell eingehalten.63 Die Armistice Days 2008 und 2009 kamen vielen Briten wie ein Einschnitt vor. Am neunzigsten Jahrestag waren noch die drei letzten überlebenden britischen Veteranen des Ersten Weltkriegs zugegen gewesen. Doch ein Jahr später fand das Gedenkritual erstmalig ohne Repräsentanten der Erlebnisgeneration statt. Ihren Platz nahmen nun hochdekorierte Soldaten der Irak- und Afghanistankriege ein.64 Auch das Symbol des ,,poppy“ hat im Zuge von ,,memory boom“, neuen Kriegen und Digitalisierung der Lebenswelt eine Renaissance erlebt. Das Tragen der stilisierten Mohnblume ist – noch stärker als in der Zwischenkriegszeit – zu einer gesellschaftlichen Norm geworden; sie gehört gewissermaßen zur jahreszeitlichen Berufsbekleidung von Politikern, Fernsehmoderatoren, Fußballern und anderen ,,celebrities“. Personen des öffentliches Lebens, die es ablehnen oder vergessen, sich einen ,,poppy“ anzustecken, werden auf der Stelle von Bloggern und Mitgliedern sozialer Netzwerken wie ,,Twitter“ diszipliniert. Im Internet mokieren sich zwar auch viele über die politische Korrektheit des ,,poppy“-Tragens (,,poppy fascism“), die Ausdehnung des Poppy Day zu einer mehrwöchigen ,,poppy time“ sowie die angebliche Oberflächlichkeit der massenhaften Geste, doch die British Legion lässt sich davon nicht beirren.65 Um eine neue Gene62

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Vgl. David Ward, Battle for Recognition, in: Guardian, 10.11.2000, S. 5; Richard Norton-Taylor, Families to Mark Pardons with March Past Cenotaph, in: Guardian, 17.8.2006, S. 10; vgl. auch Todman, Great War, S. 68. Vgl. Tim Luckett u. a., Some Did Remember, in: Mail on Sunday, 12.11.1995, S. 2; Mary Braid, A Silent Tribute to All Fallen Heroes. Armistice Day, in: Independent, 11.11.1995, S. 2. Vgl. Jack Malvern, Bravest of the Brave Honour Warriors Who Shouldered the Cruellest Burden, in: The Times, 12.11.2009, S. 8f.; Peter Parker, The Last Veteran. Harry Patch and the Legacy of War, London 2009. Today, BBC Radio 4, 28.10.2010, http://news.bbc.co.uk/today/hi/today/newsid_9135000/ 9135080.stm (28.11.2011); Paul Revoir, I Won’t Surrender to “Poppy Fascism” , in: Daily Mail, 3.11.2010, http://www.dailymail.co.uk/news/article-1326063/Jon-Snowpoppy-fascism-row-C4-News-host-refuses-surrender.html (30.11.2011); Michael Crick, Chancellor’s Office Makes Poppy Appeal Poppy Appeal, BBC News, 27.10.2010, http://

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ration von Spendern anzusprechen bot sie 2007 zum ersten Mal den virtuellen ,,poppy“ zum Download für Nutzer der Webseite ,,Facebook“ an.66 Ein Symbol aus der Zeit des Ersten Weltkrieges hat damit Eingang in die digitale Welt des 21. Jahrhundert gefunden; der Kreis der Erinnerungskultur scheint sich zu schließen. Dennoch hat dieser Überblick über das öffentliche Kriegsgedenken auch drei Bruchstellen und Transformationen nach 1945 deutlich werden lassen. Die Ritterlichkeit verflüchtigte sich aus dem Repertoire der Erinnerungskultur nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem vom Bomber Command entfachten Feuersturm über deutschen Städten erschien die Idee ritterlichen Tötens problematisch. Damit verbunden war der zweite Bruch in der Praxis des öffentlichen Gedenkens: Die Marginalisierung der toten Bomberflieger stand im Widerspruch zur einstmaligen Gemeinschaft und Gleichheit der Kriegstoten.67 Allerdings war die Erinnerungskultur nach 1945 – das ist der dritte Einschnitt – nicht nur exklusiver, sondern auch inklusiver. In Coventry wurde eine neuartige, eine transnationale Gemeinschaft des Gedenkens begründet. Bei aller Kontinuität auf der Ebene der Symbole und Rituale gab es nach 1945 doch auch diskursive Einschnitte und neue Akzentsetzungen. So entsteht insgesamt der Eindruck einer brüchigen Kontinuität.

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www.bbc.co.uk/blogs/newsnight/michaelcrick/2010/10/chancellors_office_make_poppy. html (30.11.2011). Vgl. Stephen Adams, Legion in Facebook Poppy Campaign, in: Daily Telegraph, 30.10.2007, S. 13. Für eine kritische Stellungnahme vgl. den Leitartikel Goodbye to All That. Remembrance Day, in: Guardian, 7.11.2009, S. 34 Zum geplanten Bomber Command-Denkmal in London vgl. Gordon Rayner, Design Unveiled for Bomber Command Tribute, in: Daily Telegraph, 3.11.2009, S. 16; Bomber Command Memorial Appeal, http://www.bombercommand.com (30.11.2011).

Irak Ronen Zeidel/Achim Rohde/Amatzia Baram

Zwischen Friedhof und Denkmal des Unbekannten Soldaten Die Gedenkkultur für gefallene Soldaten in der Republik, 1958–20101 Wie auch anderswo in der Welt ist das Gedenken an gefallene Soldaten mittels Denkmälern und Gedenkfeierlichkeiten im Irak und dem Nahen Osten ein modernes Phänomen, das mit der nationalstaatlichen Entwicklung dieser Region im Laufe des 20. Jahrhunderts einhergeht. Diese wurde zumeist von den britischen und französischen Kolonialherren eingeleitet, die nach Untergang des Osmanischen Reiches zum Ende des Ersten Weltkrieges in dieser Region die Politik bestimmten. Im Zuge der Entkolonialisierung, sowie speziell im Falle des Irak seit dem Sturz der von den Briten eingerichteten konstitutionellen Monarchie durch den Militärputsch von 1958, unternahmen die irakischen Staatseliten bewusste Anstrengungen, der einheimischen Bevölkerung ein Gefühl von nationaler Zugehörigkeit und Loyalität dem Staat gegenüber zu vermitteln. Der Akzent dieser Bemühungen lag vornehmlich im kulturellen Bereich, wo die Führung des Landes gezielt die Herausbildung einer spezifisch irakischen Kunst- und Kulturszene unterstützte, indem entsprechende Aktivitäten in den Bereichen Malerei und Bildhauerei, Theater und Kino, Literatur und Dichtung sowie in Bezug auf Monumentalarchitektur finanziell gefördert wurden. Die jeweils verfolgte Kulturpolitik spiegelte die wechselnden Prioritäten der verschiedenen, zumeist kurzlebigen republikanischen Regierungen im Irak wider (genauer gesagt: der post-monarchischen Regierungen, da dieser für den Zeitraum zwischen Monarchie und Ba‘th-Regime gängige Begriff ,,republikanisch“ ein Mindestmaß an demokratischer Ordnung voraussetzt, wie es sie im Irak nicht einmal in dieser Periode gegeben hat), ehe dann 1968 die Ba‘th-Partei die Macht ergriff und ihr Regime für den bedrückend langen Zeitraum von 35 Jahren aufrecht erhalten sollte. Dementsprechend hatte die Ba‘th-Regentschaft auch den für das 20. Jahrhundert prägendsten Einfluss auf die Entwicklung des staatlich geförderten Kunst- und Kultursektors im Irak.2 1 2

Übersetzung aus dem Englischen von Björn Wirtjes. Amatzia Baram, Culture, History and Ideology in the Formation of Ba‘thist Iraq, New York

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Das Ziel dieses Beitrags ist es, das Bild von der Entwicklung einer staatlich gelenkten und geförderten Erinnerungskultur mit Blick auf die Kriege und gewaltsamen Konflikte des Landes seit dem Umsturz von 1958 bis heute zu zeichnen. Somit werden die verschiedenen post-monarchischen Führungen des Landes und die Ära der Ba‘th-Herrschaft hier ebenso zu behandeln sein wie die aktuellen Rekonstruktionsbemühungen eines irakischen kulturellen Gedächtnisses nach der Invasion von 2003. Hierzu werden die moderne Monumentalarchitektur wie auch die sonstigen auf Erinnern und Gedenken ausgerichteten Aktivitäten in ihrem militär- und kulturhistorischen Kontext zu betrachten sein, der eine reiche Tradition religiösen Totengedenkens umspannt. In neuerer Zeit hat sich im Irak eine populäre Form der Gedenkkultur ausgebildet, die zahlreiche Rückgriffe auf solche Traditionen erkennen lässt und parallel zu dem vorherrschenden staatlich angeleiteten, zumeist militaristisch ausgerichteten Märtyrer-Kult für gefallene Soldaten bestanden hat. Seit dem Sturz des Ba‘th-Regimes 2003 hat sich zwar eine neue politische Ordnung entwickelt, die sich bemüht, Staat und Nation aus einem desolaten Zustand heraus wieder zu stabilisieren und neu aufzubauen. Gleichwohl hat sich bis zum heutigen Tage kein neuer Diskurs über die jüngste, von zahlreichen Kriegen und gewalttätigen Konflikten gekennzeichnete Vergangenheit des Landes herausgebildet, der zwischen den unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Erinnerungen innerhalb der verschiedenen Bereiche und Untergruppen der irakischen Gesellschaft vermitteln könnte. Im Folgenden wird dargelegt, dass eine nationale Versöhnung nach Beendigung der Konflikte nicht erreicht werden kann, solange es der politischen Führung im Irak nicht gelingt, einen solchen umfassenden Diskurs über die Vergangenheit neu in Bewegung zu setzen und dabei insbesondere eine Kultur des Gedenkens für die unzähligen Opfer von Krieg und Gewalt in den letzten vier Jahrzehnten im Irak zu finden – was im Falle eines Misslingens entsprechend negative Auswirkungen für den Prozess des Wiederaufbaus der irakischen Gesellschaft zur Folge hätte.

Monumentalarchitektur vor der Ba‘th-Ära Überall im Irak stößt man auf unzählige kleinere und größere Grabstätten und andere Erinnerungsorte, die dem Andenken historischer Gestalten, Heiliger, Imame, Scheiche und Religionsgelehrter gewidmet sind. Bis zum Staatsstreich von 1958 gab es jedoch keinen Gedenkort für die in den Kriegen der frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Epochen auf eigenem Boden oder außerhalb 1991; Muhsin al-Mussawi, Reading Iraq. Culture and Power in Conflict, London 2006; Achim Rohde, State-Society Relations in Ba‘thist Iraq. Facing Dictatorship, London 2010.

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der Landesgrenzen in anderen arabischen Ländern gefallenen Soldaten. Die herausragendsten jener Grabstätten, welche zugleich als religiöse Wallfahrtsorte dienen, sind die Schreine der Söhne des Imam Hussein und seines Halbbruders ‘Abbas in Kerbela, wo sie, nachdem sie 680 in der Schlacht von Kerbela gefallen waren, bestattet sind. Eine weitere Wallfahrtsstätte ist der Imam-‘Ali-Schrein in Nadschaf, wo der erste schiitische Imam (und vierte islamische Kalif sowie Vater von Hussein und ‘Abbas) begraben liegt. Ein weniger bekanntes Beispiel ist Mazar al-Arba‘in, eine historische Stätte, die in der Nähe gleich mehrerer irakischer Städte verortet wurde und das Grab von in der Schlacht gefallenen Getreuen des Propheten darstellen soll.3 Die Tatsache, dass diese Stätten erst Hunderte von Jahren nach den Ereignissen errichtet wurden und ihre Örtlichkeit sich oft eher populären Mythen verdankt als der tatsächlichen Existenz sterblicher Überreste an Ort und Stelle, beeinträchtigt ihre Beliebtheit nicht. Deshalb waren noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts die einzigen Soldaten-Gedenkstätten im Irak die Militärfriedhöfe für die britischen Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg. Diese ziemlich groß angelegten Friedhöfe wurden von den Irakern in Zeiten der Monarchie und auch später noch während der republikanischen Periode sorgfältig erhalten und gepflegt. Während der Ba‘th-Zeit standen sie hingegen immer kurz vor der Zerstörung und viele verwahrlosten. Im März 1991 war der britische Militärfriedhof in ‘Amara Schauplatz einer Schlacht zwischen Rebellen und Regierungstruppen. Die irakische Bevölkerung betrachtete diese Friedhöfe als eine Art Freizeitareal, ähnlich einem Park in der Nachbarschaft. Nach 2003 erwuchs in Großbritannien (das die Besatzungsmacht in ‘Amara stellte) wieder ein zunehmendes Interesse an diesen Friedhöfen, und einige sind von den alliierten Truppen inzwischen aufgeräumt und wieder hergerichtet worden.4 Während der Zeit der Monarchie hielt sich die Zahl der gefallenen irakischen Soldaten in relativ engen Grenzen, und es gab dementsprechend keine nennenswerten Anstrengungen staatlicherseits in Richtung auf ein sie ehrendes Gedenken. Hinzu kam, dass einige Fälle für ein offenes Gedenken politisch zu heikel gewesen wären. So z. B. bei den Gefallenen der gegen England gerichteten Revolte vom Mai 1941. Als Nationalhelden geehrt wurden die Anführer dieses Aufstandes lediglich zur Zeit der Republik. Von etwaigen örtlichen Gedenkprojekten für diejenigen irakischen Soldaten, die als Teil der Expeditionskorps nach Palästina in den Jahren 1936 und 1948 gefallen sind, ist nichts bekannt. 3

4

Welche dieser Orte tatsächlich die Gräber von Prophetengefährten enthält, bleibt bislang ungeklärt. Für das Mazar bei Tikrit vgl. ‘Issa Salman Hamid, Al-Arba’in Mawqa’ wa Tarikh, in: Mawsu‘at Madinat Tikrit, Bagdad 1996, Bd. 2, S. 151–161. Hochinteressante Darstellungen zu dem britischen Friedhof in ‘Amara finden sich in zwei Romanen jüngeren Datums: Najm Wali, Malaika al-Janub, Dubai 2009 sowie Shakir Nuri, Al-Mantaqa al-Khadraa, Abu Dhabi 2009, S.123–128.

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Vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988), auf den später näher einzugehen sein wird, waren nur wenige irakische Soldaten an diversen Fronten innerhalb und außerhalb des Irak gefallen, die meisten in Konfrontationen mit kurdischen Guerilla-Einheiten im Norden, die einer irredentistischen und kurdisch-nationalistischen Agenda folgend den irakischen Nationalstaat mit unterschiedlicher Intensität für den größten Teil des 20. Jahrhunderts bekämpften. Weitere Angehörige des irakischen Militärs waren bei den diversen Staatsstreichen und Gegenrevolten getötet worden, wie sie für die ersten Jahre nach Ende der Monarchie im Irak kennzeichnend waren. Darüber hinaus gab es Gefallene unter den Teilnehmern der irakischen Expeditionskorps in Jordanien, Syrien, im Libanon, in Palästina/Israel und in Ägypten zu beklagen, die zur Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung und der anderen arabischen Länder im Krieg gegen Israel ausgesandt worden waren. Doch im Vergleich zum Iran-Irak-Krieg war deren Zahl eher gering. Den ersten größer angelegten Versuch, gefallener irakischer Soldaten von offizieller Seite zu gedenken, gab es kurz nach dem Staatsstreich vom Juli 1958. Das ,,Denkmal für den unbekannten Soldaten“ (Nasab al-Jundi al-Majhul) wurde 1959 auf dem Sa‘dun-Platz im Herzen von Bagdad eingeweiht. In Auftrag gegeben wurde es vom ersten irakischen Premierminister nach dem Ende der Monarchie, General ‘Abd al-Karim Qasim (1914–63). Dieser regierte das Land von 1958 bis zu seinem gewaltsamen Tod 1963, als er einem weiteren Staatsstreich des Militärs, der von rivalisierenden Offizieren ausgetragen wurde, zum Opfer fiel.5 Zum damaligen Zeitpunkt war das Denkmal dazu gedacht, der Märtyrer der gesamten arabischen Nation (Shuhada’ al-Umma) zu gedenken und nicht nur der irakischen Soldaten.6 Es bestand aus einem großen Bogen, der seiner Form nach an den aus Sassaniden-Zeit stammenden Torbogen von SeleukiaKtesiphon im Süden Bagdads (den größten Bogenbau der antiken Welt) angelehnt war. Drei der hervorragendsten irakischen Architekten, Rif‘at al-Chadirji, Ihsan Shirzad und ‘Abdalla Ihsan Kamil, hatten es entworfen. Trotz der durch das Bauwerk zum Ausdruck gebrachten panarabischen Botschaft enthält seine Formgebung Rückbezüge auf das antike Persien, das über viele Jahrhunderte hinweg das vorherrschende kulturelle und politische Machtzentrum auf dem Gebiet des heutigen Irak war. Obgleich Ktesiphon heute im Irak liegt, war es ursprünglich weniger eine arabische als vielmehr eine persische Stadt. Insofern versuchte das Bauwerk, panarabische Ideen mit einem irakischen Patriotismus, wie er sich in der Betonung lokaler Traditionen bemerkbar machte, in Einklang 5

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Ein allgemeiner Überblick zur Geschichte des modernen Irak findet sich bei: Charles Tripp, A History of Iraq, Cambridge3 2007; Phebe Marr, The Modern History of Iraq, Boulder, Colorado2 2006. Al-Mu’assasa al-‘Amma lil-Siyaha [Allgemeines Institut für Tourismus], Al-Iraq. Dalil Siyahi [Irak ein Touristen-Führer], Bagdad 1982, S. 75.

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zu bringen. Beide Strömungen waren damals im Irak populär. Verglichen mit späteren Monumentalbauten, die von Saddam Hussein in Auftrag gegeben wurden, war das unter der Regierung Qasim aufgestellte ,,Denkmal für den Unbekannten Soldaten“ noch vergleichsweise bescheiden dimensioniert. Zudem lag es im Zentrum Bagdads und damit für die Öffentlichkeit gut erreichbar. In den 1980er Jahren wurde es jedoch abgerissen und später von einer Saddam HusseinStatue ersetzt.7 Ein weiteres, schon spektakuläreres Monument aus der Qasim-Zeit ist das Freiheits-Denkmal (Nasab al-Hurriyya). Es wurde 1960 zur Feier der Befreiung des Landes von imperialistischer Fremdherrschaft eingeweiht und war mit Abstand das bis dato größte Monument im Land seit Gründung des irakischen Nationalstaats 1920. Es besteht aus einer auf dem Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) in Bagdad errichteten lang gezogenen, hohen Betonmauer mit einem Basrelief aus aufgesetzten Bronzefiguren. Die Figuren stellen Bauern und andere Zivilisten dar, am auffälligsten aber sticht ein irakischer Soldat in dramatischer Pose hervor. Angefertigt wurde es von dem kommunistischen Bildhauer (und universitären Fachbereichsleiter für moderne irakische Kunst) Jewad Selim. Inspiriert von alt-mesopotamischer Kunst sollte es die geschichtliche Kontinuität der irakischen Nation von der Glanzzeit Mesopotamiens bis zum zeitgenössischen revolutionären Irak zum Ausdruck bringen. Im Unterschied zu Qasims ,,Denkmal für den Unbekannten Soldaten“ war dieses Bauwerk rein irakisch und nicht symbolisch, sondern figürlich-anschaulich gehalten.8 Das Freiheits-Denkmal wurde von Saddam Husseins Kunstkommissaren nicht angerührt und steht noch heute an seinem ursprünglichen Ort. Nach 2003 ist es wieder zu einem Wahrzeichen Bagdads und der ganzen Nation geworden.

Monumentalarchitektur der Ba‘th-Ära Eines der Hauptmerkmale des Ba‘th-Regimes im Irak war dessen Militarismus sowie die Bereitschaft zur Kriegsführung sowohl gegen Nachbarstaaten als auch gegen die eigene Bevölkerung. Krieg wurde vom Regime nicht zuletzt als Mittel zur Erzeugung einer homogenen und geeinten irakisch-arabischen Nation eingesetzt.9 Freilich ist der Glaube an das konstruktive Potential von Militärdienst 7

8 9

Ronen Zeidel, Naming and Counternaming. The Struggle between Society and State as Reflected by Street Names in Iraq and the Arab Sector in Israel, in: Orient 47 (2006), H. 2, S. 209; Samir al-Khalil, The Monument. Art, Vulgarity and Responsibility in Iraq, London 1991, S. 97. Für eine genaue Analyse zu Selims Freiheits-Denkmal (Nasab al-Huriyyah) vgl. Baram, Culture, History and Ideology, S. 69f. Sa‘d al-Bazzaz, Harb Talid Ukhra, Amman 1993, S. 14.

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und Kriegführung zu nationalen Zwecken ein gemeinsamer Grundzug aller politischen Führungseliten des Landes seit seiner Gründung als Nationalstaat gewesen. Historisch gesehen lagen die Hauptaufgaben der irakischen Armee immer im Inland. Sie diente als Instrument einer nationalistischen Indoktrinierung, wobei das Militär als Schmelztiegel fungieren sollte, um die unterschiedlichen Teile der irakischen Gesellschaft zu einer einheitlichen Nation zu verbinden (,,Schule der Nation“). Außerdem war sie ein disziplinarisches Mittel, das von den verschiedenen irakischen Regierungen eingesetzt wurde, um die Einheit des Landes notfalls mit Gewalt durchzusetzen, indem innere Zwistigkeiten unterdrückt wurden und die Reichweite des Zentralstaates mittels militärischer Macht in alle Landesteile ausgedehnt wurde.10 Das Ba‘th-Regime setzte diesen Kurs nur beschleunigt fort, begleitet von intensivierten Anstrengungen im kulturellen Bereich, eine militaristisch geprägte Kultur zu stärken, die sich in den offiziell herrschenden Nationalismus eingliedern ließ.11 Der in den frühen 1980er Jahren sichtbare Enthusiasmus des Regimes, Monumentalarchitektur zum Gedenken an den iranisch-irakischen Krieg zu errichten, obwohl dieser noch gar nicht beendet war, stellt daher einen bewussten Versuch dar, mit Hilfe machtvoll heraufbeschworener Konzepte von Heldentum und Märtyrertum bei der irakischen Bevölkerung einen Sinn für Nationalstolz und Zugehörigkeit zu stärken.12 So gab Saddam Hussein zu Beginn der 1980er Jahre, noch während der IranIrak-Krieg in vollem Gange war, zwei gigantische Denkmals-Projekte in Auftrag. Das erste war ein neues ,,Denkmal für den Unbekannten Soldaten“, das von Khalid al-Rahhal entworfen und 1982 eingeweiht wurde. Es liegt an der Straße des 14. Juli, in der Nähe des al-Zawraa Parks. Zwar ist es in Bagdad zentral gelegen, befindet sich aber in der Nähe des Republikanischen bzw. des Präsidenten-Palastes, wo schon unter Saddam Hussein eine Sicherheitszone bestand; heute liegt es innerhalb der Grünen Zone. Das Mahnmal, auf dessen unterer Ebene Waffen ausgestellt werden,13 sieht aus wie ein riesiger Eisenschild, der dem Griff eines sterbenden irakischen Kriegers entgleitet. Das Fundament ist in Anspielung auf das Blut eines Soldaten, ,,der bei der Verteidigung seines Vaterlands fällt“,14 rot angestrichen. Andere haben es im Scherz mit einer ,,fliegenden Untertasse“ oder einem ,,riesigen UFO“ verglichen.15 Gleich daneben 10 11 12 13 14 15

Ibrahim al-Marashi / Sammy Salamah, Iraq’s Armed Forces. An Analytical History, London 2008. Salam ‘Aboud, Thaqafat al-‘Unf fi al-‘Iraq, Köln 2002. Al-Khalil, The Monument, S. 23. The Bagdad Writers Group, Bagdad and Beyond, Washington/DC 1985, S. 43. Al-Mu’assasa al-‘Amma lil-Siyaha, Al-Iraq, S. 82. Al-Khalil, The Monument, S. 26; Catherine Arnold, Bagdad. The Bradt City Guide, Chalfont St Peter 2004, S. 209.

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steht ein Minarett, das dem Malwiyya-Turm von Samarra nachempfunden ist, einem Juwel der frühen islamischen Baukunst. Das Denkmal selbst ist übersät mit symbolischen Darstellungen, die sich hauptsächlich aus dem Fundus eines irak-zentrischen Arabismus speisen. Somit dient es gleichermaßen als Ort des Gedenkens – wenngleich in höchst ungewöhnlicher Manier – und der Mahnung an den irakischen Führungsanspruch innerhalb der arabischen Welt. Anders formuliert: Es erinnert die Iraker daran, dass ihre Soldaten für die Verteidigung und den Ruhm aller Araber gestorben sind und dass derjenige, der die größten Opfer erbringt, auch seinen Führungsanspruch zu Recht verdient. So hat die Ba‘th-Führung in den 1980er Jahren den Krieg gegen den Iran auch in der Tat als Verteidigung ,,der östlichen Tore der arabischen Heimat“ (al-bawabah alsharqiyyah lil-watan al-‘arabi) umschrieben. Dies war wichtig, um Anschuldigungen (hauptsächlich aus dem ba‘thistischen Syrien) auszuweichen, wonach die Invasion des Iran egoistischen Zielen der Führung in Bagdad geschuldet sei. Bezeichnend erscheint, dass dieses Denkmal anders als sein Vorgänger heute innerhalb der Hochsicherheitszone liegt und damit für die Öffentlichkeit kaum zugänglich ist. Gegenwärtig muss ein Besucher der Grünen Zone sich immer in Begleitung einer entsprechend autorisierten Person befinden.16 Bei der zweiten monumentalen Gedenkstätte handelt es sich um das 1983 ebenfalls inmitten eines Parks im Zentrum Bagdads eingeweihte MärtyrerDenkmal (Nasab al-Shahid) von Isma’il Fattah al-Turk. Anders als das weithin sichtbare Denkmal für den Unbekannten Soldaten war dieses, da weit außerhalb jeglicher Sicherheitszone gelegen, auch frei zugänglich. Offiziell wurde es bestimmt als ,,Tribut an jene, die gefallen sind im Kampf für die Verteidigung des Irak während des Zweiten Qadissiyya“ (wie der Iran-Irak Krieg im Irak in Anlehnung an eine Schlacht zwischen Muslimen und zoroastrischen Persern in der islamischen Frühzeit offiziell hieß). In den unterirdischen Ausstellungsräumen befinden sich Listen mit Namen gefallener Soldaten. In der Außenanlage gibt es einen Kinderspielplatz und Bänke ,,zum Ausruhen und Nachdenken“. In den Jahren der Ba‘th-Herrschaft war das Denkmal innerhalb der Öffnungszeiten frei zugänglich.17 Das Denkmal selbst wird von zwei imposanten, vierzig Meter hohen und mit hellblauen glasierten Ziegeln versehenen Halbkuppeln gebildet. Zwischen den beiden ungleichen Hälften wurde eine fünf Meter hohe, dreidimensionale irakische Nationalflagge montiert. In der Mitte des gewaltigen Monumentalbaus mit seinen azurnen glasierten Keramikkuppeln und dem weißen Marmorfußboden, der wie eine weiße Wolke auf einem künstlichen blauen See zu ruhen scheint, wirkt die Flagge deplatziert. Die Teilung der Kuppel in zwei Hälften wird offi-

16 17

Ebd. The Bagdad Writers Group, Bagdad and Beyond.

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ziell damit begründet, dass sie ,,den Weg der Reise zum Himmel symbolisiert, den die Seelen der Märtyrer zurückzulegen haben“. Im Zentrum der einen Kuppel-Hälfte befindet sich eine symbolische, mit einer irakischen Flagge drapierte Grabstätte, und im Zentrum des anderen Halbbaus eine Fontäne, um ,,das großzügige Opfer des irakischen Volkes“ zu symbolisieren. Der um das Denkmal herumlaufende Graben soll die Besucher an die ,,Grabenschlacht“ erinnern, in welcher der Prophet Mohammad 627 einen Angriff der Mekkaner und ihrer Verbündeten auf Medina abwehren konnte. Damit wird das Gedenken an die Gefallenen des Iran-Irak-Krieges in einen religiösen Kontext des Kampfes zwischen Muslimen und Ungläubigen eingebettet. Tatsächlich wurde der Krieg gegen den Iran vom Regime mit einer religiös eingefärbten nationalistischen Propaganda legitimiert, welche auf die Kriege der (muslimischen) Araber gegen die (,,ungläubigen“) Perser in der islamischen Frühzeit rekurrierte. Noch bis mindestens Dezember 1989 waren indes nur die Namen derjenigen irakischen Soldaten aufgeführt, die in Kriegen und Gefechten vor Beginn des IranIrak Krieges gefallen waren.18 Dieses Denkmal stand auf dem Pflichtprogramm jeder offiziellen Delegation, die damals in Bagdad zu Besuch war. Schulen und Universitäten organisierten regelmäßig Exkursionen dorthin. Sie diente offiziell als der zentrale Ort für das Gedenken an den Iran-Irak-Krieg. Bei alledem war die ästhetische Qualität des Bauwerks stets über alle Zweifel erhaben. Daher war das Märtyrer-Denkmal trotz seiner ba‘thistischen Vergangenheit vielen Irakern lieb und teuer geworden, so dass Initiativen, die 2003 seine Zerstörung verlangten, bei der Bevölkerung auf ehrliche Entrüstung stießen. Was das Bedürfnis der Iraker nach einer Kultur des Gedenkens betrifft, hatte der achtjährige Krieg mit dem Iran in etwa dasselbe Gewicht wie der Erste Weltkrieg für Europa und den Westen. Die gewaltige Zahl der Kriegstoten erzeugte ein Bedürfnis nach offiziellen Formen des Gedenkens. Nie zuvor hatte das Land solchen Verlust menschlichen Lebens erlitten. Oftmals zieht eine derartige Erfahrung das Entstehen einer ganzen Gedenkkultur nach sich, teils staatlich initiiert (top-down), teils von gesellschaftlichen Akteuren getragen (bottom-up). Üblicherweise herrscht an örtlichen Initiativen kein Mangel, die kleinere und größere Denkmäler, Erinnerungsbücher und -broschüren, landesweite Zeremonien – einige davon sogar an nationalen Feiertagen – oder private Friedhofsbesuche am Todestag des Soldaten und vieles mehr, zum Gegenstand haben.19 Nicht so im Irak der Ba‘th-Zeit. Offizielles Gedenken wurde auf Bagdad zentralisiert 18 19

Baram, Culture, History and Ideology, S. 77f., zitiert nach: The Bagdad Observer, 3.12.1989. Zu den Auswirkungen des ersten israelisch-arabischen Krieges von 1948 auf die israelische Gedenkkultur vgl. Immanuel Sivan, The 1948 Generation. Myth, Profile and Memory, Tel Aviv 1991 sowie den Beitrag von Maoz Azaryahu in diesem Band.

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und fand nur an den oben genannten Gedenkstätten statt. In den Provinzen gab es, soweit bekannt, keine vergleichbaren Denkmäler, und sofern doch, fanden sie nie öffentliche Erwähnung. Üblich waren Friedhofsbesuche an den beiden großen islamischen Feiertagen, dem ‘Id al-Fitr (dem Fastenbrechenfest am Ende des Monats Ramadan, im Deutschen auch als ,,Zuckerfest“ bekannt) und dem ‘Id al-Adha (dem Opferfest, das als Teil der rituellen Pilgerfahrt nach Mekka am 10. Tag des Monats Dhu l-Hiddscha stattfindet, gleichzeitig jedoch von allen Muslimen gefeiert wird). Über die Kriegstoten als solche wurde indes selbst bei diesen Anlässen nie offen in den Medien gesprochen. Was an der jeweiligen Grabstätte geschah, blieb Sache der Familie. Mehr noch als alles andere waren die vom Staat zugelassenen Gedenkorte allesamt in der Hauptstadt zentralisiert und somit in großer räumlicher Entfernung zu weiten Teilen des Landes. Diese Art einer zentralisierten staatlichen Erinnerungskultur für gefallene Soldaten war zugleich ein Indikator für die im Laufe des Krieges angewachsene Distanz zwischen der Führung Saddam Husseins und der irakischen Bevölkerung. In den Schiiten-Gebieten des Südirak verhielten sich viele Familien, wenn sie die Leichname ihrer Söhne vom Kriegsschauplatz zurückerhielten (meist in einfachen Särgen auf dem Dachgepäckträger eines Taxis, welches das Verteidigungsministerium angemietet hatte), dann auch tatsächlich in einer Weise, die bezeugte, dass sie den Krieg für nicht legitim ansahen. In der islamischen Tradition braucht der tote Körper eines Kriegers, der im Dschihad gestorben war, nämlich nicht gewaschen zu werden, bevor er begraben wird, weil man glaubt, der Staub des Schlachtfeldes reinige den Leichnam. Viele schiitische Familien entschieden sich jedoch, die Leichname der Gefallenen zu waschen, da sie den Krieg gegen den Iran nicht für einen legitimen Dschihad ansahen.20 1982 und 1983, die Jahre der Einweihung der beiden Gedenkstätten in Bagdad, waren zwei der verheerendsten Kriegsjahre mit einer bis dahin in der Region ungekannt hohen Zahl an Verlusten auf beiden Seiten. Auch waren es besonders schwierige Jahre für das irakische Regime, das den Krieg immer näher an die eigenen Landesgrenzen heranrücken sah. Nachdem zumal 1982 ein Jahr des strategischen Rückzugs von iranischem Territorium war und dabei eine große Zahl irakischer Soldaten in Kriegsgefangenschaft geriet – zumeist lange Zeit, ohne dass Informationen über ihr Schicksal verfügbar war, und viele blieben für immer verschwunden – stellte sich das Vermissten-Problem immer dringlicher. Mit der Ersetzung des alten Denkmals für den ,,Unbekannten Soldaten“ durch spektakuläre neue Denkmäler reagierte Saddam Hussein auf diese Verluste und bemühte sich, möglichen Volkszorn bereits im Vorfeld zu zerstreuen. Gleichzeitig deuten jedoch die geographische Zentralisierung sowie die Unterdrückung 20

Nach Interviews, die Amatzia Baram 1995 in den USA (Boston) mit vier jungen schiitischen Irakern aus Hilla durchgeführt hat, die am Krieg teilgenommen hatten und nach der fehlgeschlagenen Revolte 1991 geflohen waren; die Unterlagen hierzu liegen beim Autor.

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jedweden Gefallenengedenkens, das nicht offiziell vom Staat ausging, darauf hin, dass das Regime Begräbnisse gefallener Soldaten als Bedrohung wahrnahm, weil sie jederzeit in Demonstrationen allgemeinen Unmuts umschlagen konnten. Bis 1989 gab es an keiner offiziellen Gedenkstätte das geringste Anzeichen für die Erinnerung an echte Märtyrer aus Fleisch und Blut: keine Denkmäler für bestimmte einzelne Soldaten, die sich in Tapferkeit ausgezeichnet hatten, keine Statuen realer Persönlichkeiten. Etwas war jedoch neu in diesem Jahr. Der Krieg war vorbei, und nun begannen die Anstrengungen zu seiner nachträglichen Legitimierung im Gedächtnis der Nation. Angesiedelt in einer Grünanlage an der Uferstraße von Basra, mit Blick auf den Schatt-al-Arab (der im Deutschen als Persischer Golf bekannt ist, während Araber den iranischen Charakter des Golfs bestreiten würden) und das iranische Ufer, umgeben von schwarzen Hinweistafeln, die die Öffentlichkeit daran erinnern, wie viele Iraker im Kampf um Basra umkamen, wurden achtzig lebensgroße Bronzeskulpturen hochrangiger Befehlshaber, die in diesen Gefechten gefallen waren, auf hohen Piedestalen errichtet. Sie alle blicken mit vorwurfsvoll ausgestreckter Hand auf das iranische Ufer. Eine Zeichnung, die 1985 im Kontext der Kriegspropaganda in der irakischen Tagespresse publiziert wurde, zeigt eine dem Skulpturenpark in Basra recht ähnliche Phalanx von Soldaten, die kampfbereit gen Osten schauen (Abb. 1). Dieser Skulpturenpark in Basra stellte eine Neuerung in der irakischen Denkmalkultur dar, denn noch bis Ende der 1980er Jahre waren alle in irakischen Städten anzutreffenden Statuen entweder solche von historischen Persönlichkeiten oder von mythischen Figuren aus antiken Legenden gewesen. Trotz des bekannten Kults um seine Persönlichkeit wurde selbst die erste Saddam HusseinStatue erst 1988, mit Ende des Krieges, errichtet – weitere folgten. Im Klima wachsender Spannungen zwischen Staatsführung und Militär waren die Statuen leitender Befehlshaber ein Zeichen der Ehrerbietung. Freilich lag ein Mehrwert darin, dass sie tote Kriegshelden präsentierten, die alle Schuld an dem grauenvollen Krieg dem Iran zuwiesen. Denn auch wenn die trauernden Familien im Zuge der Planung der Statuen zwar miteinbezogen wurden, dominiert doch der Ton der Anklage über den des Gedenkens. Es steht außer Frage, dass dieses Denkmal in erster Linie nicht als ein Ort für die Angehörigen gedacht war, an dem sie um den Toten trauern oder ihm für seinen heldenhaften Tod die Ehre erweisen konnten. Dieses Denkmal sollte die Schuld für die Entfesselung des Krieges und die Zerstörung von Basra dem Iran in die Schuhe schieben.21 Seit dem Sturz des Ba‘th-Regimes durch die Invasion von 2003 verfällt der Skulpturenpark zusehends. Berichten zufolge wurden einige Statuen mit proschiitischen Graffitis besprüht und andere gestohlen – ihre Fundamente dienen 21

Al-Khalil, The Monument, S. 29–31.

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Abbildung 1: Zeichnung von Wissam Murqus (Quelle: Al-Thawra, 26.8.1985).

Ölschmugglern dazu, ihre Boote am Ufer zu vertäuen.22 Anderen Angaben zufolge wurde das gesamte Ensemble mittlerweile zerstört.23 Für ein Land, das seit 1980 unter so vielen Kriegen zu leiden hatte, überrascht es, wie wenig die irakische Regierung unternommen hat, der Gefallenen zu gedenken. Abgesehen von der äußerst geringen Zahl zentraler Gedenkorte fehlen auch viele weitere Aspekte einer Gedenkkultur: Die allerwenigsten Soldaten erhielten postum Auszeichnungen. Begraben wurden sie auf zivilen, nicht auf Militärfriedhöfen oder eigens angelegten Grabfeldern. Militärbegräbnisse unterschieden sich in keiner Form von sonstigen gewöhnlichen Begräbnissen: 22 23

Zuheir al-Jaza’iri, Harb al-’Ajiz, Beyrouth 2009, S. 228. Hashim al-Tawil, The Invasion of Iraq and the Destruction of Culture, http:// www.brussellstribunal.org/Seminar/texts/en/7.pdf, letzter Zugriff 2.2.2012.

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Weder waren Repräsentanten der Armee zugegen, noch gab es zeremonielle Gewehrsalven. Am 1. Dezember 1981 führte der Irak den Yawm al-Shahid (Tag des Märtyrers) ein, dem Anschein nach um den Stellenwert von Solidarität und Gedenken zu erhöhen. Doch das Regime hat den Anlass letztlich nicht in dieser Weise genutzt. Zwar verkündete Saddam Hussein mit großen Worten: ,,Die Märtyrer sind besser als wir alle.“ Doch war alles auf Anklage ausgerichtet, und selbst noch das gewählte Datum diente als Protest gegen die (tatsächliche oder vermeintliche) Ermordung von 1.500 irakischen Soldaten in iranischer Gefangenschaft.24 Mit anderen Worten war es in erster Linie nicht ein Tag der Trauer, sondern vielmehr ein willkommener Anlass, um Teil des Propagandakriegs gegen den Iran zu werden. Um seine quasi religiöse, nationale Bedeutung anzuzeigen, wurde der Tag mit dem Läuten der Kirchenglocken und gleichzeitig mit Gebetsrufen vom Minarett begonnen. Das Hauptereignis umfasste einen Besuch Saddam Husseins am Märtyrer-Denkmal und Besuchsprogramme offizieller Delegationen an den beiden zentralen Gedenkstätten Bagdads. In den Provinzen organisierten Parteiorganisationen diverse Unternehmungen, wozu insbesondere Besuche bei den Hinterbliebenenfamilien zählten, um den Wert des ,,Opfers“ (Tadhiyyah) herauszustreichen.25 In gewissem Grade standen diese Familien somit zwar im Mittelpunkt der Ereignisse. Ihre persönliche Trauer jedoch, zumindest so, wie sie in den offiziellen Medien dargestellt wurde, entsprach stets genau den staatlichen Vorgaben für die öffentliche kollektive Trauer. Beispielsweise brachten Mütter den Wunsch zum Ausdruck, dass sie gerne noch mehr Märtyrer unter ihren Kindern hätten. Der Tag des Märtyrers wurde bis zum endgültigen Sturz des Regimes 2003 gefeiert. Die Gesamtzahl der Toten aus sämtlichen Kriegen des Irak war bis 2003 eines der am besten gehüteten Staatsgeheimnisse. Bis heute (2010) liegen keine offiziellen Statistiken darüber vor. Ausländische Beobachter schätzten die Zahl irakischer Verluste allein im Krieg mit dem Iran auf 150.000 bis 340.000. Wenn das zutrifft, hieße das, dass annähernd einer von hundert Irakern dem Krieg zum Opfer gefallen wäre.26 Nur in einem Fall erschienen offizielle Zahlen an einem Denkmal, nämlich auf dem nach Kriegsende erbauten ,,Tor von Faw“. Das Denkmal selbst stellt nur einen kleinen Torbogen dar, aber die Inschrift darauf ist bemerkenswert: Demnach fielen allein in den zwei Schlachten im Februar/ März 1986 und im April 1988 zur Rückeroberung der irakischen Halbinsel Faw im Schatt al-Arab, die lange von iranischen Truppen besetzt gehalten wurde,

24 25 26

Vgl. dazu die zwischen 1981 und 1988 alljährlich am 2. Dezember in sämtlichen irakischen Zeitungen erschienenen Beiträge. Al-Jumhuriyya, 1.12.1984. Anthony H. Cordesman / Abraham R. Wagner, The Iran-Iraq War, Tel Aviv 1998, S.17.

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fast 53.000 Soldaten.27 Diese Zahl kann als Anhaltspunkt für weitere Schätzungen der Gesamtzahl an Kriegstoten dienen. Warum ausgerechnet auf diesem offiziellen Denkmal Angaben zur Anzahl von Kriegstoten auftauchten, während dies ansonsten stets vermieden wurde, bleibt ein Rätsel. Vielleicht wollte Saddam Hussein demonstrieren, dass der Irak bereit wäre, jedes Opfer zu erbringen, um seine territoriale Souveränität zu verteidigen. Jene zahllosen irakischen Soldaten, die auf iranischem Gebiet gefallen waren, ließen sich nur schwer in diesem Sinne erklären. Bei alledem bleibt al-Faw der einzige Fall, wo eine genaue Gefallenenzahl genannt wurde, aber dennoch konnte die bloße Zahl ohne Listen mit den Namen der Toten die Bevölkerung emotional nicht erreichen. Dementsprechend ist die al-Faw-Gedenkstätte nie zu einer Anlaufstelle für die Hinterbliebenen geworden. Die Errichtung von Gedenkstätten für Soldaten einer bestimmten Stadt, eines bestimmten Stammes oder eines bestimmten Bataillons wurde von der Ba‘thFührung verboten. Damit wurde die Herausbildung einer mittleren Ebene des Gedenkens verhindert, die zwischen der individuellen auf den Friedhöfen einerseits und der nationalen für den bekannten oder ,,Unbekannten Soldaten“ andererseits verortet wäre. Solche Ehrenmäler, wie sie in anderen Teilen der Welt üblich sind, hätten als Brennpunkte kollektiver Trauer und damit auch möglicher Protestbewegungen dienen können. Neben dem generellen Risiko, das ein öffentliches Gedenken an die im Krieg Gefallenen in den Augen des Regimes offenbar darstellte, bestand die Gefahr, dass ein solches Gedenken einen konfessionell-schiitischen Einschlag bekäme. Zwei Faktoren nährten diese Befürchtung. Zunächst waren die Gefallenen zum Großteil einfache schiitische Soldaten. Schiiten machten nahezu 80 % der Infanterie-Frontsoldaten aus (wohingegen Sunniten unter den gepanzerten Einheiten dominierten, bei Artillerie, Luftwaffe und Marine), und die Infanterie erlitt die höchsten Verluste. Zum anderen werden Friedhöfe deutlich häufiger von schiitischen als von sunnitischen Muslimen besucht. So befinden sich einige der weltweit größten Friedhöfe an den geheiligen Stätten der Schiiten im Irak (Najaf, Kerbala). Die staatliche Unterdrückung lokaler Formen des Gedenkens ,,von unten“ war eines der Mittel, öffentliche Proteste im Keim zu ersticken, insbesondere unter der schiitischen Bevölkerungsmehrheit, der das Regime von jeher oppositionelle Bestrebungen unterstellte und ihr daher misstrauisch gegenüberstand. In dem Spätwerk des irakischen Autors Mahdi ‘Issa al-Saqr, ,,Ein Haus am Tigris“ (Bayt ‘ala Nahr Dijla), gibt es eine lange Szene, in der tote Soldaten in einem Bagdader Leichenschauhaus identifiziert werden müssen. Diese Sze27

In der Ausgabe des Al-‘Iraq, 17.4.1992, wird die Zahl von 52.948 auf al-Faw getöteten Soldaten genannt. General Salah ‘Abud, der 1988 Kommandeur des 3. Armeekorps war, gab in einem Interview die Zahl von 52.000 Gefallenen an (Al-Jumhuriyya, 17.4.1999).

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ne zeigt das Gemetzel, nicht von der Schlachtfront aus gesehen, sondern wie es sich hinter der Bühne darstellt. Kunstvoll zeigt der Autor, welche tiefgreifenden Auswirkungen der tägliche Umgang mit solch einer großen Zahl von Toten auf diejenigen hat, die dort arbeiten müssen, aber auch mit welch großer Vorsicht das Regime die Frage öffentlicher Begräbnisse handhabte. Die Leichname wurden den Familien von Sicherheitskräften unter schärfster Bewachung und nur bei Nacht überbracht, den Familien wurde eingeschärft, keine Trauer in der Öffentlichkeit zu zeigen. In einer Passage bricht al-Saqr, der das Manuskript 1991 schrieb, mit dem Tabu: Nahezu jeden Tag erreichten mehr als zehn LKW-Ladungen voller Leichen die Pathologie, erfuhr der Leser, und während der Offensiven sei diese Zahl noch viel größer gewesen.28 In allen Ländern ist die Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft ein heikler Punkt, aber im Irak erwies sich das diktatorische Ba‘th-Regime als weitaus unbarmherziger und gleichzeitig ängstlich besorgt vor negativen öffentlichen Reaktionen. Möglicherweise lassen sich damit die Eigenheiten und das Wesen des vom Regime initiierten offiziellen Gedenkens besser verstehen. In diesem Zusammenhang fällt ebenso auf, dass das Regime den Gefallenen des Golfkrieges von 1991 keine dem vorangegangenen Iran-Irak-Krieg entsprechende offizielle Gedenkkultur widmete, sondern den in den 1980er Jahren etablierten Diskurs einfach fortführte. Die rituellen Beschwörungen eines angeblich großen Sieges der hinter dem Diktator vereinten irakischen Nation in der ,,Mutter aller Schlachten“ (wie der zweite Golfkrieg offiziell genannt wurde) konnten die gigantischen Kriegsschäden und ungezählten irakischen Gefallenen nicht vergessen machen. (Die vorliegenden Schätzungen schwanken zwischen 10.000 und 250.000 gefallenen Soldaten, zivile Todesopfer durch alliierte Bombardierungen nicht eingerechnet.) Für neue monumentale Projekte des Gefallenengedenkens fehlten in den 1990er Jahren wohl ohnehin die finanziellen Mittel. Zudem hatte der direkt nach dem Waffenstillstand im März 1991 ausgebrochene Aufstand im Süden und Norden Iraks, den das Regime nur mit großer Mühe und äußerster Brutalität niederschlagen konnte (Schätzungen schwanken zwischen 30.000 und 100.000 meist zivilen Toten), den Verlust der gesellschaftlichen Hegemonie Saddam Husseins überdeutlich werden lassen.29 Die Leerstellen in der offiziellen Erinnerungskultur weisen auf die im Vergleich zu den 1980er Jahren deutlich geschwächte Position des Regimes in den 1990er Jahren hin.

28 29

Mahdi ‘Isa al-Saqr, Bayt ‘ala Nahr Dijla [Ein Haus am Tigris], Damaskus 2006, S. 150– 180. Für eine ausführliche Diskussion siehe: Rohde, State-SocietyRelations in Ba‘thist Iraq, Kapitel 3.

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Zum Bild des Märtyrers (Schahid) in der irakischen Literatur Staatlich organisiertes Gedenken beschränkte sich nicht nur auf Monumente aus Stein: Staatlich geförderte Literatur zur moralischen Unterstützung des IranIrak-Krieges (Adab al-Harb) nahm in der Propaganda des Regimes eine zentrale Stellung ein, wobei oftmals die Figur des Schahid (Märtyrers) im Mittelpunkt stand. In seinem ursprünglichen religiösen Kontext bezeichnet der Begriff einen Muslim, der bei der Befolgung eines religiösen Gebots zu Tode kommt, wozu dann beispielsweise der Krieg gegen Ungläubige zählt (Dschihad). Heutzutage wird der Begriff verbreitet auch säkular gebraucht, etwa in nationalistischen Zusammenhängen, um Personen zu bezeichnen, die im Kampf gegen Landesfeinde ums Leben kamen. Gleich von Beginn des Krieges gegen den Iran an förderte das Regime die Herausbildung eines komplett neuen Genres nationalistischer Kriegsliteratur und -dichtung, die ähnlich wie ihre Pendants in den bildenden Künsten erfüllt war von Rückbezügen auf die alte mesopotamische und islamische Vergangenheit des Irak, wenngleich in einer trivialisierten Fassung, die sich weit von der Subtilität und ausgesprochenen künstlerischen Qualität, wie sie für die irakische Kunst früherer Dekaden kennzeichnend war, entfernt hatte.30 Genauso wie der Mesopotamien-Diskurs innerhalb der vom Regime gelenkten Kriegspropaganda auf etablierte Strömungen in der irakischen Kunstszene Bezug nahm, richtete sich der Diskurs über Opfer und Heldentum, wie er während der Kriegsjahre zunehmend an Bedeutung gewann, an etablierten Mustern irakischer Poesie und Prosawerke aus.31 Inspirationen aus der islamischen und vorislamischen Vergangenheit aufzugreifen, um daraus die Gegenwart neu zu definieren, war ein Hauptmerkmal bei der Entstehung einer modernen und betont arabischen Literatur, die sich auf diesem Wege von den tief greifenden europäischen Einflüssen auf das kulturelle und intellektuelle Leben im Nahen Osten, wie sie während und auch noch nach Ende der Kolonialzeit vorherrschten, abzusetzen suchte. Überdies betonte die regimegesteuerte Kriegspropaganda die natürliche und historisch weit zurückreichende Verbundenheit der irakischen Nation mit dem Territorium des Landes. In wiederholten Aufrufen wurde die Bevölkerung immer wieder aufgefordert, sich für Opfer im Namen nationaler Solidarität bereit zu halten. Und von Politikern, Intellektuellen und Künstlern gleichermaßen wurde ein Diskurs lanciert und von den staatlich kontrollierten Massenmedien verbreitet, der die Werte von Opfer und Heldentum anpries. 30 31

Baram, Culture, History and Ideology, S. 86–96; siehe auch Rohde, State-Society Relations in Ba‘thist Iraq, Kapitel 5. Mohammad al-Jaza‘iri, Al-Qatil wa-l-Dahiyya. Mithologiyya wa Shi‘r, London 1998; Terri DeYoung, Placing the Poet. Badr Shakir al-Sayyab and Postcolonial Iraq, New York 1998.

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Der Ausdruck ,,Schahid“ weckt religiöse Assoziationen und wird in allen muslimischen Gesellschaften verstanden. Im ba‘thistischen Irak diente der Begriff allerdings mehr als ideologisches Werkzeug, um das Opfer Gefallener nachträglich zu legitimieren und Schuldgefühle bei den Hinterbliebenenfamilien abzumildern. In der irakischen Kriegsliteratur kommen zahlreiche Märtyrer vor. Und in manchen Romanen kommen auch tatsächlich fast alle Helden zu Tode. Yusuf Kadhim, der Held in ‘Aaid Khasbak’s ,,Wüstenmond“ (Al-Qamar al-Sahrawi) von 1983 ist ein gebildeter Student, der an die Front geschickt wird. Dort trifft er auf Nizar, der ihm seine Freundin ausgespannt hatte. Beide werden gute Freunde und Kriegskameraden. Durch den Betrug seines Freundes wird Yusuf nur noch mehr dazu angespornt, sich auf den Feindeskampf zu konzentrieren, wie zum Ausgleich für seine verletzte Männlichkeit. Am Ende wird er von einem iranischen Projektil getroffen und stirbt.32 In Sa‘d Muhammad Rahim’s ,,So brachten wir den Stahl zum Sprechen“ (Hakadha Istantaqna al-Fuladh) ist der Held ebenfalls Student (eine Gruppierung, die im realen Leben dem Armeedienst zögerlich gegenüberstand) und Intellektueller, der aber, nachdem er in der Heimatstadt um die Hand seiner Geliebten angehalten hat, freudig zu seiner Einheit zurückkehrt. Er wird krank, besteht aber darauf, an einem Gefecht teilzunehmen, und wird prompt getötet.33 Noch makabrer ist Hisham Tawfiq al-Rikabi’s ,,Artillerieeinheit 106“ (Aa‘dad Madfa’ 106), wo drei von vier Kämpfern in der Schlacht sterben. Einer von ihnen, Nadhim, verliert bei einem iranischen Angriff beide Beine und tötet sich anschließend selbst, kurz bevor die Iraner ihn lebend gefangen nehmen können. Der einzige Überlebende der Gruppe bricht bei der Rückkehr zu seiner Einheit in Tränen aus. Die unausgesprochene Botschaft dieser Schlussszene lautet, dass der Märtyrertod die Krönung soldatischen Heldentums und dem Überleben vorzuziehen sei. Dieser ,,vorbildliche“ Propaganda-Roman wurde 1983 mit einem Preis ausgezeichnet.34 Alle diese Märtyrer haben ein Leben außerhalb der Armee, sie denken an ihre Familien und planen ihre Zukunft. Sicherlich vermitteln diese irakischen Romane ein lebendigeres Bild vom Schicksal gefallener Soldaten als Denkmäler aus Marmor und Stein. Sie fügen dem offiziellen Gedenken damit einen sonst fehlenden Aspekt hinzu. Dennoch bleibt der vorherrschende Ton dieser Romane einer der Rechtfertigung von Krieg und Opfer um einer edlen Sache willen. So gewinnt das Leben der Helden durch die gemeinsame Fronterfahrung mit ihren Kameraden eine neue Dimension, die stets positiv dargestellt wird. Das frühere Leben des Märtyrers tritt demgegenüber in den Hintergrund. Die

32 33 34

‘Aaid Khasbak, Al-Qamar al-Sahrawi, Bagdad 1983. Sa‘d Muhammad Rahim, Hakadha Istantaqna al-Fuladh, Bagdad 1983. Hisham Tawfiq al-Rikabi, Aa‘dad Madfa’ 106, Bagdad 1983.

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meisten Figuren in den Romanen bleiben blass und oberflächlich gezeichnet. Statt als individuelle Persönlichkeit, wirken sie lediglich wie Verkörperungen der verschiedenen Gruppierungen der irakischen Gesellschaft: der Student, der Bauer, der Beduine und so weiter. Diese Romane zelebrieren Helden als ideale männliche Archetypen in der Art eines John Rambo. Sie zielen weniger auf das Gedenken realer Menschen als vielmehr darauf, Soldaten auf die Kriegskameradschaft auf dem Schlachtfeld einzuschwören und zum tapferen Kampf und zur Bereitschaft für das äußerste Opfer anzuspornen.35 Nur vereinzelt trifft man hier und da auf Abweichungen – wie die eines weinenden Soldaten oder einer Freundschaft zwischen zwei jungen Männern, von denen einer sich auf Seiten des Iran geschlagen hat – aber diese Beispiele sind wenige und spärlich gestreut. Irakische Autoren im Ausland haben hingegen eine Antikriegsliteratur geschaffen, in der all diese Werte des Adab al-Harb auf den Kopf gestellt werden und die Figuren beispielsweise in Furcht vor dem sicheren Tod von der Front flüchten.36 Andererseits haben diese Autoren doch wieder den Märtyrer zu sehr vernachlässigt und tragen folglich ebenso wenig zu einer alternativen Gedenkkultur bei. Immerhin erschienen unmittelbar vor dem Sturz des Ba‘th-Regimes, als die Erinnerung an den iranisch-irakischen Krieg bereits zu verblassen begann und die Zensur schon nicht mehr ganz so rigide war, doch einige Romane, die von dem offiziellen, das Märtyrertum anpreisenden Diskurs abwichen. Das Buch ,,Der Vogel und der Totenkopf“ (Al-Ta’ir wal-Jamjama) von Nadhim al-‘Ubaydi ist beispielsweise dem im Krieg gefallenen Bruder des Autors gewidmet. Dieser 2002 erschienene Roman spielt im Jahre 1981 und ist mehr im Hinterland als an der Front angesiedelt. Er beschreibt das Ausmaß der Tragödie, die der Tod eines Soldaten für dessen Familie und besonders für den Bruder des Gefallenen darstellt. Die persönliche Trauer des Erzählers um seinen Bruder steht im Gegensatz zur offiziellen Propaganda, und auch die Eltern sind keineswegs ,,froh und glücklich“ darüber, einen Sohn verloren zu haben. Das Leben des Erzählers hängt nach dem Tod des Bruders völlig in der Luft, die Familie ist zerstört. In einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu dieser Darstellung steht die Tatsache, dass der Schahid letztlich dennoch wie jemand dargestellt wird, der das eher deprimierende Leben auf Erden für ein weitaus besseres Leben nach dem Tod verlassen hat. In Frage stellt der Roman den Krieg nicht, sondern folgt darin sogar der offiziellen Propaganda, indem er den Iranern vorwirft, ihn noch verlängert zu haben. Möglicherweise stellt dies ein Zugeständnis des Autors an die 35

36

Für eine interessante Besprechung dieser Kriegsliteratur siehe ‘Abud, Thaqafat al-’Unf fi al-Iraq, insbesondere S. 22–32 sowie S. 77–90. Für eine Kritik an seinem Ansatz siehe Rohde, State-Society Relations in Ba‘thist Iraq, Kapitel 5. Gute Beispiele sind Najm Wali, Al-Harb fi Hay al-Tarab, Budapest 1993; Jinan Jasim Halawi, Layl al-Bilad, Beirut 2002.

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Zensurbehörde dar, um vom ansonsten regime-kritischen Charakter des Werkes abzulenken.37 Es ist schwierig, das genaue Ausmaß der Einwirkung der offiziellen Kriegsliteratur auf die irakische Öffentlichkeit zu bestimmen. Gespräche der Autoren mit Irakern nach 2003 deuten darauf hin, dass der Großteil der sunnitischen Araber – in Furcht vor einer iranisch-schiitischen Besatzung – sich mit dem Krieg und der Kriegspropaganda des Regimes identifiziert hatte, wohingegen die Schiiten kritischer waren und weniger geneigt, sich beeinflussen zu lassen. Gleichzeitig ist die bloße Tatsache, dass die schiitische Bevölkerungsmehrheit im Irak während acht langer Kriegsjahre gegen den schiitischen Nachbarn keinerlei ernsthafte Zeichen politischer Unzufriedenheit dem Regime gegenüber zeigte, ein deutlicher Indikator für den relativen Erfolg der Propagandamaschinerie, die den Krieg gegen den Iran mehr als nationalen Konflikt zwischen Persern und Arabern darstellte denn als Glaubenskrieg zwischen Schiiten und Sunniten. Als der Irak ab 1982 einen Defensivkrieg auf eigenem Boden gegen die vorrückenden iranischen Truppen zu führen hatte, erlebte der durchschnittliche Iraker den Krieg als Verteidigung der eigenen Heimat, zumal in den schiitischen Teilen des Südirak, wo die meisten Gefechte stattfanden. Unter dem Strich schien die militaristische Grundlogik vom Krieg als dem ,,Vater aller Dinge“ zumindest eine Zeitlang aufzugehen. Nach Kriegsausbruch erlebte der irakische Nationalismus in der Bevölkerung einen enormen Aufschwung. Und dem Regime gelang es dabei größtenteils erfolgreich, sich selbst in der Vorreiterrolle irakischen Nationalgefühls zu präsentieren, wodurch es zugleich seine Legitimität gegenüber der heimischen Opposition zumindest vorübergehend erheblich festigen konnte: ,,Der Aufstieg des irakischen Nationalismus ist einer der Faktoren“, erläutert der Soziologe Faleh Abdul Jabar, ,,die erklären helfen, wie und warum der Irak einen acht Jahre dauernden Krieg durchstehen konnte, obwohl die eigene Armee zu 80 % unter den Soldaten und zu 20 % unter den Offizieren aus Schiiten bestand, und das gegen eine schiitische Nation unter der Anführung eines Ayatollah von nobler Abkunft von schiitischen Imamen“.38 Auch wenn genauere Forschungen noch ausstehen, ist festzuhalten, dass die massive Unterdrückung abweichender Meinungen durch das Regime, die im Laufe der 1980er Jahre immer weiter zunahm, sowie die Tatsache, dass es in erster Linie Schiiten waren, welche die Hauptlast des Krieges in Form von Kriegstoten und Schäden an der Infrastruktur in den Gebieten des Südiraks zu tragen hatten, wahrscheinlich zu der wachsenden Entfremdung zwischen der schiitischen Bevölkerung und der Führung in Bagdad beigetragen haben. Diese Entfremdung trat drei Jahre nach Ende des Iran-Irak-Kriegs deutlich zu Tage: In der Intifada von 1991 kam es zu spontanen Aufständen gegen das Regime in den 37 38

Nadhim al-‘Ubeidi, Al-Ta’ir wal-Jamjama, Bagdad 2002. Faleh Abdul Jabar, The Shi‘ite Movement in Iraq, London 2003, S. 254.

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schiitisch geprägten Ballungszentren in Südirak, die dem Diktator ergebene und aus sunnitischen Arabern zusammengesetzte Truppen blutig niederschlugen. Die staatliche Propaganda scheint jedenfalls tiefe Auswirkungen gezeitigt zu haben, was die Behandlung ehemaliger irakischer Kriegsgefangener betrifft. Kriegsgefangene, die in den 1990er Jahren ihre Memoiren schrieben, äußerten ihr Bedauern darüber, in feindliche Gefangenschaft geraten, statt richtige Märtyrer geworden zu sein. Diese Erklärungen klingen durchaus plausibel, zumal wenn man sie in ihrem richtigen Kontext betrachtet: Nachdem sie lange Jahre harter Gefangenschaft durchlitten hatten, erlebten viele nach ihrer Rückkehr Wiederbegegnungen mit ihren Familien, die keineswegs immer schmerz- und reibungslos verliefen, und stießen regelmäßig auf eine offizielle Atmosphäre, in der ihre Niederlage verurteilt und zuweilen sogar ihre Loyalität in Frage gestellt wurde. Diese Haltung staatlicherseits, die an die Haltung der UdSSR gegenüber ihren aus deutscher Gefangenschaft heimkehrenden Soldaten erinnert, sorgte dafür, dass das Ideal, ein Schahid zu werden, auf größere Sympathie zählen konnte. Zumindest den Aussagen ehemaliger irakischer Kriegsgefangener nach zu urteilen, stand das Bild eines toten Schahid bei Staat und Gesellschaft gleichermaßen in weitaus höherem Ansehen als das eines lebenden Kriegsgefangenen.39 Zweifelsohne war dieses Grundkonzept von großer Bedeutung und großem Wert für Regime und Präsidenten. Wie bereits oben angeführt, prägte Saddam Hussein bereits Mitte der 1980er Jahre den Ausdruck: ,,Al-shuhada akram minna jami‘an“ (,,Die Märtyrer sind besser als wir alle“).40 Er selbst ließ zwar nicht erkennen, dass er auf diese Weise zu einem besseren Menschen werden wolle. Aber seine Huldigung der Figur des Märtyrers hatte den Zweck, alle anderen Iraker zu ermutigen, ihr Leben ebenfalls bereitwillig auf dem Altar des irakischen Patriotismus zu opfern. Seiner Überzeugung nach sollte ein Soldat in der nämlichen Sekunde, in der er im Kampf fiel, auf eine übermenschliche Ebene erhoben werden und so zum höchsten Gipfel von Tugend und Perfektion gelangen. Märtyrer zu werden galt demnach als der absolute Höhepunkt aller menschlichen Bestrebungen – ein simpler Totenkult mithin, der sich auf das abstrakte Konzept des Märtyrertums im Namen der irakischen Nation bezog. Eine Zeichnung aus dem Genre der Kriegskunst, die 1985 in der damals größten irakischen Tageszeitung Al-Thawra (Die Revolution) publiziert wurde, visualisiert diesen Märtyrerkult. Es bildet einen Helden im Augenblick seines Todes ab, wie er in den von der irakischen Flagge bedeckten Himmel aufsteigt (Abb. 2). 39 40

Ronen Zeidel, The Painful Return. Prisoners of War and Society in Iraq 1988–2007, in: Anthropology of the Middle East 3 (2008), H. 2, S. 57–75. Vgl. z. B. Al-Thawra, 30.11.1992. Oder auch eine Zeitungs-Überschrift wie ,,lil-shuhada fadhal kabir ‘alayna“ [Die Märtyrer sind uns gegenüber klar im Vorteil], in: Al-Thawra, 2.12.1986.

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Ronen Zeidel/Achim Rohde/Amatzia Baram Abbildung 2: Zeichnung von Wissam Murqus (Quelle: Al-Thawra, 2.12.1985).

Gedenken von unten: die Friedhöfe Der Irak ist ein Land, in dem Friedhöfe zentrale Plätze des öffentlichen Lebens darstellen. In gewisser Weise ist dies selbst unter den arabischen Ländern ein spezifisch irakisches Phänomen, das zum Teil durch die einzigartige Zivilisation des Landes, sein historisches Erbe, schiitische Einflüsse und leider auch durch seine blutige jüngere Geschichte erklärt werden kann.41 Gleich mehrere irakische Romane spielen auf Friedhöfen, mitunter sogar mit Toten als Helden. In einigen dieser Romane fungieren die Friedhöfe als Kontrastfolie zu der ganz unter dem Bann des Ba‘th-Regimes stehenden Sphäre der Lebenden. Keiner dieser Romane beschäftigt sich indessen mit gefallenen Soldaten.42 41

42

Für eine lesenswerte Beschreibung von Wahlkampfveranstaltungen (im Vorfeld der Wahlen vom März 2010), die auf Friedhöfen stattfanden, siehe: Khulud Ramzi, In the Holy Cities, Election Campaigns Start from the Cemeteries, http://www.niqash.org (27.1.2010). Vgl. z. B. ‘Abd al-Sattar Nasir, Abu al-Rish, Beirut 2002; Hadiya Husayn, Fi al-Tariq Ilayhim, Beirut 2004; sowie die Schluss-Szene in Najm Walis, Tell al-Lahm, London 2001.

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Wie erwähnt, wurden gefallene Soldaten in einer Reihe mit Zivilisten bestattet und nicht auf besonderen Grabfeldern. Die Ba‘th-Führung beschränkte nahezu jeden Aspekt der Trauer- und Begräbnisangelegenheiten; ein militärisches Ehrenbegräbnis für den Schahid stand somit gar nicht zur Debatte. Daraus ergab sich nach dem Tod eine gewisse symbolische Gemeinschaft zwischen den Soldaten und der Zivilbevölkerung. Diese Vorgehensweise mag einerseits dem Wunsch des Regimes entsprochen haben, die genaue Anzahl der Kriegstoten zu verschleiern, um Unmutsäußerungen der kriegsmüden Bevölkerung einen möglichen Kristallisationspunkt zu entziehen. Gleichzeitig passte diese symbolische Einebnung ziviler und Kriegstoter aber auch zum Militarismus des Ba‘th-Regimes, wonach eigentlich alle Irakis permanent zum Kampf gegen innere und äußere Feinde aufgerufen waren, sei es an der ,,inneren Front“ oder im Schützengraben. In Zeiten, als das Regime weniger streng bzw. weniger durchsetzungsfähig war und Begräbnisfeiern nicht gegen starke öffentliche Anteilnahme abschirmte, beteiligten sich oft zahlreiche Menschen an derartigen Anlässen, um ihre Anteilnahme unter Beweis zu stellen, damit möglicherweise aber auch ihren Unmut und Zorn zu äußern. Als etwa der Doyen der irakischen Soziologie, ‘Ali al-Wardi, der als ein liberaler Modernist bekannt war, im Jahr 1995 verstarb, wurde sein Begräbnis zu einem Trauerumzug, an dem Tausende von Menschen teilnahmen. Al-Wardi hatte zuvor in Interviews mit dem Dissidenten und bekannten Journalisten Sa‘d al-Bazaz recht offen die neo-tribale Politik des Regimes in den 1990er Jahren kritisiert. Zwar wurden diese Interviews erst nach seinem Tod und in Jordanien veröffentlicht, doch seine Ansichten waren im Irak bekannt. Die große Anteilnahme an seinem Begräbnis in Bagdad muss daher als politischer Akt einer Regime-kritischen Bevölkerung interpretiert werden.43 Es lag somit im Interesse des Regimes, Trauer und Gedenken auf den privaten Raum zu beschränken, und die Formierung von Solidarität auf höherer Ebene zu verhindern. Große Menschenansammlungen auf den Friedhöfen über das ganze Jahr hinweg sind zwar nicht per se ein Indikator kollektiven Protests. Gleichwohl machen derartige lokale Bräuche die fortdauernde Existenz einer bislang noch zu wenig erforschten popularen Gedenkkultur sichtbar, wie sie parallel zu den staatlich initiierten Diskursen und Praktiken bestanden hat.

Gedenkkultur nach 2003 Vor dem Hintergrund der chaotischen Zustände nach Ende der Ära Saddam Husseins konnte die neue politische Führung im Irak verständlicherweise nicht 43

Siehe Eric Davis, Memories of State. Politics, History, and Collective Identity in Modern Iraq, Berkeley/CA 2005, S. 262f.

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Abbildung 3: Feierlichkeiten unter Triumphbogen, Bagdad, undatiertes Foto aus der Zeit Saddam Husseins.

allzu viel Zeit auf Fragen der Gedenkkultur verwenden. Trotzdem hat es einige bedeutsame Veränderungen gegeben, die neue Tendenzen erkennen lassen. Die folgenden Projekte dienen auch dazu, die Distanz der neuen irakischen Regierung zum Vorgänger-Regime zu symbolisieren und zu vertiefen. Dabei wird offensichtlich, wie das Pendel allmählich von einer staatlich initiierten und kontrollierten Gedenkkultur zu einem Gedenken von unten umschwingt. Zugleich zeigt sich darin die Schwächung des vormals so zentralisierten irakischen Staates. Obwohl Gegenstand öffentlicher Kontroverse, wurde bislang keine der aus der Zeit Saddam Husseins stammenden monumentalen Bauten in Bagdad von der neuen Staatsführung abgerissen: weder der ,,Unbekannte Soldat“ noch das Märtyrer-Monument. Dieses hat aufgrund seines unstrittigen ästhetischen Werts in jüngster Zeit sogar den Status eines Wahrzeichens von Bagdad erlangt. Im Jahr 2007 hatte die irakische Regierung im Sinne der von ihr verfolgten DeBa‘thifizierungs-Kampagne zwar damit begonnen, die beiden berühmt-berüchtigten und heute innerhalb der Grünen Zone liegenden ,,Triumphbögen“ abzureißen, die im Jahr 1989 zur Feier des irakischen ,,Sieges“ über den Iran errichtet wurden (Abb. 3). Doch erwies sich dieser Schritt in der irakischen Öffentlichkeit als kontrovers, und schließlich wurde der Abriss der Triumphbögen auf Betreiben des dama-

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ligen US-Botschafters in Irak, Zalman Khalilzad, eingestellt.44 Obwohl einst Zentren der offiziellen Gedenkkultur und von zahlreichen ausländischen Würdenträgern aufgesucht, sind diese Monumente seit 2003 heruntergekommen und dringend sanierungsbedürftig. Im Januar 2008 nahm die neu gegründete irakische Armee allerdings die Tradition wieder auf, den ,,Tag der Armee“ in der Nähe des ,,Denkmals für den Unbekannten Soldaten“ zu begehen.45 Dieser Tag markiert den Jahrestag der ursprünglichen Gründung der irakischen Armee, die 2003 von der US-amerikanischen Militärverwaltung auf Anordnung von Paul Bremer offiziell aufgelöst wurde.46 Zu Zeiten Saddam Husseins wurde er stets mit großem Pomp gefeiert. Mit diesem Schritt hat die heutige irakische Regierung die Kontinuität der ältesten irakischen staatlichen Institution symbolisch zum Ausdruck gebracht. Doch anstatt die Öffentlichkeit an den vormals unzugänglichen Orten zur Teilnahme am Gedenken für die gefallenen Soldaten einzuladen, hat die Regierung, im vollen Bewusstsein dessen, wofür diese Denkmäler stehen, nur eine sehr maßvolle Zeremonie hinter Stacheldraht und nahezu ohne Publikum abgehalten. Damit hat sie aber nur unter Beweis gestellt, wie heikel symbolische Demonstrationen nationaler Kontinuität im heutigen Irak sind, der noch immer mit seinem Ba‘th-Erbe zu kämpfen hat. Die neue Führung in Bagdad und Erbil verwendet den größten Teil ihrer auf Erinnerungskultur ausgerichteten Energien auf den Bau von Gedenkstätten für die Opfer innerstaatlicher Gewalt während der Ba‘th-Ära. Vor April 2003 war dies aus nahe liegenden Gründen nicht möglich. Eine Ausnahme ist der seit Beginn der 1990er Jahre und auch heute weitgehend autonome kurdische Nordirak, wo von der kurdischen Regionalregierung bereits in den 1990er Jahren eine Gedenkstätte für die Opfer des Giftgas-Angriffs auf Halabdscha (16.4.1987) errichtet wurde. Der 15. April gilt bei den Kurden darüber hinaus als Gedenktag der Anfal-Operation. Doch gerät dieser von der kurdischen Regionalregierung geführte Erinnerungsdiskurs, der nicht zuletzt der Legitimierung ihres Zieles einer möglichst weitgehenden Unabhängigkeit vom irakischen Staat dient, in den letzten Jahren zunehmend in Konflikt mit zivilgesellschaftlichen kurdischen Akteuren, die sich durch den offiziellen Diskurs nicht repräsentiert sehen. Das Denkmal in Halabdscha etwa wurde 2006 während einer offiziellen Gedenkfeier

44

45 46

Für eine ausführliche Diskussion der Triumphbögen vgl. al-Khalil, The Momument. Für einen Bericht zur aktuellen Lange siehe Benjamin Isakhan, Destroying the Symbols of Baathist Iraq, in: TAARI Newsletter 5 (2010), H. 2, S. 1–5. Al Sharqiyya TV, 6.1.2008. Für ausführliche Darstellungen siehe: Al-Marashi / Salama, Iraq’s Armed Forces; Pesach Malovany, The Performance of the Iraqi Armed Forces in Operation Desert Storm and the Impact of Desert Storm on its Performance in Operation Iraqi Freedom, in: Amatzia Baram u. a. (Hg.), Iraq Between Occupations. Perspectives From 1920 to the Present, New York 2010, S. 173–188.

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von Demonstranten/innen niedergebrannt.47 Zurzeit entsteht eine von Überlebenden der Anfal-Kampagne (1987/88) selbst initiierte Gedenkstätte mit einem Studienzentrum. Bei den Überlebenden handelt es sich fast ausschließlich um Frauen, da Jungen und Männer in den Anfal-Gebieten vom Regime systematisch ermordet wurden. Die kurdische Regionalregierung, eine deutsche NGO und das deutsche Auswärtige Amt unterstützen das Projekt.48 Auch im übrigen Irak werden derzeit Gedenkstätten für die Opfer der Ba‘th-Gewalt errichtet und deren Namen in Stein eingraviert. In Basra erinnert ein neues Denkmal an die Opfer des Aufstandes vom März 1991. Eingeweiht wurde es von den Provinzbehörden und der Stadtverwaltung von Basra.49 In Dudschail, einer schiitisch geprägten Stadt im Norden Bagdads, wo ein fehlgeschlagenes Attentat auf Saddam Hussein zu der Hinrichtung von 189 Männern geführt hatte, haben die Angehörigen den Bau eines Denkmals und eines Museums mit Gegenständen aus dem Besitz der Toten organisiert. Das Gedenken blieb nicht auf steinerne und marmorne Denkmäler beschränkt, sondern nahm auch andere Formen an: Verbände, Vereine, Förderinitiativen, Museen, Filme oder Dokumentationen. Hinter derartigen Bemühungen stehen in der Regel die Familien, Dorfgemeinschaften und Stadtverwaltungen sowie berufliche, religiöse und politische Organisationen. Dass selbst noch die Prozesse gegen hochrangige Ba‘th-Parteifunktionäre dem Staat (über die Medien), den Verwandten und den Überlebenden in ihren Zeugenaussagen Gelegenheit boten, der Opfer zu gedenken, erinnert in gewisser Weise an den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem. Für das sich nach Saddam Hussein neu konstituierende irakische Staatswesen stellten die Prozesse ein Mittel dar, in der irakischen Gesellschaft eine neue Diskussion über die Ba‘th-Ära anzustoßen. Damit kommen wir zu einer der hauptsächlichen Wandlungen in der irakischen Gedenkkultur. Die meisten dieser genannten Ausdrucksformen werden von lokalen Akteuren initiiert, mit mehr oder weniger stillschweigender Unterstützung von Staat, jeweiliger Provinzbehörde, politischen Parteien und deren Anhängern. Eine Zwischenebene der Gedenkpraxis an der Schnittstelle von Staat und Gesellschaft ist somit derzeit im Entstehen begriffen. Ein weiterer Aspekt im neuen Irak ist die Aushebung von Massengräbern, um die sterblichen Überreste derer, die dort verscharrt wurden – hauptsächlich kurdische Opfer der Anfal-Operation und schiitische Opfer des Aufstands von 1991 – einem or-

47

48 49

Siehe Karin Mlodoch, Zwischen individueller Verarbeitung und gesamtgesellschaftlicher Versöhnung: Vergangenheitsbewältigung im Irak, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9/2011, S. 11–17. Für ausführliche Informationen siehe Homepage des Verein Haukari e.V., http://www. haukari.de. Al Iraqiyya TV, 8.3.2009.

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dentlichen Begräbnis zuzuführen. All dies sind Schritte auf dem Weg zu einer Neuformulierung irakischer Identität. Bezeichnenderweise gibt es zwei Opfergruppen, derer im heutigen Irak überhaupt nicht gedacht wird. Die erste bilden die Opfer der bürgerkriegsartigen Gewalt in den Jahren nach 2003. Im Januar 2010 berichtete der Fernsehsender ,,Al-Sharqiyya“ die Geschichte von drei jungen Brüdern, die drei Jahre zuvor in Bagdad von einer Bombe getötet worden waren und nun in sehr bescheidenem Rahmen in der Nähe ihres Elternhauses in Sadr City auf dem Spielplatz, wo sie immer gespielt haben, bestattet liegen. Mutter, Onkel und Spielkameraden kamen in der Reportage zu Wort.50 Die Sendung dieses Beitrags stellte zwar auch für sich genommen bereits eine Form des Gedenkens dar, aber der Anblick der ärmlichen Grabstätte wirft die Frage auf, warum nicht mehr unternommen wurde, um aller Opfer der Gewalt in Sadr City, Bagdad oder überhaupt im Irak zu gedenken. Anscheinend ist der offene Umgang mit der allerjüngsten Vergangenheit – und durchaus auch noch der Gegenwart mit ihren tiefen konfessionellen Verwerfungen – noch schwieriger als der Umgang mit dem Vorgänger-Regime. Die zweite Opfergruppe, für die es kein neueres Denkmal gibt, sind die in den Kriegen der Ba‘th-Ära gefallenen Soldaten. Auch kennt der neue irakische Kalender noch immer keinen nationalen Gedenkfeiertag.51 Des iranisch-irakischen Kriegs wird lediglich auf privater Ebene vonseiten der Familien auf den Friedhöfen gedacht, oder allenfalls von Autoren und Dichtern, nicht aber von Staats wegen. Zuweilen scheint es, dass die Regierung dem Bedürfnis, der Gefallenen aus dem Iran-Irak Krieg zu gedenken, gleichgültig gegenübersteht: Nachdem die Saddam Hussein-Statue gestürzt und vom al-Firdaws-Platz entfernt worden war, hat die neue Regierung dort lieber ein neues symbolisches Freiheits-Denkmal errichtet, anstatt das alte, von der Ba‘th-Führung abgerissene ,,Denkmal für den Unbekannten Soldaten“ an seinem früheren Ort wieder herzustellen. Die Gefallenen des Iran-Irak-Kriegs zu ignorieren, geschieht indes nicht ohne Grund. Die neue Führung in Bagdad steckt hier in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite war dieser Krieg vor 2003 immer als das irakische Pendant zum ,,Großen Vaterländischen Krieg“ dargestellt worden. Während acht langer Jahre beteiligten sich tatsächlich viele Iraker, die Saddam Hussein verabscheuten, bereitwillig am Kampf, um ihre Heimat gegen eine drohende iranische Besatzung zu verteidigen. Doch nach dem Sturz des Ba‘th-Regimes wurde dieser Krieg von den neuen Machthabern – seien es die US-Militärs oder die früher ins Exil verbannten irakischen Oppositionsparteien, welche heute die Regierung stellen – häufig mit den Verbrechen der Ba‘th-Zeit in eine Reihe gestellt.52 Die kurdische Opposi50 51 52

Al-Sharqiyya, 17.1.2010. Arnold, Bagdad, S. 71. Ein gutes Beispiel ist ein vom Sender Al-Furat TV ausgestrahlter Clip, der sich mit den Ba‘th-Verbrechen auseinandersetzt und in dem der Erste Golfkrieg umstandslos in eine

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tion führte einen eigenen Krieg gegen das Regime, und nur eine sehr geringe Zahl kurdischer Soldaten diente in der irakischen Armee. Für Kurden ist die Zeit des Iran-Irak-Kriegs untrennbar mit den Anfal-Massakern verbunden. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die weitgehend negative Wahrnehmung dieses Krieges unter der kurdischen Bevölkerung Iraks. Die meisten irakischen Oppositionsparteien hielten den Iran-Irak-Krieg von Anfang an für illegitim, doch mit Ausnahme der kurdischen Parteien hatten sie keine nennenswerte Präsenz innerhalb des Irak, und ihre Position galt zusätzlich aufgrund ihrer Assoziation mit dem Iran als angreifbar. Eine der führenden schiitischen Oppositionsbewegungen, der Oberste Islamische Rat im Irak (OIRI, englisch-international meist ISCI oder SCIRI abgekürzt), der heute zu den mächtigsten politischen Akteuren zählt, kämpfte an der Seite der Iraner gegen die irakische Armee. Schiitische Politiker im Irak befinden sich außerdem in einem diplomatischen Dilemma: Viele erfreuen sich iranischer Unterstützung und zeigen infolgedessen wenig Bereitschaft und Neigung, sich auf Diskussionen über einen Krieg, bei dem der Iran Gegner war, einzulassen, oder ihn auch nur zu erwähnen. Diese Politiker zeigen sich genauso zurückhaltend, wenn es um die beiden Golfkriege von 1991 und 2003 geht. Während diese unter früheren Mitgliedern der Ba‘th-Partei oder deren Sympathisanten als patriotische Freiheitskämpfe gegen den Imperialismus gelten, sieht die Mehrzahl der ehemals exilierten irakischen politischen Gegner des abgesetzten Diktators in ihnen nachvollziehbare Operationen der USA, die sich gegen ein bösartiges Regime richteten. Und auch wenn die meisten unter ihnen diese beiden Kriege, welche die ehemals moderne Infrastruktur des Landes zerstört und zahllose Opfer unter Soldaten wie der Zivilbevölkerung gefordert haben, nicht offen gutheißen, können sie sie doch auch wiederum nicht verurteilen. Denn schließlich haben diese Kriege sie an die Macht gebracht. Wie also sollen sie zu den irakischen Gefallenen dieser Kriege einen angemessenen Bezug finden? Derartige Dilemmata sowie das daraus resultierende Schweigen über politisch sensible Themen zeigen, dass es im Irak nach Saddam Hussein noch immer keine Debatte über die qualvolle Geschichte des Landes gibt, die dann möglicherweise imstande wäre, der Aufsplitterung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen entgegenzuwirken und zwischen den wechselseitig widersprüchlichen Geschichtsnarrativen, wie sie in der irakischen Gesellschaft vorhanden sind, zu vermitteln. Darin liegt eine Gefahr für die gegenwärtige politische Führung des Landes: Während einerseits das Stillschweigen über die Kriege der letzten Jahrzehnte dazu dient, sich von dem VorgängerRegime abzusetzen, weitet eine solche politische Haltung andererseits den Graben zwischen der politischen Führung und den regelmäßig auf den Friedhöfen

Reihe gestellt wird mit anderen Verbrechen wie der Niederschlagung der Intifada im März 1991, Halabdscha, Folter, Hinrichtungen u. a. (Al-Furat, 5.2.2010).

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anzutreffenden Menschenmengen, für die diese Kriege noch immer ein zutiefst traumatischer Bestandteil der Gegenwart sind.

Ausblick Wie es auch in anderen Nationalstaaten der neueren Geschichte der Fall gewesen ist, hat der Irak im 20. Jahrhundert mit Blick auf die Kriege des Landes Gedenkprojekte und Narrative initiiert, um die Erinnerungen an Krieg und gewaltsame Konflikte als ein Werkzeug zur Formung nationaler Identität zu gebrauchen. Im Irak der Ba‘th-Ära brachte das Regime gezielt einen Diskurs in Gang, der soldatisches Heldentum und Märtyrertum verklären sollte. Es bildete sich eine staatlich geförderte Erinnerungskultur aus, die die offizielle Ideologie widerspiegelte, ohne sich indes auf die individuellen Erfahrungen der Hinterbliebenen, auf die üblichen Begräbnisrituale oder auf die Erinnerungen ehemaliger Kriegsgefangener – also die lebendigen persönlichen Kriegserinnerungen – näher einzulassen. Mag es auch sein, dass jedes Gedenken unter umfassende Kontrolle des Regimes gestellt werden musste, da die Frage der Kriegstoten natürlich ein hochsensibles Politikum darstellte, so weist eine solche Vorgehensweise doch zugleich auf den schwachen Legitimationsgrad hin, über den autoritäre politische Systeme üblicherweise bei ihren jeweiligen Bevölkerungen verfügen. In demokratischeren und stärker auf Partizipation ausgerichteten politischen Systemen sind Gedenkkulturen hingegen tendenziell offener für aktive Beteiligung der Bevölkerung, wozu dann auch gehört, der persönlichen Dimension des erlittenen Verlustes ausreichend Platz einzuräumen. Dass in Irak ein solches Gedenken von unten lange auf den engeren Familienbereich eingeschränkt wurde, hat in einem Land, das über eine so reiche Begräbniskultur verfügt und in dem beinahe das ganze Jahr über auf den Friedhöfen geschäftiges Treiben herrscht, zu erheblichen Problemen geführt. In der Folge vergrößerte sich die emotional aufgeladene Distanz zwischen dem Gedenken ,,von unten“ und dem ,,von oben“. Die für die Geschichte des modernen Irak so charakteristische Polarisierung von Staat und Gesellschaft wird damit erneut sichtbar. Die radikalen Veränderungen, die der Irak infolge des Sturzes von Saddam Hussein 2003 durchlaufen hat, brachten eine dramatische Schwächung des vormals starken und zentralistischen Staates sowie das Auftreten zahlreicher neuer sozialer und politischer Akteure im Lande mit sich, von denen ein jeder über seine je eigenen Erinnerungen zu den vergangenen Jahrzehnten und deren Kriegen verfügt. Diese Wandlungen ermöglichten das Aufkommen neuer Tendenzen in der Gedenkkultur, teils als Nebeneffekt des gewandelten Selbstbildes der neuen Regierung, teils aufgrund der Fragmentierung des Zentralstaates.

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Trotz allem haben Staat und Gesellschaft im Irak nach Saddam Hussein noch zu keinem umfassenden Diskurs über die jüngere Geschichte des Landes gefunden, die doch immerhin drei verheerende Kriege und zahlreiche gewaltsame Konflikte innerhalb des Irak umfasste, vor allem den Konflikt der Zentralregierung mit der kurdischen Opposition, der in der Anfal-Kampagne von 1987/88 kulminierte, sowie die Intifada von 1991 und deren Niederschlagung. Es mag verfrüht sein, von einem neuen und noch fragilen Staatsgebilde wie dem heutigen Irak, in dem die Regierung noch nicht einmal die Kontrolle über das eigene Territorium wiedererlangt hat und dessen Geschicke noch immer stark von äußeren Akteuren wie den USA und dem Iran beeinflusst werden, eine kohärente Erinnerungskultur zu erwarten, die geeignet wäre, die tiefen Spaltungen innerhalb der irakischen Gesellschaft zu überwinden. Doch solange es den Irakern nicht gelingt, ihre eigene Vergangenheit aufzuarbeiten mitsamt der gegensätzlichen Auswirkungen, die diese auf die verschiedenen gesellschaftlichen Teilgruppen hatte, wird es keine nationale Versöhnung nach Beendigung der Konflikte geben: mit allen offensichtlichen negativen Konsequenzen für den Prozess des Wiederaufbaus im Irak in den kommenden Jahren.

Israel Maoz Azaryahu

Erinnerungsverpflichtung und Erinnerungsgewebe1 Als das Gedenken an die im Israelischen Unabhängigkeitskrieg gefallenen Soldaten im Jahr 1949 zunehmend an Bedeutung gewann, erklärte David Ben-Gurion, Israels Premierminister und Gründervater des neuen Staates, am Abend des ersten Unabhängigkeitstages: ,,Wir werden die Erinnerung an unsere Helden nicht mit Steinen oder Bäumen festhalten, sondern mit Gefühlen der Bewunderung und des Stolzes, die für immer im Herzen der Nation wohnen werden.“2 Mit seiner Formulierung spielte Ben-Gurion explizit auf die Sprache der vor heidnischen Ritualen warnenden biblischen Propheten an. Seine Abneigung gegenüber materiellen Formen des Gedenkens spiegelte seine Überzeugung wider, wonach die Materialität konventioneller Gedenkmedien minderwertig sei. In seiner Vorstellung war das Gedenken an die gefallenen Soldaten stärker eine ethische Verpflichtung und weniger das Ergebnis einer konkreten Erinnerungs- und Gedenkpraxis. Ben-Gurions strenge Auffassung einer Erinnerung ohne Erinnerungshilfen ließ sich nicht wirklich durchführen. Praktiken und Aktivitäten des Gedenkens an Menschen und Ereignisse gehören zur sozialen Kommunikation. Für den Versuch, Vergangenes in der Gegenwart lebendig zu erhalten, ist das Gedenken immer dann nötig, wenn die Erinnerung an vergangene Ereignisse und Personen über die individuelle Erinnerung hinaus auch für die Zukunft bewahrt werden soll. Heroische Aufopferung ist ein grundlegender Wert im patriotischen Ethos des modernen Nationalstaates. Der Aufwertung des Soldatentodes mittels ehrenvollen Gedenkens in der öffentlichen Sphäre liegt das zugrunde, was George Mosse treffend als ,,Kult um die gefallenen Soldaten“ bezeichnet hat und in dessen Zentrum die öffentliche Erinnerung steht.3 Dieser Kult zeigte sich in den USA nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, aber auch in Europa 1

2

3

Übersetzung aus dem Englischen von Monika Kubrova. Hebräische Veröffentlichungen wurden mit dem in der Regel parallel vergebenen englischsprachigen Titel angegeben oder transkribiert (deutsche Übersetzung in Klammern). David Ben-Gurion, La-avot ve-la-Banim (Zu den Vätern und den Söhnen), in: Be-Ityahed Am (Wenn die Nation sich erinnert). Eine Anthologie, hg. v. Verteidigungsministerium, Tel Aviv 1954, S. 11f., hier S. 11. Vgl. George L. Mosse, The Cult of the Fallen Soldier, in: Journal of Contemporary History

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Abbildung 1: Offizielle Anzahl der gefallenen Soldaten pro Jahr seit der israelischen Unabhängigkeit.4

nach dem Ersten Weltkrieg. Die Formen und Muster, mit denen der Kult Gestalt annahm, waren Denkmäler, Militärfriedhöfe, Erinnerungszeremonien und Gedenktage. Seit dem israelischen Unabhängigkeitskrieg wurde das Gedenken an die gefallenen Soldaten eng mit dem Gedenken an den Krieg verknüpft, der die Entstehung des jüdischen Staates ermöglicht hatte. In den Worten des Dichters Nathan Alterman waren die gefallenen Soldaten ,,das silberne Tablett“, auf welchem der jüdische Staat serviert wurde. Indes ist das Gedenken an die gefallenen Soldaten in Israel ein fortlaufendes Projekt: Wiederkehrende Kriege und gewalttätige Konflikte haben die Zahl der Gefallenen Jahr für Jahr um immer mehr Opfer vergrößert (vgl. Abb. 1). In der offiziellen Bilanz der Gefallenen werden auch die Mitglieder des jüdischen Untergrunds und die Opfer der arabischen Angriffe gegen Zivilisten aus vorstaatlicher Zeit geführt. Ebenso wurden und werden jeder jüdische, drusische und beduinische Soldat bzw. jede Soldatin mitgezählt, der/ die, unabhängig von den Umständen, während seiner/ihrer aktiven Militärzeit starb. Diese offizielle Liste wird jährlich zum nationalen Gefallenengedenktag

4

14 (1979), S. 1–20; ders., Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben (1990), Stuttgart 1993. In den Jahren der arabisch-israelischen Kriege ist die Zahl gefallener Soldaten deutlich höher: 1948 (israelischer Unabhängigkeitskrieg), 1956 (die Suezkrise), 1967 (Sechstagekrieg), 1973 (Oktoberkrieg), 1982 (erster Libanonkrieg), 2006 (zweiter Libanonkrieg). Die Tabelle wurde nach den offiziellen Daten des Verteidigungsministeriums zusammengestellt.

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veröffentlicht und enthält jeden im Kampf verstorbenen Soldaten sowie diejenigen, die durch Unfälle oder Krankheit ums Leben kamen. Durch terroristische Aktionen zu Tode gekommene Zivilisten zählen indes nicht dazu. In der israelischen Erinnerungskultur werden die gefallenen Soldaten mit dem zionistischen Narrativ der Tkuma (nationale Wiedergeburt) in Verbindung gebracht. In der Liturgie des nationalen Erinnerungskultes repräsentiert die Liste der Gefallenen das menschenmöglich höchste Opfer für die Sache der nationalen Unabhängigkeit. Das Gebot, ,,sich an alle zu erinnern“ – dies der Refrain eines populären Gedichts, das nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg verfasst wurde – symbolisiert eine machtvolle zionistische Verpflichtung, die in zahlreichen Vorhaben realisiert wurde. Diese Erinnerungs- und Gedächtnisprojekte wurden und werden durch staatliche Organe, kommunale Behörden und Siedlungskooperativen (Kibbuzim) angeregt und durchgeführt, aber auch – und das sind die wichtigsten Projekte – von hinterbliebenen Freunden und Familien der gefallenen Soldaten. Sie unterscheiden sich in ihren sozialen und kulturellen Auswirkungen sowie in der Größe und Kraft, die Bedeutung des Gedenkens zu vermitteln. Doch gemeinsam haben sie erreicht, dass das Gedenken an die gefallenen Soldaten zu einem Kennzeichen der israelischen patriotischen Kultur, des zionistischen Ethos und der zionistischen Identität wurde. Das 1949 begonnene und bis heute andauernde Gedenken an die gefallenen Soldaten hat in Israel eine lebendige Erinnerungskultur hervorgebracht. Diese ist solange sozial lebendig, wie sie sich auf ein verbindliches Gedenken und auf die Erinnerungsverpflichtung stützen kann. Der Aufsatz verfolgt ein dreifaches Ziel: Erstens sollen die historische Entwicklung und die kulturelle Beschaffenheit des Gedenkens an die Gefallenen Israels betrachtet werden. Das besondere Interesse konzentriert sich hierbei auf das Zusammenspiel zwischen offiziellen/institutionalisierten und privaten/ freiwilligen Initiativen und Projekten. Zweitens sollen Muster und Formen des ,,persönlichen Gedenkens“ beleuchtet werden, wobei der Fokus auf den Biographien gefallener Soldaten und/oder ihrem schriftlichen Nachlass liegt. Beide Formen des ,,persönlichen Gedenkens“ an die gefallenen Soldaten, das offizielle oder ,,von oben“ verordnete wie das private, ,,von unten“ initiierte, haben bei der Gestaltung der israelischen Erinnerungskultur eine prominente Rolle gespielt. Drittens werden neue Möglichkeiten des Gedenkens, die sich aufgrund technologischer Innovationen ergeben haben, skizziert. Hierfür werden im Folgenden die einzelnen Erscheinungsformen des Gefallenengedenkens vorgestellt und analysiert.

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Der institutionelle Rahmen Involviert in das Gedenken an die gefallenen Soldaten als eine fortdauernde Aufgabe waren sowohl offizielle Behörden, die den institutionellen Aspekt des Gedenkens repräsentieren, als auch private Initiativen, die von Bestrebungen der hinterbliebenen Familien, Organisationen und spontan gegründeten Vereinigungen ins Leben gerufen wurden. Auch wenn sie sich in Umfang, Form und Wirkung unterschieden, so wurden diese Aktivitäten doch als komplementäre Elemente eines nationalen Projekts verstanden. Der institutionelle Aspekt des Gedenkens gewährleistete eine strategische Zusammenarbeit zwischen einer eigens für diesen Zweck geschaffenen ministeriellen Autorität und führenden Personen, die ich als ,,organisierte Hinterbliebene“ bezeichnen würde. Diese Personen bildeten eine Lobbygruppe, die sich um alle Angelegenheiten in Verbindung mit dem Gedenken an die Gefallenen kümmerte. Es ist sicherlich nicht überraschend, dass die institutionellen Grundlagen des Gedenkens im Zusammenhang mit und im Rahmen der Nachwirkungen des Krieges von 1948 gelegt wurden. Bereits 1948 wurde eine besondere Abteilung innerhalb des Verteidigungsministeriums geschaffen, die mit der Aufgabe des Gedenkens an gefallene Soldaten betraut war.5 Die ,,Abteilung für das Gedenken an die Gefallenen“, wie sie offiziell hieß (im Folgenden AGG), hatte zwei Funktionen zu erfüllen: Zum einen bestand ihre Aufgabe im Bau von Soldatenfriedhöfen (einschließlich der Überführung dortin von den in provisorischen Grabstätten beigesetzten Soldaten), zum anderen hatte sie das ,,literarische Gedenken“ an die Gefallenen umzusetzen. Zu den der AGG übertragenen ministeriellen Befugnissen traten die hinterbliebenen Familien hinzu und nahmen eine wichtige Rolle ein. Deren Interessen im Gedenkprojekt wurden von Yad Lebanim vertreten. Die Organisation für hinterbliebene Eltern wurde 1950 mit den zwei Zielstellungen gegründet: Den Betroffenen mögliche Zuwendungen und Beihilfen zu sichern und das Gedenken an die gefallenen Soldaten zu fördern und mahnend zu beobachten. Mit dem ,,Öffentlichen Rat für das Gedenken an die Gefallenen“ entstand 1951 eine dritte Körperschaft.6 Sie ging rechtlich auf das im August 1950 von der Knesset verabschiedete Gesetz zu Soldatenfriedhöfen zurück. Das Gesetz regelte nicht nur Soldatenbegräbnisse und die Beziehung zwischen den Behörden 5

6

Zur Geschichte des AGG vgl. Maoz Azaryahu, State Cults. Celebrating Independence and Commemorating the Fallen in Israel (1948–1956), Sde-Boqer 1995, S. 133f. (Hebr.); Ilana Shamir, So they shall not be as though they had not been. Establishing State-run Commemoration Patterns. The Unit for Commemoration of Fallen Soldiers, Tel Aviv 2003, S. 26–28 (Hebr.). Azaryahu, State Cults, S. 134f.; Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 29–31.

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und den hinterbliebenen Familien, sondern legte auch fest, dass die politischen Strategien des Gedenkens von einem öffentlichen Gremium gesteuert werden sollten, dessen Mitglieder vom Verteidigungsminister zu ernennen sind. Der Öffentliche Rat hatte die Aufgabe, Richtlinien für das Gedenken festzulegen und die Arbeit der AGG im Verteidigungsministerium zu beaufsichtigen. Obwohl im Gesetz nicht festgelegt, waren und sind die meisten Mitglieder im Öffentlichen Rat Eltern, die den Verlust eines Kindes zu beklagen hatten. Dadurch erhielt die ,,Familie der Hinterbliebenen“, wie der Rat metaphorisch genannt wird, entscheidendes Gewicht bei der Gestaltung des Charakters und der Form des offiziellen Gedenkens in Israel. Der Öffentliche Rat mit seiner moralischen Autorität, seinen Ideen und Initiativen war sehr einflussreich. Zum großen Teil wurden die institutionellen Muster des Gedenkens durch die von ihm getroffenen Entscheidungen geformt. Die AGG fungierte hierbei als eine Art ,,Subunternehmer“ und führte die Ratsentscheidungen aus. Wichtig ist, dass das Gedenken an die gefallenen Soldaten aus einem Gefüge von konvergierenden offiziellen Projekten wie privaten Initiativen bestand. Gemeinsam entwickelten sie die Erinnerungs- und Gedächtnismuster, welche bis heute den Platz der gefallenen Soldaten in der israelischen Erinnerungskultur bestimmen. Doch während das offizielle Gedenken in der Regel gut dokumentiert wurde, so dass sich seine Umsetzung rekonstruieren lässt, hinterließen Privatinitiativen keine ausführlichen Aufzeichnungen, weshalb sich die Umstände realisierter Initiativen häufig einer genaueren Untersuchung entziehen.

Soldatenfriedhöfe Angesichts der Notwendigkeit, für die im israelischen Unabhängigkeitskrieg gefallenen Soldaten eine letzte Ruhestätte zu finden, besaß der Bau von Soldatenfriedhöfen von Anfang an eine hohe Priorität in der Agenda der AGG.7 Es ist bemerkenswert, dass sich 1950 das erste von der Knesset verabschiedete Gesetz zum Gedenken der Gefallenen auf die Soldatenfriedhöfe bezog. Wie bereits erwähnt, legte das Gesetz die Formierung des Öffentlichen Rates fest, der die Aufgaben des nationalen Gedenkens wahrnehmen sollte. Mit dem Gesetz zu den Soldatenfriedhöfen war in der Praxis die Auflösung der während des Krieges entstandenen temporären Begräbnisstätten verbunden. Doch darüber hinaus waren die an der Aufgabe Beteiligten auch mit der Idee vertraut, dass ein Soldatenfriedhof ein wesentliches nationales Heiligtum darstellen konnte. Obwohl 7

Azaryahu, State Cults, S. 164–185; Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 53–67.

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man sich einig war, Soldatenfriedhöfe als patriotischen Imperativ zu betrachten, waren rechtliche Probleme zu klären, etwa Entscheidungen darüber, wo gefallene Soldaten beizusetzen sind. Im Grundsatz galt hier, dass die Familie und nicht der Staat in solchen Angelegenheiten zu entscheiden habe. In Anlehnung an die amerikanische wie europäische Tradition lag den neu erbauten israelischen Soldatenfriedhöfen die Idee der Einheitlichkeit zugrunde. Grabsteine hatten identisch zu sein, um das Prinzip symbolischer Gleichheit auszudrücken: ,,Soldatenfriedhöfe gründen auf der Idee der Gleichwertigkeit. All diejenigen, die dort beigesetzt sind, haben ihr Leben für ein und dieselbe Sache gegeben […] Einheitlichkeit sollte der entscheidende und markanteste Faktor sein.“8 Die architektonische Gestaltung spielte ebenfalls eine wichtige Rolle. Im Jahr 1949 bestand die Aufgabe der AGG darin, eine für jüdische Soldatenfriedhöfe spezifische Gestaltung zu finden. Der Leiter der AGG erklärte später dazu: ,,In Bezug auf militärische Angelegenheiten konnten wir auf Erfahrungen anderer Länder zurückgreifen, aber es wäre schwierig gewesen, uns auch nach ihren Formen des Begräbnisses zu richten – und nicht nur aufgrund religiöser Überlegungen […] Wir konnten Soldatenfriedhöfe anderer Staaten nicht nachahmen. So standen wir vor dem Problem, wie man jüdische Soldatenfriedhöfe, ohne über ein Orientierungsmodell zu verfügen, zu gestalten habe.“9 Die Teilnehmer am öffentlichen Architekturwettbewerb wurden 1949 explizit angewiesen, ,,eine Form für einen jüdischen Friedhof zu suchen, die die jüdische Vergangenheit, Gegenwart und Tradition in Betracht zieht“.10 Tatsächlich war der siegreiche Entwurf darin originell, da er das europäische Vorbild nicht nachahmte. Der jüdische Charakter des Friedhofs kam nicht mittels jüdischer Ikonographie zustande, sondern durch Gräber, die aus dem Jerusalem-Stein gehauen wurden (Abb. 2). Auf einem kleinen Stein (hebräisch: Karit (Kopfkissen)) über der im Ganzen rechteckigen, erhobenen Grabanlage wurden Name, Rang sowie der Geburtsort und das Geburtsdatum des gefallenen Soldaten in Stein gehauen. Der Baubeginn der Soldatenfriedhöfe folgte unmittelbar auf die Bekanntgabe der Ergebnisse des Architekturwettbewerbs im Juli 1949. Ungeachtet der Präferenzen der AGG für eine Zentralisierung – d.h. konkret die Errichtung einer kleinen Zahl größerer Friedhöfe – stieg die Anzahl der Soldatenfriedhöfe an. Grund war die Bitte hinterbliebener Eltern, ihre Toten in einem Friedhof nahe 8 9 10

Justizminister Pinhas Rosen während der Knessetdebatte über das Gesetz zu den Soldatenfriedhöfen, Protokoll der 128. Sitzung der 1. Knesset, 20. März 1950, S. 1069. Yosef Dekel, Leiter der AGG, in einer Rede im Kibbuz Negba, in: Kol Negba 5 (1953), S. 5 (Hebr.). Merkblatt für Teilnehmer des öffentlichen Wettbewerbs, Israelisches Militärarchiv, S21/172.

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Abbildung 2: Gräber der im israelischen Unabhängigkeitskrieg gefallenen Soldaten auf dem Nahalat Yitzhak Soldatenfriedhof, Tel Aviv (Foto: Maoz Azaryahu).

ihrem Wohnort bestatten zu dürfen. Eine andere Neuerung war die Einrichtung von ,,Soldatenarealen“ innerhalb der Grenzen eines zivilen Friedhofs. Im Jahr 1955 existierten zehn Soldatenfriedhöfe und fünf ,,Soldatenareale“. Trauernde Eltern kritisierten das langsame Voranschreiten der Errichtung von Soldatenfriedhöfen. Der Bau des Soldatenfriedhofs in Jerusalem am Hang von Har Herzl (Herzlberg) besaß oberste Priorität. Der für den Soldatenfriedhof gewählte Ort lag neben der Spitze, auf der Theodor Herzl, Gründervater des modernen Zionismus, im August 1949 umgebettet wurde.11 Mit seiner Lage in der Hauptstadt verfügte der Soldatenfriedhof auf dem Har Herzl über ein reiches, symbolisches Potential, welches über das allen Soldatenfriedhöfen gemeinsame Thema der heroischen Aufopferung hinausging. Seine ihm zugeschriebene Rolle als nationales Pantheon wurde 1952 mit der Entscheidung besiegelt, auf dem Soldatenfriedhof eine Fläche für die Beisetzung verdienter Persönlichkeiten freizuhalten. Yitzhak Rabin, der 1996 ermordete israelische Premierminister, 11

Maoz Azaryahu, Mount Herzl. The Creation of Israel’s National Cemetery, in: Israel Studies 1 (1996), H. 2, S. 46–74.

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ist zum Beispiel dort beerdigt. Zusätzlich zu den Gräbern schließt die lokale Erinnerungslandschaft auch Denkmäler jüdischer Soldaten mit ein, die im Kampf gegen die Nazis fielen. Gemeint sind palästinensische Juden, die in der britischen Armee, sowjetische Juden, die in der Roten Armee sowie Juden, die in der polnischen Armee dienten. Ein Denkmal für die zivilen Opfer des Terrorismus in Israel wurde im Jahr 2000 eingeweiht. Des Weiteren wurde 2002 ein Denkmal für diejenigen Soldaten enthüllt, die ihre gesamte Familie im Holocaust verloren hatten und selbst im israelischen Unabhängigkeitskrieg starben, bevor sie die Möglichkeit hatten, eine eigene Familie zu gründen. Die patriotische Bedeutung von Soldatenfriedhöfen als Nationalheiligtümer und als letzte Ruhestätte der Gefallenen drückt sich in den dort stattfindenden Begräbnissen und Gedenkfeiern aus und wird dadurch geradezu bestätigt. Als nationales Heiligtum stehen Soldatenfriedhöfe für die Verpflichtung, den Gefallenen die letzte Ehre zu erweisen. Für trauernde Familien hingegen liegt die Bedeutung der Friedhöfe vor allem auf bestimmten Einzelgräbern und den darin in Stein gehauenen Namen. Diese Dualität ist ein konstitutives Merkmal israelischer Soldatenfriedhöfe. Solange dort Beerdigungen stattfinden und immer mehr Familien in den Kreis der Hinterbliebenen aufgenommen werden, solange werden sich nationale Geschichte und persönliche Trauer vermischen.

Vom gedruckten zum digitalisierten Gedenken Yizkor

Seit ihrer Gründung besaß die AGG neben der Errichtung von Soldatenfriedhöfen eine zweite wichtige Aufgabe, die in der Veröffentlichung eines Erinnerungsbuches mit den Biografien der gefallenen Soldaten bestand. Diese Bücher wurden ,,Yizkor“ genannt, das sich in etwa als Erinnerungsgebot übersetzen lässt. Das Erinnerungsbuch reihte sich in eine jüdische Gedenktradition ein, die 1096 nach der Zerstörung jüdischer Gemeinden im Rhein-Tal während des ersten Kreuzzugs ihren Anfang nahm.12 Die Erinnerungsbücher der jüdischen Gemeinden brachten einen Typ historischer Aufzeichnung hervor, der das jüdische Märtyrertum thematisierte und die getöteten Gemeindemitglieder ins Zentrum der Darstellung rückte. Solche Aufzeichnungen wurden von der jeweiligen Gemeinde im Laufe ihrer Geschichte fortgeführt. Erinnerungsbücher offerierten eine Gedenkoption, in der das Buch als Vehikel der Erinnerung 12

Zum Thema Erinnerungsbücher vgl. Emanuel Sivan, The 1948 Generation. Myth, Profile and Memory, Tel Aviv 1991, Kapitel 9 (Hebr.); Shamir, So they shall not be as though they had not been, Kapitel 9.

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fungierte. Da Bücher in der jüdischen Kultur ein hohes Prestige genießen, bot sich hier eine authentische und zugleich spezifisch jüdische Möglichkeit des Gedenkens. Die Erinnerungsbücher stellen ein ,,bewegliches“ Denkmal dar, das von den Gemeinden bei einer drohenden Vertreibung mitgenommen werden konnte – was angesichts der jüdischen Geschichte in der Diaspora nicht unerheblich war. Nach dem Holocaust wurden mehrere hundert solcher Erinnerungsbücher veröffentlicht, die die Geschichte und Zerstörung der jüdischen Gemeinden dokumentierten.13 Da die Erinnerungsbücher in der jüdischen Tradition ein hohes Ansehen genossen, wurden sie auch Teil der zionistischen Erinnerungskultur. Das erste zionistische Erinnerungsbuch erschien bereits 1911. Die Erinnerung an die jüdischen Opfer des arabischen Aufstands, der 1936 im britischen Mandatsgebiet Palästina ausbrach, wurde später in einem speziellen Buch festgehalten. In der zionistischen Gesellschaft gehörten die Erinnerungsbücher und -hefte zu den üblichen Mitteln des Gedenkens. Von daher war der Gedanke, ein Erinnerungsbuch für die Gefallenen des israelischen Unabhängigkeitskriegs zu veröffentlichen, nicht neu, sondern folgte einer kulturellen Konvention wie Tradition. Die Vorbereitungen für das erste von der AGG publizierte Erinnerungsbuch, das als Sammlung kurzer Biographien der gefallenen Soldaten konzipiert war, liefen zu Beginn des Jahres 1949 an.14 Jede Biographie zielte darauf ab, die Geschichte eines gefallenen Soldaten als die eines selbständigen Menschen mit einer einzigartigen Lebensbahn zu erzählen. Das gemeinsame Thema und zugleich der Höhepunkt einer jeden Biographie war der Tod im Verlauf einer Kampfhandlung. Die Anfertigung der Biographien ging langsam voran. Viel Aufmerksamkeit richtete sich auf solche Informationen, die von Freunden und der Familie bereitgestellt wurden. Auch musste die Zustimmung der Familie vor der Veröffentlichung einer jeden Biographie eingeholt werden. Die erste Ausgabe des ,,Yizkor“ erschien 1955. Jede hinterbliebene Familie erhielt eine Kopie, weitere gingen an militärische Einheiten und an öffentliche Bibliotheken. Das ,,Yizkor“-Buch entwickelte sich zu einem fortlaufenden Projekt. Mit der Herausgabe weiterer Bücher, die unregelmäßig erschienen, war der Gedanke verbunden, dass die Sammlung und Veröffentlichung der Gefallenenbiographien zu den Aufgaben gehörte, zu der sich die Nation verpflichtet sah. Aufeinanderfolgende ,,Yizkor“-Bücher wurden durch ihre Seriennummern unterschieden. Gleiche Titel machten deutlich, dass es sich um unterschiedliche Bände desselben Erinnerungsbuches handelte. 1997 kamen neue Richtlinien zur Veröffentlichung solcher Bücher heraus. Darin wurde festgelegt, dass jedes Buch in Zukunft 650

13 14

Sivan, The 1948 Generation, S. 174. Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 95–100.

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Biographien enthalten soll und die Vorbereitung zu einer Biographie drei Monate nach dem Tod zu beginnen hat.15 Da sie hauptsächlich in den Regalen öffentlicher Bibliotheken und in den Wohnräumen trauernder Familien standen, war der Zugang zu den ,,Yizkor“-Bänden eingeschränkt. Trotz seines kanonischen Status war das Buch nicht wirkungsmächtig genug, um die Bedeutung des Gedenkens in einer größeren Öffentlichkeit zu kommunizieren. Überdies bedeutete die Ausweitung der neuen, digitalen Medien, dass das Medium ,,Buch“ seine einst herausragende Rolle als Informationsvermittler verloren hatte. Im Versuch, die ,,Yizkor“-Bücher wieder mit Leben zu füllen und die in ihnen enthaltenen Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ging das Verteidigungsministerium deshalb mit der Zeit. Unter Verwendung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien entstand 1998 zum 50-jährigen Jubiläum Israels eine ,,Yizkor“-Webseite (www.izkor.gov.il), wofür die Bücher digitalisiert und im Internet bereitgestellt wurden. Es entstand eine gut durchdachte, die Möglichkeiten neuer Technologien ausnutzende Webseite, die den Inhalt der Bücher einem breiterem Publikum zugänglich machte: Ein Besuch der Webseite, mit wenigen Klicks zu erreichen, ließ die Internetversion des ,,Yizkor“ in fast jedem Haushalt verfügbar werden. Die Webseite bietet als verbesserte Version des Buches auch Informationen zu Begräbnisstätten und Gedenkfeiern auf Soldatenfriedhöfen. Der Erfolg des Projekts lässt sich an der Anzahl der Besucher ablesen: Am nationalen Gefallenengedenktag 2009 wurden auf der Webseite 2 Millionen Besucher registriert.

Gvilei Esh

Die 1949 entstandene Idee, ein offizielles ,,Yizkor“-Buch zu veröffentlichen, spiegelte die vorherrschende Ansicht wider, derzufolge Erinnerungsbücher eine kulturell angemessene Art des Gedenkens darstellen würden. Die AGG arbeitete deshalb an der Veröffentlichung einer möglichst umfassenden Biographiensammlung: Der Gedanke, dass alle gefallenen Soldaten das Recht haben, in das Buch aufgenommen zu werden, hieß, dass alle Gefallenen einen Platz in dieser nationalen Unternehmung besitzen und es verdient haben, dass ihre Lebensgeschichte für die Ewigkeit bewahrt wird. Während die ,,Yizkor“-Bücher zur jüdischen Gedenktradition gehörten, stellten die ,,Gvilei Esh“ (Pergamente des Feuers) eine innovative Neuerung dar.16 Das ,,literarische Gedenken“ war seit 15 16

Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 99. Azaryahu, State Cults, S. 191; Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 101–103.

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Gründung der AGG ihr erklärtes Anliegen, doch wurde nicht näher erläutert, was darunter genau zu verstehen war. Mit der Entscheidung, eine Anthologie herauszugeben, nahm diese Idee 1949 konkretere Formen an. Die Anthologie sollte den intellektuellen und künstlerischen Nachlass der 1948 gefallenen Soldaten veröffentlichen und beinhaltete Auszüge aus literarischen Werken, Tagebüchern, Briefen, wissenschaftlichen Studien, Kompositionen, Zeichnungen und Entwürfe von Plastiken.17 Ben-Gurion unterstützte das Projekt, da es seiner Überzeugung entsprach, wonach das ,,spirituelle“ Gedenken dem materiellen Gedenken überlegen sei. Die 1952 als Album gedruckte Erstausgabe der ,,Gvilei Esh“ wurde in der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit bedacht. Die israelischen Zeitungen berichteten enthusiastisch über die Anthologie und lobten besonders ihren geleisteten Beitrag, die israelische Öffentlichkeit mit dem intellektuellen Vermächtnis der Gefallenen vertraut zu machen. Zwischen Februar und Mai 1953 widmete Radio Israel zehn Sendungen den Lesungen von Texten aus der ,,Gvilei Esh“. Das öffentliche Interesse an der ersten Ausgabe war so groß, dass weitere Auflagen gedruckt werden mussten. Genau wie der ,,Yizkor“ war auch ,,Gvilei Esh“ kein einbändiges Werk, sondern eine Bandreihe, die die von der AGG ernannten Experten herausgaben und die vom Verteidigungsministerium veröffentlicht wurde. Der siebente Band der ,,Gvilei Esh“ erschien 2004, doch war das öffentliche Interesse daran inzwischen gering. Private Yizkor

Bereits 1949 gründeten sich freiwillige Projekte, die unabhängig von der AGG Erinnerungsbücher für einzelne und Gruppen gefallener Soldaten zusammenstellten und veröffentlichten. Dabei handelte es sich um private Initiativen trauernder Eltern und Freunde sowie um Kooperativen (Kibbuzim), die sich der Herstellung und Herausgabe von Erinnerungsbüchern verschrieben hatten. Besonders für hinterbliebene Eltern waren diese Aktivitäten Teil ihrer Trauerarbeit.18 In Kibbuzim, deren Mitglieder mit den Gefallenen eng verbunden waren, artikulierten die Erinnerungsbücher deren kollektivistische Ideologie und das am Kollektiv ausgerichtete Ethos. In den 1950er Jahren war ein Erinnerungsbuch besonders bekannt: ,,Freunde erzählen über Jimmy“ wurde von einem hinterbliebenen Vater erstellt und veröffentlicht, der sich nach dem Tod seines Sohnes der Aufgabe des Gedenkens widmete.19 Durch seine Popularität erfüllte das Buch die solchen Unter17 18 19

Yosef Dekel, Le-Ma’an Sh’mam (Für Ihren Namen), in: Be-Ityahed Am (Wenn die Nation sich erinnert), S. 121–131, hier S. 125. Sivan, The 1948 Generation, S. 160–164. Sivan, The 1948 Generation, S. 158.

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nehmungen zugedachte Funktion, die Gefallenen einer größtmöglichen Anzahl von Menschen nahe zu bringen.20 Die große öffentliche Resonanz, die dieses Buch auslöste, führte zu weiteren Veröffentlichungen, wobei die meisten nicht im selben Maße die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen konnten. Folgt man dem Bericht der Tageszeitung ,,Davar“ aus dem Jahr 1953, so wurden zwischen 1948 und 1953 320 Erinnerungsbücher veröffentlicht.21 Damit wurde damals auf diese Weise fast einem Drittel aller Gefallenen im israelischen Unabhängigkeitskrieg gedacht.22 Private Filme

In den 1980er Jahren kam mit den Videokassetten ein neues Gedenkmedium auf, das die Erinnerungsbücher zum großen Teil verdrängte. Im Gegensatz zu Filmen, die mit relativ hohen Herstellungskosten verbunden waren, war die Videoproduktion viel preiswerter. Hinzu kamen neue Videokameras, die auch dem Laien die Möglichkeit boten, sein eigenes Video zu produzieren, wodurch die Attraktivität dieses visuellen Mediums enorm stieg. ,,Echte“ Lebenssituationen, auf Video festgehalten, schufen eine größere Vertrautheit mit der Person, derer man gedenken wollte. Dadurch wurden die geschriebenen Texte, Reden und Gedichte der Erinnerungsbücher von authentischen Bildern und Stimmen, die zu realen Situationen und Personen gehörten, abgelöst. Das neue Medium bot viele neue Möglichkeiten: Lebensgeschichten konnten nun visuell vorgeführt werden, anstatt nur über sie zu erzählen. Mussten Filme oder Videofilme ausgestrahlt oder übertragen werden, um sie einem Publikum zugänglich zu machen, sind heute auf Internetportalen wie YouTube oder MySpace neue Verbreitungsmöglichkeiten gegeben. Webseiten im Internet

Für offizielle Erinnerungsagenturen wie für Privatinitiativen stellt das Gedenken an die Gefallenen mit Hilfe einer Webseite eine weitere Neuerung dar. Solange sie erhalten und unterhalten werden, bleiben Webseiten ein beständiger Teil des öffentlichen Raums. Im Gegensatz zu Filmen können Webseiten permanent verändert, verbessert und aktualisiert werden, um mehr Informationen und Material zu verarbeiten. Deren interaktive Kapazität erlaubt den Besuchern 20 21 22

Der diesem Buch zugeschriebene Platz in der israelischen Erinnerungskultur der 1950er Jahre lohnte eine ausführlichere Analyse. Davar, 17.04.1953. Sivan, The 1948 Generation, S. 143.

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von Erinnerungswebseiten, ihre Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Damit sind Webseiten grundsätzlich prozess- und ergebnisoffene Projekte, was sie von Büchern und Filmen, die letztlich fertige Produkte sind, unterscheidet. Natürlich sind Erinnerungswebseiten nicht auf gefallene Soldaten beschränkt,23 aber in Israel schwingt in den Webseiten für die Gefallenen immer auch die kollektive Erinnerungspflicht mit, womit sich diese von anderen privaten Erinnerungsseiten im Internet unterscheiden.

Gedenken in der Landschaft Denkmäler und toponyme Gedenkorte gehören zur Geographie der öffentlichen Erinnerung. Ihre physische Präsenz in der Landschaft verlangt Aufmerksamkeit, ihre Materialität strahlt Permanenz aus. Dem jüdischen Leben in der Diaspora war der Bau von Denkmälern fremd, waren bildliche Darstellungen in der jüdisch-religiösen Tradition verboten. Als Bewegung und Ideologie nationaler Erneuerung ahmte der säkulare Zionismus Gedenkmuster nach, die von der patriotischen Kultur des modernen Nationalismus vorgegeben waren. Bezogen auf die jüdische Tradition war das zionistische Denkmal eine Innovation. Vor 1948 wurden nur wenige Denkmäler zum Gedenken an zionistische Helden und Märtyrer errichtet. Ben-Gurion, der Gründervater des modernen Israels, brachte seine Ablehnung gegenüber herkömmlichen Methoden des materiellen Gedenkens offen zum Ausdruck. Seiner Meinung nach sollten die Erinnerung wie auch der jüdische Kultus insgesamt ohne materielle Repräsentationen auskommen. Doch unabhängig davon wurden Denkmäler nach dem Unabhängigkeitskrieg zum konventionellen Mittel, genauso wie sich neu erbaute Ehrenmale in der israelischen Landschaft ausbreiteten.24 Das erste dokumentierte Denkmal wurde im Dezember 1948 kurz vor Ende des Unabhängigkeitskriegs enthüllt. In Teilergebnissen einer aktuellen Studie der AGG wird die Anzahl der Kriegsdenkmäler in Israel auf ca. 2900 geschätzt.25 In den 1950er Jahren waren die meisten dieser Denkmäler entweder Steinmauern oder Obelisken, auf denen die Namen der Gefallenen standen (Abb. 3). 23

24 25

Zu Erinnerungswebseiten in Israel allgemein vgl. Yoash Paldash, typing and remembering, Ha’aretz Online, 25.02.2002, http://www.haaretz.co.il/hasite/pages/ShArtPE.jhtml? itemNo=134549 (Hebr.). Maoz Azaryahu, War Memorials and the Commemoration of the Israeli War of Independence 1948–1956, in: Studies in Zionism 13 (1992), H. 1, S. 57–77. Die Studie wurde 2008 von der AGG in Auftrag gegeben, um alle den Gefallenen gewidmeten Denkmäler in Israel zu dokumentieren und die Daten zu veröffentlichen. Die Studie basiert auf der Arbeitshypothese, dass ein Denkmal eine physische Struktur mit einer Gedenktafel ist, so dass toponyme Gedenkorte nicht mitgezählt wurden.

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Abbildung 3: Mahnmal für am Hügel 69 gefallene Soldaten (israelischer Unabhängigkeitskrieg) (Foto: Maoz Azaryahu).

Die Verwendung bildlicher Darstellung im öffentlichen Gedenken war ein sensibles Thema. Basierend auf dem zweiten Gebot ,,Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist“ (2. Mose 20,4), verbot die jüdische Tradition besonders gemeißelte Bilder und Statuen in menschlicher Gestalt. Mit Rücksichtnahme auf die Gefühle der religiösen Bevölkerung wurden Teilnehmer in vom Staat oder von den Städten ausgeschriebenen Wettbewerben angewiesen, bei ihren Entwürfen auf die jüdische Tradition zu achten und auf die Darstellung realistischer Figürlichkeit zu verzichten. Im Israel der 1950er und 1960er Jahre waren Gedenkskulpturen in menschlicher Gestalt auf die Bereiche der zionistischen Gesellschaft, hier sind besonders die sozialistisch orientierten kooperativen Gemeinschaften zu nennen, begrenzt, die sich ideologisch der säkularen Interpretation des jüdischen Erbes verschrieben hatte (Abb. 4). Da aber Flachreliefs allgemein erlaubt waren, fehlten bildhafte Repräsentationen nicht ganz bei der monumentalen Darstellung heldenhafter Aufopferung. Gemäß einem Bericht der AGG wurden 1954 ca. vierzig private Denkmäler für die im Unabhängigkeitskrieg gefallenen Soldaten von hinterbliebenen Familien und Freunden erbaut. Eine kürzlich durchgeführte Studie kategorisierte

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Abbildung 4: Das Denkmal für die Verteidiger des Negba-Kibbuzes von Nathan Rapoport (Foto: Maoz Azaryahu).

solche Kriegsdenkmäler, die an einzelne Menschen erinnern sollen, als ,,persönliches Gedenken“ und gab als ungefähre Zahl 1150 an. Diese Zahlen verweisen auf die Popularität des Denkmals als Vehikel des Gedenkens bei trauernden Familien. Diese Denkmäler sind in der Regel unauffällig und einfach gehalten. Meistens bestehen sie nur aus einem Stein mit einer Inschrift oder sind einfache Metallkonstruktionen, die überall in Israel zu finden sind: an Autobahnen, in der Mitte von Hainen und auf ehemaligen Schlachtfeldern. Manche dieser Denkmäler sind unkonventionell – in der Landschaft existieren auch Gedenkgärten, in der Natur gibt es für Wanderer angelegte Gedenkpfade sowie Aussichtspunkte, die den Namen von gefallenen Soldaten tragen und von Familien und Freunden gepflegt werden. In ihrer Anfangszeit beteiligte sich die AGG nicht am Bau privater Kriegerdenkmäler und weigerte sich, solche Initiativen hinterbliebener Eltern und Bürgervereine zu unterstützen. Der Grund lag darin, dass diese Denkmäler nach ihrem Bau aufgrund mangelnder Wartung zur Verwahrlosung neigten. Wiederholte Warnungen vor diesen Initiativen und die Drohung, sich als AGG nicht um die Instandhaltung zu kümmern, zeigten indes keine Wirkung: Die Errichtung

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Maoz Azaryahu Abbildung 5: Plan der GolaniGedenkstätte, Niederes Galiläa (Foto: Maoz Azaryahu).

privater Denkmale setzte sich fort, die AGG musste dem öffentlichen Druck nachgeben und deren Erhalt übernehmen. Versuche, Schulen und lokale Behörden zur Pflege privat erbauter Denkmäler zu bewegen, waren nur teilweise erfolgreich. Eine andere Kategorie umfasst die von Militäreinheiten erbauten Denkmäler. Das erste wurde 1951 errichtet und galt den 126 im Unabhängigkeitskrieg getöteten Soldaten des 54. Bataillons der Givati-Brigade.26 Weitere Initiativen von Militäreinheiten folgten – eine aktuelle Studie zählt 184 Denkmäler zum Gedenken an Gefallene von Militäreinheiten und Truppenabteilungen. Das Denkmal der Luftwaffe wurde 1953, das des Artilleriekorps 1955 eingeweiht. Es gibt eine Anzahl großangelegter Gedenkstätten, so zum Beispiel die Gedenkstätte der Panzertruppe an der Autobahn Nr. 1, die Tel Aviv und Jerusalem miteinander verbindet oder die Gedenkstätte für die Golani-Brigade in Nieder-Galiläa27 (Abb. 5). Beide wurden 1982 eröffnet. 26

27

Maoz Azaryahu, The Monument of the 54th. Battalion of the Givati Brigade in Huleikat. A Study in the Commemoration of Israel’s War of Independence, in: Iyunim Bitkumat Israel. Studies in Zionism, the Yishuv and the State of Israel 5 (1995), S. 336–363 (Hebr.). Zur Gedenkstätte der Golani-Brigade und die öffentliche Auseinandersetzung im Zusammenhang mit der Eröffnung eines McDonald-Restaurants neben der Gedenkstätte vgl. Maoz Azaryahu, Goalni or McDonald’s Junction? A Case of a Contested Place in Israel, in: The Professional Geographer 51 (1999), H. 4, S. 481–492.

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Auch Schulen und höhere Bildungsanstalten errichteten Denkmale für gefallene Soldaten. 1953 hieß es, nur drei Hochschulen würden ihrer gefallenen Studenten gedenken.28 Im Jahr 1966 rief die Organisation der hinterbliebenen Eltern, Yad Lebanim, die Schulen dazu auf, ihrer gefallenen Schüler und Studenten zu gedenken.29 Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl des sichtbaren Gedenkens in Bildungseinrichtungen bereits auf 383 angestiegen. Dabei handelt es sich um Denkmäler und Gedenktafeln mit den Namen der Gefallenen sowie um Erinnerungsräume, die sich normalerweise in der Schulbibliothek befinden.30 Eine große Anzahl Denkmäler wurde von Ortsbehörden und ländlichen Gemeinden errichtet. Schon 1949 stand der Bau eines lokalen Denkmals auf der Tagesordnung vieler Städte und Dörfer.31 Die Vorgehensweise war im Grunde überall gleich: Zuerst wurde feierlich die Absicht erklärt. Dies geschah in der Regel im Zusammenhang mit dem Unabhängigkeitstag, später auch mit dem nationalen Gefallenengedenktag. Danach folgte die Ausschreibung eines Architekturwettbewerbs. Anschließend wurde der Grundstein gelegt und zuletzt fand die Einweihungsfeier statt. In den Städten wurden die Denkmäler gewöhnlich bei Regierungsgebäuden oder in der Mitte eines zentralen Platzes errichtet, um so einen ,,heiligen Platz“ zu schaffen. Ein solcher Mittelpunkt für Festakte und Feierlichkeiten fehlte bis dahin in der urbanen Textur der neu erbauten jüdischen Städte. Diese Denkmäler vermittelten den hinterbliebenen Familien die klare Botschaft, dass sie als Beweis der Ehrerbietung und Dankbarkeit zu verstehen sind. Die Unterstützung lokaler Behörden bei der Errichtung von Denkmälern hatte aber noch einen zweiten Grund: Sie sollte die Forderung hinterbliebener Eltern abwenden, Straßen nach den Gefallenen zu benennen.32 Alle israelischen Städte sprachen sich nachdrücklich für dieselbe Strategie des kollektiven Gedenkens aus: Das städtische Denkmal sollte allen Gefallenen gleich gerecht werden und die Straßenbenennungen hatten allgemeinen Kategorien wie ,,Straße der Helden“ oder ,,Straße unserer Söhne“ zu folgen. Über den Grundgedanken hinaus, dass Städte und Dörfer der Erinnerung an ihre gefallenen Bürger verpflichtet waren, repräsentierten die Denkmäler den lokalen Beitrag nationaler heroischer Aufopferung. Anfänglich wurden die lokalen Denkmäler entworfen, um der Gefallenen im Unabhängigkeitskrieg zu gedenken. Später wurden dem Denkmal weitere Na28 29 30 31

32

Davar, 17.04.1953. Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 112. Ilana Shamir, Commemoration and Remembrance. Israel’s Way of Molding its Collective Memory Patterns, Tel Aviv 1996, S. 162–164. Maoz Azaryahu, Tale of Two Cities. The Commemoration of the Israeli War of Independence in Tel Aviv and Haifa. A Study in the Construction of Israeli Memory, in: Cathedra 68 (1993), S. 98–125 (Hebr.). Azaryahu, State Cults, S. 198.

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Abbildung 6: Tel Avivs Denkmal für die Gefallenen im HaYarkon-Park (Foto: Maoz Azaryahu).

men hinzugefügt, was in manchen Städten zu architektonischen Veränderungen am Original führte. In kleinen Gemeinden und Kooperativen brachten die Gefallenendenkmäler den ursprünglichen Sinn der Erinnerungsverpflichtung zum Ausdruck und entsprachen dem Bedürfnis der hinterbliebenen Familien nach Anerkennung und Anteilnahme. Ungeachtet der offiziellen Rhetorik über die Schuld der Gemeinschaft gegenüber den Gefallenen und ihren Familien trug der Bau von Denkmälern in größeren Städten hingegen einen offiziellen Charakter. Tel Aviv kündigte im Jahr 1951 an, ein zentrales Denkmal für alle im Unabhängigkeitskrieg gefallenen Bürger der Stadt im zukünftigen Behördenviertel zu errichten.33 Jedoch wurde dieses Denkmal in der geplanten Weise nie gebaut. An der vorgesehenen Stelle entstand 1974 ein Holocaust-Mahnmal. Im Jahr 2002 wurde im Norden Tel Avivs in einem Park am Fluss Yarkon der ,,Garten der Söhne“ eingeweiht; von den elf angepflanzten Hainen stellte jeder eine andere historische Periode dar. Im Zentrum eines jeden Hains stehen schwarze Granitsäulen, in denen die Namen der Gefallenen gemeißelt sind (Abb. 6). Die AGG, verantwortlich für das Gedenken der Gefallenen im Auftrag des Verteidigungsministeriums und damit des Staates, beteiligte sich im Gegensatz zu den hinterbliebenen Familien, Kameraden und den lokalen Behörden 33

Ebd., S. 200.

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erst später an der Errichtung von Denkmälern. Die Hauptaufgaben der AGG bestanden 1949 im Bau von Soldatenfriedhöfen und der Herausgabe und Veröffentlichung des ,,Yizkor“ und der ,,Gvilei Esh“. Denkmäler standen 1950 zum ersten Mal auf der Tagesordnung. Der Vorschlag lief auf zwei Denkmäler hinaus:34 Das erste galt dem Gedenken an den unbekannten Soldaten im geplanten Regierungskomplex in Jerusalem. Das zweite sollte an die gefallenen Soldaten erinnern, die im Krieg von 1948 versucht hatten, die arabische Belagerung Jerusalems zu durchbrechen. Denkmäler für den unbekannten Soldaten in der Hauptstadt eines Landes wurden in mehreren europäischen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg errichtet, ihnen kam wiederholt die Rolle eines Nationalheiligtums zu. Auf der Versammlung des Öffentlichen Rats in Israel wurde Anfang 1951 ein ambitioniertes Projekt beschlossen: Zusätzlich zum Denkmal des unbekannten Soldaten in Jerusalem sollten acht ,,regionale“ Denkmäler entstehen, die nicht an die Gefallenen, sondern an die in diesen Regionen ausgetragenen Schlachten erinnern sollten.35 Doch gestaltete sich die Ausführung dieses Plans als schwierig. Von den acht geplanten Denkmälern wurden nur vier tatsächlich gebaut. Ein erster Entwurf des Denkmals für die im Kampf um die Straße nach Jerusalem Gefallenen wurde vom Öffentlichen Rat abgelehnt, weil es sich um eine figürliche Statue handelte. Ein zweiter, abstrakter Entwurf wurde genehmigt und das Denkmal 1967 enthüllt. Das der Schlacht im Negev gewidmete Denkmal wurde 1968 eingeweiht. 1951 wurde angekündigt, dass ,,bald“ ein öffentlicher Wettbewerb für den Bau des Denkmals des unbekannten Soldaten ausgeschrieben werden würde.36 Künftig wurde der Bau des Denkmals sporadisch diskutiert und auch die Bauverpflichtung erneuert, doch ernstzunehmende Schritte unterblieben. Im Jahr 1959 erklärte der Leiter der AGG, dass ein Denkmal für den unbekannten Soldaten wie in anderen Ländern auch notwendig sei, um große Zeremonien durchführen zu können.37 Eine letzte Erwähnung fand das Denkmal in einer Besprechung des Öffentlichen Rats 1968. Das Projekt wurde auf bürokratischem Weg beiseite geschoben und erschien ohne weiteren Kommentar nicht mehr auf der Agenda des Öffentlichen Rats oder der AGG. In der Titelzeile eines der Gedichte von Yehuda Amichai heißt es: ,,Wir haben keine unbekannten Soldaten / Wir haben kein Grab für den unbekannten Soldaten“. Dem ordentlichen Begräbnis der Toten kommt nach jüdischer Tradition eine wichtige Rolle zu, von daher besaß die Grablegung von Soldaten und die Identifikation von Leichen hohe nationale Priorität. Auch waren die ,,organisierten Hinterbliebenen“ eine einflussreiche Lobbygruppe, die kein Interesse 34 35 36 37

Ebd., S. 201–204. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. Shamir, Commemoration and Remembrance, S. 167.

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an einer solchen Gedenkstätte besaß. Das könnte erklären, warum ein Denkmal für den unbekannten Soldaten in Israel nie verwirklicht wurde. Die zeremoniellen Funktionen der Kranzniederlegung während der Besuche ausländischer Staats- und Regierungschefs werden in Yad Vashem, der zentralen, neben dem Har Herzl in Jerusalem gelegenen Holocaustgedenkstätte, durchgeführt. Da die AGG für die Realisierung der vom Öffentlichen Rat festgelegten politischen Strategien verantwortlich war, beschränkte sie sich auf den Bau von Denkmälern auf dem am Herzlberg gelegenen Soldatenfriedhof sowie auf besondere Projekte wie die Errichtung eines Denkmals für gefallene beduinische Soldaten in Galiläa. Wichtig an dieser Stelle ist, dass die AGG nur eine marginale Rolle im ehrgeizigsten und teuersten Erinnerungsprojekt Israels gespielt hat: dem misslungenen Versuch auf dem Har Eytan in der Nähe Jerusalems ein Nationaldenkmal für die Gefallenen und ein Heritage Center zu errichten. Die Idee dazu entstand 1974.38 Der Öffentliche Rat beschloss 1976 ihre Verwirklichung und leitete die notwendigen administrativen Maßnahmen für den Bau in die Wege, wie das Einholen der Baugenehmigung und die Beschaffung der nötigen Finanzmittel. Allerdings entwickelte sich das Projekt nur langsam. Erst 1991 kam die offizielle Genehmigung der Regierung für die Errichtung eines ,,nationalen Zentrums für Heldentum und Gedenken“. Zu diesem Zeitpunkt wurde in die Planung auch der Bau eines historischen Museums aufgenommen. Dafür wurde ein professionelles Team aus Kuratoren und Historikern zusammengestellt. Doch die Öffentlichkeit reagierte wenig begeistert. In den 1990er Jahren schien der Frieden in greifbare Nähe gerückt zu sein, weshalb der militärische Charakter des Projekts von einigen als unangemessen empfunden wurde. Die Bevölkerung kritisierte die steigenden Kosten, und sie bezweifelte die Notwendigkeit eines – wie es schien – extravaganten Erinnerungszentrums. Die Ambivalenz der Regierung gegenüber dem Projekt wurde evident, als die finanziellen Mittel kuzerhand gestoppt wurden. Am Anfang des Jahrtausends wurde die Planung des konzeptionellen Rahmens eingestellt und das Expertenteam aufgelöst. Heute kann man davon ausgehen, auch wenn es in diese Richtung keine offizielle Erklärung gegeben hat, dass das Einfrieren der finanziellen Mittel nicht ein Aufschieben, sondern das Ende des nationalen Gedenkprojektes auf dem Har Eytan bedeutete.

Nationaler Gedenktag für die Gefallenen 1949, zum ersten Jahrestag des Unabhängigkeitskriegs, fanden auf den Schlachtfeldern zahlreiche Gedenkfeiern statt, an denen trauernde Familien, Kameraden 38

Zur Vorgeschichte von Har Eytan vgl. Shamir, Commemoration and Remembrance, S. 165; Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 111.

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und in den meisten Fällen Vertreter der Armee teilnahmen. Sowohl die Armee als auch Yad Lebanim setzten sich für die Schaffung eines nationalen Erinnerungstages an die Kriegstoten ein. Ein zentrales Gedenken für die Gefallenen würde, wie es hieß, die Armee vom organisatorischen Druck entlasten, sich an der Durchführung unzähliger Gedenkfeiern zu verschiedenen Anlässen beteiligen zu müssen. Für Yad Lebanim bestätigte ein nationaler Erinnerungstag, dass Verlust und Trauer nicht nur eine Privatsache der Familien, sondern eine öffentliche, das ganze Land angehende Angelegenheit sein würde. Am ersten Unabhängigkeitstag am 4. Mai 1949 stellte die Erinnerung an die im israelischen Unabhängigkeitskrieg Gefallenen einen liturgischen Aspekt dar. Emphatisch wurde in Schulen und in Ansprachen führender Persönlichkeiten die Verpflichtung betont, der Gefallenen zu gedenken. In den Städten wurde feierlich der Grundstein zur Errichtung eines Gefallenen-Denkmals gelegt. Die Erinnerung an die Gefallenen mit der Unabhängigkeitsfeier Hand in Hand gehen zu lassen zeugte von der wirksamen Vorstellung, dass die Unabhängigkeit durch die heroische Aufopferung der Gefallenen ermöglicht worden sei. Dennoch wurde die vermeintlich natürliche Beziehung zwischen dem Unabhängigkeitstag und der Erinnerung an die im Unabhängigkeitskrieg Gefallenen nicht von allen hinterbliebenen Familien geteilt. So stießen sich einige an dem, was sie als Vermischung von Freude und Trauer betrachteten. Im Sommer 1950 diskutierte ein Komitee verschiedene Daten für einen Tag des nationalen Gefallenengedenkens, die hauptsächlich im Zusammenhang mit bereits existierenden zionistischen Gedenktagen standen. Ein konkreter Vorschlag wurde allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht an die Regierung gerichtet.39 Yad Lebanim organisierte am Sonntag, dem 10. September 1950, eine ,,allgemeine Gedenkfeier“ an die im israelischen Unabhängigkeitskrieg Gefallenen. Sie bestand aus Besuchen von Soldatenfriedhöfen und einer Schweigeminute. An den auf Soldatenfriedhöfen abgehaltenen Gedenkfeiern beteiligten sich auch Vertreter der Armee. In einer Erklärung legte Yad Lebanim die Gründe für die Einführung eines nationalen Gedenktages an die Gefallenen dar: ,,Zweifellos werden sich Eltern und Verwandte in Erinnerung an ihre Geliebten am Jahrestag ihres Todes zusammenfinden. Doch auch die Nation wird in Erinnerung an ihre gefallenen Soldaten zusammentreten. Geschieht das an ein und demselben Tag, so wird das ganze Land mit den Familien der Gefallenen trauern.“40 In seinem ersten Treffen im Februar 1951 erklärte der Öffentliche Rat den Tag vor dem Unabhängigkeitstag zum nationalen Gedenktagtag für die Gefallenen.41 Dies stellte einen Kompromiss dar: Beide Feierlichkeiten fanden an unterschiedlichen Tagen statt, waren aber durch die kalendarische Folge untrennbar 39 40 41

Azaryahu, State Cults, S. 140. Ha’aretz, 10.09.1950. Azaryahu, State Cults, S. 142.

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miteinander verbunden. Die Verbindung war voller Symbolik, die besonders die traditionelle Vorstellung der jüdischen Erlösung als eines Übergangs von ,,der Dunkelheit zu einem großen Licht“ wachrief. Gelegentlich gab es Widerstände gegen die unmittelbare Nähe des Gefallenengedenktages zum Unabhängigkeitstag. Der Leiter des Öffentlichen Rats, selbst ein hinterbliebener Vater, antwortete auf den Einwand, der Tag des Gefallenengedenkens störe die Freude des Unabhängigkeitstags: ,,Dies ist ein charakteristisches Merkmal jüdischer Tradition. Während unserer Freudenfeiern evozieren wir auf symbolischem Weg Ereignisse, die mit Zerstörung und Trauer verbunden sind.“42 Die Autorität Ben-Gurions war besonders wichtig, um jene Stimmen zum Schweigen zu bringen, die der Ansicht waren, die hybride Form untergrabe das freudige Feiern der Unabhängigkeit. Er vertrat die Meinung: ,,Das Gedenken an die Gefallenen sollte nicht als Störung der nationalen Freude betrachtet werden […] Tatsächlich sollten sich beide Tage nicht gegenseitig behindern. Der Gefallenengedenktag und der Unabhängigkeitstag sollten ob ihrer inhaltlichen Nähe aneinander angrenzen.“43 Offiziell war der nationale Gedenktag für die Gefallenen ,,kein Tag der Trauer, sondern ein Tag der gemeinschaftlichen Erinnerung an die Gefallenen“44 . 1949 wurde der Unabhängigkeitstag durch die Knesset gesetzlich zum Nationalfeiertag bestimmt. Wie in der jüdischen Tradition üblich begann der Tag mit dem Sonnenuntergang am Abend vorher und dauerte bis zum Sonnenuntergang des folgenden Tages. Er war zudem ein offizieller Ruhetag. Der nationale Gefallenengedenktag wurde vom Öffentlichen Rat beschlossen und nicht durch ein Gesetz eingeführt. In seiner anfänglichen Form war er im jüdischen Verständnis des Begriffs noch nicht einmal ein Tag: Der Gedenktag begann am Morgen und endete am Abend mit dem offiziellen Beginn des Unabhängigkeitstags. Wichtig ist, dass der Gefallenengedenktag Resultat einer administrativen Bestimmung war, während der Unabhängigkeitstag mit seinen Feierlichkeiten durch das ,,Gesetz zum Unabhängigkeitstag“ legitimiert wurde. Die für die Feierlichkeiten zum Gefallenengedenken verantwortlichen Funktionäre waren in den frühen 1950ern besonders darüber verärgert, dass die Regierungsbehörden, die die festlichen Ereignisse des Unabhängigkeitstags leiteten, nur bedingt bereit waren, zusammenzuarbeiten.45 Eine der Hauptaufgaben des Öffentlichen Rats war die inhaltliche Ausgestaltung des Gefallenengedenktags. Man beabsichtigte, diesen Tag von einem bloßen Zeichen im nationalen Kalender zu einem bedeutsamen Vehikel des Gedenkens zu wandeln. Für den Öffentlichen Rat stellte der Gefallenengedenktag die Möglichkeit dar, die Erinnerung an die Gefallenen ins Zentrum der öffent42 43 44 45

Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 140f. Ebd., S. 141. Azaryahu, State Cults, S. 147. Ebd., S. 146.

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lichen Aufmerksamkeit zu rücken. Ein Memorandum, das im Zuge des ersten Gedenktags 1951 entstand, entwarf ein detailliertes Programm mit solchen konventionellen Elementen wie Gedenkfeiern auf Militärstützpunkten und Soldatenfriedhöfen, dem Setzen der Flaggen auf Halbmast, einer Schweigeminute für das gesamte Land, Gebeten in Synagogen und einer Sondersendung in Voice of Israel, dem öffentlichen Radiosender des Landes. Die Mitglieder des Öffentlichen Rats konnten den offiziellen Ablauf des Gefallenengedenktags bestimmen und tatsächlich bemühten sie sich, die Erinnerungs- und Gedenkmuster zu institutionalisieren. Doch war ihnen bewusst, dass sich die Resonanz dieses Tages nicht allein aus offiziellen Maßnahmen und der Partizipation der hinterbliebenen Familien an Gedächtnisriten speisen würde, sondern ebenso von der freiwilligen Teilnahme der Öffentlichkeit und von Gedenkinitiativen ,,von unten“ abhing. Es war das erklärte Ziel, ,,den nationalen Gedenktag für die Gefallenen in etwas für die gesamte Nation Gemeinsames zu transformieren“.46 Diese Aufgabe war besonders in den frühen 1950er Jahren schwierig, da viele israelische Juden neue, nach der Staatsgründung ins Land gekommene Einwanderer waren, deren Hauptinteresse darauf gerichtet war, sich ein neues Leben in einem wirtschaftlich armen Land aufzubauen. Dennoch bildeten sich im Laufe der Zeit in Schulen und Städten Initiativen ,,von unten“, die die Erinnerungs- und Gedenkmuster dieses Tages mitgestalteten. Da der Gefallenengedenktag ein Schultag war, wurden die zeremoniellen Gedenkveranstaltungen mit der Unabhängigkeitsfeier verknüpft. Kfar Saba war 1954 die erste Stadt, die am Abend des Gedenktages öffentliche Vergnügungsveranstaltungen verbot.47 Die öffentliche Erinnerung wurde maßgeblich durch die Einführung einer nationalen Schweigeminute im Jahr 1958 geprägt, die um 10:00 Uhr begann und durch einen Sirenenton kenntlich gemacht wurde. Diese von allen eingehaltene Schweigeminute ermöglichte und betonte eine kollektive Erinnerung an die Gefallenen. Während des von Sirenen begleiteten Gedenkens wurden alle Aktivitäten im öffentlichen Raum eingestellt. Trotz des zögerlichen Beginns wurde die Einhaltung der Schweigeminute im Laufe der Zeit zu einem Kennzeichen des Gefallenengedenktages.48 Inzwischen sind Bilder von Menschen, die neben ihren Autos auf vollen Straßen stehen, emblematisch für diesen Tag geworden. Ursprünglich galt der Gedenktag der Erinnerung an die im Unabhängigkeitskrieg Gefallenen. Doch mit dem Anwachsen der Liste gefallener Soldaten und dem zunehmenden Bewusstsein, dass der Krieg von 1948 nur der erste in einer Reihe von Kriegen für den Erhalt der Unabhängigkeit war, wurde der Gefallenengedenktag 1958 offiziell umgewidmet, um nun der Gefallenen der 46 47 48

Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 143. Ebd., S. 144. Azaryahu, State Cults, S. 144–146.

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israelischen Streitkräfte zu gedenken. Damit war dessen Relevanz für die zionistische Gesellschaft garantiert, da die Geschichte der nationalen Aufopferung und schmerzlichen Verluste permanent durch weitere Kriege und weitere Tote aktualisiert wurde. Der Erfolg des Öffentlichen Rats zeigte sich im Aufkommen einer rituellen Tradition, die den nationalen Gedenktag für die Gefallenen zum Mittelpunkt werden ließ. Seit der Einführung dieses Tages war die Eröffnungsfeier des Unabhängigkeitstages vor Herzls Grab auf Har Herzl zugleich die Abschlussfeier des Gefallenengedenktages. Das markierte den Übergang vom getragenen, feierlichen Gedenken zum fröhlichen Fest und transformierte das zugrundeliegende rituelle Thema. Alle Gedenkfeiern in Militärstützpunkten und auf Soldatenfriedhöfen verliefen gleich. Auch Gedenkaktivitäten in Schulen und örtlichen Behörden folgten ähnlichen Mustern, doch die lokalen Variationen zeugten davon, dass die Initiativen ,,von unten“ zunehmend Bedeutung erlangten. Ungeachtet der Bedenken offizieller Kräfte in der AGG und der Zurückhaltung der Regierung setzte sich der Öffentliche Rat gemeinsam mit der Organisation Yad Lebanim, die die Interessen der hinterbliebenen Eltern vertrat, für eine Gesetzgebung ein, die den Rechtsstatus des Gefallenengedenktages festschreiben sollte.49 Der Öffentliche Rat formulierte einen entsprechenden Antrag und warb um Unterstützung für ein solches Gesetz. Das ,,Gesetz zum Gedenktag für die Gefallenen im israelischen Unabhängigkeitskrieg und der israelischen Streitkräfte“ wurde am 27. März 1963 von der Knesset verabschiedet. Es legte den öffentlichen Charakter des Gefallenengedenktages fest, der sich im Verbot öffentlicher Unterhaltungsveranstaltungen am Vorabend des Gefallenengedenktages ausdrückte. 1980 wurde das Gesetz dahingehend geändert, dass es von nun an auch Cafés und Restaurants einbezog. Das gleiche Gesetz sah vor, dass der Gefallenengedenktag ein ganzer Tag sei und sich gemäß der jüdischen Tradition von Abend zu Abend spanne. Der Zuständigkeitsbereich des Öffentlichen Rats, verantwortlich für den Umfang des Gedenkens und den Charakter dieses Tages, wurde ebenfalls durch das Gesetz geregelt. Die Verabschiedung des Gesetzes verdeutlichte die zentrale Rolle und Autorität des ,,Establishments der Hinterbliebenen“ in der Formgebung des Gedenkens an die Gefallenen innerhalb der nationalen jüdischen Erinnerungskultur. Das Gesetz stellte keine radikale Veränderung oder Wende dar in der Erinnerungs- und performativen Geschichte des Gefallenengedenktags. Die Entwicklung der öffentlichen Muster und Formen des Erinnerns zeigte eine dynamische Beziehung zwischen offiziellen Gedenkmaßnahmen und Initiativen ,,von unten“. Die Beschaffenheit des Gedenktages war das Ergebnis dieses fortwährenden Dialogs zwischen dem Gefühl des schmerzlichen Verlustes und der 49

Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 146.

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zionistischen Gesellschaft, zwischen offiziellen Vorschriften und spontanen, freiwilligen Neuerungen. Erfolgreiche Innovationen wurden zur Tradition. Gedenkfeiern in Schulen wurden im Laufe der Zeit ausgebaut und entwickelten sich so zu Ereignissen für die gesamte Gemeinschaft, bei denen sich Schüler, Lehrer und viele Eltern gemeinsam an ehemalige Schüler erinnerten. Diese Veranstaltungen demonstrierten das Zusammengehörigkeitsgefühl und konnten zu einer generationenübergreifenden Erfahrung werden. Im Bereich des offiziellen Gedenkens war die Einführung einer Eröffnungszeremonie auf dem öffentlichen Platz vor der Klagemauer in der Altstadt Jerusalems 1969 eine wichtige Neuerung. In der jüdischen Tradition wird die Klagemauer mit religiösen Bedeutungen, sowie mit kraftvollen Vorstellungen von Zerstörung und eschatologischer Erlösung assoziiert. Die Wahl dieses Orts für die Eröffnungsfeier des nationalen Gedenktages für die Gefallenen ist voll von Bedeutungen und Botschaften,50 und scheint anzudeuten, dass die Zeremonie ein religiöser Akt ist. Doch in der vom säkularen Zionismus favorisierten Version jüdischer Geschichte steht die Klagemauer für das Ende der jüdischen Unabhängigkeit infolge der Eroberung Jerusalems durch die Römer. Eine Eröffnungsfeier, die das Ende der jüdischen Unabhängigkeit mit der heldenhaften Aufopferung und somit mit der zionistischen Wiederherstellung der Unabhängigkeit in der Gegenwart verbindet, muss deshalb die in der jüdischen Tradition verbreitete Vorstellung der messianischen Erlösung in Frage stellen. Im säkular-zionistischen Interpretationsrahmen vermittelt die Durchführung einer Staatsfeier an einem heiligen Ort eine machtvolle Botschaft: Die Erlösung ist kein messianischer, von Gott bestimmter Akt, sondern das Ergebnis menschlicher Anstrengungen und kollektiver Aufopferung. Mit Beiträgen über die Gefallenen und Berichten von Gedenkveranstaltungen trugen die Massenmedien maßgeblich dazu bei, den Gefallenengedenktag zu einer gemeinsamen Erfahrung zu machen. Das öffentliche israelische Fernsehen, das 1968 zu senden begann, wurde neben Radio und Zeitungen zu einem wichtigen Medium des Erinnerns. Dessen Popularität gewährleistete, dass die der Öffentlichkeit angebotenen Erinnerungsprogramme eine große Aufmerksamkeit erhielten. Eine Direktübertragung der Eröffnungsfeier des Gefallenengedenktages hieß, dass im Grunde die gesamte Bevölkerung daran teilnehmen konnte. Programme und Features brachten die Erinnerung an die Gefallenen in die israelischen Wohnzimmer. Als in den frühen 1990er Jahren Privat- und Kabelfernsehen das Monopol des öffentlichen Fernsehens brachen, stieg die Anzahl der Erinnerungsbeiträge und -programme stark an. Das Mehrkanal-Fernsehen 50

Zur Bedeutung der Klagemauer im zionistischen Narrativ nationaler Erlösung vgl. Maoz Azaryahu, (Re)locating Redemption. Jerusalem. The Wall, Two Mountains, a Hill and the Narrative Construction of the Third Temple, in: Modern Jewish Studies 1 (2002), S. 22–35.

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wurde zu einer Arena, in der privat produzierte Dokumentationen zu Gefallenen und erlittenen Verlusten gezeigt werden konnten. Am Gedenktag im Jahr 2009 zum Beispiel widmeten insgesamt zehn Fernsehsender – zwei öffentliche Sender, zwei Privatsender und sechs Kabelsender – ihr gesamtes Programm der Erinnerung an die Gefallenen und den verschiedenen Aspekten des Trauerns in der israelischen Gesellschaft. Per Gesetz durften Kabel-Unterhaltungssender an diesem Tag nicht senden. Da das grundlegende Thema des Tages die Verpflichtung war, ,,sich an alle zu erinnern“, wurden die Personen, deren Lebensgeschichten und die Umstände ihres Todes eklektisch ausgewählt. Die dem Publikum vorgestellten Menschen waren weder exemplarisch noch repräsentativ. Das Programm bot eine Kollage von Amateurbeiträgen und professionell hergestellten Dokumentationen. In den Dokumentationen, die den Gefallenen verschiedener Kriege zu unterschiedlichen Zeiten gewidmet waren, standen vor allem die menschlichen Schicksale und weniger die historischen Ereignisse im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Fokussierung auf einzelne Personen mit ihren Biografien und/oder ihren Familien und deren Verlust- und Trauererfahrungen betonte nachdrücklich die zentrale Rolle von Tod und Trauer in der kollektiven Erinnerung. Das Pathos der heldenhaften Aufopferung, das die 1950er Jahre charakterisiert hatte, wich in den 1990ern einer Vertrautheit und Verbundenheit mit den Gefallenen und deren Familien. Zusätzlich zu den von öffentlichen, privaten und Kabelfernsehsendern angebotenen Dokumentationen und Podiumsdiskussionen entschied sich ein Sender für eine außergewöhnliche Form des Erinnerns: eine Sammlung chronologisch aufeinanderfolgender ,,Seiten“, auf denen die Namen der Gefallenen zu sehen waren. Jedes eingeblendete Bild erschien für ein paar Sekunden auf dem Bildschirm, um dann durch das nächste ersetzt zu werden. Durch die Beschränkung auf Namen und Daten, ohne Hintergrundinformationen zu den Gefallenen oder den Umständen ihres Todes, wurde Kanal 33 zu einem über den Fernseher ausgestrahlten Denkmal. Hier gewann die Abfolge der Namen gegenüber den eingemeißelten Namen, die mit ihrer Materialität Unvergänglichkeit ausdrücken können, an Priorität. Was als eine reine, über den Fernseher ausgestrahlte Namensliste hätte abgetan werden können, zog die Zuschauer in ihren Bann.51 Jeder Name stand für ein paar Sekunden im Zentrum der Aufmerksamkeit, und die Botschaft der mit gleichmäßiger Geschwindigkeit ablaufenden Namensliste war eindeutig – die Verpflichtung, ,,sich an alle zu erinnern“.

51

Ofer Shelah, Hischtakfut Yom Ha-Sikaron be-emtzayei Ha-Tikschoret (Wie der Gedenktag in den Medien wiedergegeben wird), in: Moshe Oren (Hg.), Commemoration and Memory, a collection of essays published by the AGG, Tel Aviv 2002, S. 78–80, hier S. 80 (Hebr.).

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Fazit Im Gegensatz zum Gedenken an den Holocaust, das in Israel mit dem Gefühl einer erdrückenden Katastrophe und Zerstörung besetzt ist, wird das Gedenken an die gefallenen Soldaten eng mit der Vorstellung der Tkuma (nationale Wiedergeburt) als zionistischem Projekt nationaler Erlösung verknüpft. In diesem Sinn ist das Gedenken an die Soldaten eine grundlegende patriotische Pflicht, welche die zionistische Gesellschaft in eine Erinnerungsgemeinschaft verwandelte. Es gab und gibt jedoch zwei Gruppen von israelischen Bürgern, die nicht der Erinnerungsgemeinschaft angehören – zum einen die israelischen Araber, die sich gegen die Rechtmäßigkeit des jüdischen Nationalstaats stellen und zum anderen die ultraorthodoxen Juden, deren Ablehnung der säkularen nationalen Souveränität religiös begründet ist. In Israel hat die Verbindung zwischen Gedenken, Trauer und Verlust zu einer eigenen Erinnerungskultur geführt. Die Erinnerungsmuster und Gedenkformen wurden sowohl durch offizielle Projekte als auch von spontanen, freiwilligen Initiativen ,,von unten“ geprägt. Ein distinktes Merkmal der israelischen Erinnerungskultur ist, dass die sogenannten offiziellen Formen des Erinnerns nicht durch den Staat, sondern größtenteils von den Interessen und Prioritäten der ,,organisierten Hinterbliebenen“ festgelegt wurden. Die dominante Rolle der Hinterbliebenen bei der Gestaltung der Gedenkformen wurde schon 1950 durch die Entscheidung festgelegt, dass staatlich gefördertes Gedenken in die Zuständigkeit des ,,Öffentlichen Rats für das Gedenken an die gefallenen Soldaten“ falle. Der große Anteil freiwilliger Gedenkinitiativen ,,von unten“ ist ein weiteres Merkmal, mit dem sich die israelische Erinnerungskultur von der anderer westlicher Länder unterscheidet.52 Viele Initiativen ,,von unten“ wurden von hinterbliebenen Familien organisiert, um ihrer Angehörigen im öffentlichen Raum gedenken zu können. In der israelischen Erinnerungskultur scheint sich auf den ersten Blick der Schwerpunkt vom Kollektiven hin zum Privaten verschoben zu haben. Zweifellos ist die gegenwärtige Erinnerungskultur in Israel, im Vergleich zu den 1950er Jahren, weit weniger von den Vorstellungen heldenhafter Aufopferung und patriotischer Zelebrierung der toten Soldaten geprägt und weitaus mehr von Verlust, Trauer und Leid. Der Begriff ,,Helden“, der häufig in der patriotischen Rhetorik der 1950er Jahre verwendet wurde, ist durch den Begriff ,,Gefallene“ ersetzt worden. Hierzu gehört auch, dass die Liste der gefallenen Soldaten nicht nur die umfasst, die bei Kampfhandlungen ums Leben kamen. Trotzdem wäre es irreführend, diesen Prozess als eine ,,Privatisierung der nationalen Erinne52

Emanuel Sivan, Hanzaha be-Mashber (Die Krise der Kommemorierung), in: ebd., S. 8–17, hier S. 14 (Hebr.).

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rung“ zu bezeichnen. Tatsächlich haben private Formen des Gedenkens stark zugenommen, nicht zuletzt dank der neuen technologischen Möglichkeiten, doch die Privatisierung des Gedenkens hat eher zu einer ,,Nationalisierung der Erinnerung“ beigetragen. Das Gedenken an die Gefallenen im öffentlichen Raum spiegelt die Vorstellung wider, dass das Land dazu verpflichtet ist, ,,sich an alle zu erinnern“. Die steigende Anzahl der Erinnerungsprojekte in der Öffentlichkeit zementiert die Bedeutung der nationalen Erinnerung als kollektives Charakteristikum des öffentlichen Lebens und gehört zum zionistischen Konsens. Denkmäler für die Opfer des Terrorismus wurden von Familien oder kommunalen Behörden errichtet, um den Ort einer Schreckenstat zu kennzeichnen. Doch die seit den 1970er Jahren bestehende Forderung hinterbliebener Eltern von Opfern terroristischer Angriffe, diese ebenfalls während offizieller Gedenkfeiern zum nationalen Gedenktag für die Gefallenen mit einzubeziehen, wurde von Yad Lebanim und dem Öffentlichen Rat blockiert.53 In den neunziger Jahren im Anschluss an einer Welle von Selbstmordattentaten und auf Drängen der Familien der Terroropfer wurde das Gedenken an die Opfer des Terrorismus schließlich in das offizielle Thema des nationalen Gedenktages integriert und galt demnach sowohl den gefallenen Soldaten als auch den Opfern des Terrorismus. Dementsprechend wurde der offizielle Name geändert in ,,Gedenktag für die gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus“. Die Trennung zwischen den beiden wurde jedoch aufrechterhalten in der Form zweier getrennter Gedenkfeiern an zwei unterschiedlichen Orten auf dem Har Herzl. Trotz aller administrativen Unterscheidungen und organisatorischen Separierungen gehören aber in der populären Kultur die gefallenen Soldaten und die Opfer des Terrorismus zusammen. In Schulen wird der Terrorismusopfer gemeinsam mit den Opfern auf der offiziellen Liste der Gefallenen gedacht. Am Gefallenengedenktag werden nicht nur Gefallene visualisiert, sondern auch Dokumentationen über die Opfer des Terrorismus und deren hinterbliebene Familien gezeigt. Im Verständnis der breiten Bevölkerung haben sich beide schon vereint.

53

Shamir, So they shall not be as though they had not been, S. 175.

Italien Michele Nani

Die Gefallenen der ,,neuen Kriege‘‘1 Am 12. November 2003 verübte ein Selbstmordattentäter einen Anschlag auf das Hauptquartier, die Basis ,,Maestrale“ der im Irak stationierten italienischen Truppen, die mit etwa 2700 Soldaten das drittstärkste Kontingent im Land bildeten. Unter der Regierung Berlusconi hatte Italien zwar den ,,Präventivkrieg“ unterstützt, nicht aber selbst am zweiten Feldzug im persischen Golf teilgenommen. So wurde erst nach dem Ende der Feindseligkeiten und im Anschluss an die Resolution des UN-Sicherheitsrates (Nr. 1483, 22. Mai 2003) entschieden, sich den britisch-amerikanischen Besatzungstruppen anzuschließen und mit der Mission ,,Antikes Babylon“ zur Stabilisierung und ,,Befriedung“ des Landes beizutragen. Die Bevölkerung des Iraks äußerte zwar hier und da Unmut und setzte die Italiener mit den ,,Amerikanern“ auf eine Stufe, dennoch waren die italienischen Truppen bis zum Anschlag von Nasiriya nicht von der Guerilla getroffen worden. Bei dem Attentat wurden insgesamt 28 Personen getötet und 79 verletzt; die Italiener hatten insgesamt 19 Tote (zwei Zivilisten und 17 Militärangehörige, davon zwölf Carabinieri und fünf Soldaten) und zwanzig Verletzte zu beklagen. Damit wurde das Attentat zum blutigsten Vorfall, den die italienischen Streitkräfte bislang bei Auslandseinsätzen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Nach 1945 sind italienische Militäreinheiten auf diversen Kriegsschauplätzen mit unterschiedlichen Aufgaben im Einsatz: Zwischen 1950 und 1993 kam es zu insgesamt 99 Einsätzen. Bei einer provisorischen Auflistung der bei diesen Einsätzen gefallenen Soldaten müsste man den Einsatz in den fünfziger Jahren in der ehemaligen Kolonie Somalia und die Intervention unter dem Schutz der UNO im Kongo ebenso berücksichtigen wie die darauffolgende Präsenz im Mittleren Osten (insbesondere im Libanon), vor allem aber die Kriege der neunziger Jahre, das heißt die wiederholten Einsätze auf dem Balkan und im Mittleren Osten.2 In den knapp vierzig Jahren bis 1991 waren insgesamt 26 Opfer zu verzeichnen (darunter sieben Todesfälle durch Unfälle oder Krankheit), wobei die Hälfte dem Blutbad in Kindu (im ehemaligen belgischen Kongo) 1961 zuzuschreiben ist. Aus dem Einsatz im Libanon 1982 kehrten die italieni1 2

Aus dem Italienischen übersetzt von Georg Sobbe. Gian Enrico Rusconi, Guerra e intervento umanitario. L’Italia alla ricerca di una nuova affidabilità internazionale, in: Walter Barberis (Hg.), Guerra e pace, Storiad’Italia, Annali 18, Torino 2002, S. 795–838.

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Michele Nani

schen Eingreiftruppen trotz der schwierigen Situation schadlos zurück, während die USA und Frankreich schwere Verluste hinnehmen mussten: Dieser Umstand führte zu einem Wiederaufflammen der Auffassung vom ,,braven“ und ,,guten“ Italiener, der auch in Uniform seine Menschlichkeit nicht verliere und deshalb bei Auslandseinsätzen bei anderen Völkern gut angesehen sei – einer Auffassung, die sich in den knapp sechzig Jahren des italienischen Kolonialismus (1885–1941) herausgebildet hatte. Das Jahr 1991 führt zu einer Wende: Durch die Beteiligung Italiens an den ,,neuen Kriegen“ stieg die Zahl der Gefallenen sprunghaft an. In den 15 folgenden Jahren sterben insgesamt 83 Soldaten (32 davon durch Unfälle oder Krankheit): vier im Libanon (1997), elf in Afghanistan (2005–2006), 15 in Afrika (1993–1994, besonders in Somalia), 21 im ehemaligen Jugoslawien und in Albanien (1992–2005) sowie 32 im Irak (1991 und 2003–2006). Diese Gefallenen sind mit öffentlichen Begräbnisfeiern, militärischen und zivilen Ehren und in einigen Fällen auch mit Auszeichnungen und wiederholten Gedenkfeiern bedacht worden. Die Trauer vermischte sich mit der regelmäßig wiederkehrenden Trauer um die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges, die nicht nur in Gedenkfeiern, sondern zuweilen auch in Überführungen und Bestattungen von Resten italienischer Soldaten und Zivilisten zum Ausdruck kommt. So wurde zum Beispiel erst 1967 in Bari eine ,,Gedenkstätte für die in Übersee gefallenen Soldaten“ eingeweiht, in der die Überreste von ca. 60.000 Menschen zusammengeführt wurden, die im Ausland vor allem während des Zweiten Weltkrieges gefallen waren; etwa 40.000 Gefallene sind nicht identifiziert. All diese Fälle waren jedoch bei weitem nicht so symbolträchtig wie die vielfältigen Gedenkformen im Zusammenhang mit dem Anschlag von Nasiriya: die Trauerfeier am römischen Denkmal Vittoriano, der Leichenzug und das Begräbnis mit Massenbeteiligung, die massive Präsenz der Medien, die Hunderte von lokalen Initiativen, die Benennung von Straßen und der Aufstellung neuer Denkmäler. Deshalb ist nach den Gründen für diese beispiellose Trauerfeier zu fragen und zu analysieren, wie sich die Kultur des Trauerns um gefallene Soldaten in der Geschichte Italiens bis dahin entwickelt hatte.3 3

Joanna Bourke, ‘Remembering’ War, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), H. 4, S. 473–485; Stéphane Audoin-Rouzeau/Annette Becker, La violenza, la crociata, il lutto. La Grande Guerra e la storia del Novecento [2000], Torino 2002; Jay Winter/Emmanuel Sivan (Hg.), War and Remembrance in the Twentieth Century, Cambridge 1999; Jay Winter, Il lutto e la memoria. La Grande Guerra nella storia culturale europea [1995], Bologna 1998; John R. Gillis (Hg.), Commemorations. The Politics of National Identity, Princeton 1994; George L. Mosse, Le guerre mondiali. Dalla tragedia al mito dei caduti, Bologna 1990; Reinhart Koselleck, Les monuments aux morts, lieux de fondation de l’identité des survivants [1979], in: L’expérience de l’histoire, Paris 1997, S. 135–160. Vgl. auch Stefan Goebel, Beyond Discourse? Bodies and Memories of Two World Wars, in: Journal of Contemporary History 42 (2007), H. 2, S. 377–385; Tim Cole, Scales of Memory, Layers of Memory. Recent Works on Memories of the Second World War and the Holocaust, in: Journal of Contemporary History 37 (2002), H. 1, S. 129–138 und Stefan Goebel, Intersecting Memories. War and

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Nationalstaatsbildung und Gefallenenehrungen seit 1861 Mit der Entstehung des Königreichs Italien 1861, des italienischen Nationalstaates, begannen die politischen Institutionen, in Trauerfeiern und Gedenkveranstaltungen zu Ehren der ,,für das Vaterland Gestorbenen“ zu investieren, und sorgten beflissentlich dafür, dass in den Riten und Reden die Repräsentation des Vaterlandes mit der Repräsentation der im Krieg gefallenen Soldaten gleichgesetzt wurde.4 Zwar regierte im neuen italienischen Staat die Dynastie des überkommenen Reiches Sardinien weiter und die neuen institutionellen Strukturen wurden nach dem Vorbild des alten Staates Piemont geschaffen, doch bei den neuen Trauer- und Gedächtnisfeiern setzte man auf einen Bruch mit den Traditionen des alten Savoyens, auch auf symbolischer Ebene. Das begann mit den Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Kriege des Risorgimento und seine Kriegshelden, allen voran Vittorio Emanuele II. und Giuseppe Garibaldi, übertrug sich auf Gedenkfeiern zu Ehren anderer illustrer ,,Gründerväter“ des Vaterlandes wie Giuseppe Mazzini und Camillo Benso von Cavour und mündete in ein systematisches politisches Engagement, mit dem man klare pädagogische Absichten verfolgte: Trauer- und Gedenkfeiern, Statuen, Tafeln, Denkmalseinweihungen, Namensgebungen, Jahresfeiern und Jubiläen wurden von Medien wie Presse und Theater publik gemacht, von zahlreichen auflagenstarken Schriftwerken begleitet und in der Schule zu staatsbürgerkundlichen und nicht zuletzt militärischen Zwecken thematisiert. Bei dem Kultus um die Gefallenen ging es in erster Linie um die ,,großen Staatsmänner“; man unterstrich ihre ewige Präsenz im Leben des Vaterlandes, ihre für andere Staatsbürger beispielgebende Haltung, vor allem aber ihren heldenhaften, durch Kampfeswillen und Opferbereitschaft geprägten Charakter. Ihre Taten wurden als Gründungsakt der Gemeinschaft dargestellt. Die politischen Unterschiede

4

Remembrance in Twentieth-Century Europe, in: The Historical Journal 44 (2001), H. 3, S. 853–858. Vgl. zur historischen Tradition des Gefallenengedenkens in Italien vor allem die Arbeiten von Oliver Janz, Kriegstod und Politischer Totenkult in der neueren Geschichte Italiens, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 84 (2004), S. 360– 372; ders., Das symbolische Kapital der Trauer. Nation, Religion und Familie im italienischen Gefallenenkult des Ersten Weltkriegs, Tübingen 2009; ders., Death and Mourning in First World War Italy, in: Elena Lamberti/Vita Fortunati (Hg.), Memories and Representations of War in Europe, Amsterdam 2009; ders., The symbolic capital of mourning. Commemorating fallen soldiers in First World War Italy, in: European History Quarterly 37 (2010); ders./Lutz Klinkhammer (Hg.), La morte per la patria. La celebrazione dei caduti dal Risorgimento alla Repubblica, Rom 2008 sowie Walter Barberis, L’elmo di Scipio in: Ders., Guerra e pace, S. 3–46; Mario Isnenghi, Le guerre degli italiani. Parole, immagini, ricordi. 1848–1945, Milano 1989.

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– etwa zwischen Moderaten und Demokraten, Monarchietreuen und Republikanern – blieben zwar bestehen, wurden aber durch den gemeinsamen nationalen Bezug in den Hintergrund gedrängt.5 Kurz nach seiner Gründung sah sich der italienische Staat zu neuen Kriegen gezwungen, um die nationale Einigung zu ,,vollenden“: So kämpfte Italien 1866 an der Seite Preußens gegen Österreich, um Venetien zu erhalten, und dann gegen den Kirchenstaat, um sich Rom und die Region Latium einzuverleiben. Blieben die Verluste hier noch relativ gering, so fielen in den späteren Kolonialkriegen deutlich mehr Soldaten. Am Horn von Afrika (1887–1896) kamen etwa 4000 Mannschaften und Offiziere um – zählt man die einheimischen Soldaten, die Askaris hinzu, waren es über 6600 –, und in Libyen (1911–1912) verloren ca. 3400 Mann ihr Leben. Nun ging es darum, das Repertoire des Risorgimento an das neue Szenario der Kolonialkriege anzupassen: Man sprach nicht länger von ,,bedeutenden Männern“, sondern vielmehr von Offizieren, die zu Ehren der Fahne und zum Ruhm der Nation gefallen waren, von Soldaten, die auf dem Terrain der Kolonien vorbildlich gekämpft und damit patriotische Tugenden bewiesen hatten. Die Politik der Zeremonien folgte dieser Tendenz mit entsprechenden Statuen, neuen Straßennamen und Vorgaben für die Schulen, doch der patriotische Konsens wurde bereits von politischen Spaltungen bedroht. So waren die Arbeiterbewegung und eine heterogene ,,Linke“ (mit liberaler, demokratischer, republikanischer oder sozialistischer Orientierung) weniger dazu bereit, die Ideale vom Kampf um die italienische Einigung auf die afrikanischen Kolonialkriege zu übertragen.6 Mit dem bis 1915 verzögerten Eingreifen in den Ersten Weltkrieg und dem wiederholten Wechsel zwischen den Bündnissen sah sich auch das italienische Heer einem unvorhergesehenen und bis dahin nicht da gewesenen Ausmaß an Verlusten ausgesetzt. Im Weltkrieg fielen ca. 671.000 Soldaten – das waren 16 % der insgesamt mobilisierten Truppen und 6,2 % der männlichen Erwerbsbevölkerung oder – anders gerechnet – 3,5 % der männlichen Gesamtbevölkerung Italiens.7 Die Zahl der Toten war damit ungleich höher als die aller Gefallenen in den zwischen der italienischen Einigung und dem Ersten Weltkrieg vom italienischen Heer geführten Kriege. Dieses Massensterben, das Millionen von 5

6

7

Alberto M. Banti, La memoria degli eroi, in: Ders./Paul Ginsborg (Hg.), Il Risorgimento, Storia d’Italia, Annali 22, Torino 2007, S. 637–664; ders., La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell’Italia unita, Torino 2000. Bruno Tobia, Una forma di pedagogia nazionale tra cultura e politica: i luoghi della memoria e della rimembranza, in: Il Risorgimento (1995), H. 1–2, S. 194–207; Nicola Labanca, Memorie e complessi di Adua. Appunti, in: Angelo Del Boca (Hg.), Adua. Le ragioni di una sconfitta, Roma 1997, S. 397–416. 1911, beim letzten landesweiten Zensus vor dem Krieg, lag die Bevölkerungszahl bei 36,9 Mio.

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Familienangehörigen direkt betraf, führte zu vielfachen Formen der Trauerarbeit. Der Mangel einer union sacrée während der Kriegsgefechte wurde durch einen ,,postumen Konsens“ ausgeglichen, der ausgerechnet im Zusammenhang mit dem Gefallenengedenken heranreifte. Schon während der Kriegsjahre waren in den bürgerlichen Familien im Zuge des privaten Gedenkens an die Kriegstoten zahlreiche kleine Schriften entstanden – ein in Europa einzigartiges Phänomen, das auf die Distanzierung von den politischen Institutionen hindeutete. Das fand seine Fortsetzung in einer ersten öffentlichen Welle von Gedenkveranstaltungen, die sich über einen Großteil Italiens ausbreitete. Man versuchte nun systematisch, politischen Deutungen des Todes im Krieg zurückzudrängen, stattdessen standen ein militärischer und patriotischer Heldenkult sowie religiöse Elemente im Vordergrund. Gegen diese Tendenz wandte sich jedoch eine Gegenbewegung, die von der einzigen sozialistischen Massenpartei, die den Krieg nicht unterstützt hatte, vorangetrieben wurde. So rief die Arbeiterbewegung einen eigenen Heimkehrerverein ins Leben und betrachtete – während bereits die faschistischen Schlägertrupps ihr Unwesen trieben – mit Skepsis jene pompöse Zeremonie, mit der 1921 auch in Italien der englische Ritus der Beisetzung des ,,Unbekannten Soldaten“ vollzogen wurde. Auf dem Höhepunkt der liberal-nationalistischen Phase des Gedenkens kam es zu einer patriotischen Synthese verschiedener Gedenkformen. Der Erfolg war jedoch ambivalent, was durch das Fehlen offizieller Reden deutlich wurde. Wie im restlichen Europa war die neue Ausdrucksform der Gefallenenehrung die Verherrlichung des einfachen Soldaten: In diesem Sinne wurde das Nationaldenkmal ,,Monumento Nazionale a Vittorio Emanuele II“ (kurz: ,,Vittoriano“) umgedeutet, das nach dem Oberhaupt der italienischen Einigung Vittorio Emanuele II. benannt und 1911 eingeweiht worden war, um ein halbes Jahrhundert italienischer Nationalstaat zu zelebrieren. Auf regionaler und lokaler Ebene fanden immer häufiger Gedenkveranstaltungen statt, bei denen der ,,Unbekannte Soldat“ in den Vordergrund trat und auch die katholische Kirche eine bedeutsamere Rolle einnahm. Zwar hatte sich die Kirche schon in der Anfangszeit des Kolonialismus in die Gedenkzeremonien eingeschaltet, doch erst mit dem Aufkommen des Schützengrabenkrieges spielte sie eine zentrale Rolle.8

8

Oliver Janz, Célébrer la mort, décrire le deuil: la mémoire de la Grande Guerre en Italie, in: Le XXe siècle des guerres, Paris 2004, S. 343–352; Fabrizio Dolci/Oliver Janz (Hg.), Non omnis moriar: Gli opuscoli di necrologio per i caduti Italiani nella Grande Guerra. Bibliografia analitica, Roma 2003; Massimo Baioni, Nelle guerre degli italiani, in: Gianpasquale Santomassimo (Hg.), Le guerre del Novecento e l’uso pubblico della storia, in: Passato e presente (2001), H. 54, S. 73–83; Antonio Gibelli, L’officina della guerra. La grande guerra e le trasformazioni del mondo mentale, Torino 1991; Gianni Isola, Guerra al regno della guerra! Storia della lega proletaria mutilati, invalidi, reduci, orfani e vedove di guerra (1915– 1924), Firenze 1990; Mario Isnenghi, Il mito della grande guerra [1970], Bologna 2007.

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Der Faschismus und die Toten der Kriege Mit dem Faschismus begann eine neue Phase des Gefallenenkultes. Die Woge des Gedenkens der Nachkriegszeit versandete, als man dem Tod im Krieg erneut eine politische Bedeutung beimaß und das Totengedenken in ein Zelebrieren des Heldentums umzumünzen und in eine Kontinuität mit der faschistischen ,,Revolution“ zu stellen suchte. Dieser Versuch war nicht immer mit Erfolg gekrönt, zerstörte aber die Spuren einer Gegenpolitisierung, die die Arbeiterbewegung hervorgebracht hatte. Zudem führte das Regime als konkrete Neuerung sehr schnell eine Art von öffentlichen Anlagen ein, die an Schulgebäude angeschlossen waren und als ,,Parchi della rimembranza“ (,,Gärten des Gedenkens“) bezeichnet wurden. Schon ein Jahr nach der Einführung belief sich die Zahl dieser Anlagen auf etwa 1000 und stieg mit der Zeit auf rund 5700 an. Die lokalen Initiativen waren sehr erfolgreich und vermehrten sich so sehr, dass die Regierung sie 1927 per Gesetz unter Kontrolle bringen wollte. In den dreißiger Jahren begann eine zweite Phase, in der das Regime eine entschlossenere Haltung einnahm: Man ging nun dazu über, Massenliturgien zu Ehren des ,,Unbekannten Soldaten“ zu veranstalten, errichtete riesige Denkmäler in Frontstädten wie Bozen, Trient, Triest und Capodistria, aber auch in Venedig und Brindisi, und sammelte die Überreste der Gefallenen auf großangelegten Kriegsfriedhöfen hinter der Front, zum Beispiel in Redipuglia.9 Diese größte Gedenkstätte Europas wurde errichtet, um die Überreste von etwa 100.000 Soldaten beizusetzen, von denen 60.000 nicht identifiziert werden konnten. Diese Initiativen führten den Kult um Mussolini und die ,,Märtyrer“ des Faschismus mit dem Kriegsgefallenen-Kult zusammen, der auf diese Weise in den Kontext eines übersteigerten Nationalismus und Militarismus gestellt wurde. Die Verbindung der Toten des Weltkriegs und der faschistischen Bewegung ging einher mit der Propaganda für die faschistischen Kriege, der ,,Befriedung“ Libyens sowie den Kriegen in Äthiopien und in Spanien, bei denen viele italienische Soldaten starben.10 Wie in den Ersten Weltkrieg trat Italien auch in den Zweiten Weltkrieg erst ein Jahr nach Ausbruch der Feindseligkeiten ein, aber in diesem Fall erfolg9 10

Beispiele etwa sind http://it.wikipedia.org/wiki/File:Monumento_al_Marinaio_d_Italia. jpg oder http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Redipuglia_01.jpg Antonio Gibelli, Il popolo bambino. Infanzia e nazione dalla Grande Guerra a Salò, Torino 2005; Oliver Janz, Entre deuil et triomphe. Le culte politique des morts en Italie après la Première Guerre mondiale [2002], in: Anne Duménil u. a. (Hg.), 1914–1945. L’Ère de la guerre. Violence, mobilisations, deuil, sous la direction de, Bd. I, 1914–1918, Paris 2004, S. 269–289; Ders., Grande Guerra, memoria della, in: Victoria de Grazia/Sergio Luzzatto (Hg.), Dizionario del Fascismo, Bd. I, Torino 2002, S. 627–630 und Bruno Tobia, Dal Milite Ignoto al nazionalismo monumentale fascista (1921–1940), in: Barberis, Guerra e pace, S. 591–642.

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te der Wechsel von einem Bündnis zum anderen erst spät, nach dem Fall des Faschismus im Sommer 1943. Die italienische Armee wurde zunächst durch die Art der Kriegsführung geschwächt, dann durch die widersprüchlichen Direktiven nach Verkündigung des Waffenstillstandes desorientiert und löste sich schließlich ganz auf: Eine Million Soldaten geriet als Gefangene in die Lager der Alliierten, 700.000 fielen in die Hand der Deutschen und der Rest versuchte, rasch nach Hause zu gelangen, sieht man von sporadischem Widerstand gegen den neuen Feind wie in Kefallinia ab. Italien war im Norden von den Deutschen, im Süden von den Engländern und Amerikanern und 1945 dann im Osten von Jugoslawien besetzt. Bombardierungen, nationalsozialistischer Terror und der Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der ,,Sozialen Republik“ Mussolinis und den verschiedenen Fraktionen des Widerstandes hatten das Land erschüttert. In den knapp fünf Kriegsjahren kamen rund 350.000 italienische Soldaten ums Leben, dazu etwa 85.000 Zivilisten.

Demokratischer Neubeginn und Kriegserinnerung nach 1945 Hatte der Erste Weltkrieg 1915 bis 1918 in vielen europäischen Gesellschaften noch zu einem letzten Wiederaufleben der traditionellen Formen des Trauerns und Gedenkens geführt, so hielten die patriotische und religiöse Rhetorik nach 1945 den Erfahrungen von massenhafter Gewalt gegen die Zivilbevölkerung und in einer neuen Dimension in Auschwitz und Hiroshima nicht mehr stand. Wenn auch bestimmte traditionelle Sprachformen, Riten und Orte der Erinnerung noch mindestens 15 Jahre lang fortbestanden, gab es auch in Italien einen Bruch, was die Formen des Gedenkens an die Kriegsgefallenen betraf. Die spezifische Ausprägung dieser Zäsur ist auf die Schwäche des neuen republikanischen Staates zurückzuführen. Am Ende des Krieges versuchte das unterlegene Italien, durch einen Regimewechsel in die Rolle des Siegers zu schlüpfen: Italien konnte zwar – im Gegensatz zu Deutschland, Österreich und Japan – eine längere militärische Besatzung vermeiden, wurde aber von den internationalen Verhältnissen im Kalten Krieg stark geprägt. Das demokratische Italien, das 1946 nach dem Willen des Volkes (wenn auch mit geringer Stimmenmehrheit) entstanden war, gründete nicht auf einem ,,revolutionären“ Umbruch, sondern auf einer ausgeprägten institutionellen und personellen Kontinuität. Diese Umstände brachten ein seit langem gärendes Problem auf die Tagesordnung: die überfällige Trennung von Staat und Gesellschaft und die mangelhafte Integration der Massen in die institutionellen Strukturen. Davon zeugt zweifellos die Tatsache, dass es keine Form des Gedenkens gab, durch die Familien und Institutionen hätten in Verbindung treten können, und dass Parteien, Vereine und Verbände dieses Va-

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kuum füllten, um das gewachsene Bedürfnis nach kollektiver Sinnstiftung zu stillen. Die Bestattungsliturgien und der militaristische Nationalismus des faschistischen Regimes waren am Ende, die Monarchie existierte nicht mehr und das traditionelle Muster der öffentlichen Feier im Zeichen des Todes für das Vaterland konnte kaum in Anspruch genommen werden. Auch die Armee war nicht in der Lage, einen übergreifenden Rahmen anzubieten, da sie durch die faschistischen Kriege und die Auflösung nach dem 8. September ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte. Als letzter Bezugspunkt blieben der Klerus und die katholische Kirche, die traditionell als Protagonisten von Begräbnis- und Gedenkfeiern galten und durch die Hegemonie der Christdemokraten zusätzlich begünstigt wurden. In den Gebieten, in denen die Bewegung der Arbeiter und Bauern tiefer verwurzelt war und die Kirche weniger Fuß gefasst hatte, weckten die Feiern zu Ehren der Gefallenen und besonders der Partisanen den Argwohn der Behörden, drückte sich doch in ihnen nicht selten spontane Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen aus, ungeachtet der laizistischen Rituale, die noch aus der Tradition des 19. Jahrhunderts stammten. Der Versuch der Regierung Bonomi, aus den Ardeatinischen Höhlen (Fosse Ardeatini) bei Rom, wo die SS am 24. März 1944 355 italienische Zivilisten als Geiseln genommen und erschossen hatte, einen neuen ,,Vittoriano“ zu machen, scheiterte. Auch fehlte es an Gedenkstätten, Friedhöfen und nationalen Monumenten. Deshalb ergriffen Familien, Gruppen und lokale Institutionen die Initiative. Deren großen Eifer bezeugen die zahlreichen Gedenktafeln und Denkmäler, die zumeist bewährten rhetorischen und symbolischen Mustern folgten. Insgesamt jedoch schwächte sich sowohl aufgrund der allgemeinen Dynamik (durch das Ausmaß und die Art der Verluste) als auch aufgrund der spezifischen italienischen Bedingungen die konstitutive Verbindung zwischen dem Tod im Krieg und dem Nationenkult ab. Die Verarbeitung der Trauer wurde endgültig zur Privatsache; die Familien konnten eigenständig wählen, wo sie ihre Angehörigen begraben wollten, und wurden je nach ihren politischen und kulturellen Neigungen von der Kirche, von Vereinen oder Parteien unterstützt. Erst 1951 wurde ein ,,Generalkommissariat für die Ehrenbezeugungen gegenüber den Kriegsgefallenen" gegründet. Diese Behörde ersetzte ein 1935 vom faschistischen Regime eingerichtetes Amt und unterstand dem Verteidigungsministerium. Sie hatte die Aufgabe, die Leichname administrativ zu erfassen und zu bestatten, sowie die mehr als 300 Soldatenfriedhöfe in Italien, die ausländischen Soldatenfriedhöfe (wie die Gedenkstätte in El Alamein), die ,,Standorte von Kriegsdenkmälern“ sowie die Museen zu verwalten.11

11

Guri Schwarz, La morte e la patria. l’Italia e i difficili lutti della seconda guerra mondiale, in:Quaderni storici 113 (2003), S. 551–588; ders., Dal Vittoriano alle Ardeatine: la crisi della commemorazione patriottica dopo la seconda guerra mondiale, in: Annali

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Die ,,neuen“ Gefallenen der Auslandseinsätze Vor diesem Hintergrund wurden die militärischen, zivilen und religiösen Gedenkfeiern für die ersten Soldaten abgehalten, die bei internationalen Einsätzen nach dem Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen. Die Reaktionen der italienischen Öffentlichkeit waren durch historische und politische Bedingungen bedingt. So wiesen die Italiener, folgt man der öffentlichen Meinung, jede Verantwortung für die Entkolonialisierung Afrikas und ihre langfristigen Folgen zurück. Angesichts des Blutbades in Kindu raffte sich die politische Elite zusammen und bemühte sich, ,,das verbreitete Wiederaufflammen nationalistischer und kolonialistischer Bestrebungen“, das eine ,,antikongolesische Hysterie“ antrieb, unter Kontrolle zu halten. In dieser Zeit kritisierte Giovanni Spadolini, Dozent für Zeitgeschichte in Florenz und von 1981 bis 1982 Ministerpräsident, den Politiker Amintore Fanfani dafür, eine ,,demütigende“ Parallele zwischen dem italienischen Risorgimento und der Befreiung des Kongo vom belgischen Kolonialismus gezogen zu haben. (1961 jährte sich zum 100. Mal die italienische Einigung.) Wichtige überregionale Zeitungen wie der ,,Corriere della Sera“ vertraten die Meinung, dass es ein unnützes Opfer sei, ,,das Leben für die Menschenfresser des Kongo zu riskieren“.12 Erst das Gesetz Nr. 36 vom 7. Februar 1987 regelte in Italien die ,,Staatsbegräbnisse“ und auch die Begräbnisse für Staatsbürger, die bei Erfüllung ihrer Pflichten ums Leben kamen, das heißt für die Soldaten. Die entscheidende Rolle der Familie blieb erhalten, denn die Familie kann die private Form, den Ort der Zeremonie und der Bestattung sowie die Person, die die Ansprache hält, selbst wählen; der Ablauf der ziemlich nüchternen Zeremonie wird jedoch durch militärische Vorschriften geregelt. Anfang November verbindet sich das private Gedenken mit christlichen und staatlichen Erinnerungsbezügen. Am 2. November, dem römisch-katholischen Gedenktag ,,Allerseelen“, gedenken die Italiener aller Toten. Dieses Gedenken verschmilzt in der Inszenierung und in der Wahrnehmung seit Langem mit dem 4. November. An diesem Tag wird an den Sieg im Ersten Weltkrieg erinnert, wird der ,,in Erfüllung ihrer Pflichten gefallenen Soldaten“ aller Kriegen gedacht.13 Seit 1945 wird an diesem Tag auch der Armee als des Symbols der nationalen Einheit gedacht. Die Feierlichkeit erstreckt sich über den ganzen Tag und ist in der Regel mit einer großen Truppenparade verbunden. Die katholische Kirche ist an dieser staatlich-säkularen Veranstaltung

12 13

della Fondazione Luigi Einaudi 36 (2002), S. 305–333; vgl. http://it.wikipedia.org/wiki/ File:Sacrario_Italiano_El_Alamein.jpg. Marco Lenci, Il mondo politico e la stampa italiani di fronte all’eccidio di Kindu (11 novembre 1961), in: Africa 1 (1988), S. 108–125. Governo italiano. Presidenza del Consiglio dei Ministri, http://www.governo.it/Presidenza/ ufficio_cerimoniale/cerimoniale/esequie.html.

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beteiligt. In der öffentlichen Wahrnehmung verschmelzen jedoch das katholische ,,Allerseelen“ und das nationale Gedenken an alle gefallenen Soldaten zu einer gemeinsamen Erinnerung. Aufgrund des zunehmenden Engagements Italiens an schwierigeren Kriegseinsätzen stieg zu Beginn der neunziger Jahre die Zahl der Todesfälle an. Der durch die revolution in military affairs hervorgerufene ,,asymmetrische Krieg“ lenkte seine zerstörerische Kraft auf die Infrastruktur und die Bevölkerung des Gegners, führte der westlichen öffentlichen Meinung aber anders als die Kriege des 20. Jahrhunderts nicht die Zerstörung und die Verluste vor Augen, da er das eigene Territorium verschonte und weniger Soldaten dem Tode aussetzte. Die ,,demokratischen“, ,,humanitären“ oder ,,pazifistischen“ Ziele der militärischen Einsätze förderten zusammen mit der Verringerung des Risikos, Angehörige zu verlieren, die Zustimmung der jeweiligen Gesellschaft, zumal bei den Missionen im Allgemeinen keine Rekruten, sondern Berufssoldaten und Freiwillige eingesetzt wurden. Die Zurückhaltung bei der Durchführung institutioneller Gedenkfeiern und Initiativen und deren geringere Rezeption in der Öffentlichkeit lassen sich auch mit der Tatsache erklären, dass der kriegerische Charakter jener Einsätze negiert wurde und nicht mehr Millionen von Menschen, sondern ,,nur“ einige Hunderte von Familienangehörigen und Freunden um ihre Toten trauerten. Durch das Attentat von Nasiriya hat sich diese Situation geändert. Obwohl weiterhin von ,,Krieg“ keine Rede war und die Zahl der Toten in Uniform weit unter der der Toten in der (irakischen) Zivilbevölkerung blieb, kam es nach dem Angriff auf die Basis ,,Maestrale“ sofort zu weitreichenden Reaktionen. In den Stellungnahmen von hochrangigen Staatsvertretern, von Angehörigen der Regierung, des Parlaments, der Streitkräfte, der politischen Organisationen und der Gewerkschaften verband sich die gemeinsame Anteilnahme mit der politischen Auseinandersetzung über die Folgen des Attentats für die gesamte Mission. Die Medien haben diese Diskussion verstärkt, indem sie die Solidarität unterstützt, zugleich aber die Zerwürfnisse akzentuiert haben. So hat die Presse beispielsweise dem Ereignis und seinen Konsequenzen kontinuierlich beträchtliche Aufmerksamkeit beigemessen und zahlreiche Kommentare und Diskussionsbeiträge veröffentlicht. Eine Führungsrolle bei der thematischen Ausrichtung der Debatte hat die Tageszeitung ,,Corriere della Sera“ übernommen.14 Das wirklich Neue in den Reaktionen auf die Fakten von Nasiriya ist jedoch an anderer Stelle zu suchen: bei der großen Massenveranstaltung in Rom, bei der die Särge von der Aufbahrungshalle, die am Grab des Unbekannten Soldaten im Vittoriano eingerichtet war, bis zum Ort der Beerdigung an der Basilika San Paolo fuori le Mura begleitet wurden. Die Entscheidung für diese Form der Zeremonie 14

Michele Nani, Il lutto, la nazione, la storia. Nassiriya, dal cordoglio all’orgoglio, in: 900, 10 (2004), S. 165–175.

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und für ihre ,,spektakuläre“ Darstellung durch die Medien – mehrere Fernsehanstalten berichteten live von dem Begräbnis – verdeutlicht, dass die staatlichen Autoritäten die Symbolwirkung des Ereignisses bewusst inszeniert und verstärkt haben. Trotz der Beschwerden einiger betroffener Familien, die eine diskretere Form vorgezogen hätten (,,es war kein Begräbnis, ihr habt einen Film inszeniert“ lautete der Kommentar eines Familienangehörigen), einiger Weitschweifigkeiten bei der Zeremonie und eines unvorhergesehenen Zwischenfalls, nämlich des Ansatzes zu einer nicht geplanten Rede durch einen Geistlichen (,,Wieviel sinnlose Qual. Wieviel unnützes Leiden“), hatte die Initiative Erfolg zu verzeichnen.15 Nach offiziellen Angaben besuchten in der Zeit der Aufbahrung eine halbe Million Personen den Vittoriano; der Kommentar eines Journalisten lautete: ,,Nie zuvor hat der unbekannte Soldat rings um sich soviel Wärme verspürt.“16 Fünfzigtausend Personen nahmen an der Trauerfeier teil. Es ist nicht gesagt, dass die Bevölkerung an dem Begräbnis aus denselben Gründen teilnahm, aus denen die Behörden diese Form der Zeremonie gewählt hatten. Die Entscheidung jedenfalls muss im Zusammenwirken einer Reihe historischer und politischer Aspekte gesehen werden, die bislang nur teilweise erläutert wurden und einer näheren Betrachtung wert sind. Die Wahl des Ortes steht mit drei historischen Bezugsfeldern in direkter Verbindung: dem Grab des ,,Unbekannten Soldaten“ als ,,rituellem Mittelpunkt jeder patriotischen und vom Regime organisierten Veranstaltung“ in den zwei Jahrzehnten des italienischen Faschismus,17 dem Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges und dem Vittoriano als Sinnbild der italienischen Einheit. Der zeitlich am nächsten liegende Bezugspunkt wurde verständlicherweise nicht evoziert, sondern verdrängt; gleiches gilt für die Erinnerung an die faschistischen Kriege, die Mussolini vom Balkon an der Piazza Venezia unweit des Vittoriano ausgerufen und gefeiert hatte. In einem Moment, in dem man für den ,,Frieden“ und die ,,Demokratie“ kämpft, ist es undenkbar, auf die Angriffs- und Besatzungskriege Bezug zu nehmen, die Italien 1940 bis 1943 an der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands führte. Dennoch taucht diese Tradition zuweilen wie ein freudscher Versprecher auf, etwa als der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi die Position der italienischen Regierung gegenüber dem Krieg im Irak als ,,nicht kriegführend“ bezeichnete und damit denselben Ausdruck benutzte, mit dem Mussolini 1939 die italienische Position beschrieben hatte.

15 16 17

Giuseppe D’Avanzo, Le sedie aggiunte per le famiglie und Concita De Gregorio, Quei sedici minuti con le note di Bach, in: Repubblica, 19.11.2003. Saverio Lodato, Roma, fiori e biglietti domani i funerali, in: L’Unità, 17.11.2003. Tobia, Dal Milite Ignoto al nazionalismo monumentale fascista, S. 593.

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Vielmehr zeigt die Entscheidung, die Toten in der Halle aufzubahren, in der sich das Grab des ,,Unbekannten Soldaten“ befindet, dass die Opfer von Nasiriya mit den Gefallenen des Ersten Weltkrieges in einen Zusammenhang gestellt werden sollten. Dieser Ort steht für den symbolpolitischen Akt von 1921, der die individuelle Trauer mit dem Mythos des Nationalkrieges verschmelzen sollte. Mit der Entscheidung wird daran erinnert, dass die ,,Friedenssoldaten“ in jedem Fall Soldaten sind und Soldaten Kriege führen; durch die Präsenz des ,,Unbekannten Soldaten“ aber wird zugleich auf einen spezifischen Krieg Bezug genommen. Die Erinnerung an die italienischen Kriege ist insofern selektiv, als sie zwischen ,,nationalen“ und anderen Kriegen unterscheidet. Während letztere – die Kolonialkriege und faschistischen Kriege – verdrängt wurden, werden die anderen noch immer als Teil der Herausbildung der ,,Nation“ und der Eroberung der ,,Freiheit“ positiv gedeutet. Die Kriege des Risorgimento (1848, 1859–60, 1866, 1870) liegen inzwischen zu weit zurück und gehören einer ,,anderen“ Vergangenheit an; dagegen erinnert man mit dem Krieg zur ,,nationalen Befreiung“ 1943 bis 1945 zugleich an den Bürgerkrieg und die Zerrissenheit der Nation, vor allem aber an den italienischen Widerstand, die Resistenza. Das ist jedoch ein heikles Thema, schließlich nehmen Italiener selbst an einer militärischen Besetzung teil und müssen ihrerseits Verluste durch das Attentat einer Guerilla-Bewegung hinnehmen. Im Kontext der Gedenkfeiern sind die Soldaten im Auslandseinsatz weder die Erben der Soldaten des Risorgimento oder des Freiwilligenheers von Garibaldi noch der Partisanen oder der kleinen Armee des postfaschistischen Reiches von 1943/1945 auf Seiten der Alliierten. Auch wenn diese Bezugnahme den Historikern anachronistisch erscheinen mag: In der öffentlichen Inszenierung beerben sie vielmehr die bäuerlichen Infanteristen des Ersten Weltkrieges. Der Tod im Irak wird hier in Verbindung gebracht mit dem Gemetzel des Schützengrabenkrieges. Beim Auszug aus der Basilika spielte die Kapelle der Carabinieri das Lied ,,Leggenda del Piave“, eine der bekanntesten Hymnen des Ersten Weltkrieges. In der Verbindung zwischen Nasiriya und dem ,,Großen Krieg“ (La Grande Guerra) verbirgt sich jedoch ein Widerspruch, denn damit werden Soldaten auf eine Stufe gestellt, die unter ganz unterschiedlichen Umständen gefallen sind. Um einen kohärenten Sinnzusammenhang herzustellen, müsste man zugeben, dass die Soldaten im Irak an einem Krieg teilnehmen, auch wenn dieser nicht erklärt worden ist und auf besondere Weise geführt wird. Die staatlichen Autoritäten und die Medien haben sich dagegen für eine andere Lösung entschieden und eine Darstellungsform des Ersten Weltkrieges weitergeführt, in der das traditionelle Bild des ,,patriotischen“, wenn nicht ,,demokratischen“ Krieges dazu dient, das Massaker zu rechtfertigen und die Zustimmung der Soldaten zu dem Unternehmen zu unterstreichen. In diesem Sinne werden kritische Analysen des Krieges in der Regel verdrängt, wie der Tonfall in den Reden zu den Feiern des 4. November (,,Tag des Sieges“, Fest der Streitkräfte und der nationalen Einheit) deutlich

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macht, und zu diesem Zweck wird der Vittoriano als Ort der Aufbahrung akzeptiert. Im Unterschied zu den faschistischen Massenliturgien, bei denen das Monument bloß als Hülle für das Grab des ,,Unbekannten Soldaten“ galt, eroberte sich der Vittoriano mit den Zeremonien für die Gefallenen von Nasiriya seine Rolle als ,,Altar des Vaterlandes“ (Altare della Patria) und Symbol der italienischen Nation zurück. Das Monument, über das in städtebaulicher und architektonischer Hinsicht immer wieder gestritten wird, wurde unter dem italienischen Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi zu einer Ikone der Italianität (Italianità) aufgewertet. Das Gebäude wurde restauriert, dem Publikum wieder zugänglich gemacht, im Jahr 2000 ein weiteres Mal eingeweiht und schließlich zum Sitz eines künftigen ,,Museum des Vaterlandes“ auserkoren. Diese Initiativen reihten sich in eine Politik der Erinnerung an das Risorgimento und der Neubelebung des Patriotismus ein und wurden von einer ganzen Reihe neuer historischer Studien begleitet.18 Wie in der Presse zu lesen war, hat der Vittoriano durch die ,,Tragödie“ seinen Symbolstatus wiedererlangt. Er ist nicht nur zu einem ,,Ort des Schmerzes“ geworden, sondern hat auch eine neue Form des ,,Stolzes“ sanktioniert und bezeichnet ,,eine neue Art, die nationale Identität zu fühlen“. Das Monument diente als ,,Kulisse für die erste große Demonstration der Vaterlandsliebe“: Durch jenes ,,zivile Pilgertum“ hat ,,Italien aus der Sicht des Volkes in ästhetischer wie ideologischer Form erneut von dem Monument Besitz ergriffen und sich dabei von den Feiern im Zeichen des Postrisorgimento und der offiziellen Sakralität ferngehalten“. Aus dem Tag der ,,Anteilnahme“ wurde somit der ,,Tag der Fahnen und der lange unterdrückten, schließlich in der Erinnerung der Menschen wiedergefundenen Symbole“. Mit anderen Worten: Die ,,herausgerissene Seite“ des Ersten Weltkrieges konnte in die Erinnerung des Volkes wieder eingefügt werden konnte.19 Die semantische Verbindung von Krieg und Nation und die Abfolge der ,,patriotischen“ Kriege und ihrer Gefallenen leiten mithin die Verarbeitung der Trauer um die in den ,,Friedensmissionen“ gestorbenen Soldaten. Und es scheint, als reaktivierten die ,,Märtyrer“ von Nasiriya, wie sie mehrfach nicht zufällig definiert wurden, die Erinnerung an alle anderen gefallenen italienischen Soldaten. Das wird auch in dem Kommentar eines Journalisten deutlich: ,,Wer weiß, ob man nicht nach so viel Blut und so viel Leere beginnt, mit einer anderen Aufmerksamkeit die tausenden, oft vergessenen Monumente zu betrachten, die auf 18

19

Massimo Baioni, La politica monumentale nella Roma postunitaria, in: Passato e presente 48 (1999), S. 133–145; ders., Identità nazionale e miti del Risorgimento nell’Italia liberale. Problemi e direzioni di ricerca, in: Storia e problemi contemporanei 22 (1998), S. 17–40. Aldo Cazzullo, Il Paese dei campanili nel sacrario ritrovato, in: Corriere della sera, 18.11.2003 und Goffredo Buccini, Nella Roma popolare rosari in pugno e bandiere alle finestre, in: Corriere della sera, 19.11.2003.

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allen Plätzen in Italien stehen und an diejenigen erinnern sollen, die in anderen Zeiten für dieselben Werte starben, die auch den jungen Männern von Nasiriya, unseren Märtyrern der Gegenwart, am Herzen lagen.“20 Die Kontinuität wird dadurch möglich, dass man die Ursachen für den Tod der Soldaten nicht nur auf eine Linie bringt, sondern sie geradezu gleichsetzt. Die Soldaten sind ,,für das Vaterland“ gestorben und haben damit gezeigt, dass das Vaterland nicht tot ist, auch wenn der Historiker und Publizist Ernesto Galli della Loggia, der vor zehn Jahren die Auffassung vertreten hatte, dass das Vaterland mit dem Zweiten Weltkrieg ,,gestorben sei“, nun im Fernsehen behauptete, ,,die Italiener hätten den Sinn des Todes für das Vaterland verloren, im Unterschied zu anderen Nationen, in denen dies einen Grundstein des Nationalgefühls bildete“. Für andere hingegen, wie etwa Francesco Merlo, sind die Bestattungen der Gefallenen ein ,,patriotischer Ritus, ein Ritual der Pflicht und der Kraft, nicht nur öffentliche Betroffenheit, sondern auch das Zelebrieren starker Gefühle“: Die Gedenkfeier stellt jenen ,,Kern der Ehre dar, um den sich die Italiener, die guten Italiener scharen“, in der Zelebrierung der ,,Besten“ unter ihnen, die man ,,nicht beweinen, sondern nachahmen sollte“.21 Wie Vertreter von Politik und Medien behaupteten, haben die gefallenen Soldaten nicht nur ein Beispiel für Tugendhaftigkeit gegeben, sondern ihren Landsleuten die Gelegenheit geboten, die Lebendigkeit des Patriotismus zu bekunden. Oder, um es mit den Worten des damaligen Verteidigungsministers zu sagen, man wäre unmittelbar von der Trauer (cordoglio) zum Stolz (orgoglio) übergegangen.22 Aus welchem Grund bilden die Codes, die Symbole und die Sprache des Nationalismus die Vorzeichen der Trauerfeier für die bei dem Einsatz im Irak gefallenen italienischen Soldaten? Die erste Antwort mag vielleicht banal erscheinen: es gibt keinen. Der ,,Große Krieg“ mit seinen patriotischen Riten und Mythen bleibt der erste mögliche Bezugspunkt, um mit einem einzigen Schritt das Gedenkvakuum nach 1945, das heißt auch die Erinnerung an den Widerstand, an die nationale Befreiung von außen, an Bürgerkrieg und Klassenkampf, aber vor allem um die sperrige Erinnerung an die faschistischen Kriege zu überspringen. Mangels einer spezifischen Form der Trauerfeier für im Ausland gefallenen Soldaten, die im Namen des Friedens und der Demokratie kämpften, wäre die einzige Alternative zur Inanspruchnahme des Patriotismus eine Rückbesinnung auf eine ältere Tradition: den Katholizismus. Tatsächlich ist die römisch-katholische Tradition wieder aufgetaucht, zum Beispiel während der Messe, die der Vorsitzende der italienischen Bischofskonferenz Kardinal Camillo Ruini gehalten hat, oder auch im spontanen Ausdruck der Trauer im Volk. 20 21 22

Paolo Conti, Onore ai caduti (senza retorica), in: Corriere della sera, 15.11.2003. Bruno Gravagnuolo, Parole armate, in: L’Unità, 14.11.2003; Francesco Merlo, Carabinieri d’Italia, in: Repubblica, 17.11.2003. Antonio Martino, ,,Grazie a Dio sono Italiano“, in: La Sicilia, 16.11.2003.

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Wie die Überführung und die Aufbahrung der Leichname – jeder Sarg ist mit der italienischen Nationalflagge umhüllt und mit einem Rosenkranz und einem Marienbildnis versehen – zeigt, handelt es sich nicht um konkurrierende Sakralisierungen. Nach ihren Meinungsverschiedenheiten im Anschluss an die offene Kritik von Papst Johannes Paul II. und dem Vatikan am amerikanischen Krieg im Irak haben sich die zivilen und religiösen Autoritäten im Zeichen einer national-katholischen Synthese wiedergefunden, in der sich Stolz und Frömmigkeit, nationale Geschichte und außergeschichtlicher Appell an die Ewigkeit verflechten. Der Sinnzusammenhang, den der Großteil der politischen Führung und der Medien ins Spiel gebracht hat, verbleibt also im Rahmen des Neopatriotismus. Die Feststellung, dass es an Deutungsalternativen mangelt, muss jedoch um einen zweiten Aspekt erweitert werden, denn die Wiederaufnahme des nationalen Diskurses darf nicht als eine Art Rückgriff auf einen Restposten von Bräuchen verstanden werden. Die Trauerfeier für die Gefallenen von Nasiriya in nationaler Aufmachung ist auch – vielleicht vor allem – ein Ausdruck des Neopatriotismus der neunziger Jahre, eine Gelegenheit zur Neuauflage des nationalen Diskurses und zur Überprüfung seiner Rezeption.23 In den Jahrzehnten zuvor wäre es in der institutionellen und insbesondere medialen Kommunikation nicht zu einer derartigen Blüte von Apologien der nationalen Identität, der Zugehörigkeit und des patriotischen Gefühls gekommen,24 eine Bewegung, zu der beispielsweise der ,,Corriere della Sera“ einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. So hat der Direktor dieser Mailänder Tageszeitung sofort von einem ,,neuen Sinn der nationalen Identität“ gesprochen, bei dem die Trauer mit einem erneuerten Nationalstolz einhergeht.25 Der Diskurs nimmt allem Anschein nach hegemoniale Züge an. Die andere große italienische Tageszeitung ,,Repubblica“ schrieb, ,,dass aus dem Krater von Nasiriya ein bis dahin unbekanntes Land hervorgegangen sei […], ein ziviles Land, dass endlich einmal jenen Komplex aus Selbstbezichtigung und Minderwertigkeitsgefühl überwindet, der einen Großteil unserer kollektiven Psychologie ausmacht“.26 Mindestens zwei Fragen wären eine Diskussion wert: Inwieweit diente dieser Diskurs als Stütze für die Radikalisierung der italienischen Rechten hin zu einer kriegsbefürwortenden, militaristischen Linie und einer aggressiveren Haltung gegenüber Dissens und Pazifismus? Inwieweit flammte in der Rückbesinnung auf den Nationalismus die Erinnerung an die italienische Kolonialzeit auf, wo 23

24 25 26

Michele Nani, Nazione e alterità fra storia e politica. Il caso italiano, in: 900, 11 (2004), S. 75–84; Silvana Patriarca, Italian neopatriotism: debating national identity in the 1990s, in: Modern Italy 1 (2001), S. 21–34; Giovanni Gozzini, L’identità introvabile, in: Passato e presente 47 (1999), S. 15–30. Michael Billig, Banal Nationalism, London 1995. Stefano Folli, Tanti attacchi un solo disegno, in: Corriere della sera, 16.11.2003. Giulio Anselmi, L’identità nel dolore, in: Repubblica, 19.11.2003.

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sich doch in Italien ein historischer Zusammenhang zwischen Kolonialkrieg und Stärkung der nationalen Identität herausgebildet hatte, nicht zuletzt durch eine Gegenüberstellung von dem ,,guten Italiener“ (dem italienischen Soldaten) und einem dämonisierten Feind?27 In den Augen der führenden Klasse ist die Trauerfeier ein ,,Übergangsritus“ zu einer endlich wiedergefundenen und herangereiften nationalen Identität.28 Aber um daraus einen Anlass zum Gedenken zu machen, bedurfte es auch der Beteiligung der Massen – ein unberechenbarer Faktor, wenn man bedenkt, dass die Initiative des ,,Corriere della Sera“ Nationalflaggen an den Häusern auszuhängen, auf ein äußerst schwaches Echo gestoßen war. Die beispiellose Resonanz auf den Tod der italienischen Soldaten ging von drei elementaren Faktoren aus. Erstens handelt es sich um den bislang höchsten Blutzoll, den die Streitkräfte des demokratischen Italiens in fast sechzig Jahren Auslandseinsätze gezahlt haben. Zweitens wiegt diese Tatsache umso schwerer, als die Soldaten nicht durch eine kriegerische Aktion, sondern durch ein Selbstmordattentat ums Leben gekommen sind, gegen das sie sich nur schwer hätten wehren können; das Attentat wurde von Autoritäten und Medien umgehend als ,,Terrorismus“ eingestuft, was sehr allgemein klingt, aber emotional effektiv ist, weil man damit sowohl an die ,,bleierne Zeit“ erinnert als auch an den 11. September 2001, der sofort von hohen Militärs und Politikern evoziert wurde. Drittens wurde die Angelegenheit auch durch die Krise des ,,libanesischen Modells“ verstärkt: Es war nicht mehr möglich, den Einsatz italienischer Truppen getrennt von dem der englischen und amerikanischen (von denen die italienischen effektiv abhängen) zu betrachten – ein Aspekt, der sich schon in einigen journalistischen Recherchen vor Ort angedeutet hatte, in denen die ,,Popularität“ des italienischen Kontingents in Frage gestellt wurde. In diesem letzten Punkt hat es sich insofern um ein ,,Erwachen“ gehandelt, als von offizieller Seite und über die Medien der Mythos des ,,guten Italieners“ wieder aufgelegt wurde. So behauptete beispielsweise der Verteidigungsminister, ,,die Unsrigen seien gerade deswegen gestorben, weil sie bei der lokalen Bevölkerung so gut angesehen gewesen seien“.29 In der öffentlichen Meinung hingegen hat sich inzwischen die Ansicht verbreitet, dass sich das italienische ,,Friedenskontingent“ tatsächlich im Krieg befindet, dass es verwundbarer ist als bislang angenommen, und dass es ein mögliches Ziel ,,terroristischer“ Aktionen ist, die folglich nicht nur diejenigen treffen können, die mit der Operation begonnen haben, sondern auch die später dazu gekommenen Besatzungstruppen. In Erweiterung dieser Überlegungen könnte man sich fragen, ob die große Beteiligung des Volkes an der Trauerfeier nicht auch ein Symptom dafür ist, dass 27 28 29

Vgl. Nicola Labanca, Oltremare. Storia dell’espansione coloniale italiana, Bologna 2002. Fabrizio Rondolino, I fiori di un paese adulto, in: La stampa, 17.11.2003. Martino, ,,Grazie a Dio sono italiano“.

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die Kultur die Ablehnung des Krieges endgültig absorbiert hat? Schließlich ist sie in der Verfassung der Republik festgeschrieben und von der schrecklichen Erinnerung an das Massensterben in den Weltkriegen untermauert. Die Tatsache, dass sich so viele junge Leute am Vittoriano eingefunden hatten, verweist auf ein wichtiges demografisches Element. Wenn auch eine Tendenz zur Veralterung der Bevölkerung existiert, ist im Jahr 2003 doch fast die Hälfte aller Italiener jünger als vierzig Jahre und ein weiteres Drittel jünger als 65. Das bedeutet, dass die Zahl der direkten Zeugen des Ersten Weltkrieges, die inzwischen über neunzig Jahre alt sind, drastisch zurückgegangen ist und nur ein knappes Fünftel vor 1938 geboren ist, also zumindest einen Teil des Zweiten Weltkrieges im Schulalter erlebt hat. Die Teilnahme der Bevölkerung könnte aber auch ein Indiz für ein ,,neues, positives Image“ der Streitkräfte sein, das durch die zivilen Aufgaben bei Notstandssituationen im Inland und durch die ,,humanitären Missionen“ bestimmt wird.30 Oder es könnte sich um eine spezifische Anteilnahme an einer besonderen Art von Gefallenen handeln, die nämlich zum Großteil den Carabinieri angehörten, einer besonderen Polizeieinheit, die erst unlängst militarisiert wurde und im Inland sehr präsent ist. Schließlich könnte die starke Beteiligung an der Zeremonie auch eine Art Loslösung der Trauer um die Gefallenen von der Einstellung zu Krieg und Auslandseinsatz darstellen. Denn erste Umfragen ergaben zum Beispiel, dass der Anschlag das Urteil über den Krieg nicht verändert hat, sondern zusammen mit einem Gefühl von Unsicherheit auch eines der Zugehörigkeit und der Anerkennung für die Rolle der italienischen Soldaten verbreitet hat.31 Nach der Trauerfeier hat sich die Aufmerksamkeit für das Thema nach und nach abgeschwächt. Staatspräsident Ciampi hat in der traditionellen Neujahrsansprache an die ,,Gefallenen von Nasiriya“ erinnert und sie als ,,unsere Landsleute“ bezeichnet, ,,die ihr Leben gelassen haben, um an der Wiedergeburt eines anderen Volkes mitzuwirken“. Zuvor hatte er sie mit den ersten Gefallenen verglichen, die die neu konstituierte, reguläre postfaschistische Armee 1943 zu verzeichnen gehabt hatte: ,,Jene Ideale sind nicht tot. Das bezeugt die bewusste Aufopferung unsere Soldaten, die in humanitären und friedensfördernden Missionen im Einsatz sind“.32 In den folgenden Jahren ist ,,Nasiriya“ 30 31

32

Rrusconi, Guerra e intervento umanitario, S. 836. Ilvo Diamanti, La scoperta della vulnerabilità, in: Repubblica, 14.11.2003; Renato Mannheimer, L’identità nazionale è diventata più forte, in: Corriere della sera, 17.11.2003. Vgl. auch Fabrizio Battistelli, Gli italiani e la guerra. Tra senso di insicurezza e terrorismo internazionale, Roma 2004. Presidenza della Repubblica, http://www.quirinale.it/qrnw/statico/ex-presidenti/Ciampi/ dinamico/discorso.asp?id=23858 und Enzo d’Errico, Ciampi e il valore della storia. ,,In Italia memoria condivisa“, in: Corriere della Sera, 9.12.2003. Vgl. Michele A. Cortelazzo/ Arjuna Tuzzi (Hg.): Messaggi dal Colle. I discorsi di fine anno dei presidenti della Repubblica, Venezia 2007. In Rom gibt es inzwischen ein eher abgelegen liegendes Denkmal für

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mehrfach wieder aufgetaucht. Verschiedene Instanzen haben an der Fixierung und Reproduktion der Erinnerung mitgewirkt, in erster Linie die Medien. Neben vielen Tagebüchern und instant books hat ein Buch von Aureliano Amadei, der bei dem Attentat verletzt wurde und für immer behindert bleibt, einen beträchtlichen Erfolg erzielt; die 7000 Exemplare der ersten Auflage waren innerhalb weniger Wochen vergriffen. Amadei war Assistent des Regisseurs Stefano Rolla, eines der beiden zivilen Opfer des Anschlags, mit dem er den Film ,,Soldaten des Friedens“ hätte drehen sollen; in seinem Buch vermischt er roman- und reportageartige Elemente mit Abschnitten aus dem Drehbuch zu dem Film.33 Im März 2007 zeigte Canale 5 den zweiteiligen Fernsehfilm ,,Nassiriya. Per non dimenticare“ (,,Nasiriya. Um nicht zu vergessen“, Regie: Michele Soavi). An den Jahrestagen fanden viele Gedenkfeiern statt, an denen die höchsten Staatsvertreter teilnahmen, doch eine ähnlich große Beteiligung wie an den Trauerfeiern 2003 hat es nicht wieder gegeben. Kaum Auswirkungen hat der Vorschlag einiger der Rechten nahestehenden Intellektuellen und Politiker gehabt, aus dem 12. November den Tag der ,,Märtyrer für das Vaterland und die Freiheit“ zu machen und einen Tag ,,gegen den Terrorismus, für den universellen Wert der Demokratie und die Unantastbarkeit des Lebens aller Menschen“.34 Dagegen gibt es zahlreiche dezentrale Bemühungen um ein Gedenken jenseits der offiziellen Gedenkfeiern. Das zeigt die weit verbreitete Tendenz zur Symbolpolitik auf kommunaler Ebene: Straßen, Plätze, Parks und öffentliche Gebäude wurden umbenannt, Denkmäler und Gedenktafeln errichtet. Während die großen Städte – mit Ausnahme von Mailand, Genua, Triest, Bologna und Bari – sowie 15 von 110 kleineren Provinzhauptstädten nicht an dieser Praxis teilgenommen haben, entfalteten vor allem die kleinen Städte und Gemeinden eine rege Aktivität an Zeremonien und Einweihungen. Eine grobe Schätzung ergibt mindestens 70 Namensgebungen, darunter in vier Städten in den Provinzen Alessandria, Brescia und Mailand sowie in drei Städten in den Provinzen Bologna, Frosinone und Rom. Die Wogen der Erinnerung an Nasiriya sind dennoch nicht geglättet. Wenige Wochen nach dem Attentat wurden die Einheiten in einen Kampfeinsatz geschickt, und ausgerechnet in Nasiriya wurden durch italienische Waffen am 6. April 2004 bei dem sogenannten ,,Gefecht der Brücken“ auch irakische Zi-

33 34

die Gefallenen von Nasiriya: http://www.06blog.it/post/3101/terminato-il-monumento-aicaduti-di-nassiriya. Francesco Trento/Aureliano Amadei, Venti sigarette a Nassirya, Torino 2005. Senato della Repubblica, XV Legislatura, Disegno di legge n. 1168, ,,Istituzione della ,Giornata della memoria‘ dedicata ai martiri per la patria e la libertà caduti sul fronte della lotta al terrorismo internazionale“ (http://www.parlamento.it/japp/bgt/showdoc/ frame.jsp?tipodoc=Ddlpres&leg=15&id=00223815&part=doc_dc&parse=no).

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vilisten getötet, was Diskussionen auslöste, die auch durch den Blitzbesuch des damaligen Ministerpräsidenten Berlusconi im irakischen Hauptquartier angeheizt wurden. Seither haben Veröffentlichungen und Spielfilme, Gedenkfeiern und Ehrerbietungen immer wieder zu Konflikten und polemischen Kontroversen geführt. Ein Beispiel ist der Streit um postume militärische Auszeichnungen. Im Gegensatz etwa zu Fabrizio Quattrocchi – einem privaten Wachmann im Dienst der amerikanischen Armee, der im April 2004 entführt und getötet und im März 2006 mit einem goldenen Orden für zivile Verdienste ausgezeichnete wurde – haben die Opfer von Nasiriya entgegen der Forderung ihrer Familien bislang keine entsprechende Auszeichnung erhalten. Einige Angehörige haben auch die Auszeichnung mit einem neuen Orden kritisiert, der nach langem Hin und Her im Oktober 2005 (Gesetz Nr. 207) eingeführt wurde. Er besteht aus einem ,,Ehrenkreuz“, das allen zuerkannt wird, ,,die bei militärischen und zivilen Einsätzen im Ausland Opfer von terroristischen Akten oder feindlichen Angriffen werden“.35 Das Kreuz ist bisher 33 Gefallenen verliehen worden, zu denen auch sechs im Irak bei neueren Angriffen im April und Juni 2006 Gefallene zählen. Der Einsatz im Irak wurde am 1. Dezember 2006 beendet. Im Mai 2007 hat der Militärstaatsanwalt gegen drei hohe Offiziere ein Hauptverfahren eröffnet; Gegenstand der Anklage ist die ,,Unterlassung von Maßnahmen zur militärischen Verteidigung“ (Art. 98 des Militärstrafgesetzbuches) und das Versäumnis, keine Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der Basis ,,Maestrale“ getroffen zu haben. Dabei stellte sich die Frage nach der individuellen Verantwortung auf eine neue Weise. In Dezember 2008 wurde der Oberkommandierende der italienischen Truppen im Irak, General Bruno Stano, zu zwei Jahren Haft verurteilt. Stanos Vorgänger, der General Vincenzo Lops, wurde freigesprochen und der Befehlshaber der Carabinieri-Einheit, Georg Di Pauli, wartete damals noch auf ein Urteil.36 Ein Jahr später, kurz vor der Novellierung des Gesetzes Nummer 162, mit dem der 12. November als ,,Tag der Erinnerung für die in internationalen Friedensmissionen gefallenen Zivilisten und Militär“ erklärt wurde, sind von dem Berufungs-Militärgericht die oben erwähnten Generäle freigesprochen worden.37 Nachdem die Angehörigen der Opfer eine Aufhebung dieses Urteils erreicht haben, erklärte das Kassationshof die Haftung des italienischen Staates und in Folge den Anspruch der Angehörigen der Opfer auf eine Entschädigung.38

35 36 37 38

Presidenza della Repubblica, http://www.quirinale.it/qrnw/statico/onorificenze/cennistorici/CroceOnore.htm. Flavia Amabile, Strage di Nassiriya, condannato il generale, ,,La stampa“, 21.12.2008. Parlamento italiano, http://www.parlamento.it/parlam/leggi/09162l.htm. La Cassazione disce sì ai risarcimenti ai famigliari delle vittime di Nassiriya, ,,La stampa“, 20.1.2011.

Japan Tino Schölz

,,Heldenseelen‘‘ und ,,Fundamente des Friedens‘‘ Gefallenenkult und Kaiserloyalität ,,Ich gehe lächelnd zum Angriff. Heute Abend wird der Vollmond am Himmel stehen. Vor Okinawa werde ich ihn sinnend betrachten, gelassen das feindliche Schiff wählen und mich hinabstürzen. Ich werde Euch zeigen, dass ich tapfer und bewusst zu sterben weiß.“1

Einleitung Die japanische Geschichte der Neuzeit (1853/68–1945) ist auf das engste mit Krieg verwoben. Nach einer über zweieinhalb Jahrhunderte andauernden Epoche des Friedens nach innen wie außen wurde Japan zunächst Gegenstand westlicher imperialer Politik; nach einem kurzen Bürgerkrieg von 1867 bis 1869 und der Begründung des modernen japanischen Nationalstaates im Gefolge der sogenannten Meiji-Restauration aber wandte sich das Kaiserreich militärisch gegen seine Nachbarn, unternahm 1874 eine erste militärische Expedition nach Taiwan und annektierte 1879 das bis dahin weitgehend unabhängige Königreich Ryūkyū (das heutige Okinawa). Erfolgreiche Kriege gegen China (1894–1895) und Russland (1904–1905) sowie die Teilnahme an der Intervention zur Niederschlagung des Boxeraufstandes in China 1900 und am Ersten Weltkrieg auf Seiten der Entente brachten Japan ein immenses Kolonialreich in Ost- und Südostasien (unter anderem mit Korea und Taiwan) und den Status einer internationalen Großmacht ein. Im Asiatisch-Pazifischen Krieg 1931–1945 endete schließlich der Versuch des Kaiserreiches, sich zur unumstrittenen Vormacht und zum Beherrscher Ost- und Südostasiens aufzuschwingen, mit der militärischen Niederlage und dem Verlust der Besitzungen in Übersee. 1

Abschiedbrief von Otsuka Akio an seine Eltern, 28. April 1945, zit. nach: Klaus-Robert Heinemann (Hg.), Sturm der Götter, Wiesbaden 1956, S. 88.

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Eine Voraussetzung für die militärische Expansion Japans und eine Folge derselben war der Aufbau eines modernen, in wesentlichen Punkten am Westen orientierten Nationalstaates und moderner nationaler Streitkräfte. Letztere waren insofern ein Novum in Japan, als Kampf und Krieg seit dem Ende des 16. Jahrhunderts ausschließlich in den Händen einer spezifischen Schicht, der bushi (oder Samurai), gelegen hatte. Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1873 wurden potentiell alle männlichen Bewohner für Krieg und Kampf mobilisiert und damit mit einem möglichen gewaltsamen Tod auf dem Schlachtfeld konfrontiert. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der moderne politische Totenkult in Japan. Wie seine Pendants in anderen Gesellschaften lag auch in Japan seine wichtigste Aufgabe darin, den Tod des Soldaten sinnhaft zu deuten. Im Vergleich zum europäisch-nordamerikanischen Totenkult ergibt sich jedoch ein fundamentaler Unterschied. Der moderne Totenkult im Westen ist vor allem durch zwei Merkmale charakterisiert: erstens durch die Diesseitigkeit der Sinnstiftung des gewaltsamen Todes, mithin die Ersetzung christlicher Jenseitsverheißung durch politische Sinngebung, und zweitens durch eine formale Demokratisierung, durch die jeder Gefallene erinnerungswürdig und eine hierarchische Erinnerung obsolet geworden sei.2 Im modernen politischen Totenkult in Japan wird, wie später ausgeführt wird, zwar ebenfalls seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aller eigenen Gefallenen gedacht. Die staatlichen Sinnstiftungsmuster sind jedoch – vor 1945 in Form des Staatsshintō, heute abgeschwächt – religiös geprägt. Die Lösung von religiös konnotierten Sinnstiftungsmustern, die zwar von den Alliierten während der Besatzungszeit und durch die neue Verfassung von 1946/47 vorgeschrieben wurde, blieb auch nach der Rückgewinnung der Souveränität Japans unvollständig. Diese religiöse Konnotation und der ambivalente Umgang mit der imperialen Vergangenheit durch den japanischen Staat nach 1945, der sich ebenfalls in der Gefallenenehrung widerspiegelt, machen den offiziellen politischen Gefallenenkult bis heute äußerst spannungsreich und widersprüchlich und führen immer wieder zu Konflikten im In- und Ausland.

2

Vgl. Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftung der Überlebenden, in: Odo Marquard / Karl-Heinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276, hier S. 259f.; Michael Jeismann / Rolf Westheider, Wofür stirbt der Bürger? Nationaler Totenkult und Staatsbürgertum in Deutschland und Frankreich seit der Französischen Revolution, in: Reinhart Koselleck / Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 23–50, hier S. 25.

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Charakteristika des neuzeitlichen Gefallenenkultes (Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1945) Seit Beginn des 17. Jahrhunderts hatte Japan eine friedvolle Epoche mit festgefügten politischen Strukturen erlebt: Die politische Macht hatte in den Händen des Shōgun aus dem Hause Tokugawa gelegen, dessen Herrschaft durch den Kaiser legitimiert worden war, faktisch aber auf einem Konsens mächtiger Territorialfürsten beruhte. Nach 250 Jahren jedoch war die Machtbasis der Tokugawa erodiert; die gewaltsame Landesöffnung durch die USA und europäische Mächte sowie ein kurzer Bürgerkrieg (Boshin-Krieg, 1867–69) beendete die Herrschaft des Shōgun und führte zur Wiederherstellung der kaiserlichen Herrschaft (Meiji-Restauration, 1868) und dem Aufbau eines modernen Staatsapparates einschließlich moderner, am Westen orientierter Streitkräfte in den Folgejahren.3 In diesen Jahren der Neuordnung, einer Zeit der politischen Instabilität und des Bürgerkrieges, entstand der neuzeitliche Gefallenenkult. Die siegreiche Partei der Loyalisten vornehmlich aus den südwestlichen Fürstentümern schuf in den Jahren nach der Meiji-Restauration zugleich mit dem neuen Staat einen modernen staatlichen Kriegstotenkult auf religiöser Grundlage (des Staatsshintō), der in seinen Grundzügen seit dem Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 unverändert blieb und bis 1945 Bestand hatte. Der Entstehungskontext der Bürgerkriegssituation hatte drei Folgen, die als Charakteristika des modernen japanischen Totenkultes zu betonen sind: Erstens wurde die Legitimation des eigenen politischen Handelns der siegreichen Partei aus dem Bürgerkrieg zur zentralen Deutungsfigur des offiziellen staatlichen Gefallenenkultes nach 1868. Kampf und Tod wurden hier primär auf den Monarchen bezogen und als Ausdruck der konfuzianischen Tugend Loyalität zum Herrscher (chū) verstanden; vor dieser dominierenden Deutung verblassten Konzepte wie Kampf für das Land (kuni), den Staat (kokka) oder gar das Volk. Dementsprechend wurde der Gefallene nicht als moderner Staatsbürger oder Angehöriger der Nation (kokumin) erinnert, sondern primär als loyaler Untertan des Tennō (chūshin). Seinen semantischen Niederschlag fand die Betonung der Loyalität in Bezeichnungen wie chūkon bzw. chūrei (,,loyale Seele“ bzw. ,,loyaler Geist“) für den Gefallenen oder auch chūshi (,,loyaler Tod“) für das Sterben, eine Bezeichnung, die zunehmend neben die eher neutralen Begriffe senshi oder senbotsu (,,Tod im Kampf“) trat. Schließlich war das Konzept des Todes aus Loyalität zum Tennō fest mit dem Begriff der Ehre verknüpft. Anregungen hierzu kamen aus dem idealisierten Verhältnis der Samurai zum Tod, das 3

Siehe als Überblicksdarstellungen zur modernen Geschichte Japans Reinhard Zöllner, Geschichte des modernen Japan. Von 1800 bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008; Rudolf Hartmann, Geschichte des modernen Japan. Von Meiji bis Heisei, Berlin 1996.

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im frühneuzeitlichen Japan fester Bestandteil des Kriegerkodex war und nun auf die modernen Soldaten – und ihre Familien – übertragen wurde.4 Entsprechend wurde der Tod auf dem Schlachtfeld oft auch als ,,ehrenvoller Tod im Kampf“ (meiyo no senshi) bezeichnet und die Familien der Hinterbliebenen öffentlich als ,,ehrenwerte Familie“ bzw. ,,ehrenvolles Haus“ (homare no ie) geehrt. Zweitens ist der moderne Totenkult in Japan doppelt exklusiv, was ebenfalls den Entstehungskontext des Bürgerkrieges von 1867/69 widerspiegelt. Objekt staatlicher Verehrung waren lediglich die eigenen militärischen Opfer, ausgeschlossen von ihr blieben sowohl die gegnerischen Gefallenen, die in dieser Logik letztlich als Feinde der kaiserlichen Sache gelten mussten, als auch eigene zivile Opfer, etwa die Bombenopfer des Asiatisch-Pazifischen Krieges, deren Tod ,,zufälligen Charakter“ hatte und nicht Ausdruck selbstbestimmten loyalen Handels war. Drittens war der staatliche Gefallenenkult auf das Engste mit dem sogenannten Staatsshintō (kokka shintō) verknüpft und damit in seinem Kern – im Gegensatz zum modernen Gefallenenkult im Westen – religiös.5 Bewusst griff man für ihn kaum auf buddhistische Totenzeremonien zurück,6 die seit alters her in Japan in Gebrauch waren, sondern nutzte einerseits bestehende und entwickelte ande4

5

6

Vgl. Naoko Shimazu, The Myth of the ,Patriotic Soldier‘. Japanese Attitudes Towards Death in the Russo-Japanese War, in: War & Society 19 (2001), H. 2, S. 69–89, hier S. 71f.; zum ,,ehrenwerten Tod“ des Kriegers im japanischen Mittelalter und in der Edo-Zeit vgl. Eiko Ikegami, The Taming of the Samurai. Honorific Individualism and the Making of Modern Japan, Cambridge (Mass.) 1995, S. 97–108 und 281f. Vgl. allgemein zum Staatsshinō Helen Hardacre, Shintō and the State, 1868–1988, Princeton 1989; Klaus Antoni, Shintō und die Konzeption des japanischen Nationalwesens (kokutai). Der religiöse Traditionalismus in Neuzeit und Moderne Japans, Leiden 1998; Ernst Lokowandt, Die rechtliche Entwicklung des Staats-Shintō in der ersten Hälfte der MeijiZeit (1868–1890), Wiesbaden 1978. Obwohl das in diesem Beitrag thematisierte staatliche Deutungsangebot ausschließlich auf die staatsshintōistische Deutung rekurrierte, gelang es im Alltag nur bedingt, den Buddhismus von der Totenehrung fernzuhalten. Die traditionelle Distanz des Shintō zum als rituell unrein angesehenen Tod hatte zur Folge, dass schon an der Front buddhistische Priester als Seelsorger tätig waren. Auch wurden viele Zeremonien, v.a. die Beisetzungs- und Gedenkzeremonien, vollständig, im Beisein bzw. unter Mitwirkung von buddhistischen Priestern durchgeführt. Vgl. zu diesem Nebeneinander buddhistischer und shintōistischer Riten etwa Andrew Bernstein, Modern Passings. Death Rites, Politics, and Social Change in Imperial Japan, Honolulu 2006, S. 98–104; Naoko Shimazu, Japanese Society at War. Death, Memory and the Russo-Japanese War, Cambridge 2009, S. 94–97 und 129f.; für die Anfangsphase des Asiatisch-Pazifischen Krieges Peter Fischer, Der Streit zwischen Shintō und Buddhismus um die öffentliche Bestattung der japanischen Gefallenen am Vorabend des Pazifischen Krieges, in: Klaus Antoni (Hg.), Rituale und ihre Urheber. Invented Traditions in der japanischen Religionsgeschichte, Hamburg 1997, S. 143–176, hier insbesondere S. 152f., Anm. 16. Auch in der Errichtung der Soldatenfriedhöfe und bei Konzeption und Formensprache der chūrei-tō (,,Grabmäler für die loyalen Seelen“, s.u.) sind buddhistische Einflüsse nicht zu übersehen.

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Abbildung 1: Die Gebetshalle (haiden) des Yasukuni-Schreines in Tōkyō (Foto: Manfred Hettling).

rerseits neue shintōistische Zeremonien wie das Konzept des Herbeirufens und Besänftigens der Totenseelen in sogenannten shōkon-sha (,,Schrein zum Herbeirufen der Totenseelen“), deren berühmtester und wichtigster der YasukuniSchrein (Abb. 1) im Stadtteil Kudan in Tōkyō ist.7 Dieser steht bis heute im Zentrum der Erinnerung an die Gefallenen. Das religiöse Deutungsangebot besteht in der Apotheose der Seelen der Gefallenen. Die Shintō-Priester rufen die Seelen der Gefallenen durch spezielle Riten, die shōkon-Zeremonien, zum shōkon-Schrein, wo sie durch eine weitere Zeremonie des Einschreinens (gōshi) in einen Kultgegenstand (im Falle des Yasukuni einen Spiegel, bisweilen auch ein Schwert) einen festen Sitz erhalten und zu shintōistischen Gottheiten (kami oder mikoto, auch eirei = Heldenseele) werden. Das Gebet aus Anlass des Jahresfestes (reisai norito), welches der Oberpriester des Yasukuni an sie richtet, definiert als ihre primären Aufgaben den Schutz sowohl der kaiserlichen Herrschaft wie auch der kaiserlichen Familie und 7

Vgl. zur Geschichte des shōkon-Gedankens Hata Nagami, ,Shōkon saishi‘-kō I. Shōkon saishi no rekishi-teki keisei to tenkai [Reflexionen über das ,shōkon saishi‘, Teil I. Historische Entstehung und Entwicklung der Zeremonien zum Herbeirufen der Totenseelen], in: Ryūkei hōgaku 8 (2008), H. 2, S. 9–66; zu den shintōistischen Bestattungszeremonien in der EdoZeit vgl. Nam-lin Hur, Death and Social Order in Tokugawa Japan. Buddhism, Anti-Christianity, and the Danka System, Cambridge (Mass.) 2007, S. 319–332.

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der Regierung sowie den Schutz des Landes vor ausländischen Mächten.8 Diese Zuschreibung einer Schutzfunktion spiegelt sich übrigens auch darin wider, dass die Gefallenen nach ihrer Einschreinung oft als ,,Götter der Landesverteidigung“ (gokoku no kami) bezeichnet werden. Ausländische Mächte sollten, so die Fürbitte an die gefallenen Soldaten, niemals die Waffen gegen Japan erheben, vielmehr solle der Ozean voll von Schiffen sein, die Tribute überbrächten. Schließlich führt das Gebet aus, dass Kaiserliche Soldaten dem Tennō seit langer Zeit gedient hätten; dabei würden sie sich nicht um ihren Tod sorgen, wenn sie im Dienste des Tennō stürben. Die Gefallenen werden schließlich gebeten, dafür Sorge zu tragen, dass auch künftig die Soldaten in der Lage seien, sich reinen Herzens der Sache ihres Landes zu widmen.9 Neben die in allen Formen nationalen Gefallenenkultes anzutreffenden Funktionen von Trauer und Verehrung tritt im japanischen Falle damit eine explizit religiöse Deutung. Sie greift auf mindestens drei ältere Elemente zurück, nämlich erstens auf in Japan und besonders im Shintō weitverbreitete Konzepte der Apotheose von etwas Positivem, zweitens auf Vorstellungen des traditionellen japanischen Ahnenkultes, wo in der Regel ein Verstorbener nach einer Reihe von Jahren als Beschützer der Familie verehrt wird – eine Vorstellung, die hier auf die ,,Staatsfamilie“ (Klaus Antoni) übertragen wird – und drittens auf den Aspekt der Besänftigung bzw. Beschwichtigung von sog. Rache- oder Zorngeistern.10 Hinzu kommt, dass im shōkon-Schrein die Seelen der Gefallenen nicht nur durch die Priesterschaft, Militärangehörige und Kameraden, Staatsbeamte und Hinterbliebene verehrt werden, sondern auch durch den in den Vorstellungen des Staatsshintō seinerseits vergöttlichten Tennō. Auch wenn in der Forschung noch kein abschließender Konsens zur konkreten religiösen Funktion des Tennō bzw. seines Gesandten bei den Zeremonien der shōkon-Schreine besteht, lässt sich doch die Funktion der Kaiserbesuche für die ,,Besänftigung der Hinterbliebenen“ kaum überbewerten.11

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Vgl. Reisai norito [Gebet aus Anlass des Jahresfestes], in: Kokkai toshokan, Kensei shiryōshitsu, Bestand GHQ / SCAP Records, Civil Information and Education Section, Analysis and Research Division, Research Unit (Religious), Yasukuni Jinja and War Bereaved Families, Rep. NARA RG 331, CIE(B) 07068-07070 (Microfiche). Ebd. Vgl. Klaus Antoni, Yasukuni und der ,,Schlimme Tod“ des Kriegers, in: Ders., Der Himmlische Herrscher und sein Staat. Essays zur Stellung des Tennō im modernen Japan, München 1991, S. 155–189, hier S. 164f. und 184–189. Vgl. die Einwände gegen die klassische Interpretation bei John Breen, Yasukuni and the Loss of Historical Memory, in: Ders. (Hg.), Yasukuni, the War Dead and the Struggle for Japan’s Past, London 2007, S. 143–162, hier S. 146f.; zur Besänftigung der Hinterbliebenen Tetsuya Takahashi, Legacies of Empire: the Yasukuni Shrine Controversy, in: Breen, Yasukuni, S. 105–124, hier S. 120f..

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Der Tod auf dem Schlachtfeld und die anschließende Verehrung als Gott der Landesverteidigung ebneten jedoch nicht nur soziale Unterschiede ein und banden breitere Schichten des Volkes im Rahmen der neuen Leitidee ,,Nation“ an das Militär und den Staatsshintō – der Yasukuni wurde mit Beginn des 20. Jahrhunderts auch eine der populärsten religiösen Einrichtungen. Die Apotheose erfolgte dabei unabhängig von individuellen charakterlichen Eigenschaften. Ende 1938 – der Krieg gegen China war im vollen Gange – wurde diese religiös-nationale Überhöhung in einem Artikel der konservativen Tageszeitung Teikoku shinpō folgendermaßen beschrieben: ,,Egal wie fehlerhaft, egal wie böse ein japanischer Untertan gewesen sein mag – wenn er einmal auf dem Schlachtfeld steht sind all seine vergangenen Sünden ausgelöscht und werden gegenstandslos. Die Kriege Japans werden im Namen des Tennō geführt und sind deshalb heilige Kriege. Alle Soldaten, die an diesen Kriegen teilnehmen, sind Vertreter des Tennō, sie sind seine loyalen Untertanen. Um es aus der Perspektive der Untertanen zu sagen: Jeder Japaner, unabhängig davon, welche Person er ist, besitzt die eingeborene Fähigkeit, ein loyaler Untertan zu sein und ist befähigt, diese Loyalität zu verwirklichen. […] Alle, die mit den Worten ,Tennō heika banzai‘ [,Es lebe Seine Majestät der Tennō‘] auf den Lippen den Tod auf dem Schlachtfeld finden sind, egal ob gut oder böse, geheiligt.“12 Aber wie gestaltete sich der Umgang mit einem Gefallenen konkret? Im Gegensatz zur europäischen Gepflogenheit, die Gefallenen auf dem Schlachtfeld zu bestatten, versuchten die japanischen Streitkräfte, wenn immer möglich, zumindest Teile der sterblichen Überreste von Gefallenen in die Heimat zu verbringen bzw. an ihre Hinterbliebenen zu übergeben. Dafür wurden ihre Körper verbrannt und die Asche (ikotsu) in Urnen nach Japan verbracht.13 War dies nicht möglich, dienten andere physische Überreste wie Haare (ihatsu), Fingernägel und persönliche Gegenstände, die nicht selten bereits vor dem Kampf hierzu gesondert aufbewahrt wurden, diesem Zweck. In der letzten Phase des AsiatischPazifischen Krieges, als auch dies durch die Situation in den Kampfgebieten unmöglich wurde, wurden dann Steine oder Sand aus den Kampfzonen zurück-

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Teikoku shinpō, 18.09.1938, zit. nach Daniel C. Holtom, Modern Japan and Shinto Nationalism. A Study of Present-Day Trends in Japanese Religions (Revised Edition), New York3 1963, S. 54. Vgl. zur Entwicklung der Bestattungspraxis und der Militärfriedhöfe insbesondere in der Meiji-Zeit Harada Keiichi, Kokumin-gun no shinwa. Heishi ni naru koto [Der Mythos des Volksheeres. Zum Soldaten werden], Tōkyō 2001, S. 213–234; zum Asiatisch-Pazifischen Krieg siehe Ichinose Toshiya, Jūgo no shakai-shi. Senshi-sha to izoku [Sozialgeschichte der Heimatfront. Kriegstote und Hinterbliebene], Tōkyō 2005, S. 174–178. Im Falle größerer Schlachten wurden jedoch nur Offiziere gesondert kremiert, einfache Soldaten meist kollektiv.

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Abbildung 2: ,,Wortloser Triumphzug“ Kōbe, 21. April 1939 (Quelle: Präfekturbibliothek Nara: Mugon no gaisen shashin).

geführt.14 Die Ankunft derselben in Japan, Trauerzüge (wörtlich: mugon no gaisen, ,,wortloser Triumphmarsch“) und schließlich die Übergabe der Urnen an die Hinterbliebenen waren wichtige öffentliche Ereignisse insbesondere in den Hafen- und jeweiligen Regimentsstädten und von großer medialer Aufmerksamkeit begleitet (Abb. 2). Die danach durchgeführten Beisetzungsfeierlichkeiten begannen in der Zeit des Asiatisch-Pazifischen Krieges in der Regel mit einer Totenwache im Hause des Gefallenen; anschließend wurde – oftmals in der Aula oder auf dem Hof der örtlichen Grundschule – eine öffentliche Trauerfeier durchgeführt, an der neben Priestern Vertreter des jeweiligen Regiments, der Gemeinde, der wichtigsten patriotischen Verbände wie der Reichsreservistenvereinigung oder der Frauenverbände sowie häufig Schüler teilnahmen.15 Die hier verlesenen Reden – meist standardisierten Vorlagen entnommen – betonten die Loyalität des Gefallenen 14 15

Ichinose, Jūgo no shakai-shi, S. 178–181. Keiichi Yano, Senshi-sha to ,kyōdo‘ / nashonaru na kyōdō-sei. [Kriegstote und ,,Heimat“ / nationale Gemeinschaftlichkeit], in: Kunimitsu Kawamura (Hg.), Senshi-sha no yukue. Katari to hyōshō kara [Wohin Kriegstote gehen. Aus der Perspektive von Erzählung und Repräsentation], Tōkyō 2003, S. 173–191, hier S. 175–183; Kunimitsu Kawamura, Seisen no ikonogurafi. Tennō to heishi, senbotsu-sha no zuzō, hyōshō [Die Ikonographie des Heili-

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und seine künftige Funktion als Schutzgott des Landes und schrieben den Familien der Hinterbliebenen eine besondere Ehre zu.16 Bisweilen folgte noch eine private Trauerfeier, wiederum im Hause des Gefallenen selbst. Schließlich wurden die sterblichen Überreste geteilt (bunkotsu) und an verschiedenen Stellen beigesetzt, meist auf einem Militärfriedhof bzw. in einem chūrei-tō (,,Grabmal für die loyalen Seelen“, Abb. 3) sowie im Familiengrab.17 Parallel zu den Beisetzungsfeierlichkeiten erfolgten die oben erwähnten Riten zum Herbeirufen und Einschreinen der Totenseelen – die ersten bereits an der Front. Hier waren sie, wie Naoko Shimazu für die Zeit des Russisch-Japanischen Krieges herausgearbeitet hat, meist zweigeteilt: Zunächst fanden in relativer Stille die religiösen Zeremonien, kombiniert mit militärischen Ehrenbezeigungen, statt, daran schlossen sich ausgelassene Feiern an, die eher an Dorffeste erinnerten.18 Etwa zwei Jahre nach der Beisetzung folgte die Einschreinungszeremonie in den Yasukuni, kurze Zeit darauf in die regionalen ,,Landesverteidigungsschreine“ bzw. ,,Schreine zum Schutz des Landes“ (gokoku jinja) und ggf. lokale shōkon-sha, meist im Beisein der Hinterbliebenen. Aber auch danach blieben die Gefallenen im öffentlichen Leben ihrer Herkunftsgemeinden präsent und wurden öffentlich verehrt. In regelmäßigen Abständen, mindestens einmal im Jahr, wurden Gedenkzeremonien durchgeführt, die meist religiösen Charakter hatten. Als Orte hierfür dienten in der Regel die Gräber der Gefallenen in den Gemeinden bzw. auf den Militärfriedhöfen sowie an den seit der Zeit des Russisch-Japanischen Krieges durch die

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gen Krieges. Ikonen und Repräsentationen der Soldaten, Kriegsgefallenen und des Tennō], Tōkyō 2007, S. 182–189. Beispiele für Vorlagen standardisierter öffentlicher Ansprachen bei Mitsunori Nagano, Senji-ka no shikiji aisatsu enzetsu-shū [Sammlung von Festreden, Begrüßungsreden und Ansprachen in Kriegszeiten], Tōkyō14 1939, der für diverse Anlässe wie die Verabschiedung von Soldaten, Siegesparaden, Trauerfeiern für Gefallene oder die Enthüllung von Denkmälern tatsächlich gehaltene Reden sowie Vorlagen für Reden abdruckt, in die nur noch konkrete Namen einzufügen waren. Zur Geschichte der Militärfriedhöfe in Japan siehe Keiichi Harada, Riku-Kaigun bochi seido shi [Geschichte des Systems der Militärfriedhöfe von Heer und Marine], in: Kokuritsu rekishi minzoku hakubutsukan kenkyū hōkoku 103 (2003), S. 97–160; ders., Kokumin-gun no shinwa, S. 213–234; Yasunori Oda u. a. (Hg.), Rikugun bochi ga kataru Nihon no sensō [Japans Kriege, wie sie die Heeresfriedhöfe erzählen], Tōkyō 2006. In der frühen MeijiZeit mussten tote Soldaten zunächst auf Militärfriedhöfen beigesetzt und ihre sterblichen Überreste durften frühestens nach zehn Jahren an die Hinterbliebenen übergeben werden. Siehe Harada, Kokumin-gun no shinwa, S. 213. Die chūrei-tō waren – zu Beginn in Anlehnung an buddhistische Stupas bzw. Pagoden errichtete – faktische Sammelgräber, welche die Asche von Gefallenen aufnahmen; sie wurden sowohl in Japan als auch den besetzten Gebieten errichtet. Vgl. hierzu Akihiko Imai, Chūrei-tō kensetsu ni kansuru kōsatsu. Sono haisen made no keii [Eine Studie zur Errichtung der chūrei-tō. Bis zum Kriegsende], in: Kokuritsu rekishi minzoku hakubutsukan kenkyū hōkoku 147 (2008), S. 375–416. Vgl. Shimazu, Japanese Society at War, S. 115f.

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Tino Schölz Abbildung 3: Der Tahō-tō im Gokoku-Tempel in Tōkyō, das älteste ,,Grabmal für die loyalen Seelen“ auf den japanischen Hauptinseln. Errichtet für die Gefallenen des Chinesisch-Japanischen Krieges 1894/95 (Foto: Manfred Hettling).

Reichsreservistenvereinigung (Teikoku zaigō gunjin-kai) in der Mehrzahl der Gemeinden errichteten ,,Stelen für die loyalen Seelen“ (chūkon-hi, Abb. 4). Diese Stelen ähneln den europäischen Kriegerdenkmälern, sind jedoch um die religiöse Funktion als Ort zum Herbeirufen und Besänftigen der Heldenseelen erweitert, weshalb sie nicht selten als ,,mura no Yasukuni“, als ,,Yasukuni des Dorfes“ bezeichnet wurden und werden. Schließlich ist als ein weiteres Charakteristikum des japanischen politischen Totenkultes zu betonen, dass er auf das engste mit dem Erziehungssystem verknüpft war. So wurden die öffentlichen Trauerfeiern für die Gefallenen oft auf Schulhöfen durchgeführt. Schulen waren der häufigste Ort, an dem chūkon-hi errichtet wurden;19 darüber hinaus fanden sich hier nicht selten sogenannte eireishitsu (,,Heldenseelenzimmer“, bisweilen auch die Aula), die mit Photographien der Gefallenen der jeweiligen Schule geschmückt waren, welche Gegenstand 19

Detaillierte Zahlen für das Beispiel der Präfektur Ōsaka in Jirō Kagotani, Kindai Nihon ni okeru kyōiku to kokka no shisō [Erziehung und Staatsdenken im modernen Japan], Kyōto 1994, S. 366–384.

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Abbildung 4: ,,Stele für die loyalen Seelen“ (chūkon-hi) auf dem Gelände des ,,Schreines zur Landesverteidigung Shimabara“ (Shimabara gokoku jinja), Shimabara, Präfektur Nagasaki (Foto: Tino Schölz).

der Verehrung durch Lehrer und Schüler wurden.20 Nach einer rituellen Öffnung eines Vorhanges, welcher die Bilder analog zu den Bildern des Kaiserpaares und dem Kaiserlichen Erziehungserlass von 1890 schützte und durch diese Analogie die Göttlichkeit der Heldenseelen unterstrich, wurden vor ihnen Zeremonien abgehalten wie etwa das Verlesen kaiserlicher Proklamationen. Und auch im Unterricht waren der Tod des Soldaten und die Verheißung einer Einschreinung in den Yasukuni insbesondere nach Ausbruch des Pazifischen Krieges allgegenwärtig, was etwa die Schulbücher jener Jahre eindrucksvoll illustrieren: Das Lehrbuch für japanische Geschichte endete 1943 mit dem Verweis auf das mittelalterliche Vorbild kaisertreuer Loyalität, Kusunoki Masashige, und einem Bild des Yasukuni, das mit dem Titel ,,Für Seine Majestät den Tennō“ versehen ist.21 Kusunoki war während der Kenmu-Restauration im 14. Jahrhundert auf Befehl seines Herrschers in eine aussichtslose Schlacht gezogen und hatte sich, so die 20 21

Vgl. Kawamura, Seisen no ikonogurafi, S. 220–222. Monbu-shō: Shotōka kokushi [Elementarkurs Nationale Geschichte], Tōkyō 1943, S. 187– 189; zu Kusunoki siehe Jan Schmidt, Kusunoki Masashige und Ashikaga Takauji. Die Instrumentalisierung zweier Krieger des 14. Jahrhunderts im 19. und 20. Jahrhundert, in: Historisches Museum der Pfalz Speyer (Hg.), Samurai. Katalog, Ostfildern 2008, S. 212– 219.

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Überlieferung, nach der Niederlage mit den Worten ,,Siebenmal wiedergeboren dem Reich dienen“ das Leben genommen. Nach dem Ausbruch des Zweiten Chinesisch-Japanischen Krieges im Sommer 1937 und des Pazifischen Krieges im Dezember 1941, vor allem aber nach der Schlacht von Midway stieg die Zahl der Kriegstoten im Vergleich zu früheren Kriegen, auch im Vergleich zu den Kämpfen in der Mandschurei 1931–1933, erheblich an. Denn das japanische Militär praktizierte – um die gegnerischen Verluste in die Höhe zu treiben – einen Kampf bis zum letzten Atemzug. Dieser achtete auch das Leben der eigenen Soldaten gering und kalkulierte offen mit hohen Verlusten. Diese Militärstrategie wurde im Lande selber propagandistisch unterstützt. Der Gefallenenkult erfuhr dadurch eine signifikante Erweiterung. Einerseits integrierte man die shōkon-Schreine in ein landesweites hierarchisches System und errichtete in jeder Gemeinde ein ,,Grabmal für die loyalen Seelen“ (chūrei-tō), wo die sterblichen Überreste der Gefallenen aufgenommen werden sollten;22 andererseits erfolgte eine bis dahin ungeahnte Überhöhung des Gefallenenkultes. Für diese stehen sowohl der Mythos der Kamikaze-Piloten als auch die Ideologie des gyokusai (wörtlich: ,,Splittern des Edelsteines“), womit der Kampf japanischer Truppen bis zum letzten Mann und Atemzug bzw. in auswegloser Situation bis zum (kollektiven) Selbstmord insbesondere auf den Inseln im Pazifik (Attu, Iwo Jima oder Okinawa) bezeichnet wurde.23 Diese Ideologie des Kriegstodes spiegelte sich auch in der ,,Nebenhymne“ des Kaiserreiches Umi yukaba, die bis heute im Yasukuni-Schrein bei offiziellen Anlässen parallel zur Nationalhymne gesungen wird: ,,Fahre ich zur See, bin ich bereit, als Leiche im Wasser zu treiben ,Geh’ ich in die Berge, bin ich bereit, dass meine Leiche von Gras überwachsen sein wird. An der Seite meines Herrschers, nur hier, will ich sterben, Ohne zu zögern.“

Veränderungen während der Besatzungszeit Die vollständige militärische Niederlage 1945, die anschließende Besatzungszeit und die durch die Amerikaner und die japanische Regierung durchgeführten Reformen sowie die innerjapanischen Reaktionen hierauf veränderten die Rahmenbedingungen und damit die Inhalte des Gefallenenkultes in Japan fun22 23

Imai, Chūrei-tō kensetsu, S. 381ff. Siehe hierzu David C. Earhart, Certain Victory. Images of World War II in the Japanese Media, Armonk 2008, S. 375–459; Emiko Ohnuki-Tierney, Kamikaze, Cherry Blossoms, and Nationalisms. The Militarization of Aesthetics in Japanese History, Chicago 2002.

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damental; sie machten eine bruchlose Anknüpfung an die Traditionsbestände der Totenehrung schwierig bzw. unmöglich. Vier Faktoren waren für die Veränderungen seit 1945 bestimmend. Erstens beendeten die Maßnahmen der amerikanischen Besatzungsbehörden gegen den japanischen Militarismus, zum Teil vermittelt durch Anordnungen japanischer Regierungsstellen in Form der ,,informal mandatory guidance“, vorerst den staatlichen Gefallenenkult. Auch gegen die Verbindung von Gefallenenehrung und Erziehungssystem wurde nachdrücklich vorgegangen. Konkret forderte die amerikanische Besatzung (1) das Ende der staatlichen oder öffentlichen Unterstützung für Beisetzungen oder Trauer- bzw. Gedenkveranstaltungen für Gefallene, was faktisch das Ende aller öffentlicher Zeremonien bis zum Ende der Besatzungszeit und das Verweisen des Gedenkens in den privaten Raum bedeutete; (2) die Beseitigung von Denkmälern und Statuen mit einer klaren militaristischen Aussage aus dem öffentlichen Raum; (3) die Verringerung des gesellschaftlichen Einflusses der Schreine zur Verehrung der Kriegstoten;24 sowie (4) neben dem Verbot von Ehrbezeigungen für Hinterbliebene (etwa die Verleihung und das Führen von Titeln wie ,,ehrenwertes Haus“ durch die Familien der Hinterbliebenen) die Einstellung von Pensionszahlungen an selbige.25 Auch wenn die Forschung bisher keine abschließenden Ergebnisse zur Umsetzung dieser Weisungen vorlegen konnte, die regional und zeitlich höchst unterschiedlich erfolgte und meist von den Gegebenheiten vor Ort abhing, kann man doch konstatieren, dass durch diese Weisungen das Ende der überkommenen Form des staatlichen Totengedenkens erzwungen wurde. Öffentliche Beisetzungen und auch Einschreinungen in den Yasukuni-Schrein oder andere shōkonsha erfolgten zwischen 1946 und 1952 faktisch nicht mehr. Auch die lokale Denkmalslandschaft wurde vorübergehend bis 1952 dramatisch verändert: Die Mehrzahl der Stelen für die loyalen Seelen (ca. 6.000) wurde abgerissen; 900 von ihnen insbesondere von den Schulhöfen an weniger sichtbare Orte verlagert, die ,,Heldenseelenzimmer“ verschwanden ohne großen Aufhebens aus den Schulen. Weitere knapp 1.000 chūkon-hi mussten ihre Erscheinungsform ändern,26 die chūrei-tō sollten auf staatlichen Befehl hin aufgelöst und die sterblichen Überreste entweder den Hinterbliebenen übergeben oder in Massengräbern beigesetzt werden.27 24 25 26 27

William P. Woodard, The Allied Occupation of Japan 1945–1952 and Japanese Religions, Leiden 1972, S. 148f. Nobumasa Tanaka u. a., Izoku to sengo [Hinterbliebene und Nachkriegszeit], Tōkyō 1995, S. 83–89. Detaillierte Angaben bei Woodard, Allied Occupation and Japanese Religions, S. 153. Michael Lucken, Remodelling Public Space. The Fate of War Monuments 1945–1948, in: Wolfgang Schwentker / Sven Saaler (Hg.), The Power of Memory in Modern Japan, Folkestone 2008, S. 135–154, hier S. 138f. Für die chūrei-tō ist zu konstatieren, dass sie z. T. nicht aufgelöst wurden, sondern auch nach 1945 von Hinterbliebenen Urnen mit sterbli-

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Folgenschwerer und weitreichender als die eher praktische Aspekte betreffenden Normsetzungen der Alliierten waren jedoch zweitens die Verwerfungen, die auf die abrupt veränderte Rolle des Tennō nach Kriegsende zurückzuführen sind, die durch das Kaiserhaus und die konservativen Eliten erfolgte und eine ungebrochene Weiterführung des monarchischen Bezuges der Gefallenenehrung geradezu unmöglich machte. Galt der Tennō vor 1945 nicht nur verfassungsrechtlich, sondern mehr noch durch seine öffentliche Inszenierung als quasi omnipotenter Oberbefehlshaber von Heer und Marine, in dessen Namen und auf dessen Befehl hin die japanischen Streitkräfte in den Asiatisch-Pazifischen Krieg gezogen waren,28 machte er in den ersten Monaten nach der Kapitulation – wohl nicht zuletzt, um einer Anklage als Kriegsverbrecher vor dem Tribunal von Tōkyō zu entgehen – eine bemerkenswerte Wandlung hin zum demokratie- und friedliebenden, von den Militärs betrogenen Staatsoberhaupt durch, der dem Eintritt seines Landes in den Krieg ablehnend gegenübergestanden habe.29 Diese Transformation hatte zwangsläufig gravierende Auswirkungen auf den Totenkult. War nämlich der Krieg gegen den Willen des Monarchen geführt worden, ließen sich Kampf und Tod des Soldaten in ebendiesem Krieg nicht mehr direkt als Akt der Loyalität ihm gegenüber deuten. Die Bedeutung dieser Entwicklung sollte man übrigens für die Entwicklung demokratischer Traditionen in der Nachkriegszeit nicht unterschätzen, eröffnete die Abkehr vom primär monarchischen Bezug doch erst die Möglichkeit der Entwicklung eines demokratischen Bezuges in den japanischen Streitkräften und der Öffentlichkeit seit den 1950er Jahren. Drittens distanzierte sich die japanische Gesellschaft nach der Niederlage nachhaltig von Krieg und Militär und folgt seitdem weitgehend einer pazifistischen Grundhaltung.30 Diese Distanzierung war unmittelbarer Ausdruck der Opfererfahrung des japanischen Volkes in den letzten Kriegsmonaten. Sie war bis weit ins gemäßigte politische Lager und auch konservative und nationalistische Kreise hinein im Großen und Ganzen unumstritten. Frieden wurde neben Demokratie zum neuen Staatsziel erhoben, indirekt zuerst im berühmten Edikt

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chen Überresten Gefallener in ihnen aufgestellt wurden. Vgl. Tōru Morishita, Kojin bohi kara chūrei-tō e [Vom individuellen Grabstein zum chūrei-tō], in: Oda, Nihon no sensō, S. 191–214, hier S. 200. Zur Ikonographie des Tennō während des Krieges vgl. Kawamura, Seisen no ikonogurafi, S. 35–96; Earhart, Certain Victory, S. 11–35. Vgl. Kenneth J. Ruoff, The People’s Emperor. Democracy and the Japanese Monarchy 1945–1995, Cambridge (Mass.) 2001. Zum Pazifismus in der Nachkriegszeit siehe James J. Orr, The Victim as Hero. Ideologies of Peace and National Identity in Postwar Japan, Honolulu 2001; Mari Yamamoto, Grassroots Pacifism in Post-war Japan. The Rebirth of a Nation, London 2004.

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des Tennō zum Kriegsende, in der er die Einstellung der Kampfhandlungen als Weg zur Erreichung eines ,,Großen Friedens“ beschrieb.31 1946 fand das Friedensgebot Eingang in die Japanische Verfassung, deren Artikel 9 – neben der Präambel – das Recht auf Kriegführung wie auch den Unterhalt von Streitkräften negiert.32 Dieses Verfassungsgebot von Frieden als Staatsziel bei gleichzeitiger Aufgabe des Unterhalts von Streitkräften, aber mehr noch der pazifistische Tenor der japanischen Nachkriegsgesellschaft stellten somit ein weiteres Hindernis für eine an die politische und militärische Tradition anknüpfenden Form des Gefallenenkultes dar. Viertens schließlich bedeutete das Ende des Staatsshintō in den ersten beiden Jahren der Besatzung durch die Shintō-Direktive der US-amerikanischen Besatzungsmacht vom Dezember 1945, die Negierung seiner Göttlichkeit durch den Tennō in seiner Neujahrsansprache 1946 und schließlich das Gebot der Trennung von Staat und Religion durch Absatz 3 des Art. 20 und Art. 89 der Japanischen Verfassung von 1946, dass die Fortführung des religiösen Gefallenenkultes in Form staatlicher Zeremonien an den shōkon-Schreinen verfassungsrechtlich unmöglich wurde, da bereits die Teilnahme staatlicher Akteure an selbigen de jure nicht zulässig war.33 Jedoch wurden diese Schreine, obwohl sie ein wichtiger Pfeiler des Staatsshintō und zentrale Orte der Kriegsideologie waren, nicht zerstört, sondern in religiöse Körperschaften (shūkyō hōjin) umgewandelt und damit faktisch in die Unabhängigkeit entlassen. Durch diese Umwandlung standen sie nunmehr unter dem Schutz des Gebotes der Religionsfreiheit. So wurde ihnen ermöglicht, dass sie nach einer eher an Demilitarisierung, Demokratie und Frieden orientierten Übergangsphase, die in der Regel mit der Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität endete, in ritueller Praxis und Lehre an die Tradi31

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Eine Übersetzung der Kaiserlichen Ediktes zum Kriegsende von Eva-Maria Meyer ist abgedruckt in: Worte des Tennō, in: Kagami. Neue Folge 16 (1989), H. 1 / 2, S. 100–113, hier S. 109–113. ,,In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und die Androhung oder Ausübung von militärischer Gewalt als ein Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten. Zur Erreichung des Zwecks des Absatz 1 werden Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Kriegsmittel nicht unterhalten. Ein Kriegsführungsrecht des Staates wird nicht anerkannt.“ Zit. nach Wilhelm Röhl, Die Japanische Verfassung, Frankfurt a.M. 1963, S. 98. Zum Ende des Staatsshintō Woodard, Allied Occupation and Japanese Religions. Der für uns entscheidende Absatz 3 des Artikel 20 der Japanischen Verfassung lautet: ,,Der Staat und seine Organe haben sich der religiösen Erziehung und jeder anderen Art religiöser Betätigung zu enthalten.“ Zit. nach Röhl, Japanische Verfassung, S. 104; Art. 89 führt aus: ,,Öffentliche Geldmittel und anderes öffentliches Vermögen dürfen zur Verwendung durch religiöse Unternehmungen oder Vereinigungen, zu deren Gunsten oder Erhaltung, sowie für mildtätige, bildende oder wohltätige Werke, die nicht der öffentlichen Aufsicht unterstehen, weder ausgegeben noch zur Verfügung gestellt werden“. Zit. nach ebd., S. 139.

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tion der Vorkriegs- und Kriegszeit anknüpfen.34 Hierdurch konnten sie Horte der klassischen Deutungsangebote des modernen politischen Totenkultes (und weiterer Lehren des Staatsshintō aus der Zeit vor 1945) bleiben, auch wenn sie staatlichen Repräsentanten, nähme man das Gebot der Trennung von Staat und Religion ernst, verschlossen sind. Mit anderen Worten: Das religiöse Deutungsmuster blieb weiterhin verfügbar, durfte und darf aber durch den japanischen Staat nicht mehr offen abgerufen werden.

Die Gefallenenehrung seit 1952 Die ,,erzwungene Distanzierung“ von den traditionellen Formen des Totengedenkens durch den japanischen Staat, welche durch die skizzierten fundamentalen Verschiebungen der Rahmenbedingungen des offiziellen Gefallenenkultes notwendig wurde, machte eine Lösung von den religiös konnotierten Sinnstiftungsmustern, ihren Orten und Symbolen sowie die Entwicklung neuer, nichtreligiöser Formen der Totenehrung notwendig. Der politische Streit darüber spaltet das Land bis heute und wurde in den Jahren nach 1952 eine der zentralen Arenen der Auseinandersetzungen über den Umgang mit der Vergangenheit, über die Beziehungen insbesondere zu den ostasiatischen Nachbarn wie auch den Umgang mit den Festlegungen der Nachkriegsverfassung. Dabei sind vor allem drei große Konfliktfelder zu erkennen: erstens die symbolpolitische (und damit verknüpft die normative) Distanzierung von der imperialen Vergangenheit Japans, zweitens die Frage, an wen und an wen nicht erinnert wird, sowie drittens die Trennung von Staat und Religion und die mögliche Wiederbelebung staatsshintōistischer Riten und Praktiken durch den Staat. Die Entwicklungen blieben widersprüchlich und spannungsreich, wie im Folgenden an den Beispielen der Ehrung der vor 1945 Gefallenen und der Toten der Selbstverteidigungsstreitkräfte nach 1950 verdeutlicht werden soll.

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Bezeichnend für diese Entwicklung ist die Namensgebung der Schreine insbesondere auf der regionalen und lokalen Ebene. Während der Besatzungszeit tilgten viele gokoku jinja in ihren Namen die Bezüge zur Landesverteidigung und gaben sich unverfängliche regionale Bezeichnungen wie z. B. der Saga-ken gokoku jinja (Landesverteidigungsschrein der Präfektur Saga) in Hizen jinja (Hizen-Schrein) usw.; diese Benennungen wurden allesamt nach 1952 wieder rückgängig gemacht. Die Umbenennungspraxis ist im Einzelnen nachvollziehbar in Yasukuni jinja (Hg.), Furusato no gokoku jinja to Yasukuni jinja [Der YasukuniSchrein und die Landesverteidigungsschreine in der Heimat], Tōkyō 2007, S. 64–215.

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Die Ehrung der Gefallenen des Kaiserlichen Heeres und der Kaiserlichen Marine

Nach 1952 entwickelte der japanische Staat zunächst neue Formen des Gedenkens an die Opfer des Asiatisch-Pazifischen Krieges. Mit einem hochgradig symbolischen Akt nahmen die Verfassungsorgane am Abend vor dem InKraft-Treten des Friedensvertrages von San Francisco am 2. Mai 1952 im Beisein des Kaiserpaares die staatliche Ehrung für die Gefallenen im Shinjuku Gyoen in Tōkyō wieder auf. Die Rede des Premierministers Yoshida Shigeru bei dieser Gedenkveranstaltung demonstrierte eindrücklich, wie man künftig traditionelle Deutungsmuster soldatischen Sterbens mit den Erfordernissen der Nachkriegsordnung in Einklang zu bringen trachtete: ,,Jetzt, zu einer Zeit, da der Friedensvertrag in Kraft tritt und Japan als unabhängiger Staat wieder in die internationale Gemeinschaft zurückkehrt, führe ich die nationale Gedenkzeremonie für alle seit dem Chinesischen Zwischenfall Gefallenen durch, bete für ihre Glückseligkeit im Jenseits, möchte mein tiefes Mitgefühl für das Leid und den Schmerz der Familien der Hinterbliebenen zum Ausdruck bringen und bete, dass ein solches großes Unglück nie wieder auftritt. Wenn ich an die Menschen, die durch den Krieg gelitten haben, und an die drei Millionen Landsleute, die im Ausland festgehalten werden, denke, kann ich meine echte Trauer nicht verbergen. Alle, die im Krieg Märtyrer des Vaterlandes (sokoku ni junzerareta kakui) geworden sind, wurden durch das Opfer ihres Lebens zu ehrenwerten Fundamenten des Friedens (heiwa no ishizue), und hierdurch glaube ich ohne Zweifel an die Entwicklung eines demokratischen Japan. Heute, aus Anlass der Gedenkfeier, lasse ich meine Gedanken zu den Gefallenen schweifen, und ich bete in aller Ehrerbietung für ihre Glückseligkeit im Jenseits.“35

Zwei zentrale semantische Verschiebungen werden in diesem Text deutlich. Die Gefallenen wurden jetzt nicht mehr als ,,loyale Seelen“, die für den Kaiser ihr Leben gelassen haben, sondern als ,,Märtyrer des Vaterlandes“ erinnert, das heißt die Loyalität gegenüber dem Herrscher ist durch den Dienst für das Vaterland ersetzt, wobei Yoshida, der ,,Adenauer Japans“, paradoxerweise mit einer leichten Abänderung auf einen Begriff zurückgriff, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für Opfer der kaiserlichen Sache Verwendung gefunden hatte.36 35 36

Zit. nach Ninon izoku tsūshin Nr. 35, 05.05.1952, S. 1. Vgl. etwa auch das Schreiben ,,In Sachen der Einschreinung der für das Vaterland Märtyrer gewordenen Patrioten in den Yasukuni-Schrein“ vom Innenminister Hara Kei an Premierminister Yamamoto Gonbei vom 3. März 1914 Junkoku shishi o Yasukuni jinja e gōshi ni kansuru ken (Taishō san-nen san-gatsu mikka Naimu-shō Meiji yonjū ni shū hei dainana-gō Naimu daijin Hara Kei hatsu Naikaku sōri daijin Yamamoto Gonbei ate), in: Kokkai toshokan chōsa oyobi rippō kōsa-kyoku (Hg.), Shinpen Yasukuni mondai shiryōshū [Neue Quellensammlung zum Yasukuni-Problem], Tōkyō 2007, S. 26, online abrufbar unter: http://www.ndl.go.jp/jp/data/publication/document2007.html (13.05.2008). Hier werden die Einzuschreinenden (konkret Kämpfer für die kaiserliche Sache in der letzten

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Daneben bezeichnete Yoshida die Gefallenen als ,,Fundamente des Friedens“, wodurch ihr Tod geradezu zu einer Grundlage des Wiederaufstieges Japans in der Nachkriegsära erhoben wurde. Hierdurch gelang es, die Ehrung der Kriegstoten wieder zu beleben, sie zugleich aber mit dem Nachkriegspazifismus und der Demokratie zu versöhnen. Neben dieser Verschiebung ist bemerkenswert, dass die Gedenkveranstaltung vom Mai 1952 zwar für die Kriegsgefallenen durchgeführt wurde, aber auch anderer Opfergruppen und auch der Repatriierten aus den ehemaligen Kolonien explizit gedacht wurde. Seit Beginn der 1960er Jahre – vor dem Hintergrund des ,,Hochwirtschaftswachstums“, dem Verblassen der direkten Erinnerung an den Krieg und einem hieraus resultierenden neuen Nationalismus – etablierte sich zunehmend der Jahrestag des Kriegsendes (15. August, shūsen no hi, genaugenommen der Tag der Kaiserlichen Erklärung zum Kriegsende) als staatlicher Gedenktag für die Opfer des Krieges. Dies bedeutete eine Abkehr von den traditionellen Gedenktagen für die Gefallenen, die vor 1945 im Yasukuni an Jahrestagen wichtiger militärischer Erfolge (zwischen 1868 und 1917 des Boshin-Krieges von 1867/69, seit 1917 des Russisch-Japanischen Krieges von 1904/05) begangen worden waren, was sicherlich auch auf die Nähe des 15. August zum buddhistischen Totenfest (obon) zurückzuführen ist.37 Seit 1963 führt die japanische Regierung jährlich am 15. August eine offizielle Nationale Gedenkzeremonie für die Opfer des Krieges (Zenkoku senbotsu-sha tsuitō-shiki) durch. Sie wird vom Kaiserpaar und den Spitzen der Verfassungsorgane im Beisein mehrerer Tausend Hinterbliebener durchgeführt und hat offiziell einen nicht-religiösen Charakter – obwohl in den letzten Jahren von einer Ehrung der Seelen (tama) der Kriegsopfer gesprochen wird.38 Semantisch greifen die Vertreter der Regierung in ihren Grußworten bei dieser Gelegenheit in der Regel die Formel Yoshidas von 1952 auf und schreiben den Kriegsopfern Bedeutung als ,,Fundamente des Friedens“ zu und bezeichnen ihren Tod als Grundlage für den Aufbau eines demokratischen Japan. Zu Beginn der 1980er Jahre schließlich wurde durch rechte politische Gruppierungen die Einführung eines ,,Tages der Heldenseelen“ (eirei no hi) gefordert; die japanische Regierung nahm diese Forderung auf, verknüpfte aber erneut Gefallenenehrung mit Pazifismus, indem sie 1982 entschied, den 15. August zum ,,Tag zum Gedenken an die Kriegsgefallenen und zum Gebet für den Frieden“

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Phase der Edo-Zeit) bezeichnet als ,,kokunan ni junjitaru iwayuru kin’nō aikoku no shishi“ (,,sogenannte dem Herrscher in Loyalität ergebene und das Vaterland liebende Kämpfer, die Märtyrer [in Zeiten, T.S.] der Staatsgefährdung geworden sind“). Vgl. Keiichi Harada, Irei to tsuitō. Sensō kinen-bi kara shūsen kinen-bi e [Seelentröstung und Gedenken. Vom Gedenktag an den Krieg zum Gedenktag zum Kriegsende], in: Aiko Kuraosawa u. a. (Hg.), Sensō no seijigaku [Politikwissenschaft des Krieges], Tōkyō 2005, S. 291–316. Die Inschrift auf der Gedenkstele, vor der die Zeremonie durchgeführt wird, lautet: Zenkoku senbotsu-sha no tama [Seelen der Kriegstoten im gesamten Land].

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(Senbotsu-sha o tsuitō shi heiwa o kinen suru hi) zu erklären und als offiziellen Gedenktag einzuführen.39 Ist also auf der semantischen und symbolpolitischen Ebene der Gefallenenehrung eine deutliche (politisch und gesellschaftlich akzeptierte) Verschiebung nach 1952 zu konstatieren, entspann sich um die Frage eines angemessenen Gedenkortes eine aufschlussreiche Kontroverse. Unmittelbar nach Wiedererlangung der Souveränität 1952 hatte das japanische Parlament nach längerer Prüfung und in Anknüpfung an die Gepflogenheiten der Kriegszeit sowie unter Berücksichtigung der entsprechenden Regelungen insbesondere in den USA und Großbritannien entschieden, die sterblichen Überreste japanischer Gefallener in den Kampfgebieten zu bergen und nach Japan zu bringen. Wenn möglich, sollten diese an die Hinterbliebenen übergeben werden; da eine erhebliche Zahl jedoch namentlich nicht mehr zugeordnet oder Hinterbliebene nicht ausgemacht werden konnten, beschloss das Kabinett im Dezember 1953 die Errichtung eines ,,Grabmals des unbekannten Gefallenen“ (mumei senshi no haka).40 Die ursprüngliche Forderung, für den Standort einen Teil des Schreingeländes des Yasukuni zu nutzen, musste wegen verfassungsrechtlicher Bedenken und wohl auch aus religiösen Gründen bald fallengelassen werden. Die offizielle Geschichte des Wohlfahrtsministeriums führt hierzu kryptisch aus, der YasukuniSchrein habe auf Anfrage mitgeteilt, dass gegen eine Trennung von Grab und Schrein zur Verehrung der Seelen nichts einzuwenden sei.41 Diese Antwort muss man als Absage an eine Errichtung auf dem Schreingelände durch den Yasukuni selbst verstehen, die auf die Reinheitsgebote des Shintō zurückzuführen sein dürfte. Trotzdem wollte man auf die explizite symbolische Nähe zum Kaiserpalast und zum Yasukuni nicht verzichten, und so fiel die Wahl schließlich auf Chidorigafuchi in unmittelbarer Nachbarschaft zu beiden. Weiterhin erklärte man das Grab – inzwischen haben hier die sterblichen Überreste von mehr als 350.000 Soldaten ihre letzte Ruhestätte gefunden – wegen der verfassungsrechtlichen Vorgaben explizit zu einer nicht-religiösen Einrichtung, um an ihr staatliche Gedenkzeremonien durchführen zu können und auch Besuche ausländischer Staatsgäste oder Militärdelegationen zu ermöglichen. Seit seiner Fertigstellung – seit 1965 regelmäßig – werden hier im Frühjahr staatliche Gedenkzeremonien (hairei-shiki) im Beisein von Vertretern des Kaiserhauses und der Staatsorgane durchgeführt, und auch nichtstaatliche Organisationen wie der Hinterbliebenenverband oder auch diverse buddhistische Schulen können, 39 40

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Tanaka u. a., Izoku to sengo, S. 174–177. Vgl. für das Folgende Sven Saaler, Politics, Memory, and Public Opinion. The History Textbook Controversy and Japanese Society, München 2005, S. 101–104 und Kōsei-shō shakai, engo-kyoku engo gojū-nen-shi henshū iin-kai (Hg.), Engo goju-nen-shi [Geschichte von 50 Jahren Unterstützung], Tōkyō 1997, S. 244–250. Ebd., S. 245.

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nach Erlangung einer Genehmigung durch das für die Verwaltung der Anlage zuständige Ministerium, Gedenkzeremonien und -veranstaltungen durchführen. Chidorigafuchi scheint auf den ersten Blick ein prädestinierter Ort zu sein, um mit der Durchführung staatlicher Gedenkzeremonien für die Gefallenen auch räumlich einen Bruch mit der imperialen Vergangenheit zu vollziehen, da die Anlage – im Gegensatz etwa zum Yasukuni – weder durch eine politische oder religiöse Funktion aus der Zeit vor 1945 vorbelastet ist noch das Problem der Trennung von Staat und Religion berührt. Diese räumliche Distanzierung wurde aber explizit nicht vollzogen. Seit seiner Gründung legen die politischen und gesellschaftlichen Unterstützer des Yasukuni (insbesondere die rechten Kreise in der Regierungspartei LDP und konservative Organisationen wie der Hinterbliebenenverband oder die ,,Kameradenvereinigung“ Sen’yū-kai) ihr Augenmerk darauf, eine mögliche und gefürchtete Aufwertung Chidorigafuchis zu einer gesellschaftlich allseits akzeptierten nationalen Gedenkstätte für die Opfer des Krieges zu verhindern. Dabei wird von den Gegnern gerade das Fehlen eines religiösen Bezuges ins Feld geführt; ein weiteres Defizit bestehe darin, dass in Chidorigafuchi nur der Opfer seit dem ,,Chinesischen Zwischenfall“ (Shina jihen, d.h. dem Zweiten Chinesisch-Japanischen Krieg 1937–1945) gedacht werde, während der Yasukuni auch der Seelen der Märtyrer seit der Öffnung des Landes in der Mitte des 19. Jahrhunderts gedenke. Statt dessen versuchten konservative Akteure 1964 – in expliziter Konkurrenz zu Chidorigafuchi –, die neuen staatlichen Gedenkformen schrittweise mit den Orten und Symbolen des Totengedenkens aus der Zeit vor 1945 zu verschränken, indem man die Nationale Gedenkzeremonie für die Opfer des Krieges in einem Zelt auf dem Gelände des Yasukuni abhielt. Als dies heftige Proteste auslöste – problematisiert wurde erneut vor allem die Trennung von Staat und Religion – verlegte man im Folgejahr den Ort nochmals; seitdem finden die jährlichen Gedenkzeremonien am Mittag des 15. August im Nihon Budō-kan statt, nur wenige Meter vom Yasukuni entfernt und damit bewusst in seiner unmittelbaren Nähe.42 Einerseits etablierten also der japanische Staat und die ihn tragenden konservativen Eliten neue Formen des Gedenkens. Andererseits existiert der klassische religiöse Gefallenenkult aus der Zeit vor 1945 (und mit ihm eng verknüpft eine affirmative Deutung der Vergangenheit) nicht nur im Yasukuni-Schrein fort. Er wurde nach dem Ende der Besatzungszeit auch in weiten Teilen wiederbelebt. Davon zeugen etwa die Rückbenennungen ehemaliger ,,Landesverteidigungsschreine“, die sich während der Besatzungszeit nicht selten unverfängliche Namen gegeben hatten, um dem Demilitarisierungsgebot der Amerikaner zu entsprechen, und davon zeugen auf der lokalen Ebene die Wiedererrichtung zahlreicher ,,Stelen der loyalen Seelen“ und die Durchführung religiöser Riten.43 42 43

Ebd., S. 253. Zur Geschichte des Yasukuni in der Nachkriegszeit vgl. Nobumasa Tanaka, Yasukuni no

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Diese Auferstehung fand breite gesellschaftliche und politische Unterstützung, auf höchster politischer Ebene wiederholt auch durch die Regierung. Immer wieder wurde dabei die Verfassung ignoriert. Hiervon zeugen zahlreiche Beispiele der offenen oder verdeckten (Teil-)Finanzierung der öffentlichen Hand bei der Errichtung oder Verlagerung von Denkmälern oder dem Abhalten religiöser Zeremonien sowie die Anwesenheit öffentlicher Repräsentanten bei entsprechenden Veranstaltungen. Im Zentrum der hohen nationalen wie internationalen Aufmerksamkeit steht ohne Frage der Yasukuni-Schrein selbst. Für ihn sind bis heute, trotz seines juristischen Status als religiöser Körperschaft, die engen Verschränkungen mit dem japanischen Staat charakteristisch. Wichtigste Beispiele hierfür, auf die im Folgenden nicht detailliert eingegangen werden kann, sind die offiziellen Besuche etwa des Kaiserpaares oder von hochrangigen Vertretern des Staates, allen voran des Premierministers.44 Aber auch die Absolventen der Universität der Selbstverteidigungsstreitkräfte besuchen jährlich aus Anlass ihres Abschlusses den Schrein. Die Verbindung von Staat und Religion manifestiert sich auch darin, dass wie bis 1945 bei wichtigen Festen und Zeremonien ein spezieller Gesandter des Kaisers – nach der Verfassung des Symbols des japanischen Volkes – anwesend ist, der Opfergaben überbringt und religiöse Zeremonien durchführt. Das Wohlfahrtsministerium etwa wirkt indirekt an den Einschreinungen in den Yasukuni mit, da es ihm die Namen der Kriegsgefallenen und ihrer Hinterbliebenen und weitere Informationen wie den Ort und Zeitpunkt des Todes oder die Adressen übermittelt.45 Parallel zur Etablierung der staatlichen Gedenkzeremonien Mitte der 1960er Jahre gab es sogar eine landesweite Bewegung zur (Rück-)Überführung des Yasukuni in staatliche Obhut (Yasukuni kokka goji undō),46 die von der Regierungspartei LDP unterstützt wurde und mehrfach im

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sengo-shi [Nachkriegsgeschichte des Yasukuni], Tōkyō 2002; Akazawa Shirō, Yasukuni jinja. Semegiau ,senbotsu-sha tsuitō‘ no yukue [Der Yasukuni-Schrein. Die Zukunft der umstrittenen ,,Trauer um Gefallene“], Tōkyō 2005. Siehe zu den offiziellen Besuchen der Premierminister am Schrein Hardacre, Shintō and the State, S. 150–153; Sonderheft Jurisuto (Yasukuni jinja kōshiki sanpai [Die offiziellen Besuche am Yasukuni-Schrein]) 848 (1985); zu den Besuchen Premierminister Koizumis Philipp Seaton, Pledge Fulfilled. Prime Minister Koizumi, Yasukuni, and the Japanese Media, in: Breen, Yasukuni, S. 163–188; die konservative Sichtweise belegt eindrücklich Tadashi Itagaki, Yasukuni kōshiki sanpai no sōkatsu [Zusammenfassende Betrachtung zum offiziellen Besuch am Yasukuni], Tōkyō 2003. Das Wohlfahrtsministerium (inzwischen Ministerium für Wohlfahrt und Arbeit) prüft die Anerkennung als Kriegsgefallener oder als ,,im öffentlichen Dienst umgekommene Person“ als Voraussetzung für die Zahlung von Pensionen. Nach erfolgreicher Prüfung werden die Namen dem Yasukuni übermittelt. Siehe hierzu ausführlich: Kokuritsu kokkai tosho-kan (Hg.), Shinpen Yasukuni mondai, S. 192–336. Shigenori Nishikawa, Yasukuni jinja hōan no tenbō [Überblick über den Gesetzentwurf zum Yasukuni-Schrein], Tōkyō 1976; eine ausgewählte Übersetzung wichtiger Quellen in

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Parlament entsprechende Gesetzesinitiativen einbrachte, um die Sonderbeziehung des Schreines zum Staat auch juristisch zu sanktionieren. Internationale Aufmerksamkeit erhalten die Besuche japanischer Premierminister am Yasukuni schließlich deshalb, weil auch durch die alliierten Militärtribunale nach 1945 zum Tode verurteilte oder in der Haft verstorbene Kriegsverbrecher in den Schrein eingeschreint wurden und verehrt werden. Weit weniger ist aber bekannt, dass sich diese Ehrung nicht nur auf den Yasukuni oder weitere nichtstaatliche Gedenkstätten beschränkt, sondern dass sie auch durch den japanischen Staat selbst geehrt werden. Zwar hatte sich Japan im Artikel 11 des Friedensvertrages von San Francisco verpflichtet, die Urteilssprüche gegen Kriegsverbrecher anzuerkennen, doch wurden sie nach 1952 – zunächst nur die Kriegsverbrecher der Kategorien B und C, später auch diejenigen der Kategorie A – als ,,im Dienst Umgekommene“ oder ,,Märtyrer des Dienstes“ (junshoku-sha) faktisch allen anderen Kriegsgefallenen gleichgestellt und ihre Hinterbliebenen kamen in den Genuss gleicher Rechte wie etwa den Anspruch auf Hinterbliebenenpensionen. Dies war jedoch nicht nur Voraussetzung für die Einschreinung in den Yasukuni; sie wurden auch explizit in den Kreis der Kriegsopfer mit einbezogen, welcher der Staat in der zentralen Gedenkfeier am 15. August jedes Jahres, der Zenkoku senbotsu-sha tsuitō-shiki, gedenkt, und ihre Hinterbliebenen zu diesen Veranstaltungen eingeladen.47 Seit einigen Jahren wird in der japanischen Politik und Öffentlichkeit diskutiert, die Kriegsverbrecher der Kategorie A aus dem Yasukuni auszuschreinen, um Besuche des Tennō beim Schrein zu ermöglichen; kaum jemand stört sich jedoch daran, dass diese Ehrung bei der offiziellen staatlichen Gedenkzeremonie bereits seit Jahrzehnten durchgeführt wird. Auch dies veranschaulicht einmal mehr, wie stark der Yasukuni nach wie vor die öffentliche Wahrnehmung der Gefallenenehrung in Japan dominiert. In den letzten Jahren ist um den Yasukuni schließlich ein weiteres Konfliktfeld entstanden: der Streit um die Ausschreinung.48 Forderungen der Angehörigen,

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Ernst Lokowandt (Hg.), Zum Verhältnis von Staat und Shintō im heutigen Japan. Eine Materialsammlung, Wiesbaden 1981, S. 173–198; aus der Perspektive des Hinterbliebenenverbandes, eines der wichtigsten gesellschaftlichen Unterstützer dieser Bewegung: Nippon izoku-kai, Eirei to tomo ni sanjū-nen. Yasukuni jinja kokka goji undō no ayumi [Dreißig Jahre an der Seite der Heldenseelen], Tōkyō 1976. Vgl. die Aussage des Ministeriums für Wohlfahrt und Arbeit am 1. Februar 2002, in: Zusammengefasstes Protokoll der 2. Sitzung der Tsuitō, heiwa kinen no tame no kinen-hi shisetsu nado no arikata o kangaeru kondan-kai, http://www.kantei.go.jp/jp/singi/tuitou/ dai2/2gijiyousi.html (23.02.2009). Zu den juristischen Auseinandersetzungen um die Trennung von Staat und Shintō allgemein vgl. Ernst Lokowandt, Zum Verhältnis von Staat und Shintō im heutigen Japan. Eine Materialsammlung, Wiesbaden 1981; David O. O’Brien / unter Mitarbeit von Yasuo Ohkoshi, To Dream of Dreams. Religious Freedom and Constitutional Politics in Postwar Japan, Honolulu 1996; Nobumasa Tanaka, Dokyumento Yasukuni soshō. Senshi-sha no kioku wa

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Abbildung 5: Der Chinrei-sha auf dem Gelände des YasukuniSchreines, Tōkyō (Foto: Tino Schölz).

die Seelen ihrer Verwandten aus dem Pantheon des Yasukuni zu entlassen, werden inzwischen sowohl von Nachfahren japanischer als auch von aus Korea oder Taiwan stammenden Gefallenen der Kaiserlichen Streitkräfte, die während des Krieges teilweise zwangsweise rekrutiert worden waren, oder von Vertretern ethnischen Minderheiten innerhalb Japans (Bewohner Okinawas, Ainu) erhoben und beschäftigen – freilich aus Sicht der Kläger bisher erfolglos – japanische Gerichte. Ausschreinungen werden vom Yasukuni-Schrein selbst vehement abgelehnt, lediglich eine Löschung aus dem Namensregister wurde im Frühjahr 2009 angeboten, die aber die Apotheose der Gefallenen nicht rückgängig machen würde. Ähnliche Forderungen dürften bald auch in Bezug auf den Chinreisha erhoben werden. Dieser kleine Schrein zur Besänftigung der Seelen (chinrei) ,,all jener japanischer wie ausländischer Opfer, deren im Hauptschrein [des Yasukuni] nicht gedacht wird“, wurde 1965 nur wenige Meter neben demselben errichtet (Abb. 5).49 Er ist in der Öffentlichkeit bisher wenig bekannt und in seinem religiösen Gehalt schwierig zu bestimmen. Seine Funktion lässt sich am ehesten so beschreiben, dass er der Besänftigung von Rache- oder Zorngeis-

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dare no mono ka [Dokumentation der Yasukuni-Prozesse. Wem gehört die Erinnerung an die Kriegsgefallenen?], Tōkyō 2007. Siehe den offiziellen Schreinführer Yasukuni jinja (Hg.), Shin Yōkoso Yasukuni jinja e [Willkommen im Yasukuni-Schrein. Neue Auflage], Tōkyō 2007, S. 29.

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tern (vgl. oben S. 306) dient, wobei er zugleich die Möglichkeit bot, jener als Kriegsverbrecher Hingerichteter zu gedenken, deren Einschreinung in den Yasukuni Mitte der 1960er Jahre noch nicht vollzogen werden konnte.50 Die vorgestellten Beispiele verdeutlichen, dass das Verhältnis des japanischen Staates (wie auch der Öffentlichkeit) nach Wiedererlangung der Souveränität zu den Deutungsangeboten des Gefallenenkultes, zur normativen Distanzierung von der Vergangenheit und auch zur Trennung von Staat und Religion in einer Grauzone verblieb – widersprüchlich und spannungsreich. Die hohe symbolische Aufladung des Themas dürfte auch in naher Zukunft verhindern, dass Japan eine im In- wie Ausland akzeptierte Form des Gefallenengedenkens entwickelt.

Die Ehrung der Toten der Selbstverteidigungsstreitkräfte

Ähnlich widerspruchsvoll gestaltete sich der Umgang mit den Toten der Selbstverteidigungsstreitkräfte (jieitai). Diese waren vor dem Hintergrund der Eskalation des Koreakrieges – politisch umstritten und juristisch fragwürdig – 1950 zunächst als Nationale Polizeireserve gegründet und dann schrittweise zu den Selbstverteidigungsstreitkräften weiterentwickelt worden. Die strikte Begrenzung auf die Landesverteidigung und seit den 1990er Jahren auf friedenserhaltende Maßnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen (zunächst durch Polizeikräfte, seit der Operation ,,Enduring freedom“ auch der Selbstverteidigungsstreitkräfte) führte dazu, dass Japan bis heute selbst beim Einsatz im Irak keine Tote bei Kampfeinsätzen, sondern lediglich bei Unfällen bzw. Suizidopfer zu beklagen hat. Während sich, wie oben gezeigt, der japanische Staat sofort nach 1952 bemühte, parallel zu den traditionellen Formen des Totengedenkens neue Elemente zu etablieren, sind entsprechende staatliche Tendenzen für die Toten der jieitai – d.h. der Soldaten des demokratischen japanischen Staates der Gegenwart – zunächst nicht zu konstatieren. Umso bemerkenswerter ist es, dass zwischen 1952 und 1988 in 15 Präfekturen von den insgesamt ca. 1.700 Toten der Selbstverteidigungsstreitkräfte nachweislich mindestens 465 in die jeweiligen ,,Landesverteidigungsschreine“ (gokoku jinja), die bis 1945 als regionale Filialen des Yasukuni fungiert hatten und bis heute zu diesem engste Verbindungen unterhalten, mit nur geringfügig abgeänderten Zeremonien eingeschreint wurden und dort als ,,Götter der Landesverteidigung“ (gokoku no kami) verehrt werden. Damit werden sie faktisch den Kriegsgefallenen aus der Zeit vor 1945 gleichgestellt. In der Erinnerung knüpfte man also direkt an den 50

Ikuhiko Hata, Yasukuni jinja no saijin-tachi [Die Götter des Yasukuni-Schreines], Tōkyō 2010, S. 247–251.

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religiös-militärischen Totenkult aus der Vorkriegs- und Kriegszeit an.51 Zwar wurden besagte Einschreinungen nicht durch staatliche Organe, sondern in der Regel durch Hinterbliebenenvereinigungen und die quasi regierungsamtlichen regionalen Veteranenverbände (taiyū-kai) veranlasst, doch konnten sie hierbei auch explizit von den Selbstverteidigungsstreitkräften unterstützt werden. Auch diese Form der Totenehrung beschäftigte, wie schon im Falle diverser Klagen um den Yasukuni-Schrein, die Gerichte, die zu beurteilen hatten, inwieweit es sich bei den Einschreinungen um einen Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte individuelle Glaubensfreiheit sowie um einen Bruch des Verfassungsgebotes der Trennung von Staat und Religion handele. Auch wenn im Falle des Verfahrens um die Einschreinung von Nakaya Takafumi 1988 höchstrichterlich die Klage abgewiesen wurde, sensibilisierte sie doch die Selbstverteidigungsstreitkräfte in Bezug auf mögliche religiöse Konnotationen der Gefallenenehrung. Entsprechend wurde es 1974 Angehörigen der jieitai untersagt, an der religiösen Verehrung toter Soldaten in Schreinen aktiv mitzuwirken.52 Seit der Beteiligung an friedenserhaltenden Maßnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen in den 1990er Jahren steht auch in Japan das Problem einer angemessenen Repräsentation der inzwischen über 1.700 Toten der Selbstverteidigungsstreitkräfte – sei es in Form von Gedenkzeremonien, sei es in Form eines Denkmals – erneut auf der politischen Tagesordnung. Kontrovers diskutiert wird seit einigen Jahren die Errichtung einer dezidiert weltlichen nationalen Gedenkstätte, die allerdings wegen eines möglichen Bedeutungsverlustes des Yasukuni auf heftigen Widerstand der rechten Kreise der Regierungspartei LDP und konservativer Organisationen wie dem Hinterbliebenenverband trifft. Auch wenn 2003 ein Ausschuss am Amt des Ministerpräsidenten die Einrichtung einer solchen Gedenkstätte als wünschenswert bezeichnete, ist an eine Realisierung in naher Zukunft nicht zu denken. Eine Zwischenlösung wurde im Jahre 2003 mit der Errichtung einer ,,Zone der Stele zur Seelentröstung von im Dienst ums Leben gekommenen Angehörigen 51

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Die Einschreinungen der Toten der Selbstverteidigungsstreitkräfte in die Landesverteidigungsschreine sind bisher kaum dokumentiert. Landesweite Aufmerksamkeit erreichte lediglich die Einschreinung von Nakaya Takafumi, der 1972 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam und dessen Witwe (eine Christin) sich erfolglos gegen die gōshi-Zeremonie im Landesverteidigungsschrein von Yamaguchi bis 1988 juristisch zur Wehr zu setzen suchte. Vgl. zu diesem Fall O’Brien, To Dream of Dreams, S. 142–203. Vgl. den entsprechenden Erlass des Verteidigungsamtes Bō-jin 1 Nr. 5091 vom 19. November 1974: Shōwa yonjū kyū-nen jūichi-gatsu jūku-nichi Bō-jin ichi dai-gosen kyūjū ichigō Bōei-chō jimu jikan kara kaku Bakuryō-chō, Tōgō bakuryō kaigi gichō, Fuzoku kikan no chō, Bōei shisetsu-chō chōkan ate tsūtatsu, in: Kokkai toshokan chōsa oyobi rippō kōsa-kyoku (Hg.), Yasukuni mondai shiryō-shū [Quellensammlung zum Yasukuni-Problem], Tōkyō 1976, S. 226.

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Abbildung 6: Die Stele zur Seelentröstung von im Dienst ums Leben gekommenen Angehörigen der Selbstverteidigungsstreitkräfte, Tōkyō (Foto: Tino Schölz).

der Selbstverteidigungsstreitkräfte“ (Jieitai junshoku-sha irei-hi chiku, ins Englische etwas sinnentstellend in Memorial Zone übersetzt) auf dem Gelände des inzwischen zum Ministerium erhobenen Verteidigungsamtes in Ichigaya gefunden (Abb. 6). Im Zentrum der Anlage befindet sich eine ,,Stele zur Seelentröstung“, die bereits 1980 durch Angehörige der Selbstverteidigungsstreitkräfte privat gestiftet worden war und nun in die neue Anlage transferiert und integriert wurde. Die Reden, welche anlässlich der Einweihungszeremonie dieser Anlage im Jahre 2003 vor Hinterbliebenen gehalten wurden, bringen die Deutungsangebote des japanischen Staates zwischen säkularer Sinnstiftung und religiöser Konnotation klar zum Ausdruck. So formulierte etwa der Leiter des Amtes der Selbstverteidigungsstreitkräfte: ,,Die jieitai haben seit ihrer Gründung im Jahre Shōwa 29 [1954] die erhabene Pflicht erfüllt, den Frieden und die Unabhängigkeit unseres Landes zu verteidigen und die Sicherheit des Landes zu bewahren. Heute werden ihre Aufgaben durch die Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus oder internationale friedenssichernde Maßnahmen usw. immer komplexer, und auch wir leisten einen großen Beitrag für die Bewahrung von Sicherheit und Frieden der internationalen Gemeinschaft, der unser Land angehört. Dies war nur möglich, weil jedem einzelnen Angehörigen der jieitai diese Mission klar vor Augen steht und er diese Mission mit Selbstbewusstsein und Stolz und aller Kraft erfüllt hat. Vor diesem Hintergrund ist unvergesslich, dass es das ehrenvolle Opfer von Angehörigen der Selbstverteidigungsstreitkräfte

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Abbildung 7: Ehemaliges Schreingebäude des Yūken jinja (Foto: Tino Schölz). gab, die leider ohne ihr Ziel zu erreichen Märtyrer ihres Berufes (Opfer ihrer Pflicht) wurden. Dieser irei-hi [die Stele zur Seelentröstung] wurde Shōwa 55 [1980] durch Spenden der Soldaten errichtet, um die ruhmvollen Taten der zu Märtyrern ihres Berufes Gewordenen auf ewig zu verherrlichen (kenshō) und tiefe Ehrfurcht und Trauer zum Ausdruck zu bringen. Wie Sie sehen, formen die beiden Steine links und rechts die Gestalt des heiligen Berges Fuji, und bis jetzt werden hier 1726 ,Pfeiler‘ (hashira, Zählwort für Götter, i.e. Gefallene) verehrt.“53

Einerseits folgt man auch im Falle der Toten der Selbstverteidigungsstreitkräfte der für die Kriegsgefallenen geltenden semantischen Verschiebung hin zur Betonung des Friedens sowie der internationalen Verantwortung. Zudem werden die militärischen Toten vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich problematischen Existenz von Streitkräften und der Tatsache, dass Japan bisher keine Opfer von Kampfeinsätzen, sondern lediglich Opfer von Unfällen oder Suizidopfer zu beklagen hat, nicht explizit als Gefallene erinnert, sondern letztlich in eine Reihe mit anderen Angehörigen des öffentlichen Dienstes gestellt, die in Ausübung ihres Dienstes ihr Leben ließen (was etwa die Bezeichnung junshoku-sha verdeutlicht). Insofern sind für Japan Dynamisierungen der Gefallenenehrung, wie sie etwa in der Bundesrepublik durch Kampfeinsätze im Ausland zu beobachten sind, bisher nicht zu konstatieren. 53

Zit. nach Tetsuya Takahashi, Kokka to gisei [Staat und Opfer], Tōkyō 2005, S. 49.

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Andererseits sind offene religiöse Bezüge nicht zu übersehen. So findet etwa das religiöse Konzept der Seelentröstung (irei) Verwendung, und Tote werden als ,,Pfeiler“ (hashira) bezeichnet. Hierbei handelt es sich um ein Zählwort für Götter, das auch vom Yasukuni für Kriegsgefallene benutzt wird. Schließlich wurde für den Bau der neuen Anlage innerhalb des Geländes des Verteidigungsamtes bewusst jene Stelle ausgewählt, an der vor dem Krieg der Schrein zur Verehrung der gefallenen Absolventen der ehemals an diesem Ort befindlichen Schule für Offiziersanwärter des Heeres (Yūken jinja) stand, und auch das ehemalige Schreingebäude, in dem noch immer Opfergaben dargebracht werden, wurde in die Anlage integriert (Abb. 7). Auch hier verschränkt sich also eine säkulare Sinnstiftung mit religiösen Konzepten und Orten.

Ausblick Auch zwei Generationen nach Kriegsende ist es Japan nicht gelungen, eine über alle politischen Lager hinweg sowie auch durch das Ausland akzeptierte Form des Gedenkens an die Toten seiner Kriege zu entwickeln; stattdessen ist Gefallenenehrung bis heute ein Streitpunkt, der in die allgemeine Auseinandersetzung um die Deutung der jüngeren Vergangenheit Japans eingebettet ist. Dabei ist sowohl die Frage, wer (und wer nicht) erinnert wird, als auch die Frage, in welcher Form der Toten zu gedenken sei, hochgradig konflikthaft. Die von den konservativen Eliten des Landes und die sie stützenden gesellschaftlichen Gruppen getragene Politik des japanischen Staates, alle verurteilten Kriegsverbrecher in den Kreis der zu Ehrenden aufzunehmen und ihren Tod auf dem Schafott oder im Gefängnis dem Tod von Soldaten auf dem Schlachtfeld gleichzustellen – während man etwa zivile Opfer im Inland wie die Bombenopfer des AsiatischPazifischen Krieges oder die zivilen Opfer der Schlacht um Okinawa zwar ehrt, sie aber von finanzieller Entschädigung ausschließt – wird notwendig immer als Versuch gewertet werden, Japans imperiale und kriegerische Vergangenheit ex post affirmativ anzuerkennen und zu legitimieren. Das stößt sowohl im Inland als auch bei den ehemaligen Kriegsgegnern und den von Japan kolonialisierten Ländern auf Widerstand. Gleiches gilt für die Form der Totenehrung: Solange sie in der dargestellten widersprüchlichen Gemengelage aus traditionellen und modernen Deutungsmustern sowie aus religiösen und säkularen Sinnzuschreibungen verbleibt, wird sie geradezu Sinnbild des ambivalenten Verhältnisses Japans einerseits zu seiner Vergangenheit vor 1945, andererseits aber auch zum in den Jahren nach 1945 etablierten politischen System mit den Grundpfeilern Frieden und Demokratie und seinen in der Verfassung niedergelegten Grundsätzen bleiben. Die für beide Konfliktfelder zu konstatierende enorm hohe Politisierung des Problems aber dürfte auch in naher Zukunft eine interessen- und lagerübergreifende, im In- wie Ausland akzeptierte Lösung verhindern.

Kanada Jonathan F. Vance

Stahl und Stein, Fleisch und Blut Die Kontinuität des Kriegstotengedenkens In der Stadt Lindsay in Mittelontario steht ein prächtiger Bronzesoldat auf dem örtlichen Kriegsdenkmal, der Mantel hängt locker um seine Schultern, mit dem Ellbogen stützt er sich auf sein Gewehr und der Stahlhelm hängt von der umgedrehten Schulterstütze. Unter ihm, auf dem Sockel des Denkmals, beschützen die Schwinge eines Albatros die Namen von 110 Männern aus der Stadt, die während des Ersten Weltkrieges fielen. Schaut man auf das Denkmal, dann kann man leicht die Steinplatte übersehen, die aus dem Fundament herausragt. Darin eingemeißelt sind die Namen von 58 Männern aus Lindsay, die während des Zweiten Weltkrieges starben. Das Denkmal in Lindsay ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Zum Einen spiegelt die Tatsache, dass die Stadt im Ersten Weltkrieg beinahe doppelt so viele junge Männer verlor wie im Zweiten Weltkrieg das nationale Geschehen wider. Im Kern zeigt das Denkmal, in welchem Maße die Toten des Ersten Weltkrieges Kanadas kollektive Erinnerung an Krieg im 20. Jahrhundert dominierten. Diejenigen, die zwischen 1939 und 1945 ihr Leben gaben, standen immer im Schatten der Soldaten, die im Krieg ihrer Väter starben, genau wie die 58 Namen auf der Steinplatte klein erscheinen gegenüber den 110 Namen auf dem Sockel über ihnen. Dennoch unterschied sich Kanadas kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg nicht sehr von der an den Ersten. Sie war nicht so umfassend – Erinnerungen an die Toten im Krieg waren in den 1950er Jahren nicht so allgegenwärtig wie zwischen 1920 und 1930 – doch die Themen und Symbole, die verwendet wurden, um die Tragödie von Flandern zu begreifen, wurden erneut eingesetzt, um Hongkong, Dieppe und die Normandie zu verstehen.1 Die Erinnerung nach 1945 unterschied sich nur in Einem von der nach 1918: in der Debatte, wie man den gefallenen Soldaten am besten ein Denkmal setzt. Mit einer neuen Genera1

Im Dezember 1941 wurde eine kanadische Streitmacht von etwa 2000 Männern, die zur Verteidigung Hongkongs entsandt worden war, in einem japanischen Angriff ausgelöscht, wobei die gesamte Streitmacht entweder getötet oder gefangen genommen wurde. Im August 1942 war der Ferienort Dieppe an der französischen Küste Ziel einer anglo-kanadischen ,,Truppenaufklärung“, an der 6000 Mann beteiligt waren. Mehr als 60 % der Angriffskräfte, die Mehrzahl von ihnen Kanadier, wurden getötet oder gefangen genommen.

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Jonathan F. Vance Abbildung 1: Die von dem deutschstämmigen Bildhauer Emanuel Hahn geschaffene Figur auf dem Kriegsdenkmal in Lindsay, Ontario (Foto: J. Peter Vance).

tion von Kriegstoten reagierte man auf neue Weise auf die Herausforderung des Gedenkens.

Das Vermächtnis des Ersten Weltkriegs Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah sich Kanada an erster Stelle unter den britischen Herrschaftsgebieten. Im 16. Jahrhundert ließen sich zuerst kleine Gruppen französischer und britischer Händler nieder und während des Siebenjährigen Krieges ging 1760 die Ansammlung kleiner und nicht besonders profitabler Kolonien im Norden Nordamerikas an das Britische Weltreich. Vier dieser Kolonien vereinigten sich 1867 zum Dominion of Canada, dem in späteren Jahren andere beitraten. Im Jahre 1914 erstreckte sich das Land vom Atlantik bis zum Pazifik und zum Arktischen Ozean, ein aufstrebendes, junges Land mit sieben Millionen Einwohnern. Und sie waren stolz – stolz auf ihre Verbindung zum Bri-

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Abbildung 2: Die Ehrentafel des Kriegsdenkmals in Lindsay, Ontario (Foto: J. Peter Vance).

tischen Weltreich, stolz auf ihre scheinbar unbegrenzten natürlichen Ressourcen und stolz darauf, dass sie mehrfach Gruppen plündernder Eindringlinge aus den Vereinigten Staaten zurückgeschlagen hatten. Sie sahen sich selbst als ein unmilitärisches Volk, aber Krieg und Soldatentum waren immer Teil der Geschichte dieses Landes. Doch der Erste Weltkrieg war völlig ohne Beispiel. Ein paar tausend Kanadier hatten sich gemeldet, um 1899 gegen die Buren in Südafrika zu kämpfen, doch nie zuvor hatte das Land eine große Armee für einen Überseeeinsatz aufgestellt. Das erste Kontingent von 30.000 Mann brach im Oktober 1914 von Kanada nach Europa auf. Bis zum Ende des Krieges hatten sich 700.000 Kanadier freiwillig zum Dienst gemeldet oder waren eingezogen worden.2 Sie bewährten sich 2

Die einzige zuverlässige existierende Statistik bezieht sich auf die kanadischen Expeditionsstreitkräfte (CEF), in denen 619.636 Männer und Frauen dienten. Oberst G.W.L. Nicholson, Canadian Expeditionary Force, 1914–1919. Official History of the Canadian Army in the

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in der Schlacht und das Kanadische Korps, eine starker Verband bestehend aus vier verstärkten Divisionen, wurde als Stoßtrupp des Britischen Heeres bekannt. Eine Generation später wiederholte sich alles. Kanada reagierte im September 1939 ebenso schnell wie fünfundzwanzig Jahre zuvor, und zum Ende des Krieges hatten mehr als 1,1 Millionen Männer und Frauen in Uniform gedient, bei einer Bevölkerung von etwa elf Millionen.3 1945 war das Land, das mit einer kläglich kleinen Armee in den Krieg eingetreten war, zu einer Supermacht geworden, die über die viertgrößte Luftwaffe und die drittgrößte Marine der Welt verfügte. Doch der Preis war hoch: 70.000 Tote im Ersten Weltkrieg und über 42.000 im Zweiten.4 Und der Unterschied ist größer als es den Anschein hat. 1914 war Kanada jung und ein wenig naiv; der Verlust so vieler junger Leute im ersten großen Krieg des Landes war ein tiefer psychischer Schock. Doch 1939 war das Land älter, erfahrener und durch ein Jahrzehnt der Depression abgehärtet; da war wenig zu spüren vom blauäugigen Enthusiasmus und der Naivität aus dem Jahre 1914. Es steht außer Frage, dass 42.000 Tote ein hoher Preis waren, allerdings waren Bevölkerung und Militär bedeutend größer und sie kamen aus einem Land, dem der Tod im Krieg allzu vertraut war. Unter diesen Umständen überrascht es wenig, dass der Erste Weltkrieg weiterhin einen solch starken Einfluss auf das kollektive Gedächtnis ausübte. Dennoch ist es bemerkenswert in welchem Maße die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg derer an den Ersten ähnelt, eine Tatsache, die Beobachtern nicht entgangen ist. 1942 schrieb F.R. Scott, ein Rechtswissenschaftler aus Quebec, dessen Bruder 1916 gefallen und dessen Vater der leitende Militärgeistliche des Kanadischen Expeditionskorps [CEF] war, verbittert, dass sich seit 1918 wenig geändert habe. In einem Kommentar zu einer Anthologie der Poesie des Zweiten Weltkrieges beklagte er, dass ,,diese kanadischen Schriftsteller eine Ahnung bevorstehender Veränderungen und eine neue Sicht auf die gegenwärtige Welt

3

4

First World War, Ottawa 1962, Anhang C, I schätzt, dass 70.000 Kanadier in andere Verbände einberufen wurden, wie das Königliche Fliegerkorps (Royal Flying Corps), die KöniglichKanadische Marine (Royal Canadian Navy), die Britische Armee (British Army und Einheiten der nicht ständig aktiven Miliz Kanadas (Canada’s Non-Permanent Active Militia). Die verlässigsten Zahlen findet man in: Jack Lawrence Granatstein/Peter Neary (Hg.), The Good Fight. Canadians and World War II, Toronto 1995, Anhang B. Auch diese Zahlen beinhalten nicht Kanadier, die außerhalb der kanadischen Streitkräfte dienten, deren Zahl sich auf 50.000 belaufen könnte. Nicholson, Canadian Expeditionary Force, gibt an, dass die CEF im Ersten Weltkrieg 59.544 Todesopfer zu beklagen hatte und ich schätze, dass weitere 10.000 Kanadier starben, die außerhalb der CEF dienten. Granatstein/Neary, The Good Fight, gaben die Zahl von 42.043 Todesopfern an, die die kanadischen Streitkräfte im Zweiten Weltkrieg erlitten.

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völlig vermissen lassen. Urteilt man nach diesem Band, dann hat sich im Bereich der Poesie bzw. der Politik nichts geändert.“5 Scott hätte wahrscheinlich zugegeben, dass sich auch im weiteren Bereich der kollektiven Erinnerung sehr wenig geändert hat. Nach dem Ersten Weltkrieg haben die Kanadier sowohl bewusst als auch unbewusst eine Erinnerung entwickelt, die Nützlichkeit und Nächstenliebe betonte. Der Krieg wurde nur geführt, um Christentum, Freiheit und Nächstenliebe vor einem deutschen dunklen Zeitalter zu bewahren. Die Bedeutung des Todes im Krieg wurde wichtiger als die Verluste. Die Schrecken der Westfront wurden beschönigt, indem Deutungen im Mittelpunkt standen, die den Krieg in deutlich positiveres Licht setzten: Vergleich der Soldaten mit Christus, das Geschenk der Kameradschaft in den Schützengräben, die traditionellen kämpferischen Werte, die die Soldaten des 20. Jahrhundert mit den Rittern des Mittelalters gemein hatten, Kanadas Soldaten als Personifizierung der Nation, Schlacht als Raffineriefeuer, das einen besseren Menschen hervorbringt, Krieg als Erfahrung der Staatenbildung, die Trennung nach Klasse, Religion, Ethnie und Region überwindet. Diese Deutung durchdrang alle Aspekte der kanadischen Gesellschaft, von Literatur, Kunst und Musik über Werbung und Konsumgüter bis hin zu Kriegsdenkmälern und Gedenkritualen sowie Veteranenorganisationen und Schulen. Doch die Erinnerung wurde nicht von oben gestaltet und dem Land als Mittel der sozialen Kontrolle übergestülpt, wie man meinen könnte. Sie bildete sich in tausenden kanadischen Gemeinden heraus als ein Mittel, um Trost zu spenden und den unfassbar scheinenden Verlust zu erklären.6

Erinnerung an die Toten des Zweiten Weltkriegs Während und nach dem Zweiten Weltkrieg waren Kanadas gefallene Soldaten genauso im kollektiven Gedächtnis präsent, wie dies auch während und nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war. Genau wie die Kanadier in den Jahren zwischen 1910 und 1919 auf das viktorianische Zeitalter zurückblickten, um einen Bezugsrahmen zu finden, der es ihnen ermöglichte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen, ließen sich die Kanadier in den vierziger Jahren von dieser Dekade inspirieren. In der Vergangenheit fanden sie Themen und Arten des Gedenkens, die sich leicht aktualisieren ließen, indem man kaum mehr als die Ortsnamen änderte und selbst dies war nicht immer notwendig. Paul Fussell argumentierte, dass große Worte, die Euphemismen, die die schrecklichen und profanen Elemen5 6

Francis Reginals Scott, A Note on Canadian War Poetry [Rezension zu ,,Voices of Victory“, 1941] in: Preview 9 (1942), S. 4. Zur vollständigen Debatte siehe Jonathan F. Vance, Death So Noble. Memory, Meaning, and the First World War, Vancouver 1997.

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te des Krieges mit leuchtenden Farben und positiven Andeutungen verhüllten, durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges irrelevant geworden waren, doch die Kanadier fanden sie noch immer nützlich, um den Zweiten Weltkrieg zu begreifen.7 Die Dichterin Dorothy Dumbrille konnte sich gut vorstellen, wie die Toten von Dieppe mit den Gefallenen von Flandern und Vimy in einer Reihe marschierten und die ganze Prozession von Christus angeführt wurde: ,,And He who walks at the head of the host / Has wounded feet and hands (Und der, der an der Spitze des Heeres geht, hat Wunden an Füßen und Händen).“8 Den Grafikern Eric Aldwinckle und A.E. Cloutier fiel es nicht schwer, eine geisterhafte Darstellung eines riesigen mittelalterlichen Ritters auf seinem sich aufbäumenden Pferd mit einem Motorrad fahrenden modernen kanadischen Soldaten zu überlagern. Auf der Feier zum Gedenktag an die Gefallenen der beiden Weltkriege 1944 in Vancouver konnte R. Rowe Holland eine ganze Rede halten, ohne den Zweiten Weltkrieg ein einziges Mal explizit zu nennen, jedoch mit vielen Verweisen auf den Ersten, einschließlich des einflussreichen Gedichts von Rupert Brooke ,,1914: The Dead“, ,,knight-errants“ (fahrende Ritter) und ,,the chilling mud of Flanders“ (der eisige Morast von Flandern). Dorothy Dumbrill konnte über die deutsche Eroberung von Lemnos schreiben und andeuten, dass dies aufgrund der Tatsache, dass Rupert Brooke auf der Insel begraben ist, bemerkenswert sei.9 Hauptmann Pfarrer David Marshall, ein Militärgeistlicher im Ersten Weltkrieg, verwendete in einer Rede zur Einweihung eines Kriegsdenkmals einer Stadt im Jahre 1948 mühelos eine Metapher aus seinem Krieg und brachte die Hoffnung zum Ausdruck, dass ,,jene, die dieses Gebäude nutzen, in der Zukunft das Spiel spielen, wie es diese Männer einst taten“10 . Die Erben der Varieté-Truppe ,,The Dumbells“, die als Soldatenshow 1917 ihren Anfang nahm und in den zwanziger Jahren leichte musikalische Einblicke in das Leben im Schützengraben boten, erschienen in Form der Soldaten und Komödianten Wayne and Shuster, deren Shows weiterhin implizierten, dass der Krieg trotz all seiner Schrecken nicht nur schlecht war. Und John McCraes Gedicht ,,In Flanders Fields“ blieb in der Meinung der Öffentlichkeit das wichtigste kanadische Kriegsgedicht, das je geschrieben wurde. Nicht einmal den Toten des Zweiten Weltkrieges wurde ihre eigene unverkennbare Identität gestattet. Genau wie die Toten des Zweiten Weltkrieges aus Lindsay, Ontario, gedachte man ihrer als Ergänzung zu den Toten des Ersten Weltkrieges der Stadt, so wurden letztere später auch zu einem Spiegel, der es 7 8 9 10

Paul Fussell, The Great War and Modern Memory, Oxford 1975, S. 21ff. ,,The Deathless Host: Remembrance Day, November 11th 1942“, in: Dorothy Dumbrille, Stairway to the Stars, Toronto 1946, S. 61. ,,Forever England“, in: Ebd., S. 10. ,,Guelph Mercury“, 11. November 1948.

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ermöglichte, Erstere zu verstehen und ihrer zu gedenken. Dichter haben das Mittel des Soldaten von 1939, der in die Fußstapfen seines Soldatenvaters von 1914 tritt, oft eingesetzt, vor allem, wenn diese Fußstapfen ins Grab führten. Robert D. Little schrieb ,,The sons shall sleep beneath the soil that holds their father’s dust“ (Die Söhne werden unter der Erde ruhen, die den Staub ihrer Väter enthält).11 Wynne Bunnig sah sich selbst als eine Mutter, deren Sohn als vermisst gemeldet wurde und dachte über die Kontinuität nach: ,,He was never afraid, our soldier lad / He was too much like his soldier dad.“ (Er hatte nie Angst, unser Soldatenjunge / Er war zu sehr wie sein Soldatenvater).12 Selten wird diese Kontinuität deutlicher als in John Nixons ,,Veteran of 1914–18: Bombed and Drowned at Dunkirk“ (Veteran von 1914–18: bombardiert und ertrunken in Dünkirchen): Glück bei Ypres und an der Somme brachte mich durch und sicher nach Haus; Geschoss und Schrapnell flogen an mir vorbei, jung war ich und dachte, dass ich unsterblich sei; Warum hielt Gott, der sie vorbeifliegen ließ, mich in seiner Hand für dies?13

Die Formen des Gedenkens blieben ebenfalls sehr beständig, was für F.R. Scott bedeutete, dass sie in einer altmodischen Denkweise gefangen waren. Erinnerungsbände, die veröffentlicht wurden, um des Lebens derer zu gedenken, die in Uniform gestorben waren, enthielten wieder klassische Verse und viktorianische Bilder.14 In Regimentsgeschichten, wo man statt Analysen lieber Karikaturen, Witze und Ehrenappelle aufnahm, wurden weiterhin Leistungen und Opfer einer Einheit gepriesen, anstatt eine objektive Darstellung der Aktivitäten zu liefern.15 Die Regierungen des British Commonwealth debattierten über eine Verlegung des Remembrance Day vom 11. November auf einen Tag, der enger mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden war (und nicht zufällig besseres Wetter versprach), wie dem 6. Juni, dem Tag der Anlandung in der Normandie oder dem 15. September, dem Tag der Luftschlacht um England. Doch nachdem alle Möglichkeiten diskutiert und verworfen wurden, entschied man, nichts zu än11 12 13

14 15

,,Sleeping Far From Home“, in: Robert D. Little: Rhymes and Reason, Willowdale, Ontario, 1946, S. 43. ,,Missing“, in: Wynne Bunning: Dear Mom, Blenheim (ON) 1945, S. 42. John Nixon, Veteran of 1914–18. Bombed and Drowned at Dunkirk, in: Canadian Poetry Magazine 1 (1941), H. 6, S. 29: “Chance at Ypres and the Somme/Saw me through and safely home;/ Shell and shrapnel passed me by;/ Young, I thought I could not die;/Why did God, who made them miss,/ Hold me in His hand for this? Siehe zum Beispiel Jean Brown Segall, Wings of the Morning, Toronto 1945, eine Hommage an Oberstleutnant Mark Brown, gefallen am 12. November 1941. Siehe zum Beispiel The History of 13 Canadian Field Regiment, Royal Canadian Artillery, 1940–1945, (privat veröffentlicht) 1945.

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dern. Der Toten des Zweiten Weltkrieges würde weiter zum Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges gedacht. Die Toten zu ehren, indem man z.B. Schulen und Straßen nach ihnen benennt, war im Kanada der 1920er und 1930er Jahre sehr populär und wurde fortgesetzt. Die David Hornell Junior School in Mimico, Ontario wurde nach einem Mann aus dem Ort benannt, dem postum das Viktoria-Kreuz verliehen wurde für einen Angriff auf ein deutsches U-Boot im Jahre 1944, während die Andrew Mynarski VC Junior High School in Winnipeg an einen anderen Piloten erinnert, der bei dem Versuch starb, das Leben eines in ihren brennenden Bomber eingesperrten Besatzungsmitglieds zu retten. Im Jahre 1948 wurde in Riverview, einem Vorort von Winnipeg, Manitoba, eine Gruppe von Straßen nach alliierten Befehlshabern benannt, u. a. Churchill, Wavell und Montgomery. In London, Ontario, wurden Falaise Road, Ortona Road und Appeldoorn Crescent zu Ehren kanadischer Erfolge in der Schlacht benannt, andernorts in der Stadt wurde die Easy Street von einheimischen ehemaligen Soldaten benannt, weil das großzügige Veteranenprogramm Kanadas bedeutete, dass sie – im wörtlichen und übertragenen Sinn – ein leichtes Leben führen konnten. In jüngster Zeit sind einige Gemeinden, die der nichtssagenden Straßennamen in Neubaugebieten überdrüssig waren, dazu übergegangen, sich von Kriegstoten inspirieren zu lassen. Im Jahre 1990 verabschiedete die Stadt Guelph, Ontario, eine Verordnung, in der gefordert wurde, dass mindestens die Hälfte aller neuen Straßen nach Kriegstoten oder Personen, die einen wichtigen Beitrag für die Stadt geleistet haben, zu benennen sind. Seit 2009 wurde 125 Personen gedacht. Das jüngste Beispiel ist der Macalister Boulevard, der nach einem Einheimischen benannt wurde, der im Konzentrationslager Buchenwald hingerichtet wurde, nachdem er bei seiner Untergrundtätigkeit für die Résistance im besetzten Frankreich verhaftet worden war. In einem Land, in dem es buchstäblich Zehntausende unbenannter geographischer Objekte gibt (allein in der Provinz Manitoba gibt es mehr als 100.000 Seen, von denen nur ein Teil benannt ist), war diese Form des Gedenkens nicht nur auf urbane Gebiete beschränkt. Im Jahre 1947 ermächtigte der Kanadische Ausschuss für Geographische Namen (Geographical Names Board of Canada), ein Ausschuss der kanadischen Regierung, der alle Bezeichnungen genehmigt, die Direktoren für Vermessungswesen in den Provinzen, Seen, Inseln, Buchten und Flüsse nach Kriegstoten zu benennen. In Saskatchewan wurden nahezu 3700 geographische Objekte im nördlichen Teil der Provinz zu Kriegsdenkmälern und im benachbarten Manitoba wurden auf diese Weise mehr als 4200 Männer und Frauen gewürdigt.16 Doch selbst bei der Namensverleihung wirft der Erste Weltkrieg einen langen Schatten. Die Hornell- und Mynarski-Schule wa16

Doug Chisholm, Their Names Live On. Remembering Saskatchewan’s Fallen in World War II, Regina 2001; A Place of Honour. Manitoba’s War Dead Commemorated in its Geography, Winnipeg 2002.

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ren eine Seltenheit, selbst nach 1945 wurden die Helden des Ersten Weltkrieges bei Namensverleihungen an Schulen doppelt so häufig geehrt wie die Helden des Zweiten Weltkrieges.

Die Diskussion über utilitaristische und ästhetische Denkmäler In einem entscheidenden Bereich wurde das Erbe des Ersten Weltkrieges abgelegt, und die Kanadier sahen die Entwicklung einer neuen Tradition: in der Debatte darüber, wie man am Besten der gefallenen Soldaten gedenken sollte. In diesem Zusammenhang ist das Spannungsverhältnis zwischen utilitaristischen und ästhetischen Formen allgegenwärtig. Der utilitaristische Ansatz geht davon aus, dass Denkmäler eine bestimmte Funktion erfüllen sollen, während sie an die Toten erinnern; es kann sich um Krankenhäuser, Schulen, Gemeindesäle, Sportzentren oder etwas anderes handeln, das das kollektive Leben der Gemeinde verbessert. Die bloße Errichtung eines Denkmals, das keine praktische Funktion erfüllt, sei Geldverschwendung; es sei wesentlich besser, dieses Geld in etwas zu stecken, das täglich genutzt wird. Die Gegner waren jedoch der Meinung, dass dies lediglich ein billiger Versuch sei, aus der öffentlichen Stimmung Kapital zu schlagen, um etwas zu bauen, das andernfalls möglicherweise nicht gebaut wird. Sie glaubten, dass ein Kriegsdenkmal ausschließlich einem Zweck dienen sollte, und zwar nur einem: dem Gedenken an die Toten. Alles, was von diesem Ziel ablenkte, schwächte die Kraft des Denkmals. Sie wiesen außerdem darauf hin, dass derartige Bauten unweigerlich irgendwann veraltet sein würden und ersetzt werden müssten, was sich durch spätere Erfahrungen bestätigte. Das Kriegsdenkmal der Stadt würde dann die Demütigung erleiden, als Lagerschuppen zu dienen oder gar abgerissen zu werden. Vor 1914 wurden in Kanada zu wenige Denkmäler gebaut, als dass diese Debatte hätte Interesse hervorrufen können. Fast alle kanadischen Denkmäler für den Burenkrieg (1899–1902) sind ästhetischer Art, mit einer Ausnahme. Im Jahre 1904 wurde das Red Deer Memorial Hospital in der gleichnamigen Stadt in Alberta eröffnet. Die Baukampagne hatte mit einer Spende von $1000 von Lord Strathcona begonnen: Im Gedenken an drei Einheimische, die im Burenkrieg ums Leben kamen, als sie dem Regiment dienten, das seinen Namen trug. Doch nach dem Ersten Weltkrieg gewann die Debatte an Bedeutung. Es herrschte praktisch Einmütigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit, Denkmäler zu bauen, jedoch nicht darin, welche Form diese Denkmäler haben sollten. Die erste Entscheidung, die jeder Denkmalausschuss zu treffen hatte, war, ob es sich um ein utilitaristisches oder ein ästhetisches Denkmal handeln sollte.

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Es gab zahlreiche geniale Vorschläge für utilitaristische Denkmäler für die Toten des Krieges. Richard Cooper, Mitglied des Kanadischen Parlaments für Vancouver South argumentierte, dass es falsch sei ,,auf Eisen und Stahl zurückzugreifen, um Fleisch und Blut zu bewahren“. Stattdessen schlug einer ein Programm für Gedenkstipendien vor, das sich an die Kinder der Soldaten und an junge Männer richtet, die sich bei Ausbruch des Krieges im Übergang von der Schule zum Berufsleben befanden.17 Eine Studentenzeitung der Universität Toronto betonte ebenfalls die Nützlichkeit und schlug etwas vor, dass das Leben an der Universität vertiefen und bereichern würde, nämlich eine Gedenkpräsenzbibliothek mit einer Sammlung von Werken zu jeder Phase des Krieges.18 Die Kanadische Legion wies auf ihrer ersten nationalen Jahresversammlung in Winnipeg, Manitoba, darauf hin, dass eine Stiftung für medizinische Forschung ein geeignetes Kriegerdenkmal des Königreichs sei; Kanada könnte seinerseits eine Reihe geschützter Werkstätten für behinderte Veteranen einrichten.19 Krankenhäuser waren eine weitverbreitete Option, offizielle Vertreter in Hamilton, Ontario, bemerkten dazu, obwohl die Kriegstoten ,,unsere Denkmäler nicht brauchen“. Sie hätten sich selbst ,,mit ewiger Ehre bekränzt’“, ein Gedenkkrankenhaus mit einem Ehrenhof zum Gedenken davor sei ein geeignetes Zeichen der Dankbarkeit.20 Hamilton erhielt nie ein Gedenkkrankenhaus und auch die anderen Gemeinden nicht, in denen die Idee diskutiert wurde. Obwohl die Gedenkkrankenhäuser Gegenstand zahlloser Vorschläge waren, wurden zwischen 1918 und 1939 nur sieben Krankenhäuser in Kanada explizit als solche gebaut.21 Andere Vorschläge waren zum Teil unausgereift oder sogar taktlos. Ein Vorschlag für einen Ehrenzitadellenpark mit Stadion, Freilichtbühne und einem Museum wurde durch den Hinweis ruiniert, dass die Hügel aus Müll und Baustellenaushub errichtet werden könnten, wobei eine geringe Gebühr für die Müllablage helfen können, den Bau des Gebäudes zu finanzieren.22 Ein Plan zum Bau der Vimy-Stadtautobahn zwischen Fort Rouge und Kildonan, Manitoba, war nicht mehr als ein schamloser Versuch, Empfindungen auszu17 18 19 20 21

22

Richard Clive Cooper (South Vancouver), in: House of Commons, Debates, 10. März 1919. The Rebel 3/2, Dezember 1918, S. 48. Hamilton Spectator, 25.01.1927, S. 1. Hamilton Public Library Special Collections: Archives file, Hamilton – Hamilton Memorial Plan. Die Krankenhäuser waren: Haldimand War Memorial in Dunnville, Ontario (1920); Restigouche and Bay Chaleaur Soldiers’ Memorial in Campbellton, New Brunswick (1920); Soldiers’ Memorial in Middleton, Nova Scotia (1921); Rosedale War Memorial in Matheson, Ontario (1921); Orillia Soldiers’ Memorial in Orillia, Ontario (1922); War Memorial Children’s in London, Ontario (1922) und Great War Memorial in Perth, Ontario (1923). Library and Archives Canada [LAC]: Department of Public Works fonds, RG18 B2, box 20, f. War Memorials, 1918–1922, G.W. Murray to S.C. Oxton, n.d.

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nutzen, um einen dringend notwendigen Verkehrsweg zu sichern. Und nicht einmal das Hinzufügen einer Reihe offener Plätze entlang der Straße, benannt nach großen Schlachten (Ypres, Mons, Cambrai, Somme, Passchendaele und Festubert wurden erwähnt) und unpassenderweise als Redoubts (Redouten) bezeichnet, konnte den Entwurf überzeugend in ein Kriegsdenkmal verwandeln.23 Geschäftsinteressen in Windsor, Ontario, schienen genauso berechnend, als man versuchte zu argumentieren, dass ein Tunnel unter dem Fluss Detroit als Verbindung zwischen Windsor und der Stadt Detroit in Michigan ein geeignetes Kriegsdenkmal sei und den langsamen und unbequemen Fährverkehr ersetzen könnte. Ein Redakteur in Yarmouth, Nova Scotia, schlug sogar ein Gedenkarsenal vor mit der Begründung, dass ,,viele zurückgekehrte Soldaten gerne militärische Übungen als Zeitvertreib durchführen möchten und jedes Jahr eine gewisse Anzahl junger Männer das Wehrdienstalter erreicht und gern Drill- und Schießübungen beginnen möchte“. Es sei der Gedanke verziehen, der Redakteur sei weniger an Denkmälern als am wirtschaftlichen Nutzen interessiert, den eine von der Bundesregierung gebaute und unterhaltene militärische Einrichtung mit sich bringe.24 Selbst ohne diese albernen Vorschläge waren die Befürworter utilitaristischer Denkmäler stark in der Minderheit; in den meisten Gemeinden traten die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Eliten, fest für ein ästhetisches Denkmal ein. Samuel Oxton, ein Regierungsbeamter in Winnipeg, dessen Sohn während des Ersten Weltkrieges in der Infanterie gedient hatte, lehnte die Idee einer Gedenkhalle mit den Worten ab: ,,Der Gedanke ist mir zuwider, dass etwas, in dem sich die Lebenden erholen, als Denkmal für die Jungs errichtet werden soll, die das höchste Opfer gebracht haben.“25 Ein Mann im ländlichen Manitoba ging sogar noch weiter, er kritisierte den Plan, in der Stadt Deloraine ein Gedenkkrankenhaus zu bauen und er schrieb: ,,Meiner Meinung nach ist es das Gleiche, als ob man seiner Frau zu ihrem Geburtstag einen neuen Besen schenkt, der ohnehin dringend benötigt wird.“26 Nach 1945 war die Stimmung im Land völlig anders. Das beinahe reflexartige Misstrauen gegenüber utilitaristischen Denkmälern als ein billiger Trick zur Finanzierung eines Infrastrukturprojekts war verschwunden. Jetzt war es das ästhetische Denkmal, das sinnlose Geldverschwendung zu sein schien. Diese Wandlung lässt sich zum Teil auf praktische Fragen zurückführen. Kanada verfügte bereits über tausende ästhetischer Kriegsdenkmäler – Tafeln, Steinhaufen, Obelisken, Statuen und Ehrenmale. Selbst die patriotischste Kommune musste zugeben, dass ein Weiteres eigentlich nicht notwendig war. ,,Der Bau weiterer 23 24 25 26

Manitoba Free Press, 22.02.1919, S. 21. Yarmouth Times, 04.12.1918. LAC: RG18 B2, box 20, f. War Memorials, 1918–1922, memorandum, 5. März 1920. Ebd., J. Fleming, Mountainside, an S.C. Oxton, 13. März 1920.

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Denkmäler“, so schreib ein Redakteur, ,,wäre sicher töricht, und es sähe aus, als wollten wir unser Land im Laufe der Zeit in einen Wald von Ehrenmalen verwandeln.“27 Man konnte einfach eine zusätzliche Bronzetafel oder eine Steinplatte mit den Namen der neuen Generation Gefallener ergänzen, doch das reichte bei Weitem nicht aus, damit eine Gemeinde ihrer Verpflichtung gegenüber den gefallenen Soldaten gerecht wurde. Häufig richteten sie ihren Blick auf ein utilitaristisches Denkmal, um die Aufgabe zur Ehrung der Toten zu erfüllen. Die neue Begeisterung für das utilitaristische Denkmal ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. Rückblickend waren die 1920er Jahre ein Jahrzehnt der Enttäuschung und zerstörten Hoffnungen. Den Männern des Kanadischen Expeditionskorps hatte man wiederholt gesagt, dass ihre Opfer Kanada zu einem besseren Ort machen und sie in ein Land zurückehren würden, das für Helden angemessen wäre. Beides erwies sich als hohles Versprechen. Erbitterte Arbeitskämpfe, politisches Chaos, steigende Arbeitslosigkeit, ethnische Spannungen, regionales Misstrauen – das kennzeichnete das Land, für das 70.000 ihr Leben gegeben hatten, und man konnte leicht zu dem Schluss kommen, dass die Lage in Kanada vor 1914 besser war als nach 1918. Dann kam die Weltwirtschaftskrise, in der Millionen Kanadier ihre Arbeit verloren und die Regierungen an den Rand des Bankrotts gedrängt wurden. Die 1930er Jahre verrieten viel über Kanada, doch eine wichtige Lehre war, dass es im Land an solchen öffentlichen Dienstleistungen mangelte, die in schwierigen Zeiten Belastungen abbauten. Es fehlte an Bibliotheken, Gemeindezentren, Bürgerhäusern, öffentlichen Schwimmbädern und Eislaufbahnen – gerade den Dingen, die das Leben in schwierigen Zeiten erträglicher machten. Wenn die 1920er Jahre ein Jahrzehnt der Enttäuschung und die 1930er eines der Verzweiflung waren, dann waren die 1940er ein Jahrzehnt der Chancen. Es gab Belastungen anderer Art, Belastungen durch einen nationalen Notstand, die durch Freizeiteinrichtungen gemildert werden könnten, doch es gab auch wirtschaftlichen Wohlstand. Durch Vollbeschäftigung und ein ständig wachsendes Bruttosozialprodukt konnte sich die Gesellschaft jetzt eine große Baukampagne leisten. Darüber hinaus führte der Wohlstand zu der Erkenntnis, dass ein wohlhabendes Land wie Kanada wirklich mehr für seine Bürger tun sollte, von den Bürgern konnten nur dann Opfer gefordert werden, wenn klar war, dass diese Opfer belohnt würden. Mit anderen Worten, es durfte nicht zugelassen werden, dass sich die Fehler aus der Zeit nach 1918 wiederholten, als das Land an wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Schwierigkeiten eines enttäuschenden Friedens und einer verheerenden Wirtschaftskrise litt. 27

Peterborough Examiner, 27.10.1943, 14.11.1944; zitiert in: Dale Andrew, ,,Crowded Memories. The Origins, Growth, and Decay of Selected Memorial Arenas in Ontario“, Masterarbeit, School of Kinesiology, University of Western Ontario, 2003, S. 106–109.

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Das war zumindest die Schlussfolgerung, die W.L.M. King zog, der von 1935 bis 1948 kanadischer Premierminister war. Im Dezember 1939, inmitten des ,Sitzkrieges‘ (drôle de guerre), richtete die Bundesregierung in Ottawa den Regierungsausschuss zur Demobilisierung und Wiederherstellung ein; der Ausgang des Krieges war bei weitem nicht sicher, doch die King-Regierung plante bereits für den Frieden. Es folgte Ausschuss auf Ausschuss, einige auf Bundes- und einige of Provinzebene, doch alle sollten bestimmen, wie das Land aussehen würde, nachdem der Krieg gewonnen war.28 Aus ihren Überlegungen wurde der Entwurf für ein Nachkriegskanada entwickelt: Arbeitslosenversicherung, Familienbeihilfe, bessere Renten, ein nationales Wohnungsbauprogramm und die großzügigsten Unterstützungsleistungen für Veteranen in der Welt. In einem Land, das von dem Glauben bestimmt war, nur eine kleine Regierung sei eine gute Regierung, war das eine Revolution. Ein sehr einflussreiches Element dieser Revolution war der Bericht über Soziale Sicherheit für Kanada (Report on Social Security for Canada), der von Dr. Leonhard Marsh erstellt wurde. Es war ein umfassender Bericht, der Renten, Arbeitslosenversicherung, Unterstützungsleitungen für Mütter und Kinder sowie eine Berufsunfallversicherung behandelte. Die Bedeutung für den Gedenkprozess lag jedoch in der Empfehlung, dass die Regierung ein nationales Beschäftigungsprogramm finanzieren solle, um den Arbeitsplatzverlust zu mildern, der nach Meinung vieler Leute nach dem Krieg unvermeidbar sein würde. Dieses Beschäftigungsprogramm sollte auf den Bau von – wie Marsh es nannte – ,,gemeinschaftlichen Konsumgütern oder gesellschaftlichen Einrichtungen“, also Wohnungen, Krankenhäusern, Bibliotheken, Erholungszentren, Jugendherbergen, Forschungsstationen und Kraftwerken ausgerichtet sein. “Es sollte Raum bieten für Freizeit und Kultur“, so schrieb er, ,,für Projekte also, die die fruchtbare Nutzung von Freizeit und umfassende Kultivierung von allem, das Bildung und Wohlfahrt ausmacht, fördern, in den Projekten, die wir für ein besseres Leben im Frieden planen“.29 Die andere wichtige Prämisse des Berichts war, dass der Wohlfahrtsstaat in all seinen Varianten, das ,,bessere Leben im Frieden“, wie Marsh es nannte, die neue Welt repräsentierte, für deren Aufbau die Alliierten kämpften. Für viele Beobachter war die Logik 28

29

Seit der Konföderation im Jahre 1867 war die Aufgabenteilung zwischen Bundes- und Provinzregierung das Bemerkenswerteste an der kanadischen Regierungsführung. Das Britische Nordamerikagesetz (British North America Act) legt die Vollmachten auf den beiden Ebenen eindeutig fest und jeder Versuch der Bundesregierung, Gesetze in einem Bereich zu erlassen, der in die Zuständigkeit der Provinz fällt (z. B. Wohlfahrt) könnte eine Verfassungskrise provozieren. Dies erschwerte die Wiederaufbauplanung in Kanada im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Canada, Special Committee on Social Security, Report on Social Security for Canada, Prepared by Dr. L.C. Marsh for the Advisory Committee on Reconstruction, Ottawa, 16. März 1943, S. 39.

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unausweichlich: Wie konnte man die toten Soldaten besser ehren, als durch den Bau gesellschaftlicher Einrichtungen – die besser bekannt sind unter der Bezeichnung lebendige Denkmäler – die selbst zu einem besseren Leben im Frieden beitragen würden? Tatsächlich war der Marsh-Bericht sowohl Ursache als auch Wirkung eines allgemeinen Trends zugunsten utilitaristischer Denkmäler. Die Debatte über das Gedenken wurde zum Anfang des Krieges sporadisch geführt, doch im Juni 1942 gab die Frauenwohltätigkeitsorganisation Imperial Order Daughters of the Empire den Kriegserinnerungsplan bekannt und forderte $500.000 in Form von Stipendien zur Unterstützung der Ausbildung von Kindern ehemaliger Soldaten. Die Organisation hatte nach dem Ersten Weltkrieg eine gleichartige Kampagne gestartet und die Kosten der Universitätsausbildung für etwa 400 Kinder von gefallenen Soldaten und Veteranen gezahlt. Der neue Plan trat 1946 in Kraft und gilt noch immer. 1943 kündigte die Home and School Association in Bedford, Nova Scotia, an, dass sie Geld für den Bau einer Kriegsgedenkbibliothek in der Kleinstadt sammelt. Beobachter reagierten mit Wohlwollen. ,,Die Gründung kleiner Bibliotheken in Gemeinden, in denen es an solchen Hilfsmitteln für ein vernünftiges Leben mangelt, erscheint als ideale Form eines Kriegsdenkmals“, so ein Schriftsteller aus Alberta, ,,um zu vermeiden, dass weitere Grabsteine der Gemeinde aus dem Boden schossen wie nach dem letzten Krieg.“ Der Literaturkritiker W.A. Deacon stimmte dem zu: ,,Das Ehrenmal ist ein Tor, dass die Vergangenheit abschließt, die Bibliothek ist eine offene Tür in eine bessere Zukunft.“30 Im darauffolgenden Jahr informierte Stanley Knowles, Parlamentsabgeordneter für Winnipeg North Centre, das Unterhaus über einen Vorschlag eines seiner Wähler, der im kanadischen Militär in Übersee diente: Gemeinden, die über ein Kriegsdenkmal nachdenken, sollten ihre Aufmerksamkeit auf etwas Sinnvolles richten. Knowles empfahl der kanadischen Regierung, den Vorschlag aufzugreifen und entsprechende Mittel für Kommunen bereit zu stellen, die am Bau eines Gemeindezentrums zum Kriegsgedenken interessiert waren: ,,Das Geld, das die Menschen dieses Landes für geeignete Denkmäler ausgeben wollen, zu Ehren derer, die in diesem Konflikt Dienst leisten und ihr Leben geben, würde vielleicht sinnvoller und nützlicher eingesetzt, wenn ein Hinweis in diese Richtung erfolgt.“31 Noch einflussreichere Befürworter utilitaristischer Denkmäler traten in Form der kanadischen Künstlergemeinschaft auf den Plan. Jahrelang hatte sie die kanadische Regierung gedrängt, bei der Förderung von Kultur eine aktivere Rolle zu spielen und jahrelang wurde sie ignoriert. Jetzt sah sie ihre Chance. Im Juni 1944 erschienen Vertreter von sechzehn der größten kanadischen Kunstorganisationen mit einem ehrgeizigen Plan vor dem Sonderkomitee für Wiederaufbau 30 31

The Fly Leaf, in: Globe & Mail, [Toronto], 05.06.1943, S. 11. House of Commons, Debates, 16. Mai 1944, S. 2966.

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und Wiederherstellung (Special Committee on Reconstruction and Re-establishment). In ihrem Namen beschrieb der irischstämmige Dramatiker John Coulter, was Kanada zum Gedenken an die Toten einrichten sollte: ein Staatstheater, eine Nationalbibliothek, ein nationales Orchesterausbildungszentrum, ein Bundesministerium für Kultur und vor allem ein Netzwerk aus nahezu 600 Gemeindezentren, die gleichzeitig Treffpunkt, Sporteinrichtung, Kulturhalle und Kriegsdenkmal sein sollten.32 Coulter bat die kanadische Regierung, 10 Millionen Dollar für die Zentren bereitzustellen. Obwohl Ottawa letzten Endes ablehnte, den Plan für die Gemeindezentren mit Geld zu unterstützen, gewann die Kriegsdenkmalbewegung an Fahrt. Nachdem der Bedarf an solchen Einrichtungen öffentlich anerkannt wurde, schien das Interesse daran tatsächlich zu explodieren und die herkömmlichen Argumente zugunsten utilitaristischer Denkmäler erhielten eine neue Dringlichkeit. In Peterborough, Ontario, wurde das vorgeschlagene Gedenkgemeindezentrum als ,,lebendiges Denkmal für die ritterlichen Söhne, die kämpften, um Peterbourgh zu einem lebenswerteren Ort zu machen“ und ,,eine Garantie, dass die Toten nicht umsonst gestorben sind und dass eine starke, glückliche Generation heranwächst, um die Freiheit, die die Toten mit ihrem Leben erkauft haben, zu genießen und erweitern“ bezeichnet.33 Ein Beobachter bemerkte, dass eine solche Einrichtung als ein ,,Haus für Demokratie“ verstanden werden könnte. Ein solches Denkmal würde als Instrument für den Fortbestand dieses verbesserten Geistes des öffentlichen Dienstes dienen, der eine Entschädigung für den Krieg sei. Es sollte als lebendiges Symbol der demokratischen Lebensordnung dienen, für die so viele gestorben seien.34 Neue Elemente wurden diesem Argument hinzugefügt. In der Veteranenkultur war Kameradschaft die Beziehung, welche die Lebensbedingungen an der Front durch einen Geist des Miteinanders und der Toleranz kompensieren sollte. Es wurde allgemein erkannt, dass sich der zurückgekehrte Soldat, der der Sicherheit seiner Einheit entzogen wurde, in der Zivilgesellschaft isoliert und allein fühlt und sich danach sehnt, wieder die enge Verbundenheit zu spüren, die sich in den Schützengräben entwickelt hat. Der Bau eines Gemeindezentrums erforderte einen hohen Grad an Zusammenarbeit und Koordination, ähnlich einer militärischen Operation, und könnte einem ehemaligen Soldaten ermöglichen, noch einmal die Tage zu durchleben, an denen viele Menschen zusammenarbeiteten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. ,,Im Grunde sind es die Menschen unserer Stadt, die für ein gemeinsames Ziel zusammen arbeiten“, bemerkte ein Schriftsteller. ,,Und in dieser Arbeit mit dem Menschen seiner Gemeinde kann 32 33 34

Canada, Special Committee on Reconstruction and Re-establishment, Minutes of Proceedings and Evidence, no. 10, 21. Juni 1944. Peterborough Examiner, 01.12.1944, zitiert in: Andrew, Crowded Memories, S. 125. John P. Kidd, Community Centres, Ottawa 1945, S. 11.

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der Veteran die Brüderlichkeit finden, die er in Übersee erfuhr.“35 Dass solche Denkmäler durch örtliche Spendensammlungen finanziert werden mussten, die eine andere Art der Zusammenarbeit erforderlich machten, ließ sie zu einem noch passenderen Ausdruck kommunalen Gedenkens werden.

Das beste Denkmal: eine gesündere Nation Darüber hinaus war es eine außerordentlich unerwünschte Erkenntnis aus beiden Weltkriegen, dass – wie der neuernannte Minister für nationale Gesundheit und Wohlfahrt dem Unterhaus mitteilte – ,,der allgemeine Stand der Fitness nicht so hoch ist, wie wir es gern hätten“.36 Eine erstaunliche Anzahl Freiwilliger wurde abgelehnt, weil sie physisch untauglich waren – während des Ersten Weltkrieges waren es schätzungsweise die Hälfte der Freiwilligen für bestimmte Einheiten und 1941 berechnete ein Kabinettsminister, dass zwei Drittel aller Freiwilligen für die Royal Canadian Air Force – für die zugegebenermaßen höhere Normen als für andere Waffengattungen galten – für den Dienst physisch untauglich waren;37 und trotz einer stufenweisen Senkung der physischen Anforderungen, verblieb eine beachtliche Gruppe von Männern, die zu schwach oder krank waren, um ihrem Land in Uniform zu dienen. Das Gemeindezentrum bot auch für dieses Problem eine Lösung. 1943 verabschiedete die kanadische Regierung ein Nationales Fitnessgesetz (National Physical Fitness Act), das entsprechende Subventionen zur Unterstützung von Fitnessinitiativen in den Provinzen vorsah; jetzt, da die Gemeindezentren den Kanadiern besseren Zugang zu Sport- und Fitnesseinrichtungen böten, trügen sie dazu bei, eine gesündere, stärkere Nation schaffen. ,,Die besten Denkmäler“, schrieb Ian Eisenhardt, der nationale Direktor für körperliche Fitness in der kanadischen Regierung, ,,werden die sein, die dazu beitragen, eine körperlich gesunde, geistig wache und spirituell disziplinierte Generation hervorzubringen“.38 Vereinzelt wurde trotz alledem versucht den ästhetischen Impuls zu verteidigen. Der ,,Hamilton Spectator“ ließ die Ängste der Zwischenkriegszeit wieder aufleben und argumentierte, dass utilitaristische Denkmäler oftmals ,,im Hinblick auf örtlichen Nutzen und zukünftige Einnahmen“ begründet werden und von Leuten unterstützt würden, die ,,darauf erpicht zu sein scheinen, die Gelegenheit zur Förderung sozialer Aktivitäten, an denen sie interessiert sind, zu nutzen.“ Der Wunsch, Denkmäler für die Gefallenen zu errichten, wurde schnell 35 36 37 38

From Gang Plank to Community, in: Canadian Affairs 17 (1945), H. 2, S. 2. House of Commons, Debates, 21. Juli 1943. House of Commons, Debates, 14. April 1916, S. 2879; 7. März 1941, S. 1606. Fred Lasserre/Gordon Lunan, ,,Community Centres“, in: Canadian Affairs 17 (1945), H. 2, S. 3.

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,,pervertiert als Vorwand, um Vergnügungsstätten oder andere Einrichtungen zu schaffen“.39 Und freilich gab es auch einige Situationen, die Anlass zur Sorge boten. In der Stadt Peterborough in Zentralontario hatten Sportfans lange dafür gekämpft, dass die Stadt ein neues Stadion baut, das mit einer Kunsteisfläche ausgestattet ist, damit Peterborough seinen Platz auf der Hockeykarte von Kanada einnehmen könne. 1944 kam der Ausschuss für das Gedenkgemeindezentrum Peterborough auf die Idee, den Bau einer Arena zu fördern, die als das städtische Denkmal an die Toten des Zweiten Weltkrieges dienen sollte. Da das Gremium von den Männern dominiert wurde, die nur wenige Jahre zuvor hinter der Kampagne für die Hockeyarena gestanden hatten, witterten Kritiker einen Plan, der nur wenig mit dem Gedenken an tote Soldaten zu tun hat. Doch die meisten Leute waren bereit, über einen möglichen Interessenkonflikt hinwegzusehen, wenn das Endergebnis positiv ist. In Guelph, Ontario, wo eine Kampagne für den Bau einer neuen Arena schnell zu einer Kampagne zum Bau einer Kriegsgedenkarena wurde, argumentierte die örtliche Zeitung, dass eine solche Einrichtung ein bessere Wertschätzung der Toten darstellte als ,,eine weitere Marmorsäule“. Der Sportkolumnist Jim Coleman aus Toronto lobte einen Plan in Hamilton, Ontario, 1,5 Millionen Dollar für Parks, Erholungszentren und Bürgerhäuser als Denkmäler für den Zweiten Weltkrieg auszugeben: ,,Wir haben verdammt viele Denkmäler und nicht genug Spielplätze für die Kinder.“ Er wies Kritik zurück, dass dies keine geeigneten Denkmäler seien, da solche Einrichtungen nicht den Geist der Erinnerung und Dankbarkeit förderten, sondern lediglich eine Oase für junge Leute in ,,lauten, auf Vergnügen bedachten Cliquen“ seien. Gerade darum gehe es, entgegnete Coleman: ,,Die Männer, die ihr Leben in diesem Krieg geben, sind unsere jungen Männer. Vor nicht allzu langer Zeit waren sie Teil derselben ,lauten, auf Vergnügen bedachten Cliquen‘. Sie kämpfen, um eine Lebensart zu bewahren, die sie selbst genossen haben.“ In Südwestontario beschrieb eine Zeitung das Gedenkgemeindezentrum St. Thomas-Elgin als ,,eine wunderbare Anerkennung des höchsten Opfers derjenigen, die gestorben sind, damit andere als freie Menschen leben können, und ein äußerst nützliches Denkmal für die, die überlebten sowie deren Kinder und Kindeskinder“.40 Der ,,Peterborough Examiner“ wollte sich nicht ausstechen lassen und blickte zurück auf die Denkmäler des Ersten Weltkriegs. Dabei stellte er fest, dass einige ,,ansehnlich und angemessen“, viele ,,durchschnittlich“ und einige ,,Ungetüme [sind], die man nie hätte auf die Öffentlichkeit loslassen dürfen“. Anstatt mehr Denkmäler zu schaffen, die nutzlos edel sind, sollte sich Kanada Denkmälern zuwenden, die edlerweise nützlich sind: ,,Es gibt kei-

39 40

Peterborough Examiner, 14.11.1944, zitiert in: Andrew, Crowded Memories, S. 108f. St. Thomas Times-Journal, 19.06.1948.

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ne kanadische Stadt, die unserem Wissen nach, nicht für die Lebendigen etwas dringender braucht, als eine Steinsäule für die Toten.“41 Überall in Kanada haben Kommunen jeder Größe dem zugestimmt, denn sie unterbreiteten Vorschläge für ihre eigenen utilitaristischen Kriegsdenkmäler – eine Bibliothek für Coronation, Alberta, eine Eislaufbahn für Rouleau, Saskatchewan, ein Krankenhaus für Wakefield, Quebec, ein Stadion für Toronto (,,Toronto braucht ein Stadion. Ein Stadion kostet Geld. Toronto braucht ein Kriegsdenkmal. Ein Kriegsdenkmal kostet Geld. Es scheint reine Ökonomie zu sein, beides zu verbinden“, schrieb die Kolumnistin und ehemalige Olympiateilnehmerin Bobbie Rosenfeld42 ). Der große Reiz dieser Argumente lässt sich mit einem Blick auf die vorhandenen Statistiken messen. Eine Studie zu Gedenkarenen in Ontario nannte fünfundvierzig Gebäude, die speziell und ausdrücklich als Kriegsdenkmäler gebaut wurden, jedoch nur eins davon wurde vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Eine breitere Untersuchung utilitaristischer Kriegsdenkmäler in Kanada, die sich auf die beiden wichtigsten Internetbestände stützt,43 zeigt, dass im Zeitraum zwischen 1918 und 1939 nur dreiundvierzig gebaut wurden; in beiden Jahrzehnten nach 1945 wurden jedoch 120 lebende Denkmäler errichtet und gewidmet, siebzig davon allein im Zeitraum zwischen 1947 und 1951 als die Bewegung für Gedenkgemeindezentren in Kanada ihren Höhepunkt erreichte. Mackenzie King, der keine Erfolg versprechende Sache ausließ, hatte seine eigene Idee. Um nach dem Ersten Weltkrieg Platz für das Nationale Kriegsdenkmal in Ottawa zu schaffen, hatte die Regierung ein Programm zur urbanen Neuentwicklung durchgeführt und dabei alte und verfallene Gebäude niedergerissen, um die Confederation Plaza zu schaffen, wo das Denkmal schließlich errichtet wurde. Nun war es King zufolge Zeit, die Arbeit abzuschließen. Er schlug vor, eine Hauptstadtregion zu bilden, die die Stadt Ottawa, Ontario, und die Nachbarstadt Hull, Quebec, am anderen Ufer des Flusses Ottawa umfasst – ,,als Denkmal für Dienst und Opfer der Männer und Frauen, die am gegenwärtigen Krieg teilgenommen haben“, sinnierte er in seinem Tagebuch. So wie wir jetzt das Kriegsdenkmal als Symbol des letzten Krieges im Herzen der Hauptstadt hätten, so würden nachfolgende Generationen die nationale Hauptstadt in Form eines größeren Ottawa als Denkmal an diesen Krieg haben.44 Er überzeugte das Kabinett, den Plan zu unterstützen und lud den bekannten französischen Städteplaner Jacques Gréber ein, als Berater bei der Umgestaltung des Innen41 42 43

44

Peterborough Examiner, 27.10.1943 und 14.11.1944. Sports Reel, in: Globe & Mail [Toronto], 06.12.1945, S. 16. The National Inventory of Canadian Military Memorials, http://www.cmp-cpm.forces. gc.ca/dhh-dhp/nic-inm/index-eng.asp; War Monuments in Canada, http://www.cdli.ca/ monuments. LAC: W.L. Mackenzie King Diary, 21. April 1944.

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Abbildung 3: Das Brockville Civic Memorial Center, ein Gemeindezentrum in Ost-Ontario, das 1952 als lebendiges Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg Gefallenen der Stadt gebaut wurde (Foto: Brockville Museum).

stadtkerns der nationalen Hauptstadt zu fungieren; eines der ersten neuen Gebäude sollte den Aktivitäten der Veteranen gewidmet werden.45 Im Norden, auf der anderen Seite des Flusses Ottawa, sollte in den Gatineau Hills ein enormer nationaler Kriegsgedenkpark geschaffen werden. Für Mackenzie King stellte der Plan die perfekte Mischung aus Utilitarismus und Ästhetik dar: Ottawa und seine Umgebung würde schöner und gleichzeitig nützlicher als Wertschätzung für die Toten des Krieges. Die öffentliche Antwort auf diesen Plan zeigt, wie stark sich die Ansicht der Kanadier in Bezug auf das Gedenken an gefallene Soldaten geändert hat. Kurz gesagt, die Öffentlichkeit war jetzt misstrauisch gegenüber einem Denkmal, das auch nur im Entferntesten ästhetisch war. Die ,,Globe & Mail“ zum Beispiel unterstützte die Verschönerung der nationalen Hauptstadt, argumentierte jedoch, dass ein erweitertes Programm für kostengünstige Wohnungen und eine Beschleunigung des Baus des Veteranenkrankhauses Sunnybrook in Toronto, das das größte Krankenhaus seiner Art in Kanada werden sollte, eine bessere 45

Ebd., 21. März 1946.

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Wertschätzung für die Toten sei.46 M.J. Coldwell, Führer der nationalen Social Credit Party billigte die Idee, Ottawas Bestand an angemessenem Wohnraum zu erhöhen, argumentierte jedoch, dass die ,,Beseitigung von Elendsvierteln […] nicht im Gedenken an die Toten, sondern als Gerechtigkeit gegenüber den Lebenden erfolgen sollte“. Viel besser wäre ein Gedenkkulturzentrum in Ottawa – mit Bibliothek, Kunstgalerie, Theater, Balletttruppe, nationalem Orchester, Theatertruppe, Opernensemble – und ähnlichen Zentren in allen Provinzen.47 Laura Nixon Haynes aus St. Catharines, Ontario, kritisierte den Vorschlag, weil nur Leute, die im Raum Ottawa leben, davon profitieren würden. Stattdessen schlug sie vor, ,,Gedenkzentren in Form verschiedener Stellen in jeder Provinz einzurichten, wo kurze Kurse zum Studium der kanadischen Geschichte und Literatur, Bürgerrecht und Verwaltungs- sowie Gesetzgebungsverfahren; zu höchsten menschlichen Idealen [angeboten würden.] [ … ] Unsere Jungs gaben ihr Leben nicht nur für Ottawa, sondern für ihre geliebte Heimat, im fernen Westen oder fernen Norden, in Saskatchewan und Manitoba, in den Seeprovinzen sowie in Ontario und Quebec. Und diese Orte sollten an dem Kriegsdenkmal teilhaben.“48 Howard Green, Parlamentsabgeordneter aus Vancouver und Veteran des Ersten Weltkriegs, stimmte dem zu. Er führte eine Meinungsumfrage an, aus der hervorging, dass neun von zehn Kanadiern ein utilitaristisches Denkmal gegenüber einem ästhetischen bevorzugen und wies darauf hin, dass der OttawaPlan ,,allen, die in den entfernter liegenden Provinzen leben, als Kriegsdenkmal wenig nutzen würde.“ Viel besser sei es, zum Plan der von der kanadischen Regierung finanzierten Gedenkgemeindezentren zurückzukehren.49 Letzten Endes geschah kaum etwas hinsichtlich des Ottawa Plans. Dennoch bekam Mackenzie King schließlich seine Hauptstadtregion, doch erst lange nach seinem Tod und selbst dann war es ein Verwaltungsbezirk, der wenig mit Gedenken zu tun hatte. Der einzige andere Teil dieses großen Plans, der verwirklicht wurde, war der mit dem größten praktischen Nutzen: das Ost- und das WestGedenkgebäude, die 1956 bzw. 1958 fertiggestellt wurden und das neue Ministerium für Veteranenangelegenheiten beherbergen sollten.50 Eine abschließende Anerkennung, gegen die King sich gesträubt hatte, weil er der Meinung war, dass ,,die Männer dieses Krieges wahrscheinlich lieber etwas Eigenes hätten“, war eine Ergänzung am Nationalen Kriegsdenkmal.51 Als es 1939 enthüllt wur46 47 48 49 50 51

Planning First Things First (Leitartikel), in: Globe & Mail [Toronto], 03.09.1945, S. 6. House of Commons, Debates, 10. September 1945, S. 44. War Memorial Centres Favoured (Brief an den Herausgeber), in: Globe & Mail, 27.10.1945, S. 6. House of Commons, Debates, 20. Juni 1947, S. 4452. Janet Wright, Crown Assets. The Architecture of the Department of Public Works, 1867– 1967, Toronto 1997, S. 219. LAC: W.L. Mackenzie King Diary, 16. Januar 1947.

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de, hatte es eine einzige Inschrift: ,,1914–1918“. Dreiundvierzig Jahre später wurde eine zweite hinzugefügt: ,,1939–1945“.

Eine neue Generation Gefallener: Peacekeeping und der Krieg gegen den Terror Leider war das nicht die einzige Ergänzung. 1982 wurde die Inschrift ,,1950– 1953“ hinzugefügt, um der 516 Kanadier zu gedenken, die im Koreakrieg ihr Leben ließen. Das Grab des unbekannten Soldaten wurde im Jahre 2000 eingeweiht, als die sterblichen Überreste eines unbekannten kanadischen Soldaten, der 1917 in der Schlacht von Vimy gefallen war, nach Kanada überführt und mit einem Staatsbegräbnis am Denkmal bestattet wurden. Ihm wurde Erde aus allen Provinzen und Territorien Kanadas und aus Frankreich beigegeben. Die Streitkräfte Kanadas erleiden auch im 21. Jahrhundert Verluste, doch in Einsätzen, die entweder als friedenserhaltend, friedensschaffend oder friedensunterstützend bezeichnet werden. Das Wesen dieser Einsätze und die sich herausbildende öffentliche Antwort auf den Tod im Gefecht hat wieder einmal die Art des Gedenkens des Landes verändert. In den vergangenen 500 Jahren gab es kaum einen Krieg, an dem Kanadier, sei es allein oder gemeinsam, nicht beteiligt waren. Krieg hat das Land geprägt, und doch gibt es den starken Mythos von Kanada als friedliebendem Königreich; als ein führender Historiker des Landes seinem Buch ,,Canada’s Soldiers“ den Untertitel ,,The Military History of an Unmilitary People“ (Die Militärgeschichte eines unmilitärischen Volkes) gab, meinte er das nicht ironisch.52 Da Kanada die Mutter, oder zumindest die Geburtshelferin des Konzepts der Friedenserhaltung war, wurde es von den Kanadiern als Auftrag des Landes und auch als Teil seiner Identität wahrgenommen. Während des Ersten Weltkrieges wurden die Kanadischen Expeditionsstreitkräfte als das Land in Übersee wahrgenommen; seit den fünfziger Jahren kommt diese Rolle den Männern und Frauen zu, die Blauhelme aufsetzen und sich an die Krisenherde der Welt begeben, um Frieden zu bringen. 52

George F.G. Stanley, Canada’s Soldiers, 1604–1954. The Military History of an Unmilitary People, Toronto 1954. Viele Autoren haben sich diesen Gedanken zu Eigen gemacht; vgl. etwa William Kilbourn, Canada. A Guide to the Peaceable Kingdom, New York 1971; Peter C. Newman, True North, Not Strong and Free. Defending the Peaceable Kingdom in the Nuclear Age, Toronto, Ontario, 1983; Graeme S. Mount, Canada’s Enemies. Spies and Spying in the Peaceable Kingdom, Toronto, Ontario, 1993; Jonathan Lemco, Turmoil in the Peaceable Kingdom. The Quebec Sovereignty Movement and Its Implications for Canada and the United States, Toronto, Ontario, 1994 sowie Victor Howard (hg.), Creating the Peaceable Kingdom. And Other Essays on Canada, East Lansing 1998.

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Obwohl der erste Friedensoldat Kanadas bereits 1951 im Dienst getötet wurde, als Brigadegeneral H.H. Angle während der Patrouillentätigkeit an der indisch-pakistanischen Grenze als Mitglied eines UN-Kontingents bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, bestand jahrzehntelang kaum öffentliches Interesse, der Friedenssoldaten auf besondere Weise zu gedenken. Am Remembrance Day wurde ihrer zusammen mit den Soldaten aus den beiden Weltkriegen und des Koreakrieges gedacht und auf den meisten örtlichen Kriegsdenkmälern könnte man leicht die Namen eines oder zweier Friedenssoldaten unterbringen. Veteranen in blauen Baretten erschienen in wachsender Zahl auf den Gedenkfeiern, doch immer im Kontext ihrer Vorgänger; es gab keinen Hinweis darauf, dass ihr Opfer in irgendeiner Weise anders war. Dies begann sich jedoch Anfang der 1990er Jahre zu ändern; die treibende Kraft dabei war die Einweihung des National Peacekeeping Memorials in Ottawa im Jahre 1992. An prominenter Stelle mit Blick auf den Ottawa-Fluss stellt es drei Friedenssoldaten dar, die auf Trümmern stehen, die in einem Gipfel zusammenlaufen, der die Lösung des Konflikts symbolisieren soll. Die bloße Existenz des Denkmals weist darauf hin, dass sich die mehr als 130.000 Kanadier, die seit 1948 friedenserhaltende Einsätze durchführen, qualitativ von den nahezu zwei Millionen, die in den Weltkriegen und in Korea kämpften, unterscheiden; infolgedessen forderten sie ein eigenes Denkmal, eines das den Krieg weniger betont als das Nationale Kriegsdenkmal (bei dem die Figuren bis an die Zähne bewaffnet sind). Die Entwicklung hin zu einem separaten Gedenken wurde 1992 bestätigt, als die Provinz British Columbia einen Gedenktag für Friedenssoldaten (Peacekeeper’s Memorial Day) einführte, der jährlich am 9. August begangen werden sollte (und 2008 landesweit eingeführt wurde). Dieser Tag wurde gewählt, weil die kanadischen Streitkräfte am 9. August 1974 ihre größten Verluste an einem Tag bei einer UN-Mission erlitten: Neun Friedenssoldaten wurden getötet, als ihr Flugzeug, dass sich in einem routinemäßigen Versorgungseinsatz befand, über der libanesisch-syrischen Grenze von syrischen Raketen abgeschossen wurde. Der Peacekeeper’s Memorial Day ähnelt dem Remembrance Day – es gibt Mohn, Kranzniederlegungen, zwei Schweigeminuten, Gebete – dies markiert eine zunehmende Einsicht, dass der Friedenssoldaten getrennt von den Kriegskämpfern gedacht werden sollte. Das gilt auch für die Zahl der Denkmäler, die seit 1992 eingeweiht wurden: das Canadian Peacekeeper’s Memorial, das im Peacekeeper’s Park in Angus, Ontario, eingerichtet wurde, der Stadt, die dem Stützpunkt Borden der kanadischen Streitkräfte; einer der größten militärischen Einrichtungen des Landes am nächsten liegt das Canadian Peacekeeping Memorial auf dem Veterans Square in St John’s, Neufundland, eine Statue eines UN-Friedenssoldatens, der eine Taube freilässt; das Peacekeeping Memorial im Cobequid Veterans Memorial Park in Nova Scotia; Peacekeeper Park und Buffalo Park (benannt nach dem 1974 in Syrien abgeschossenen Flugzeug) in

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Abbildung 4: Das Grab des Unbekannten Soldaten vor Kanadas Nationalem Kriegsdenkmal in Ottawa, Ontario, eingeweiht 2000 (Foto: Patricia Mary O’Neill).

Calgary; das Peacekeeping Memorial, das am 8. August 2004 in Winnipeg, Manitoba, eingeweiht wurde: drei Säulen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie das Heer, die Marine und die Luftwaffe darstellen. In vielerlei Hinsicht sind diese Denkmäler völlig konventionell. Die Auftragsbeschreibung für einen geplanten Peacekeeper Park in Middlesex County, Ontario, könnte direkt von den Richtlinien für ein Kriegsgedenkgemeindezentrum abgeleitet sein: ,,Zur Ehrung kanadischer Friedenssoldaten durch das Angebot erfahrungsbezogener Bildungsprogramme und -einrichtungen im Freien für alle [ … ] bei denen sich jeder physisch und intellektuell entwickeln kann, um einen besseren Beitrag für das Land, die Gemeinschaft und die Familie zu leisten.“53 Doch der Beginn des Krieges gegen den Terror und die Operation in Afghanistan haben die Art des Gedenkens in Kanada grundlegend verändert. Die militärische Rolle des Landes in diesen Einsätzen war umstritten genug, um die Entscheidung, welchen Platz die gefallenen Soldaten in der kollektiven Erin53

http://www.peacekeeperpark.com.

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nerung einnehmen sollen, zu erschweren. Einfacher formuliert: Kann man das Opfer des einzelnen Soldaten ehren, ohne die Ziele des Krieges, in dem er gestorben ist, implizit zu billigen? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten und die kanadische Gesellschaft ist ihr bisher effektiv ausgewichen. Die in Afghanistan dienenden Soldaten sind keine Friedenssoldaten, doch ihre Operationen haben genug Ähnlichkeit mit traditionellen friedenserhaltenden Einsätzen, sodass sie als solche beschrieben werden können. Da man ihren Tod ohne Schwierigkeit so interpretieren konnte, dass er im Prozess, dem afghanischen Volk Frieden zu bringen, eintrat, war es nicht notwendig, die politische Frage der kanadischen Präsenz in Afghanistan in den Gedenkprozess einzuschließen. Gleichzeitig wurde das Gedenken an die Soldaten, die in Afghanistan starben, von gesellschaftlichen Strömungen bestimmt. Die Regierung ist der Öffentlichkeit eher gefolgt als diese zu führen und hat damit vermieden, dass die Vermutung aufkommt, das Gedenken wird zu einer faktischen öffentlichen Unterstützung für den Afghanistaneinsatz manipuliert. Diese ,Denkmäler von unten‘ haben vielfältige Formen. Die meisten stützen sich auf das Internet und nutzen das Wiki-Konzept, das es Besuchern der Webseite ermöglicht, eigene persönliche Mitteilungen über die jeweilige Person hinzuzufügen. Einige sind offiziell, wie das virtuelle Kriegsdenkmal Canadian Virtual War Memorial, das vom kanadischen Veteranenministerium unterhalten wird, doch bei den meisten handelt es sich um private Unternehmen.54 Ein anderes berührendes Denkmal ist die Puppe Izzy, eine kleine gestrickte Puppe für kanadische Soldaten, die diese während der Patrouille an die Kinder vor Ort verteilen sollen. An dieser Idee, mit der eines kanadischen Soldaten gedacht wird, der bei einem Minenräumeinsatz der NATO ums Leben kam, kann sich jeder beteiligen, indem er den Anweisungen auf einer Webseite (die sehr detailliert sind und wenig Spielraum für Kreativität lassen) folgt. Das Verfahren endet mit einem vorgedruckten Etikett, das an jede Puppe angebracht wird (,,IZZY DOLL, liebevoll für dich gemacht im Gedenken an MARK ISFELD, der im 1. Panzerpionierregiment der kanadischen Pioniertruppe diente und am 21. Juni 1994 bei der Beseitigung von Landminen bei Kakma, Kroatien ums Leben kam. [Auf Wunsch können Sie hier Ihren Namen und Adresse eintragen]“), bevor sie zur Verteilung abgeschickt wird.55 Doch die bemerkenswerteste Form des Gedenkens der Gesellschaft ist noch einfacher. Wenn ein Mitglied der kanadischen Streitkräfte in Übersee ums Leben kommt, wird der Leichnam mit einem Militärtransport zum kanadischen Stützpunkt Trenton in Ostontario geflogen. Dort erfolgt die ehrenvolle Aufnahme auf dem Flughafen, an der die Familie sowie Vertreter der Streitkräfte, Mitglieder der Regierung und oft auch das kanadische Staatsoberhaupt, der Generalgouver54 55

Siehe http://vac-acc.gc.ca/remembers/sub.cfm?source=collections/virtualmem. http://www.isfeldbc.com.

Stahl und Stein, Fleisch und Blut Die Kontinuität des Kriegstotengedenkens

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Abbildung 5: Das Nationale Peacekeeping-Denkmal in Ottawa, Ontario, fertiggestellt 1992 (Foto: National Capital Commission).

neur, den gefallenen Soldaten symbolisch in der Heimat begrüßen. Anschließend wird der Leichnam auf der Autobahn 401 in westlicher Richtung zur Leichenhalle der kanadischen Streitkräfte im Norden Torontos gebracht. Zuerst wurde dem wenig Aufmerksamkeit geschenkt, doch als die Zahl der kanadischen Verluste in Afghanistan zunahm, begannen sich kleine Gruppen von Menschen auf den Brücken über der Autobahn zu versammeln; dabei schwenkten einige Fahnen, einige grüßten und die meisten standen da in stiller Ehrerbietung. Bald folgten ihnen organisierte Gruppen – Veteranen, Feuerwehrleute, Polizisten – und mehr Vertreter der allgemeinen Öffentlichkeit. Weder schlechtes Wetter noch Reiseverzögerungen schienen einen Einfluss auf die Mengen zu haben. Tausende Leute warten stundenlang in bitterer Kälte oder bei strömendem Regen, um dem Soldaten für wenige Sekunden, in denen die Wagenkolonne unter ihnen auf der Autobahn hindurchfährt, ihre Ehrerbietung zu zeigen. In Reaktion auf die überwältigende öffentliche Nachfrage wurde dieser Teil der Straße durch die Provinz- und die Bundesregierung in Highway of Heroes (Autobahn der Helden) umbenannt. Doch was bedeutet Gedenken jetzt in dieser Zeit der Interaktivität? Auch wenn sich die Formen geändert haben, die Bedeutung dieser Aufgabe ist erstaun-

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Abbildung 6: An einem kalten Novemberabend 2007 versammelten sich die Menschen zu Ehren der in Afghanistan getöteten Soldaten Nicolas Beauchamp und Michel Levesque, als deren Leichname auf dem ,,Highway of Heroes“ überführt wurden (Foto: Paul McGregor).

lich konstant geblieben. Die Zettel in einem Informationspaket für eine geplante Gedenkmauer für kanadische Soldaten und Friedenswächter sind ausschweifend und ungrammatisch, aber dennoch aufschlussreich: ,,Sie wird Kanadiern und Besuchern die Gelegenheit bieten, das Ausmaß des Opfers zu verstehen, das erbracht wurde, um sicherzustellen, dass wir die Rechte und Freiheiten, die wir heute genießen, behalten. […] Kanada braucht dieses Denkmal zum Nutzen von Bildung, Erbe, Einheit und Geschichte. Dieses Denkmal wird die Zahl und das Ausmaß der Verluste visuell darstellen, wie es nie zuvor geschah. Es erinnert uns, dass Freiheit nicht gratis ist. [ … ] neue Generation werden gebildet und voller Respekt für Kanada sein. […] Das Denkmal wird die Jugendlichen inspirieren, ihr Bestes zu geben, um gute Bürger zu werden […] [und] neue Kanadier über die Opfer unterrichten, die frühere Generationen erbracht haben […]. Welch besseren Bürger kann ein Land haben, als jene, die sich in gefährlichen Zeiten freiwillig bereit erklären, an jedem Ort zu dienen, an den man sie schickt und alle Herausforderungen und Gefahren hinzunehmen, um unsere Freiheiten und Werte zu verteidigen. Diese Personen sind es, die die größte Menschenliebe beweisen. Wie jung sie waren, viele noch Jugendliche, die nie die Chance hatten zu heiraten oder Eltern zu sein. Viele, die gedient haben, zeigten sehr früh die

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Abbildung 7: Während eines Einsatzes als Militärbeobachter der Vereinten Nationen im SüdSudan 2009 überreicht Captain Jamie Bell einem Mädchen eine Izzy-Puppe (Foto: Canada. Department of National Defence/Image 0362).

Liebe für das Land, die Zeiten werden es beweisen.“56 Diese Notizen wurden 2007 geschrieben, doch die darin ausgedrückten Gefühle wären auch 1921 oder 1947 nicht ungewöhnlich gewesen. Bei der Enthüllung des Gedenkgemeindezentrums Peterborough am 14. Dezember 1956 sagte Vincent Massey, der Generalgouverneur von Kanada und während des Zweiten Weltkrieges Repräsentant des Landes in London, England: ,,Es ist sicher passend, dass das Denkmal für diese tapferen jungen Männer ein Zentrum für physisches Wohlbefinden und kulturelle Bereicherung für die Lebenden in der Region ist, aus der sie kamen.“57 Dieses Argument ließ sich leicht vorbringen, da das Nachkriegskanada in vielerlei Hinsicht selbst ein Denkmal für die Toten war. Nach 1918 ließ sich ein greifbarer Nutzen aus dem Ersten Weltkrieg nur schwer anführen – zumindest in positiver Hinsicht. Da es nichts Greifbares und Positives gab, entwickelte sich ein komplexer Mythos, der den 56 57

Why This Memorial? Facts and Highlights, in: http://www.memorialwall.ca/ memorial_wall_about.htm#highlights. Peterborough Examiner, 15.12.1956, zitiert in: Andrew, Crowded Memories, S. 149.

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trauernden Kanadiern Trost spendete und gleichzeitig die Bedeutung des Unbegreiflichen erklärte für das ihre Angehörigen gestorben waren. In diesem Mythos bot die erhabene Rhetorik traditioneller ästhetischer Denkmäler den Trost, den so viele Leute suchten und bot Zuflucht vor einem enttäuschenden Frieden. Nach 1945 waren die Früchte des Sieges überall und ein solcher Zufluchtsort war nicht notwendig. Die Modalitäten des Mythos des Ersten Weltkrieges bestanden weiter, denn es gab kaum Bedarf, einen neuen Mythos zu schaffen. Es war undenkbar, dass die 40.000 Toten des Zweiten Weltkrieges ihr Leben umsonst gegeben haben könnten. Nazideutschland und das kaiserliche Japan waren völlig zerschlagen und Kanada konnte seine Zeit an der Sonne genießen – Vollbeschäftigung, ein wachsendes Bruttosozialprodukt, eine boomende Konsumwirtschaft, politische Stabilität (Mackenzie King war praktisch der einzige westliche Führer, der nach dem Krieg im Amt blieb – seine Liberal Party verlor erst 1957 die Wahlen, ein sicheres Zeichen einer zufriedenen Wählerschaft) und die Sicherheit des Wohlfahrtsstaates. In diesem Zusammenhang war das Kriegsgedenkgemeindezentrum das perfekte Symbol: greifbarer Beweis, dass die Gefallenen ihr Leben gegeben haben, um ein besseres Land aufzubauen. Doch ganz gleich, ob die Denkmäler für Kanadas Kriegstote ästhetisch, utilitaristisch oder interaktiv sind, sie alle beruhen auf der Prämisse, dass die Gefallenen als Lehrbeispiel für zukünftige Generationen dienen sollten. Indem die Toten Bürgerrechte, Humanität und Patriotismus lehren, dienen sie weiter der Sache, für die sie ihr Leben gaben.

Niederlande Piet H. Kamphuis

,,Damit wir nicht vergessen‘‘ Kriegsdenkmäler und Gedenkkultur seit 19451 Für viele ehemalige Widerstandskämpfer und Militärs in den Niederlanden hat ihr Kampf gegen das nationalsozialistische Regime eine fast sakrale Bedeutung. Am 15. August 1964 schrieb der Journalist und Dichter H.N.M. van Randwijk (1909–1966), der sich im zweiten Weltkrieg in der Widerstandsbewegung hervorgetan hatte, im ,,Algemeen Dagblad“ über die sich entfaltende historiografische Kriegsdebatte: ,,Es ist eine leidige Sache, dass es heilige Kriege nur beim Ausbruch gibt und so lange sie geführt werden. Gehen sie einmal in die Geschichte ein, dann verblasst ihr Glanz allmählich. […] Wie wird das mit dem Zweiten Weltkrieg ausgehen? […] In Amerika und Großbritannien haben Historiker bereits versucht, die Schuld am Krieg wenigstens beiden Parteien in die Schuhe zu schieben.” Van Randwijk nahm hiergegen dezidiert Stellung: ,,Ich glaube es nicht! Ich glaube es noch nicht! Eine Seite kämpfte und sprach für die gute Sache, die andere für die falsche […] Sache. Und das bleibt so, und es bleibt einfach, auch wenn die historische Distanz viele Sachen komplizierter macht, als sie uns im Krieg erschienen.“2 Van Randwijk war ein Vertreter der Generation ehemaliger Widerstandskämpfer – Militärs und Zivilisten –, die nach 1945 die nationalen Gedenkfeiern mitgestalteten und die Gründung von Kriegsdenkmälern vorantrieben. Sie bemühten sich, die traumatischen Erfahrungen im nationalen Bewusstsein zu verankern. Das führte zu Diskussionen und Emotionen. Im Gegensatz zu den Anrainerstaaten gab es in den Niederlanden keine ausgeprägte historische Gedenkkultur, auf die man hätte zurückgreifen können. Das Königreich hatte sich nach der belgischen Abtrennung 1839 durch eine Politik der Nichteinmischung und bewaffneten Neutralität außerhalb des Kampfgetümmels in Europa zu halten gewusst. Die Erschütterung, die der deutsche Übergriff am 10. Mai 1940 und die Besatzungsjahre auslösten, war denn auch umso größer.

1 2

Aus dem Niederländischen übersetzt von J. Smink. Hendrik Mattheus van Randwijk, In de schaduw van gisteren. Kroniek van het verzet 1940– 1945, Amsterdam 1967, S. 286f.

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Abbildung 1: Das Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen niederländischen Soldaten auf dem Grebbeberg in der Nähe der Stadt Wageningen auf dem Utrechter Moränenrücken (Foto: Niederländisches Institut für Militärgeschichte).

Deshalb entwickelte sich in den Niederlanden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gedenkkultur ohne historische Vorläufer. Diese prägt die Erinnerung bis heute, wenngleich sich in den folgenden Jahrzehnten einige auffällige Änderungen vollzogen. Den ermordeten Juden und anderen Opfern des NS-Terrors, die zivilen Opfer und die im Kampf gegen Japan gefallenen Niederländer mussten in den Gedenkfeiern berücksichtigt werden. Darüber hinaus verlangten auch die Veteranen aus anderen bewaffneten Konflikten Anerkennung für ihren Einsatz und ihre Opfer. Hier ist an erster Stelle an die Soldaten zu denken, die sich am Dekolonisationskrieg zwischen 1945 und 1949 im ehemaligen Niederländisch-Ostindien beteiligt haben, aber auch an diejenigen, die später bei UNOperationen im Einsatz waren. Im Folgenden werden vor allem das Entstehen und die Entwicklung der Gedenkkultur und der Kriegsdenkmäler in den Niederlanden – eine unzertrennliche Dualität – erläutert. Die mannigfaltigen Denkmäler für die alliierten Militärs in den Niederlanden bleiben dabei unberücksichtigt.

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Denkmäler Der Erste Weltkrieg ging größtenteils an den neutralen Niederlanden vorbei. Militär und Gesellschaft erfuhren dadurch nur indirekt von den Gräueln der modernen Kriegführung. Gewiss, es gab natürlich Opfer, etwa bei der Flotte, der Handelsschifffahrt, der Fischerei. Für sie wurden nach 1918 Denkmäler errichtet. Auch das mobilisierte Militär erhielt aus Respekt und Dankbarkeit ein Denkmal. Dennoch hat der Erste Weltkrieg im Großen und Ganzen das niederländische Nationalbewusstsein kaum beeinflusst, geschweige denn, dass er den Ansatz zu einer Gedenkkultur gebildet hätte. Denkmäler für den Unbekannten Soldaten gab es in den Niederlanden also nicht.3 Der deutsche Überfall am 10. Mai 1940 erschütterte die niederländische Gesellschaft zutiefst. Die Besatzungsjahre 1940 bis 1945 bilden nach wie vor eine wichtige Zäsur in der niederländischen Geschichte. Sie haben bis auf den heutigen Tag ihre Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Unsere Ansichten zu Frieden und Freiheit sowie unsere Vorstellungen über gut und böse sind vom Zweiten Weltkrieg geprägt worden. Die niederländische Gesellschaft wurde vom Weltkrieg in die neu entstehenden, multilateralen Entwicklungen hineingezogen und sah sich der Herausforderung gegenüber, mit den Opfern von Kriegsgewalt und Verfolgung umzugehen. Die erste Antwort gaben die niederländischen Militärs. Sie errichteten unmittelbar nach der Kapitulation Kriegsdenkmäler für ihre gefallenen Kameraden. Diese Bauwerke waren begreiflicherweise recht einfach. Die Deutschen und die nationalsozialistische Bewegung Anton Musserts – er war der niederländische Quisling – drückten bei diesen ersten Gedenkfeiern ein Auge zu, wenn nur nicht die Nationalhymne ertönte. Nach der Befreiung am 5. Mai wurden im ganzen Land Denkmäler errichtet, in der Regel kleine, manchmal auch größere. Bemerkenswert ist, dass vor allem Privatpersonen die Initiative ergriffen, gefallener Widerstandskämpfer und Militärs zu gedenken. Sie stellten auch Geld dazu bereit. Die Privatinitiative vollzog sich auf zwei Wegen. Einerseits kamen – mit kommunaler Unterstützung – Denkmäler zustande, die die ehemals ortsansässigen Opfer ehrten. Andererseits begegnen wir Denkmälern, durch die öffentliche Instanzen und gesellschaftliche Organisationen ihre Opfer zu ehren gedachten. Die Denkmäler der Teilstreitkräfte gehören zu dieser Kategorie. Die staatlichen Behörden hielten sich zunächst zurück. Obwohl einzelne Minister und andere Führungskräfte ein Ohr hatten für das Bedürfnis breiter Bevölkerungsschichten, mittels Denkmäler ihrer Opfer zu gedenken, befürchtete die Regierung einen Wildwuchs in der Errichtung von Denkmälern. Ein Antrag des niederländischen 3

Angela Dekker, De onbekende soldaat, Breda 2003, S. 49–68; Jos Perry, Wij herdenken, dus wij bestaan. Over jubilea, monumenten en de collectieve herinnering, Nijmegen 1999, S. 75–78.

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Bildhauerkreises im Juni 1945 an die Regierung, die Errichtung neuer Denkmäler zeitweilig zu verbieten, um Pfuscherei vorzubeugen, wurde im Oktober 1945 aufgegriffen. Die Regierung ernannte einen Gutachterausschuss für den Denkmalbau, der sich aus prominenten Architekten, Bildhauern und Philologen zusammensetzte. Dieser Beschluss fand jedoch keinen allgemeinen Beifall. Manche Ortsausschüsse der ehemaligen Widerstandsbewegung betrachteten dies als eine Einschränkung der hart erkämpften Freiheit. Sie hatten Initiativen ergriffen, um Mittel zu sammeln, wurden außerdem von den Kommunalbehörden unterstützt und hatten sich oftmals selbst einen Künstler oder eine Künstlerin ausgesucht. Sie prangerten diese Bevormundung an und beantragten massenweise Ausnahmen beim Kultusministerium. Diesen Anträgen wurde jedoch nicht immer stattgegeben. In einigen Fällen erteilte der Minister den Auftrag, ein Denkmal abzureißen, in anderen musste es an weniger auffällige Stellen verlegt werden.4 Es ist durchaus verständlich, dass derartige Entscheidungen örtlich viel Aufhebens verursachten. Die ästhetische Qualität war der Regierung wohl wichtiger als die Gefühle der Ortsansässigen. Zunächst standen in der Gedenkkultur die gefallenen Militärs und Widerstandskämpfer sowie die Ortsinitiative im Vordergrund. Mit zunehmender Distanz zum Krieg aber vollzogen sich einige signifikante Änderungen in der Art und Weise, wie die ehemaligen Akteure ihre Erinnerung symbolisierten. Zuerst erhielt die nationale Dimension einen prominenteren Platz. 1947 legte der nationale (Kriegs)Denkmalausschuss, der mit dem Auftrag eingesetzt worden war, die niederländische Einheit zu betonen, einen Vorschlag für die Gründung von Nationaldenkmälern vor. Dies führte in den fünfziger Jahren unter anderem zum Bau des Amsterdamer Nationaldenkmals (1956), zu den Mahnmalen bei den Konzentrationslagern in Vught, Amersfoort und Westerbork, und zu Denkmälern für die Königliche Marine und das Königliche Heer. Die 3300 Opfer der Handelsschifffahrt erhielten 1957 in Rotterdam ihr eigenes Denkmal.5 Außerdem erhielten auch andere Opfer des Krieges einen Platz in der Gedenkkultur, allen voran die Holocaustopfer. Auch hier stoßen wir auf eine augenfällige Parallele. An erster Stelle ergriffen die Hinterbliebenen der jüdischen Opfer selbst die Initiative, lokale Denkmäler zu Ehren bestimmter Gruppen, Familien oder Ereignisse zu errichten. Das erste große Denkmal zum Gedächtnis der Holocaustopfer wurde erst 1962 errichtet. Damals weihte der Amsterdamer Bürgermeister Gijsbert van Hall, selbst ein ehemaliger Widerstandskämpfer, für die mehr als 50.000 jüdischen Niederländer, die nach Deutschland verschleppt worden waren, die Hollandse Schouwburg als Denkmal ein. Das Theater, das

4 5

Wim Ramaker / Ben van Bohemen, Sta een ogenblik stil. Monumentenboek 1940–1945, Kampen 1980, S. 19–25. Ebd., S. 69.

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als Sammelstelle für die Deportation gedient hatte, ist heute ein Museum. In den nachfolgenden Jahren vollzog sich eine weitere Diversifizierung. Wie sahen die niederländischen (Kriegs)Denkmäler aus? Im Allgemeinen fällt ihre Einfachheit auf, sie sind wenig martialisch und durchaus nicht barock. Sie waren das Spiegelbild des bürgerlich-calvinistischen Wesens der niederländischen Gesellschaft mit einem vergleichsweise ausgeprägten egalitären Charakter. Viele Denkmäler zeigten den niederländischen Löwen und die Nationalflagge. Bei anderen Bauwerken stand ein Schwert im Mittelpunkt, das nur widerwillig zum Kampf erhoben wurde, wieder andere stellten den Kampf zwischen dem Heiligen Georg (Sankt Jöris) und dem Drachen dar, zeigten Kruzifixe, Tauben und flehende oder in Verzweiflung ausgestreckte Hände oder den mythischen Vogel Phönix als Symbol der Wiedergeburt. Oftmals hatten die Erbauer Säulen und Obelisken als Träger der Erinnerung von Vergänglichkeit und Tod gewählt. Pflanzen und Blumen symbolisierten dagegen ein neues Leben oder dessen Verletzlichkeit. Brennende Fackeln sollten die Hoffnung, die Verbrennung des Bösen darstellen oder fungierten als Freiheitsfackeln. Trauernde Frauen und Kinder symbolisierten die unvollständige Familie. Nackte Körper hoben die menschliche Verletzbarkeit hervor, was mancherorts auf heftigen Widerstand von kirchlichen Gruppen stieß und stürmische politische Debatten auslöste. In einem Fall wurde der Künstler ermahnt, seine nackte Schöpfung mit einem Lendentuch zu bekleiden.6 Die politische Debatte drehte sich indes nicht nur um die Frage, ob Kunstwerke nackte Körper darstellen durften. Auf dem Gipfel des Kalten Krieges stellte der Anteil der Kommunistischen Partei der Niederlande (Communistische Partij van Nederland, CPN), am Widerstand ein heikles Thema dar. Bei der Enthüllung des Dokwerker-Denkmals 1952, das die Erinnerung an den Streik der Hafenarbeiter im Februar 1941 lebendig halten soll, sprach Königin Juliana mit keinem einzigen Wort vom kommunistischen Engagement. Die CPN ihrerseits versuchte diesen Streik, einen Protest der Hafenarbeiter gegen die Verhaftung von 425 Juden durch die Ordnungspolizei, zu monopolisieren. In Folge dessen wiederholte sich vor diesem Denkmal im Herzen Amsterdams eine ideologische Konfrontation im Medium des Opfergedenkens. Vereinzelt stand auch die Ästhetik moderner Denkmäler zur Diskussion. So war die Statue ,,De Verwoeste Stad“ von Ossip Zadkine, die dem Bombardement auf Rotterdam gewidmet ist, vielen Bewohnern zu abstrakt, während sich andere mit der Analogie schwer taten, die es zwischen einem zerstörten Stadtkern und einem zerrütteten menschlichen Körper geben soll.7 6 7

Ebd., S. 41–67. Ebd., S. 79–85 und S. 195; Wim van den Doel, Rotterdam: Zadkines de verwoeste stad. Het bombardement van 14 mei 1940, in: Ders. (Hg.), Plaatsen van herinnering. Nederland in de twintigste eeuw, Amsterdam 2005, S. 98–109.

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Piet H. Kamphuis Abbildung 2: Das DokwerkerDenkmal in Amsterdam zum Gedenken an den Streik der Amsterdamer Hafenarbeiter im Februar 1941 anlässlich der Verhaftung jüdischer Landsleute durch die Ordnungspolizei (Foto: Niederländisches Institut für Militärgeschichte).

Wie gesagt, die meisten Denkmäler fanden ihren Ursprung in privaten Initiativen. Unterschiedliche Gruppen und Organisationen fühlten sich berufen, den eigenen Opfern die Ehre zu erweisen. Die Kriegsdenkmäler sind ein deutlicher Spiegel der Kultur einer parteipolitisch erstarrten Gesellschaft, die die Niederlande bis weit in die achtziger Jahre hinein waren.

Totenfeier Kriegsdenkmäler erfüllen grundsätzlich jeden Tag eine Funktion, vor allem für die Hinterbliebenen. Ihre breitere, gesellschaftliche Funktion kommt besonders bei offiziellen Gedenkfeiern zum Ausdruck. In den Niederlanden fanden die ersten spontanen Gedenkfeiern unmittelbar nach der Befreiung statt.8 Am 4. Mai 1946 lief das erstmals nach einem Muster ab, das sich bis auf den heutigen Tag bewährt hat. Damals organisierte die Bevölkerung in vielen Städten zum ersten Mal einen Schweigemarsch, der zu oder von einem bedeutenden Ort oder Ziel wie einem Gefängnis, einer Hinrichtungsstelle oder einem Friedhof führ8

Bart van der Boom, Den Haag: de Waalsdorpervlakte. Verzet en repressie in de Tweede Wereldoorlog, in: Van den Doel, Plaatsen van herinnering, S. 123–133.

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Abbildung 3: Das niederländische Staatsoberhaupt, Königin Beatrix, legt zusammen mit ihrem Sohn und Thronnachfolger, Prinz Willem Alexander, einen Kranz beim Nationaldenkmal auf dem Dam in Amsterdam nieder bei der alljährlichen Totenehrung am 4. Mai (Foto: Niederländisches Institut für Militärgeschichte).

te. Hier ehrten die Teilnehmer die Toten und legten meist eine Schweigeminute ein; die damals noch wenigen Autos und Busse hielten an. Die Organisation dieser Veranstaltungen lag auf der lokalen wie der nationalen Ebene bei den ehemaligen Widerständlern. Das Nationaldenkmal auf dem Dam zu Amsterdam und die Totenehrung in der Hauptstadt entwickelten sich allmählich zu einer nationalen Totenfeier. Seit dem 4. Mai 1988 gedenken an diesem Tag neben der Königin der Ministerrat, die Militärführung, der ehemalige Widerstand, die Verbände von Kriegsbetroffenen und viele Hinterbliebene der Opfer von Kriegsgewalt. In jeder Gemeinde fand zur gleichen Zeit die örtliche Totenfeier statt, wobei der Bürgermeister die höchste Autorität war. Weiterhin fanden Ehrungen bei den eigenen Gedenkstätten der Teilstreitkräfte sowie den unterschiedlichen Divisionen, Bataillonen und Kompanien statt, manchmal am 4. Mai, häufig auch am Gründungsdatum der betreffenden Einheit. Das Militär zeichnete sich also durch ein feinmaschiges Netz von Gedenkfeiern aus.9 9

Martin Elands u. a., De geschiedenis van 1Divisie ,,7 December“, Den Haag 1996, S. 328; vgl. auch das informative Verzeichnis des Nationalkomitees 4./5. Mai: http:// www.4en5mei.nl/oorlogsmonumenten.

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Piet H. Kamphuis Abbildung 4: Kranzniederlegung beim Nationaldenkmal auf dem Dam in Amsterdam anlässlich der alljährlichen Totenehrung am 4. Mai (Foto: Niederländisches Institut für Militärgeschichte).

Die offizielle Totenfeier richtete sich in den ersten Nachkriegsjahren besonders an die gefallenen Soldaten und Widerstandskämpfer. Erst in den sechziger Jahren bekam die niederländische Gesellschaft nach und nach ein Gespür für das entsetzliche Schicksal der jüdischen Landsleute, und allmählich nahm man wahr, dass fast das gesamte jüdische Volk durch grausamste Verbrechen die größte Gruppe der Kriegsopfer ausmachte. Zu dieser Erkenntnis trug auch die Dokumentationsreihe ,,De Bezetting“ (Die Okkupation) bei, die zwischen 1960 und 1966 vielen Holländern die Augen öffnete. Auch der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem spielte eine Rolle. Schließlich hinterließ das Buch ,,Ondergang. De vervolging en verdelging van het Nederlandse Jodendom 1940–1945 [Untergang. Die Verfolgung und Ausrottung des niederländischen Judentums 1940–1945]“, geschrieben von dem Amsterdamer Historiker Jacques Presser, der den Krieg bei Freunden versteckt überlebte, tiefen Eindruck.10 Immer deutlicher war bei der jüngeren Generation die Frage herauszuhören, wie es denn überhaupt möglich gewesen sei, dass das Land der Anne Frank die prozentual höchste Anzahl jüdischer Kriegsopfer von ganz Westeuropa aufwies? Die traditionelle Vorstellung einer Nation, die in der Mehrheit aus tapferen Widerstandskämpfern bestanden und nur vereinzelte Kollaborateure gezählt hätte, zerbröckelte in den siebziger Jahren. Der Begriff ,,akkommodieren“ bürgerte sich als Bezeichnung für die Haltung der meisten Landsleute während der Besatzungsjahre ein. 10

Jacques Presser, Ondergang. De vervolging en verdelging van het Nederlandse Jodendom 1940–1945, 2 Teile, Den Haag 1965.

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Abbildung 5: De Hollandse Schouwburg, Denkmal zu Ehren der mehr als 50.000 jüdischen Landsleute die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppt wurden (Foto: Niederländisches Institut für Militärgeschichte).

Der Begleiteffekt war, dass andere Gruppen von Kriegsopfern, die ebenfalls in Form von Denkmälern und Gedenkfeiern Anerkennung verlangten, mehr Gehör fanden. 1973 wurde das Gesetz zur Beihilferegelung für Verfolgungsopfer (,,Uitkeringen Vervolgingsslachtoffers“) erlassen, das die ehemals ignorierten Gruppen anerkannte. Eine dieser Gruppen bestand aus Roma und Sinti, die 1978 ein eigenes Denkmal erhielten. Homosexuelle und Zwangsarbeiter mussten am längsten auf öffentliche Anerkennung warten. Erst in den neunziger Jahren wurden Denkmäler für diese Toten errichtet.11 Eine weitere wichtige Entwicklung war die Ausweitung der Gedenkkultur auf die Kriegsopfer in Asien. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren gab es ,,daheim“ kaum ein Bewusstsein für das grauenhafte Schicksal der niederländischen Militärs in japanischer Kriegsgefangenschaft oder für die niederländischen Staatsangehörigen, die in Niederländisch-Ostindien in Männer-, Frauen- und Kinderlagern interniert waren. Im Mutterland war die Aufmerksamkeit ganz 11

Karen Polak u. a. (Hg.), Een stilte die spreekt. Herdenken in diversiteit, Amsterdam 2000, S. 22–26; Julika Vermolen, De vierde en vijfde mei. Herinnering aan en herdenking van de Tweede Wereldoorlog, in: Oorlogsdocumentatie ’40–’45. Zesde Jaarboek van het Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie (1995), S. 92f. und S. 101–105.

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und gar auf die Bewältigung des eigenen Kriegsleidens und den Wiederaufbau gerichtet.12 Was den indischen Archipel anbelangte, richtete sich die Aufmerksamkeit insgesamt auf den indonesischen Dekolonisationskampf, der direkt nach der japanischen Kapitulation ausgebrochen war. Als die NiederländischIndische Gemeinde nach der Übertragung der Souveränität im Dezember 1949 in den Niederlanden ankam, wurde ihr ein kühler Empfang zuteil. Es gab wenig Verständnis für das schwere Leid, das ihr im Krieg widerfahren war. Hinzu kam, dass Politik und Gesellschaft nicht gerne an das Fehlschlagen der niederländischen Kolonialpolitik nach 1945 erinnert wurden.13 Für ihre Angehörigen war nicht der 5. Mai der Befreiungstag, sondern der 15. August, der Tag der japanischen Kapitulation. Die indischen Interessenverbände lenkten mit besonderen Gedenkfeiern und Familientreffen die Aufmerksamkeit auf ihr eigenes Schicksal. Überlebende aus den ehemaligen Frauenlagern ergriffen die Initiative zu einem eigenen Denkmal.14 Im Laufe der Jahre zeigten sich Politik und Gesellschaft in zunehmendem Maße bereit, die Wünsche der indischen Gemeinde zu erfüllen. 1980 wurde der 15. August der offizielle Gedenktag für die Opfer in Asien; ab 1988 wohnten Vertreter von Königshaus, Ministerrat und Militär der Gedenkfeier am indonesischen Denkmal in Den Haag bei.15 Auch der Dekolonisationskrieg hinterließ schließlich Spuren in der Erinnerungslandschaft. Den niederländischen Soldaten, also den Berufsmilitärs, Kriegsfreiwilligen und Wehrpflichtigen, die zwischen 1945 und 1949 im damaligen Niederländisch-Ostindien gekämpft hatten, brachte die Gesellschaft zunächst wenig Anteilnahme entgegen. Den Behörden fiel es schwer, ihnen eine gebührende Stelle bei den offiziellen Gedenkfeiern einzuräumen. Die Veteranen mussten die Regierungspolitik durchführen und zahlten später einen hohen Preis für die Kontroverse, die mittlerweile über diese Politik entstanden war. Viele ehemalige Widerstandskämpfer waren der Meinung, dass die ursprüngliche Bedeutung der Gedenkfeiern am 4. Mai geschmälert werden könnte, wenn den Indonesienveteranen ein Platz eingeräumt würde. Sie vertraten die Auffassung, dass die entsendeten Militärs Helfershelfer eines verächtlichen Kolonialsystems gewesen waren. Letztlich hatte es den Anschein, dass der Regierungsbeschluss von 1961, wonach aller Militärs und Zivilisten gedacht werden sollte, die in Kriegs- oder Friedenseinsätzen seit 1940 umgekommen waren, die Gemüter 12 13

14 15

Martin Bossenbroek, De meelstreep. Terugkeer en opvang na de Tweede Wereldoorlog, Amsterdam 2001. Elsbeth Locher-Scholten, Van Indonesische urn tot Indisch monument. Vijftig jaar Nederlandse herinnering aan de Tweede Wereldoorlog in Azië, in: Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 114 (1999), S. 204. Ebd., S. 206–212; Vermolen, De vierde en vijfde mei, S. 94–96. Polak u. a., Een stilte die spreekt, S. 128–131.

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Abbildung 6: Das Indiendenkmal in Roermond zu Ehren der in den Dekolonisationskriegen 1945–1949 und 1962 gefallenen Militärs in den damaligen Kolonien Niederländisch-Ostindien und Neuguinea (Foto: Niederländisches Institut für Militärgeschichte).

beruhigt hätte. Eine Fernsehsendung von 1969 jedoch, in der ein ehemaliger Wehrpflichtiger von niederländischen Kriegsverbrechen in Indonesien sprach, zerstörte diese Illusion. Bei den Veteranenverbänden war auf einmal die Hölle los. Sie entfesselten einen erbitterten Kampf um Respekt und Ehrerbietung. 1988 bekamen die Indonesienveteranen dank einer Privatinitiative ein eigenes Denkmal, obwohl sie sich mit der abseits gelegenen Stadt Roermond an der deutsch-niederländischen Grenze begnügen mussten.16 Wie etwa beim Vietnam-Denkmal in Washington sind hier die Namen aller Militärpersonen eingetragen, die in Indonesien oder Neuguinea ihr Leben verloren. Alljährlich findet hier am 7. September eine große Gedenkfeier statt, die auch im offiziellen Gedächtniskalender verzeichnet ist. Heutzutage wird bei den Gedächtnisfeiern der Zusammenhang zwischen den damaligen und heutigen Einsätzen betont. Im Jahre 2003 wurde in Roermond ein zweites Denkmal zum Gedächtnis an die Militärangehörigen enthüllt, die in einen UN-Einsatz oder bei anderen internationalen Friedensoperationen umgekommen sind. Für die jüngeren Veteranengenerationen bedeutete es eine 16

Elands u. a., 1Divisie ,,7 December“, S. 331–342.

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wichtige Anerkennung ihres Einsatzes. Das Verteidigungsministerium, das die Finanzen für dieses Denkmal bereitstellte und die jährlichen Gedenkfeiern unterstützt, hatte auf diese Weise die alten und die jungen Veteranen zusammengeführt. Für die Veteranen von morgen – die heute weltweit eingesetzten Soldaten – ist also schon proaktiv eine Maßnahme getroffen worden. Bei den Gedenkfeiern am 4. Mai zeichnet sich in den Kommunen wie im nationalen Rahmen die gleiche Tendenz ab. Die Generation des Zweiten Weltkrieges ist sich bewusst, dass sie stirbt. Aus diesem Grunde wird versucht, jüngere Generationen – allen voran Schulkinder – bei den Gedächtnisfeiern einzubeziehen. Die Veranstalter der Gedenkfeiern, die ehemals der Ehrerbietung gegenüber den Opfern deutscher oder japanischer Gewalt dienten, verlagern denn auch allmählich den Schwerpunkt darauf, den Teilnehmen universelle Werte wie Freiheit, Sicherheit und Menschenrechte bewusst zu machen, für die viele Landsleute das höchste Opfer dargebracht haben.17

Zusammenfassung In den Niederlanden kann man vor 1940 kaum von einer Gedenkkultur sprechen. Unmittelbar nach dem Krieg nahm diese aber Gestalt an und wurde in hohem Maße durch die bürgerliche Kultur der niederländischen Gesellschaft geprägt. Die Privatinitiative nahm eine wichtige Stelle ein, sowohl bei der Errichtung von Denkmälern, die einfach und wenig martialisch waren, als auch bei der Organisation von Gedächtnisfeiern. Der Akzent lag ursprünglich darauf, der gefallenen Widerstandskämpfer und Militärs zu gedenken. Die staatlichen Behörden überwachten die ästhetische Qualität und ergriffen nach einigem Zögern die Initiative zu der Errichtung nationaler Denkmäler in den fünfziger Jahren. In den sechziger Jahren erfolgte eine Emanzipationswelle innerhalb der Gedenkkultur. Auch andere Kriegsopfer erhielten nun Denkmäler. Als erstes gedachte man der Holocaustopfer, bald danach folgten die Sinti und Roma, die Zwangsarbeiter und noch später die Homosexuellen. Die Opfer von Kriegsgewalt in Asien und die Opfer der niederländischen Einsätze im damaligen Niederländisch-Ostindien in den Jahren 1945 bis 1949 wurden zunächst im Gedenkkalender verzeichnet und erhielten 1988 eigene ,,nationale“ Denkmäler in Den Haag und Roermond. Die Militärs der Friedenseinsätze erhielten ebenfalls in Roermond ein eigenes Denkmal. Zusammenfassend kann man sagen, dass die niederländische Gedenkkultur zwischen 1945 und 2007 die soziokulturelle Entwicklung der niederländischen Gesellschaft insgesamt widerspiegelt. Gleiches gilt übrigens auch im Hinblick auf die Militäreinsätze. 17

Vgl. Perry, Wij herdenken, S. 75–85; Vermolen, De vierde en vijfde mei, S. 87–90; Elands u. a., 1Divisie ,,7 December“, S. 340–342.

Polen Joanna Wawrzyniak

Gefallenengedenken im Schatten des Zweiten Weltkriegs Die Öffentlichkeit und die Auslandseinsätze seit 19451 Ende des Jahres 2008 kehrten die Soldaten der zehnten und letzten Ablösung des polnischen Armeekontingents aus der Stabilisierungsmission im Irak zurück. Verteidigungsminister Bogdan Klich nannte die größte Operation einer polnischen Armee nach dem Zweiten Weltkrieg einen ,,evidenten Erfolg“. Er versicherte den Soldaten, dass die Polen stolz auf sie seien. An der fünf Jahre währenden Operation im Irak nahmen über 15.000 polnische Soldaten teil. Die Führung der Landstreitkräfte merkte an, dass die Beendigung der Mission ein guter Moment sei, ihnen ein Denkmal zuzusichern. Errichtet werden solle es in Stettin, da die von dort stammende Division die Mission begonnen, die sechste Ablösung gestellt und als zehnte und letzte die Mission beendet hatte. Der erste im Irak gefallenen Soldat, Oberstleutnant Hieronim Kupczyk, war ein Stettiner. Die Initiative der Armee fand die Unterstützung der Stettiner Stadtregierung. So sah eine Projektidee vor, dass das neue Denkmal den Platz des Dankbarkeitsdenkmals im Stadtzentrum ersetzen solle, dass zum Andenken der Roten Armee 1950 errichtet worden war. Nach dem Ende der kommunistischen Volksrepublik war vom steinernen Sockel des Denkmals der Sowjetstern entfernt worden. Die Stettiner Regierenden schlugen nun vor, das alte Denkmal von seinem Standort in der Stadtmitte auf den sowjetischen Soldatenfriedhof zu versetzen. Dieses Vorhaben war jedoch nicht einfach umzusetzen, denn nach den internationalen Verträgen kann eine solche Umsetzung nur mit Zustimmung der russischen Föderation erfolgen.2 Die Geschichte des Irakdenkmals ist eine gute Hinführung zum Thema des Verhältnisses der polnischen Gesellschaft zu ihren nach 1989 in internationalen Operationen gefallenen Soldaten. Das Denkmal selbst wurde bislang nicht aufgestellt und es ist auch noch nicht abzusehen, ob es je errichtet wird. Das liegt 1 2

Aus dem Polnischen übersetzt von Tim Buchen, aus dem Englischen von Jörg Echternkamp. Marcin Górka/Adam Zadworny, Pomnik Weteranów Iraku, in: Gazeta Wyborcza, 12.10. 2008.

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an den unterschiedlichen Auffassungen über seinen Standort und seine Bedeutung. Das Ministerium für nationale Verteidigung möchte verhindern, dass in der Öffentlichkeit die Meinung entsteht, dass das ,,sowjetische“ durch ein ,,amerikanisches“ Denkmal ersetzt werde. Im Ministerium will man zudem das Denkmal den Teilnehmern aller polnischen Friedensmissionen widmen, darunter auch jene der Operationen in Afghanistan und im Namen der Vereinten Nationen, während die Armee und ihre Soldaten mit diesem Denkmal ausschließlich die Irakveteranen würdigen möchten. Die Soldaten erklärten sich sogar dazu bereit, die Kosten hierfür selbst einzuwerben. Darüber hinaus zeigt die Geschichte des nicht existierenden Denkmals die in Polen ungewöhnlich häufige Verknüpfung des Zweiten Weltkriegs mit der Erinnerungspraxis. Dabei ist es in diesem Zusammenhang nur ein Zufall, dass sich die ganze Angelegenheit in einer ehemals deutschen Stadt abspielte, die aufgrund der Grenzverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen fiel. Während die im Irak kämpfenden Soldaten ein dauerhaftes Symbol für ihre militärischen Erfahrungen wünschten und die Vertreter der Regierung ein Zeichen für die Engagements der gesamten Armee in allen auswärtigen Missionen setzen sollten, suchten die Stadtvertreter in Stettin vor allen Dingen nach einem Weg, um die Spuren der sowjetischen Soldaten zu tilgen. Im Fall der Erinnerung an die militärischen Missionen nach 1989 bewahrheitete sich der folgende Aphorismus des polnischen Satirikers Stanisław Jerzy Lec nicht: ,,Schont die Sockel, wenn ihr Denkmäler stürzt. Sie können noch gebraucht werden.“ Denn wie sich zeigte, gibt es kein solides Fundament, auf dem man einfach ein neues Monument errichten könnte. Die Frage der Präsentation der gefallenen Soldaten ist gleichzeitig die Frage nach der kollektiven Erinnerung an die Mission. Soziologen gehen in der Regel davon aus, dass das kollektive Gedächtnis eine von den Angehörigen einer gesellschaftlichen Gruppe geteilte Vorstellung der Vergangenheit ist. Diese Vorstelllungen erfüllen eine nicht unwesentliche gesellschaftliche Funktion. In erster Linie erhalten sie die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und tragen zur Legitimation oder Delegitimation von Macht bei. Sie drücken sich vor allem in Narrativen, Symbolen und Emotionen aus, die für die Teilnehmer der Gemeinschaft lesbar sind. Im kollektiven Gedächtnis ist außerdem Platz für Konflikte zwischen konkurrierenden Repräsentationen von Vergangenheit. Dabei kann es sich um bloße Rituale handeln oder um die Folge von gesellschaftlicher Differenzierung und Konflikten über Grundwerte. Die Repräsentation von Toten und die Symbolik des Todes finden sich häufig im Zentrum kollektiver Vorstellungen.3 3

Vgl. u. a. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen [1925], Berlin 1966; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Barbara A. Misztal, Theories of Social Remembering, Maidenhead/PA 2003.

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Im Fall der Opfer, die gegenwärtig aufgrund der Auslandsmissionen der polnischen Armee zu beklagen sind, sieht das ganz anders aus. Die polnische Gesellschaft hat noch kein System von Praktiken und Zeichen gefunden, das es ermöglichen würde, die gefallenen Soldaten zu ehren. Das liegt an einer Verflechtung historischer, politischer und gesellschaftlicher Umstände, die ich vor allem am Beispiel der polnischen Beteiligung an den Konflikten im Irak und in Afghanistan, den größten und in der Öffentlichkeit bekanntesten Operationen, beschreiben möchte. Bislang hat das Thema in Polen noch keine wissenschaftliche Beachtung gefunden. Es gibt daher noch keine herrschende Meinung und keine analytischen Kategorien, auf die wir uns beziehen könnten, ganz im Gegensatz zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.4 Um die Frage zu beantworten, ob und wie die polnische Gesellschaft gefallener Soldaten gedenkt, habe ich vor allem allgemein zugängliche mediale und ikonografische Quellen, Regierungsinformationen und Meinungsumfragen ausgewertet.

Historische Vorbedingungen Warum gibt es keine Diskussion über das Gedenken an die Toten der internationalen Missionen? Die Frage weist auf ein grundlegendes Problem hin. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind relativ wenige Soldaten außerhalb der Grenzen des Landes gestorben, obwohl das Engagement der polnischen Armee in Friedensmissionen eine lange Geschichte hat.5 Nach Schätzungen aus dem Jahre 2005 nahmen rund 50.000 Polen an verschiedenen Friedensmissionen teil, darunter Soldaten, Polizisten und Zivilisten. Bis dahin beteiligten sich die Vertreter Polens an sieben schlichtenden oder überwachenden Beobachtungen von Friedensschlüssen internationaler Kommissionen auf bilateraler Ebene sowie an 65 weiteren Friedensmissionen von UN, OSZE, EU und NATO.6 Zum ersten Mal nahmen Polen 1953 an einer internationalen Mission teil, als sie sich gemeinsam mit Tschechoslowaken, Schweizern und Schweden an der Überwachungskommission neutraler Staaten in Korea beteiligten. Anschließend rückten Polen noch mehrfach aus, unter anderem nach Indochina und in den Na4

5 6

In Polen entstanden in den letzten Jahren viele Publikationen zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg; die Literatur über die Erinnerung an den Krieg während der Volksrepublik bespreche ich in dem Buch ZBoWiD i pamięć drugiej wojny światowej [Der ,,Bund der Kämpfer für Freiheit und Demokratie“ (ZBoWiD) und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg] 1949–1969, Warschau 2009, S. 43–49. Die Liste der 82 in späteren Missionen Gefallenen gibt das Ministerium für nationale Verteidigung auf seiner Internetseite an, http://www.pamiecipoleglych.mon.gov.pl (19.7.2009). Czesław Marcinkowski, Wojsko Polskie w operacjach międzynarodowych na rzecz pokoju [Die polnische Armee in internationalen Friedensmissionen], Warschau 2005, S. 51.

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hen Osten.7 Über den ersten Missionen lag die Atmosphäre des Kalten Krieges und der Propaganda des Ostblocks. Um ein Beispiel zu geben: Als polnische Beobachter mit dem Zug auf die Reise durch die UdSSR nach Korea reisten, sang auf den Bahnhöfen der polnische Armeechor Lieder über die Bedeutung des Friedens für den Aufbau einer neuen, sozialistischen Welt. In Korea wurden die polnischen Beobachter von den Vertretern der Länder des Westens separiert, und der Kontakt mit der dortigen Bevölkerung wurde genauestens überwacht.8 In den folgenden Jahren schwächte sich die propagandistische Aufmachung der Missionen ebenso ab wie die Überwachung ihrer Vertreter. Die erste Operation an der polnische Soldaten im Rahmen der UN teilnahmen, war die UNEF II (United Nations Emergency Force) im Nahen Osten nach dem sogenannten Jom-Kippur-Krieg in den siebziger Jahren. Polnische Soldaten waren die ersten Blauhelmsoldaten aus einem Staat des Warschauer Paktes. Möglicherweise bestand die polnische Regierung damals auf einer Beteiligung an dieser Mission, um das nach der Intervention in der Tschechoslowakei 1968 beschädigte Ansehen der kommunistischen Führung zu verbessern.9 Offen bleibt, ob die für einen Staat aus dem Ostblock auffällig große Beteiligung an dieser und späteren Friedensmissionen der Ausdruck einer eigenständigen Außenpolitik der volkspolnischen Regierung war oder ob es sich um die Ausführung einer sowjetischen Strategie handelte. Offiziellen Mitteilungen zufolge starben während der Missionen bis zum Jahr 1989 zwischen zehn und zwanzig Soldaten und Offiziere, die meisten in Flug- und Verkehrsunfällen. Sollten die Militärarchive aus den Zeiten der Volksrepublik keine Geheimnisse verbergen, drohte den Soldaten auf Friedens7

8 9

Neben der Koreamission nahmen polnische Soldaten und Offiziere vor 1989 an folgenden Missionen teil: Internationale Beobachterkommission in Indochina (1954–1975), Internationale Kontroll- und Beobachterkommission in Vietnam (1972–1975), Internationale Beobachtergruppe in Nigeria (1968–1969), UNEF II (1973–1979), wovon ein Teil der Soldaten zur UNDOF abgestellt wurde, deren Mission bis heute anhält, Operation ,,Tesfa“ in Äthiopien (1985–1987), UNGOMAP (1988), UNIIMOG (1988–1991), UNTAG (1989– 1990). Siehe Grzegorz Ciechanowski, Żołnierze polscy w misjach i operacjach pokojowych poza granicami kraju w latach 1953–1989 [Polnische Soldaten in Friedensmissionen außerhalb der Landesgrenzen in den Jahren 1953–1989], Warschau 2008. Siehe auch Marcinkowski, Wojsko Polskie w operacjach na rzecz pokoju; Polacy w służbie pokoju [Polen im Friedensdienst], hg. von Zbigniew Bednarski, Gemeinschaft der Kombatanten in Friedensmissionen der UN, Warschau (2002) 2006; Udział jednostek Wojska Polskiego w międzynarodowych operacjach pokojowych w latach 1973–2003. Dariusz S. Kozerawski (Hg.), Wybrane problemy [Die Beteiligung der Einheiten der polnischen Streitkräfte an internationalen Friedensoperationen in den Jahren 1973–2003. Ausgewählte Probleme, Warschau 2004; www.mon.gov.pl. Grzegorz Ciechanowski, Żołnierze polscy w misjach i operacjach pokojowych poza granicami kraju w latach 1953–1989, Toruń 2007, S. 27. Ebd., S. 258.

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missionen also keine besondere Lebensgefahr. Dies überrascht nicht, wenn man sich den Charakter der Missionen veranschaulicht. Die Soldaten traten meistens als Militärbeobachter oder Experten für Logistik, Transport, Versorgung und Medizin auf. Im Allgemeinen waren es positive Nachrichten von den Missionen, die durch Pressepropaganda, populärwissenschaftliche Arbeiten und veröffentliche Erinnerungen von Soldaten in die polnische Gesellschaft gelangten. Nach diesen Beschreibungen hatten polnische Soldaten, Vertreter des sozialistischen Lagers, ihren Anteil an der Stärkung des Friedens. Dank ihres Einsatzes flatterte die weiß-rote Fahne Polens neben der blauen der Vereinten Nationen. Diese Narrative wurden angereichert durch das Motiv des patriotischen und männlich-romantischen Abenteuers und der Entdeckung einer exotischen Welt.10 Aufgrund der bislang vorliegenden Publikationen ist es jedoch schwierig, die historischen Wirklichkeiten zu rekonstruieren. Die Frage etwa, aus welchen persönlichen und welchen allgemeinen Gründen die Soldaten sich an den Missionen beteiligt haben, erfordert weitere Forschungen. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Vereinten Nationen sowohl den Angehörigen des Machtapparats als auch den Soldaten der polnischen Einheiten im Auslandseinsatz ein Tor zur Welt öffneten. Für die einen wie für die anderen war es zudem von Bedeutung, dass die UN für den Dienst der Polen mit wertvollen Devisen bezahlten, die die Staatskasse wie auch – in bescheidenerem Umfang – die Taschen der Soldaten füllten. Die Motivation, sich auf eine Auslandsmission zu begeben, weil dort ein höherer Sold als zu Hause gezahlt wurde, bestand auch nach 1989. Festzuhalten ist, dass die Militärmissionen für die öffentliche Meinung letztlich unbedeutend waren. Dies lag zum einen daran, dass in einem autoritären Staat keine offenen Debatten über die Missionen geführt wurden, was öffentliche Interpretationen unmöglich machte. Der Hauptgrund für die geringe Bedeutung lag jedoch darin, dass die drängenden innenpolitischen Fragen alle Aufmerksamkeit der Politik, der Medien und der Gesellschaft in Anspruch nahmen. Dazu zählten der Wiederaufbau des Landes nach dem Weltkrieg, die Forcierung der Industrialisierung, der Mangel an Konsumgütern auf dem Markt und schließlich die politischen Repressionen, der Kampf mit der katholischen Kirche und der erstarkenden Oppositionsbewegung. Im Gedenken an die toten Soldaten war es den Dissidenten und später den Aktivisten von Solidarnosc vor allem daran gelegen, die offizielle, von Partei und Staat verbreitete Erzählung vom Zweiten 10

Aus der Populärliteratur siehe z. B. Jan Budziński, W błękitnym hełmie na Synaju i pod Hebronem. Zapiski korespondenta wojskowego [Mit Blauhelm auf dem Sinai und in Hebron. Aufzeichnungen eines Kriegskorrespondenten] Warschau 1975; Zbigniew Damski, W błękitnym hełmie pod piramidami [Im Blauhelm an den Pyramiden], Warschau 1976. Berichte von den Missionen wurden auch in Militärzeitschriften veröffentlicht, vor allem in Żołnier Wolności [Soldat der Freiheit] und Żołnier Polskim [Polnischer Soldat].

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Weltkrieg zu brechen. Denn dieses Thema bot Platz für den Streit über Werte und Symbole, für Kontroversen und Emotionen, da die von der Opposition favorisierte Version die ideologischen Grundlagen des Machtsystems und das Bündnis mit der UdSSR direkt angriff. Die Konflikte betrafen, erstens, den Massenmord von Katyń: Die offizielle Version lautete, dass deutsche Einheiten und nicht der sowjetische NKWD mehrere Zehntausend polnische Offiziere erschossen hätten, die seit Beginn des Krieges in sowjetischer Gefangenschaft waren. Ein zweiter Punkt der Auseinandersetzung war die Rolle der polnischen Armee zu Kriegsbeginn im September 1939 und ihr Kampf an der Seite der westlichen Alliierten. Die Staatspropaganda redete den Einsatz polnischer Einheiten im Westen häufig klein, um den Einsatz polnischer Soldaten an der Seite der Roten Armee größer erscheinen zu lassen. Ebenso verdrängte die Propaganda – der dritte Streitpunkt – die Rolle der antideutschen, prowestlichen und gleichzeitig antikommunistischen Partisanen, vor allem der Heimatarmee (Armia Krajowa) durch den Mythos vom bewaffneten kommunistischen Widerstand. Vor dem Hintergrund all dieser Konflikte über die Deutung des Zweiten Weltkriegs barg die Beurteilung der militärischen Operationen nach dem Zweiten Weltkrieg so gut wie keinen Sprengstoff. Das Thema spaltete die Polen nicht und hatte, wenn überhaupt, eher die Funktion eines Sicherheitsventils für die mit dem Regime zerstrittene Gesellschaft. Die Polen gingen deshalb, was die Militärmissionen betrifft, nicht mit tief verwurzelten Vorstellungen und differenzierten Deutungsmustern in die ,,Transformation“ nach 1989. Dennoch war man sich bewusst, dass solche Missionen unter der Ägide der UNO stattfinden. Die Transformation bedeutete einen gewaltigen Aufruhr in vielen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, und wiederum beherrschten andere Angelegenheiten die öffentliche Debatten. Während Regierung und Armee, die beide auf den Beitritt zur NATO hofften, die wachsende Beteiligung an internationalen Missionen als eine Verlängerung der Außenpolitik betrachteten,11 die ihnen zudem die Möglichkeit bot, die veraltete militärische Struktur und Ausrüstung zu modernisieren, waren die meisten Polen mit den eigenen ökonomischen und politischen Krisen beschäftigt, so dass sich die Erinnerungskonflikte weiterhin am Zweiten Weltkrieg und an der Zeit des kommunistischen Volkspolens entzündeten. Selbstverständlich informierten die Medien über die wichtigeren Missionen. Am besten erinnert man sich an polnische Kommandos im Golfkrieg 11

Nach 1989 nahmen Polen unter anderem an Folgenden UN- oder NATO-Missionen teil: UNAVEM I, II, III (1989–1997), UNPROFOR (1992–1995), UNTAC (1992–1993), UNIKOM (1991–2002), UNIFIL (1992–), UNMEE (2000–), UNOMIG (1993–2009); IFOR und SFOR in Bosnien-Herzegowina (1996–2004), AFOR (1999), KFOR (1999–); nach 2004 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien im Rahmen der EUFOR, aus: Marcinkowski, Wojsko Polskie w operacjach na rzecz pokoju, S. 65–79; www.mon.gov.pl; http:// www.un.org/Depts/dpko/dpko/index.asp.

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und polnische Einheiten im ehemaligen Jugoslawien – nicht zuletzt aufgrund der bis heute beliebten Action-Filme.12 Dennoch brachte erst der Krieg im Irak und die Intervention in Afghanistan einen Durchbruch im öffentlichen Diskurs. Das lag vor allem an der weltweiten Dimension des ,,Kampfes gegen den Terrorismus“, welchen die Medien ebenso betonten wie die Tatsache, dass polnische Soldaten in Kampfhandlungen ums Leben kamen. Im Irak starben ein Viertel aller seit 1953 gefallenen polnischen Militärs.13 In Afghanistan starben bis zum Februar 2009 neun Soldaten.

Unbequemer Tod, die große Politik und die schwache Zivilgesellschaft Die polnischen Medien berichteten in aller Breite über den Angriff auf das World Trade Center am 11. September 2001 und seine Folgen. In dieser Zeit forderte die proamerikanische Politik der polnischen Regierung kaum Gegenstimmen heraus. Ohne größeres Medienecho wurde die erste Gruppe polnischer Soldaten auf Einladung der International Security Assistance Force im März 2002 nach Afghanistan entsandt. Die Aufgaben des polnischen Armeekontingents beschränkten sich die meiste Zeit auf typische Ingenieurs-, Pionier- und Logistikaufgaben. Im Jahr 2008 entstand die Polish Task Force (Polskie Siły Zadaniowe), die die Verantwortung über die Provinz Ghazni übernahm. Der Einsatz der polnischen Armee für die Stabilisierungsmission in Afghanistan wurde erst mit dem Vorfall im Dorf Nangar Khel in den Medien breiter diskutiert. Am 16. August 2007 hatten Soldaten einer polnischen Einheit grundlos um sich geschossen. Sechs 12

13

Demony wojny według Goi [Dämonen des Krieges nach Goi] 1998, Regie: Władysław Pasikowski, 93 min. In Bosnien ist die polnische Abteilung des Majors Keller (die Rolle des Major Keller spielt Bogusław Linda, ein beliebter polnischer Schauspieler, der meistens starke Männer spielt), im Rahmen der internationalen Friedensmission der NATO stationiert. Die Führung verlangt eine Einmischung in lokale Konflikte. Der Major Keller hat jedoch eine andere Auffassung von der Rolle von Friedenskräften. Er betont, dass die Aufgabe eines Soldaten die Rettung von Menschenleben um jeden Preis ist. Im Film leitet Keller eine Rettungsaktion und missachtet dabei das Verbot das Lager zu verlassen. Operacja Samum [Operation Samum], 1999, Regie: Władysław Pasikowski, 88 min, ist eine filmische Variante einer wahren Begebenheit. Es geht um die in der ,,Washington Post“ berichteten Aktion des polnischen Geheimdienstes im Irak kurz vor dem Ausbruch des Krieges im Persischen Golf. Die CIA habe damals polnische Spezialkräfte um Hilfe bei der Befreiung amerikanischer Spione gebeten. Das waren insgesamt 22 Soldaten, http://www.untac.pamiecipoleglych.mon.gov.pl. Zusätzlich starben zwei Kommandos von Spezialeinheiten GROM unmittelbar nach dem Austritt aus dem Militärdienst und der Aufnahme in die Sicherheitsfirma Blackwater. Im Irak starben auch polnische Zivilisten, darunter zwei Journalisten des polnischen Fernsehsenders TVP.

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Einwohner starben und drei wurden schwer verletzt. Dieses Ereignis nahmen Journalisten zum Anlass, laut über die Konsequenzen nachzudenken, welche die Mission für das Land hat, in dem sie stattfindet. Bis dahin war Polens Beteiligung an der Mission in Afghanistan und damit die Bedrohung des Lebens polnischer Soldaten nur im Zusammenhang mit dem zweiten Irakkrieg öffentlich diskutiert worden. Die Beteiligung an der Operation im Irak von 2003 bis 2008 war eine der kontroversesten Unternehmungen der polnischen Sicherheits- und Außenpolitik nach 1989. Die Entscheidung über die Teilnahme polnischer Streitkräfte in beiden Phasen der Irakmission – zunächst der militärischen Intervention, dann der Stabilisierungsmission – fiel dennoch verhältnismäßig schnell, wohl wegen der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Die USA wurden seit Polens Bemühungen um den Beitritt zur NATO als wichtigster Bündnispartner und Garant für die polnische Sicherheit betrachtet. Eine Kontinuität der proamerikanischen Einstellung zeigt sich im Offenen Brief der Staats- und Regierungschefs von acht EU-Ländern, zu denen auch Polen gehörte. Darin sagten diese der US-Regierung ohne Rücksprache mit den übrigen Partnerstaaten demonstrativ ihre Unterstützung zu, was unter den EU-Staaten zu einem Konflikt führte.14 Viele polnische Beobachter merkten an, dass der Entscheidung keine ausreichende öffentliche oder parlamentarische Debatte vorausgegangen und auch keine Analyse über Gewinne und Verluste angestellt worden war, welche die Konsequenzen der Irakmission für Innen- und Außenpolitik hätte voraussehen können. Pro- und Contra-Stimmen wurden erst mit dem Beginn des Engagements laut, spätestens in dem Moment, als die ersten Todesopfer und politischen Misserfolge zu beklagen waren.15 Im Rückblick lassen sich die Argumente der Regierung für die Irakmission, soweit sie in die Öffentlichkeit gedrungenen sind, in zwei Kategorien einteilen. Die erste enthält ganz allgemeine Wertvorstellungen: die Ablehnung von Diktaturen, die Verteidigung von bestimmten Werten, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus sowie die Loyalität gegenüber den USA und der von ihr geführten Koalition. Die zweite Gruppe von Argumentationsmustern hatte einen pragmatischen Charakter, der mit der Sicherheitspolitik des polnischen Staates direkt verbunden war. Dazu gehörten der Glaube an die USA als den Garanten der polnischen Sicherheit, die Hoffnung auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Verbesserungen durch zukünftige Investitionen im Irak sowie eine 14 15

Europe and America must stand united, in: The Times, 30.01.2003 (www.timesonline. co.uk/tol/comment/article858456.ece). Maria Wągrowska, Udział Polski w interwencji zbrojnej i misji stabilizacyjnej w Iraku, ,,Raporty i Analizy“ [Die Beteiligung Polens an bewaffneten Interventionen und Stabilisierungsmissionen im Irak, ,,Berichte und Analysen“], Centrum Stosunków Międzynarodowych, Dezember 2004, S. 3.

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Liberalisierung der amerikanischen Visapolitik gegenüber polnischen Staatsbürgern.16 Das Argument der nationalen Sicherheit war jedoch mit dem Kampf gegen den Terrorismus und dem zu erwartenden Verlust von Soldatenleben verknüpft. ,,Es ist das Schicksal des Soldaten, darauf vorbereitet zu sein, nicht nur innerhalb des Landes, sondern auch weit darüber hinaus für die weltweite Sicherheit zu sorgen“, unterstrich der Minister für Nationale Verteidigung, Jerzy Szmajdziński. ,,Denn die weltweite Sicherheit bedeutet auch Sicherheit für Polen. Oft kostet die Bekämpfung einer Gefahr an ihren Wurzeln weniger Anstrengung als in einer Situation, in der wir es mit einer direkten Bedrohung zu tun haben.“17 Als die Medien am 6. November 2003 den Tod des Oberstleutnants Hieronim Kupczyk meldeten, stellte der damalige Premier Leszek Miller bei einem Truppenbesuch klar, dass dies die Haltung der Regierung gegenüber dem Engagement im Irak nicht beeinflusse. ,,Unsere Beteiligung an der Bekämpfung des Terrorismus ist ein Kampf für die eigene Sicherheit.“ Seit diesem Moment zeigte sich die Regierung entschlossen, die militärische Mission auch in den schwierigsten Situationen fortzuführen: Wenn Soldaten, zivile Hilfskräfte und Journalisten ums Leben kamen. Polen war seit Anfang August 2004 eines der Länder, das im Irak Soldaten stationierte und vorgab, mit Terroristen und Entführern nicht verhandeln zu wollen. Das Hauptmotiv der medial vermittelten Äußerungen für den Irakeinsatz in beiden Phasen war der erklärte Wille, sich dem Terrorismus politisch wie militärisch entgegen zu stellen. Es handele sich, so die politische Führung, um ein Engagement für die Verteidigung der Werte der demokratischen Welt, zu der Polen gehöre. Dies solle erreicht werden, indem der ,,Feind“ möglichst weit von polnischem Territorium fern gehalten werde, möglichst gemeinsam mit den eigenen Koalitionären, vorzugsweise mit den USA und der NATO.18 Über ein Jahr lang stellten Regierung und Opposition die Entscheidung für die Operation im Irak mehrheitlich nicht in Frage. Entschiedene Kritik an der polnischen Beteiligung übten zuerst politische Analysten. Sie bemängelten, dass die kompromisslose Entscheidung für Polens Rolle an der Seite Amerikas die Position des Landes innerhalb der Europäischen Union und bei der Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik verschlechterte. Später wuchs die allgemeine Enttäuschung darüber, dass die erhofften Investitionsaufträge im Irak ausblieben und sich die US-Regierung nicht zu einer vorteilhaften Visapolitik entschließen konnten. Gleichzeitig war die Öffentlichkeit zunehmend verunsichert über die Ziele, welche die Regierung für die Irakmissi16 17 18

Ebd., S. 6. Wychodzimy z Iraku [Wir verlassen den Irak], in: Gazeta Wyborcza, 4.10.2004, zit. nach: Wągrowska, Udział Polski w interwencji zbrojnej i misji stabilizacyjnej w Iraku, S. 6. Ebd.

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on formuliert hatte, deshalb nahm die öffentliche Unzufriedenheit zu. Angesichts der nahen Parlamentswahlen schlossen sich die Opposition und Teile der bereits brüchigen Regierungskoalition der Kritik an der Regierungspolitik an. Den ersten Impuls, die polnischen Soldaten aus dem Irak abzuziehen, gab die konservative Bauernpartei PSL mit dem Appell ihres Vorsitzenden Janusz Wojciechowski. Im Frühling 2004 beschloss die Parteiführung, dass die damalige dritte Ablösung der Einheiten im Irak die letzte sein solle. Auf dem jährlichen ,,Fest der Bauernhelden“ (Czyn Chłopskie) in der Kirche zur Schmerzhaften Königin Polens in Kałków-Gdów (Wojewodschaft Heiligkreuz) sagte der Parteivorsitzende, dass der Irakkrieg nicht den Interessen Polens, sondern denen der USA diene. Die Oppositionspartei ,,Liga der polnischen Familien“ (LPR) griff dieses Schlagwort der PSL sofort auf und forderte eine Volksabstimmung über den Rückzug des polnischen Militärs aus dem Irak.19 Einen ähnlichen Standpunkt nahm Andrzej Leppers populistische Partei ,,Selbstverteidigung“ (Samoobrona) ein, die eine polenweite Aktion unter dem Motto ,,Soldaten nach Hause!“ startete. Mitte September 2004 versammelten sich Anhänger der Partei vor Regierungsgebäuden, um ihre Unzufriedenheit mit der ,,Politik der Aggression und Geringschätzung von Menschenleben“ des Präsidenten Aleksander Kwaśniewski und aller wichtigen politischen Parteien zum Ausdruck zu bringen. Sie entzündeten Kerzen zu Ehren der gefallenen Soldaten, legten Kränze nieder, entrollten Transparente und verteilten Flugblätter, die den Rückzug des Militärs verlangten: ,,Wir werden nicht für den Imperialismus der USA sterben!“, ,,Das ist nicht unser Krieg!“, ,,Wir sind keine Zielscheibe, geht doch alleine in den Irak!“20 Die Afghanistan- und Irakfrage war ein Wahlkampfthema bei den Parlamentswahlen 2005 und 2007. Während die Mehrheit der Politiker über die internationalen Konsequenzen eines möglichen Rückzugs debattierten, verlangten die Parteien ,,Selbstverteidigung“ und ,,Liga der polnischen Familien“ den sofortigen Rückzug des Militärs aus dem Irak und ein Ende des Spiels mit dem Leben polnischer Soldaten. Beide rechtsgerichteten Parteien beriefen sich auf typische Argumente eines ,,integralen Nationalismus“, auf ein traditionelles polnisches Volk, eine nationale Gemeinschaft, die durch Abstammung, katholischen Glauben und Heimatverbundenheit zusammen gehalten und von stereotyp definierten ,,Fremden“ bedroht werde. In der Außenpolitik wandten sie sich konsequent gegen die westlichen Bündnispartner und stellten diese als Gefahr für den Zusammenhalt der Nation dar. Diese Auffassungen brachte der ganz auf Emotionen setzende Wahlspot der LPR im Oktober 2007 im Zusammenhang mit dem polnischen Engagement im 19 20

Ebd., S. 32. Żołnierze do domu! – Raport z ogólnopolskiej akcji Samoobrony RP [Soldaten nach Hause! – Bericht von der polenweiten Aktion von Samoobrona], www.samoobrona.org.pl.

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Irak und in Afghanistan deutlich zum Ausdruck. Die Wahlwerbung kontrastierte die Parlamentsreden der Premierminister Leszek Miller (SLD) und Jarosław Kaczyński (PiS), die beide die Bedeutung der Mission betonten, mit den Antikriegsäußerungen des Parteivorsitzenden der LPR, Roman Giertych. Die Reden der Politiker wurden von kurzen Bildsequenzen aus dem Irak- und dem Afghanistankrieg unterbrochen, in denen verzweifelte Menschen und viel Blut zu sehen waren. Weitere Einstellungen waren mit Bildunterschriften versehen. Über der Zeile ,,Sie schickten Menschen zum Angriff“ sah man eine explodierende Mine, eine Menschenansammlung, verletzte Soldaten und schließlich polnische Militärs die einen mit der polnischen Fahne bedeckten Sarg tragen. Eine Stimme aus dem Off fordert: ,,Die Nation trägt die Opfer, also soll auch die Nation entscheiden.“ Gemeint war der von der LPR geforderte Volksentscheid. Hinter der Silhouette eines Soldaten erscheint die Aufschrift: ,,Polen wollen keinen Krieg“; es folgt die Aufforderung, LPR zu wählen. Der Spot hat zudem kaum zu überhörende antisemitische Untertöne. Er zeigt Fragmente aus der Berichterstattung über den Besuch Lech Kaczyńskis in Israel. Darin trägt Polens Präsident eine Kippa, ist von orthodoxen Juden in traditioneller Kleidung umgeben und geht lachend durch die Straßen Jerusalems. Diese Einstellung endet mit einer Explosion und den blutigsten Bildern des Spots: Aufnahmen von Anschlagsopfern. Mit antisemitischen Stereotypen suggeriert der Clip, dass der Irakkrieg ein ,,jüdischer Krieg“ sei, in dem polnische Soldaten ihr Blut für ,,fremde Interessen“ vergössen.21 Die genannten Beispiele werfen ein Licht auf die besondere politische Situation Polens. Die Auslandseinsätze wurden in unterschiedlichem Maße von wechselnden Regierungen aus Parteien unterschiedlicher ideologischer und historischer Provenienz unterstützt: von der postkommunistischen, sich als moderne Linke gerierenden SLD über die konservative Post-Solidarnosc-Partei ,,Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) bis zu der gegenwärtig regierenden liberal-konservativen Bürgerplattform (PO). Eine entschiedene Gegenposition nahmen in der Öffentlichkeit lediglich die Bauernpartei PSL ein, die sich auf eine ländliche Wählerschaft stützt, sowie Nischenparteien mit deutlich nationalistischem und populistischem Programm. Nur die letztgenannten Parteien entschieden sich dafür, die Bilder sterbender Soldaten für innenpolitische Zwecke hemmungslos auszuschlachten. Diese Strategie ging jedoch nicht auf. Weder die ,,Selbstverteidigung“ noch die ,,Liga der polnischen Familien“ schafften es 2007 in den Sejm. Wie es scheint, lässt es die regierende Elite an einer deutlichen Stellungnahme zum Tod polnischer Soldaten in Auslandsmissionen fehlen, weil sie sich auf die Außenpolitik konzentriert. Der Soldatentod wurde jedoch ein unbequemer 21

Der Spot ist u. a. auf dem Portal der Gazeta Wyborcza zu sehen; dort gibt es auch einen kritischen Kommentar über die antisemitische Aussage, http://wiadomosci.gazeta.pl/ Wiadomoci/1,80708, 4576204.html.

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Teil der Innenpolitik, da populistische Parteien das Thema für den Wahlkampf ausnutzten und weil er der Nation vor Augen führte, dass ihre Armee auf eine derartige militärische Operation nicht vorbereitet war. Pressemitteilungen zeigen, dass das erste Kontingent, das 2003 in den Irak entsandt worden war, weder logistisch und technologisch noch psychisch auf die Umstände vor Ort vorbereitet war. Viele Jahre später beschrieben Soldaten in Interviews mit der größten polnischen Tageszeitung, dass sie zum Gespött der amerikanischen Soldaten geworden waren und wie die GIs von den veralteten, noch aus dem kommunistischen Volkspolen stammenden Geräten Erinnerungsfotos gemacht hatten. Polen waren nicht auf die irakischen Bedingungen vorbereitet, weil die Regierung von einem einfacheren Verlauf der Stabilisierungsmission ausgegangen war.22 Der größte Skandal hing mit der privaten Versicherung der Soldaten des ersten Kontingents zusammen. Die Verletzten erhielten keine Entschädigung, da der Versicherungsvertrag Folgeschäden von kriegerischen Auseinandersetzungen und terroristischen Angriffen nicht abdeckte. Die betroffenen Soldaten mussten mit der Staats- und Militärbürokratie um die Kostenübernahme für die Folgebehandlung und die Wiedereingliederung in das zivile Leben kämpfen. Das Verteidigungsministerium zahlte den Familien der Gefallenen 100.000 PLN (ca. 25.000 US-Dollar) Grundentschädigung, ein Zehntel dessen, was amerikanische Familien erhielten. Die polnische Regierung hatte nicht einmal eine Entschädigung für Verletzungen vorgesehen. Dieser Mangel wurde in den folgenden Jahren beseitigt; die Arbeiten an einem Gesetz für Veteranen von Stabilisierungs- und Friedensmissionen dauern aber bis heute an. Es soll die (bereits mehrfach erhöhten) Ausgleichszahlungen für das Umfeld der Soldaten, den Veteranen-Status und die medizinische Versorgung ebenso regeln wie die symbolische Frage militärischer Auszeichnungen und Ehrentitel oder das Recht auf das Tragen von Uniformen.23 Zugespitzt könnte man feststellen, dass die polnische Regierung und die Armee keinen Wert darauf gelegt haben, die verletzten und gefallenen Soldaten jenseits des üblichen binnenmilitärischen Zeremoniells öffentlich zu ehren. Denn der Tod der Soldaten wurde von der Öffentlichkeit als Infragestellung der Außenpolitik wahrgenommen. 22

23

Vgl. Marcin Górka/Adam Zadworny, Czekały nas miny zamiast kwiatów [Uns erwarteten Minen statt Blumen], in: Gazeta Wyborcza, 15.9.2008; Marcin Górka/Adam Zadworny, Najkrwawsza bitwa Polaków od czasów II wojny światowej [Die blutigste Schlacht von Polen seit dem II. Weltkrieg], in: Gazeta Wyborcza, 16.9.2008. Zur Beschreibung der aktuellen Rechtslage für Soldaten und Gesetzesinitiativen siehe die Informationen der Informations- und Pressestelle des Ministeriums für Nationale Verteidigung: Pomoc dla żołnierzy powracających z misji; Uprawnienia dla żołnierzy nadterminowej zasadniczej służby wojskowej poszkodowanych w polskich kontyngentach wojskowych (27.10.2008), zugänglich auf der Seite http://www.stowarzyszenierannych.pl/ index.php?a=11. Siehe auch: Antwort des Verteidigungsministers Bogdan Klich auf die Interpellation Nr. 8013 vom 16.3.2009, http://orka2.sejm.gov.pl/IZ6.nsf/main/24659B87.

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Die Missionen im Irak und in Afghanistan haben darüber hinaus die Schwäche der Zivilgesellschaft offen gelegt. Einerseits finden die Initiativen linker Globalisierungsgegner, die angesichts der gesellschaftlichen Folgen in den Ländern der Kriegsschauplätze für ein Ende des Krieges plädierten, kaum Widerhall in Polen. Sie werden von der Öffentlichkeit als politische Folklore einer kleinen Minderheit wahrgenommen und konnten die öffentliche Meinung nicht beeinflussen.24 Andererseits stießen die Organisationen, die sich für die praktischen Probleme der Familien getöteter oder verletzter Soldaten einsetzen, in der Gesellschaft ebenso wenig auf Resonanz. Bei den polnischen Missionen überwogen die finanziellen Motive des Soldaten bei der Entscheidung für die Mitwirkung. Für die jüngeren, sogenannten Vertragssoldaten war die Mission in Zeiten einer hohen Arbeitslosigkeit oftmals die Chance, erstmals Arbeit zu finden. Die Realität von Tod und Invalidität stand in Widerspruch zu diesen ökonomischen Erwartungen, durch den Militärdienst im Rahmen von Auslandsmissionen die materielle Lage der Familie verbessern und etwa eine Wohnung oder ein Auto kaufen zu können. Organisationen wie die 2008 entstandene ,,Gemeinschaft der in Internationalen Missionen Verletzten und Geschädigten“ (Stowarzyszenie Rannych i Poszkodowanych w Misjach Poza Granicami Kraju)25 , sowie die jeweils 2003 gegründete ,,Stiftung zur Hilfe in Militärischen Auslandseinsätzen für den Frieden geschädigten Menschen“ (Fundacja Pomocy Poszkodowanym w Wojskowych Operacjach Pokojowych poza Granicami Polski) und ,,Ihren Familien – Servi Pacis“ (Ich Rodzinom Servi Pacis) (beide 2003)26 und die seit 1991 bestehende ,,Gesellschaft der Kombattanten in Friedensmissionen der UNO“ (Stowarzyszenie Kombatantów Misji Pokojowych ONZ)27 bemühen sich um die Hilfe für geschädigte Familien und versuchen gleichzeitig, die Rechtslage zum Vorteil der Angehörigen von Soldaten im Einsatz zu verbessern. Ihre Initiativen und Argumente sind jedoch in der Öffentlichkeit kaum wahrzunehmen. Auch die Aktivitäten anderer Träger hatten bislang einen eher kurzfristigen Erfolg, wie zum Beispiel Spendensammlungen, die Politiker und Medienvertreter für die Familien von Soldaten, die im Irak gefallenen waren, spontan organisiert hatten.28 Offenbar fehlen weiterhin starke gesellschaftliche Akteure, die in der Lage wären, die öffentliche Meinung für Auslandsmissionen zu sensibilisieren. 24 25 26 27 28

Siehe die Seite der Initiative Stop wojnie! [Stopp Krieg!], http://www.irak.pl. http://www.stowarzyszenierannych.pl. http://www.servipacis.pl. http://skmponz.w.interia.pl. Zum Beispiel die Aktion unter Schirmherrschaft des Waffengenerals Henryk Szumski, mitorganisiert von Marek Siwiec, Abgeordneter der SLD im Europaparlament (2008), http://mareksiwiec.blog.onet.pl/1,DA2008-08-22,index.html; die Aktion der Tageszeitung ,,Rzeczpospolita“ und der St. Nikolausstiftung [Fundacja Świętego Mikołaja], unter Schirmherrschaft des Präsidenten Lech Kaczyński (Dezember 2007), http://www.rp.pl/ artykul/77332.html.

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Die Missionen in Afghanistan und im Irak in der Öffentlichen Meinung Meinungsumfragen waren der Prüfstein für die Akzeptanz der Außenpolitik und für die Einstellung der Polen zu internationalen Angelegenheiten. Trotz gravierender Unterschiede zwischen den beiden Operationen und den damit verbundenen internationalen Verpflichtungen lassen sich ähnliche Tendenzen in den von den beiden größten Meinungsforschungsinstituten CBOS und OBOP durchgeführten Befragungen beobachten.29 Die Erhebungen zeigen vor allem eine wachsende Skepsis gegenüber dem Erfolg der beiden Missionen. Im Laufe der Zeit stellten die Befragten immer häufiger fest, dass weder die militärische Operation der NATO in Afghanistan noch die Stabilisierungsmission zu einem Frieden in den Ländern führe. Den Wandel für die Zustimmung zu einer Beteiligung in beiden Missionen zeigen die Tabellen 1 und 2. Bis Februar 2002 lautete die Frage: ,,Geplant ist eine Entsendung von 300 polnischen Soldaten nach Afghanistan. Sind Sie dafür oder dagegen?“, im April hatte sie dagegen folgenden Inhalt: ,,Mitte März ist eine Gruppe polnischer Soldaten nach Afghanistan entsendet worden. Stimmen sie dieser Entscheidung zu oder nicht?“ Seit Januar 2007 wird die Frage in der jetzigen Form gestellt. Folgt man den Experten des CBOS, ist die anfänglich hohe Zustimmung für die Beteiligung von Polen im Konflikt im Irak damit zu erklären, dass polnische Soldaten in den direkten Kriegshandlungen keine Verluste erlitten. Vielmehr wurden die Spezialstreitkräfte in den Medien für ihre Professionalität gelobt. Zu dieser Einschätzung gesellte sich das Angebot der USA an Polen, in einer Stabilisierungszone die Führung zu übernehmen. Im Mai 2003 traf dieses Angebot bei der Hälfte der Befragten auf Zustimmung, während ein Drittel der Polen angab, dass sich ihr Land nicht mit einer solchen Aufgabe befassen sollte, und ein Sechstel keine Meinung hatte.30 Von diesem Zeitpunkt an sank jedoch die Zustimmung für den Aufenthalt der ca. 2000 polnischen Soldaten in der Stabilisierungszone. Einen Einfluss auf die öffentliche Meinung hatten vor allem die Meldungen in den Medien über Misshandlungen irakischer Kriegsgefangener durch amerikanische Soldaten und den Terroranschlag in Madrid 2004. Dass die Zustimmung zur Mission im Irak im November 2003 zurückging, war auch auf den ersten Todesfall zurückzuführen, 29

30

CBOS: Centrum Badania Opinii Społecznej [Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung] und OBOP: Taylor Nelson Sofres– Ośrodek Badania Opinii Publicznej [Taylor Nelson Sofres – Zentrum zur Erforschung der öffentlichen Meinung]. Anna Grudniewicz/Michał Strzeszewski, Polska a świat [Polen und die Welt], in: Krzysztof Zagórski/Michał Strzeszewski (Hg.), Polska, Europa, Świat. Opinia publiczna w okresie integracji [Polen, Europa und die Welt. Öffentliche Meinung in der Zeit der Integration], Warschau 2005, S. 74.

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bei dem ein polnischer Offizier nach einem Schusswechsel ums Leben kam. Die anschließenden Meldungen über weitere polnische Todesopfer, darunter den beliebten Journalist Waldemar Milewicz im Mai 2004, verstärkten diesen Trend. Die Befragten äußerten zudem immer häufiger, dass die Missionen nicht die von Politikern versprochenen ökonomischen und politischen Ergebnisse für Polen zeigten. Außerdem könnten sie der Auslöser für terroristische Anschläge in Polen sein. Die Mehrheit war außerdem der Meinung, dass Polen ein zu kleines Land sei, um eine bedeutende Rolle in internationalen Konflikten zu spielen.31 In der Gruppe, die der polnischen Militärbeteiligung gegenüber negativ eingestellt war, überwogen zunächst die Frauen; später herrschte eine negative Einstellung über alle Gesellschafts- und Berufsklassen hinweg. Die größte Zustimmung zu einer polnischen Beteiligung äußerten Schüler und Studenten, Menschen mit höherer Bildung und jene, die mit ihrer materiellen Situation zufrieden waren.32 Der größte Widerstand wurde dagegen unter Landwirten festgestellt, deren Einstellung durch die Vorsitzenden der Bauernpartei PSL, Samoobrona und der Liga der polnischen Familien LPR, die auf die Stimmen ländlicher Wähler setzten, noch verstärkt wurden. Die Wähler der größten Parteien (PiS, PO, SLD) wechselten ihre Meinung, je nach ihrer Einstellung gegenüber der jeweiligen Regierung. Unter den Befragten überwog deutlich die Meinung, dass die polnischen Soldaten hinreichend vorbereitet und geschult seien, um in internationalen Missionen mitzuwirken. Ähnliches galt für die militärische Führung. Deutlich skeptischer zeigten sich dagegen viele in der Frage, ob die Armee mit der notwendigen Ausrüstung ausgestattet sei. Die finanziellen Möglichkeiten des polnischen Staates wurden schließlich als völlig unzureichend betrachtet.33 31

32 33

Siehe Grudniewicz, Strzeszewski, Polska a świat, S. 69–86. Veröffentlichungen der Umfragen von CBOS und OBOP sind auf den Seiten folgender Institutionen zugänglich: http:// www.cbos.pl und http://www.tns-global.pl. Die interessantesten Ergebnisse, welche die Orientierungslosigkeit der Befragten zeigen, erhielt CBOS am zweiten Jahrestag der Invasion in den Irak. Damals wurde nach der wichtigsten Meinung der Entscheidungsträger für diesen Schritt gefragt. Die meisten Menschen sahen als wichtigsten Grund den Wunsch der USA, die irakischen Ölquellen zu übernehmen (37 %), die zweitmeisten den Wunsch, das Regime Saddam Husseins zu stürzen (22 %), jeder Siebente (14 %) gab die Zerstörung der irakischen Massenvernichtungswaffen als wichtigsten Grund an, während jeder Achte (12 %) glaubte, die Invasion sei ein Ausdruck des amerikanischen Wunsches nach weltweiter Dominanz. CBOS, April 2005: Meinungen über die polnische Militärpräsenz im Irak und bei anderen bewaffneten Interventionen, hrsg. von Anna Grudniewicz. CBOS, Mai 2008. Veröffentlichung der Meinungsumfragen: Internationale bewaffnete Missionen laut Meinung der Polen, hrsg. von Michał Feliksiak. CBOS, Oktober 2006. Veröffentlichung von Meinungsumfragen: Die öffentliche Meinung über die Beteiligung polnischer Soldaten in internationalen Missionen, hrsg. von Michał Strzeszewski.

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Tabelle 1: Wandel in der Zustimmung für die Beteiligung polnischer Soldaten an der Operation in Afghanistan Sind Sie für die Beteiligung polnischer Soldaten an der Operation der NATO in Afghanistan oder nicht? (Antworten in %)

Dafür entschieden dafür eher dafür Egal Dagegen eher dagegen entschieden dagegen Schwer zu sagen

Dezember 2001 45 17 28 5 44 23 21 6

Februar 2002 47 19 28 7 42 22 20 5

April 2002 57 22 35 7 32 18 14 4

Januar 2007 20 5 15 – 75 30 45 5

Februar 2008 22 6 16 – 73 30 43 5

Februar 2009 22 5 17 – 73 29 44 5

Quelle: CBOS, ,,Über die Beteiligung polnischer Soldaten an internationalen Militäroperationen, über den Raketenabwehrschirm und die terroristische Bedrohung“, Februar 2002; ,,Zehn Jahre in der NATO“, März 2008, hrsg. von Michał Felisiak. Tabelle 2: Wandel der Zustimmung für die Beteiligung polnischer Soldaten an der Stabilisierungsmission im Irak Sind Sie für die Beteiligung polnischer Soldaten an der Operation im Irak oder nicht? (Antworten in %)

Dafür entschieden dafür eher dafür Dagegen eher dagegen entschieden dagegen Schwer zu sagen

September 2003 40 13 27 53 23 30 7

November 2003 28 10 18 67 21 46 5

November 2004 24 8 16 72 23 49 4

Dezember 2005 22 7 15 72 29 43 6

Oktober 2007 16 3 13 81 28 53 3

Quelle: Einstellung zur Präsenz polnischer Soldaten im Irak und Afghanistan, Oktober 2007, hrsg. von Michał Strzeszewski.

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Auch an der Fähigkeit, die polnische Stabilisierungszone im Irak ordnungsgemäß zu verwalten, hegten die Befragten erhebliche Zweifel. Eine Mehrheit war der Meinung, dass sich Polen in unvorhersehbaren und gefährlichen Situationen nicht besonders gut zurechtfänden, weswegen Soldaten sterben würden.34 Die Ergebnisse von OBOP vom März 2003 zeigten, dass eine Mehrheit (58 %) sich nur für eine Entsendung von Militär aussprach, das nicht direkt in Kampfhandlungen verwickelt werden sollte. Die Bereitschaft, die eigenen Soldaten in Auslandseinsätze zu schicken, schien also davon abzuhängen, wer entsendet würde: jene, die ihr eigenes Leben gefährden und andere töten oder jene, die ihr eigenes Leben nicht gefährden und das Leben anderer Menschen retten.35 Ähnlich war es 2007. Die Umfrageergebnisse zeigten, dass über ein Drittel der Befragten die polnische Militärbeteiligung an der Mission in Afghanistan unterstützten, sofern die Soldaten nicht an bewaffneten Aktionen beteiligt sein würden. Ende 2007 gaben nur fünf Prozent der Befragten an, dass Polen an dieser Mission teilnehmen sollten, wenn der Auftrag auch kriegerische Handlungen wie Patrouillen und die Bekämpfung von Terroristen umfasste.36 Nach dem Zwischenfall in Nangar Khel erhielt CBOS interessante Antworten auf die Frage, ob ein Soldat jeden ausgegebenen Befehl befolgen solle oder nicht. Über 40 % der Befragten gaben an, dass es Situationen gebe, in denen der Soldat die Ausführung eines Befehls verweigern müsse. Dazu zählten Situationen, in denen das Leben von Zivilisten bedroht werde (23 %), die mit dem Gewissen des Soldaten nicht zu vereinbaren waren (20 %) oder sein eigenes Leben gefährden (13 %).37 Diese Angaben zeigen, dass die polnische Öffentlichkeit einem militärischen Einsatz kritisch gegenübersteht. Entgegen dem Topos von der romantischen polnischen Kultur möchte sie keine Märtyrer, die sich für ,,Unsere und Eure Freiheit“ aufopfern.38 Sie sieht Soldaten eher als Profis, deren Leben wertgeschätzt werden müsse. 34 35 36

37 38

CBOS, September 2004: Einstellung zur Präsenz polnischer Soldaten im Irak, hrsg. von Beata Roguska. OBOP, März 2003: Polen gegenüber dem Einfall im Irak. CBOS, Dezember 2007. Veröffentlichung von Meinungsumfragen: Einstellung zur Präsenz polnischer Soldaten in Afghanistan und den jüngsten mit dieser Operation verbundenen Ereignissen, hrsg. von Michał Feliksiak. Ebd. ,,Für unsere und Eure Freiheit“ ist das inoffizielle Nationalmotto, es entstand in der Zeit der Teilungen Polens im 19. Jahrhundert, als Autor gilt der Historiker Joachim Lelewel. Es erschien erstmals auf Standarten während der Kundgebung zu Ehren der Dekabristen in Warschau am 25. Januar 1831. Während des sog. Novemberaufstands (1830–1831) wurde das Motto in russischer und polnischer Sprache auf die Standarten geschrieben, mit einem roten Kreuz auf weißem Grund. Es sollte das Ziel der Kämpfe andeuten, die nicht gegen die Russen, sondern gegen den ,,zarischen Despotismus“ gerichtet waren. In der polnischen und ungarischen Version nutzte die Einheit von Józef Bem das Motto in Ungarn 1848.

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Virtuelles Gedächtnis In Polen finden sich nur wenige, noch dazu recht konventionelle Bilder, die an die im Auslandseinsatz gefallenen Soldaten erinnern. So steht vor dem Museum der polnischen Armee in Warschau ein Obelisk, der den ,,in Missionen für Frieden, Humanität und Stabilität gefallenen Soldaten“ gewidmet ist. Er wurde im Jahr 2006 enthüllt. Jedes Jahr im Mai, am Internationalen Tag der Friedenssicherungskräfte, legen Vertreter des Generalstabs, Veteranen und Schulkinder Kränze am Grab des Unbekannten Soldaten nieder. Ein ungleich interessanteres Medium ist dagegen das Internet. In diesem virtuellen, allen leicht zugänglichen Raum findet man in beliebten Portalen wie YouTube oder patrz.pl eine Vielzahl kurzer Amateurfilme und -fotos, die der im Ausland gefallenen Soldaten gedenken. Die Montagen sind im Allgemeinen anonym und zuweilen mit Kommentaren versehen. Diese Bilder liefern aufschlussreiche, aber flüchtige Informationen über Vorstellungen und Symbole, die in Polen mit der unmittelbaren Lebensbedrohung und dem Tod verbunden sind. Vier Motive lassen sich unterscheiden. Im Vordergrund steht, erstens, die patriotisch-sentimentale Konvention, die vor allem an die Emotionen des Zuschauers appelliert.39 Eine Mischung aus Text und Bild erzählt von Helden, die nicht zögern, ihr Leben für höhere Werte zu opfern und zum Beispiel schwächere Menschen beschützen, welche vor allem durch verletzte und hilfsbedürftige Kinder repräsentiert werden. Gleichzeitig tauchen häufig polnische Nationalsymbole wie die weiß-rote Fahne, der weiße Adler, die Worte ,,Gott, Ehre, Vaterland“ (die Devise der polnischen Streitkräfte) oder das inoffizielle Nationalmotto ,,Für Eure und Unsere Freiheit“ auf. Sie sollen unterstreichen, dass die Aufopferung als eine patriotische Pflicht gegenüber Polen verstanden wird. Professionell gemachte Filme und Fotos zeigen Soldaten in voller Montur, die Respekt und Vertrauen ausstrahlen. Die Mehrheit der Montagen sind mit Widmungen für die gestorbenen Soldaten versehen: ,,Wir 39

Vgl. z. B. Polscy żołnierze w Iraku [Polnische Soldaten im Irak], http://patrz.pl/ filmy/polskie-wojsko-w-iraku, Länge 1:48 min.; Polish Forces: Iraq 2003–2008, http:// patrz.pl/filmy/wojsko-polskie-irak-2003-2008, Länge 8:13 min, Autor: Dafgen; Wojsko Polskie: komandosi GROM-u [Polnische Armee: Kommandos der GROM], http://patrz.pl/filmy/wojsko-polskie-komandosi-grom-u, 3:27 min.; Polish Army in Iraq, http://patrz.pl/filmy/polska-armia-w-iraku, Länge 7:36 min.; Nasi chłopcy w Iraku [Unsere Jungs im Irak], http://patrz.pl/filmy/nasi-chlopcy-w-iraku, Länge 3:26 min.; Wojsko Polskie w Iraku [Die polnische Armee im Irak], http://www.youtube.com/ watch?v=WRIt96j0amM&feature=related, Länge 3:36 min.; Tribute to Fallen Polish Soldiers in Iraq, http://www.youtube.com/watch?v=W39SS5QFCu8&feature=related, Länge 4:59 min.; For the Fallen Polish Soldiers in Iraq, http://www.youtube.com/watch?v=PaczCEP43E, Länge 8:08 min.; Tribute to Soldiers in Afghanistan, http://www.youtube.com/ watch?v=bRhHaveWM10&feature=related, Länge 5:36 min.

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werden Euch nie vergessen“, heißt es da oder ,,Ehre denen, die starben und jenen, die noch immer kämpfen“ und ,,Eure jungen Leben gabt ihr für fremde Länder“. In einer Variante dieses Musters wird das Feindbild eines den Weltfrieden gefährdenden Terroristen gezeigt. Ein Film zeigt in einer drastischen Szene getötete und blutüberströmte Zivilisten. ,,Terroristen achten nicht auf die Nationalität, sie töten kaltblütig“, lautet der Kommentar.40 Hier finden sich auch narrative Elemente, die Abenteuer in exotischen Ländern evozieren und nach Art eines Liebesdramas die weinenden Ehefrauen und Kinder der verstorbenen Soldaten zeigen.41 Bemerkenswert ist, dass ein Teil der Montagen Titel oder Kommentare in englischer Sprache enthält, so als ob ihre Macher erwarteten, dass sie nicht nur in Polen, sondern auf der ganzen Welt gesehen werden. Einige werden im Internet als ,,Antworten“ auf amerikanische Filme mit ähnlichen Themen platziert. Auch die tontechnische Aufmachung ist interessant. Häufig wird internationaler Pop, Blues oder Rap in englischer Sprache gespielt. Der Betrachter kann leicht den Eindruck bekommen, den Trailer eines amerikanischen Kriegsfilms zu sehen. Wir wissen nicht viel über die Autoren dieser Filme, obwohl einige im Einverständnis mit den polnischen Streitkräften entstanden sind.42 Eine zweite Konvention ist die private Erinnerung Dritter, die von den Gefallenen erzählen. Einige Filme haben Freunde oder Verwandte gedreht, als sie den Soldaten in den Einsatz verabschiedeten. Amateurfotos zeigen einzelne Personen in verschiedenen Momenten der Mission. Im Unterschied zur ersten Konvention sind dies keine Heldenbilder, sondern besondere Momente, in denen Dritte Fotos machen konnten, etwa die Verabschiedung in Polen oder der Alltag mit den Kameraden aus dem Lager. Diese Art von Filmen scheint die zur Zeit vorherrschende Form privater Ikonographie zu sein. Diese neue Variante ersetzt zunehmend die üblichen Fotos und andere Andenken, die einst zu Hause an der Wand hingen und Bekannten gezeigt wurden.43 Die dritte, realistische Konvention ist im Internet bislang nur mit einem Film vertreten. Er besteht aus drastischen Aufnahmen einer Amateurkamera, hinterlegt mit Dialogen zwischen anonymen Soldaten und vermutlich Journalisten, die Fragen stellen. Der Film berichtet vor allem von der schlechten Vorbereitung des ersten polnischen Kontingents im Irak und über die Bedingungen, die vor Ort herrschten. Die Helden der Erzählung sind Pioniere, die während der Akti40 41 42 43

W hołdzie żołnierzom poległym na polskich misjach [Zu Ehren auf polnischen Missionen Gefallenen], http://www.youtube.com/watch?v=JZ-wUHK6SVw&NR=1, Länge 2:01 min. Prawda [Die Wahrheit], http://www.youtube.com/watch?v=Q5QqMJgjtQM&feature= related, 4:00 min. Unter Mitarbeit der Armee das Portal, http://www.cannon-fodder.mil.pl. Tribute to Fallen Polish Sappers in Afghanistan, www.youtube.com/watch?v= vsUG2nRcxfs&feature=related, 2:32 min.; Waldi Afganistan, www.youtube.com/ watch?v=uO1GQ4aFz6c&feature=related, 7:31 min.

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on einer ständigen Lebensbedrohung ausgesetzt waren. Aufnahmen von Fahrten auf irakischen Straßen, von Minen und Minenräumern, von verkohlten Leichen und blutüberströmten Schädeln beherrschen das Bild. Der Erzähler unterstreicht, dass das Grundproblem seiner Mannschaft der Mangel an geeigneten Gewehren und gepanzerten Fahrzeugen ist. Die Soldaten nannten die unbewaffneten Autos ironisch ,,St. Tropez“, d.h. also offen für Sonnenstrahlen ebenso wie für Gewehrkugeln. Aus Angst um das eigene Leben beschafften sich die Pioniere das Material oft auf abenteuerliche Weise vor Ort selbst. Auf die Frage eines Journalisten, ob sein Gesprächspartner stolz sei, ein Pole zu sein, antwortet dieser irritiert: ,,Ob ich stolz war? Als wir von unseren amerikanischen Kollegen dafür ausgelacht wurden, womit wir fahren […] ist es schwer von Stolz zu sprechen! Wenn wir über Schrottplätze gingen, um ein Stück Blech zu finden [um das Fahrzeug zu panzern], oder wenn wir zu ihnen [Amerikanern] gingen, um sie zu bitten, ob man etwas von einem Hummer abmontieren könne, der schon lange nicht mehr benutzt wurde, dann war es schwer, seinen Stolz zu bewahren.“ Die nächste Frage bezog sich auf die Bilder im Hintergrund: von Leichen nackter Iraker, die nach der Explosion einer Autobombe flüchten und sich dabei ihre brennenden Kleider vom Leib reißen. ,,Warum sehen wir [in Polen] das nicht?“ ,,Wahrscheinlich deswegen, weil die Medien im Irak nur das sehen können, was die Armee ihnen zeigt“, antwortet der befragte Soldat.44 Die realistische Konvention kommt in der letzten Narration besonders deutlich zum Ausdruck, die sich auf eine Anklage gegen die polnische Regierungselite wegen des sinnlosen Todes polnischer Soldaten konzentriert. In einem Film spricht sich der rechte Politiker Janusz Korwin-Mikke für die Mission aus. Einmontiert sind die Texte: ,,Und was sagen die Familien der Soldaten dazu?“, ,,Müssen unsere Ehemänner, Söhne, Brüder wirklich an solchen Kriegen teilnehmen?“ In der Montage wird besonderer Nachdruck auf Bilder mit Särgen, Abschiednahmen von Gefallenen, Beerdigungen und Zahlen, die an die erlittenen Opfer erinnern, gelegt.45 Zahlreiche Bildunterschriften und Kommentare zu den Filmen zeigen, dass im Internet Diskussionen stattfinden, die in der traditionellen Öffentlichkeit fehlen. Die Besonderheit des virtuellen Dialogs liegt jedoch darin, dass er anonym geführt wird. Wir kennen die Mehrheit der Clipautoren und ihre Kommentatoren nicht. Außerdem gelangen die Inhalte der Seiten nur an interessierte User. Die lebendigste Sphäre des Gedenkens hat offenbar Nischencharakter; ihr Ausmaß und ihre Repräsentativität sind schwer zu ermessen.

44 45

Polskie wojaki w Iraku [Polnische Krieger im Irak], http://patrz.pl/filmy/polskie-wojaki-wiraku, 15:57 min. Ku pamięci polskich żołnierzy [Zum Andenken an die polnischen Soldaten], http://patrz.pl/ filmy/ku-pamieci-polskich-zolnierzy, 3:31 min. Autor: Tomek (Miszczu).

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Auslandseinsätze und Zweiter Weltkrieg: zweierlei Erinnerung Das kaum ausgeprägte Gedenken an die Soldaten, die in Auslandseinsätzen ums Leben kamen, steht in einem scharfen Kontrast zu dem intensiven Gedenken an die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs. Dieser Krieg ist noch immer ein wichtiger Bezugspunkt im kollektiven Gedächtnis der Polen, wie soziologische Studien zeigen.46 Es gibt zudem mehr als 100 Veteranen- und Opferorganisationen;47 die Zahl der staatlichen Gedenkfeiern und Gedenkinitiativen ,,von unten“ ist enorm. Um eine Leitfrage des vorliegenden Bandes aufzugreifen: Was ist der Grund für dieses unterschiedliche Totengedenken? Die Antwort ist vielschichtig; einige Aspekt sind jedoch offenkundig. Der erste und wesentliche Gesichtspunkt liegt darin, dass die Polen den Zweiten Weltkrieg, die traumatischste Katastrophe in der Geschichte des neuzeitlichen Polens, selbst erfahren haben. Zwar sind sich die Historiker bis heute über die genauen demographischen Folgen, die der Weltkrieg für Polen hatte, nicht einig;48 fest steht jedoch, dass er massenhaft Tod gebracht, die Menschen traumatisiert und krank gemacht und zu sozialen Verwerfungen geführt hat. Der Krieg hat die Grenzen des Landes verschoben, seine Bevölkerungsstruktur verändert und die Lebensläufe seiner Bürger durcheinander gebracht. Jede Familie war direkt oder indirekt auf eine häufig schmerzhafte Weise von diesem Krieg betroffen. Das ist bei den neueren Auslandseinsätzen nicht der Fall, welche die Polen hin und wieder im Fernsehen verfolgen – Krieg erscheint hier vielmehr als Simulacrum im Sinne Jean Baudrillards.49 Hinzu kommt, dass das bloße Ausmaß und die Reichweite des militärischen Engagements der Polen im Zwei46

47

48

49

Vgl. etwa Barbara Szacka, Polish Remembrance of World War II, in: International Journal of Sociology 36 (2006), H. 4, S. 8–26. Nach repräsentativen Umfragen von Sozialwissenschaftlern ist der Zweite Weltkrieg noch immer das häufigste historische Gesprächsthema der Familien, wenngleich es 2003 seltener (28 % der erwachsenen Polen) erwähnt wurde als noch 1987 (49 %); Piotr T. Kwiatkowski, Pamięć zbiorowa społeczeństwa polskiego w okresie transformacji, Warschau 2008, S. 188. Eine Übersicht nationaler Veteranen- und Opferorganisationen kann auf folgender Internetseite der Regierung abgerufen werden: http://www.udskior.gov.pl/index.php?p=8&o=1 (25.2.2010). Derzeit wird die Zahl von sechs Millionen Toten – der offizielle statistische Wert in der Volksrepublik Polen – überprüft und nach unten korrigiert. Vgl. zum Beispiel Klaus Peter Friedrich, Erinnerungspolitische Legitimierungen des Opferstatus. Zur Instrumentalisierung fragwürdiger Opferzahlen in Geschichtsbildern vom Zweiten Weltkrieg in Polen und Deutschland, in: Dieter Bingen, Peter Oliver Loew, Kazimierz Wóycicki (Hg.), Die Destruktion des Dialogs. Zur innenpolitischen Instrumentalisierung negativer Fremdbilder und Feindbilder. Polen, Tschechien, Deutschland und die Niederlande im Vergleich, 1900– 2005, Wiesbaden 2007, S. 176–188. Jean Baudrillard, Simulacra and Simulation, Ann Arbor/MI 1995.

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ten Weltkrieg mit dem der gegenwärtigen Auslandseinsätze nicht vergleichbar ist. Am Ende des Zweiten Weltkriegs zählte die Polnische Armee, die an der Seite der Roten Armee gekämpft hatte, rund 330.000 Soldaten;50 200.000 waren ein Jahr später entlassen.51 1945 verfügten die polnischen Streitkräfte im Westen über etwa 230.000 Soldaten, von denen wahrscheinlich 105.000 nach Polen zurückkehrten.52 Zudem gab es polnische Kriegsgefangene in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Noch immer ist unklar, wieviele sich für eine Rückkehr nach Polen entschieden haben und wieviele nicht repatriiert wurden.53 Es gab also in Polen 1946 über 300.000 ehemalige Soldaten. Hinzurechnen muss man noch die Soldaten der Polnischen Armee aus der Vorkriegszeit, die im September 1939 gekämpft hatte und bei Kriegsausbruch über etwa 950.000 Soldaten verfügt hatte. Einige waren in deutsche oder sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten; nicht wenige wurden in beiden Ländern als Zwangsarbeiter verwendet oder vor Kriegsende entlassen; wieder andere kämpften in den polnischen Armeen im Osten oder Westen. Viel schwieriger ist es, die Zahl der Polen zu schätzen, die als Partisanen kämpften oder sich auf andere Weise im Widerstand gegen das ,,Dritte Reich“, die Sowjetunion oder die ukrainischen Partisanen auf dem ehemaligen polnischen Territorium befanden. Polnischen Experten sprechen häufig von einer Million Menschen, doch die tatsächliche Beteiligung muss deutlich geringer gewesen sein. Im Frühjahr 1944, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, umfaßte die größte Organisation, die ,,Heimatarmee“ (Armia Krajowa, AK) zwischen 250.000 und 300.000 Mann, von denen jedoch kaum mehr als 30.000 unter Waffen standen.54 (Die menschlichen Verluste der Heimatarmee werden auf mehrere Zehntausend geschätzt; sie gehen vor allem auf die Kämpfe im Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzungstruppen ab August 1944 und die sogenannte Aktion Gewitter, eine militärische Operation der AK 1944 kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee, zurück. Außerdem gab es Zehntausende Polen in anderen Untergrundorganisationen wie den Bataliony Chłopskie (den BauernBattallionen, BCh), den Narodowe Siły Zbrojne (den Nationalen Streitkräften, 50 51

52 53 54

Czesław Grzelak u. a., Armia Berlinga i Żymierskiego. Wojsko Polskie na froncie wschodnim, Warschau 2002, S. 97. Kazimierz Frontczak, Siły zbrojne Polski Ludowej. Przejście na stopę pokojową 1945– 1947, Warschau 1974, S. 273; Jerzy Kajetanowicz, Polskie wojska lądowe w latach 1945– 1960. Skład bojowy, struktury organizacyjne i uzbrojenie, Wrocław 2002, S. 27 und S. 34. Krystyna Kersten, Repatriacja ludności polskiej po II wojnie światowej, Wrocław 1974, S. 239. Danuta Kisielewicz, Oficerowie polscy w niewoli niemieckiej w czasie II wojny światowej, Opole 1998. Vgl. Bernhard Chiari (Hg.), Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003.

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NSZ), der Gwardia/Armia Ludowa (der Volksarmee, GL/AL) und anderen örtlichen Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht der Heimatarmee unterstanden. Auch hier war nur ein kleiner Teil der Angehörigen tatsächlich bewaffnet. Die Zahl der Kriegsopfer ist besonders schwer zu schätzen. Als sicher gilt, dass mehrere hunderttausend Menschen die Gefängnisse und Lager der Nationalsozialisten überlebt haben. Rund 2,8 Mio. polnische Staatsbürger wurden als Zwangsarbeiter ins ,,Dritte Reich“ verschleppt, wo manche wochen-, andere jahrelang blieben.55 Wieviele überlebten, ist unbekannt. Der polnische Historiker Czesław Łuczak schätzt, dass bis 1949 rund 1,5 Mio. nach Polen zurückgekehrt sind und 350.000 ihre Repatriierung abgelehnt haben.56 Außerdem fielen Polen den sowjetischen Repressionen zum Opfer: im Zuge von Zwangsumsiedlungen, in Arbeitslagern und in Gefängnissen. Zwischen 500.000 und 600.000 Menschen waren wohl betroffen, von denen fast zwanzig Prozent ums Leben kamen.57 Die meisten dieser Opferzahlen waren der polnischen Gesellschaft bei Kriegsende unbekannt. Dennoch hatte sie das überwältigende Gefühl, unermeßliche menschliche Verluste erlitten zu haben.58 Gleichzeitig waren die Polen mit einem zentralen sozialen Problem konfrontiert: der massenhaften körperlichen und mentalen Versehrtheit. Mindestens eine halbe Million Polen waren Invalide.59 Zehntausende Polen waren arbeitsunfähig geworden; viele litten unter Tuberkulose, Herzkrankheiten, Rheuma, Geschlechtskrankheiten, Neurosen und Unterernährung. Der zweite Aspekt liegt, wie erwähnt, darin, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (und dem Beginn des Kalten Krieges) die öffentliche Erinnerung an ihn ein Stein des Anstoßes zwischen den regierenden Kommunisten und der antikommunistischen Opposition war. An anderer Stelle habe ich ausführlicher gezeigt, wie der Krieg zum Gründungsmythos des kommunistischen Regimes in Polen wurde und welche Rolle der Krieg für seine Legitimation gespielt hat.60 55 56 57 58 59 60

Zu diesen Zwangsarbeitern zählen auch Soldaten und untere Offiziersränge. Czesław Łuczak, Polacy w okupowanych Niemczech, Poznań 1993, S. 39. Stanisław Ciesielski u. a. (Hg.), Represje sowieckie wobec Polaków i obywateli polskich, Warschau 2002. Die Opferzahlen wurden in der Regel überschätzt. Das bekannteste Beispiel ist die falsche Zahl von vier Millionen Toten in Auschwitz-Birkenau. Czesław Łuczak, Polityka ludnościowa i ekonomiczna hitlerowskich Niemiec w okupowanej Polsce, Poznań 1979, S. 641. Joanna Wawrzyniak, ZBoWiD i pamięć drugiej wojny światowej. 1949–1969, Warschau 2009; als englische Zusammenfassung dies., On the Making of WW II Myths. War Veterans, Victims and the Communist State in Poland, 1949–1969, in: Natali Stegmann (Hg.), Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, Prag 2009, S. 189–208. Vgl. auch Piotr Madajczyk, Kriegserfahrungen und Kriegserinnerungen. Der Zweite Weltkrieg in Polen, in: Jörg Echternkamp/Stefan Martens (Hg.), Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung, Paderborn 2007, S. 97–111.

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Kurz gesagt: Die Kommunisten arbeiteten zum einen an der Legende der Roten Armee und der polnischen alliierten Streitkräfte, zum anderen an Erzählungen vom Krieg, in denen Einheiten der polnischen kommunistischen Partisanen (der Volksarmee) im Mittelpunkt standen. Die Opposition bezog sich dagegen auf die Tradition der Heimatarmee und der polnischen Streitkräfte im Westen. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Kommunisten in den 1960er Jahren ihre Legitimationsformel änderten und den sogenannten nationalen Kommunismus herausstellten. Dazu übertrugen sie einige der Legenden der Heimatarmee in ihre revolutionäre Kriegsgeschichte. Die Praxis der Kriegserinnerung in jener Zeit – die Ästhetik der Denkmäler und Gedenktafeln etwa oder die Szenarien der Romane, Schulbücher, Filme und Jubiläumsfeiern – war kodifiziert und folgte staatlichen Vorgaben. Nach 1989 begann der Mythos der Heimatarmee die polnische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu dominieren. Das am 31. Juli 2004 zum 60. Jahrestag eröffnete Museum des Warschauer Aufstandes (Muzeum Powstania Warszawskiego) poliert die ältere Legende auf; es gilt unter Befürwortern wie Kritikern als ein Modell der polnischen Geschichtspolitik. Soviel läßt sich festhalten: Die öffentliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg spielte vor und nach 1989 eine zentrale Rolle und prägte die politische Sozialisierung von drei Generationen. Insofern kann seine Bedeutung mit dem Platz der Auslandseinsätze im kollektiven Gedächtnis der Polen nicht verglichen werden. Der dritte und vielleicht interessanteste Gesichtspunkt liegt in der Symbolik der Weltkriegserinnerung. Wenngleich sie nicht kohärent ist, stimmen viele Experten doch darin überein, dass eine Kultur des Martyriums dominiert. Das vorherrschende Muster der sinnstiftenden Deutung des Krieges hat historische Wurzeln, die bis weit in die polnische Romantik zurückreichen, die im 19. Jahrhundert Rechtfertigungen für die Aufstände gegen die Teilungsmächte lieferte. Diesem romantischen Narrativ der Geschichte zufolge wurde Polen zum ,,Christus der Nationen“: Der Kampf um nationale Unabhängigkeit wurde mit dem Gemeinwohl der ganzen Menschheit verknüpft. Das Streben nach Souveränität wurde im rhetorischen Rahmen einer heterodoxen religiösen Begrifflichkeit legitimiert, derer sich polnische Philosophen und Dichter bedienten, die einer mystischen Lehre von polnischem Opfer und Messinanismus huldigten.61 Diese geschichtsmächtige Tradition – ein kulturelles Konzept und 61

Vgl. etwa Brian Porter, When Nationalism Began to Hate. Imagining Modern Politics in Nineteenth-Century Poland, Oxford 2000. Zur langlebigen Tradition der Romantik in Polen vgl. Dariusz Gawin (Hg.), Spór o Powstanie. Powstanie Warszawskie w powojennej publicystyce polskiej 1945–1981, Warschau 2004, S. 19–25; Maria Janion, Do Europy – tak, ale z naszymi umarłymi, Warschau 2000; Jonathan Huener, Auschwitz, Poland, and the Politics of Commemoration, 1945–1979, Athens/OH 2003, S. 47–58, 108–143 und 185–225; Heinrich Olschowsky, Typowo polskie? Sarmatyzm, mesjanizm, emigracja, wolność, in: Adreas Lawaty/Hubert Orłowski (Hg.), Polacy-Niemcy. Historia-Kultura-Polityka, Poznań 2003, 317–327. Pieter Lagrou zeigt jedoch, dass die Formel des Märtyrertums in der Nachkriegs-

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eine kulturelle Praxis zugleich – wirkte bis ins 20. Jahrhundert fort. Mehrere Generationen von Polen wurden auf der Grundlage einer Kultur von Heldentum und Buße sozialisiert, zu deren zentralen Werten das Vaterland, Unabhängigkeit, Ehre und Aufopferung für andere zählten. Hier liegt der Sinn vieler polnischer Erzählungen vom und rhetorischer Formeln zum Zweiten Weltkrieg. Es ist bemerkenswert, dass einige Elemente dieser Formensprache, etwa der Slogan ,,Für Euren Frieden und unseren“, manchmal auch für die Rechtfertigung der polnischen Auslandseinsätze genutzt wurden, wenngleich sie heutzutage nicht mehr populär sind. Offenbar ist das Deutungsmuster des Martyriums nicht mehr zeitgemäß, und es fehlt wohl an anderen überzeugenden Symbolen und Interpretationen, die dem Einsatz polnischer Soldaten in Auslandseinsätzen einen Sinn geben könnten.

Epilog Im Jahr 2007 strahlte ein polnischer Privatsender die Serie ,,Die Mannschaft“ (Ekipa) aus, bei dem unter anderem Agnieszka Holland (,,Hitlerjunge Salomon“) Regie führte.62 In einigen Folgen zeigten die Serienautoren die plötzliche Wandlung einer fiktiven polnischen Regierung. Sie porträtierten ihre Helden mit Sympathie als kompetente und gerechte Politiker. Der Film bildete auf seine Art einen Kontrapunkt zu den Skandalen, die zu dieser Zeit die politische Szene erschütterten, und dem geringen Vertrauen, das die Bevölkerung laut Meinungsumfragen in die politische Elite hatte. In einer Folge geht es um einen Streit zwischen Premierminister und Präsidenten über den Sinn der polnischen Missionen im Irak und in Afghanistan. Der Konflikt wird durch Nichtregierungsorganisationen ausgelöst, die eine öffentliche Debatte und ein Referendum über die Missionen verlangen. Sie wurden von Demonstrationen und Mediendebatten begleitet. Der Premier ist Pazifist, der sich gegen eine Aufopferung von Leben sowohl von Zivilisten als auch von Soldaten wendet. Vor allem aber ist er ein Befürworter breiter Diskussionen und der direkten Demokratie. Der Präsident dagegen ist der Meinung, dass über strategische Fragen oder Werte wie Loyalität und Mut keine Debatten und Referenden entscheiden könnten. In einer flammenden Rede beruft er sich auf bekannte Topoi der polnischen Kultur und Geschichte, unter anderem auf die Figur des Kazimierz Pułaski, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg starb. Er unterstreicht, dass man

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zeit nach 1945 auch in Westeuropa präsent war: Ders., The Legacy of Nazi-occupation. Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945–1965, Cambridge 2000, S. 211. Ekipa, 2007, 14 Folgen, Regie: Agnieszka Holland, Magdalena Łazarkiewicz, Katarzyna Adamik.

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Bündnispartner in der Not nicht im Stich lässt. Die Ehre der polnischen Nation hänge von der bedingungslosen Beteiligung der Soldaten im Kampf gegen den Terrorismus ab, auch wenn er das Leben kostet. Die Pointe des Films liegt nicht darin, dass er sich im Streit um die Auslandseinsätze auf eine Seite schlägt, sondern dass er eine Öffentlichkeit zeigt, die es in Polen nicht gibt: eine funktionierende Zivilgesellschaft, die eine Reaktion der Regierung provozieren kann, öffentliche Debatten und starke Persönlichkeiten in den Ämtern des Premiers und des Präsidenten, die ihre Standpunkte aus höheren Werten, nicht aus Einzelinteressen, ableiten und auch unmissverständlich vertreten. Dieses Defizit an Öffentlichkeit ist wohl eine Ursache dafür, dass ein System von Praktiken und Symbolen, mit dem der in Auslandsmissionen gefallenen Soldaten gedacht werden könnte, in Polen nicht existiert. Mehr noch: Ihr Tod ist unbequem für die Gesellschaft wie für die Politiker und führt daher weder zu einer Stärkung der politischen Gemeinschaft noch zur Legitimierung der Regierungselite. Das kollektive Gedächtnis der Polen konzentriert sich noch immer auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des kommunistischen Volkspolens. Hier mangelt es nicht an Organisationen, Initiativen und Diskussionen. In Polen gibt es nach dem Beitritt zur NATO und zur EU rasante Modernisierungsprozesse. Neue Themen und neue Argumente kommen schrittweise auf die öffentliche Agenda. Es braucht jedoch Zeit, damit die gesellschaftlichen Lager und öffentlichen Konflikte stabil genug werden, um auch eine neue, aussagekräftige Erinnerungssymbolik zu entwickeln.

Schweiz Georg Kreis

Pro patria mori. Zum republikanischen Totenkult seit dem 18. Jahrhundert – oder: Alle müssen offenbar Winkelried sein

Die Annahme ist naheliegend, dass Gefallenen- und Kriegsdenkmäler in republikanischen Gesellschaften anders geartet sind als in monarchischen oder despotischen Regimen. Eine nähere Betrachtung bestätigt dies jedoch nur bedingt. Zu prüfen ist, ob die Stiftungsvorgänge, die Monumente selbst und die Rezeptionen speziell republikanische Eigenschaften aufweisen? Doch was heißt schon republikanisch? Bekanntlich gibt es höchst unterschiedliche Organisationsformen von Republiken, zudem können sich diese je nach Zeitumständen in höchst unterschiedlichen Aggregatzuständen befinden. Wenn man mit republikanisch meint, dass es um Regime geht, die, selbstverständlich am vermeintlichen Gemeinwohl orientiert, gleichsam von unten nach oben organisiert sind, ist damit für unsere Problematik wenig gesagt. Es gibt bekanntlich auch einen populistischen Cäsarismus, der sich nur dem Schein nach auf die Basis beruft. Maßgebend ist nicht das Republikanische an sich, sondern das individuelle Handlungsspiel, das in republikanischen Regimen bei der demokratischen Mitgestaltung der Res publica besteht. Und bezüglich der Monumente geht es um die Frage, ob diese den Betrachtenden die Möglichkeit lassen, auf individuelle Weise für etwas Gemeinsames verantwortlich zu sein. In Gefallenendenkmälern sind aber in doppelter Weise gegenläufige Tendenzen angelegt. Einmal, weil sie, auf den Krieg bezogen, a priori gleichgestimmte Haltungen zum Ausdruck bringen und verewigen wollen. Und zum anderen, weil Denkmäler schlechthin kollektive Zeichen für scheinbar oder tatsächlich kollektive Haltungen sind. Das Denkmal ist ein plastisches Objekt, das zur Erinnerung an eine Sache von einer Gruppe für die Gemeinschaft auf öffentlichem Grund errichtet worden ist. Wichtig an dieser Definition ist, abgesehen vom angesprochenen Spannungsverhältnis, das zwischen den Akteuren mit Gruppencharakter und dem sehr allgemeinen Adressaten besteht, die Benennung des Skulpturencharakters. Denkmäler sind Plastiken mit appellativem Charakter. Was man tendenziell jeder Skulptur zuschreibt, mag für Denkmalskulpturen in höherem Maße zutreffen: die besondere Prägnanz und Wirkung auf den Betrach-

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ter und damit eine ihr innewohnende ,,Idee der Autorität“, ja der Herrschaft.1 Das mag im Falle von Personendenkmälern (mit und ohne imperial ausgestrecktem Arm) besonders einleuchten, trifft aber auch auf abstrakte Denkmäler zu. Das skulpturale Denkmal mag es verdienen, als eigene Zeichenspezies speziell beachtet zu werden. Indessen ist das Denkmal auch nur eine Emanation einer immateriellen Monumentalisierung. Es hat sozusagen seit eh und je auch eine Monumentalisierung in Buchformat gegeben. Vom republikanischen Geist beseelt erschien bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu Hauf patriotische Anweisungsliteratur. Der innere Zusammenhang zwischen Buch und Skulptur kommt in der Meinung eines Aufklärungspropagandisten zum Ausdruck, der damals empfahl, statt bloß Schriften doch auch ,,lebendige Gemähldt“ einzusetzen; gemeint war bildliche oder skulpturale Veranschaulichung, als ob diese das lebendige, starke Imaginieren besser in Gang setzte als Texte.2 Vom Bild zum Monument: In einer älteren Studie des Würzburger Volkskundlers Wolfgang Brückner findet sich die interessante These, dass die persönliche, mit individuellen Erinnerungsbildern betriebene Ex-Voto-Gedenkpraxis der öffentlichen und allgemeinen Monumentalisierung von Kriegstoten vorangegangen sein könnte.3 Wie ein Text durch ein Bild zusätzliche Kraft bekommt, gewinnt ein Bild als öffentliche und singulär gesetzte Skulptur an Bedeutung und kann dann wiederum als multiples Bild weiter verbreitet werden.

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Paul-André Jaccard, Skulptur, Ars Helvetica Bd. VII., Disentis 1992, S. 4ff. Hans Georg Sulzer, 1745. Vgl. Georg Kreis, Nationalpädagogik in Wort und Bild, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, München 1998, S. 446– 475. Wolfgang Brückner, Zugänge zum Denkmalwesen des 19. Jahrhunderts. Kollektive Trägerschaften und populäre Formen des Gedenkens, in: Ekkehard Mai / Gisela Schmirber (Hg.), Denkmal-Zeichen-Monument. Skulptur und öffentlicher Raum heute, München 1989, S. 13–18. Er bezieht sich allerdings auf die 1830er/40er Jahre und sieht darin eine Wiederaneignung einer älteren Praxis aus dem 18. Jh. Besonders wertvoll ist der Hinweis auf die erweiterten massenmedialen Möglichkeiten durch den Patentablauf für Lithographien 1828 (S. 14); ders., Bild und Gebet. Vom Soldatenmotiv zum Kriegerdenkmal, in: Volkskunst 7 (1984), H. 1, S. 15–23. Hier der Verweis, dass der gehäufte Kriegstod auch zu KollektivEx-Voti geführt hat, um 1817 gleich für 13 Uniformierte unter einem Marienbild (S. 18). Am gleichen Ort findet sich ein für einen 26jährigen Bauernsohn verfassten Gedenktext, der das Wesen des individuellen Gedenkens gut zum Ausdruck bringt: ,,Liebe Eltern seht mich an, ich bin euer liebster Sohn / ich muss in den Soldatenstand, für das liebe Vaterland / Ich kam in dieser Kriegeszeit unverhofft in die Ewigkeit / Eltern gedenkt doch an mich, und ein Vaterunser bett für mich“, verstorben ,,26. März 1813“ (S. 18).

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Winkelried – Der Proto- und Idealtyp eines Kriegsgefallenen Bevor wir uns den schweizerischen Gefallenenmonumenten des 20. Jahrhunderts zuwenden, sei der Prozess der Monumentalisierung – ohne Beschränkung auf das skulpturale Denkmal – am Beispiel des bekanntesten der pro patria gefallenen Schweizer Bürger aufgezeigt. Bei der – legendären – Figur handelt es sich um den auch in Deutschland bekannten Helden namens Winkelried. Winkelried soll mit seinem Opfertod in einer im Luzernischen Sempach am Ende des 14. Jahrhunderts ausgetragenen Abwehrschlacht gegen den österreichischen Adel den Sieg seiner Mitstreiter ermöglicht haben. Der Opfertod bestand darin, dass er einen ganzen Bund feindlicher Langspeere an seine Brust zog und so den mit kürzerem Kriegsgerät ausgestatteten Kameraden eine Gasse bahnte.4 Mit folgenden letzten Worten soll er, sich rückwärts von seinen Kameraden verabschiedend, diese aufgefordert haben: ,,Sorget für Weib und Kind“. Winkelried wurde als eine Verkörperung – Inkarnation und Personifikation – des Horaz-Wortes: ,,Dulce et decorum esse pro matria mori“ inszeniert.5 Bereits im 18. Jahrhundert wurde Winkelried immer häufiger als Emblem verwendet, parallel zur wachsenden Bedeutung der ,,Massenmedien“, was dazu führte, dass der Lokalheld aus dem eng begrenzten Herkunftsgebiet, dem nidwaldischen Stans, nationalisiert und zu einer weit bekannten historischen Repräsentationsfigur des kriegerischen Opfermuts wurde. Einen Ausgangspunkt dieses Prozesses bildete die 1723 am angeblichen Geburtsort errichtete Brunnenfigur von Stans im Kanton Nidwalden (Abb. 1). Vierzig Jahre später, 1767, schuf Lavater, zürcherischer Theologe und, avant la lettre, ein Intellektueller, ein Lied, das dem Helden überregionalen Ruhm sicherte,6 und wenig später, 1781/82, erhielt Winkelried, wiederum in Zürich, eine Buchillustration. Etwa zur gleichen Zeit wurden erstmals die jeweils zum Jahrestag der Schlacht gehaltenen Predigten 4

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Zur Entstehung des Winkelried-Mythos vgl. Guy P. Marchal, Leopold und Winkelried – der Stoff, aus dem die Helden sind. Oder: Wie ein Geschichtsbild entstand, in: Ders., Schweizer Gebrauchsgeschichte. Geschichtsbilder, Mythenbildung und nationale Identität, Basel 2006 (Neuedition früherer Publikationen), S. 307–344. Horaz (66 v. Chr.–8 n. Chr.) kämpfte selbst 42 v. Chr. bei Philippi, später Regierungsschreiber; Carmina III, 2, 13–16: ,,Dulce et decorum est pro patria mori:/ Mors et fugacem persequitur virum,/ Nec parcit inbellis iuventae/ Poplitibus timidoque tergo.“ / Süß und ehrenvoll ist es für das Vaterland zu sterben / der Tod verfolgt auch den Fliehenden / Erbarmt sich nicht der scheuen Jugend,/ Schont nicht den Rücken und nicht den feigen Rücken. Beat Suter, Arnold Winkelried der Heros von Sempach. Die Ruhmesgeschichte eines Nationalhelden. Stans 1977, S. 97ff. Die Anregung erhielt Lavater in der ,,Helvetischen Gesellschaft“.

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Georg Kreis Abbildung 1: Winkelriedbrunnen in Stans, 1774 (Dokumentation Georg Kreis/ Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft SIK-ISEA).

gedruckt.7 Es vergingen dann weitere achtzig Jahre, bis Winkelried als gesamtschweizerisches Monument 1865 in Stans ein klassisches Denkmal erhielt (Abb. 2), und nochmals zwei Jahrzehnte, bis Winkelried 1886 zum zentralen Gegenstand eines gigantischen Volksspektakels, eines so genannten Festspiels, wurde (Abb. 3).8 Man ist geneigt, diese Zeugnisse als bottom-up-Manifestationen republikanischen Stils zu sehen. Die Inszenierung ging aber von den Honoratioren aus, dem gesellschaftlichen Mainstream, der in der privat-demokratisch organisierten Vereinswelt die Komitees und Vorstände besetzte. Diesbezüglich unterschieden sich die Verhältnisse nicht groß von denjenigen, die man aus 7 8

Ebd., S. 119. Winkelried-Dramen gab es schon vorher: Jakob Hottinger hat beispielsweise – wiederum als Neujahrsgeschenk für die ,,männliche Jugend“ – schon 1810 in Winterthur den Text eines vaterländischen Schauspiels veröffentlicht. Im Vorwort erklärt der Autor, er wolle, gestützt auf Vorarbeiten anderer, mit dieser dramatisierten Version ,,auf den vaterländischen Sinn“ der Jugend einwirken; ders., Arnold von Winkelried. Ein Vaterländisches Schauspiel in vier Aufzügen, Winterthur 1810.

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Abbildung 2: Winkelrieddenkmal in Stans, von Ferdinand Schlöth 1865 (Dokumentation Georg Kreis/Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft SIK-ISEA).

dem wilhelminischen Deutschland kennt, dessen Vereine sich zwar gerne auf ein kaiserliches Mandat beriefen, zum Teil aber auch ohne den Kaiser oder wie im Fall des Völkerschlachtdenkmals von 1913 gar gegen den Kaiser engagierten.9 Johann Caspar Lavater, der Autor des genannten Liedes der 1760er Jahre, war damals 24jährig. Die 17. und 18. Strophe zeigen, was wir von der jakobinischen Ideologie der späteren Jahre schon kennen: dass Republikanismus äußerst martialisch sein kann. 9

Stefan-Ludwig Hoffmann, Sakraler Monumentalismus um 1900. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal, in: Reinhart Koselleck, Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 249–280; Steffen Poser, Zur Rezeptionsgeschichte des Völkerschlachtdenkmals zwischen 1914 und 1989, in: Katrin Keller / Hans Dieter Schmid (Hg.), Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur, Leipzig 1995, S. 78–104; Kirstin Anne Schäfer, Die Völkerschlacht, in: Etienne François / Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, S. 187–201.

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Abbildung 3: Der tote Held zu Füßen des Genius – Titelblatt der Festspielzeitung zur 500Jahr-Feier der Schlacht von Sempach (1886) (Dokumentation Georg Kreis/Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft SIK-ISEA).

,,Blut spritzt: – die Brust drückt niederwärts, / Blass kniet der Patriot / Stirbt heldenmäßig ohne Schmerz / Den schmerzvollsten Tod!“ Und dann die Aufforderung zu Nachahmung: ,,Und wie ein Waldstrom stürzen wir, / Vom Heldentod beseelt, / Herein, Soldat und Officier, / Zu sterben, wie der Held.“ Martialische Mentalität betont in der Regel die Sehnsucht, den Feind zu vernichten. Hier schwingt aber die Sehnsucht nach Selbstvernichtung, der Hang zum säkularreligiösen Martyrium mit.10 Während die Brunnenfigur Winkelried als säkularen Heiligen zeigte, die Speere der Gegner wie Marterinstrumente im Arm, präsentierten spätere Darstellungen den Helden als sakralisierte Profangestalt und als Christus, insbesondere ohne Familie gedacht. Er stirbt aber, anders als Christus, nicht für alle, sondern nur für die Eidgenossen bzw. die Schweizer, was bedingt, dass diese als auserwähltes Volk verstanden wurden. Der in Lavaters penetrant nationalpädagogischem Vaterlandslied enthaltene Appell an die Kampf- und Sterbebereitschaft erfolgte nicht etwa vor dem Hintergrund einer kriegerischen Bedrohungslage. Entweder war es reiner Nationalkitsch oder es ging darum, eine gewisse Militanz gegen jedwede Freiheitsfeinde zu fördern, die man da10

Vgl. auch Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Wiesbaden 1961, S. 129ff.

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mals in den Anhängern absolutistischer Regime im eigenen Land wie in den Nachbarländern sah.11 Für Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft und für ein Minimum an Grundgehorsam besteht offenbar in jedem Regime ein zeitloser Bedarf. Dieser wurde bereits von den erhabenen Denkern der Aufklärung über eine mentale Militarisierung der zivilen Welt gefördert. Mag Lavaters Lied eher für die erwachsene Männerwelt komponiert worden sein, wurden die entsprechenden Buchillustrationen doch in erster Linie für die jugendlichen Betrachter hergestellt. Die Illustration aus einem für jene Zeit typischen Neujahrsheft war explizit als ,,Geschenk“ für die Zürcher Jugend produziert und zum Abholen am Neujahrsmorgen 1782 im städtischen Musiksaal bereitgestellt worden. Winkelried ist keine spezifisch republikanische Figur, er ist an kein Regime und keine politische Richtung gebunden, er wurde von der archaisch-ständischen Schweiz wie von der aufklärerischen-revolutionären Schweiz verehrt, vom erstarkenden Bürgertum wie von der aufstrebenden Arbeiterbewegung. Er fand den Gefallen des Bayernkönigs Ludwig I. und erhielt darum einen Platz in der Walhalla; später wurde er auch von der NS-Propaganda genutzt und hätte sicher auch der stalinistischen Kriegspropaganda dienlich sein können.12 Im schweizerischen Stans des 19. Jahrhunderts hatte der Winkelried-Kult mit dem Denkmal auf dem Hauptplatz die zentrale Zusatzaufgabe, dem bekannten Luzerner Löwen Konkurrenz zu machen, um einen Teil des Touristenstroms von Luzern auch nach Stans zu locken.13

Totenkult jenseits des Regimecharakters Reinhart Koselleck hatte darauf hingewiesen, dass der moderne Totenkult quer durch alle Verfassungsformen etwa der gleiche ist und dass die allfällige Verknüpfung mit dem aktuellen Regierungstypus – royalistisch, populistisch, nationalistisch, imperialistisch – bloß eine ,,zusätzliche“ Begründung ist.14 Angesichts dieser Beliebigkeit kann man einerseits feststellen, dass auch 11

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Gisela Luginbühl-Weber, ,,Die Schlacht bei Sempach“. Johann Kaspar Lavater als Patriot und Pazifist, in: Die Schlacht von Sempach im Bild der Nachwelt: Ausstellung im Stadthaus u. Ochsentor im Sempach, 21. Juni bis 12. Oktober 1986. Aus Anlaß des Jubiläums 600 Jahre Schlacht bei Sempach, 600 Jahre Stadt und Land Luzern, Luzern 1986, S. 31–39. In den 1930er Jahren war Winkelried eine wichtige Bezugsfigur der schweizerischen Frontisten (Suter, Arnold Winkelried, S. 427). Noch heute verbreitet ein in Dresden domizilierter Winkelried-Verlag Literatur, welche das NS-Kriegertum verherrlicht (vgl. etwa Fritz Bunge, Musik in der Waffen-SS, Dresden 2007). Georg Kreis, Zeitzeichen für die Ewigkeit. 300 Jahre schweizerische Denkmaltopographie, Zürich 2008, S. 22ff. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Ders., Der politische Totenkult, S. 12.

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autokratische Regime basisorientierte Kulte betreiben, wie es andererseits möglich ist, dass in dem demokratisch sein wollenden Monument stets auch ein autoritäres Potenzial angelegt ist. Warum sollte der Totenkult einer demokratisch-republikanischen Gesellschaft grundsätzlich anders sein als der Totenkult monarchischer, autoritärer, totalitärer Regime? Ist es relevant, wie die Kompetenzen im Hinblick auf Krieg und Frieden organisiert sind, mit anderen Worten, ob die Entscheidung für den Krieg und den gewaltsamen Tod bei einem Autokraten, beim Parlament oder gar bei der Basis liegt? Das Kriterium, ob man in den Krieg geschickt wird oder sich selbst in den Krieg schickt, ist spätestens mit der Levée en masse von 1792 eine fragwürdige Unterscheidung. Wann ist Sinnstiftung speziell nötig: im Falle von Zwangsrekrutierungen oder im Falle von Freiwilligkeit? Der höchste Sinn wird darin gesehen, dass man sich – auch wenn man keine Wahl hat – sozusagen bejahend dem unvermeidlichen Schicksal pro-aktiv hingibt. Hier muss an den Leonidas-Mythos erinnert werden, der nach längerer Zeit der Bedeutungslosigkeit im Zuge der Französischen Revolution als Verkörperung des bürgerlichen Opferideals wieder wichtig wurde.15 Die Anfänge des modernen Totenkults liegen sonderbarerweise im Dunkeln. Das heißt: Man situiert sie pauschal in die große Umbruchzeit um 1800, zwischen dem hölzernen Obelisken für die Tuilerien-Toten von 1792 und dem gigantischen Hügel für die Tausenden von Toten von Waterloo von 1815.16 Obwohl die Ebene von Waterloo bekanntlich nicht in der Schweiz liegt, sei bemerkt, dass man in diesem Monument eine sonderbare Mischung von Reverenz gegenüber einem namentlich genannten Dynasten und einer Hommage für Tausende von Unbekannten vor sich hat. Der Löwenhügel wurde in den Jahren 1823–1826 am angeblichen Ort, wo der Prinz von Oranje verwundet wurde, im Auftrag seines Vaters, des Königs der Niederlande, für alle gefallenen Soldaten errichtet – ein monarchisches Denkmal auf einer künstlichen Erdmasse als egalitärem Sockel.17 15

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Anuschka Albertz, Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an den Thermopylen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2006, S. 424. Siehe Besprechung von Stefan Rebenich in der NZZ vom 7. Februar 2007. Die Analogie zum schweizerischen Helden wurde durchaus gesehen. In einer Berichterstattung über Grossratsverhandlungen im Kanton Bern wird von ,,enthousiasme des Léonidas et des Winkelried“ gesprochen (L’Hélvétie 19/6. März 1835). Dazwischen das öfters genannte Hessendenkmal von Frankfurt am Main von 1792/93 (Koselleck, Der politische Totenkult, S. 12; oder: Brückner, Zugänge zum Denkmalwesen, S. 15). Oder das Berliner Denkmal für die Gefallenen der Befreiungskriege, spätestens seit 1818 in einem Entwurf von Karl Friedrich Schinkel vorliegend, 1821 in Gusseisen verwirklicht (Helmut Scharf, Kleine Kunstgeschichte des deutschen Denkmals, Darmstadt 1984, S. 167ff). Auf dem Schlachtfeld von Waterloo wurde bereits 1819 ein von Schinkel gestaltetes Preußen-Denkmal errichtet.

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Die frühen Denkmäler der Schweiz entstanden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und entsprangen nicht dem republikanischen, sondern dem aristokratischen Milieu, das dem Ancien Régime nachtrauerte. Das berühmteste Beispiel ist der bekannte Luzerner Löwe von 1820 zur Erinnerung an die gefallenen Söldner, welche 1792 in den Tuilerien bis zum letzten Atemzug den französischen Monarchen verteidigten. Namentlich genannt wurden auf diesem Denkmal nur die beteiligten Offiziere, 26 gefallene und 16 überlebende duces. Die gemeinen Soldaten bekamen nur als Pauschalgröße einen Platz: 760 gefallene und 350 überlebende miles circiter. Dies entsprach der gesellschaftlichen Verortung dieses Monuments.18 Man mag auch im Falle des Luzerner Monuments in der Darstellung des Löwen, des Königs der Tiere, ein bereits durch das Motiv aristokratisch geprägtes Denkmal sehen. Dieses Denkmal war insofern tatsächlich unrepublikanisch, als es von einem Aristokraten (Pfyffer von Altishofen) auf dessen Privatgelände errichtet worden ist. Mit der Zeit verflüchtigte sich jedoch ein Teil des aristokratischen Gehalts, und das Monument wurde auch zum Objekt kritischer (republikanischer) Karikaturen. Das ,,Republikanischste“ an Denkmälern republikanischer Regime liegt in der Möglichkeit, auf autoritäre Denkmalappelle und Heldengeschichten auch mit antiautoritärer Distanz kritisch zu reagieren. Lange vor ,,1968“ zirkulierte als Winkelrieds ständiger Begleiter eine alternative und inoffizielle Version der last words. Dazu gibt es keine spezielle Quelle, man kennt diese Worte in der Schweiz einfach, und zwar seit der frühen Schulzeit. Statt ,,Sorget für Weib und Kind“ soll Winkelried nach hinten gerufen haben: ,,Welcher gemeine Kerl hat mich da nach vorne gestoßen“. Ähnlich bewusst despektierlich sind, wie wir noch sehen werden, gewisse Reaktionen auf Respekt heischende Ansprüche bestimmter Denkmäler. Winkelried ist nicht nur freiwillig in den Tod gegangen, er ist auch freiwillig in den Krieg gezogen. Die Wehrorganisation ist für Gefallenendenkmäler unerheblich. Das heißt: Es ist unwichtig, ob hier an Freiwillige, an Berufssoldaten oder an zwangsrekrutierte Untertanen, an Halbbürger oder Vollbürger gedacht wird. Im schweizergeschichtlichen Kontext können wir feststellen, dass sich die Qualität des Gefallenkultes im Übergang vom oligarchischen 18. Jahrhundert zum egalitären 19. Jahrhundert wohl etwas verändert. Die Veränderung wird aber als Übergang vom sakral-kirchlich dominierten zum säkular-staatlich getragenen Totenkult besser beschrieben denn als Übergang vom undemokratischen zu demokratischeren Verhältnissen. 18

Peter Felder, Das Löwendenkmal von Luzern, Luzern 1964; Irma Noseda, Immer neuer Götzendienst? Kulturgeschichtliche und städtebauliche Bedeutung des Löwendenkmals – ein Beitrag zu städtebaulichen Ideenwettbewerb der Stadt Luzern, in: in archithese 4 (1985), S. 59–66; Kreis, Zeitzeichen für die Ewigkeit.

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Gefallene, ob imaginierte oder reelle, werden seit dem 18. Jahrhundert in wachsendem Maß und mit einer beträchtlichen Steigerung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Vorbildern des Bürgertums.19 In den 1880er Jahren wurden die Arbeiter am Gotthard-Tunnel, die übrigens als ,,Fremdarbeiter“ mehrheitlich Nichtschweizer waren, mit den alteidgenössischen Kriegern gleichgesetzt und als Heroen der Neuzeit gefeiert.20 Der Oberingenieur dieses Tunnelbaus, der Schweizer Louis Favre, der unter dramatischen Verhältnissen im Tunnel an einem Herzinfarkt starb, wurde explizit als Winkelried der Moderne stilisiert.21 Ob gefallen im archaischen Krieg gegen österreichische Ritter oder im modernen Kampf gegen den Fels – die Gemeinsamkeit bestand im christlichen Sterben, das als Opfersterben idealisiert wurde, wie es Vincenzo Vela, ganz der christlichen Ikonographie verpflichtet, 1883 mit dem Relief ,,Vittime del lavoro“ (Abb. 4) mustergültig gestaltet hat. Seit 1932 am südlichen Portal des Gotthard-Tunnels stehend, vergegenwärtigt es die beim Bau des Gotthardtunnels ums Leben gekommenen Arbeiter analog zu im Krieg gefallenen Helden.22 Opferbereitschaft bis zum Tod als ultima ratio der Hingabe wurde und wird auch von der Arbeiterschaft verlangt. Gefallenendenkmäler richten sich an die Menschen eines als Gemeinschaft postulierten Staates oder einer Nation. Diese bekanntlich nicht freiwillige Zugehörigkeit soll mit dem Totenkult zusätzlich festgeschrieben werden, nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Identifikation der Gesamtbevölkerung mit ihrem Staat, wie immer er regiert war, wichtiger geworden war. Die Pflege der zivilen Nationalgemeinschaft könnte auch heute noch, neben der Funktion der Dankbarkeitsbezeugung, die versteckte Funktion der heutigen Gefallenendenkmäler sein.

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20

21 22

Meinhold Lurz, Denkmäler der Befreiungskriege, in: Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur, hg. v. Hans-Kurt Boehlke, Zentralinstitut für Sepulkralkultur, Mainz 1979, S. 125–134; ders., Architektur für die Ewigkeit und dauerndes Ruherecht, in: Mai / Schmirber, Denkmal-Zeichen-Monument, S. 89ff. Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer: ,,Wir liebten es, mit starker Faust zu streiten [ … ] Da siehe, wurden mit der Zeitenwende/ Aus harten Fäusten kluge, rüst’ge Hände. […] Mit andern Waffen und auf andern Bahnen“; Hermann Büchler, Drei schweizerische Landesausstellungen. Zürich 1883, Genf 1896, Bern 1914, Zürich 1970, S. 47ff. Vgl. etwa Werner Kuhn, Louis Favre, der Winkelried vom Gotthard, Ohne Ort 1940. Georg Kreis, Unten und oben. Vincenzo Velas ,,Vittime del lavoro“ von 1882/83, in: Bernhard Degen u. a. (Hg.), Fenster zur Geschichte. 20 Quellen – 20 Interpretationen. Festschrift für Markus Mattmüller, Basel 1992. S. 163–182. Vgl. auch Kreis, Zeichen für die Ewigkeit.

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Abbildung 4: Vincenzo Vela, Opfer der Arbeit (1883) (Dokumentation Georg Kreis/ Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft SIK-ISEA).

Moderne Gefallenendenkmäler Am Ende der beiden Weltkriege, nach 1914 und nach 1945, wurden auch in der Schweiz Gefallenendenkmäler errichtet, die den Denkmälern des Nachbarn, die wirklich Krieg geführt hatten, teilweise in bemerkenswertem Maß glichen (vgl. etwa das Genfer ,,Monument aux Morts“, Abb. 5).23 Im Falle der Schweiz ging es um die folgenden Zahlen: 1914–1918 starben 3.065 Schweizer, davon 23

In der französischen Schweiz werden die gleichen Totenfeiern noch jedes Jahr, meistens am ersten Novembersonntag (also in der Nähe des christlichen Totensonntags und der Feier der Entente zum Sieg von 1918) mit wesentlich größerem Aufwand begangen. In Genf zum Beispiel mit immerhin 1.000–2.000 Teilnehmern, mit zahlreichen patriotischen Vereinen, mit Regierungsvertretern und einer finanziellen Unterstützung durch den Staat. Die 1921 erstmals durchgeführten und bewusst durchnummerierten Feiern (im November 1991 ist es die 71.) laufen nach einem festen Zeremoniell ab, mit einem gegebenen Musikrepertoire (»Ich hatt’ einen Kameraden«, Nationalhymne etc.), mit einer Kranzniederlegung, der Lektüre des Soldateneides, einer Schweigeminute etc. Im calvinistischen Genf reden die Veranstalter vom spirituellen Charakter der Feier und von einer Wallfahrt. Im katholi-

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Georg Kreis Abbildung 5: Soldatendenkmal in Genf, um 1920 errichtet; auch hier wurde das Monument zum Ersten Weltkrieg am Sockel nachgenutzt für eine analoge Würdigung zum Zweiten Weltkrieg (Quelle: Ernst Leu (Hg.), Soldatendenkmäler 1939–1945, Belp 1953).

244 durch Unfälle und 1.876 durch die Grippeepidemie; die übrigen 945 dürften Selbstmordtote gewesen sein (insgesamt kamen im Ersten Weltkrieg ca. 9,2 Mio. Menschen ums Leben); 1939–1945 lag die Zahl bei 4.050, davon waren 2.759 durch Krankheit, 968 durch Unfall, 323 durch Suizid gestorben (während im Zweiten Weltkrieg insgesamt ca. 36 Millionen Gefallene zu verzeichnen sind).24 Da und dort wurden auch Namen eingetragen, damit das Monument einen realeren Bezug hatte. Das Gespenstische daran war, dass dieser Gefallenenkult im Falle der nach 1918 errichteten Denkmäler realiter mehr den an der Spanischen Grippe gestorbenen Soldaten galt und dass der Hauptzweck dieses Totengedenkens in der indirekten Idealisierung des Einsatzes gegen die Arbeiterstreiks vom November 1918 lag. Trotz der Inanspruchnahme von Überparteilichkeit wurden die nationalen Gefallenendenkmäler und Totenfeiern von oppositionellen Gruppen, vor allem der Linken, die mit herrschenden Meinungen und Verhältnissen nicht einverstanden waren, als parteiisch abgelehnt.25 Die schweizerischen Gefallenendenkmäler beziehungsweise Wehrmänner- oder Soldatendenkmäler erinnern nicht an Schlachten (schon deshalb nicht,

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schen Freiburg kommt die Feier ohne Umzug, Fahnen und Musik aus, hingegen ist sie mit einer staatsvertraglich geregelten Messe verbunden. Detaillierte Zahlen bei Hans Rudolf Kurz, 100 Jahre Schweizer Armee, Thun 1978, S. 133 und S. 199. Die Suizidzahlen stammen aus dem Bericht des Generalstabschefs, 1946, S. 303. Ruedi Brassel-Moser, Vom offenen Buch zum Helm. Deutungsmacht und Erinnerung am Beispiel des Baselbieter Wehrmannsdenkmals in Liestal, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 51 (2001), H. 1, S. 1–17.

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weil keine stattgefunden haben). Es sind aber auch keine Friedhofdenkmäler, weil die Gebeine der Zivilbestattung überlassen worden sind. Die Werte wurden (und werden in Maßen auch heute noch) wesentlich durch den Totenkult kultiviert, denn in Verbindung mit dem Tod erhalten die zentralen Werte die höchste Weihe. Im 19. Jahrhundert erfüllten die Denkmäler der alteidgenössischen Befreiungskriege diese Funktion, zum Beispiel eben mit dem Kult um Winkelried und Sempach. Im 20. Jahrhundert dienten die Soldatendenkmäler für den sogenannten Grenzdienst von 1914–1918 und den sogenannten Aktivdienst von 1939–1945 diesem Zweck. Von den mindestens fünfzig Soldatendenkmälern dieses kleinen Landes sticht eines speziell hervor. Das Denkmal, das eine gigantische Flamme auf Bronze darstellte, kam auf Initiative der Zürcher Unteroffiziersgesellschaft zustande und war unter 95 Konkurrenzvorschlägen ausgewählt worden. Das Preisgericht würdigte den Entwurf: ,,Durch den pyramidenartigen Aufbau mit der hochgehenden Flamme wurde eine charakteristische Gestaltung […] gefunden, in welcher Monumentalität, Ernst und Würde in lebendig zündender Weise verkörpert sind“.26 Dieses Monument bildete aber auch ein attraktives Ausflugsziel im Zürcher Naherholungsraum. Darum waren die Betreiber sowohl einer Kleinbahn als auch des nahegelegenen Gasthauses ,,Die Krone“ daran besonders interessiert. Sie stifteten zusammen 10.000 Franken, die Bahn etwas mehr, der Wirt etwas weniger, was aber immerhin ein Sechstel der Gesamtkosten ausmachte. An der Einweihungsfeier von 1922 nahmen zwischen 30.000 und 50.000 Menschen teil, unter ihnen Bundespräsident Robert Haab. Damals beförderte allein die Forchbahn 12.865 Personen. Die Denkmalinschrift ist bei diesem Denkmal beredter als in den meisten anderen: ,,Dies Denkmal baute das Zürcher Volk als Sinnbild seiner Opfer, die der Weltkrieg 1914–1918 zu des Vaterlands Schutz forderte.“ Auch hier waren die Opfer der Grippeepidemie nach Kriegsende einbezogen. Von den rund 370 Wehrmännern waren fast alle Grippeopfer. Später erfuhr auch dieses Denkmal eine Erweiterung um die gestorbenen Wehrmänner des Aktivdienstes der Jahre 1939–1945, so dass sich die Zahl auf 1.080 erhöhte. 1954 bemerkte der Architekt Peter Meyer von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), Wehrmännerdenkmäler seien nur sinnvoll, wenn die Namen der Verstorbenen darauf verzeichnet seien, damit die Hinterbliebenen davon unmittelbar angesprochen würden. Kritisch fügte er an: ,,Denkmäler wie die Bronze-Flamme auf der Forch bei Zürich sind kunstgewerbliche Veranstaltungen ins Leere.“27 Im eidgenössischen Jubiläumsjahr 1991 forderte ein Kantonsrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) eine Namenstafel für alle diese Soldaten als ,,verspätete Dankespflicht“. Der Regierungsrat lehnte das ab, weil es eine Gedenkwand mit einer einen Meter hohen und 15–20 Meter 26 27

Maurmer Post, 7.2.2003. Peter Meyer, Denkmäler, in: Kulturpolitik in der Schweiz, Zürich 1954, S. 159–161.

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langen Inschriftplatte erfordert und dies die Schlichtheit des Denkmals gefährdet hätte.28 Eine Erweiterung zum Zwecke der Namensnennung war bereits nach dem Zweiten Weltkrieg erwogen worden, 1949 stellte die Regierung sogar einen entsprechenden Kreditantrag. Das Projekt blieb aber unausgeführt. Im Zuge der Totalsanierung vom Sommer 1990 sollen bereits zwei Tafeln mit allen Namen in der Flamme deponiert worden sein. Das – im reformierten Zürich – von der katholischen Kirche verwaltete Forchdenkmal wurde seiner Lage wegen gerne von Ausflüglern aufgesucht, ohne dass sie diesen Besuch mit Gedanken auf den Denkmalinhalt verbanden. Für die Jugend war und ist es ein Ort, wo man in Ruhe rauchen und schmusen kann. Größere Beachtung fand das Denkmal nur vorübergehend in Verbindung mit der erwähnten Totalsanierung beim Ab- und Rücktransport durch einen Super-Puma, einen Transporthubschrauber.29 Ein Denkmal ist materialisierte Absicht, es ist aber auch besseres und schlechteres Gelingen im Umsetzen der Absicht. Gelingt sie, wird das Monument, das im Prinzip ein Unikat ist, zu einer multiplizierbaren Ikone. Zur Schöpfungsleistung gehört auch die Wahl des Standorts, der je nach Gelingen zu einem Ort der Attraktion wird. Dies hat nicht nur zur Folge, dass dort wie bei vielen Denkmälern offizielle Pflichtrituale wie Fahnenweihen und Brevetierungen (Offiziersbeförderungen) durchgeführt werden (Abb. 6), sondern auch, dass das Denkmal zu einem Ort für ein privates Rendez-vous oder ein persönliches Foto wird. Faszinierend ist diese mehr unfreiwillige als freiwillige Aufstellung im Jahr 1929 der Fliegerrekrutenschule. Sie bringt zum Ausdruck, welche Mentalität ein derartiges Denkmal bekräftigen und in Tat umsetzen kann: die Bereitschaft, sich einzuordnen und sich dabei teilweise aufzugeben und in ein größeres Ganzes aufzugehen. Ist das republikanisch? Es ist es auch und ist es auch nicht. Gemäß der republikanischen Tendenz, gegenläufig zum Vereinnahmungsversuch auf kritische Distanz zu gehen, erhielt die ehrwürdige Flamme im Volksmund den despektierlichen Namen ,,gefrorener Furz“.30 Die vergleichsweise häufig auftretenden negativen Bezeichnungen von Denkmälern zeugen, wie gesagt, vom Anspruch der Denkmäler, dem man sich mit einer distanzierenden

28 29

30

Neue Züricher Zeitung, 31.1.1991. Abb. ,,Das fliegende Denkmal. Abtransport der Wehrmänner-Flamme von der Forch“, Neue Züricher Zeitung, 19. 6.1990; Abb. ,,Die Rückkehr der ,Flamme‘. Forchdenkmal erneuert.“, Neue Züricher Zeitung, 12.11.1990. Vgl. etwa Tages-Anzeiger, 19.6.1990; oder Niklaus Flüeler / Marianne Flüeler-Grauwiler (Hg.), Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3, Zürich 1994, S. 246. In die gleiche Kategorie von republikanischem Abwehrreflex gehört der Vorschlag aus dem Jahr 1969 – ein Jahr nach 1968 –, das geplante Standbild für einen angesehenen Genfer Diplomaten (Pictet de Rochemont) auf eine Drehscheibe zu stellen, damit sich der bronzene Mann nach dem Wind richten könne – ,,placer la statue sur une plaque mobile, qui tournera au gré des vents“ (Tribune de Genève, 21.9.1969).

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Abbildung 6: Gruppenbild der Fliegerrekrutenschule, Soldatendenkmal auf der Forch bei Zürich (1922), 1929 (Dokumentation Georg Kreis/ Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft SIK-ISEA).

Qualifizierung gleichsam entziehen will. Darum der republikanische Abwehrreflex gegen die Ansprüche, die von Denkmälern ausgehen. Bei Denkmalansprüchen geht es um das Ideal der Kampf- und Opferbereitschaft an sich. Vorausgesetzt wird jedoch, dass dessen Zielrichtung der herrschenden Vorstellung der Obrigkeit und/oder der Mehrheit entspricht. Hinter dem Ideal der Kampf- und Opferbereitschaft stand und steht die wesentlichere Erwartung der Pflichterfüllung und des Gehorsams. Es handelt sich allerdings nur um Werte zweiter Ordnung, denn sie sagen nichts darüber aus, für welche Ziele Pflichterfüllung und Gehorsam erwartet werden. Der mit dem Totenkult gepflegte Wertekomplex hat seinen prägnanten Ausdruck in dem universalen, bereits für die Antike belegten Wort des unus pro multis gefunden, das in Georg Büchmanns Lexikon der ,,Geflügelten Worte“ in der erweiterten Fassung des ,,Einer für alle, alle für einen“ nicht von ungefähr als spezifisch schweizerisches Motto bezeichnet wird.31 Dieses Motto lebt in der Polemik gegen angeblich schmarotzende Sozialhilfeempfänger weiter, denen man 31

Es ist kein Zufall, dass nur zur ersten Hälfte des Mottos (die das Opfer des Einzelnen betrifft) ein fassbares Vorbild entwickelt wurde, während das Gegenstück (die damit verbundene Solidarität der Gesamtheit mit dem Einzelnen) weniger fassbar geblieben ist. Eine gewisse Veranschaulichung der zweiten Hälfte des Mottos vermitteln die verschiedenen Hilfswerke für Witwen und Waisen von gefallenen Wehrmännern, unter anderem die 1896 geschaffene und bezeichnenderweise mit dem Namen Winkelried versehene Stiftung.

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die Haltung unterstellt: ,,Alle für mich, ich für niemand“. Im schweizerischen Fall wird, da es sich doch um ein weitgehend kriegsverschontes Land handelt, die Erwartung besonders deutlich – deutlicher als in anderen Ländern, in denen diese Bedeutung trotzdem ebenfalls eine Rolle spielen dürfte –, dass sich die Forderung der Opferbereitschaft und Pflichterfüllung nicht auf kriegerische Zeiten und nicht auf militärische Belange beschränken dürfte. Man kann sogar die These wagen, dass die Propagierung des zivilen Gehorsams, verstanden als Befolgen der geschriebenen Gesetze und der ungeschriebenen normativen Vorgaben und moralischen Grundlagen, der eigentliche Zweck des militärischen Totenkultes sei. Ein 1953 in Erwartung des Dritten Weltkriegs veröffentlichter Bildband über die schweizerischen Soldatendenkmäler wollte, wie im Vorwort explizit gesagt, ,,vor allem in unserer Schweizer Jugend jene geistig-seelische Haltung festigen, deren Wesen opferfreudige Selbstlosigkeit und todesverachtende Gewissheit vaterländischer Kultursendung ist“.32 Die Beschwörung der Vergangenheit musste zwar konkret sein, sie musste aber nicht im Einzelnen verstanden werden. Darum findet sich in der französischen Ausgabe der doch erstaunliche Satz: ,,Die in Marmor eingehauenen Namen sind uns größtenteils unbekannt. Doch was soll’s! Sie wecken oder beleben in uns die Erinnerung.“33 Im italienischsprachigen Geleitwort ist der Zusammenhang zwischen militärischer und ziviler Welt am deutlichsten. Dort kann man lesen, das Vaterland verlange nicht von allen, ihr Leben zu geben; es verlange aber, dafür zu leben, in der bewussten Erfüllung jeder kleinen oder großen Pflicht. ,,Das ist das Heldentum, das wir alle dem Vaterland schulden: die Treue gegenüber der gewöhnlichen Alltagspflicht religiöser, familiärer und sozialer Art.“34 32

33 34

Geleitwort von PD Dr. med. R. Bucher, in: Ernst Leu (Hg.), Soldatendenkmäler 1914– 1918, 1939–1945, Belp 1953, S. 63 (Franz. Vorwort von Capitaine Vuilleumier, ital. Vorwort von Capitano Cortella). Im französischsprachigen Vorwort wird deutlich, wie wichtig der Rückgriff auf die Vergangenheit für die Propagierung der geschätzten Werte ist: Die Erneuerung unserer Kraft, unseres Freiheitswillens und unserer Treue schöpfen wir aus der Erinnerung an die Vergangenheit. Ein Volk, das sich erinnert, das auf der Erfahrung der Vergangenheit aufbaut, dass diejenigen ehrt, die sich geopfert haben, und das deren Tradition der Frömmigkeit, der Treue, der Freiheit und der Dienstbereitschaft pflegt, ist ein Volk, das nie untergehen wird. ,,C’est dans ce souvenir du passé que nous renouvellerons nos forces, notre volonté de rester libres et notre esprit de fidélité. Un peuple qui se souvient, qui construit sur l’expérience du passé, qui honore ceux qui se sont sacrifiés pour lui et cultive leurs traditions de piété, de fidélité, de liberté et de service, est un peuple qui ne saurait disparaître.“. ,,Les noms gravés sur le marbre nous sont inconnus pour la plupart. Qu’importe! Ils éveillent ou ravivent en nous le souvenir“; ebd.. Ital. Vorwort von Capitano Cortella, in: ebd. Der schweizerische Verteidigungsminister (Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements) verkündete 1989 an der 603. Gedenkfeier der Schlacht bei Sempach, man müsse bereit sein, für den Staat und die Gemeinschaft Opfer zu bringen.Das Mitglied der Landesregierung präsentierte die Vorfahren von 1386

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Die Soldaten der Wehrmännerdenkmäler waren, wie man so sagt, Bürger in Uniform. Nachdem die Zivilisten ideologisch militarisiert worden waren, wurden sie als Soldaten gelegentlich wieder ins Zivile zurückgeführt. Ein wichtiger Bildbeleg für diesen Vorgang ist das Bild von 1860, das zeigt, wie Winkelried vor seinem Gang in den Heldentod von seiner Familie Abschied nimmt – ein Geschenk von Ehrendamen für ein Eidgenössisches Schützenfest.35

Interdependenz zwischen militärischer und ziviler Welt Vom Zivilen übers Militärische wieder zurück ins Zivile: Wie die Ziviltoten der Kriegszeiten werden auch die bloß im Polizeidienst oder beim Grenzschutz umgekommenen Menschen nicht zum Kreis der pro patria Gestorbenen gezählt. Für die Grenzbeamten gab es bis vor kurzen im schweizerischen Zollmuseum bei Lugano (Gandria Cantine) an der italienischen Grenze einen kleinen Andachtsraum mit Porträts aller im Dienst umgekommener Grenzer, etwa ein Dutzend. Sofern man sie überhaupt wahrnimmt, ist man überrascht, weil für sie eigentlich kein national-republikanischer Kult zur Verfügung steht. Auf einer dem Autor vorliegenden Gefallenenchronik ist mit Bleistift ein Helikopterabsturz vom 25. Mai 2001 nachgeführt. Damals kamen ein Militärpilot und drei Grenzwächter um. Nach dem traditionellen Verständnis ist aber nur der Erstere fürs Vaterland gefallen, nicht aber sind es die drei Letzteren. Abschließend muss noch etwas zur Standortproblematik gesagt werden. Im Falle Winkelrieds hat der Aufbewahrungsort der Gebeine schon deshalb keine Rolle gespielt, weil es für den erst 150 Jahre nach der Schlacht erfundenen Helden keine Gebeine und kein Grab, jedoch angeblich ein Wohnhaus gab. Auffallend ist aber die doppelte Instrumentalisierung Winkelrieds am Ort der Schlacht wie am Ort der angeblichen Geburt. Das erste große Winkelried-Jubiläum von 1786 im Hauptort von Nidwalden (Stans) wurde damit erklärt, dass auch schon Pausanias im antiken Griechenland Leonidas’ Gebeine von den Thermopylen nach Sparta habe transportieren lassen, damit sein Grab als ewige Lektion mit-

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als Vorbilder, weil sie ausnahmslos – es ist von ,,jedem Eidgenossen“ die Rede – das Gefühl gehabt hätten, ,,selber ein Teil des Ganzen zu sein“. Worin die erwarteten Opfer konkret bestehen sollen, führte der Redner bezeichnenderweise nicht aus. Gerade in ihrer Allgemeinheit vermittelt die Opferforderung den Eindruck, dass sie an breitester Front allgemeine Unterordnung erwartete. (Bundesrat Kaspar Villiger, Manuskript der Festansprache vom 24. Juni 1989; siehe auch die in der Regel illustrierte Presseberichterstattung vom 26. Juni 1989.) Pietro Scandola, Winkelrieds Abschied. Gebrauchsgeschichte als Exerzierplatz patriotischer Normen im Schulunterricht, in: Benedikt Bietenhard u. a. (Hg.), Ansichten von der rechten Ordnung. Bilder über Normen und Normenverletzung in der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Beatrix Mesmer, Bern 1991. S. 291–307.

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ten unter den Mitbürgern sei.36 In Stans gibt es aber keine Gebeine von oder für Winkelried. Wenn es in erster Linie um Fürbitten für Verstorbene geht, kann das überall geschehen, auch an einem vom Todesort weit entfernten Wallfahrtsort, zum Beispiel Maria Loreto in Eisenstadt für Gefallene des Zweiten Weltkriegs. Geht es aber um das Erinnern eines Kollektivereignisses und insbesondere um die physische Nähe der Gefallenen, sollte das Gedenken wenn möglich am Ort des Geschehens sein. Man sollte zu den Toten gehen. Wenn man aber aus welchen Interessen auch immer sicher sein will, dass diese nicht vergessen werden, sorgt man dafür, dass diese als Denkmäler an geeigneter Stelle den Lebenden in Erinnerung gerufen werden. Der Bezug zum Jenseits ist – im Diesseits – weitgehend ortsungebunden, während der Bezug zum politischen Gemeinwesen eine Bindung bzw. einen Bezug an einen konkreten historischen Ort zur Voraussetzung hat. Das kann der Ort einer Schlacht sein, kann – sofern nicht identisch – auch die Stätte sein, an welcher die Gefallenen begraben sind. Das neuzeitliche Denkmal schafft diese Nähe zu den Toten, und es repräsentiert sie, bis hin zur nicht nur symbolischen Präsenz des Toten etwa in den Denkmälern des unbekannten Soldaten, welche immer auch die Überreste eines oder mehrerer realer Körper bewahren. Republikanische und nichtrepublikanische Denkmäler? Wir haben gesehen, dass diese Unterscheidung wenig aufschlussreich ist. Dies ist allerdings doch wiederum bedeutsam. Denkmäler im Allgemeinen und insbesondere auch diejenigen, welche sich auf den Opfertod beziehen, tragen einen autoritären Anspruch in sich. Das kollektive Totengedenken wird, unabhängig von Regierungsformen, vor allem genutzt, um bei den Lebenden eine zivile Hingabe- oder Hinnahmebereitschaft einzufordern.

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Philippe Cyriaque Bridel / Jean Louis Bridel, Mélanges Helvétiques, Basel 1792. S. 120– 131. P.B. Bericht über die Jubiläumsfeier vom 9. Juli 1786. Der Text spricht vom ,,quatrième jubilée“ und meint die 400-Jahrfeier, die wahrscheinlich erstmals als solche gefeiert wurde, weil Dezennien vorher kaum gefeiert wurden. Dem Berichterstatter entgeht die Akkulturationsfunktion dieser Feierlichkeiten nicht: ,,Chaque citoyen prit plaisir à en apprendre l’occasion à ses fils, pour jetter dans leurs jeunes ames ces précieuses semences d’amour de la Patrie qu’on ne peut trop tôt faire éclore.“ (S. 130).

Sowjetunion/Russland Guido Hausmann

Die unfriedliche Zeit Politischer Totenkult im 20. Jahrhundert1 Als der sowjetische Kernphysiker, Dissident und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1975 Andrej D. Sacharov (1921–1989) Ende der 1970er und in den 1980er Jahren an seinen Erinnerungen schrieb, erinnerte er sich auch daran, dass und wie in den 1920er und 1930er Jahren in der Familie über den russisch-japanischen Krieg (1904–1905) sowie mehr noch über den Ersten Weltkrieg (1914– 1918) gesprochen wurde: ,,Nicht zufällig benutzte Großmutter oftmals, so wie auch andere Menschen ihrer Generation, den Ausdruck ,zu Friedenszeiten‘, das hieß: vor 1914; alles danach war unfriedlich.“2 Der russisch-japanische Krieg, der sich anderthalb Jahre hingezogen, zu einer militärischen Niederlage des zarischen Russlands und zu einer Revolution geführt hatte, war in der Erinnerung Teil einer langen Friedenszeit geblieben. Dagegen war der Erste Weltkrieg Ursprung einer anhaltenden Veränderung, die ein bis dahin ziviles Leben beendet hatte. Eine unfriedliche Zeit begann, die durch den Ersten Weltkrieg, revolutionäre Umstürze, einen anschließenden Bürgerkrieg und die Militarisierung des Lebens in den 1920er und vor allem in den 1930er Jahren geprägt war. Sacharov stammte nicht aus einer Bauern- oder Arbeiterfamilie, sondern war als Sohn eines Physiklehrers in Moskau in der frühen Sowjetunion aufgewachsen. Seine Erziehung war durch den Staatsdienst und die russische Kultur geprägt. Sein Großvater mütterlicherseits, ein Berufssoldat, hatte sich im russisch-türkischen Krieg (1877–1878) den Offiziersrang erdient und sein Vater ,,sprach manchmal, wenn es um den Ersten Weltkrieg und um die noch weiter zurückliegende Vergangenheit ging, mit Begeisterung von den russischen Soldaten und Offizieren“.3 Das geschah jedoch nicht häufig. Der Vater hatte sich 1914 nach Kriegsausbruch, als die Familie überstürzt von einem Frankreichurlaub nach Moskau zurückgekehrt war, als Kriegsfreiwilliger gemeldet und war als Sanitäter zur kämpfenden Truppe abkommandiert worden: ,,Er erzählte sehr zurückhaltend und offensichtlich nur ungern von den bedrückenden Erlebnissen 1 2 3

Für Anregungen und Kritik bedanke ich mich bei Sergej Lavrov (Paris) und Reinhart Nachtigal (Freiburg). Andrej Sacharov, Mein Leben. München 1991, S. 47. Ebd.

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Guido Hausmann

bei seinem kurzen, etwa ein halbes Jahr dauernden Einsatz an der Front. Ich weiß, dass er in Galizien und im Gebiet der Masurischen Seen war“.4

Öffentliches Schweigen statt Gedenken: Die Toten des Ersten Weltkriegs Im Unterschied zu den meisten anderen Ländern, deren Gesellschaften am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, wissen wir bis heute wenig darüber, welche Erinnerungsspuren die Kriegsereignisse in der Bevölkerung Russlands, der Ukraine, der Belarus und anderer Länder hinterlassen haben. Eine größere materielle Memorialkultur gibt es nicht. Russland hatte den Tod von bis zu zwei Millionen Soldaten und eine hohe Zahl von Toten unter der Zivilbevölkerung zu beklagen. Doch im öffentlichen Raum wurde die Kriegserinnerung in den folgenden Jahrzehnten durch die Oktoberrevolution und den Sieg der Roten Armee im folgenden Bürgerkrieg (1918–1920) überlagert bzw. verdrängt.5 Das war eine politische Entscheidung der Sowjetführung gewesen, die den politischen Sieg im Bürgerkrieg statt die militärische Niederlage im Weltkrieg, die im Friedensvertrag von Brest-Litowsk im März 1918 besiegelt worden war, ins Zentrum rückte. Der Erste Weltkrieg konnte insofern auch kein großes Thema der sowjetischen Geschichtswissenschaften werden.6 4

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Ebd. S. 27. Der patriotische Überschwang war in Russland weniger ausgeprägt als in den westeuropäischen Gesellschaften. Dazu Hubertus F. Jahn, Patriotic Culture in Russia during World War I. Ithaca 1995. Siehe Dittmar Dahlmann, Russland, in: Gerhard Hirschfeld (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2004, S. 95; zur Zivilbevölkerung siehe demnächst Alfred Eisfeld, Dietmar Neutatz u. a. (Hg.), Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die Zivilbevölkerung im östlichen Europa (erscheint 2012). Etwas niedrigere Zahlen der gefallenen Soldaten bei Steven G. Wheatcraft, Robert W. Davies, Population, in: Robert W. Davies u. a. (Hg.), The Economic Transformation of the Soviet Union, 1913–1945, Cambridge/Mass. 1994, S. 57–80, hier S. 62 sowie bei Christoph Mick, Der vergessene Krieg. Die schwierige Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Osteuropa, in: Rainer Rother, Der Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Erinnerung, hg. im Auftrag des Deutschen Historischen Museums, Berlin 2004, S. 78. Dazu besonders Nikolaus Katzer, Russlands Erster Weltkrieg. Erfahrungen, Erinnerungen, Deutungen, in: Nordostarchiv 17 (2008) (Über den Weltkrieg hinaus. Kriegserfahrungen in Ostmitteleuropa 1914–1921), S. 267–292; siehe auch Peter Gatrell, Russia’s First World War. Remembering, Forgetting, Remembering, in: Marsha Siefert (Hg.), Extending the Borders of Russian History. Essays in Honor of Alfred Rieber, Budapest 2003, S. 285–297; wichtigste postsowjetische russischsprachige Publikationen sind Nikolaj N. Smirnov u. a. (Hg.), Rossija i pervaja mirovaja vojna. Materialy meždunarodnogo naučnogo kollokviuma, St. Petersburg 1999; sowie einige innovative Aufsätze von Igor’ V. Narskij, etwa ders., Kriegswirklichkeit und Kriegserfahrung russischer Soldaten an der russischen Westfront

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Doch zugleich konnte der Erste Weltkrieg im familiären Gedächtnis durchaus seinen Platz finden, das zeigen die Erinnerungen von Andrej Sacharov ebenfalls. Was öffentlich nicht erinnert werden konnte, bewahrte die Bevölkerung der Sowjetunion häufig privat auf, um wichtige Ereignisse nicht dem Vergessen zu überlassen. Seit wann sich diese Trennung zwischen einer vom Staat monopolisierten öffentlichen und einer privaten Sphäre durchsetzte, lässt sich schwierig präzise bestimmen. Literarische Zeugnisse über den Ersten Weltkrieg aus den 1960er Jahren deuten darauf hin, dass in diesem Jahrzehnt, in dem es auch zu einem wichtigen Wandel in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg kam, eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber dem Ersten Weltkrieg entstand, zumal Veteranen des Ersten Weltkrieges jetzt ein hohes Alter erreicht hatten.7 Sacharovs Erinnerungen zeigen, dass der Erste Weltkrieg bis zum Ende der Sowjetunion im Privaten durchaus erinnert wurde und dass der Begriff der ,,verdrängten Erinnerung“ eher die öffentliche Gedenkkultur kennzeichnet.8 Ein wichtiger Grund für die fehlende öffentliche Präsenz der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Sowjetunion war, dass er militärisch vor allem jenseits der Grenzen Russlands (Ostgalizien, Ostpreußen) oder an der Peripherie des Zarenstaates (etwa in den zu Russland gehörenden polnischen Gebieten) ausgetragen wurde. Er wirkte zwar in vielerlei Hinsicht – nicht zuletzt in ökonomischer – auch auf die russischen Kerngebiete zurück, aber es kam hier zu keinem Stellungskrieg und keiner Entscheidungsschlacht, die kollektiv erinnert und erinnerungspolitisch in einem politischen Totenkult für die gefallenen Soldaten instrumentalisiert werden konnte.9 Das bedeutet auch, 1914/15, in: Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front. Der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn 2006, S. 249–261 und ders., Der Russische Bürgerkrieg im Ural. Konstruierter Gründungsmythos und Besonderheiten kollektiven Vergessens (1917– 1922), in: Heiko Haumann u. a. (Hg.), Das Jahrhundert des Gedächtnisses. Erinnern und Vergessen in der russischen und sowjetischen Geschichte im 20. Jahrhundert, St. Petersburg 2010, S. 113–135; außerdem Ol’ga Ju. Nikonova, Russlands militärische Vergangenheit und der sowjetische Patriotismus. Versuch einer Problemstellung, in: Ebd., S. 226–243; sowie die Monographien von Anatolij I. Utkin, Zabytaja tragedija. Rossija v pervoj mirovoj vojne, Smolensk 2000; und über russische Kriegsgefangene in Deutschland von Oksana Nagornaja, Drugoj voennyj opyt. Rossijskie voennoplennye Pervoj mirovooj vojny v Germanii (1914– 1922), Moskau 2010. 7 Über die 1967/69 in einer Zeitschrift in der kasachischen Sowjetrepublik erschienenen Erinnerungen des zarischen Offiziers, Erste Weltkriegteilnehmers und um 1963 aus der argentinischen Emigration ,,zurückgekehrten“ Georgij Benua siehe Alexander Otto, ,, … wie ich mit der Vergangenheit brach“. Kriegserfahrungen und Erinnerungswege des russischen Offiziers Georgij Benua (1914–1920/1966), in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 67 (2008), S. 409–449. 8 Siehe Kristiane Janeke, Die verdrängte Erinnerung. Zur Geschichte des Moskauer Brüderfriedhofs, in: Groß, Die vergessene Front, S. 335–352. 9 Dazu allgemein Gerd Krumreich/Susanne Brandt (Hg.), Schlachtenmythen. Ereignis –

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dass für Russlands Peripherie und das Zentrum unterschiedliche regionale und nationale Erinnerungskulturen und Formen des Totengedenkens vermutet werden können, über die wir leider bisher wenig wissen. Aber es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die sowjetischen und postsowjetischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, die in der historischen Forschung zum 20. Jahrhundert aus guten Gründen im Mittelpunkt stehen, nicht aus dem Nichts entstanden, sondern vor dem Hintergrund verdrängter oder existierender und im dauernden Wandel befindlicher öffentlicher und privater Erinnerung Gestalt gewannen. Im frühen 20. Jahrhundert gehörten dazu der 200. Jahrestag der Schlacht von Poltawa von 1709 im Jahr 190910 sowie der 100. Jahrestag der Schlacht von Borodino von 1812 im Jahr 1912.11 Die Feiern gedachten wichtiger Entscheidungsschlachten: einmal dem Sieg Russlands über Schweden im Großen Nordischen Krieg unter Zar Peter I. und zum andern dem Sieg Russlands unter Zar Alexander I. über das napoleonische Frankreich in einem Krieg, der schon 1812 ,,Vaterländischer Krieg“ genannt wurde. Zar Nikolaus II. und seine Entourage hatten die Feiern geschickt genutzt, um nach der Revolution von 1905 die Stabilität der politischen Ordnung der Zarenherrschaft zu demonstrieren. Nikolaus II. (1894– 1917), der im August 1915 den Oberbefehl über die zarischen Streitkräfte übernommen hatte, erhielt zwar im postsowjetischen Russland eine neue Verehrung und wurde von der Orthodoxen Kirche kanonisiert, doch sind Verehrung und Kanonisierung nicht mit seinem Handeln während des Ersten Weltkrieges verbunden.12 Während des Ersten Weltkrieges (1915 und 1916) sind zwar in manchen Städten erste Denkmäler (Obelisken) und in vielen größeren russischen Städten auch neue Soldatenfriedhöfe entstanden, wenn man nicht auf existierenden Friedhöfen neue separate Areale für Soldatengräber schuf. Der neu eingerichtete Moskauer Brüderfriedhof sollte zu einem Kriegsdenkmal von gesamtrussischer Bedeutung ausgebaut werden und neben der neuen orthodoxen Kirche sollten

10

11 12

Erzählung – Erinnerung, Köln 2003 (vor allem die Einleitung von Krumreich); Melissa K. Stockdale, United in Gratitude. Honoring Soldiers and defining the Nation in Russia’s Great War, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 7 (2006), H. 3, S. 459–485. Dazu einiges in Romea Kliewer/Guido Hausmann (Hg.), ,,Wie ein Schwede bei Poltawa…“. Die Erinnerung an die Schlacht von Poltawa 1709 und ihre Bedeutung für die Identitätssuche der Ukraine in Europa, Felsberg 2010. Siehe etwa Kurt Schneider, 100 Jahre Napoleon. Russlands gefeierte Kriegserfahrung, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49 (2001), S. 45–66. Siehe zum Beispiel Wendy Slater, Relics, Remains, and Revisionism. Narratives of Nicholas II in Contemporary Russia, in: Rethinking History 9 (2005), H. 1, S. 53–70; zur zarischen Armee, Wehrpflicht (ab 1874), Einberufungspraxis und nationaler Frage siehe Werner Benecke, Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874–1914, Paderborn-München 2006; den Wandel hin zur neuen Roten Armee bis zum neuen Wehrpflichtgesetz von 1925 bei Joshua A. Sanborn, Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War, and Mass Politics, 1905–1925, DeKalb/Ill. 2003.

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ein angeschlossenes Kriegsmuseum, ein Ort für Veteranen des russisch-japanischen Krieges, eine Schule für Soldatenkinder sowie eine militärische Ausbildungsstätte entstehen.13 Während des Krieges beerdigte man hier Soldaten der zarischen Armee aus unterschiedlichen Konfessionen und nationalen Zugehörigkeiten. Doch nach 1918 verfiel der Ort, seit den 1920er Jahren wurde er allmählich in eine Art Parkanlage verwandelt und nach 1945 entstanden hier Wohnhäuser, später kam ein Kino hinzu. Erst seit den 1990er Jahren bemüht man sich, hier wieder einen Ort des Gedenkens an die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges zu schaffen.14 Die anonyme Bestattung von Soldaten in Massengräbern und nicht die individuelle namentliche Beisetzung war in Russland während des Ersten Weltkrieges weiterhin die Regel. Eine Vereinigung (etwa ein Veteranenverband), die sich um die Identifizierung gefallener Soldaten oder um die Pflege von Grabstätten aus dem Ersten Weltkrieg kümmerte, gab es in der Sowjetunion genauso wenig wie ein zentrales Denkmal für die gefallenen Soldaten des Krieges. Allerdings hatte es am Ende des Krieges durchaus einzelne Stimmen wie die des Leiters einer militärhistorischen Kommission und ExGenerals der zarischen Armee Aleksandr A. Svečin gegeben, die sich für ein solches Denkmal ausgesprochen hatten.15 Zum Erbe der Sowjetunion gehörte also ein politischer Totenkult, der den Ersten Weltkrieg weitgehend aussparte und in dessen Zentrum militärische Siege standen. Die Frage nach den Kosten der Siege und den Opfern der Kriege des Zarenstaates hatte vor 1917 nur die radikale Intelligenz gestellt. Auch wenn sich die frühe Sowjetunion gegen die imperiale Tradition des zarischen Russlands stellte, so zeigt die Memoirenliteratur doch, dass sich in den 1920er und 1930er Jahren viele Jugendliche weiter für die Kriegshelden Russlands aus dem 18. und 19. Jahrhundert begeisterten. Sacharov übernahm von seinem Vater eine Zeitlang eine Verehrung für Fürst Michail I. Kutuzov (1745–1813), den Oberbefehlshaber der zarischen Truppen im Vaterländischen Krieg von 1812, der junge Lew Kopelew (1912–1997), zunächst ein glühender Kommunist und in der Brežnev-Zeit ein Dissident, schrieb in seiner Autobiographie über seine anfängliche Begeisterung für Napoleon, die dann aber zu einem abrupten Ende kam: ,,Nach der Lektüre von Lev Tolstojs ,Krieg und Frieden‘ meinte ich, es sei ungerecht, Volkskommissar Trotzkij mit Napoleon gleichzusetzen.“16 Kutuzov 13 14 15

16

Dazu ausführlich Janeke, Die verdrängte Erinnerung, S. 336–339. Ebd., S. 339 sowie S. 348–351. Svečin schrieb 1919: ,,Ein Denkmal aufzurichten als Teil der offiziellen Anerkennung des Kriegs ist für jede Regierung unvermeidlich, die weiterhin auf bewaffnete Streitkräfte setzt und das Volk zu Opfern aufruft. Militärischer Heldenmut bedarf des Kults und der Kult des Heldenmuts ist für den Sieg notwendig.“ Zitiert nach Nikonova, Russlands militärische Vergangenheit und der sowjetische Patriotismus, S. 235. Lew Kopelew, Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten, Göttingen 1996, S. 87.

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und der Gründer der Roten Armee Lev Trockij (1879–1940) konnten heldisch verehrt werden, einen entsprechenden General aus dem Ersten Weltkrieg gab es nicht (am ehesten wäre wahrscheinlich General Aleksej A. Brusilov in Frage gekommen).17 Zar Nikolaus II. und die Zarenfamilie waren im Juni 1918 ermordet und an unbekannter Stelle verscharrt worden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Denkmal für die gefallenen Soldaten, das bei Reinhart Koselleck im Zentrum des Interesses am politischen Totenkult stand, in Russland für den Ersten Weltkrieg fehlt. Mit dem Abtragen oder Zerstören von Denkmälern einzelner Zaren nach 1917 sowie vor allem mit der beisetzungslosen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit an einem unbekannten Ort durchgeführten Ermordung des letzten Zaren und weiterer Mitglieder der Zarenfamilie sollte auch das Weiterleben eines dynastischen Totenkultes verhindert werden. Er hätte die Legitimität der neuen politischen Ordnung untergraben und sogar zu einem Gegendenkmal und -kult werden können.18

Die Heroisierung der Revolutions- und Bürgerkriegstoten Nach 1920 rückten die neuen politischen Führer mit dem Parteigründer, Revolutions- und Staatsführer Vladimir Il’ič Lenin an der Spitze die Geschichte der Kommunistischen Partei und der Roten Armee ins Zentrum der Geschichtsschreibung. Das bedeutete gleichzeitig, dass militärhistorische Kommissionen und ähnliche Einrichtungen, die seit 1918 eine offizielle Geschichte des Ersten Weltkrieges vorbereiteten, nun andere Themen als den Ersten Weltkrieg in den Mittelpunkt stellten.19 In der Zwischenkriegszeit wurde der Erste Weltkrieg lediglich als ,,imperialistischer Krieg“ thematisiert, der den Hintergrund für den Sieg der Bol’ševiki in der Oktoberevolution und die aktuelle Außenpolitik der Sowjetunion bildete.20 In der Emigration entwickelte sich dagegen gleichzeitig 17 18 19

20

Siehe William C. Fuller Jr., Die Ostfront, in: Jay Winter u. a. (Hg.), Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 56. Siehe Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Ders./Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 9–20. Katzer, Russlands Erster Weltkrieg, S. 269–271; Frederick C. Corney, Telling October. Memory and the Making of the Bolshevik Revolution, Ithaca 2004; Dietrich Beyrau, Der Erste Weltkrieg als Bewährungsprobe. Bolschewistische Lernprozesse aus dem ,,imperialistischen“ Krieg, in: Journal for Modern European History (2003), H. 1, S. 96– 123. Olga Ju. Nikonova, ,, … Der Kult des Heldenmutes ist für den Sieg notwendig … “ Sowjetisches Militär und Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, in: Horst Carl u. a. (Hg.), Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Gießen 2004, S. 185–200.

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ein breites Netzwerk an Verbänden (auch Veteranenverbänden) und ein umfangreicheres Schrifttum über den Ersten Weltkrieg, der als (mit-)ursächlich für die revolutionären Umwälzungen des Jahres 1917 und das Entstehen der Sowjetunion angesehen wurde.21 Die neuen Machthaber begründeten mit dem Bezug auf die Oktoberrevolution und den Bürgerkrieg von 1918–1920 neue Formen der Heroisierung und des politischen Totenkults, die der Legitimierung der neuen politischen Ordnung dienten. Das war indes nicht nur eine Inszenierung von oben. Der Bürgerkrieg hatte weite Teile Russlands erfasst, nicht nur seine Peripherien, und damit in der Gesellschaft auch andere Spuren als der Erste Weltkrieg hinterlassen. Das Zusammentreffen von äußeren (Ententemächte) und inneren (die Weißen und andere Bevölkerungsgruppen) Feinden ließ sich in der Folge von den siegreichen Bol’ševiki hervorragend instrumentalisieren und mythisieren. Schließlich ließ sich im Gedenken an den militärischen Sieg und die Selbstbehauptung des neuen Staates im Bürgerkrieg wohl auch an kulturelle Muster anknüpfen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildet hatten. Eigene Museen über die Rote Armee und den Bürgerkrieg waren gegründet worden, wie etwa 1920 in Petrograd (vormalig St. Petersburg, nachmalig Leningrad), die Mitte der 1920er Jahre Teil eines umfassenderen Leningrader Kriegsmuseums werden sollten, frühsowjetische Feste stellten in der Erinnerung an die Kriegsjahre 1914– 1921 eher den ,,Kämpfer für die Freiheit“ als den ,,nationalen Helden“ ins Zentrum.22 Im Bürgerkrieg starben auf russisch-sowjetischer Seite weit mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg, verlässliche und differenzierte Zahlenangaben liegen aber nicht vor. Schätzungen gehen von einer Gesamtzahl von neun bis zehn Millionen Toten während der Revolutions- und Bürgerkriegszeit aus. Der sowjetische Demograph Urlanis errechnete die Zahl von 425.000 gefallenen Rotarmisten, davon fielen 125.000 im Kampf, 300.000 durch Krankheiten (vor allem Typhus). Da diese Zahlen auf offiziellen sowjetischen Statistiken basieren, können sie als zu niedrig gelten bzw. markieren eine untere Grenze.23 Ein größerer politischer Totenkult, in dessen Zentrum der gefallene einfache Rotarmist gestanden hätte, entwickelte sich in der Folge nicht. Massenhafte Gewalt wurde 21

22

23

Katzer, Russlands Erster Weltkrieg, S. 273–275; Aaron J. Cohen, Oh, That! Myth, Memory, and the First World War in the Russian Emigration and the Soviet Union, in: Slavic Review 62 (2003), S. 69–86. Georgij S. Gabaev, Leningradskie voennye muzei i principy voenno-muzejnogo stroitel’stva, in: Muzej. T. II., Leningrad 1924, S. 18–27, besonders S. 23; allgemeiner Svetlana Ju. Malyševa, Obraz vojny v istoričeskoj mifologii rannesovetskogo prazdnika, in: Igor’ V. Narskij u. a. (Hg.), Opyt mirovoj vojn v istorii Rossii: Sbornik statej, Čeljabinsk 2007, S. 166–180, besonders S. 176. Siehe Evan Mawdsley, The Russian Civil War, Boston 1987, S. 285–287. Auch 1921 kam es noch zum gewaltsamen Tod zehntausender Rotarmisten.

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von allen Seiten (Rote, insbesondere der im Dezember 1917 neu eingerichteten Tscheka, Weiße, Grüne, Monarchisten, Nationalisten, Anarchisten etc.) und sowohl gegenüber bewaffneten Einheiten als auch gegenüber der Zivilbevölkerung ausgeübt. Exzessive Gewalt gab es auch innerhalb militärischer Verbände, etwa aus Disziplinierungsgründen. Die Grenzen zwischen Rotarmisten, Sympathisanten, Gegnern etc. blieben dabei häufig unklar, die Toten wurden in der Regel nicht beigesetzt, schon gar nicht namentlich, sondern verscharrt.24 Wechselte die Front, kam es zur Schändung von Gräbern. Wahrscheinlich sind Denkmäler zu Ehren der Gefallenen des Bürgerkrieges in größerer Zahl erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges errichtet worden.25 Spezialforschungen zu dem Thema liegen aber nicht vor, und insgesamt ist der Bürgerkrieg im Vergleich etwa zu den 1930er Jahren nur wenig erforscht, obwohl, wie einzelne neuere Arbeiten zeigen, der Bürgerkrieg in vielen Regionen wie etwa im Uralgebiet eine große Blutspur hinterlassen hat und zu den Gründungsmythen der Sowjetunion zu zählen ist.26 Die Rote Armee (bzw. Rote Arbeiter- und Bauernarmee), im Jahr 1918 aus Garden- und Milizeinheiten des Revolutionsjahres 1917 geformt, wuchs während der Bürgerkriegsjahre schnell von 100.000 Mann im April 1918 auf 1,5 Millionen im Mai 1919 und fünf Millionen im Herbst 1920 an. Unter Trockij wurden die Wehrpflicht wieder eingeführt, die Wahl der Offiziere abgeschafft, ehemalige zarische Offiziere in die neue Armee aufgenommen, strikte Disziplin durchgesetzt (unter anderem mit Hilfe von Feldgerichten) sowie ein steigender Wert auf die politische Indoktrination gelegt.27 Die Rote Armee verstärkte die Parteiarbeit, da es Misstrauen gegenüber ehemaligen Offizieren der zarischen Armee und Partisanen gab und es zu massenhaften Desertionen gekommen war.28 Der militärische Sieg wurde so auch als politischer Sieg gedeutet. Trotzdem war es den Veteranen des Bürgerkrieges bzw. der Roten Armee nach der Rückkehr ins zivile Leben in den 1920er Jahren nicht erlaubt, eigene Ve24 25

26

27

28

Zu einem Beispiel aus Moskau siehe Catherine Merridale, Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland, München 2001, S. 152. Zu einem Beispiel für Stalingrad/Wolgograd siehe Sabine R. Arnold, Die Dankbarkeit der Heldenmasse. Jubiläumsfeiern in Volgograd, in: Dies., u. a. (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 96. Siehe etwa Igor’ Narskij, Der Ural im russischen Bürgerkrieg. Gewaltformen und Überlebensstrategien, in: Jörg Baberowski (Hg.), Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 94–110; oder ders. (Hg.), Opyt mirovych vojn v istorii Rossii. Sbornik statej, Čeljabinsk 2005; nur peripher auch bei Merridale, Steinerne Nächte. Siehe dazu Mark von Hagen, Soldiers in the Proletarian Dictatorship. The Red Army and the Soviet Socialist State, 1917–1930, Ithaca 1990, besonders S. 46f., 52–54, 67–80, 85– 89; Eduard M. Dune, Notes of a Red Guard, übersetzt und herausgegeben von Diane P. Koenker und S. A. Smith, Urbana 1993. Von Hagen, Soldiers in the Proletarian Dictatorship, S. 23.

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teranenverbände zu gründen und sie trafen sich deshalb nur informell und im Privaten.29 Als zentrale Kultstätte des neuen Regimes entstand bekanntermaßen 1924 das Mausoleum für Lenin auf dem Roten Platz, direkt an der Kremlmauer. Der Totenkult um Lenin hat intensiveres Interesse in der neueren Historiographie gefunden. Dabei hat sich Benno Ennker in einer detaillierten Studie gegen die Auffassung der amerikanischen Historikerin Nina Tumarkin gewandt, die in dem Totenkult um Lenin eine intendierte Anknüpfung an religiöse Motive aus der russisch orthodoxen Volkstradition sah und somit eine Kontinuität über das Jahr 1917 hinweg postulierte.30 Demgegenüber betonte Ennker die utilitaristischen Zwecke der Mumifizierung und öffentlichen Ausstellung Lenins auf Seiten der bolschewistischen Führer, die ,,im Bann des Totenkults politische Loyalität und soziale Mobilisierung in der Bevölkerung“ herstellen wollten. Adressat des Leninkultes sei ,,das Volk“ gewesen, und der Kult ,,hatte dem bolschewistischen Regime in ständiger Wiederholung die Insignien der revolutionären Kontinuität, Prinzipienfestigkeit und Legitimität zu vermitteln.“31 Ob man kulturelle Spuren aus der Zeit vor 1917 ganz außer Acht lassen kann, bleibt etwas fraglich und die Rezeption des Leninkultes ist noch nicht detaillierter erforscht worden. Die englische Historikerin Catherine Merridale spricht in ihrem Buch über ,,Leiden und Sterben in Russland“ von einer eigenen russischen Kultur des Todes, die sie zunächst für das späte 19. Jahrhundert näher kennzeichnet und dann durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch verfolgt, um Aussagen über kulturelle Kontinuität und kulturellen Wandel treffen zu können. Zur Kultur des Todes gehörten in Russland, entgegen häufiger Ansichten, ganz wesentlich die ,,Gefühle des Leids und der Trauer“.32 Von daher war der öffentliche Umgang mit dem Thema immer ein Versuch, eine politische Antwort auf individuelles und kollektives Schweigen, auf Abwesenheit und Verlust zu geben.33 Die Säkularisierung und Neuschaffung von Riten war eine wichtige Aufgabe, die sich die neuen Herrschenden stellten. Lenin war weder als Soldat gefallen noch in oder während der Revolution gestorben. Aber der Zweck des neuen Mausoleums war, ,,das Volk“ durch die öffentliche Ausstellung des einbalsamierten Leichnams auf Lenin zu verpflichten, oder, wie Koselleck sagt, ,,die 29 30 31 32

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Ebd., S. 301. Benno Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln 1997; Nina Tumarkin, Lenin Lives! The Lenin Cult in Soviet Russia, Cambridge/Mass. 1983. Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, S. 319–321, 333, 338 (Zitat), 342 (Zitat). Merridale, Steinerne Nächte, S. 21. Sie nennt außerdem ,,die Musik bei einem Begräbnis, die Erde, in der der Leichnam beigesetzt wird, Gedächtnis, Gedenktage und Trauer.“ (Ebd., S. 20). In Weiterführung von Merridale, Steinerne Nächte, S. 33.

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Jenseitshoffnung wird in die irdische Zukunftshoffnung der politischen Handlungsgemeinschaft transponiert, das Ewigkeitsversprechen verzeitlicht“.34 Ein Ritual der roten Begräbnisse reichte bis in das ausgehende Zarenreich zurück, vermutlich sogar bis in die 1870er Jahre. Herausragend war hier die Beisetzung des bei einem Aufstand in Moskau Ende 1905 getöteten Revolutionärs Nikolaj E. Bauman, bei der die Teilnehmer des Trauerzuges ihr Schweigen durch das populäre Abschiedslied ,,Ihr fielt als Opfer in der Schlacht“ unterbrachen und am Grab politische Reden gehalten hatten.35 Beisetzungsfeiern waren ein öffentliches Ereignis, auf das die nächsten Angehörigen häufig kaum Einfluss nehmen konnten. Sie konnten auch weder im Zarenstaat noch in der Sowjetzeit vom Staat kontrolliert oder unterdrückt werden. Die Revolutionäre brachen hier mit der etablierten Kultur des Todes und nutzten sie als öffentliche Tribüne.36 Die toten Revolutionäre der Februarrevolution 1917 wurden im März 1917 in Petrograd (bis 1914 St. Petersburg) feierlich auf dem Marsfeld in der Nähe der ehemaligen zarischen Residenz, des Winterpalastes, beigesetzt. In den Reden und Zeitungsbeiträgen anlässlich der Beisetzung zeigt sich deutlich die irdische Verzeitlichung der früheren Jenseitshoffnung, etwa in der Äußerung des späteren Parteiführers Lev Kamenev: ,,Wir werden auf den Knochen der Februarkämpfer den Palast der Freiheit bauen.“37 Im Herbst 1917 setzte man die Toten der Moskauer Straßenkämpfe als Opfer der Oktoberrevolution an der Moskauer Kremlmauer bei. Der Ort war in den folgenden Jahren für Rotarmisten und andere Anhänger des neuen Regimes eine zentrale Kultstätte. Catherine Merridale sieht hier zu Recht deutliche Kennzeichen einer neuen ,,organisierten revolutionären Trauer“ bzw. ein neues ,,Staatszeremoniell“.38 Die neue politische Kultur war auf die Zukunft ausgerichtet, auf den Dienst des Einzelnen am Erreichen unerreichbarer Ziele, und nicht auf Trauer und Gedenken. Der militarisierte Sozialismus39 , der die politische Kultur der Sowjetunion prägte – auch dessen Sprache – ließ die Grenzen zwischen Zivilbevölkerung und Rotarmisten rhetorisch häufig verschwimmen. Die politische Gesinnung, die den toten Rotarmisten zugeschrieben wurde, sollte den lebenden Zivilisten als Vorbild und Orientierung dienen. Nur da, wo die Kommunistische Partei den öffentlichen Raum noch nicht total beherrschte und in dem Rest, der als private Sphäre übrig blieb oder als solche als Bollwerk verteidigt wurde, erhielten sich andere Traditionen.40 34 35 36

37 38 39 40

Koselleck, Einleitung, S. 14. Merridale, Steinerne Nächte, S. 117. Siehe zum ,,bürgerlichen Tod“ etwa Guido Hausmann, Die wohlhabenden Odessaer Kaufleute und Unternehmer. Zur Herausbildung bürgerlicher Identitäten im ausgehenden Zarenreich, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000), H. 1, S. 41–65. Zitiert nach Merridale, Steinerne Nächte, S. 135. Ebd. Siehe von Hagen, Soldiers in the Proletarian Dictatorship, S. 7. Zur ,,durchherrschten Öffentlichkeit“ zuletzt zusammenfassend und mit weiteren Literatur-

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Der späte Veteranenkult für die Gefallenen des ,,Großen Vaterländischen Krieges‘‘ Man kann die Aussagen über das ausgehende Zarenreich, über den Ersten Weltkrieg und den Bürgerkrieg als eine Art Vorgeschichte für eine Erörterung des politischen Totenkults des Zweiten Weltkriegs verstehen, der bis heute in Russland und in einer Reihe anderer ehemaliger sowjetischer Republiken zentraler Bezugspunkt von kollektiver historischer Erinnerung und für Prozesse der Identifizierung ist. Der russische Soziologe Lev Gudkov hat wiederholt auf die herausragende Bedeutung des Siegestages, des 9. Mai, in Russland und seinen Nachbarländern hingewiesen, die sich bisher durch den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 nicht wesentlich geändert hat.41 In der Forschung zur historischen Erinnerung an den ,,Großen Vaterländischen Krieg“ besteht Konsens darüber, dass es nach 1945 zum einen den wichtigen Unterschied zwischen dem öffentlichen, vom Staat bestimmten Gedenken und der individuellen bzw. familiären Erinnerung gegeben hat. Im Mittelpunkt des öffentlichen Gedenkens stand der Sieg der Sowjetunion, des sowjetischen Systems und des ,,sowjetischen Volkes“ unter der Führung der Kommunistischen Partei, und dieser Sieg war auch ein Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus; das familiäre Gedenken war dagegen durch die Trauer über die Toten in der Familie, in der Verwandtschaft, im Freundeskreis bestimmt. Die hohe Zahl der Toten – nach dem Krieg sprach Stalin zunächst von etwa sieben Millionen Toten, inzwischen geht die Forschung von einer Gesamtzahl von 27 bis 28 Millionen Toten aus – bedeutet, dass fast jede Familie Tote zu beklagen hatte. Die englische Historikerin Catherine Merridale, die vor einigen Jahren auch eine erste umfassende Monographie über den sowjetischen Soldaten während des Krieges vorgelegt hat, spricht von einem ,,Nebeneinander von öffentlicher Zeremonie und der intensiven Privatheit der Familientrauer“, die aber über das Gedenken an den ,,Großen Vaterländischen Krieg“ hinausging und auch die Terroropfer der 1930er Jahre einbezog.42 Das Nebeneinander konnte bisweilen spannungsreich sein, im Gedenken an den Krieg verbanden

41

42

hinweisen Jan C. Behrends, Repräsentation und Mobilisierung. Eine Skizze zur Geschichte der Öffentlichkeit in der Sowjetunion und in Osteuropa (1917–1991), in: Ute Daniel/Axel Schildt (Hg.), Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln 2010, S. 229–254. Siehe etwa Lev Gudkov, Negativnaja identičnost’. Stat’i 1997–2002 godov, Moskau 2004, S. 20–58; oder ders., Die Fesseln des Sieges. Rußlands Identität aus der Erinnerung an den Krieg, in: OSTEUROPA 55 (2005), H. 4–6 (= Themenheft Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg), S. 56–73. Merridale, Steinerne Nächte, S. 15; dies., Die Rote Armee 1939–1945, Frankfurt a.M. 2008 (Original London 2005). Die Literatur zum Unternehmen ,,Barbarossa“ bzw. zum deutschsowjetischen Krieg 1941–1945 ist umfassend. Siehe zum Beispiel Richard J. Overy, Russlands Krieg. 1941–1945. Hamburg 2003.

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sich aber auch immer wieder Regime und Bevölkerung. Zum andern betont die Forschung den Wandel des Gedenkens an den Krieg und unterteilt das öffentliche Gedenken nach 1945 in mehrere Phasen. Der 9. Mai hat hier eine symbolische Bedeutung, denn von 1945 bis 1947 war der 9. Mai offizieller Feiertag (es war arbeitsfrei), zwischen 1948 und 1964 wurde der Tag herabgestuft zu einem Feiertag, an dem gearbeitet werden musste und seit 1965 – anlässlich des 20. Jahrestages des Sieges über Hitlerdeutschland – wurde er wieder zu einem arbeitsfreien Feiertag aufgewertet. Bezieht man die Kriegsjahre ein und sieht in der Perestrojkazeit unter Generalsekretär Michail S. Gorbačev einen erneuten Wandel, so kann man mit der Baseler Historikerin Carmen Scheide von fünf unterschiedlichen Phasen sprechen.43 Kernbestand der Kriegsdeutung blieb dabei seit der Chruščev-Zeit bis zum Ende der Sowjetunion die Vorstellung von der einmütigen, heldenhaften, kollektiven Verteidigung des Vaterlandes, die ein Beweis für die Überlegenheit des eigenen politischen Systems war und von der Forschung auch als zweiter Gründungsmythos der Sowjetunion bezeichnet wird. Auffällig ist der Zusammenhang zwischen dem Aufstieg eines auf die gefallenen Soldaten bezogenen politischen Totenkultes und dem Wandel des Gedenkens an den Krieg. In Moskau sollte eine zwischen 1941 und 1945 existierende Kommission Material über das Kriegsgeschehen sammeln, ähnliche Anweisungen gingen an alle Museen des Landes. Zu dieser Vorbereitung auf die geplante spätere Erinnerung an den Krieg gehört unter anderem auch, daß man während des Krieges bei der Errichtung von Massengräbern für gefallene Soldaten zugleich Informationen über deren Lage und Größe sammelte und aufbewahrte.44 Die beiden russischen Historikerinnen Natal’ja Konradova und 43

44

Siehe Carmen Scheide, Kollektive und individuelle Erinnerungsmuster an den ,,Grossen Vaterländischen Krieg“ (1941–1945), in: Brigitte Studer/Heiko Haumann (Hg.), Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929–1953. Sujets staliniens. L’individu et le système en Union soviétique et dans le Comintern, 1929– 1953. Stalinist Subjects. Individual and System in the Soviet Union and the Comintern, 1929–1953, Zürich 2006, S. 435–453, hier besonders S. 438–440; siehe zum Wandel der öffentlichen Erinnerung auch Bernd Bonwetsch, Der “Große Vaterländische Krieg“. Vom öffentlichen Schweigen unter Stalin zum Heldenkult unter Breschnew, in: Babette Quinkert (Hg.), ,,Wir sind die Herren dieses Landes“. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, Hamburg 2002, S. 166–187; Nina Tumarkin, The Living and the Dead, New York 1994; Peter Jahn (Hg.), Triumph und Trauma. Sowjetische und postsowjetische Erinnerung an den Krieg 1941–1945, Berlin 2005 sowie jüngst Ekaterina Makhotina, Symbole der Macht, Orte der Trauer. Die Entwicklung der rituellen und symbolischen Ausgestaltung von Ehrenmalen des Zweiten Weltkrieges in Russland, in: Monika Heinemann u. a. (Hg.), Medien zwischen Fiction-Making und Realitätsanspruch. Konstruktionen historischer Erinnerungen, München 2011, S. 279–306. Ebd., S. 439; Natal’ja Konradova/Anna Ryleva, Helden und Opfer. Denkmäler in Russland und Deutschland, in: OSTEUROPA 55 (2005), H. 4–6 (= Themenheft Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg), S. 347–366, hier S. 349–351.

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Anna Ryleva konnten vor einigen Jahren zeigen, dass am Ende des Krieges an zahlreichen Orten Russlands auf private bzw. gesellschaftliche Initiative und Kosten einfache Denkmäler – häufig in der Form von Betonstelen – errichtet wurden. In der Regel standen sie auf zentralen Plätzen oder Friedhöfen, es waren Kenotaphe (d.h. keine Gräber), die die Namen der Gefallenen nannten. Anzunehmen ist, dass häufig sowohl die Namen gefallener Soldaten als auch anderer Gefallener genannt wurden.45 Bis in die frühen 1950er Jahre errichtete man auch einfache figürliche Denkmäler, die häufig einen trauernden Soldaten abbildeten, der den Helm abgenommen hatte oder den Lauf seines Maschinengewehres senkte und manchmal zusammen mit einer trauernden Frau dargestellt wurde, die Blumen oder einen Kranz trug (Abb. 1). Konradova und Ryleva machen zudem darauf aufmerksam, dass sie häufig an Orten aufgestellt wurden, an denen bis zur Zerstörung unter Stalin in den frühen 1930er Jahren Kirchen, Kappellen oder Friedhöfe standen.46 Das modifiziert die Vorstellung von einer weitgehenden Unterdrückung des öffentlichen Kriegsgedenkens durch Stalin und die Partei unmittelbar nach dem Krieg. Denn nach dem Krieg dominierten die Kommunistische Partei und Stalin Staat, Gesellschaft und Öffentlichkeit wieder. Zurückkehrende Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter kamen in Filtrationslager und wurden zum Teil in Lager verschickt. Das stalinistische System restituierte sich und Hoffnungen auf eine Abschwächung der Repression, auf Aufhebung der Kolchosen oder gar auf eine Liberalisierung des Systems, die es bei Bauern, Frontsoldaten (,,frontoviki“) und anderen Bevölkerungsteilen gegeben haben mag, erwiesen sich schnell als illusionär. Bereits 1946 riet Stalin in einem Memorandum, dem quasi Gesetzescharakter beigemessen wurde, davon ab, Kriegserinnerungen zu verfassen und zu veröffentlichen, sodass bis zu Stalins Tod 1953 eine öffentliche Diskussion über die Kriegsereignisse unterblieb.47 Kriegsveteranen verbot man die Gründung eigener Vereinigungen, so dass sie sich nur informell zu Hause oder in Kneipen u.ä. Orten treffen konnten, um über ihre Kriegserfahrungen zu sprechen. Soweit Veteranenorganisationen mehr oder weniger spontan während oder unmittelbar nach Kriegsende entstanden waren, wurden sie bis 1948 aufgelöst. Gleichzeitig stieg in der Öffentlichkeit Stalin, während des Krieges Oberbefehlshaber des Militärs und Vorsitzender des neu geschaffenen staatlichen Verteidigungskomitees, zum Vater des Sieges auf. Eine kritische Diskussion seiner Entscheidungen vor und während des Krieges, zumal in dessen ersten Monaten, war somit bis zu seinem Tod 1953 unmöglich, und auch populäre Generäle wie Georgij K. Žukov wurden von Stalin und der Partei in den Hintergrund gedrängt. 45 46 47

Ebd. Die Spitze war häufig mit einem Sowjetstern versehen. Ebd., S. 351–352. Siehe dazu Geoffrey Hosking, Rulers and Victims. The Russians in the Soviet Union, Cambridge/Mass. 2006, S. 243.

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Guido Hausmann Abbildung 1: Denkmal in Snegiri, Gebiet Moskau (aus: OSTEUROPA 55 (2005) H. 4–6, S. 55 (= Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg)).

In der Zeit von Nikita S. Chruščev (1956–1964) als Erstem Sekretär der KPdSU kam es zu einer Umwertung: Kritik an Stalin war seit der Geheimrede von Chruščev auf dem 20. Parteitag 1956 möglich, sie wurde nach dem 22. Parteitag 1961 noch einmal intensiviert und bezog sich neben den Säuberungen und dem Terror in der Führung der Roten Armee vor dem Krieg besonders auf Stalins Rolle im Krieg, etwa im Jahr 1941, als durch seine fragwürdigen strategischen Entscheidungen Hunderttausende sowjetischer Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten und dort in kurzer Zeit einen erbarmungslosen Tod starben.48 Neues kollektives heroisches Subjekt wurde das ,,Sowjetvolk“, und Chruščev hatte in seiner Rede besonders die Kommunistische Partei und die sowjetischen Soldaten inklusive populärer Generäle wie Georgij K. Žukov hervorgehoben.49 48 49

Siehe dazu besonders Roger R. Reese, Stalin’s Reluctant Soldiers. A Social History of the Red Army 1925–1941, Kansas 1996. Siehe Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hg.), Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt a.M. 1977, S. 519; sowie Guido Pauling, ,,Wir sind Diener des Plenums…“. Chruschtschow und die Partei 1952–1966, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 636–655.

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Mark Edele hat die sowjetischen Veteranen in den Nachkriegsjahrzehnten genauer erforscht und auf die Unterschiede dieser Gruppe in Bezug auf Generationenzugehörigkeit, soziale Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und Nationalität hingewiesen. Seine Forschungsergebnisse helfen zu erklären, warum seit der Zeit von Chruščev und besonders in den Jahren des Ersten und seit 1966 Generalsekretärs Leonid I. Brežnev (1964–1982) die Veteranen und ein auf die gefallenen Soldaten bezogener Totenkult immer stärker ins Zentrum der sowjetischen Gedenkkultur rückten.50 Edele unterscheidet drei Generationenkohorten unter den etwa 34 Millionen sowjetischen Soldaten bzw. 25 Millionen sowjetischen Veteranen: Die jüngste Veteranenkohorte war zwischen 1923 und 1927 geboren, wurde direkt von der Schulbank aus in die Armee eingezogen und an die Front geschickt. Diese Generation von etwa sieben Millionen Soldaten habe die Hauptlast des eigentlichen militärischen Kampfes getragen und die Fronterlebnisse prägten ihr ganzes Leben in besonderer Weise, da sie zuvor weder einen Beruf ausgeübt noch eine Familie gegründet hatten. Typisch für sie waren massive Probleme nach der Demobilisierung, da sie sich häufig im zivilen Leben nicht zurechtfanden. Das Fehlen von Veteranenorganisationen wirkte sich hier möglicherweise verstärkend aus. Die beiden älteren Generationen hatten dagegen vor 1941 bereits ein ziviles Leben geführt, in das sie zurückkehren konnten und wollten. Die mittlere Generation der zwischen 1905 und 1922 Geborenen (etwa 17 Millionen) sowie die ältere Frontgeneration der zwischen 1890 und 1904 Geborenen (etwa neun Millionen) übernahm nach 1945 die führenden Positionen in Staat und Gesellschaft (vor allem die Offiziere).51 Zu dieser mittleren Generation gehörte auch Leonid I. Brežnev (1906–1982). Er war 1931 in die Kommunistische Partei eingetreten, profitierte in den 1930er Jahren von den Stalin’schen Säuberungen, war im Krieg Politkommissar, ohne jedoch in militärischer Hinsicht stärker in Erscheinung zu treten, wurde 1950 zum Generalsekretär der Moldauischen Kommunistischen Partei gewählt, stieg in der Folge schnell im Zentralkomitee und im Politbüro der Gesamtparteiorganisation auf, bevor er 1960 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets und 1964 Erster Sekretär der Gesamtpartei wurde. Veteranen, von denen nur eine Minderheit Parteimitglieder waren, begannen unter Chruščev und vor allem unter Brežnev die Partei zu dominieren, unter letzterem immer mehr auch die jüngste der drei Generationenkohorten. Dieser Zusammenhang erklärt partiell, warum 1956 eine Veteranenorganisation gegründet wurde, die aufgrund ihrer Dienste für das Vaterland Anerkennung verlangte und Ansprüche stellte.52 Bis auf einen vereinfachten Zugang zu höheren Bildungs50 51 52

Siehe Mark Edele, Soviet Veterans as an Entitlement Group, 1945–1955, in: Slavic Review 65 (2006), S. 111–137. Ebd., S. 113–116. Ebd., S. 121.

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einrichtungen und Stipendien erhielten die Veteranen jedoch bis in die BrežnevZeit keine besondere Anerkennung durch den Staat, was ihre Situation zum Beispiel deutlich von der Lage der US-amerikanischen Veteranen unterschied. Auch die als Invaliden anerkannten Kriegsversehrten, deren Zahl auf mindestens 2,7 Millionen geschätzt wird, verfügten im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende über keine eigene Organisation, die ihre Interessen hätte vertreten können. Der Staat versuchte die Anerkennungsrate wie bereits während des Krieges so auch nach Kriegsende niedrig zu halten, um Sozialkosten (vor allem Rentenansprüche) zu sparen. Er zwang viele Invaliden nach 1945 Arbeiten – häufig Hilfsarbeiten – anzunehmen, die sie kaum in der Lage waren auszuüben.53 Hinzu kam eine häufig erfahrene soziale Ausgrenzung, ohne dass es jedoch zu offenem Protest von Invaliden und Veteranen kam. Die Situation der Veteranen und Invaliden änderte sich nach 1956 bzw. 1964, wenn auch erst langsam. Noch 1964 hob Brežnev in einer Rede den Sieg im ,,Großen Vaterländischen Krieg“ und die Soldaten bzw. Veteranen hervor, wenige Monate später erhob er den 9. Mai wieder zum arbeitsfreien Feiertag.54 In der Folge wurden die Renten der Invaliden erhöht und ihnen weitere materielle Vergünstigungen etwa bei Reisen, der Versorgung mit einem Telefon oder einem Fernseher etc. zugestanden; Regelungen, die dann auch auf die Veteranen ausgeweitet wurden. Ein gewisses Ende dieses Prozesses bildete das Jahr 1978, als die Gesetzgebung die Veteranen als eine separate Gruppe mit spezifischen Privilegien anerkannte.55 Das bedeutete selbstverständlich nicht, dass ihnen gleichermaßen sozialer Respekt zuwuchs, doch Staat und Partei förderten diesen Prozess durch Paraden, Dekorierungen oder Einladungen, in Schulen oder Fabriken über die Kriegserlebnisse zu sprechen. Der geschilderte Prozess erklärt den Bedeutungszuwachs der Veteranen und einen auf sie bezogenen politischen Totenkult in der Sowjetunion seit den späten 1950er und den 1960er Jahren. In dieser Zeit errichteten die Behörden sowohl 53

54

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Ebd., S. 125–126; sowie Beate Fieseler, Arme Sieger. Die Invaliden des Großen Vaterländischen Krieges, in: OSTEUROPA 55 (2005), H. 4–6 (= Themenheft Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg), S. 207–217, die Zahlenangabe auf S. 209; dies., The Bitter Legacy of the ,Great Patriotic War‘. Red Army Disabled Soldiers under Late Stalinism, in: Juliane Fürst (Hg.), Late Stalinist Russia. Society Between Reconstruction and Reinvention, London 2006, S. 46–61; Beate Fieseler, Arme Sieger. Die Invaliden des ,,Großen Vaterländischen Krieges“ der Sowjetunion 1941–1991, Köln 2011. Siehe dazu die abgewogene Darstellung von Jörg Ganzenmüller, Die siegreiche Rote Armee und ihre Führung. Konkurrierende Geschichtsbilder von den ,,Vätern des Sieges“, in: Beate Fieseler/Jörg Ganzenmüller (Hg.), Kriegsbilder. Mediale Repräsentationen des ,,Großen Vaterländischen Krieges“, Essen 2010, S. 13–27; sowie die Rede von Leonid I. Brežnev ,,Der große Sieg des sowjetischen Volkes“ vom 8. Mai 1965 in: Leonid I. Breshnew, Auf dem Wege Lenins. Reden und Aufsätze, Bd. 1: Oktober 1964 – April 1967, Berlin 1971, S. 125–163. Edele, Soviet Veterans, S. 121.

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große Denkmäler anlässlich des 40. und 50. Jahrestages der Oktoberrevolution (zum Beispiel Stelen, Skulpturen, erste Ewige Flammen) als auch Denkmalsensembles. Sie erinnerten an den Sieg der Sowjetunion im ,,Großen Vaterländischen Krieg“, hoben die gefallenen Soldaten hervor und trugen repräsentativen sowie ideologischen Charakter, wie etwa die Denkmäler in Leningrad (1965– 1975, der große Piskarevskoe-Friedhof eröffnete bereits 1960) und Volgograd (1967). Dieser Prozess setzte sich in den folgenden Jahren fort, etwa in Brest (1971), Moskau (1975) oder Kursk (1983).56 Es etablierte sich ein spezifisches und standardisiertes Gedenkritual, in dem die Gefallenen geehrt wurden. Für einen auf den Sowjetsoldaten bezogenen politischen Totenkult hatte das 25 Jahre nach Kriegsbeginn eröffnete Grabmal des Unbekannten Soldaten an der nordwestlichen Kremlmauer im Zentrum Moskaus besondere Bedeutung.57 Aleksej Abramov hat die feierliche Überführung der sterblichen Überreste des unbekannten Soldaten am 3. Dezember 1966 beschrieben, der wenige Monate später die offizielle Eröffnung des Denkmalkomplexes folgte, und er hat gleichzeitig eine offizielle sowjetische Deutung des Denkmals gegeben. Das Denkmal bestand und besteht aus einer roten Granitplattform, zu der vier Stufen und eine 140 m lange Granitsteinallee führen, an der zehn rote Quarzitblöcke an die sowjetischen Heldenstädte erinnern. In der Mitte der Granitplattform befindet sich ein Bronzestern mit einer Ewigen Flamme des Ruhms im Zentrum. Am oberen Ende der Granitplatte liegt ein Soldatenhelm auf einer Fahne. Einen zum Denkmalskomplex gehörende Stelenaufschrift trägt die Aufschrift: ,,1941 Den für die Heimat Gefallenen 1945“.58

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Siehe Konradova/Ryleva, Helden und Opfer, S. 352–354, besonders S. 354: ,,Das sind erstens nonfigurative plastische Kompositionen, die den feierlichen Charakter des Ortes und die Bedeutung des Ereignisses herausstellen (Konstruktionen, Stelen und Wände aus Beton oder Granit). Zweitens sind es die Skulpturen: Soldaten vom Typ des mutigen Kämpfers und Beschützers, Frauen als Mütter, manchmal mit Kind, desgleichen Partisanen, Luftschiffe (nach einem populären Lied, gesungen von Mark Bernes (1969), eine symbolische KremlMauer (wenn es um die Verteidigung Moskaus geht). Und schließlich die Ewige Flamme oder die Darstellung einer Fackel“; Merridale, Steinerne Nächte, S. 373 spricht von einer ,,Orgie des Gedenkens an den Krieg“; für Stalingrad siehe Sabine R. Arnold, Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis. Kriegserinnerung und Geschichtsbild im totalitären Staat, Bochum 1998; über Kiew Michail Ignatieff, Soviet War Memorials, in: History Workshop Journal 17 (1984), S. 157–163. Siehe die deutsche Übersetzung der Darstellung von Alexej Abramow, An der Kremlmauer. Gedenkstätten und Biographien revolutionärer Kämpfer, Berlin 1984, S. 385–403; allgemein dazu Ken S. Inglis, Entombing Unknown Soldiers. From London and Paris to Baghdad, in: History and Memory 5 (1993), S. 7–31. Abramow, An der Kremlmauer, S. 402. Vgl. eine Abbildung des Grabmals des Unbekannten Soldaten an der Kremlmauer in Moskau www.russian-online.net/de_start/box/ boxtext.php?auswahl=unbekanntersoldat.

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In seiner Deutung weist Abramow einmal auf die kriegsentscheidende Schlacht vor Moskau im November–Dezember 1941 hin und verbindet zum anderen den Kampf um Moskau mit dem Kampf um die ,,sowjetische Heimat“, wenn er schreibt: ,,Am 3. Dezember 1966 wurden alle Söhne und Töchter der Sowjetunion geehrt, die in unbekannten Schützengräben fielen, bei unbenannten Höhen, die sich vom Moskau-Wolga-Kanal bis zur Elbe und zur Moldau erstrecken. Nicht allein die kleine Schar der ehemaligen Frontkämpfer, der Kameraden des Unbekannten Soldaten, nein, Zehntausende Moskauer verharrten in feierlichen, strengem Schweigen reglos auf dem Platz der Manege, vor dem Alexandergarten. Zehntausende? Nein, Millionen! Intervision ermöglichte es auch den Leningradern, den Einwohnern von Tbilissi und Tallinn, den Sibiriern, Warschauern und Pragern, zum Grab des Unbekannten Soldaten zu kommen.“59 Es gab im öffentlichen Gedenken durchaus Trauer über die gefallenen Soldaten. Bezeichnend war aber, wie Sabine Arnold treffend formulierte, dass das Ritual ,,die Trauer um die toten Soldaten als Ausgangspunkt“ nahm und ,,immer wieder im triumphalen Sieg der sozialistischen Idee“60 endete. Sicherlich erklärt nicht nur der Bedeutungszuwachs der Veteranen im politischen Leben des Landes diesen Wandel der Gedenkkultur. Hinzu kam, dass eine erste Nachkriegsgeneration aufgewachsen war und sich die Legitimität des Sowjetsystems immer stärker auf den Sieg über Hitlerdeutschland stützte statt den nahen Kommunismus zu betonen. All das erhöhte die Bedeutung eines vom Staat monopolisierten Gedenkens. Die Ehrung des Sowjetsoldaten am Grabmal des Unbekannten Soldaten an der Moskauer Kremlmauer gehörte und gehört seit der Eröffnung des Denkmals zum jährlichen offiziellen Gedenkritual am Siegestag.61 Ende der 1980er Jahre kam es zu einem erneuten Wandel der Gedenkpraxis, der auch die Denkmalsmonumentalität der 1960er bis 1970er Jahre verdrängte. Er stand im Kontext der Wiederaufnahme und Weiterführung der Stalinkritik in eine Systemkritik, die in Gesellschaft und Geschichtswissenschaft in eine allgemeine Diskussion über die Kosten des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg mündete.62 Neue Denkmäler aus dieser Zeit integrierten etwa Elemente der Gedenkkultur der Orthodoxen Kirche wie das orthodoxe Kreuz. So setzte sich auch eine neue russische Gedenkkultur von der sowjetischen ab. Seit Mitte der 1990er Jahre entstanden erste Denkmäler für die gestorbenen Soldaten des 59 60 61 62

Ebd., S. 393–394. Siehe Sabine Arnold, Generationenfolge. Gedanken zum sowjetischen Kriegsgedenken und Geschichtsbild, in: Quinkert, ,,Wir sind die Herren dieses Landes“, S. 188–206, hier S. 199. Siehe die Darstellung des Jahres 1985 bei Tumarkin, The Living and the Dead, S. 39–43. Siehe dazu überblickshaft und mit weiteren Literaturangaben Joachim Hösler, Aufarbeitung der Vergangenheit. Der Große Vaterländische Krieg in der Historiographie der UdSSR und Russlands, in: OSTEUROPA 55 (2005), H. 4–6 (= Themenheft Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg), S. 115–125.

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Afghanistankrieges (1979–1989) und der Tschetschenienkriege. In Afghanistan waren etwa 620.000 sowjetische Soldaten (,,Afgancy“, d.h. Afghanistankämpfer oder ,,Internationale Kämpfer“) im Einsatz, über 15.000 starben.63 Sowohl im offiziellen Umgang mit den Veteranen und dem Soldatentod als auch bei den eigenen Aktivitäten der Veteranen zeigen sich sowohl Anknüpfungen an bestehende Traditionen als auch Neuorientierungen. Die sich seit 1986 bildenden Veteranenverbände traten aktiv für das Gedenken der umgekommenen Afghanistansoldaten ein, konnten aufgrund der Wirtschaftskrise aber erst seit Mitte der 1990er Jahre in größerer Zahl Denkmäler errichten. Viele Veteranen wandten sich dabei gegen staatliche und nationale Symboliken, da sie sich vom Staat und von der Gesellschaft verraten und missbraucht fühlten, und stellten in Denkmälern stattdessen Kameradschaft, Trauer und Verlust sowie orthodox-religiöse Symbole dar. Auf der anderen Seite befanden sich aber viele dieser Denkmäler (insgesamt gibt es über 300) in der Nähe von Denkmälern für Opfer des Zweiten Weltkrieges und stellten somit eine Verbindung her.64 In der Folge vereinigten sich häufig Veteranen- und Invalidenverbände von Afghanistan- und Tschetschenienkämpfern und beide errichteten auch zusammen Denkmäler.65 Doch sah auch in der Präsidentschaftszeit von Boris Jelzin (1991–2000) und seines Nachfolgers Wladimir Putin (2000–2008) die übergroße Bevölkerungsmehrheit Russlands den ,,Großen Vaterländischen Krieg“ als das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts an. Der neue russländische Staat nahm dankbar darauf Bezug, weil die Erinnerung an den Afghanistankrieg unheroisch war und die Anknüpfung an die siegreiche Tradition die Legitimationskraft des neuen Russlands erhöhte, das seinen Weltmachtstatus verloren hatte und sich erst neu finden musste und muss. Die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war dabei aber pluraler geworden und setzte sich in der heranwachsenden Generation sowohl aus Elementen der staatlichen bzw. sowjetischen Gedenkkultur der 1960er und 1970er Jahre als auch aus der oftmals ganz anderen familiären Erinnerung in vielfältiger Weise neu zusammen.66 Offiziell wurde jedoch unter 63

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Siehe Hassan M. Kahar, Afghanistan. The Soviet Invasion and the Afghan Response, 1979– 1982, Berkeley 1995; Diego Cordovez/Selig S. Harrison, Out of Afghanistan. The Inside Story of the Soviet Withdrawal, New York 1993; zum Kult der dort gefallenen Soldaten Natalija Danilova, Kontinuität und Wandel. Die Denkmäler des Afghanistankrieges, in: OSTEUROPA 55 (2005), H. 4–6 (= Themenheft Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg), S. 367–386, hier S. 369f. Ich folge hier der Untersuchung von Danilova. So konnte ich im Jahr 2001 in Moskau auf der Straße zwei Musikkassetten eines Tschetschenieninvaliden kaufen, ,,Pamjat’ 1 und 2“, herausgegeben von der Regional’naja Obščestvennaja organizacija invalidov vojny v Afganistane i Čečenskogo konflikta g. Moskva. Siehe Irina Scherbakowa (Hg.), Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten, Hamburg 2003. Das Buch bezieht sich allerdings nicht nur auf den Zweiten Weltkrieg.

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Wladimir Putin etwa im Jahr 2005 anlässlich des 60. Jahrestages des Sieges über Hitlerdeutschland Bombast und Repräsentation wie unter Brežnev zu neuen Ehren gebracht, wobei der Bezugspunkt jetzt nicht mehr das sowjetische System sondern Russland als Nation war.

Differenzierungen: Hauptstadt und Provinz Der allgemeine Befund kann differenziert werden, wenn man exemplarisch genauer die Hauptstadt Moskau und die nordrussische Gebietshauptstadt Petrozavodsk untersucht. In Moskau dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis ein Plan und ein Beschluss über die Errichtung einer Erinnerungsstätte in der Form eines Siegesparks (,,Park pobedy“) realisiert wurde.67 Der Ort erinnerte nicht an eine konkrete Schlacht wie ähnliche Denkmalskomplexe in Stalingrad/Volgograd (1960– 1967) oder Leningrad (1975), sondern er wurde als Zentralstätte mit gesamtsowjetischer Bedeutung konzipiert, obwohl er ursprünglich auf die Schlacht vor Moskau im Spätherbst 1941 Bezug nahm. Erste Pläne im Westen Moskaus eine Gedenkstätte zu errichten, gehen auf das Jahr 1942 zurück, reichen also bis in die Kriegszeit.68 An historischer Stelle (,,Poklonnaja gora“, auf deutsch Verneigungsberg) sollte die erfolgreiche Abwehr der deutschen Offensive auf Moskau durch die Rote Armee im Spätherbst 1941 gewürdigt werden, die in der Literatur auch als kriegsentscheidend bezeichnet wird und zumindest das endgültige Ende der deutschen Blitzkriegsstrategie bedeutete. Hinzu kam, dass der Ort auch an die Einnahme Moskaus durch Napoleons Truppen im Jahre 1812 erinnerte. Zur offiziellen Eröffnung des Siegesparks kam es aber erst im Jahr 1995, also mehr als ein halbes Jahrhundert später und nachdem die Sowjetunion zu existieren aufgehört hatte. Im Jahr 1947 war ein Siegespark beschlossen und ein Grundstein dafür gelegt worden. Mit der Hervorhebung Stalins gegenüber Generalität, Sowjetarmee und sowjetischem Volk in der Interpretation des Kriegsgeschehens im Spätstalinismus ließ sich das Projekt vor Moskaus Toren aber nicht gut verknüpfen, da der Held des Spätherbstes 1941, der populäre Marschall der Sowjetunion Georgij K. Žukov, gleichzeitig von Stalin auf eine untergeordnete Position in Odessa abgeschoben worden war. Žukov kam unter Chruščev für 67

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Über Moskau in der Nachkriegszeit siehe Monica Rüthers, Moskau als imperiale Stadt. Sowjetische Hauptstadtarchitektur als Medium imperialer Selbstbeschreibung in vergleichender Perspektive, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), S. 481–506; sowie Timothy J. Colton, Moscow. Governing the Socialist Metropolis, Cambridge/Mass. 1995. Ich folge im Weiteren gemeinhin der Darstellung von Nurit Schlefman, Moscow’s Victory Park, in: History and Memory 13 (2001), H. 2, S. 5–34, hier S. 5; die wesentlichen Dokumente finden sich in Pamjatnik Pobedy. Dokumenty o sooruženii memoriala na Poklonnoj gore v Moskve. 1955–1991, Moskau 1995.

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einige Jahre wieder zu Ehren und forderte 1955 die Errichtung von fünf Siegesdenkmälern (in Moskau, Leningrad, Stalingrad, Odessa und Sevastopol’), um ,,die gefallenen sowjetischen Kämpfer“ zu ehren, und er wies gleichzeitig darauf hin, dass in den ersten zehn Jahren nach Kriegsende in der Sowjetunion kein Siegesdenkmal errichtet worden war.69 Ein Kommissionsvorschlag von 1956 sah den Bau einer Ehrenhalle, ein Ehrenmal sowie einen Bau vor, der in propagandistischer Absicht Schlachtenszenen zeigen sollte. Politische Priorität scheint das Projekt dennoch nicht erhalten zu haben, wurde aber auch nicht offiziell gestoppt oder behindert. In Übereinstimmung mit der Aufwertung des ,,sowjetischen Volkes“ in der Interpretation des ,,Großen Vaterländischen Krieges“ in der Chruščev-Zeit legte der sowjetische Architekt Evgenij Vučečič (er hatte den sowjetischen Militärfriedhof im Berliner Treptower Park entworfen) ein Projekt vor, in dessen Zentrum eine Skulptur stand, die das siegreiche Volk darstellte. 1968 wurde der Vorschlag erörtert, den Denkmalkomplex nicht vor den Toren der Stadt zu errichten, sondern in die Mitte der Stadt zu verlagern und zwar auf einer Insel der Moskwa gegenüber der Kremlmauer. Generalsekretär Leonid I. Brežnev ließ einen neuen Wettbewerb ausrufen, der 1975 zu einem Projekt führte, in dessen Zentrum wiederum ,,das siegreiche Volk“ stand. Es bestand aus einer Reihe von Bronzeskulpturen, die die Kommunisten, die sowjetische Armee und andere Bevölkerungsgruppen ehrten, und das um ein Leninbanner gruppiert werden sollte.70 Deutlich erkennbar ist hier also die Verknüpfung des sowjetischen Sieges mit dem Staatsgründer Lenin. Die Olympischen Spiele von 1980 verzögerten die Realisierung ebenso wie der mehrfache Führungswechsel nach dem Tod von Brežnev oder der Umbau und Zusammenbruch des Sowjetsystems unter Generalsekretär Michail S. Gorbačev. Die Neuinterpretation der Sowjetzeit, besonders des Stalinismus, wirkten seit Ende der 1980er Jahre auf das Projekt ein, was sich etwa darin zeigte, dass bei einem neuen Wettbewerb auch architektonische Motive des orthodoxen Kirchenbaus diskutiert wurden. Nationalisierende Tendenzen – die Vorstellung von Russland als einem orthodoxen Volk – kollidierten aber mit der ursprünglichen Intention, ein gesamtsowjetisches Denkmal errichten zu wollen. Gleichzeitig wurde eine Entideologisierung des Denkmalprojektes gefordert. Realisiert wurde das Projekt schließlich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre am ursprünglich ausgewählten Ort im Westen Moskaus: Hier errichtete man eine orthodoxe Kirche, eine Moschee und eine Synagoge und feierte 1995 anlässlich des 50. Jahres der siegreichen Schlacht um Stalingrad und der erzwungenen Öffnung der Blockade Leningrads das erste Mal offiziell den Siegestag (9. Mai). Die kommunistische Parteizeitung Pravda stellte anlässlich der Feiern die Veteranen und die gefallenen Soldaten 69 70

Schleifman, Moscows Victory Park, S. 10. Ebd., S. 13.

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des Krieges in das Zentrum der Berichterstattung, druckte aber auch ein Bild von Stalin ab. Andere Medien berichteten dagegen kritisch über die Rolle Stalins während des Krieges.71 Neben der orthodoxen Kirche, der Moschee und der Synagoge sowie einem bereits zuvor errichteten großen Museumsgebäude war ein riesiger Metallobelisk des Bildhauers Cereteli in zentraler Position vor dem Museum postiert worden. Er hatte die Form eines russischen Bajonetts, das mit Reliefs verziert war, die Schlachtenszenen zeigten, und symbolisierte den sowjetischen Soldaten, der das Vaterland verteidigte.72 Im Museum selbst befindet sich eine Ehrenhalle, die das siegreiche Volk in der Form eines riesigen goldenen Soldaten abbildet (Abb. 2) und an deren Wänden die Namen aller dekorierten Soldaten in goldenen Buchstaben eingraviert wurden. Neben der Ehrenhalle beherbergt das Museum auch eine Halle der Erinnerung und Trauer, in deren Zentrum Glassplitter und eine Marmorskulptur einer den toten Sohn betrauernden Mutter steht. Der Siegespark nimmt somit sowohl Elemente der sowjetischen Kriegsinterpretation auf, enthält aber auch neue Bestandteile, die vor 1991 kein Kriegsdenkmalskomplex enthalten hätte.73 Das nördlich von St. Petersburg am Onegasee gelegene administrative Zentrum Kareliens Petrozavodsk, eine Gründung von Peter I., deren Bevölkerung von 27.000 (1926) über 192.000 (1959) auf knapp 280.000 (1992) angewachsen war, hatte die sowjetische Marine nach fast dreijähriger finnischer Besetzung Ende Juni 1944 befreit.74 Das Gedenken an den ,,Großen Vaterländischen Krieg“ zeigt hier typische Kennzeichen einer mittelgroßen Stadt in der Sowjetunion bzw. der Russischen Föderation, es war aber auch durch die periphere Lage und heterogene Bevölkerung (Finnen, Vepsen) geprägt. Das wichtigste Denkmal in der Stadt nach 1945 war eine Stele, die nach Kriegsende auf dem zentralen Platz der Stadt gegenüber einem Lenindenkmal errichtet worden war. An dem Ort waren 1919 Bürgerkriegskämpfer und 1944 nach der Befreiung die sterbli71 72

73

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Ebd., S. 20. Ebd., S. 24. Das Sockeldenkmal zeigt den russischen Nationalheiligen Georg auf dem Ross mit schwingender Lanze, der über die geteilten Reste eines Drachens mit Wehrmachtssymbolik reitet. Protest löste Anfang der 1990er Jahre der Vorschlag aus, ein Denkmal für den Holocaust an den sowjetischen Juden neben dem Kriegsdenkmal zu errichten, siehe Merridale, Steinerne Nächte, S. 430. Es steht nun unbezeichnet auf der Nordseite der CereteliStele, zwischen Museum und Kutuzov-Park. Ebd., S. 25. Schleifman verweist hier darauf, dass das Museum den ,,Großen Vaterländischen Krieg“ auch zum ersten Mal in den Zweiten Weltkrieg integriert; siehe auch Maria Ferretti, Unversöhnliche Erinnerung. Krieg, Stalinismus und die Schatten des Patriotismus, in: OSTEUROPA 55 (2005), H. 4–6 (= Themenheft Kluften der Erinnerung. Russland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg), S. 45–54, hier S. 53. Siehe den Eintrag Petrozavodsk, in: Georgij M. Lappo (Hg.), Goroda Rossii. Ėnciklopedija, Moskau 1994, S. 351–353; zum Folgenden siehe vor allem I. S. Antipenko u. a., Mesta pamjati o Velikoj Otečestvennoj vojne v Petrozavodske, in: Istoričeskij Archiv (2010), H. 3, S. 19–32.

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Abbildung 2: Goldener Soldat in der Ehrenhalle im Denkmalskomplex Poklonnaja Gora (Foto: Guido Hausmann).

chen Überreste von Offizieren der Roten Armee beigesetzt worden, die 1941 im Kampf um die Stadt gefallen waren. So verband man frühzeitig die sowjetrussische Staatsgründung mit dem Sieg im ,,Großen Vaterländischen Krieg“. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren waren außerdem einige Massengräber (,,bratskie mogily“) im Zentrum und am Rande der Stadt zu Denkmälern bzw. Gedenkorten geworden, die zunächst noch häufig ein einfaches orthodoxes Kreuz aus Holz hatten.75 Seit Mitte der 1960er Jahre erfasste die zentral geplante und kontrollierte sowjetische Gedenkkultur dann auch Petrozavodsk und gestaltete die lokale Gedenktradition um. Das führte dazu, dass 1969 anlässlich des 25. Jahrestages der Befreiung ein Denkmal des unbekannten Soldaten mit einer Ewigen Flamme eröffnet wurde. Die bis dahin noch über die Stadt verstreuten Massengräber wurden zusammengelegt und am neuen zentralen Denkmal der Stadt konzentriert. Hinzu kamen weitere kleinere Denkmäler und Friedhofs- bzw. Grabumgestaltungen, in den 1970er und frühen 1980er Jahren, wie eine ,,Heldengalerie der Sowjetunion“ sowie einzelne Büsten für bekannte lokale Helden (Spione oder Panzerfahrer) aus der Kriegszeit. 75

Ebd., S. 19.

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Nach dem Zerfall der Sowjetunion errichtete man auch in Petrozavodsk neue Denkmäler des ,,Großen Vaterländischen Krieges“: 1995 ein Siegesdenkmal, im Jahr 2000 ein Denkmal für den sowjetischen Marschall Georgij K. Žukov, 2003 ein Denkmal für die Kämpfer, Partisanen und Untergrundkämpfer der Karelischen Front, 2004 ein Gedenkstein für die Seeleute der Onegaflotte oder 2005 eine Büste für den Kommandeur der Karelischen Front.76 Sie können gleichermaßen als eine Fortführung sowjetischer Traditionen wie auch als eine Regionalisierung der Gedenkkultur gewertet werden. Die exemplarische Darstellung bestätigt zum einen den allgemeinen Befund, dass seit den 1960er Jahren der politische Totenkult in der Sowjetunion mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg deutlich an Bedeutung gewann und dass zweitens der Rotarmist im Zentrum dieses Kultes stand. Dieser Totenkult erhielt sich über das Jahr 1991 hinaus, ja weitete sich zum Teil sogar noch aus, veränderte sich aber gleichzeitig. Er differenzierte sich einerseits auf lokaler Ebene (es lässt sich auch von einer Regionalisierung sprechen), wurde andererseits aus seinem sowjetischen ideologischen Kontext gelöst und in einen neuen nationalen Kontext gestellt. Der sowjetische Soldat wird dabei häufig nicht isoliert dargestellt, sondern in Verbindung mit anderen zivilen Personen wie einer Frau. So steht er einerseits alleine im Kampf, ist aber andererseits mit der Heimat verbunden. Ihr gehört er an, sie verteidigt er.77 Heimat und Patriotismus sind dabei Bezugspunkte, die über das Jahr 1991 hinaus Gültigkeit haben.

Bilanz und Forschungsperspektiven Ein Totenkult, in dessen Zentrum der einfache Soldat stand und der auch eine politische Bedeutung hatte, entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. im eigentlichen Sinn erst Mitte der 1960er Jahren. Für das Entstehen konnten sowohl sozialgeschichtliche als auch politische Gründe genannt werden. Dieser Kult bezog sich wesentlich auf das Opfer für den Sieg einer bestimmten politischen Ordnung, die sich als Klassenordnung verstand (das sozialistische Sowjetsystem) und auf einem spezifischen (Sowjet-)Patriotismus basierte, nicht dagegen auf Nationen. Man wird jedoch davon ausgehen können, dass die Nationen als Bezug nicht gänzlich außer Acht blieben, zumal das Sowjetsystem offiziell Nationen anerkannte. Nur eine Detailanalyse, die Rezeptionspraktiken einschließt, kann hier weitere Aufschlüsse geben. Daneben existierte ein weiterer Totenkult, der sich auf politische Führer bezog, vor allem auf den Staatsgründer Lenin, zeitweise auch auf Stalin als ,,Vater“ des sowjetischen Sieges gegen 76 77

Ebd., S. 20. Siehe dazu auch die Deutungen bei Arnold, Generationenfolge, S. 198.

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Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg. Dieser Totenkult, der an den dynastischen Totenkult erinnert und an ihn anknüpfte, dominierte in der Sowjetunion und war ein wichtiges Element seiner politischen Kultur. Er verweist auch darauf, dass der sowjetische Staat die Formen des Totenkultes bzw. der Totenkulte bestimmte. Gleichzeitig zeigt die Untersuchung aber auch, dass sowohl während und nach dem Ersten Weltkrieg als auch dem Zweiten Weltkrieg andere Formen von Erinnerung und Totenkult entstanden und entworfen wurden, und zwar bei unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft. Sie setzten sich nicht durch, weisen aber auf die Existenz eines anderen Denkens hin. Zu den wichtigen Kontinuitäten über 1917 hinweg gehört zum einen, dass militärischer Sieg und politischer Totenkult miteinander verknüpft wurden und zum anderen, dass der einfache Soldat bis zum Ende des 20. Jahrhunderts selten namentlich genannt wurde. Bis heute erregt es in Russland immer wieder Aufsehen und Verwunderung, wenn im Unterschied zu russischen Soldaten gefallene deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs mit Hilfe ihrer Erkennungsmarken identifiziert und individuell begraben werden. Gesellschaftliche Organisationen wie Memorial bemühen sich in den letzten zwanzig Jahren darum, Opfer der Kriege und auch des stalinistischen Terrors namentlich zu gedenken und ihre individuellen Geschichten zu rekonstruieren. Da jedoch auch vor 1917 der einfachen Soldaten in Russland nicht namentlich gedacht wurde, lässt sich hier nicht einfach von einer spezifischen Erscheinung eines sozialistischen Systems sprechen. Zu den wichtigen Diskontinuitäten gehört, dass eine religiös-orthodoxe Symbolik von vor 1917 Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder aufgenommen wurde. So lässt sich der politische Totenkult in Russland nicht einfach einer ,,europäischen“ oder ,,außereuropäischen“ Tradition zuordnen. Es zeigen sich vielmehr verschiedene Traditionsstränge, die sich zum Teil mit ,,europäischen“ oder ,,außereuropäischen“ Traditionen überlappen, annähern oder divergieren. In diesem Kontext ist es wichtig, nicht durch vorschnelle Typisierungen zu vereinfachen. In den letzten zwanzig Jahren dominieren aber Versuche, nationale mit imperialen Traditionen zu verbinden, die sich zum Teil von sowjetischen Traditionen absetzen, diese zum Teil aber auch weiterführen. 1995 wurde in der Nähe des mittelrussischen Kursk auf dem Prochorovfeld feierlich ein neues Siegesdenkmal in der Form eines Glockenturms eröffnet. An dem Ort erinnerte bereits ein Denkmalskomplex an die größte Panzerschlacht des Zweiten Weltkrieges, die Schlacht bei Kursk vom Juli 1943. Das Glockengeläut des Turms erinnert alle zwanzig Minuten mit drei Glockenschlägen ,,an die Helden dreier ehrenvoller Schlachtfelder Russlands – Kulikovo, Borodino und Prochorov.“78 Auf dem Schnepfenfeld (,,Kulikovo pole“) schlug 1380 ein 78

Siehe Aleksandr I. Ančiporov, Muzej-zapovednik na pole velikogo tankogo sraženija, in: Kulikovo pole i ratnye polja Evropy. Prošloe i nastojaščee. Materialy meždunarodnogo

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Heeresaufgebot der russischen Fürstentümer unter Führung des Moskauer Großfürsten Dmitrij die Tataren unter Mamāi vernichtend und in Borodino war es 1812 zu einer ergebnislosen Entscheidungsschlacht zwischen der zarischen Armee unter dem Oberbefehl von Fürst Michail I. Kutuzov und der Grande Armée Napoleons gekommen. So versucht das nachsowjetische Russland das Geschehen des Zweiten Weltkriegs aus dem sowjetischen Deutungszusammenhang, der Legitimation des sowjetischen Systems, herauszulösen und in einen größeren historischen und russischen Zusammenhang zu stellen. Symbolische Bezüge zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1812 hatte es auch schon während der Sowjetzeit gegeben, doch eröffnete die nationale Orientierung nach 1991 neue Möglichkeiten. Die aktuellen Interpretationen stellen nicht nur den Soldaten als Verteidiger von Heimat und Vaterland ins Zentrum, sondern integrieren die orthodoxe Kirche bzw. die Religionen in den neuen Totenkult. Da sich die orthodoxe Kirche während des ,,Großen Vaterländischen Krieges“ von Beginn an auf die Seite des Regimes gestellt und zur Verteidigung des Vaterlandes aufgerufen hatte, handelt es sich dabei um keine explizite antisowjetische Stoßrichtung. Es muss freilich offen bleiben, inwieweit die neue Gedenkkultur lediglich ein Konstrukt ,,von oben“ ist und bleibt oder ob es auf breite gesellschaftliche Resonanz stößt. Vereinzelt werden in den letzten Jahren auch sowjetische Antihelden wie 2004 der von den Alliierten während des Bürgerkrieges anerkannte ,,Oberste Regent“ einer Provisorischen Regierung Admiral Aleksandr V. Kolčak in der ostsibirischen Stadt Irkutsk erinnert.79 Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin ist sich des nationalen Potentials wohl bewusst und hat jüngst in provozierender Weise mit Bezug auf die Ukraine von Russland als einem ,,Land der Sieger“ (,,my strana pobeditelej“) gesprochen, das Hitler-Deutschland auch alleine geschlagen hätte.80 Die Adressierung Russlands als ,,Land der Sieger“ verweist darauf, dass sich Putin der bis heute enormen identitätsstiftenden Bedeutung des Zweiten Weltkrieges bewusst ist und gleichzeitig in seiner nationalen Deutung über den Zweiten Weltkrieg hinausgeht und die vorherigen Jahrhunderte einbezieht. Zudem verdeutlicht seine provozierende Äußerung, dass die Erinnerung an den ,,Großen Vaterländischen Krieg“ Russland und die anderen ehemaligen Unionsrepubliken der Sowjetunion politisch entzweit hat und nationale Deutungen sowohl in Russland als auch in anderen ehemaligen Teilrepubliken florieren. In den neuen Nationalstaaten setzen sich in unterschiedlicher Weise und Stärke andere historische Erinnerungen durch, die statt den Rotarmisten die Kämpfer für den Nationalstaat ins

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kongressa ,,Kulikovo pole sredi ratnych polej Evropy“. Moskva-Kulikovo pole. 31 Maja-2 ijunja 2000 g, Tula 2002, S. 156–160, hier S. 159. Das Denkmal von Kolčak (1873–1920) wurde 2004 in Irkutsk eingeweiht; www.ruschudo. ru/miracles/3018. Siehe http://focus.ua/politics/161151 (17.12.2010).

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Zentrum rücken. Eine Analyse der postsowjetischen Erinnerungskultur, etwa in der Ukraine81 oder in Litauen82 , müsste auch unterschiedliche Regionen einbeziehen, um diese zum Teil sehr gegensätzliche Ausdifferenzierung zu erfassen. Damit sind zwei Forschungsfelder genannt, die zukünftig die Aufmerksamkeit der Forschung mitbestimmen werden und zum Teil bereits die historische Forschung erreicht haben. Zum einen ist es der postsowjetische Erinnerungsstreit zwischen Russland und seinen Nachbarstaaten, nicht nur in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, der bisher kaum in seiner gesellschaftlichen Dimension erforscht worden ist, inklusive der Berücksichtigung von regionalen, generationellen und weiteren wichtigen Unterschieden. Diese Konflikte haben eine politische Dimension, weil die Frage der zeitweisen Kollaboration mit dem Naziregime (die ja auch Russland betrifft, man denke an die Vlassovarmee) die moralischen Grundlagen der neuen Nationalstaaten berührt. Der neue politische Totenkult bezieht sich somit zum Teil nicht mehr nur auf die Rotarmisten, sondern auch auf die Kämpfer gegen das Sowjetregime. Zum zweiten ist der Zweite Weltkrieg bzw. der ,,Große Vaterländische Krieg“ auch in Bezug auf die Erforschung von Erinnerungskulturen und auf politischen Totenkult zu historisieren. Die Experten der Erforschung des Zweiten Weltkrieges und der mit ihm verknüpften Erinnerungskulturen haben dazu bisher kaum einen Beitrag vorgelegt. Die vielfältigen Bezüge zwischen dem ,,Großem Vaterländischen Krieg“ 1941–1945 und dem ,,Vaterländischen Krieg“ von 1812, die bereits während des Zweiten Weltkrieges und in den Jahrzehnten danach hergestellt wurden, sind dafür nur das offensichtlichste Beispiel. Die Interpretationen weiter zurückliegender Kriege im Lichte der Erfahrungen und Erinnerungen des Zweiten Weltkrieges nach 1945 sowie die nationalen Deutungen nach 1991 erfordern methodisch reflektierte und vor allem historisch weiter ausgreifende Untersuchungen als sie bisher vorliegen.

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Siehe dazu etwa Andrij Portnov, Pluralität der Erinnerung. Denkmäler und Geschichtspolitik in der Ukraine, in: OSTEUROPA 6 (2008), S. 197–210; sowie die Beiträge in: Wilfried Jilge/Stefan Troebst (Hg.), Gespaltene Geschichtskulturen? Zweiter Weltkrieg und kollektive Erinnerungskulturen in der Ukraine, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 54 (2006), H. 1. und jüngst Stefan Troebst/Johanna Wolf (Hg.), Erinnern an den Zweiten Weltkrieg. Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa, Leipzig 2011. Siehe Adomas Butrimas, Denkmäler in Westlitauen. Errichtung (1928–1944), Zerstörung (1945–1954) und Wiederaufbau (1988–1991), in: Nordost-Archiv 6 (1997), H. 1, S. 167– 183; Darius Staliūnas, Der Kult des Unbekannten Soldaten in Litauen, in: Nordost-Archiv 17 (2008), S. 248–266.

Spanien Carsten Humlebæk

Eine ,,andere‘‘ Kriegs- und Opfergeschichte Der lange Schatten des Bürgerkriegs Soldaten kämpfen nicht nur, sie repräsentieren zugleich ihre Nation. Deshalb haben Soldaten, die im Kampf starben, ihr Leben für diese Nation geopfert. Die konkurrierenden Deutungen dieses Todes und die Erinnerung an die Toten spiegeln daher den Konflikt zwischen unterschiedlichen Nationsentwürfen. Welche Darstellungen zeigen Soldaten als Nationalhelden? Mit welchen politischen Werten wird die Nation verbunden? Doch der politische Totenkult kann auch in anderer Hinsicht als Indikator dienen. In welchen Zusammenhängen wird der toten Soldaten überwiegend in religiösen Kategorien gedacht, zum Beispiel als Märtyrer? Diese Fragen sind für die Analyse des Totenkults in Spanien von besonderer Bedeutung, da die spanische Nation im 20. Jahrhundert lange Zeit durch einen unversöhnlichen Gegensatz geprägt war. Aus zahlreichen Gründen unterscheiden sich die Kriegsgeschichte und das Gefallenengedenken Spaniens von den historischen Erfahrungen der meisten anderen europäischen Staaten. In vielen Ländern Europas spielten die Kriege des 19. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle für die Entstehung des Nationalbewusstseins und die Nationalstaatsbildung. Der Einsatz des Einzelnen für das Land oder die Regierung verschränkte sich dabei auf vielfältige Weise mit der Gewährung von politischen Partizipationsrechten und dem Ausbau von sozialen Sicherungssystemen, ohne dass man von einer einlinigen, kausalen Relation ausgehen kann. Konsens besteht jedoch darüber, dass sich Kriege in fundamentaler Weise auf den Prozess der Nationalstaatsbildung auswirkten, etwa in der Ausprägung von Grenzen oder der Neukonstruktionen von Fremdheit, z. B. als ,,nationale Feinde“.1 1

Die frühen Arbeiten zum ,,nation-building“ thematisierten die Vorstellungen von Nationsgrenzen lediglich implizit, etwa Benedict Anderson, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983. Explizit dazu etwa Anthony D. Smith, War and ethnicity. The role of warfare in the formation, self-images and cohesion of ethnic communities, in: Ethnic and racial studies 4 (1981), H. 4, S. 375-397; Walker Connor, Ethnonationalism. The quest for understanding, Princeton 1984 diesen Aspekt weiter ausgeführt. Der klassische Text über die spezielle Kriegserfahrung Spaniens und die Folgen in Bezug auf das ,,nation-building“ bleibt José Álvarez Junco, El nacionalismo español como mito movilizador. Cuatro guerras, in: Rafael Cruz/Manuel Pérez Ledesma (Hg.), Cultura

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Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern hat Spanien seit zwei Jahrhunderten – genauer, seit 1808 – nicht mehr an einem großen europäischen Staatenkrieg teilgenommen. Während des 19. Jahrhunderts sank Spanien zu einer zweitrangigen europäischen Macht ab, nachdem es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sowohl in Europa als auch weltweit ein bedeutender politischer Akteur gewesen war. Spanien teilte damit nicht die nationalstaatlich geprägte Kriegserfahrung anderer europäischer Mächte, stattdessen erlebte es in einem langen Prozess machtpolitischer Marginalisierung einerseits eine Reihe von Bürgerkriegen und andererseits einige mehr oder weniger erfolglose Kolonialkriege.2 Diese Erfahrungen stärkten weder patriotische Empfindungen noch das bürgerliche Engagement im Staat. Langfristig bestimmender waren die Bürgerkriege, durch sie entstand eine Art ,,Bürgerkriegskultur“.3 Sie behinderte nachhaltig die Entwicklung staatsbürgerlicher Loyalitätsbindungen, in welchen der Bürger dem Staat Vertrauen entgegenbringt und gemeinsame Traditionen mitgestaltet, die für eine erfolgreiche Nationsbildung notwendig sind. Stattdessen entstanden in der Permanenz der Bürgerkriege zwei konkurrierende Vorstellungen von nationaler Einheit sowie andere alternative Nationalbewegungen. Das begrenzte die Entwicklung einer inneren, staatsbürgerlichen Legitimität und nicht zuletzt auch die Deutungsmuster eines besonderen Einsatzes der Bürger für den Staat im Krieg. Das Fehlen derartiger Traditionen in Spanien markiert einen grundlegenden Unterschied zu vielen anderen europäi-

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y movilizaciones en la España contemporánea, Madrid 1997, S. 35–67. Für die neuesten Arbeiten zu diesem Thema Eduardo González Calleja, La cultura de guerra como propuesta historiográfica. Una reflexión general desde el contemporaneísmo español, in: Historia social 61 (2008), S. 69–87; Xosé-M. Núñez Seixas, ¡Fuera el invasor! Nacionalismos y movilización bélica durante la Guerra Civil española, Madrid 2006. – Aus dem Englischen übersetzt von Judith Rothe. In Spanien fanden folgende Bürgerkriege im 19. Jahrhundert statt: 1808–1814: Unabhängigkeitskriege gegen Napoleon, 1820–1823: Vorherrschaft der Liberalen, 1833–1840, 1846– 1849, 1872–1876: die drei sogenannten Karlistenkriege, die sich von dem Namen des Thronprätendenten Don Carlos (1833) ableiten. Neben diesen Kriegen auf der spanischen Halbinsel, führte Spanien weitere Kolonialkriege, um dadurch seinen ehemaligen imperialen Anspruch zurückzugewinnen. Diese Kriege waren allerdings äußerst kostspielig und wenig siegreich für Spanien. Weiterhin gehörten zu diesen Kriegen die Militärexpedition nach Cochinchina (Südvietnam) von 1858–1862, der sogenannte Afrikakrieg (1859–1860), die Eroberung und der Krieg von Santo Domingo (1861–1865), die Militärexpedition nach Mexiko (1861–1862), der sogenannte Pazifikkrieg gegen Chile und Peru (1865–1866), die zwei Kriege auf Kuba (1868–1878, 1879–1880), der sogenannte Kleine Krieg von Melilla (1893) sowie der Krieg gegen die Vereinigten Staaten von Amerika um Kuba und die Philippinen (1895–1898). Der Begriff stammt von Enric Ucelay-Da Cal, Celebrating Trauma. Historians and the Difficulty of Building a Civic Culture in Spain, unveröff. Tagungsmanuskript (,,A Usable Past? Roles of the Historian and the Politics of Memory in Europe“, Genf, 12.–13. Mai 2005).

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schen Nationen.4 Die spanische Geschichte des 19. Jahrhunderts zeitigte jedoch andere Kriegserfahrungen, die das Gedenken an gefallene Soldaten langfristig prägten. In den meisten europäischen Ländern erwuchs aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges das Bedürfnis nach Gedenkorten und -praktiken, um die gefallenen Soldaten zu ehren. Die Sinnsuche ließ eine neue Gedenk- und Trauerkultur entstehen, die Jahrzehnte lang bestimmend blieb. Denkmäler standen in ganz Europa im Zentrum dieser Gedenkkultur und artikulierten die Hoffnung, dass die Erinnerungen an die Leiden des vergangenen Krieges einen neuen Krieg verhindern mögen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren diese Gedenkpraxis und -sprache dann überholt, oder, in den Worten von Julia Kristeva, ,,der Zweite Weltkrieg hat es durch seine Orgie der Vernichtung unmöglich gemacht, Krieg in irgendeiner Form sinnvermittelnd darstellbar zu machen“.5 Nach 1945 mussten deshalb zwangsläufig neue Gedenkformen entstehen. Da Spanien an keinem der beiden Weltkriege teilgenommen hatte, entwickelte sich hier zwangsläufig eine andere Gedenkkultur im Umgang mit gefallenen Soldaten. Das erklärt auch, warum Kriegsdenkmale, die mit denen in anderen europäischen Staaten vergleichbar wären, in Spanien fehlen. Nur die einfache Denkmalsform des ,,Denkmals der Gefallenen“ (Monumento a los Caídos) gab es in Spanien seit dem späten 19. Jahrhundert. Zwar entwickelten sich Gedenkpraktiken, die in vielerlei Hinsicht Parallelen zu denen in anderen europäischen Ländern aufwiesen. Sie wirkten sich aber nicht in entsprechender Weise auf die Nationsbildung aus. Vielmehr übertrug sich die Deutungskonkurrenz um den Gehalt der Nation auf die Erinnerungskultur und spaltete diese ebenfalls. Da Spanien nicht am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte und bis in die siebziger Jahre vom übrigen Nachkriegseuropa isoliert geblieben war, erlebte es den Bedeutungsverlust des Krieges als nationalen Identitätsträger nicht in der gleichen Weise wie andere Länder. Jedoch nutzte die Franco-Diktatur die spanische Neutralität für die Legitimierung des eigenen Regimes. Das verstärkte bereits bestehende Grundmuster der Erinnerungskultur, die durch die Erfahrung des Bürgerkriegs und der damit verbundenen Gedächtnispraktiken im 19. Jahrhundert geprägt waren. So prägte in Spanien der Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 – dem, wie erwähnt, keine klassischen nationalstaatlichen Kriege im 19. Jahrhundert vorausgegangen waren –, das Gedenken und Nichtgedenken bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts entscheidend. Es wurden Denkmäler und Gedenktafeln errichtet, die in Form und Funktion den Kriegerdenkmälern 4 5

Vgl. José Álvarez Junco, La nación en duda, in: Juan Pan-Montojo (Hg.), Más se perdió Cuba. España, 1898 y la crisis de fin de siglo, Madrid 1998, S. 443. Zitiert nach Jay Winter, Sites of memory, sites of mourning, Cambridge 1995, S. 9.

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in anderen Ländern durchaus ähnelten. So wurden – das ist eine gemeineuropäische Erscheinung – die Namen der Soldaten der Gemeinde oder der Stadt aufgelistet. Der entscheidende Unterschied war allerdings, dass diese Tafeln nur jene Soldaten nannten, die auf der Siegerseite Francos, dem sogenannten ,,nationalen Lager“6 , gefallen waren. Die Kombination aus Bürgerkrieg und Diktatur ließ eine gespaltene Gedenkkultur entstehen, die der ,,Bürgerkriegskultur“ von Ucelay entspricht. Wie nach 1918 in fast allen europäischen Staaten waren auch in Spanien nach dem Bürgerkrieg derart hohe Opferzahlen zu beklagen, dass öffentliche Trauer und kollektive Erinnerung elementar bedeutsam und notwendig wurden. Da aber das Gedenken an und die Trauer um die Gefallenen der Verlierer aus dem öffentlichen Gedächtnis verbannt wurden, verschlossen sich die Überlebenden der republikanischen Seite der offiziellen Gedenkkultur. Seinen prägnantesten Ausdruck fand das darin, dass die ubiquitäre Verwendung der Inschrift ,,Gefallen für Gott und Spanien“ dazu führte, den Begriff ,,Gefallene“ nur für die getöteten Kombattanten der Diktatur zu benutzten. Da eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg und seinen Verlusten bis zum Ende der Diktatur tabuisiert war, prägte das Verhältnis zum Bürgerkrieg die Erinnerungsformen an tote Soldaten über lange Zeit. Der Bürgerkrieg überschattete damit die nationale Gedenkkultur der jungen spanischen Demokratie weit über den Tod Francos 1975 hinaus. Neue Gedenkpraktiken entstanden erst in einem langwierigen und mühsamen Lernprozess.

Gedenktraditionen des 19. Jahrhunderts Obwohl sich in Spanien – wie erwähnt – im 19. und 20. Jahrhundert eine grundsätzlich andere Geschichte des Krieges ereignete als in den meisten anderen europäischen Staaten, kann man eine analoge Entwicklung im Gefallenengedenken beobachten. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch der Kriegshelden gedacht wurde, rückte später ebenfalls der Opfertod des einfachen Soldaten in den Mittelpunkt der Erinnerung. Diese Entwicklung soll an einigen Beispielen illustriert werden. So wurde 1840 in Madrid das ,,Denkmal für die Helden des 2. Mai 1808“ eingeweiht. Es hatte eine lange und kontroverse Entstehungsgeschichte.7 Beim Aufstand vom 2. Mai 1808 hatte es sich um eine Erhebung aller Spanier gegen 6 7

Eigenbezeichnung der militärischen Einheiten Francos, vgl. Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien. 1936–1939, Darmstadt 1991, S. 4. Das erste Mal wurde diese Idee im September 1808 präsentiert. 1812 beschloss das liberale Parlament ein Denkmal zu errichten. Durch die Rückkehr von König Ferdinand VII. und damit auch dem Absolutismus wurde das Projekt verzögert und mehre-

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die französische Besatzung gehandelt. Das Denkmal erinnerte aber vor allem an den heldenhaften Einsatz der niederen Dienstränge, die eine wichtige Rolle im Aufstand gespielt hatten. 1895 wurde in Ceuta ein ,,Denkmal für die Gefallenen im Afrikakrieg“ (1859–1860) errichtet. Auch wenn die Symbolsprache dieses Denkmals noch nicht ganz mit den Ausdrucksformen der Kriegsdenkmäler nach dem Ersten Weltkrieg übereinstimmte, deutet die Widmung doch auf eine Veränderung in der Gedenkkultur hin, indem nun das Opfer der Vielen inszeniert wurde, nicht die Heldentaten von Einzelnen.8 Die Erinnerung an die Erhebung gegen die napoleonische Invasion am 2. Mai 1808 entwickelte sich schnell zu einem jährlichen Gedenktag. Zuerst wurde er nur vom liberalen Parlament, das in Cádiz belagert wurde, begangen. Später aber, nach dem Ende der französischen Okkupation, breitete er sich über ganz Spanien aus und gelangte in Madrid zu besonderer Popularität. Anfangs gedachte man der ,,Märtyrer von Madrid“, d.h. der Gefallenen und hingerichteten Anführer des Volksaufstandes, deren Opfer religiös interpretiert wurde. Dabei diskutierte man von Anfang an im Parlament, ob es sich eher um eine Trauerfeier oder um ein Freudenfest handeln sollte. Die Frage, ob eher der religiöse oder der zivile Charakter des Gedenkens maßgeblich sei, bestimmte die Diskussionen für den Rest des Jahrhunderts. Obwohl der 2. Mai als Nationalfeiertag von liberaler Seite begründet worden war und an einen ,,Unabhängigkeitskrieg“ erinnerte, entwickelte er sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Mythos, den auch andere politische Richtungen für sich vereinnahmten. Die Liberalen betrachteten den Volksaufstand als Beginn der nationalen Souveränität, die Konservativen hingegen feierten den Krieg als Verteidigung der ererbten Traditionen des spanischen Volkes.9 Als Gegenkonzept zu den Feierlichkeiten zum ,,liberalen“ 2. Mai begründeten die Karlisten am Ende des 19. Jahrhunderts als eigenen Gedenktag, die ,,Feier für die Märtyrer der Tradition“ (Fiesta de los Mártires de la Tradición), erstmals begangen am 10. März 1896. Gegen Ende des Jahrhunderts hatten sie sich zu einer parlamentarischen Kraft mit einigem Erfolg entwickelt, oppositionell, ultra-konservativ und traditionalistisch. Die Karlistenkriege, auf die hier Bezug genommen wurde, hatten zahlreiche Opfer gefordert.10 re Male verändert. Aus diesem Grund konnte es erst 1840 eingeweiht werden, vgl. Hirotaka Tateishi, El Obelisco del Dos de Mayo y la conciencia nacional. Alcance y límite de la Revolución liberal en España, in: Alberto Gil Novales (Hg.), La revolución liberal, Madrid 2001, S. 443–455. Abb.: http://www.memoriademadrid.es/ buscador.php?accion=VerFicha&id=1318&num_id=2&num_total=4. 8 Abb.: http://www.ceutaturistica.com/monumentos/monolitoplazafrica.html. 9 José Álvarez Junco, Mater dolorosa. La idea de España en el siglo XIX, Madrid 2001, S. 144f. und S. 183. 10 Jordi Canal, Fiestas, calendarios e identidad carlista. La festividad de los Mártires de la

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Nach dem spanisch-amerikanischen Krieg auf Kuba (1898) errichtete man dem Soldaten Eloy Gonzalo Garcia 1902 in Spanien ein Denkmal. Auch wenn es genau diesen Soldaten erinnerte, gilt es doch als Vorläufer für das Denkmal eines unbekannten Soldaten.11 Die Statue und die Gedenkpraxis, die mit dem Denkmal verbunden waren, zielten darauf ab, den dargestellten Soldaten seiner individuellen Persönlichkeit zu berauben, um ein abstraktes Opfertum inszenieren zu können. Zwar war Gonzalo ein schlechter Soldat gewesen, weshalb seine militärische Karriere verschwiegen werden musste. Doch stellte man seinen Einsatz im Krieg als Opfer dar. Spanien benötigte gerade nach der katastrophalen Niederlage, die als nationales Desaster empfunden wurde, eine positive Deutung. Gonzalo wurde dann zum Prototyp eines populären Patriotismus.12 Das Gefallenengedenken im 19. Jahrhundert war ein Feld der Deutungskonkurrenz zwischen Konservativen und Liberalen. Je nach der politischen Lage dominierten im 19. Jahrhundert entweder die Konservativen oder die Liberalen die öffentliche Debatte, und damit auch das Totengedenken. Die Liberalen traten dabei für eine überwiegend zivile Gedenkkultur ein, in der das Opfer des toten Soldaten als nationales Opfer zur Verteidigung der Idee der allgemeinen nationalen Souveränität erinnert wurde. Die konservative Deutung des soldatischen Opfers war im Gegensatz dazu weit religiöser geprägt, denn sie verband die spanische Nation, d.h. die Monarchie, mit dem katholischen Glauben. Säkulare, zivile Elemente fehlten in dieser Gedenkkultur fast vollständig. Der konservative Entwurf betonte in erster Linie die territoriale Einheit Spaniens und die Wesensgleichheit des Landes mit dem Katholizismus. Denn der Katholizismus diente als wichtigste Legitimationsquelle für die Monarchie und die Nation. Damit wurde die Nation hauptsächlich durch die Verteidigung des Glaubens und der territorialen Einheit legitimiert. Die Soldaten wurden als Märtyrer beschrieben, die für die Verteidigung der ,,Dreifaltigkeit“ von Gott, Vaterland und König gestorben waren. Gegen Ende des Jahrhunderts gewann das Thema der territorialen Einheit zunehmend an Bedeutung, denn es galt, auf die Herausforderungen des katalanischen und baskischen Nationalismus zu reagieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte Spanien einen Krieg im neuen Protektorat Marokko, der enorme Opfer forderte.13 Diese Erfahrung beeinflusste

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Tradición, in: Bulletin D’Histoire Contemporaine de l’Espagne 30–31 (1999), S. 87–101; Pedro Rújula, Conmemorar la muerte, recordar la historia. La Fiesta de los Mártires de la Tradición, in: Ayer 51 (2003), S. 67–85. Vgl. Carlos Serrano, El nacimiento de Carmen. Símbolos, mitos y nación, Madrid 1999, S. 218. Ebd., S. 217–222. Bereits seit dem 15. Jahrhundert war Spanien in Nordmarokko präsent. Die Spanier hielten sich seit dem beständig in Melilla und Ceuta sowie einigen anderen unbewohnten Gebieten auf. Auch wenn das Ziel Afrika in dem bereits genannten Afrikakrieg von 1859 bis 1860 angesprochen wurde, so entstand die Idee eine richtige Kolonie zu errichten erst zu

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das spanische Militär maßgeblich und führte zur Entwicklung eines neuen soldatischen Bildes und zur Ausbildung eines neuen Verständnisses von Opfer und Tod. General José Millán-Astray (1879–1954), dem ersten Befehlshaber der spanischen Fremdenlegion, kam dabei eine herausragende Rolle zu. Er entwickelte ein neues Ideal des patriotischen, uneigennützigen Soldaten, der alles für sein Vaterland opferte. Der Tod auf dem Schlachtfeld wurde hierbei besonders herausgestellt, er sollte einen besonderen Kampfgeist befördern. Das Selbstbild von Millán-Astrays Soldaten sollte das von Kreuzfahrern und Märtyrern sein; Todes- und Gewaltbegeisterung waren ein zentraler Bestandteil dieses Wertesystems. Eindrücklicher Beleg hierfür waren der Schlachtruf der Legion ,,Viva la muerte“ (Es lebe der Tod) sowie die inoffizielle Hymne der Legion ,,El novio de la muerte“ (Bräutigam des Todes). In den 1920er Jahren zeichnete sich die Fremdenlegion besonders durch die Brutalisierung des militärischen Lebens und die Entmenschlichung des religiös definierten Feindes aus. Damit korrespondierte die Vorstellung, dass der Soldat durch das Opfer für das Vaterland erlöst würde. Dieser geistige Habitus, der in seinen Grundzügen während des Krieges in Nordmarokko entstanden war, kehrte mit der militärischen Führung nach Spanien zurück und bestimmte die Ausbildungsphilosophie der Militärakademie der nächsten Jahrzehnte. Damit beeinflusste diese Gesinnung zweifellos auch die Haltung von Francos Streitkräften im Bürgerkrieg.14

Die Franco-Diktatur Das Franco-Regime begründete seine Legitimation durch einen Sieg in einem brutalen ,,Kreuzzug“ gegen den ,,roten“ Feind. Die politische Strategie des neuen Regimes nutzte den Sieg und die Opfer im Bürgerkrieg kontinuierlich als zentrale Legitimationsquelle. Der sich permanent wiederholende Erinnerungsbezug an die ,,Gefallenen“ dieses Krieges stand dabei im Mittelpunkt. Das Regime hob hervor, dass ,,die elementaren Strukturen des kollektiven Gedächtnisses im Totengedenken gründen“ und zeigte somit ein bemerkenswertes Bewusstsein für den politischen Wert von Erinnerung.15 Glorifizierungen der ca. 55.000 fran-

14 15

Beginn des 20. Jahrhunderts. Die spanische Expansion nach Nordafrika sollte das spanische Selbstbewusstsein als Kolonialmacht wieder aufbauen, das durch die Niederlage im spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 und den folgenden Verlust der letzten Reste des Kolonialreiches, gelitten hatte. 1912 wurde das spanische Protektorat in Marokko durch ein Zugeständnis der Franzosen errichtet. Vgl. Geoffrey Jensen, Irrational Triumph. Cultural Despair, Military Nationalism and the Ideological Origins of Franco’s Spain, Reno 2002, S. 140–155. Enzo Traverso zitiert nach José Luis Ledesma/Javier Rodrigo, Vittime della guerra civile e commemorazione nella Spagna postbellica, 1939–2005, in: Memoria e Ricerca 21 (2006), S. 37.

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quistischen Gefallenen wurden zum Kern der spanischen Gedenkkultur. Die Gefallenen stattete man mit dem gesamten Repertoire moralischer Werte des ,,Neuen Spanien“ aus und rechtfertigte den Aufstand vom Juli 1936 ex post. Dies bedeutet nicht, dass die Frage des Gedenkens an die Toten des Regimes ohne Konflikte gewesen wäre. Die franquistische Seite bestand im Krieg aus einer Koalition verschiedener Kräfte, welche alle eigene politische Ziele hatten. Der Hauptkonflikt bestand zwischen den Falangisten auf der einen Seite, welche das Totengedenken national interpretierten, und den katholischen Traditionalisten auf der anderen Seite, welche es religiös gestalten wollten. Für Erstere waren die toten Soldaten und Zivilisten ,,Gefallene“, wohingegen sie für die Letzteren ,,Märtyrer“ eines explizit so genannten Kreuzzuges waren. Während des Bürgerkriegs und besonders seit den späten 1930er Jahren, begünstigt durch die internationale politische Konstellation, konnten die Falangisten ihre relative Macht innerhalb des Regimes ausbauen, deshalb dominierten sie auch die Ausgestaltung des Totengedenkens. Das franquistische Regime bemühte sich dabei jedoch, die Interessen der verschiedenen Teile der Koalition auszubalancieren. Der Ausdruck ,,Gefallen für Gott und für Spanien“ (,,Caídos por Dios y por España“) war ein typischer Versuch, die sich widerstreitenden Konzepte zu verbinden: Die Toten wurden als ,,Gefallene“ bezeichnet, was zwar eine falangistische Terminologie war, trotzdem wurden die religiösen Werte – ,,gefallen für Gott“ – vor die nationalen Werte – für Spanien“ – gestellt.16 Die eigenen Gefallenen und die Beschwörung ihres Opfers spielten somit eine bedeutende Rolle für die Legitimation der neuen Ordnung. Zugleich wurden aber die ,,anderen“ Toten, d.h. die Opfer auf republikanischer Seite, hartnäckig verschwiegen. Der Begriff ,,Gefallene“ war zu Beginn nicht eindeutig festgelegt. Ursprünglich bezeichnete er nur die toten Soldaten, aber im Laufe der Jahre wurden die toten Soldaten und die ermordeten Zivilisten gleichermaßen darunter verstanden. Deshalb schloss die Formel ,,Gefallen für Gott und Spanien“ (,,Caídos por Dios y por España“) im franquistischen Spanien schließlich beide Personengruppen ein. Diese Erweiterung des Begriffs ,,Gefallene“ vollzogen nicht nur die Franquisten, sondern auch die republikanische Seite. Das franquistische Regime schloss jedoch die Verlierer aus der Erinnerung aus, eine republikanische Gedenktradition existierte unter Franco nicht einmal in Ansätzen.17

16

17

Für eine interessante Darstellung des Konfliktes zwischen den Falangisten und den Traditionalisten hinsichtlich der Terminologie, die zur Beschreibung der toten Soldaten verwendet wurde (,,Gefallene“ oder ,,Märtyrer“) siehe Zira Box, Rituales funerarios. Culto a los caídos y política en la España franquista. A propósito de los traslados de José Antonio Primo de Rivera 1939–1959, in: Jesús Casquete/Rafael Cruz (Hg.), Políticas de la Muerte. Usos y abusos del ritual fúnebre en la Europa del siglo XX, Madrid 2009, S. 265–295. Vgl. Ledesma/Rodrigo, Vittime della guerra civile e commemorazione nella Spagna postbellica, S. 38ff.

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Das Franco-Regime gründete seine Legitimität auf einer Verstetigung der Bürgerkriegskultur, wie sie Ucelay-Da Cal beschrieben hat, es gab schlicht keine Öffentlichkeit für die Verlierer und keine Erinnerungsmöglichkeiten für ihre Gefallenen. Bezogen auf die nationalen Leitbilder knüpfte das Franco-Regime an die konservativ-katholische Deutung der spanischen Nation an, welches die territoriale Einheit des Landes und die Wesensgleichheit Spaniens mit dem Katholizismus betont hatte. In diesem Nationsentwurf existierte kein Widerspruch zwischen der Nation und dem katholischen Glauben. Die Verbindung dieser beiden Konzepte beeinflusste die Gedenkkultur des ,,neuen Spaniens“ entscheidend. Das spiegelte sich bereits in der Bezeichnung für die gefallenen Soldaten: ,,Gefallen für Gott und Spanien“. Religiöse Wertvorstellungen standen im Mittelpunkt, sie wurden indes nicht als Konkurrenz zur Nation und ihren Werten wahrgenommen. Gott und Vaterland wurden tendenziell gleichgesetzt. Die toten Soldaten waren religiöse Märtyrer im Sinne des Katholizismus und damit gleichzeitig auch Märtyrer der Nation. Das offizielle Bild und die Erinnerung an den Bürgerkrieg wurden über die Presse, den staatlichen Radiosender, das Fernsehen und durch das Bildungssystem vermittelt. Die verschiedenen ,,Erinnerungsorte“ des Totengedenkens waren wichtige Vehikel, um die Menschen in das neue Staatswesen zu integrieren. Vor allem Gedächtnisfeiern und Denkmäler, deren Anzahl stetig wuchs, sind zu nennen, aber auch die Änderung von Straßennamen wurde von Anfang an dazu genutzt, um die Toten zu ehren. Die Erinnerungspolitik und jedes damit verbundene Ritual zielten auf Vereinheitlichung und Ritualisierung.

Denkmäler Schon gleich nach Beginn der Diktatur wurde entschieden, die Denkmäler einheitlich zu gestalten. Sie sollten die gegenseitige Durchdringung von Nation und katholischer Religion symbolisieren, andere Wertbezüge sollten nicht sichtbar sein. Schon während der letzten Kriegsphase wurde befohlen, in Kirchen Denkmäler oder Gedenktafeln mit den Namen der ,,nationalen Gefallenen“ (,,caidos nacionales“) dieser Gemeinde zu errichten. Das geschah gegen den Widerstand des Vatikans sowie von Erzbischof und Kardinal Pedro Segura y Sáenz, der zwar nationalistisch eingestellt, aber kein Anhänger Francos war. Wie bereits erläutert erinnerten die Denkmäler beim Verweis auf ,,Gefallene“ sowohl an Soldaten wie auch an Zivilisten. Der Gründer der Falange, José Antonio Primo de Rivera, wurde auf diesen Listen stets als erster genannt, was die schnelle Dominanz der Falangisten bei der Prägung der Terminologie für die Bezeichnung der Toten besonders verdeutlicht. Die Bauprojekte wurden von verschiedenen Verwaltungsstellen auf Provinz- sowie auch Regierungsebene geprüft und kontrolliert, unter anderem

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Abbildung 1: Typisches Gemeindedenkmal (Caspe, Provinz Saragossa) (Foto: José Luis Ledesma).

von der 1938 gegründeten Kommission zur Gestaltung der Gedenkkultur des Vaterlandes (,,Comisión de Estilo de las Conmemoraciones de la Patria“). Die meisten Denkmäler waren keine staatlichen Projekte, fast alle wurden finanziert von den Gemeinden, von Familien der Opfer, von Privatpersonen. Der staatliche Anteil beschränkte sich darauf, den Bau der Denkmäler freizugeben und zu überwachen. Die Denkmäler zeichneten sich vor allem durch ihren schlichten Stil sowie ihre Einheitlichkeit aus. Das Kreuz wurde zum wichtigsten Symbol, nichtchristliche Symbole wie Obelisken oder Pyramiden vermied man.18 Damit blieben die Ikonographie und die architektonischen Formen eng in die Ideologie Francos gebunden.19 18

19

Das Denkmal für die Helden des 2. Mai von Madrid stellt ein gutes Beispiel für den ,,heidnischen“ Architekturstil dar. Es besteht aus einem großen Obelisken, der auf einem Sockel steht. Der Obelisk wird von vier allegorischen Figuren umringt, die Standhaftigkeit, Mut, Tapferkeit und Vaterlandsliebe verkörpern. Des Weiteren gibt es einen Sarkophag, der die Asche der Helden enthält. Siehe Francisco Blanco, Los elementos de referencia interna de la F.E.T. y de las J.O.N.S. Nombres y símbolos, in: Rastro de la Historia 10 (ohne Datum). Online abrufbar unter http://www.rumbos.net/rastroria/rastroria10/FET_Elementos.htm (21.10.2007) und Ledes-

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Das größte und in mancher Hinsicht typischste Denkmal für den Bürgerkrieg, war das ,,Tal der Gefallenen“ (,,Santa Cruz del Valle de los Caídos“), es war von Franco selbst geplant und zwischen 1940 und 1959 errichtet worden. Das pharaonenhafte Mausoleum, fünfzig Kilometer westlich von Madrid, war nur für die sterblichen Überreste der Gefallenen der eigenen Seite konzipiert. Dadurch entsprach es vollkommen dem Typ des Bürgerkriegsdenkmals, das Reinhart Koselleck folgendermaßen beschrieben hat: ,,Sie feiern vorzüglich den Sieg einer Partei, die Partei der Sieger, während die Toten der Gegenseite ins Unrecht gerückt werden.“20 Von staatlicher Seite wurde die Suche nach Personen in ganz Spanien, die von den ,,Roten“ getötet worden waren, gefördert und gesetzlich geregelt. Diese Suche wurde äußerst intensiv und mit großem Aufwand betrieben. Vielfach wurden Massengräber geöffnet, um die Toten zu identifizieren. Viele von ihnen fanden sodann im ,,Tal der Gefallenen“ ihre letzte Ruhestätte.21 Das Dekret, das den Bau einleitete, wurde am ersten Jahrestag des Sieges, dem 1. April 1940, veröffentlicht. Es erklärte, dass ein so transzendentales und ehrenvolles Ereignis wie der Bürgerkrieg nicht durch kleine und einfache Denkmäler wachgerufen werden könne, sondern nur durch einen herausragenden Ort, der ,,der Zeit und dem Vergessen trotzt“ um ,,unserer Toten [ …], den Helden und Märtyrern des Kreuzzugs“ zu gedenken.22 Der direkte Bezug zur Überhöhung des Todes und des Opfers, die auf den spanisch-marokkanischen Krieg von 1920 zurückgeht, ist klar erkennbar. Ziel des Denkmals war es, die Erinnerung an den Sieg und an die eigenen Gefallenen zu verewigen. Als das Denkmal 1959 eingeweiht wurde, war die Siegesrhetorik des Franco-Regimes jedoch bereits verblasst. Deshalb versuchte man, dem Denkmal eine versöhnlichere Bedeutung zu geben und begrub auch einige gefallene Soldaten der Republikaner.23 Indes distanzierte sich das Franco-Regime nicht von der Siegesrhetorik, um eine tatsächliche Versöhnung zu ermöglichen. Die einzigen Opfer, die das Regime wahrnahm, waren nach wie vor die eigenen Toten.24 Alle anderen Gefallenen wurden überhaupt

20 21

22

23 24

ma/Rodrigo, Vittime della guerra civile e commemorazione nella Spagna postbellica, S. 39–41. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Ders./Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 16. Siehe Ledesma/Rodrigo, Vittime della guerra civile e commemorazione nella Spagna postbellica, S. 38f.; siehe http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Valle_de_los_ caidos_by_forcy-cruz_y_basilica.jpg. Dekret vom 1. April 1940, zitiert nach: Paloma Aguilar Fernández, Los lugares de la memoria de la guerra civil. El Valle de los Caídos. La ambigüedad calculada, in: Javier Tusell u. a. (Hg.), El régimen de Franco (1936–1975). Política y relaciones exteriores, Madrid 1993, S. 488. Siehe Paloma Aguilar Fernández, Memoria y olvido de la Guerra Civil española, Madrid 1996, S. 283f. Diese Doppeldeutigkeit kommt klar zum Ausdruck in einer der Reden vom Januar 1963 von

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nicht als solche aufgefasst. Damit wurden auch Trauer, Gedenken und ein angemessener Umgang mit diesen Toten untersagt und letztlich für illegal erklärt. Der Versuch, alle Gefallenen unter einer Nationsvorstellung zu fassen, war unaufrichtig, denn schließlich war die franquistische national-katholische Idee einer spanischen Nation eng mit dem Sieg im Bürgerkrieg verbunden und damit mit dem Gedenken an die Gefallenen auf der franquistischen Seite. Die logische Folge war die völlige Negierung eines anderen Nationsentwurfs sowie der Vorwurf an dessen Anhänger, ,,Anti-Spanier“ zu sein.

Gedenktage Die Gedenktage in Francos Spanien bezogen sich in vielfältiger Weise auf den Bürgerkrieg: Am 18. Juli feierte man den Kriegsbeginn, am 1. April das Kriegsende, am 1. Oktober den ,,Tag des Caudillo“ (Wahl Francos zum Führer der Nationalisten 1936), am 29. Oktober den ,,Tag der Gefallenen“ und zugleich die Gründung der Falange 1933, und am 20. November schließlich beging man den ,,Tag der offiziellen Trauer“ und erinnerte dabei gleichzeitig an den Todestag José Antonio Primo de Riveras. Alle waren im Franco-Regime vollgültige Feiertage, wohingegen der obengenannte karlistische Feiertag (,,Feier für die Märtyrer der Tradition“) nicht die gleiche Aufmerksamkeit fand: Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Falangisten das Totengedenken dominierten. Es handelte sich hierbei jeweils um nationale Gedenktage, doch gab es ergänzend in den Gemeinden weitere Feierlichkeiten zum Totengedenken von Toten aus der Gemeinde. Letztlich hatten aber nur der 29. Oktober und der 20. November einen direkten Bezug zu den ,,Gefallenen“. 1941 entschied José Luis de Arrese, Generalsekretär der Falangepartei, diese Doppelung aufzuheben. Seitdem feierte man am 29. Oktober nur noch die Gründung der Falangepartei, die Trauer um die ,,Gefallenen“ wurde auf den 20. November konzentriert.25 So übernahm der 20. November die Funktion eines offiziellen ,,Tages der Gefallenen“. Ganz im Gegensatz zu den Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Bürgerkrieg zeichnete sich der 20. November durch allgemeine Trauer aus. Trotzdem beging das Regime diesen Gedenktag in den ersten Jahren mit den größtmöglichen Feierlichkeiten. José Antonio de Rivera war am 20. November 1936, zu Beginn des Bürgerkriegs, in der republikanischen Zone im Gefängnis von Alicante erschossen

25

Luis Carrero Blanco, enger Mitarbeiter Francos und späterer Premierminister. An einigen Stellen nannte er die Gefallenen auf der Seite der Franquisten, an anderer Stelle sprach er von ,,allen Kriegsgefallenen ohne Unterscheidung.“ zitiert nach: Fernández, Los lugares de la memoria de la guerra civil, S. 491. Blanco, Los elementos de referencia interna de la F.E.T. y de las J.O.N.S.

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worden. Sein Tod wurde jedoch in dem von den Nationalisten beherrschten Gebiet zwei Jahre lang verschwiegen, wodurch er die mythische Bezeichnung ,,der Abwesende“ (,,El Ausente“) erhielt. Nach der Bekanntgabe seines Todes im November 1938 wurde er als Märtyrer verklärt und der 20. November zum ,,Tag der nationalen Trauer“ deklariert.26 1939, nach dem Sieg im Bürgerkrieg, wurde sein Leichnam von Alicante in den Escorial, den Königspalast 50km außerhalb Madrids, getragen. Dieser 500 Kilometer lange Trauermarsch, auf welchem der Leichnam von Falangisten getragen wurde, dauerte über zehn Tage.27 Mit der feierlichen Bestattung in dem Kloster, das auch das Pantheon der spanischen Könige beherbergt, wurde de Rivera in die imperiale und monarchische Geschichte Spaniens integriert. 1940 nahm Franco dann diesen Tag in die Liste der offiziellen Nationalfeiertage auf.28 Die frühen Gedenkveranstaltungen präsentierten die Ideologie José Antonio de Riveras und das Franco-Regime als Einheit. Als sich aber die Niederlage der faschistischen Staaten im Zweiten Weltkrieg abzeichnete, verlor die Falange innerhalb des Franco-Regimes an Ansehen. In der Folge wurden das Gedenken an Rivera und die Verweise zum Faschismus abgeschwächt.29 Die zentralen Gedenkveranstaltungen zum 20. November bestanden meist aus zwei Teilen. In der Nacht vom 19. auf den 20. November marschierten Falangisten in einer Prozession von Madrid zum Escorial. Sie trugen einen Lorbeerkranz, der an die feierliche Überführung Riveras im Jahr 1939 erinnerte. Morgens wurde eine Messe in Erinnerung an den Falangegründer und an die Gefallenen zelebriert. Franco legte währenddessen einen Lorbeerkranz auf dem Grab nieder.30 Neben diesen zentralen Gedenkveranstaltungen fanden Gedenkgottesdienste und andere liturgische Zeremonien religiösen und politischen Inhalts in den Kirchen im ganzen Land statt. Das kontinuierliche Verblassen der Falange und ihres Gründers in der Gedenkkultur setzte sich während der folgenden Jahre fort. 1959, als das Denkmal 26 27

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Dekret vom 16. November 1938, Boletín Oficial del Estado (im folgenden BOE), 17. November 1938. Diese feierliche Prozession ist in: ,,¡Presente! En el enterramiento de José Antonio Primo de Rivera“ beschrieben. Zur Auseinandersetzung mit diesem frühen Propagandaereignis des Franco-Regimes, siehe: Rafael Tranche/Vicente Sánchez-Biosca, No-Do. El tiempo y la memoria, Madrid 2000, S. 353–361. Anordnung vom 9. März 1940 ,,Fija el calendario de fiestas“, BOE Nr. 73/1940, S. 1767. Für eine Übersicht über die Darstellung des Gedenktages in der obligatorischen Kinowochenschau (Noticiarios y Documentales auch No-Do genannt) und seine Entwicklung siehe: Tranche/Sánchez-Biosca, No-Do, S. 347–372; Box, Rituales funerarios. Zur Beschreibung der Gedenktagsfeierlichkeiten unter Franco siehe: Franco preside los funerales por José Antonio, in: El Alcázar, 20.11.1965, S. 8; Funerales en la basílica del Valle de los Caídos, en el XXIX aniversario de la muerte de José Antonio, in: ABC 21.11.1965, S. 75f. sowie Franco preside los funerales por José Antonio en el Valle de los Caídos, in: Ya 21.11.1965, S. 8.

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im ,,Tal der Gefallenen“ eingeweiht wurde, war die Erinnerung an den Tod Riveras bedeutungslos geworden. Zwar war Rivera lange Zeit mit dem Mausoleum im ,,Tal der Gefallenen“ assoziiert worden, so dass man ihn jetzt erneut umbettete und damit seiner letzten Ruhestätte vor dem Hauptaltar zuführte. Doch verkörperte dieser Akt nun paradoxerweise eine symbolische Degradierung des Falangegründers, der vorher mit dem spanischen Kolonialreich und der Monarchie verbunden gewesen war, nun jedoch nur noch ,,als erster der Gefallenen“ wahrgenommen wurde. Hinzu kam, dass der Transport und die Umbettung Riveras nicht Teil der feierlichen Einweihungszeremonie am 1. April 1959 waren, wie es die Falangisten gehofft hatten. Rivera war bereits während einer kleinen Feier am Tag zuvor dorthin überführt worden.31 Die 1960er Jahre zeichneten sich dann durch einen weiteren Bedeutungsverlust dieses Gedenktages aus, der zum Teil nicht einmal mehr in den Medien genannt wurde. Zum Ende des Franco-Regimes hatte das Gedenken an Rivera seine Bedeutung fast vollständig verloren und wurde alljährlich eher mechanisch wiederholt. Die Erinnerungsrituale, die mit José Antonio de Rivera verbunden sind, zeigen, dass das Franco-Regime keinen Widerspruch darin sah, an die toten Soldaten sowohl mit religiösen Symbolen – etwa in der Präsentation als Märtyrer – als auch als Gefallene der Nation zu erinnern, obwohl dies, wie oben gezeigt wurde, in vielerlei Hinsicht das Resultat eines Kompromisses zwischen den Faschisten und den Katholiken darstellte. Das zeigt, dass das Verständnis von Nation direkt auf die katholisch-konservative Nationsidee des 19. Jahrhunderts zurückgriff, welche die territoriale Einheit Spaniens und die Wesensgleichheit der spanischen Nation und des Katholizismus propagiert hatte. Natürlich spielte die Stellung des Monarchen in der nationalen Vorstellungswelt Francos eine nebensächliche Rolle, da er seine Macht nicht mit einem König zu teilen gedachte. Die Soldaten wurden als Märtyrer betrachtet, die zur Verteidigung ihres Glaubens und für die Einheit und Unabhängigkeit ihres Vaterlandes und der althergebrachten Ordnung der spanischen Gesellschaft ihr Leben gegeben hatten.

Von der Diktatur zur Demokratie: gefallene Soldaten nach 1975 Der Übergang zur Demokratie, der nach Francos Tod Ende 1975 begann, vollzog sich ohne eruptiven Bruch. Die Etablierung der Demokratie lässt sich eher als gleichmäßiger, geradliniger und vergleichsweise schneller Reformprozess beschreiben, der sich besonders durch die einmütige Zusammenarbeit der beteiligten Parteien auszeichnete. Die langersehnte Versöhnung der spanischen 31

Siehe Daniel Sueiro, La verdadera historia del Valle de los Caídos, Madrid 1976.

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Gesellschaft musste herbeigeführt sowie Konsenslösungen für das neue demokratische System gefunden werden, ohne dass dies zu revolutionären Umbrüchen führte. Das ist deswegen von Bedeutung, weil es die Anpassung der Erinnerungskultur im neuen Spanien direkt beeinflusste. 1975 markiert damit auch einen Wendepunkt in der Geschichte des Gefallenengedenkens. Es mussten sowohl neue Gedenk- und Feiertage etabliert, als auch andere Ausdrucksweisen geschaffen werden. Dabei durften aber die früheren Rituale nicht abrupt oder übereilt verändert werden. Die franquistischen Gedenktage und Orte blieben bis zur staatsrechtlichen Begründung der spanischen Demokratie 1977 zunächst bestehen.32 Die neue Regierung nahm allerdings niemals offiziell an Feiertagen teil, die direkt mit der Franco-Diktatur und den Gefallenen des Bürgerkrieges in Verbindung standen. Von Regierungsseite aus hat es nie eine offizielle Stellungnahme zur offensichtlichen Änderung in der Gedenkkultur gegeben.33 Viele der Feiertage hatten schon vor 1975 an Bedeutung verloren. Das war den allmählichen Veränderungen im Ringen um die Legitimation der Diktatur geschuldet, die sich ändernden Feierlichkeiten des 20. November stehen paradigmatisch dafür. Das Schleifen von Denkmälern, die Umbenennung von Straßennamen sowie die Abschaffung anderer Symbole der Diktatur wurden von keiner zentralen Stelle rechtlich geregelt. Das heißt aber nicht, dass keine Änderungen erfolgten, doch oblagen diese Entscheidungen den Gemeinden und Provinzen, sie wurden also dezentral entschieden. Viele Denkmäler und Gedenkzeichen wurden dabei verändert oder zerstört, besonders nach den ersten Munizipalwahlen, aus denen die Linke als Sieger hervorgegangen war. Unter ihrem ersten demokratisch gewählten Bürgermeister, dem Sozialisten Enrique Tierno Galván, führte die Stadt Madrid alle alten Straßennamen wieder ein, die nach 1939 geändert worden waren.34 In zahlreichen anderen Städten nahm man jedoch keine Korrekturen vor. 32

33

34

Am 13. Juli 1977 wurde bereits eine erste Anordnung über zivile Feiertage veröffentlicht. Dieses Vorgehen beweist, dass sich die demokratische Regierung der Bedeutung dieses Themas bewusst war. Der Beschluss sah vor, dass der 18. Juli für das laufende Jahr ein arbeitsfreier Tag bleiben sollte. 1978 wurde er bereits abgeschafft. Königlicher Beschluss 1728/1977, 11. Juli ,,sobre fiestas civiles“, BOE Nr. 166/1977, S. 15724. Die Zeitung El País veröffentlichte am 18. Juli 1976 einen kurzen Artikel auf der ersten Seite, in der nicht ohne Genugtuung festgestellt wurde, dass es ,,keine offizielle Veranstaltung nationalen Charakters in Erinnerung an den 18. Juli, d.h. den Beginn des Bürgerkriegs“ gegeben habe. Der Jahrestag, das Gedenken an ihn sowie das Verschwinden dieses Gedenktages wurden auch in den Zeichnungen von Máximo in der gleichen Tageszeitung von den Jahren 1976 bis 1978 kommentiert. Siehe No se anuncian actos oficiales para el 18 de julio, in: El País, 18.07.1976, S. 1. Auch in der Zweiten Republik waren viele Straßennamen geändert worden. Um einen Überblick über die Änderungen während der Zweiten Republik und des Franco-Regimes zu erhalten sowie zu den politischen Beweggründen, siehe Serrano, El nacimiento de Carmen, S. 173–182.

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So blieben z. B. die Straßennamen, die an die ,,Märtyrer des Kreuzzugs“ erinnerten, erhalten. Auch die Denkmäler und Gedenktafeln, die ausschließlich an die franquistischen Gefallenen erinnerten, blieben an vielen Orten unangetastet. Selbst das Mausoleum im ,,Tal der Gefallenen“, wie erwähnt das zentrale Projekt der franquistischen Erinnerungspropaganda, blieb unverändert. Es ist evident, dass weder die genannten Feiertage noch die Gedenkorte für die gefallenen Soldaten den Anforderungen einer demokratischen Erinnerungskultur genügten. Doch die neue demokratische Führung bewies politische Klugheit im Umgang mit den Symbolen und Ritualen der Franco-Diktatur und weihte in den ersten zehn Jahren der transición weder neue Denkmäler ein noch verordnete sie neue Gedenktage für die gefallenen Soldaten. Es gibt jedoch auch Ausnahmen in dieser zurückhaltenden Praxis, sie sind besonders auf den Einfluss des Militärs in der jungen Demokratie zurückzuführen. 1978 sorgte der Verteidigungsminister Gutiérrez Mellado, ein General, dafür, dass der 20. November in einen militärischen Feiertag umgewandelt wurde und auf diese Weise zum ,,Tag der Gefallenen für das Vaterland“ (,,Día de los Caídos por la Patria“) wurde.35 Bereits unter Franco war dieses Datum, der Todestag Riveras, auch der offizielle Feiertag für die Gefallenen gewesen. Da auch Franco an diesem Tag gestorben war, diente er alljährlich ultrarechten Fanatikern sowie franquistischen Nostalgikern als Anlass für Versammlungen. Der neue Gedenktag war ausschließlich dem Militär vorbehalten, es wurden keine offiziellen öffentlichen Veranstaltungen durchgeführt und auch der Bürgerkrieg oder gar Franco wurden nicht erwähnt. Die Umwidmung des Gedenktages zu einem Erinnerungstag an die gefallenen Soldaten war ein eindeutiger Versuch, die Aufmerksamkeit der Armee vom Todestag Francos abzulenken, an dem von der Rechten öffentliche Gedenkfeiern abgehalten wurden. Dieses Angebot, seiner eigenen Toten zu gedenken, konnte das Militär nicht ausschlagen. Die Umwidmung des franquistischen Feiertags offenbart dabei, wie eine scheinbare Kontinuität die Möglichkeit eröffnet, grundlegende Veränderungen einzuleiten – in diesem Fall die Betonung von Aspekten der Versöhnung, die unter Franco nicht existent gewesen war. Aber bereits 1983 wurde der Tag ganz abgeschafft, angeblich, weil sich hohe Militärs erstaunt darüber gezeigt hatten, dass der Jahrestag von Francos Tod mit dem Totengedenken zusammenfiele.36 Der 20. November war anfangs deshalb gewählt worden, weil dieser Tag an zwei Ereignisse erinnerte: Die Gefallenen des Vaterlandes sollten geehrt und an den Todestag Francos erinnert werden. Durch die Beschränkung 35

36

Siehe z. B. Celebración militar del Día de los Caídos, in: El País, 21.11.1979; Las Fuerzas Armadas conmemoran hoy el Día de los Caídos, in: El País, 20.11.1980; Día de los Caídos por la Patria, in: Ya, 20.11.1981, S. 9. C.Y., Las Fuerzas Armadas no celebrarán el Día de los Caídos el 20-N, in: El País, 22.11.1983.

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auf einen Feiertag für das Militär sollte dabei die Erinnerung an die Gedenkkultur in der Diktatur und den Tod Francos zurückgedrängt werden. Gerade auf Grund der Koinzidenz der Gedenkmöglichkeiten an diesem Tag war er bereits fünf Jahre nach seiner Einführung als militärischer Gedenktag für ,,die Gefallenen des Vaterlandes“ in der jungen spanischen Demokratie untragbar geworden. Als Gedenktag des Militärs im demokratischen Spanien hatte der Tag jedoch dazu beigetragen, eine neue, demokratische Gedächtnistradition zu schaffen. Eine ähnliche Umwidmung geschah auch mit der Siegesparade. An diesem Datum wurde seit 1977 nun der Tag der Streitkräfte begangen.37 Die demokratische Legitimierung dieses Feiertages ermöglichte es dem Militär nach wie vor, alljährlich eine große Parade durchzuführen. Die neue politische Führung erinnerte dabei an den Beginn des Bürgerkriegs, der ebenfalls mit einem Militärputsch begonnen hatte. Die Furcht vor einem Rückfall in einen erneuten Bürgerkrieg war eine der zentralen Antriebskräfte für die vorsichtige Durchführung des Übergangs, und die Einbindung der Streitkräfte in das neue Regime eine der drängendsten Aufgaben der neuen demokratischen Regierung. Der franquistische Gedenktag an den Sieg im Bürgerkrieg wurde unter denselben Vorzeichen modifiziert. Die Feierlichkeiten waren bereits 1958 auf ein anderes Datum verlegt worden. Zwar unterschieden sich die Feiern zum neuen ,,Tag der Streitkräfte“ seit Ende der 1970er Jahre kaum von der Siegesparade zu Zeiten der Diktatur. Dennoch trug die Umbenennung des Tages selbst bereits eine hohe symbolische Bedeutung. Sie verwandelte den franquistischen Gedenktag, der den Sieg im Bürgerkrieg gefeiert und damit dem Versöhnungsanspruch der transición widersprochen hatte, in eine Vereinigung von Militär und Nation. Die Neugestaltung des Gedenktages symbolisierte die Umkehrung der Beziehung zwischen Armee und Nation: Unter Franco hatte das Militär durch den Sieg im Krieg das Recht erhalten, die Nation zu gestalten und zu leiten; in der Demokratie war es die Nation, die die Handlungen der Streitkräfte bestimmte.38 Eine zentrale Aufgabe dieser neu gestalteten Feierlichkeiten lag in der Repräsentation des gesamten Spanien. Diesem Anspruch diente auch die Praxis, die militärischen Feierlichkeiten alljährlich in einer anderen Region abzuhalten. Neben der Parade selbst bestand die Feier aus einer Verehrung der National37

38

Königliche Anordnung 1135/1977, 27. Mai ,,sobre indulto a personal de las Fuerzas Armadas“, BOE Nr. 127/1977, S. 11814 und Königliche Verordnung 996/1978, 12. Mai, ,,por el que se establece el ,Día de las Fuerzas Armadas‘“, BOE Nr. 114/1978, S. 11418. Einen Überblick über die Wandlung der Beziehungen zwischen Militär und spanischer Gesellschaft sowie deren symbolische Darstellung am Tag der Streitkräfte geben die Leitartikel in El País: Un ejército para la democracia, 28.05.1978; Las Fuerzas Armadas, 31.05.1981; Las Fuerzas Armadas y la democracia, 27.05.1984; Evolución militar, 02.06.1993; El desfile, 26.05.2000.

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fahne, die ein stilles Gebet für ,,unsere Toten“ einschloss. Die heikle Frage, welche Soldaten dazu gehörten und welche herausfielen, wurde indes niemals diskutiert.

Festigung der Demokratie und die Etablierung neuer Gedenktage und Symbole Als sich die Demokratie in der Mitte der 1980er Jahre gefestigt hatte, begann auch eine Erneuerung der öffentlichen Symbole und Rituale. Zwischen 1985 und 1987 wurden viele Denkmäler modifiziert, Gedenktage umbenannt und eine neue Symbolik geschaffen. Diese Entwicklung begann mit der Errichtung des Denkmals für die Gefallenen von Spanien auf dem zentralen hauptstädtischen Platz, der Plaza de la Lealtad. König Juan Carlos weihte das Denkmal zu seinem zehnjährigen Thronjubiläum am 22. November 1985 ein. Es wurde in das bereits vorhandene Monument für die Helden des 2. Mai von 1808 eingepasst. Auch wenn es nicht explizit formuliert wurde, hatte das neue Denkmal die Aufgabe, eine Art Gegengewicht zu den zahlreichen Denkmälern für die Gefallenen im Bürgerkrieg im ganzen Land zu bilden. Weil diese nur an die franquistischen Soldaten erinnerten, benötigte das neue Spanien ein ,,demokratisches“ Denkmal für alle Gefallenen. Insbesondere sollte es auch ein Gegengewicht zu Francos ,,Tal der Gefallenen“ bilden – die Inschrift des neuen Denkmals von 1985 grenzt sich hiervon mit der Inschrift ,,Zu Ehren aller, die ihr Leben für Spanien gaben“ dezidiert ab.39 Im Vergleich zum Mausoleum im ,,Tal der Gefallenen“ war das neue Denkmal schlicht gestaltet und zeichnete sich durch völlig andere Ausdrucksformen aus. Da sich an dieser Stelle bereits ein Denkmal befand, veränderte die Umgestaltung nicht einmal den Gesamteindruck des Platzes. Dem bereits vorhandenen Obelisken wurde die Inschrift hinzugefügt ,,Ehre all jenen, die ihr Leben für Spanien gaben“. Außerdem brennt seitdem vor dem Obelisken in einer bronzenen Amphore eine ewige Flamme. Die semantisch wie politisch entscheidende Veränderung am neuen Denkmal bestand darin, dass die Bezeichnung ,,Gefallene“ durch ,,alle“ (,,todos“) ersetzt wurde. In den meisten anderen Ländern hätte man vermutlich die ,,Gefallenen“ genannt, aber gerade für den spanischen Kontext war die Eliminierung dieser Bezeichnung und die Verwendung des Adjektivs ,,alle“ von entscheidender Bedeutung. Das versöhnende Wort ,,alle“ offenbarte die Distanz zu den anderen Gedenkstätten der FrancoDiktatur. ,,Gefallene“ wurden ausschließlich mit dem Franco-Regime in Verbindung gebracht und waren dadurch für die Gedenkkultur des demokratischen Spaniens unbrauchbar. 39

http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Obelisco_Dos_de_mayo_(Madrid)_01.jpg.

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Während alle Denkmale aus der franquistischen Zeit religiöse Bezüge aufwiesen, fehlen christliche Symbole bei den neuen Denkmälern völlig. Trotz der Bemühungen, eine neue Ikonographie der Erinnerung für die Denkmale zu finden, bemühte man sich, nicht direkt auf die Veränderungen hinzuweisen. Die Einweihung fand nur zehn Jahre nach Francos Tod statt, in denen es viele Auseinandersetzungen über die Versöhnung des ,,gespaltenen Spaniens“ gegeben hatte. Angesichts eines Denkmals, das so offensichtlich die beiden gegnerischen Parteien des Bürgerkrieges zusammenbringen sollte, ist es doch bemerkenswert, dass auf diese Integrationsfunktion nicht offen hingewiesen werden konnte. Das aber dürfte es ermöglicht haben, dass während der Einweihung Veteranen sowohl der franquistischen wie auch der republikanischen Seite anwesend waren und damit die versöhnende Botschaft des Denkmals im Ritual zum Ausdruck brachten. Der Bürgerkrieg an sich blieb jedoch während der Feier unerwähnt. Die Debatte nach der Einweihung offenbarte die Spaltung zwischen den Francoanhängern und dem Rest der spanischen Gesellschaft.40 Jeder, der sich zum Denkmal äußerte, hatte seine Mehrdeutigkeiten und die Leerstellen in ihrer Bedeutung erfasst. Sowohl der unausgesprochene Verweis auf den Bürgerkrieg als auch der Hinweis auf das ,,Tal der Gefallenen“ wurden verstanden. Damit hatte sich eine sowohl von den Anhängern wie den Gegnern des Denkmals gleichermaßen verstandene Deutung durchgesetzt: Das Denkmal repräsentierte das Ziel einer inneren Versöhnung der Nation im Gegensatz zur nur scheinbaren Versöhnung im ,,Tal der Gefallenen“. Nach der Schaffung einer nationalen Gedenkstätte für die Gefallenen Spaniens wurde 1987 auch eine Zeremonie zur Totenehrung begründet. Alljährlich wurden seither am 12. Oktober, dem neuen Nationalfeiertag und dem Jahrestag der Entdeckung Amerikas, die Toten am Denkmal geehrt. Auf diese Weise wurde ein alter Feiertag, der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts begangen worden war, zu einem neuen Gedenktag umfunktioniert.41 Auch unter Franco war der 12. Oktober bereits ein Nationalfeiertag gewesen, der aber immer im Schatten 40

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Vgl. Antonio Izquierdo, El monumento y la reconciliación, in: El Alcázar, 24.11.1985, S. 3; Lorenzo Contreras, La Ilama votiva, in: ABC, 24.11.1985, S. 20; Una España de todos, in: Ya, 23.11.1985, S. 9; El Rey inaugura el monumento a los caídos por España en presencia de ex combatientes de los dos bandos, in: El País, 23.11.1985, S. 13. Zur Wahl des neuen Nationalfeiertags standen zwei Daten: der 6. Dezember, Tag der Verfassung, d. h. der Jahrestag des Referendums über die demokratische Verfassung von 1978, und der 12. Oktober. Die Mehrzahl der politischen Akteure wählte letztlich den 12. Oktober. Siehe hierzu auch Carsten Humlebæk, La nación española conmemorada. La fiesta nacional en España después de Franco, in: Iberoamericana. América Latina – España – Portugal 13 (2004), H. 4, S. 87–99 und ders., La Constitución de 1978 como lugar de memoria en España, in: Historia y Política. Ideas, procesos y movimientos sociales 12 (2004), S. 187–210.

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der Gedenktage an den Bürgerkrieg gestanden hatte. Die Zeremonie wurde vom König und der Regierung geleitet und bestand aus der Niederlegung eines Blumenkranzes mit Trauerschleife (versehen mit den Worten ,,Allen, die ihr Leben für Spanien gaben“) vor dem Denkmal. Danach erfolgte eine Militärparade im angrenzenden Paseo del Prado.42 Zur Ehrung wurde ein traditionell gehaltenes Sonnet verlesen, das Werte wie Ehre und Gehorsam betonte. Der Text selber stammte aus den frühen Jahren des Franco-Regimes, geändert wurde nun lediglich eine Zeile, wodurch die Soldaten nun nicht mehr für Gott, sondern für das Vaterland gestorben waren. Die Stelle lautete: ,,Es war ihr Schicksal für das Vaterland zu sterben“ und endete mit ,,denn sie kannten keine andere Art zu sterben“.43 Viele Bestandteile dieser neuen Erinnerungskultur führten damit in die Zeit der Franco-Diktatur zurück. Sie waren jedoch umfunktioniert worden, stellenweise auch in andere Zusammenhänge gesetzt worden. Sie veränderten sich zu demokratischen Gedenkelementen, die an den Beginn der Nation sowie an die Soldaten und anderen Personen erinnerten, die ,,für“ Spanien gestorben waren. Der neue Feiertag wurde aber schon bald attackiert. Einerseits kritisierte man die Bestimmung des 12. Oktobers zum Nationalfeiertag, andererseits bemängelte man besonders die Betonung des Militärischen, denn gerade die Parade erinnerte an den Gedenktag unter Franco. Ein Leitartikel in ,,El País“ kommentierte den Feiertag daher so: ,,Natürlich ist der einfachste Weg gewählt worden, diese Feierlichkeiten zu begehen, indem man eine Militärparade durchführt und diejenigen ehrt, die ,ihr Leben für Spanien gegeben haben‘. Aber damit ist gleichzeitig auch [ … ] der konflikthafteste Weg eingeschlagen worden, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Diese Formeln werden, trotz der Vermeidung des Begriffs ,Gefallene‘, der mit der franquistischen Ideologie so eng verbunden ist, sehr kontroverse Interpretationen hervorrufen.“44 Auch wenn der Verfasser den 12. Oktober als Nationalfeiertag akzeptierte, weil die Mehrheit der Parlamentarier dem zugestimmt hatte, lehnte er die Militärparade als zentrales Element 42

43

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Siehe Gesetz 18/1987, 7. Oktober ,,que establece el Día de la Fiesta Nacional de España en el 12 de octubre“, BOE Nr. 241/1987, S. 30149. Wie auch bei anderen Ereignissen dieser Art, wurde weder dort noch in diesem Gesetz konkret der Inhalt der Zeremonie dargelegt. Im Jahr 2000 hielt es die Armee aber für nötig, eine ,,offizielle Abfolge“ von Elementen zur Ehrung derjenigen, die ihr Leben für Spanien gegeben hatten, festzusetzen. Siehe “Directiva 24/00 del General Jefe del Estado Mayor de la Defensa, para la normalización del Acto de Homenaje a los que dieron su vida por España“, Ministerio de Defensa (Verteidigungsministerium). Den ursprünglichen Text der Huldigung kennen Spanier einer bestimmten Generation auswendig. Bisher war die Autorenschaft aber nicht zu klären. Siehe neuer Text: http://es.wikipedia.org/wiki/Ceremonial_en_Homenaje_a_los_Ca%C3 %ADdos_ por_Espa%C3 %B1a (28.05.2008) Siehe: La fiesta nacional, in: El País 14.10.1987, S. 10.

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der Feierlichkeiten ab. Das erinnere die Spanier an das frühere Regime und die Stilisierung der Armee zum Rückgrat des Vaterlandes, um ihren Einsatz gegen ,,innere Feinde“ und damit Gewalt und Bürgerkrieg zu rechtfertigen. Dadurch, dass man die Ehrenbezeugung vor der Nationalflagge sowie die Militärparade vom ,,Tag der Streitkräfte“ auf den 12. Oktober verlegte, änderte sich dessen Bedeutung. Es blieb zwar ein Tag des Militärs, aber dadurch, dass er in allen großen militärischen Stützpunkten mit einer Vielzahl von Feierlichkeiten begangen wurde, diversifizierte er sein Erscheinungsbild.45 Trotz der Widerstände spielte der 12. Oktober damit eine wichtige Rolle als ein weiteres Übergangsritual zur Demokratie. Die Feierlichkeiten am ,,Tag der Streitkräfte“ hatten dem Militär geholfen, seinen Weg in die Demokratie zu finden.

Neue Gefallene: spanische Verluste in internationalen Einsätzen Nachdem das spanische Militär in den 1980er Jahren der parlamentarischen Kontrolle unterstellt und in die NATO aufgenommen worden war, vollzog sich der nächste Schritt ihrer ,,Demokratisierung“ darin, Truppen in internationale Friedenseinsätze zu schicken. Im Januar 1989 beschloss die spanische Regierung erstmals einen derartigen Einsatz. Seitdem hat die spanische Armee an über fünfzig internationalen Interventionen, in der Regel UN-Missionen, teilgenommen. Dabei sind insgesamt 138 spanische Soldaten ums Leben gekommen.46 Im Vergleich zu den toten Soldaten aus dem Bürgerkrieg wurden diese Soldaten in der Öffentlichkeit vollkommen anders wahrgenommen. Man gedachte ihrer öffentlich und sie erhielten die höchsten Ehrungen unter Anwesenheit des 45

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Durch den Einfluss von Politikern, aber auch auf Grund der Schwierigkeiten für das Militär einen ,,Tag der Streitkräfte“ ohne Parade zu begehen wurde diese Aufteilung der Feierlichkeiten zwischen dem ,,Tag der Streitkräfte“ und dem 12. Oktober mehrmals angepasst. Von 1987 bis 1991 gab es überhaupt keine Militärparade am ,,Tag der Streitkräfte“. Erst 1992 wurde die Parade wieder aufgenommen. Auch 1997 wurde sie auf Grund eines parlamentarischen Beschlusses ausgesetzt, weil die Kosten zu hoch waren. Seit 1999 findet die Parade wieder statt. Siehe El Gobierno suprime el desfile del Día de las Fuerzas Armadas para ahorrar gastos, in: El País, 28.05.1997; ,,Real decreto 862/1997, de 6 de junio, por el que se regulan los actos conmemorativos del Día de la Fiesta Nacional de España, en el Ámbito del Ministerio de Defensa“, BOE Nr. 151/1997, S. 19591. Von 1992 bis heute (2008) gab es 31 Tote in Ex-Jugoslawien und Albanien; von 1991 bis 1992 sowie von 2003 bis 2004 im Irak zwölf Tote; von 1994 bis 2002 einen Toten in Guatemala; von 2002 bis heute 87 in Afghanistan; 2005 einen Toten in Indonesien sowie sechs im Libanon von 2006 bis heute. Ein Überblick über die spanischen Einsätze gibt: http://es.wikipedia.org/wiki/Anexo:Militares_espa%C3 %B1oles_ca%C3 %ADdos_ en_misiones_en_el_exterior

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Königs und der Regierung. Dennoch wurde der Tod dieser Soldaten weder politisch noch medial besonders hervorgehoben. Einer der Gründe für die geringe mediale Thematisierung in Spanien ist sicherlich, dass die spanischen Soldaten öfter Opfer von Unfällen geworden und eher selten im direkten Kampfeinsatz gefallen sind. So verloren allein 79 spanische Soldaten bei Flugzeug- und Helikopterabstürzen ihr Leben (Absturz der Yak-42 in der Türkei 2003, Helikopterabsturz 2005 in Afghanistan). Der Unfalltod besitzt – auch in Auslandseinsätzen – eine weit geringere symbolische und politische Bedeutung als der Tod im Kampf. Die Gedenkfeiern für die toten Soldaten haben nicht zu politischen Grundsatzdebatten im Parlament geführt. Lediglich die Ultralinken der Vereinigten Linken (Izquierda Unida) und die Republikanische Linke Kataloniens (Esquerra Republicana de Catalunya) haben sich kritisch zu den Einsätzen in Afghanistan und im Irak geäußert, wenn es Opfer zu beklagen gab. Vor dem Hintergrund der spanischen Geschichte mit seinem Bürgerkrieg und einer Diktatur, die in erster Linie ihre eigenen Toten betrauerte, mag diese Harmonie in der politischen Klasse überraschend sein. Die spanische Gesellschaft, selbst wenn sie die internationalen Einsätze nicht mehrheitlich billigt, steht dennoch geschlossen hinter ihrer Armee. Im Gedenken und der Trauer an diese toten Soldaten gibt es keine Spaltung innerhalb der spanischen Gesellschaft. Diese Toten werden nicht mehr vom Standpunkt des ,,gespaltenen Spaniens“ betrachtet, das nach ,,unseren“ und den Toten der ,,anderen“ unterschied. Die internationalen Einsätze haben somit dazu geführt, das Ansehen der spanischen Streitkräfte innerhalb der spanischen Gesellschaft erheblich zu verbessern. Sie wird inzwischen als eine demokratische Armee wahrgenommen, die sich grundlegend von der Armee Francos unterscheidet. Am Nationalfeiertag und am ,,Tag der Streitkräfte“ werden besonders die Toten aus den internationalen Einsätzen hervorgehoben, denn damit wird auch die demokratische Legitimität der Armee verstärkt. 1993 nahm zum ersten Mal eine spanische UN-Truppe an der Militärparade teil. Der Redakteur von ,,El País“ interpretierte dies als ein Zeichen für die Weiterentwicklung der spanischen Armee seit dem Tode Francos: ,,Diese Entwicklung dokumentiert den langen Weg des spanischen Militärs von einem traditionellen Isolationismus hin zur Zusammenarbeit und Verantwortung für die Friedens- und Sicherheitsprobleme zwischen anderen Staaten und damit der Übernahme von internationalen Verpflichtungen, die Spanien nun mit übernommen hat.“47 Als im Jahr 2000 die Feierlichkeiten zum ,,Tag der Streitkräfte“ geändert wurden, maß man der internationalen Rolle des Militärs im Parlamentsantrag eine besondere Bedeutung bei: ,,Das Parlament betrachtet es als notwendig, dass die zukünftigen Feierlichkeiten die grundlegende Umwandlung der Streitkräfte betonen, die das 47

Siehe Evolución militar, in: El País, 02.06.1993.

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Militär in den letzten Jahren durchgemacht hat. Besonders hervorzuheben sind daher der wichtige Beitrag zur Verteidigung des Friedens in Europa und der Welt sowie die enge Zusammenarbeit mit den anderen europäischen Streitkräften und die Integration auf internationaler Ebene.“48 Die Streitkräfte selbst sind sehr stolz auf ihre Teilnahme an den internationalen Einsätzen. Um junge Leute für den Militärdienst zu gewinnen, zeigen Darstellungen der Armeeaktivitäten immer auch Bilder dieser internationalen Einsätze. Meist handelt es sich um Ereignisse, die die bekanntesten internationalen Engagements dokumentieren, wie z. B. in Mostar in Bosnien. Die im Grunde friedliche und konfliktfreie Wahrnehmung der Auslandseinsätze, auch die Akzeptanz der damit verbundenen Opfer, schließt jedoch nicht den tragischen Flugzeugabsturz im Mai 2003 mit ein. Bei diesem Unglück starben 62 spanische Soldaten, die von ihrem Diensteinsatz aus Afghanistan auf dem Weg nach Hause waren. Der Absturz war die Folge unzureichender Wartungen des Flugzeugs und führte zu einem politischen Skandal und einem Bruch zwischen Regierung und Militär. Weil die juristischen Folgen dieses Unfalls noch fünf Jahre nach dem Ereignis in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, kennen die meisten Spanier diesen Vorfall. Das unterscheidet diesen Fall von den anderen. Die Opfer des Flugzeugabsturzes werden bei den feierlichen Ehrenbekundungen oft besonders erwähnt. 2003 wurden deswegen viele Veranstaltungen für den ,,Tag der Streitkräfte“ aus Respekt vor diesen Opfern abgesagt. 2004 widmete man speziell diesen Soldaten die Parade.49 Verteidigungsminister José Bono änderte sogar den Text der Ehrenbezeugung, um die Gefühle der Opferfamilien nicht zu verletzten. Die ehemalige letzte Zeile lautete nun nicht mehr ,,einen anderen Weg zu sterben kannten sie nicht“, sondern ,,sie wussten nicht anders zu leben“.50 Am ersten Jahrestag des Unglücks errichtete das Militär 2004 ein Denkmal am Absturzort in der Türkei, fünf Jahre nach dem Unglück, 2008, weihte man eines in Burgos, dem Stützpunkt, an dem die Mehrheit der Opfer stationiert gewesen war, ein.51

48 49

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Vgl. Antrag Nr. 162/000019, Boletín Oficial de las Cortes Generales, Serie D, Nr. 26 0606-2000, S. 5. El Rey preside un corto desfile marcado por la muerte de 62 militares en Turquía, in: El País, 31.05.2003; Emotivo homenaje a los militares muertos en el extranjero en el Día de las Fuerzas Armadas, in: El País, 30.05.2004. Bono suprime una alusión a la bandera en el homenaje a los caídos “para que no haya guerras”, in: El Mundo, 11.10.2004. In Spanien ist der Unfall unter der Bezeichnung ,,Yak-42“ bekannt. Es ist die Abkürzung für das russische Flugzeug, das das Verteidigungsministerium gechartert hatte. Bono homenajea en Turquía a las víctimas del Yak-42 un año después de la tragedia, in: El País, 26.05.2004; El Ejército homenajea a las víctimas del Yak-42 en plena investigación judicial, in: El País, 26.05.2008.

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Rückkehr der ,,historischen Erinnerung‘‘ Zur verzögerten Trauer- und Erinnerungsarbeit an die Opfer des Bürgerkrieges hatte beigetragen, dass die neue demokratische Regierung aus politischem Kalkül heraus offensichtliche Brüche mit den Ritualen und Symbolen der Diktatur vermied. Das verzögerte die Entstehung einer neuen Gedenkkultur. Um die Jahrtausendwende gewann das Thema jedoch in der spanischen Gesellschaft eine neue Aktualität, als Massengräber aus der Bürgerkriegszeit geöffnet wurden und zahlreiche Parlamentsdebatten sich mit Fragen nach historischer Gerechtigkeit beschäftigten.52 Die Regierung Zapatero versprach daraufhin gleich nach ihrem Amtsantritt 2004 ein ,,Gesetz der historischen Erinnerung“, das jedoch erst 2007 verabschiedet werden konnte.53 Es nennt zwar die gefallenen Soldaten aus dem Bürgerkrieg nicht direkt, aber es berührt in vielen Punkten die Art, wie den Gefallenen in der Demokratie gedacht wird und bemüht sich um eine Korrektur bei noch bestehenden Unausgewogenheiten. Drei Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung. Erstens behandelt das Gesetz das ,,Tal der Gefallenen“ und strebt an, seine Botschaft zu ändern und es zu einem Denkmal für den gesamten Bürgerkrieg zu machen. Erinnerungspolitisch ging es darum, die Seite der damaligen Verlierer mit aufzunehmen, organisatorisch waren Fragen des laufenden Betriebs zu klären. Das Denkmal war bis zur Verabschiedung des Gesetzes auf der Basis alter, unklarer und z. T. nicht existierender Regelungen unterhalten worden. Niemals waren die Finanzierung der Instandhaltungsarbeiten und der Personen, die dort arbeiteten, geklärt worden.54 52

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Eine Darstellung der politischen Maßnahmen bezüglich der Erinnerungskultur während der ,,transición“ sowie zur Formulierung des sogenannten ,,Pakt des Schweigens“ bei Paloma Aguilar Fernández, Presencia y ausencia de la guerra civil y del franquismo en la democracia española. Reflexiones en torno a la articulación y ruptura del “pacto del silencio” , in: Julio Aróstegui and François Godicheau (Hg.), Guerra Civil. Mito y memoria, Madrid 2006, S. 245–293. Einen Überblick über die Rückkehr dieses Themas in die Politik gibt Carsten Humlebæk, Political Uses of the Recent Past in the Spanish Post-Authoritarian Democracy, in: Max Paul Friedman/Padraic Kenney (Hg.), Partisan Histories. The Past in Contemporary Global Politics, New York 2005, S. 75–88. Die Abschlussverhandlungen über das Gesetz sind zu lesen in: Diario de Sesiones del Congreso de los Diputados Nr. 222/2006, S. 11255–11285. Der Gesetzestext ist zu finden in: BOE Nr. 310/2007, S. 53410–53416. Juan A. Carbajo, Los guías oficiales del Valle de los Caídos maquillan su historia negra, in: El País, 26.04.1992, zitiert in: Fernández, Memoria y olvido de la Guerra Civil española, S. 130; Luis Gómez, El Valle de los Desconocidos, El País, 21.10.2007. Der britische Journalist Giles Tremlett hat vor kurzem ebenfalls auf die Widersprüche zwischen dem demokratischen Spanien und dem staatlichen Denkmal aufmerksam gemacht, nachdem er an einer Gedenkveranstaltung von alten Franquisten und Falangisten am 20. November teilgenommen hatte. Er musste feststellen, dass der demokratische Staat am Todestag Francos

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Zweitens verbietet das Gesetz alle noch existierenden Symbole der Diktatur in der Öffentlichkeit. Hierzu gehören die Denkmale für die franquistischen Gefallenen, die noch in vielen Kirchen, Städten und Dörfern zu finden sind. Diese Denkmale müssen, so das Gesetz, entweder ,,korrigiert“ werden, indem auch die Gefallenen auf republikanischer Seite genannt werden oder sie sind vollständig zu entfernen. Staatliche Denkmale sowie Symbole, die an die Franco-Diktatur erinnern, müssen sofort entfernt werden. Das gilt auch für Denkmale, die sich in Privatbesitz befinden. Bei Zuwiderhandlung erhalten diese Besitzer keine öffentlichen Mittel. Diese Maßnahme richtet sich besonders an die katholische Kirche, die zwar nicht staatlich ist, aber große Summen an staatlicher Unterstützung erhält. Drittens regelt das Gesetz, dass die Massengräber mit Hilfe öffentlicher Mittel geöffnet werden sollen. Diese Gräber enthalten die Überreste getöteter Republikaner, die während des Bürgerkrieges gefallen waren oder in Säuberungen umgebracht worden waren. In ihnen liegen sowohl Zivilisten, die mit der Republik sympathisiert hatten, als auch Soldaten der republikanischen Seite.

Schluss Die Erfahrung des Bürgerkrieges prägte die Kriegs- und Opfergeschichte Spaniens im 20. Jahrhundert in grundsätzlicher Weise, während die meisten anderen europäischen Länder durch die beiden Weltkriege geprägt sind. Wenn Soldaten in unterschiedlichen Kriegen und für unterschiedliche Ziele fallen, haben Gedenkkulturen verschiedenartige Antworten zu geben. Der Bürgerkrieg stellt hierbei eine grundsätzlich andere Art militärischer Auseinandersetzung dar im Vergleich zu einem Krieg gegen einen äußeren Feind. Das spiegelt sich auch in der Gedenkkultur. Das franquistische Regime stand in der Tradition eines katholischen und ultrakonservativen Nationsverständnisses. Durch diese Verbindung von Nation und Katholizismus wurden die toten Soldaten religiös als Märtyrer und national als Helden zugleich geehrt. Dass sie beides gewesen seien, betonen die zahlreichen Denkmale, die die franquistischen Gefallenen mit der Inschrift ,,Gefallen für Gott und Spanien“ (,,Caídos por Dios y por España“) erinnern. Nicht zufällig ist das franquistische Nationaldenkmal im ,,Tal der Gefallenen“ deshalb eine Kirche. Man bevorzugte religiöse Symbole wie das Kreuz auf den Denkmälern sowie Trauermessen während der Gedenkfeierlichkeiten. Nach einer Diktatur, die nach einem dreijährigen, blutigen Bürgerkrieg an die Macht gekommen war und bis zum Schluss an der Rechtmäßigkeit des Sieges und des Gründers der Falange auf den üblichen Eintritt zum Denkmal verzichtete. Siehe Giles Tremlett, Ghosts of Spain. Travels through a country’s hidden past, London 2006, S. 34–37.

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festhielt, benötigte das neue Spanien Zeit, um demokratische Gedenktraditionen für die gefallenen Soldaten zu entwickeln. Das war auch deswegen notwendig, weil die Diktatur die Erinnerung an ihre eigenen Opfer zu einem Eckpfeiler ihrer eigenen Identität gemacht hatte und damit die republikanischen Gefallenen konsequent verdrängt und verleugnet hatte. Die Bezeichnung ,,Gefallene“ war damit nach 1975 negativ besetzt, weil sie direkt auf die Diktatur verwies. Dass dieser Terminus äußerst problematisch war, beweist auch, dass das neue Denkmal für ums Leben gekommene Soldaten (um es möglichst neutral zu formulieren) ,,Denkmal für all jene, die ihr Leben für Spanien gaben“, genannt wird. Um die mühsam versöhnte Nation in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, konnte das Wort ,,Einheit“ nicht dienen, da es zu Francos Zeit als Bezeichnung für den Allgemeinanspruch der einen Seite verwendet worden war. Deshalb griff man auf das in diesem Kontext unverbrauchte Wort ,,alle“ zurück. Gerade weil im franquistischen Verständnis von Nation ein erheblicher Teil der Bevölkerung ausgeschlossen worden war, mussten neue Gedenkpraktiken gefunden werden, um nun unter demokratischen Vorzeichen alle Teile der Gesellschaft integrieren zu können. Eine Reihe von nur transitorisch genutzten Ritualen und Formeln trugen mit dazu bei, die Erinnerung an die gefallenen Soldaten auf eine neue Grundlage zu stellen. Besonders der ,,Tag der Gefallenen des Vaterlandes“, ein militärischer Feiertag, und der öffentlich zelebrierte ,,Tag der Streitkräfte“ sind hier zu nennen. Beide waren in ihrer Ausführung bestimmt durch Rituale mit franquistischen Wurzeln, eine synkretistische Durchführung ermöglichte aber eine Transformation, welche diese Formelemente demokratisch umdeuten ließ. Für Spanien bedeutete das in erster Linie, die Bürgerkriegslogik der kategorischen Differenzierung in Sieger und Verlierer zu überwinden. Das neue Spanien repräsentierte sich als versöhnte und geeinte Nation, dem demokratischen Souverän waren die Streitkräfte untergeordnet und waren auch nicht mehr durch die Bekämpfung des inneren Feindes legitimiert. Die Umbenennung franquistischer Gedenkorte und die Anpassung ihrer Rituale an das demokratische System zeigen, wie wichtig die Einbindung des Militärs für den Erfolg der Demokratisierung war.55 Erst Mitte der 1980er Jahre konnte die Demokratie eine eigene Gedenkkultur für die gefallenen Soldaten etablieren. 1985 wurde ein neues Nationaldenkmal eingeweiht und seit 1987 finden alljährlich Ehrungen der gefallenen Soldaten als integraler Bestandteil des neuen Nationalfeiertages statt. Diese neuen Denkmale und Rituale wiesen in den meisten Fällen keine religiösen Elemente auf, worin sie sich von den meisten Denkmälern und Gedenkpraktiken der Franco55

Der gescheiterte Putschversuch der Guardia Civil mit Unterstützung hoher Offiziere im Generalstab im Februar 1981 hatte das potentielle Gefahrenpotential im Übergangsprozess offengelegt.

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Zeit mit ihrer besonderen Betonung des Bezugs zum Katholizismus unterschieden. Stattdessen sind die neuen Rituale am Nationalfeiertag in erster Linie durch ihren militärischen Charakter geprägt. Das mag vor dem Hintergrund der militaristischen Vergangenheit unter Franco zunächst überraschen, aber dadurch, dass die Armee in den neuen Staat eingebunden werden musste, stellte das einen wichtigen Bestandteil der neuen Erinnerungskultur dar. Aber gerade die Notwendigkeit, die Armee in die Demokratie zu integrieren und diese Integration auch symbolisch zu bekräftigen, beförderte eine besondere Konzentration auf die militärischen Elemente. Um diese neue Gedenkkultur zu gestalten, verzichtete man auch auf alle Rückgriffe auf das 19. oder frühe 20. Jahrhundert, denn es ging nicht um die Restaurierung eines Zustands vor dem Bürgerkrieg. Auch wenn die alten Gedenkrituale nicht drastisch verändert wurden und Elemente aus der FrancoZeit stammten, entwickelten sie sich dennoch durch Umbenennung, Neuinterpretation und Neuarrangement zu Kernelementen eines demokratischen Spaniens. Die 1990er Jahre haben durch die Teilnahme Spaniens an internationalen Militäreinsätzen erstmals seit dem Bürgerkrieg eine neue Kategorie an Gefallenen hervorgebracht. Für diese Soldaten wurden eigenständige Gedenkformen entwickelt, die Beschwörung ihres Andenkens stellt ein wichtiges Element innerhalb der Gedenkkultur der spanischen Streitkräfte dar. Auch wenn sich das Gedenken der Rituale der 1980er Jahre bedient, hat dies weder zu politischen noch öffentlichen Diskussionen oder Spaltungen geführt. Die Spanier unterstützen ihre Armee im internationalen Einsatz und betrauern ihre Toten. Nicht zuletzt haben die internationalen Beteiligungen der spanischen Armee maßgeblich zu ihrer Integration in die Demokratie beigetragen und ihr gesellschaftliches Image enorm verbessert. Die Streitkräfte werden nun als Teil der demokratischen Gesellschaft betrachtet. Dennoch finden auf dem Feld der Erinnerungs- und Gedenkkultur immer noch kontroverse Auseinandersetzungen statt. Die aktuelle Diskussion um die historische Erinnerung hat die Gegensätze zwischen einzelnen politischen Gruppen verschärft. Sobald es um das Gedenken an die Soldaten vor 1975 geht und um die Fragen warum, wie und wer überhaupt erinnert werden soll, kommt es regelmäßig zu heftigen Diskussionen. In den letzten Jahren hat sich die Gedenkkultur dadurch verändert. 1996 kam die konservative Partei Partido Popular an die Macht. Seitdem nutzten die Linken die Geschichte, die im Land erregt geführte Diskussion über ,,historische Gerechtigkeit“ sowie das Thema der Opferentschädigung, um nicht nur geschichtspolitisch, sondern auch politisch gegen die ,,Rechten“ Position zu beziehen. Einige Gefallenengruppen werden nun erinnert, die bisher nicht beachtet worden sind. Zudem hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Die Generation der sogenannten Enkel fragt inzwischen offener danach, was damals im Bürgerkrieg und unter Franco wirklich passiert ist. Die

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Vertreter dieser Generation beginnen nun sowohl buchstäblich in den Gräbern der vergessenen Toten als auch in der Geschichte zu graben. Die in der Gegenwart kontroverser und offener geführte Diskussion über geschichtspolitische Fragen erweist sich trotzdem als ein Indiz für eine Stabilisierung der spanischen Demokratie. Denn die Kritik der Gedenkkultur führt nicht mehr zur Krise des politischen Systems. Damit beginnt der dunkle Schatten des Bürgerkriegs zu verblassen, obwohl die Aufarbeitung der Vergangenheit kaum angefangen hat.

Türkei Klaus Kreiser

Vom namenlosen Glaubenszeugen zum patriotischen Heldenkult Kriegerdenkmäler und Gedenkstätten1 Kleinere Friedhöfe finden sich innerhalb aller osmanisch-türkischen Städte, ausgedehnte Gräberfelder erstrecken sich an ihren Rändern. Ihre oft reich beschrifteten Grabstelen gehören zu den unverwechselbaren Signaturen dieser Kulturlandschaft. Hingegen sind Kriegerdenkmäler und Gedenkstätten vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert trotz des hohen Rangs, den der Tod als ,,Glaubenszeuge“ (şehîd) im Islam einnimmt, fast unbekannt. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand seither auch in der Türkei eine Gefallenehrung, die sich den in Europa herausgebildeten Formen annähert. Dennoch kann, wie hier gezeigt werden soll, von einer vollständigen Konvergenz nicht gesprochen werden. Osmanische Soldaten kämpften zwischen September 1911 und September 1922 in fünf Kriegen. Diese elf Jahre waren nur durch 22 Friedensmonate unterbrochen. Die Verluste der Bevölkerung durch unmittelbare Kampfeinwirkung, Massaker, Hunger, Krankheit, Flucht und Vertreibung waren gewaltig.2 Nur ein geringer Prozentsatz ist nach Namen und Herkunft bekannt. Die größten Opfer forderte der Erste Weltkrieg. Man kann annehmen, dass etwa vier Fünftel der 150.000 nach Namen, militärischem Rang und Einheit bekannten Soldaten ihr Leben zwischen 1914 und 1918 verloren. Diese geschätzte Zahl schließt allerdings nur die Kriegsteilnehmer ein, die auf dem Boden der 1923 entstandenen Republik Türkei rekrutiert wurden. Soldaten aus den arabischen und balkanischen Provinzen von Syrien bis Albanien wurden in der Vergangenheit kaum erwähnt. Die Kämpfe an den Dardanellen (im türkischen Sprachgebrauch ,,bei Çanakkale“) kosteten die osmanische Seite 57.263 Tote und etwa 211.000 Verwundete, Gefangene und Vermisste.3 Erst in allerjüngster Zeit betonte Ministerpräsident Tayyip Erdoğan bei seiner Gedenkrede am 18. März 2010 die 1

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Für mannigfaltige Hilfe danke ich Bülent Arı (Ankara), Petra de Bruijn (Leiden), Gottfried Hagen (Ann Arbor), Hakan Karateke (Chicago), Wolf-Dieter Lemke (Berlin), Lorenz Korn (Bamberg), Sami Önal (Istanbul-Kadıköy), Günsel Renda (Ankara), Akşin Somel (Istanbul), Dr. Dz. Kur. Kd. Albay Celalettin Yavuz (Tuzla-Pendik). Justin McCarthy, Muslims and Minorities, New York 1983. T. C. Milli Savunma Bakanlığı, Şehitlerimiz. Osmanlı-Rus, Osmanlı-Yunan, Trablusgarp, Balkan, Birinci Dünya, İstiklâl, Kore, Kıbrıs, İç Güvenlik, Ankara 1998, 5 Bände. Die Zahlen der an den Dardanellen Gefallenen Bd. 1, S. 44.

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Teilnahme von Menschen aus allen Territorien des osmanischen Reichs an den Abwehrschlachten an den Dardanellen.4 Eine Aufstellung der 740 Offiziere, die 1903 die Kriegsakademie absolvierten, zählt 129 Personen auf, die im Laufe der letzten osmanischen Kriege fielen. Diese Quelle ist ein typisches Beispiel für türkische Erinnerungsbücher, die den ,,gesegneten Seelen unserer ruhmreichen Glaubenszeugen“, in diesem Fall durch einen pensionierten Oberst im Jahr 1943, gewidmet sind.5 Eine wesentlich geringere Zahl von Gefallenen wurde durch Gedenkstätten mit Inschriften individualisiert.6 Es ist sinnvoll, im Folgenden die Balkan-Kriege (1912–1913) und den Unabhängigkeitskrieg (1919–1922) im Zusammenhang mit dem Weltkrieg zu behandeln. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Kriege für die Überlebenden ein Kontinuum bildeten. Aber es scheint doch, dass sich der ,,Grundbestand“ des spezifisch türkischen Kults für tote Soldaten während der dichten Aufeinanderfolge von Kriegen zwischen 1912 und 1925 herausbildete.7 Dabei darf dieser ,,Grundbestand“ (Reinhart Koselleck8 ) nicht auf ikonographische Formen beschränkt werden. Literarische bzw. musikalische Genres wie Gedichte und Lieder müssen ebenfalls für ein Verständnis der politischen und religiösen Semantik herangezogen werden.9 In diesen Jahrzehnten beobachten wir einen Übergang von Formen frommen Gedenkens zur Errichtung von sichtbaren Denkmälern und Gedenkstätten, von einem religiös inspirierten Märtyrerkult zu eher säkularen Ausdrucksweisen der Erinnerung, von der Anonymität zur Individualisierung. Gleichwohl kann, wie hier darzulegen sein wird, von einer 4 5 6 7

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http://www.akparti.org.tr/bu-ulkenin-tarihi-parlamentolarca-carpitilmayacak-kadarsa_6822.html. Ali Şefik Öngün, 319 (1903) de Harbiyeden çıkan subaylar için kırk yılllık Hatıra, Ankara 1943. M.S.B. İnşaat ve Emlâk İskân Daire Başkanlığı (Hg.), Şehitliklerimiz, Ankara 1971. Das Folgende schließt an vorausgehende Arbeiten an, in denen jeweils andere Aspekte im Vordergrund stehen. Vgl. Klaus Kreiser, Public Monuments in Turkey and Egypt, 1840– 1916, in: Muqarnas. An Annual on the Visual Culture of the Islamic World 14 (1997), S. 103–117; ders., Public Monuments in Kemalist and Post-Kemalist-Turkey, in: Journal of Turkish Studies 26 (2002), H. 2, S. 43–60; ders., Ein Freiheitsdenkmal für Istanbul, in: Yavuz Köse (Hg.), Istanbul. Vom imperialen Herrschersitz zur Megapolis. Historiographische Betrachtungen zu Gesellschaft, Institutionen und Räumen, München 2006, S. 296–312; ders., War Memorials and Cemeteries in Turkey, in: Olaf Farschid u. a. (Hg.), World War One as Remembered in the Countries of the Eastern Mediterranean, Würzburg 2006, S. 183–197. Reinhart Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998, S. 7: ,,Die ikonographischen Gemeinsamkeiten sind größer, als die nationalen Besonderheiten zu erkennen geben können.“; Reinhart Koselleck / Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 9. Als ein Beispiel unter vielen: Sadri Karakoyunlu (Hg.), Türk Askeri için Savaş şiirlerinden Seçmeler (1914–1918), Ankara 1987.

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vollständigen Übernahme europäischer Formen des Gefallengedenkens nicht die Rede sein.

Erste Denkmalsformen im Osmanischen Reich Abdülhakk Hâmid und sein Sevastopol-Gedicht ,,Der Sieg“ (Zafer)

Für ein angemessenes Verständnis der modernen türkischen Diskussion über Kriegergedenkstätten muss auch die Entwicklung vor 1912 berücksichtigt werden. Das erste an militärische und zivile Kriegsopfer erinnernde Denkmal wurde 1857 in der am Schwarzen Meer liegenden Hafenstadt Sinop begonnen, konnte aber aus banalen Gründen erst vor 1933 vollendet werden. Der Grund für seine Errichtung war ein Angriff der russischen Marine, die im November 1853 fast die gesamte osmanische Schwarzmeerflotte versenkte.10 Etwa die Hälfte der Stadt brannte nieder. Dieses Vorspiel des Krimkriegs forderte eine große Anzahl von Opfern (genannt wurden 3000 osmanische Marinesoldaten und Hunderte von Zivilisten) und gab den Ausschlag für den Kriegseintritt Frankreichs und Englands. Während die Osmanen im 19. Jahrhundert fast vollständig auf Kriegerdenkmäler verzichteten, bemühten sich die Russen und die westlichen Verbündeten der Türkei den Ruhm ihrer Armeen während des Kriegs der Jahre 1854–1856 monumental zu verewigen, nicht nur auf der Krim-Halbinsel, sondern auch in ihren Hauptstädten und selbst in Istanbul. Ein zeitgenössischer englischer Reiseführer (,,Murray‘s Hand-Book for Travellers“) beschreibt den britischen Friedhof von Üsküdar (Skutari am asiatischen Ufer des Bosporus): ,,Here, amid the more costly tombs of officers, may be seen the simple grass-covered mounds, beneath which rest in peace 8000 British soldiers, who died in service of their Queen and country. In striking contrast to the oriental burial-places, the British cemetery is admirably kept [ … ]. The enclosure is planted with trees and shrubs, and there is a large granite obelisk, supported by four angels, by Baron Marochetti, which is seen from a long distance.“11 Der Kontrast zwischen europäischen und orientalischen Friedhöfen fiel auch Abdülhakk Hâmid (Tarhan, 1852–1937) ins Auge, der die Schlachtfelder auf der Krim im Jahr 1881 aufsuchte. Dieser gefeierte Dichter und Diplomat der 10 11

Sinop İl Yıllığı 1967, Sinop 1967, S. 145f. Handbook for Travellers in Constantinople, Brûsa, and the Troad, London 1893, S. 110. Der Schöpfer des Monuments war der bekannte italienische Bildhauer Carlo Marochetti (1805– 1867). Vgl. auch Mark Quinlan, British War Memorials, Hertford 2005, S.18–19; HansPeter Laqueur, Der britische Krimkriegsfriedhof in Istanbul, in: Friedhof und Denkmal 5 (2007), S. 11–16.

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spätosmanischen Periode erwähnt die ,,reich geschmückten Grabstätten“ der Franzosen und Briten, während für die muslimischen Toten ,,Pracht und Ausschmückung [gemeint sind wohl die Gestirne] vom Himmel herabkommt“.12 Weiter heißt es in seinem Gedicht ,,Zafer“: ,,Gegrüßt seist du, edle Armee / für das Heil des Vaterlands hast du dein Leben gegeben und damit das Vaterland wiederbelebt / Oh Soldat, der du in diesem Tal zu Erde wurdest.“ Das Wort vatan (,,Geburtsort oder Herkunftsland, Mutter- bzw. Vaterland“) wird in den folgenden Zeilen noch drei weitere Male erwähnt. Die Toten werden angesprochen mit den Begriffen er (einfacher Soldat) und asker (,,Soldat“) sowie mit dem arabischen Wort ketîbe, das im osmanischen Gebrauch eine exquisite, eine herausragende Armee bezeichnet. Der Terminus für einen heldenhaft gefallenen Glaubenszeugen (şehîd) kommt hier nur einmal und zwar im Plural şühedâ vor. Das ist bemerkenswert, denn spätere Texte machen davon – bis in die Gegenwart – viel reichlicheren Gebrauch. Der Dichter zollt dem Opfer der namenlosen Soldaten ausdrücklich Tribut, aber gerade nicht als religiös motivierter Tat, sondern als vaterländischer Handlung. Am Ende beschwört Abdülhakk Hâmid die allegorische Gestalt des vatan, das ,,wie eine Mutter zitternd über dem Grab ihrer Kinder liegt“.13 Abgesehen von der zweifellos modernen Personifikation des Staates als trauernder Mutter wird die Absicht deutlich, die islamische Grabtradition, die auf äußeren Schmuck verzichtet, mit den christlichen Friedhöfen zu kontrastieren. Unmissverständlich wird ein die dortigen Gräber überragendes [heidnisches] ,,Idol“ (peyker) in Form eines Obelisken genannt.14 Märtyer der Luftfahrt und der Konterrevolution

Allein die Freiheitssäule (Âbide-i Hürriyet), die in Istanbul-Şişli zur Erinnerung an die Opfer der ,,Konterrevolution“ von 1909 errichtet wurde,15 und ein 12

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Zitiert von Süleymân Nazîf, Âbide-i şühedâ, Istanbul 1343/1925, S. 5–6. Das Gedicht wurde zuvor unter dem Titel Zafer in Abdülhakk Hâmid, İlhâm-i Vatan, Istanbul 1334/1918 veröffentlicht, einer von Süleymân Nazîf besorgten Ausgabe. In Balakvala zwischen Sebastopol and Jalta wurde 1860 ein schlichtes Denkmal für 260 türkische Gefallene errichtet, das noch heute besteht (İnşaat Başkanlığı, Şehitliklerimiz, S. 102). Man vergleiche das ,,M D CCC L XXI“ genannte Werk des französischen Bildhauers Paul Cabets (1815–1876), das als das bewegendste Objekt des Salon von 1872 galt. ,,It shows a young woman personifying France in an attitude of profound grief. The pose itself has a long tradition reaching back to ancient Rome [ … ], but Cabet’s deeply felt rendering of it embodies the trauma shared by the entire nation“ (Horst Woldemar Janson, 19th Century Sculpture, New York 1985, S. 177). Vielleicht meint er den noch heute erhaltenen englischen Obelisken bei Balakvala. Ausführlich Kreiser, Ein Freiheitsdenkmal für Istanbul. Die dort namentlich Genannten sind in unserem Zusammenhang nur am Rande zu berücksichtigen, weil es sich um Opfer

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ebenfalls in der Hauptstadt befindliches Denkmal für Pioniere der osmanischen Luftfahrt bilden – auch wenn sie keine Kriegerdenkmäler im engeren Sinn darstellen – Ausnahmen von der bisherigen Regel, dass an Gefallene entweder gar nicht oder nur marginal erinnert wurde. Zur Verdeutlichung der damaligen politischen Atmosphäre vor dem Ersten Weltkrieg soll die Renaissance de l’orgueil français mit dem extremen osmanischen Nationalismus während der Balkankriege verglichen werden. Beide Formen des patriotischen Glaubens haben eine Affinität zur Militärfliegerei. Ein französischer Autor schrieb 1912: ,,Il fallait aux Français, déjà soulevés par le pressentiment d’une renaissance, une circonstance qui donnât un corps à leurs aspirations et à leurs espoirs. Il en trouvèrent deux. Ce furent, d’abord l’essor de l’aviation, ensuite les menaces de l’Allemagne [ … ], et elles sont devenues les deux pivots de notre foi patriotique. […]. Il faut y ajouter, comme valeur morale incomparable, le lourd tribut payé à la mort par l’invention nouvelle. Les découvertes ne s’ennoblissent que du sacrifice des vies humaines et seule, l’auréole de la mort leur confère tout leur éclat. Le sang versé […] pour assurer à leur pays la suprématie de l’air a achevé de rendre sacrée la cause de l’aviation.“16 Im Februar 1914 starben Stabshauptmann Fethî und Leutnant Sâdık als ,,Märtyrer der Luftfahrt“ nach dem Absturz ihres Flugzeugs unweit des Sees Genezareth. Ihre Leichname wurden nach Damaskus überführt und dort neben dem Mausoleum Saladins beigesetzt.17 Fethî und Sâdık hatten Beirut kurz zuvor ,,nach drei Tagen voller Empfänge, Galas und Flugvorführungen“ verlassen.18 Nach der Katastrophe wurden sie mit Nûrî Bey, einem weiteren Absturz-Opfer, in Istanbul durch das sogenannte Denkmal für die Märtyrer der Luftfahrt (Tayyâre Şehîdleri Âbidesi) geehrt. Es wurde vor dem Bürgermeisteramt des

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der Niederschlagung einer ,,Konterrevolution“ handelte, bei der ,,Truppe gegen Truppe“ kämpfte. Bemerkenswert aber ist die Tatsache, dass zumindest ein Nicht-Muslim auf diesem Denkmal verewigt wurde. ,,Die Franzosen, bereits vom Vorgefühl einer Renaissance beflügelt, bedurften eines Umstands, der ihre Sehnsüchte und Hoffnungen konkret werden ließ. Sie fanden zwei: zunächst den Aufschwung der Luftfahrt und dann die Bedrohung durch Deutschland. […] Beide sind zu Dreh- und Angelpunkten unseres patriotischen Glaubens geworden. [ … ] Hinzufügen muss man als unvergleichbaren moralischen Wert den schweren Tribut an den Tod, den die neue Erfindung kostete. Die Entdeckungen werden allein durch das Opfer menschlicher Leben geadelt, allein die Gloriole des Todes verleiht ihnen ihren ganzen Glanz. Das Blut, welches vergossen wurde, um ihrem Land die Vorherrschaft in der Luft zu sichern, hat am Ende die Sache der Luftfahrt geheiligt.“ (Etienne Rey, La Renaissance de l’orgueil français, Paris 1912, zit. nach Raoul Girardet, Le nationalisme français. Anthologie 1871– 1914, Paris 1983, S. 230–231). Hülya Yarar u. a. (Hg.), Yurtdışı Şehitlikler, Ankara 1999, S. 84. Fouad Debbas, Beirut. Our memory. A guided tour illustrated with picture postcards, Barcelona2 1994, S. 227.

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Klaus Kreiser Abbildung 1: Denkmal für Opfer der Luftfahrt (Tayyâre Şehîdleri Abidesi) – Istanbul-Fatih 1914 (Foto: Sebah & Joaillier, Deutsches Archäologisches Institut, Abteilung Istanbul 9841).

Bezirks Fatihs in der Form einer gebrochenen Säule (Abb. 1) zwischen dem 2. April 1914 und einem noch nicht ermittelten Datum im Jahr 1916 errichtet.19 Der türkische Sprachgebrauch macht keinen Unterschied zwischen bewaffneten Staatsdienern, die in Friedens- oder Kriegszeiten in Ausübung ihres Dienstes zu Tode kommen. Alle werden einheitlich şehîd, das heißt ,,Zeugen“ im Sinn von ,,Märtyrer“ genannt. Die drei Piloten waren Militärs, starben aber während einer Friedensperiode – und wurden doch ganz selbstverständlich als ,,Märtyrer“ dargestellt.

,,Rachesteine‘‘

Anders als diese auch im Westen vertretenen Kategorien von Denkmälern bilden die sogenannten ,,Rachesteine“ (intikâm taşları) für den modernen Betrachter einen verstörenden Anblick. Sie verbanden während der Balkankriege und danach die Funktionen eines Kriegerdenkmals mit dem Aufruf zur Revanche, um 19

Afife Batur, M. Vedad Tek. Kimliğinin İzinde Bir Mimar, Istanbul 2003, S. 121–123 und S. 347f.

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Abbildung 2: Rachestein (İntikâm taşı) in Cisr-i Mustafa Paşa/ Ostthrakien 1913 (Quelle: Oral Onur / Latif Bağman, Edirne şehit anıtları, Istanbul ca. 1987).

die Wunde des Verlustes von Rumelien – der europäischen Territorien – offen zu halten. Man wird dabei an die in der Dritten Französischen Republik immer wieder auftauchende Metapher von der blessure toujours ouverte in Bezug auf die Annexion von Elsass-Lothringen erinnert. Ein Beispiel hat sich unweit der heutigen bulgarisch-türkischen Grenze erhalten. Es ist ein Obelisk, der das Wort ,,Rache“ (intikâm) und den Namen eines Opfers von bulgarischen Übergriffen des Jahres 1913 trägt (Abb. 2). Das Denkmal wurde in Anwesenheit zahlreicher Würdenträger eingeweiht, nach der Verschiebung der Grenzlinie teilweise zerstört, aber 1965 wieder aufgestellt.20 In einer Sammlung von ,,Predigten über den Heiligen Krieg und die Religion für die an einen Gott glaubenden Muslime“ des Regiment-Müftüs İzzet ist ,,Revanche“ der wichtigste Gegenstand.21 20 21

Oral Onur / Latif Bağman, Edirne anıtları, Istanbul ca. 1987, S. 36–41. İzzet, Mevâ‘izü’l-cihâd ve-dîn li’l-‘asâkiri’l-müvahhidîn, Istanbul 1331/1913.

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Der Erste Weltkrieg Vor 1914 waren also Kriegerdenkmäler im engeren Sinn für osmanische Gefallene ein seltener Anblick. Während des Weltkriegs wurden jedoch zahlreiche Gedenktafeln und Gedenksteine errichtet. Manche, wie das Denkmal von Kût al-Amâra im Irak, wurden nach dem Krieg sogar vergrößert. Es bleibt aber ein auffälliger Gegensatz zwischen den fünfzig dokumentierten Namen (43 Soldaten, sieben Offiziere) und den auf 10.000 Mann geschätzten Verlusten unter den Türken in diesen Kämpfen.22 Ein osmanisches Periodikum (Harb Mecmûası, ,,Kriegsmagazin“), das zwischen November 1915 und Juni 1918 erschien, enthält zahlreiche Fotografien von mehr oder weniger improvisierten Kriegerdenkmälern. Außergewöhnlich ist eine Säule inmitten regulär angelegter Gräber (Abb. 3). Sie hat eine starke Ähnlichkeit mit dem Freiheitsdenkmal (Âbide-i Hürriyet) in Istanbul, das ebenfalls die Form eines Geschützrohres hat.23 Die Abbildung trägt die Unterschrift: ,,Vergiss nicht die Dankesschuld gegenüber den Märtyrern. [ … ] Ein Bild aus dem Lande der Märtyrer von Çanakkale, deren unsterblicher Ruhm der Ursprung unseres Stolzes ist. Friedhof und Denkmal.“24 Die Illustrationen des Propagandamagazins zeigen, dass es nun Gräberfelder gab, bei denen man Formationen wie Regimenter und Divisionen unterscheiden konnte. Es war selbstverständlich, die militärische Hierarchie zu beachten und die Rangunterschiede über den Tod hinaus sichtbar zu machen. Die osmanischen Denkmäler beschränken sich auf das konventionelle Repertoire aus Obelisken, Säulen (gelegentlich in Form eines gebrochenen Pfeilers) und einfache Stelen oder Platten. Regimentsfriedhöfe haben einen regelmäßigen Grundriss und entsprechen den ,,Kreuzbeeten“ der deutschen und österreichischen Alliierten.25 Man muss daran erinnern, dass einheitliche Vorschriften für die Bestattung von Soldaten auch in den deutschsprachigen Ländern vor dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 nicht existierten. Die Bestattung der Toten war den Regimentern überlassen. Erst die während des Weltkriegs eingeführten Erken22 23

24 25

Hülya Yarar u. a. (Hg), Yurtdışında Şehitlikler, Ankara 1999, S. 31; J. B. Kelly, ,,Kūt al-‘Amāra“, in: The Encyclopaedia of Islam 5 (Leiden 1986), S. 537f. Harb Mecmûası 1, 13 (Oktober 1332/1916) S. 206: ,,Şehîdlere minnet borcunu unutma. Çanakkalenin ölmez mefâhir ile bize gurûr besleten şehîdlerin diyârından bir levha. Meşhed ve âbidesi“. Hier wird für Friedhof, dass inzwischen sehr altertümliche Wort meşhed gebraucht. Şehitlik war offensichtlich noch nicht allgemein verbreitet. Mehr zur Semantik unten S. 484, 486 und 480. Die Inschrift präzisiert, dass hier 173 Kämpfer an der Çanakkale-Front ruhen, die ihr Leben als Verwundete im Militärhospital von Biga beendeten. Zur Erinnerungskultur der Australier und den dort entwickelten Gedenkformen an die Kämpfe gegen das osmanische Reich, konzentriert auf Gallipoli (türkisch Gelibolu), vgl. den Beitrag von Joan Beaumont in diesem Band.

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Abbildung 3: Denkmal (Meşhed Abidesi) auf dem Kriegerfriedhof in Biga/Çanakakale (Quelle: Harb Mecmuası 1332 M./1916, No.13, S. 206).

nungsmarken erlaubten die Identifizierung der Opfer. Friedhöfe entstanden im Frontgebiet und in der Heimat, während die Anlage größerer Denkmäler auf die Nachkriegszeit verschoben wurde.26 Die Zahl von Grabsteinen und Friedhöfen für die deutschen und österreichischen Verbündeten der Türkei auf osmanischem Territorium ist im übrigen sehr beschränkt. Stellvertretend sei der ,,Deutsche Ehrenfriedhof in Therapeia“ (Istanbul-Tarabya) genannt, auf dem 202 Kriegstote liegen.27 Süleymân Nazîf und das Projekt eines Märtyrerdenkmals (Âbide-i Şühedâ) an den Dardanellen

Trotz der Ausbildung ähnlicher Merkmale bei der Totenehrung hat die Konvergenz zwischen europäischen und osmanisch-türkischen Formen deutliche Grenzen. Die islamwissenschaftliche Literatur resümiert die Quellen zum Mär26 27

Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Band 3: 1. Weltkrieg, Heidelberg 1985, S. 109f. Peter Jung, Der K.u.K. Wüstenkrieg. Österreich-Ungarn im Vorderen Orient 1915–1918, Graz 1992, S. 170f.

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tyrertod übereinstimmend: ,,A martyr’s death in combat is the apogee of the believer’s aspirations; it is the noblest way to depart this life and is a guarantee of God’s approval and reward.“28 Hingegen besteht kein Konsensus darüber, ob die Ehre des Märtyrertums eine regelrechte, die Waschung einschließende Bestattung erfordert. Der angesehene türkische Theologe İzmirli İsmâ‘îl Hakkı (1869–1946)29 führt in einem Buch ,,Gaben für die Vorkämpfer des Islam“ (Gâzîlere armağan), das vom Kriegsministerium im Jahr 1332/1913–1914 in Auftrag gegeben wurde,30 ein berühmtes Diktum des Propheten Muhammed zum Thema Märtyrertum in arabischer Sprache mit türkischer Übersetzung an: ,,Wir begruben sie in ihrem Blut und mit ihren blutbefleckten Kleidern. Am Tag der Auferstehung wird das Blut aus den Adern derer fließen, die sich auf dem Pfad Gottes befinden, ihre Farbe wird die des Blutes, aber ihr Geruch wird der von Moschus sein.“31 Dementsprechend werden Märtyrer in ihren Kleidern begraben, allein ihre Waffen wird man wegnehmen. Diese Auffassung von einem Martyrium auf dem Schlachtfeld, in dem weder von Grabsteinen noch von Denkmälern die Rede ist, erfuhr während der Kriege zu Beginn des 20. Jahrhunderts dramatische Änderungen, auch wenn sich agnostische Befehlshaber der Epoche wie Mustafa Kemal (Atatürk) längst in privaten Äußerungen von dem herkömmlichen Bild des islamischen Märtyrers, dem das Paradies winkt, verabschiedet hatten.32 In seiner 1925 gedruckten Schrift ,,Âbîde-i Şühedâ“ (,,Ein Monument für die Märtyrer“) rief der Dichter und Journalist Süleymân Nazîf (1869–1927)33 die Türken, die den Krieg überlebt hatten, auf, zu einem Denkmal am Eingang der Dardanellen beizutragen. Der glühende Patriot und angesehene Redner war nur 28 29 30

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33

Etan Kohlberg, Shahīd, in: The Encyclopaedia of Islam 9 (Leiden 1997), S. 203–207. Ali Birinci / M. Sait Özervarlı, İzmirli, İsmail Hakkı, in: Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi 23 (Istanbul 2001), S. 530–535. Das Hidschra-Jahr 1332 entspricht dem Zeitraum zwischen dem 30. November 1913 und 18. November 1914. Wahrscheinlich wurde das Pamphlet unmittelbar nach der Kriegserklärung durch den Sultan-Kalifen gedruckt. Eine Ausgabe in türkischer Lateinschrift trägt den Titel Yiğitlere öğütler (,,Ermahnungen für die Helden“), Ankara 1964. Es fehlt hier das traditionelle Argument, dass blutbefleckte Kleider am Tag des Gerichts als Beweisstücke für den Tod als Glaubenszeuge dienen. Klaus Kreiser, Atatürk. Eine Biographie, München 2008, S. 89: ,,Unser Leben ist die Hölle. Meine Soldaten sind zum Glück sehr tapfer und härter als der Feind. Was noch mehr zählt, ihr persönlicher Glaube macht es leichter, Befehle auszuführen, die sie in den Tod senden. Sie sehen nur zwei übernatürliche (wörtlich: ,himmlische‘) Folgen: den Sieg für den Glauben (wörtlich: ,ein siegreicher Gazi zu werden‘) oder das Martyrium. Wissen Sie, was das letztere bedeutet? Es führt direkt ins Paradies, wo die Huris, die schönsten Frauen Gottes (,les plus jolies femmes de Dieu‘) sie empfangen und ihnen in aller Ewigkeit ihre Wünsche erfüllen werden. Was für ein großes Glück. Sie sehen, Madame, dass meine Männer niemals stupide sind, wenn sie versuchen, ein Chéhid (Glaubenszeuge) zu werden.“ Süleymân Nazîf, Âbide-i Şühedâ, Istanbul 1343/1925.

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wenige Jahre jünger als Abdülhakk Hâmid. Eine Gemeinsamkeit des Sebastopol-Gedichts und seiner Werbeschrift für ein Denkmal in Çanakkale bestand nicht nur im Zitieren der Verse Hâmids, sondern auch in der Erwähnung von christlichen Bestattungen innerhalb der Sichtweite der islamischen Gräber. Süleymân Nazîf behandelte den Commonwealth-Friedhof auf der Halbinsel von Gallipoli schon auf den ersten Seiten seines Aufrufs: ,,Die Engländer gaben Millionen von Goldstücken aus und errichteten ein gewaltiges Monument für ihre Toten in Çanakkale. Dabei gehörte der größte Teil der englischen Soldaten, die in Çanakkale starben, nicht ihrer Rasse (ırk) an.34 Während derartige Gedenkzeichen (nişân-ı tezâkir) (selbst) Menschen gewidmet werden, die nicht für ihr Heimatland (vatan) kämpften, ist alles, was wir für unsere (eigenen) Männer tun können, sehr wenig. Allerdings sehen wir bei dem gegenwärtigen Denkmal für unsere Märtyrer nichts anderes als einen Bogen des endlosen Vergessens (tâk-ı nisyân bî-payân).“ Dieser Bogen, den Nazîf hier anspricht, ist nicht der gnädige Himmel der Gestirne, den Abdülhakk Hâmid 1881 über den Gräbern der Gefallenen von Sevastopol beschwor, sondern offensichtlich ein einfacher, offener Kuppelbau auf vier Säulen, von dem der Architekt Doğan Erginbaş vor 1950 eine Skizze angefertigt hat.35 Süleymân Nazîf rief auf zu Spenden für ein würdigeres Monument, das die gesamte Nation repräsentiert. Ein außerhalb der Landmauern von Istanbul existierender Heldenfriedhof (Şehîdlik)36 war weit entfernt von Süleymân Nazîfs Vorstellungen: ,,In Istanbul gibt es einen Friedhof für die Soldaten, die als Verwundete von der Dardanellenfront gebracht wurden und die [erst] in der Hauptstadt den Märtyrertod erlitten.37 Diese Gedenkstätte wird von einer staatlichen Einrichtung mit öffentlichen Mitteln unterstützt. Doch handelt es sich um die Aufgabe der gesamten Nation, ihre Schuld gegenüber den gefallenen Soldaten zu bezeugen.“ Zu diesem Zeitpunkt hat sich die konkrete Verwendung von şehîdlik als ,,Kriegerfriedhof“ neben der abstrakten Grundbedeutung ,,Martyrium“ bereits durchgesetzt. Früh schon wurden von şehîd abgeleitete Verben mit dem Tod

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Er bezieht sich auf die Australier und Neuseeländer des Anzac-Armeekorps. Doğan Erginbaş, Anıt-Kabirler ve Zafer-Asker Anıtları, Istanbul 1950, S. 34 Abb. 32. Dieser erste offizielle Kriegerfriedhof in Istanbul wurde nach der Proklamation der Republik (1923) dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt. Ab 1924 wurde sein Unterhalt einer privaten Vereinigung übertragen (Erdem Yücel, Edirnekapı Şehitliği, in: Dünden Bugüne İstanbul Ansiklopedisi, Bd. 3, Istanbul 1995, S. 133. Süleymân Nazîf erhielt hier vier Jahre nach seinem Tod ein Ehrengrab durch die Istanbuler Verwaltung (Süleyman Nazif mezarı Edirnekapı, in: Mimar 2, 21–22 (1932), S. 199–201. Casimir H. Baer (Hg.), Der Völkerkrieg. Eine Chronik der Ereignisse seit dem 1. Juli 1914, Bd. 8, Stuttgart 1917, Abb. vor S. 204: ,,Begräbnis türkischer Soldaten in Defterdar am Goldenen Horn“.

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im Glaubenskrieg verbunden: occumbere, pec. In bello contra Infideles.38 Das 1890 gedruckte Lexikon von Redhouse gibt nach ,,quality or condition of a martyr“ die Übersetzung ,,burial ground where many martyrs were buried“. Damit ist aber nicht unbedingt ein zeitgenössischer Kriegerfriedhof gemeint.39 Die Vermeidung von ,,Undankbarkeit“ (nânkörlük) im Sinne einer patriotischen Verpflichtung ist ein Schlüsselbegriff in Süleymân Nazîfs Rede.40 Sein Âbide-i Şühedâ-Projekt sollte die toten Kämpfer an sämtlichen Fronten (Kaukasus, Irak, Palästina, Syrien) sowie die Märtyrer des Unabhängigkeitskriegs (İstiklâl şehîdleri) ehren. Nach seiner Auffassung würden alle Beiträge den Helden gefallen, die in Galizien, am Isonzo, in der Dobrudscha und Mazedonien starben. Nach meiner Kenntnis wurde Süleymân Nazîf’s Denkmalkomitee nie gebildet und damit auch seine Idee von einem nach-osmanischen ,,Nationaldenkmal“ nicht verwirklicht. Realisiert wurde dann erst deutlich später ein modernes und riesiges Monument am südlichen Eingang der Dardanellen. Es ging zurück auf einen Entwurf des schon genannten Architekten Doğan Erginbaş und wurde erst am 21. August 1960 eingeweiht.41 Es ist – typisch für jene Zeit – als Säulentempel gestaltet, der auf einfachen geometrischen Verhältnissen aufgebaut wurde. Doch auch das Çanakkale-Monument hatte Gegner aus einer, im Rückblick, unerwarteten Richtung. Mehmed Akif Ersoy (1873–1936), der Verfasser der türkischen Nationalhymne, in der alle Türken als Söhne der Märtyrer angesprochen werden,42 und unbeugsame Wortführer einer islamischen Türkei, hatte sich gegen ein ,,steinernes Mausoleum“ (taş türbe) für die Märtyrer von Çanakkale ausgesprochen, als er 1924 die Verse veröffentlichte: ,,Eingehüllt in die Gnade Gottes 38

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Franciscus à Mesigien Meninski, Thesaurus Linguarum Orientalium, Wien 1680, Bd. 2, Sp. 2890. Besonders ausführlich die Definition bei Julius Theodor Zenker, Türkisch-ArabischPersisches Handwörterbuch, Leipzig 1866, S. 554: ,,Zeuge, Blutzeuge (Für Gott Erschlagene oder Gefallene; die Araber nennen Blutzeugen auch die an der Pest Gestorbenen, Ertrunkenen und im Mutterleib gestorbenen, die Türken auch solche die an Krankheiten während eines Feldzuges, wenn auch ruhig auf dem Lager zu Grund gehen, dann alle in Friedenszeiten hingerichteten Islamiten).“ James W. Redhouse, A Turkish and English Lexicon, Constantinople 1890, S. 1145. Ähnlich unbestimmt und eher euphemistisch schon Ende des 17. Jahrhunderts z. B. bei Evliya Çelebi, Seyahatname, Istanbul 2000, S. 280. Der Begriff ,,Dankbarkeit“ in patriotischer Hinsicht erscheint auch im Titel eines Kinderbuchs des sehr bekannten, aller religiösen Neigungen unverdächtigen Schriftstellers Aziz Nesin (1915–1995), Borçlu olduklarımız. Çocuklara öğütler, Istanbul 1976. Cahit Sıtkı Tarancı (1910–1956) forderte in einem Gedicht ,,Der Unbekannte Soldat“ auf, gegen die wachsende ,,Undankbarkeit“ gegenüber den Kämpfern vorzugehen (Otuzbeş yaş, Istanbul 1946). Doğan Erginbaş, Anıt-Kabirler, Abb. 33 mit der Unterschrift ,,Çanakkale Zafer ve Meçhul Asker Abidesi“ (Abb. 4). ,,Du bist der Sohn eines Märtyrers, es wäre bedauerlich, würdest du deinen Vater verletzen“ (Sen şehîd oğlusun, incitme yazıktır, atanı).

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Abbildung 4: Çanakkale-Monument (Quelle: Doğan Erginbaş, AnıtKabirler ve Zafer-Asker Anıtları, Istanbul 1950, Abb. 33).

werden diese verheiligten Diener in kein steinernes Mausoleum eingehen, denn sie erwarten nicht mehr als dass der Wanderer die Fâtiha (1. Sure) [vor ihnen] rezitiert.“43

Der Unabhängigkeitskrieg 1919–1922 So wichtig der Unabhängigkeitskrieg für die Entstehung des türkischen Nationalstaats und auch den Mythos von Atatürk war, so zurückhaltend verlief doch die monumentale Erinnerung an die Toten des Krieges. Auch das spiegelt die – im Vergleich zu Europa – weit geringere Bedeutung der Kriegerdenkmäler in der Türkei wider. Das Denkmal für den Unabhängigkeitskrieg wurde zwar 1929 eingeweiht, es bündelte aber nie eine gesamtnationale Erinnerung an den Krieg, seit den 1950er Jahren stand es dann völlig im Schatten des Atatürkmausoleums. 43

Andere Aspekte berührt Michael Reinhard Heß, Siegen die Märtyrer des Islams oder besiegen sie den Islam? Zu Mehmed Ersoys Ode an die Kämpfer von Çanakkale, in: Helga Anetshofer u. a. (Hg.), Über Gereimtes und Ungereimtes diesseits und jenseits der Turcia. Festschrift für Sigrid Kleinmichel zum 70. Geburtstag, Berlin 2008, S. 49–79.

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Zekeriya Sertel: Eine patriotische Pilgerfahrt und der Unbekannte Soldat

Inzwischen warteten die Opfer des Unabhängigkeitskriegs von 1919 bis 1922 auf eine würdige zentrale Gedenkstätte. Am 30. August 1924, dem zweiten Jahrestag der Schlacht bei Dumlupınar, reiste Mustafa Kemal mit seiner Gattin und einer hochrangigen Delegation nach Çalköy, wo er das griechische Invasionsheer entscheidend geschlagen hatte. In seiner Gegenwart wurde der Grundstein für ein bis heute als ,,Denkmal des Unbekannten Soldaten“ bezeichnetes Monument gelegt. Tatsächlich gebrauchte Mustafa Kemal am Ende seiner etwa einstündigen Rede den Namen Şehit Asker âbidesi (,,Denkmal des gefallenen Soldaten“), der die opferbereite und heldenhafte türkische Nation repräsentieren werde. Mit einem Schlusssatz, der einen Gruß an den Şehit Asker einschloss, verabschiedete er sich von dem früheren ,,Kriegsschauplatz bzw. Ort des Heldentodes“ (savaş ve şehitlik diyarından). Hier wird şehit adjektivisch verwendet und kann kaum anders als mit ,,gefallen“ übersetzt werden. Falih Rıfkı Atay (1894–1971), ein Teilnehmer der Gedenkveranstaltung von 1924, beschwor das Ereignis bereits in einer nationalistischen Substitution der religiösen Terminologie, ein Verfahren, dessen sich auch andere Autoren später bedienten: ,,Die Pilgerfahrt (ziyaret) nach Dumlupınar ist der hacc der Türken. Wer immer dazu [körperlich und materiell] in der Lage ist, wird diesen Ort umschreiten. Die Herzen aller Türken wenden sich alltäglich in diese Gebetsrichtung (kıble).“ Im Jahr 1925 entflammte eine Diskussion über die Frage der Totenehrung. Sie war eine unvermeidliche Folge der überragenden Rolle von Mustafa Kemâl bei der Verteidigung der Meerengen und als Organisator des Unabhängigkeitskriegs. Am 31. August 1925 veröffentlichte der unabhängige Journalist Zekeriya Sertel (1890–1980) in seiner Zeitschrift ,,Resimli Ay“ unter dem Pseudonym Seyyah einen Artikel ,,In der Gegenwart des Unbekannten Soldaten“ (,,Mechûl şehîdin huzûrunda“).44 In seiner Vorstellung existierte dieses Monument bereits, gebildet aus Rauchsäulen und einer Kuppel aus Feuer. ,,Das von dem Volk bewirkte Wunder kann alleine durch das Grabmal eines unbekannten und namenlosen Helden repräsentiert werden.“ Er fuhr mit der visionären Beschreibung eines nationalen Arafat fort, indem er gleichzeitig die Verhöhnung der traditionellen Pilgerfahrt auf die Spitze trieb. Der ,,neue“ Arafat, so Zekeriya, werde den Ort ablösen, an dem die Mekka-Pilger nachts kampierten. Er werde Scharen von ,,nationalen Pilgern“ (millî hacılar) anziehen, die nicht in den ihrâm, das weiße Tuch der Mekka-Pilger, gehüllt seien, sondern das Grabmal in roten Gewändern, die das Blut der Märtyrer symbolisierten, umschreiten würden. Dumlupınar habe dann die Eigenschaften 44

1. August 1341 M./1925 unter dem Pseudonym Seyyah. Genau genommen wählte er also das Wort Märtyrer. Daraus die folgenden Zitate.

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eines nationalen Arafat angenommen. An Stelle des religiösen Arafat bei Mekka, den man annähernd 1300 Jahre (im Rahmen der islamischen Wallfahrt) umschritten habe, sei nun im Orient45 ein neuer Arafat geschaffen worden. Dieser neue Arafat sei weder ein Erdhaufen, der sich bedeutsam dünkt, noch eine Kette von Felsen mit scharfkantigen Klippen. Es sei vielmehr ein Gipfel des Sieges, der seine Existenz der Aufhäufung der Gebeine der Märtyrer verdankt. Deshalb auch seien die nationalen Hadschis, die sich hier in langen Reihen aufstellten, nicht in weiße Pilgergewänder gekleidet. Wenn die Menschen, welche den Umgang um den ,,Unbekannten Soldaten“ vollziehen – analog zur Kaaba in Mekka – einer besonderen Kleidung bedürften, dann sei ihre Farbe durch die Erhabenheit des Ereignisses bestimmt. ,,Man kann sich nur den Märtyrern nähern, wenn man selbst in ein Hemd aus Feuer [für jemand der durch eine schwere Prüfung gegangen ist], in ein rotes Gewand gehüllt ist.“ Auch wenn Zekeriya Mustafa Kemâl gegenüber den gebührenden Respekt erweist, indem er sagt, dass die Verteidigung Anatoliens eine Welle voller Enthusiasmus war, die unmittelbar von dem ,,großen und unvergleichlichen Gazi“ inspiriert wurde und obwohl er seine Spalten mit einer Photographie des ,,Großen Helden nach dem militärischen und politischen Sieg“ schmückte, erschien unverzüglich eine harsche Reaktion aus der engsten Umgebung des Führers. Ali Kılıç (1889–1981), der enge Freund und Weggefährte Mustafa Kemâls, schrieb in der Istanbuler Zeitung ,,Akşam“, dass es nicht das ,,Volk“ war, das den Unabhängigkeitskrieg erfolgreich geführt habe, sondern Mustafa Kemâl allein. Ohne ihn wäre der Aufstand der Bevölkerung sinnlos geblieben. Man könne diesen Versuch, die Bedeutung des Oberkommandierenden durch die Propagierung der Idee eines ,,Unbekannten Soldaten“ zu mindern, deshalb nur als ,,Undankbarkeit“ deuten.46 Auch wenn Zekeriyas Vision nie verwirklicht wurde, näherte sie sich der europäischen Idee eines ,,Nationaldenkmals“ als direkter Fortsetzung religiöser Kulte durch patriotische Zeremonien. 1929, vier Jahre nach der Auseinandersetzung im krisengeschüttelten Jahr 1925, in der eine große kurdische Erhebung niedergeschlagen wurde, ist das erste Denkmal in Dumlupınar vollendet worden. Es wurde einem unbekannten Standartenträger (sancakdâr) gewidmet, dessen Leichnam angeblich von Mustafa Kemâl selbst in den Schützengräbern nach dem Sieg über die griechische Armee entdeckt wurde. Der Oberbefehlshaber war angeblich vom Anblick des Soldaten bewegt, dessen erstorbener Arm die Standarte noch in einer aufrechten Position festhielt. Wie immer es um den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte steht, die Berichterstattung über die Einweihung des Monuments zeigt, dass der 45 46

Dass auch die frührepublikanische Türkei einen Bestandteil des ,,Orients“ (şark) bildet, war für die zeitgenössischen Türken selbstverständlich. Ayşe Hür, Cumhuriyet’in terör aygıtı: İstiklal Mahkemeleri, in: Taraf, 05.07.2009 (http:// www.taraf.com.tr/makale/6398.htm) ohne Angabe der Ausgabe von Akşam.

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Begriff des Unbekannten Soldaten zumindest aus der staats- und parteinahen Presse allmählich verschwand. Am 30. August 1929, dem siebten Jahrestag der Schlacht, wurde das bescheiden dimensionierte Bauwerk, offensichtlich ohne Beteiligung wichtiger Persönlichkeiten schließlich eingeweiht. Atatürk begnügte sich während seines Sommerurlaubs in Istanbul mit der Entgegennahme von Glückwunschtelegrammen. Die maßgebliche Tageszeitung ,,Cumhuriyet“ veröffentlichte mit fast zweiwöchiger Verspätung am 11. September 1929 auf der Titelseite das Bild des Denkmals mit der Überschrift ,,Şehit Mehmetçik abidesi“.47 Der ,,Kleine Mehmed“ (Mehmetçik) war während des Weltkriegs zum sprichwörtlichen Vertreter des türkischen Landser geworden. Eine weiterer Textbeleg steht für die Unsicherheit bei der Ansprache von Gedenkstätten für Kriegsopfer. Als der Journalist Asım Us (1884–1967) im Gefolge des Ministerpräsidenten İsmet (İnönü) im Oktober 1931 in Triest einen Soldatenfriedhof besuchte, den er fälschlich mit dem Unbekannten Soldaten (Meçhul Asker) in Verbindung brachte, zeigte er sich äußerst beeindruckt: ,,Bis heute ist es der sinnfälligste Friedhof dieser Art, den ich gesehen habe [ … ] Die Italiener haben alles, was auf dem Schlachtfeld übrig blieb, auf diesem Friedhof gesammelt. So entstand so etwas wie ein Kriegsmuseum: Zerbrochene Helme, alle Arten von Waffen, Kanonen, Gewehre, Teile von Granaten, signierte Steine, usw., Worte von D’Annunzio [ … ] Die gesamte Jugend Italiens pilgert hierher. Die Erinnerungen an den Krieg werden so von der heutigen Generation auf kommende Generationen weitergetragen. Sie bekräftigen so den Sinn für das Sterben und die Opferbereitschaft um das Vaterland. Vor diesem Bild kam uns Dumlupınar in den Sinn. Auch dort haben wir ein Denkmal. Wir könnten diese Gedenkstätte in der Art wie es die Italiener machten, in eine lebendigere und aussagekräftige Form bringen.“48 Die Rolle des faschistischen Italien als Leitbild für die autoritär geprägte Türken ist bekannt, wenn auch wenig untersucht. Die Vorbildlichkeit des Totenkults, der mit diesem Zitat angedeutet wurde, bildete hierfür einen Ansatzpunkt. Die Schlachtendenkmäler von Çanakkale und Dumlupınar waren das Ergebnis von Mustafa Kemals militärischen Erfolgen, wurden aber in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als Gedenkstätten von dem 1953 in Ankara eingeweihten gigantischen Mausoleum für den Staatsgründer überschattet. Unabhängig von dem Ort und Zeitpunkt der Soldatentode blieb jedoch das Wort ,,Zeuge“ (şehid) für die Gefallenen als Adjektiv und Substantiv gültig und unersetzbar. 47

48

Ein detaillierte Zeittafel nennt den Cumhuriyet-Artikel vom 11.9. zwar korrekt als Quelle, spricht aber unerklärlicherweise von dem Einweihungszeremoniell für das ,,Denkmal des Unbekannten Soldaten“ in Çalköy (Utkan Kocatürk, Atatürk ve Türk Devrim Kronolojisi 1918–1938, Ankara 1973, S. 319). Asım Us, Hatıra Notları. 1930dan 1950 yılına kadar Atatürk ve İsmet İnönü Devirlerine ait Seçme Fıkralar, Istanbul 1966, S. 40f.

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Alle neuen zweisprachigen Wörterbücher geben unter ,,Gefallendenkmal“, ,,Monument for those who die in battle“ usw. Äquivalente wie şehitlik oder şehitler anıtı an.

Das Ende der Sakralisierung der Nation? Kriegstote seit 1950 Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Betrachtung der türkischen Kriegerdenkmäler von diesen frühen Beispielen bis zu den Gedenkstätten für die Gefallenen des Korea-Kriegs (1950–1953), der Zypern-Invasion (1974) und der Bekämpfung der kurdischen Guerilla (vor allem ab 1980) fortzusetzen.49 Beobachtern aus Europa wird dabei das fast vollständige Fehlen von kommunalen Kriegerdenkmälern auffallen (von denen allein in Frankreich 35.000 existieren). Die anhaltende Verehrung Atatürks und die kollektive Bestattung von Opfern im Kampf gegen die kurdische Guerilla auf dem Kasernengelände – statt in ihren Heimatorten – werfen letztlich die Frage auf, ob diese beiden Seiten eines patriotischen Kults überhaupt einen ungebrochenen Enthusiasmus für das Märtyrertum im Dienste des Vaterlandes reflektieren. Wie dem auch sei, das Andenken an die Gefallenen der jüngsten Zeit wird nicht nur in Form der Pflege von Grabstätten lebendig gehalten, sondern auch, eine türkische Besonderheit, durch zahllose Namen von Straßen, Stadtvierteln, Schulen und Schiffen. Letztlich wird für die national-religiöse Mehrheit der Bevölkerung der ab dem 11. Jahrhundert erworbene und im 20. Jahrhundert stark gefährdete Besitztitel auf das Territorium der Türkei bis heute durch das Blut der Märtyrer besiegelt. Der Text der Nationalhymne, in der insgesamt vier Mal von Märtyrern und dem Martyrium die Rede ist, bringt dies deutlich zum Ausdruck, auch wenn die Strophen fünf bis sieben nie gesungen und selten zitiert werden. Ungeachtet dessen können im türkischen Alltag auch ganz andere Beobachtungen gemacht werden: Nach dem Opferfest (Kurban Bayramı) des Jahres 1421/6. März 2001 erschien eine kurze Notiz in der größten türkischen Tageszeitung ,,Hürriyet“ unter dem Titel: ,,Ein Besuch bei den Märtyrern/Gefallenen (şehide ziyaret)“. Der Berichterstatter schrieb über Besucher des hier mehrfach genannten Kriegerfriedhofs außerhalb der Mauern Istanbuls (Edirnekapı Şehitliği), die sich damit beschäftigten, die Grabstelen zu reinigen und die mitgebrachten Blumen zu wässern. Sie sagten ihre Gebete auf und äußerten den Wunsch: ,,Unsere jungen Leute sollen nicht mehr sterben. Die jungen Männer, 49

Eine beim Innenministerium in Ankara eingerichtete speziellen Website (http:// www.sehitlervegaziler.gov.tr) klassifiziert die folgenden Gruppen von Gefallenen: Tote des Unabhängigkeitskriegs, des Korea-Kriegs, der Zypern-Intervention, Sonstige.

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die mit großem Tamtam in die Kasernen geschickt werden, sollen als Lachende und Tanzende zurückkehren.“ Die traditionelle, weit in die Gegenwart reichende doktrinäre Position verbietet den Müttern der Märtyrer die öffentliche Trauer, vielmehr schreibt sie ihnen Dankbarkeit für diese privilegierte Todesart vor. Ist das ein Zeichen für den Mentalitätswandel seit den frühen 1970er Jahren, als man nach der Besetzung Nordzyperns (1974) die Formel ,,Glaubenskämpfer oder Märtyrer“ (Ya Gazi ya Şehîd) aus allen Lautsprechern hörte? Die eingangs als nicht vollständig vollzogene Annäherung des türkischen Gefallenenkults an andere europäische Länder hat weniger in der Religion des Islam liegende Ursachen, lehnt diese doch prinzipiell die Ehrung von Toten ab, sondern in der nach wie vor ausschlaggebenden Lenkung der Rituale durch staatliche und militärische Instanzen. Die Tatsache, dass dem Krieg gegen die kurdische Guerilla die meisten türkischen Soldaten seit dem Korea-Krieg zum Opfer fallen, wird diese Politik auf absehbare Zeit kaum verändern.

USA Michael Geyer

Amerikanisches Totengedenken Privatisierung des Leides und Universalisierung der Toten Die im Krieg gefallenen amerikanischen Soldaten und Zivilisten sind erstaunlich lebendig. Sie sind im privaten und öffentlichen Leben nicht zu übersehen, was nicht heißt, dass die Mehrheit der Bevölkerung oder auch nur der Staatsbürger im engeren Sinne sie wahrnimmt. Doch sind sie aus der amerikanischen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Dieser Eigensinn der Toten ist umso erstaunlicher, als ihre Gesamtzahl gerade in den neueren Kriegen weit hinter derjenigen der großen Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts zurücksteht. Der letzte ,,große“ Krieg in diesem Sinne ist der bis 1975 dauernde Vietnamkrieg, in den die USA 1965 eingriffen.1 Merkwürdiger noch ist der Umstand, dass in einer Zeit, in der Sterben, Tod und Totengedenken aus dem öffentlichen Leben so gänzlich zurückgedrängt worden sind (wie man das jedenfalls von den USA behauptet), und sich kollektive Rituale des privaten Totengedenkens in eine unübersehbare Vielzahl von Trauer-Manifestationen und Eingedenken aufgelöst haben, das Gefallenengedenken eine so große Rolle spielt. Denkmäler und Memorials (monumentartige Gedenkanlagen) für gefallene Soldaten sind jedoch nur ein Ausschnitt aus einer viel umfangreicheren Praxis des Totengedenkens.2 1

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Die Zahl der Verluste variiert im Einzelnen, wobei insbesondere die Verluste im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg nicht genau zu bestimmen sind. Doch besteht Konsens darüber, dass der Bürgerkrieg der blutigste Krieg der amerikanischen Geschichte war. Es folgen, jeweils mit deutlichem Abstand, der Zweite Weltkrieg und der Erste Weltkrieg, sodann der Vietnam- und Koreakrieg sowie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg. Dabei ist zu beachten, dass die relative, auf die Gesamtbevölkerung bezogene Sterbequote den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (0,899 %) nach dem Bürgerkrieg (1,988 %) aber noch deutlich vor dem Zweiten Weltkrieg (0,307 %) zum zweitblutigsten Krieg in der amerikanischen Geschichte macht. Letzteres ist wichtig, wenn wir den jeweiligen zeitgenössischen Betroffenheitsgrad im Unterschied zu der historisch und medial vermittelten Bedeutung begreifen wollen. Siehe den im Rahmen der üblichen Margen verlässlichen Eintrag ,,United States military casualties of war“ bei Wikipedia, http://en.wikipedia.org/wiki/ United_States_military_casualties_of_war (28.4.2012). Die Rückkehr des Todes in das öffentliche Leben ist Gegenstand einer wachsenden akademischen Faszination. Vgl. Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im alten Ägypten, Frankfurt a. M. 2000; Thomas H. Macho/ Kristin Mirek

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Die ehrgebietenden Toten haben in den Vereinigten Staaten vor allem in jüngster Zeit ein wundersames Nachleben. Wie man sich das vorzustellen hat und was das heißt, will ich mit den folgenden Hinweisen und Überlegungen zeigen und kritisch bilanzieren. Zunächst muss einer Verwunderung über Amerika Ausdruck gegeben werden. Denn wenn man aus Europa kommt, betritt man gewissermaßen eine verkehrte Welt. Die öffentliche Meinung in Amerika – von der in Europa ganz zu schweigen – neigt dazu, über das Verschwinden des Todes und zumal des Kriegstodes in einem postheroischen Zeitalter zu räsonieren.3 Doch ein Besuch des Vietnam Memorials in Washington, D.C. oder des National September 11 Memorial & Museum – kurz 9/11 Memorial – in New York City wird jeden vom Gegenteil überzeugen. Die Vielzahl der Menschen, die diese und andere Denkmäler besuchen und lange Wartezeiten in Kauf nehmen, ist überwältigend. Man möchte diesen Strom von Menschen nicht voreilig sakralisieren, indem man sie mit Pilgern vergleicht (obwohl sehr viel dafür spricht), aber die meisten Touristen werden den Besuch dieser Gedenkstätten mit großer Sicherheit in ihr Programm aufnehmen. Eine Reise zu einem Gefallenendenkmal gehört einfach dazu. Wie schwer aber die Vereinigten Staaten in ein vorgefasstes Schema des Gefallenengedenkens einzupassen sind, wird am besten daran deutlich, dass das Vietnam Memorial ein Vietnam Veterans Memorial ist und emphatisch als Ehrenmal für alle, die toten wie die lebenden Vietnamkriegs-Teilnehmer der Streitkräfte gilt, und dass das 9/11 Memorial ,,Zivilgefallenen“ gewidmet ist. Es handelt sich keinesfalls um ein ,,Mahnmal“, sondern um ein ,,national tribute of remembrance and honor to the men, women and children killed in the terror attacks of September 11, 2001 and February 6, 1993“. Ein Teil der Öffentlichkeit, darunter viele politische Kommentatoren, versteht dieses Ehrenmal freilich als ein Rachemal.4

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(Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007; Thomas Assheuer, ,,Die neue Sichtbarkeit des Todes: Tod und Trauer sind ein öffentliches Ereignis geworden, nicht nur im Fall des Torhüters Robert Enke. Bedeutet dies das Ende der Verdrängung oder ist es der Anfang der Banalisierung“, in: Die Zeit, 19. November 2009. Vgl. Jessica Mitford, The American Way of Death, New York 1963; dies., The American Way of Death Revisited, New York 1998; Philippe Ariès / David E. Stannard (Hg.), Death in America, Philadelphia 1975. Postheroisch: Herfried Münkler, Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur 7–8 (2007), S. 742–752. Im Gegenzug: David Charles Sloane, The Last Great Necessity. Cemeteries in American History. Creating the North American Landscape, Baltimore 1991; Michael K. Bartalos, Speaking of Death. America’s New Sense of Mortality, Westport, Conn. 2009. Vgl. dagegen die deutsche Wikipedia Seite: http://de.wikipedia.org/wiki/National_ September_11_Memorial_and_Museum (11. 4.2012); Amerikanischer Text: http://www. 911memorial.org/ (11. 4.2012); Vietnam Memorial: http://www.nps.gov/vive/index.htm (11.4.2012). Das Motto des National Park Service (NPS), der für das Memorial verantwortlich ist, lautet: ,,The Wall that heals“ und führt aus: ,,Deliberately setting aside the

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Wenn man sich zudem die zahllosen Zeitungsartikel über Kriegstod und Kriegstote – die eigenen und die anderen – sowie die Bilder der Särge etwa in der liberalen New York Times ansieht oder die unendliche Zahl von Memorial Videos im Internet, die Beerdigungsprozessionen und Zeremonien vor Augen führt oder gar die absonderlich anmutende, aber populäre Tätowierung mit dem Namen eines Gefallenen, dann wird rasch klar, dass die Vorstellung einer Verdrängung des Todes im Allgemeinen und einer postheroischen Überwindung des Gefallenengedenkens für die Vereinigten Staaten nicht stimmen kann. Wir müssen vielmehr umgekehrt davon ausgehen, dass es ein äußerst lebendiges und differenziertes Gefallenengedenken und nicht so ohne weiteres vergleichbare und entzifferbare Formen eines in der amerikanischen Öffentlichkeit sehr präsenten Totenkultes gibt. Wenn überhaupt, dann kann man von einem Überschuss des Gedenkens sprechen, der vor kurzem etwas unglücklich als ,,memorial mania“ bezeichnet worden ist.5 Wenn allerdings schon die Vorannahmen über eine angebliche Todesverdrängung nicht stimmen, sollte man sich mit vorschnellen Schlussfolgerungen zurückhalten. Denn ob und wie dieses Gedenken tatsächlich in der Gesellschaft, Kultur und Politik greift, welche reale Wirkung dieses Gedenken hat, steht auf einem anderen Blatt. Dieser Effekt wiederum lässt sich nicht anhand von Denkmalen gleich welcher Art ableiten. Dazu müssen wir uns mit dem Totenkult im weitesten Sinne auseinander setzen – das heißt in erster Linie nicht mit der Symbolisierung durch Monumente und Denkmale, sondern mit der oftmals alltäglichen Ritualisierung von Leid. Dieses vielgestaltige Ritual führt uns vom Ort des Todes – der auch außerhalb des Schlachtfelds liegen kann – in einer langen Heimkehr zur Beisetzung des Gefallenen und darüber hinaus zu den Formen der Erinnerung nicht an ,,die Gefallenen“ schlechthin, sondern an den individuellen Soldaten, der ,,gefallen“ ist. Es gibt also ein lebendiges und obendrein eigenwüchsiges Totengedenken in den Vereinigten Staaten. Dieser Befund passt nur schwer in das kontinentaleuropäische Bild eines eher ,,monumentalen“ Gedenkens an die Gefallenen und in das Bild einer amerikanischen Kultur der Todesverdrängung. Daneben existiert auch eine umfassende akademische Literatur, die sich vorwiegend mit der Zeit seit dem Vietnamkrieg und mit der Erinnerung an ,,9/11“ beschäftigt hat6 , aber zunehmend auch in die Vergangenheit zurückgreift.7 Sie macht deutlich, dass das gegenwärtige Gedenken in den USA durchaus auf ältere Traditionen des Ge-

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controversies of the war, the Vietnam Veterans Memorial honors the men and women who served when their nation called upon them.“ Vgl. Erika Lee Doss, Memorial Mania. Public Feeling in America, Chicago 2010. Exemplarisch Marita Sturken, Tangled Memories. The Vietnam War, the AIDS Epidemic, and the Politics of Remembering, Berkeley 1997; Craig J. Calhoun u. a. (Hg.), Understanding September 11, New York 2002. Exemplarisch Drew Gilpin Faust, This Republic of Suffering. Death and the American Civil War, New York 2008.

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fallenengedenkens aufbauen kann. Deren Vielfalt und ihre gegenwärtigen Äußerungsformen zeigen sich sehr deutlich in der Bandbreite der Interpretationen, die auch nicht durch die Mode, alles und jedes als Trauma und Traumabewältigung zu verstehen, verkürzt werden kann.8 Doch dieser Beitrag soll kein Anlass zur akademischen Polemik sein. Denn im Grunde geht es der akademischen Literatur auch nicht anders als denen, die das Gefallenengedenken in der einen oder anderen Weise praktizieren. Sie alle mühen sich ab mit eigensinnigen Toten, die keine Ruhe geben wollen. So sehr wir nämlich Reinhart Koselleck im Prinzip zustimmen, dass die Toten nichts als tot sind und die Überlebenden das Totengedenken stiften, so sehr ist es in der Praxis doch der Fall, dass die Überlebenden einem Antrieb folgen, der nicht aus der eigenen Person kommt. Jedenfalls ist die von Koselleck angenommene – oder vielleicht auch nur behauptete – Souveränität der Überlebenden gemeinhin nur bei denjenigen zu sehen, die sich nicht um das Gefallenengedenken kümmern.9 Aber hier stehen wir bereits mitten im Feld des Gefallenengedenkens und seiner Kontroversen.

Friedhöfe, Denkmäler und Gedenkanlagen Die erste Bewegung auf diesem Feld ist leicht auch die falsche: die Tendenz, Gefallenengedenken mit Denkmalen oder Memorials (Gedenkanlagen) zu verbinden. Das Vietnam Memorial und vielleicht einige andere gehören zur amerikanischen Kultur. Das amerikanische Gefallenengedenken aber findet in erster Linie auf Friedhöfen statt wie etwa auf dem Arlington National Cemetery auf der gegenüberliegenden Seite des Potomac in Washington, D.C., auf anderen nationalen oder einzelstaatlichen Ehrenfriedhöfen oder in den städtischen und dörflichen Grabanlagen, die über das ganze Land verstreut sind. Die amerikanische Gedenkkultur ist immer noch zu einem guten Teil Friedhofskultur. Grabsteine sind deshalb, trotz aller Denkmalskultur, die wichtigsten Symbole des Gefallenengedenkens. Die Verbindung zur Beisetzung der Toten und der letzten Ruhestätte des Leichnams bleibt deshalb unmittelbar erhalten und wird auch visuell gestützt. Diese ikonenhaften Bilder des Gefallenengedenkens zeigen eine junge Frau oder einen Kameraden, der an der Grabstätte eines lieben Toten kniet, sitzt oder liegt und die Verbindung zu dem Gefallenen sucht.10 Ein 8

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Ein knapper Kommentar in diesem Sinne: Peter Jan Margry / Christina Sanchez-Carretero, Memorializing Traumatic Death, in: Anthropology Today 23 (2007), S. 1f.; Eric T. Dean, Shook over Hell. Post-traumatic Stress, Vietnam, and the Civil War, Cambridge 1997. Reinhart Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftung der Überlebenden, in: Odo Marquard / Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276. In Memoriam (Photo), in: New York Times, 28. 5. 2007, S. 1; Remembering one Who Gave His Life (Photo), in: New York Times 31. 5. 2010, S. 1; es handelt sich jeweils um ein Bild zum Memorial Day.

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anderes zeigt einen idyllischen Friedhof auf dem Lande, dessen Veteranengräber mit kleinen amerikanischen Fähnchen geschmückt sind. Das betrifft nicht nur die Gefallenen, sondern alle, die in einem Krieg gekämpft haben. Zwar ist nur ein kleiner Teil der Gräber so markiert, aber diese wenigen Fähnchen ragen als Zeichen der Anerkennung aus der Gräberlandschaft heraus.11 Damit findet die amerikanische Kultur des Gedenkens ihren prägnantesten Ausdruck in den Grabmalen. Eines der frühesten Denkmale für Kriegstote ist das Revolutionary Momument in Lexington, Massachusetts.12 Es wurde zu Ehren der ersten Todesopfer im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) errichtet und kennzeichnet die Grabstelle von acht Männern, die hier beigesetzt worden sind. Ein simpler Kegel schmückt – wie sonst die weit häufiger aufgestellten Obelisken – das Grab. Diese Anlage war ursprünglich ein Friedhof, der inzwischen aufgelassen worden ist, weshalb der Eindruck entstehen könnte, dass es sich hier um ein freistehendes Monument handelt. Ein anderes Beispiel dieser Art sind die beiden kunstvoll ziselierten Stein-Grabplatten auf dem inzwischen zum Park umgestalteten kleinen Friedhof der Trinity Church in der Wall Street in New York ganz in der Nähe des 9/11 Memorial. Die Anlage leidet unter den vielen Besuchern, die von dort aus Fotos von der gegenüberliegenden Großbaustelle auf dem ehemaligen Gelände der Twin Towers machen. Neben vielen bekannten Toten wie Alexander Hamilton, einem der amerikanischen ,,Gründungsväter“, findet sich hier auch das Grab zweier New Yorker Offiziers-Veteranen, Major John Lucas und Major Job Summer, die zufällig in der gleichen Einheit gekämpft hatten und 1789 innerhalb von zwei Tagen an einer Krankheit gestorben waren.13 Bemerkenswert ist die ehrgebietende Hervorhebung des Militärdienstes und des militärischen Ranges von Veteranen, die einen ,,zivilen“ Tod gestorben waren. Diese beiden Grabmale haben exemplarischen Charakter: Das amerikanische Gefallenengedenken schließt Kriegstote wie Veteranen ein; sein Zentrum ist der Friedhof. Dabei fällt eine Besonderheit auf. Zwar gibt es auch einzelne Grabanlagen und das Massengrab in Lexington für den Unabhängigkeitskrieg, aber angesichts der hohen Verluste würde man doch mehr erwarten, selbst wenn man die zivil-militärische Grabkultur berücksichtigt und wenn man bedenkt, dass die Bestattung der Gefallenen eine Aufgabe der militärischen Befehlshaber war. Hier fällt ein Anachronismus auf: denn im 18. Jahrhundert wurden die soldati11 12

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Laying Claim to Memorial Day, in: Chicago Tribune, 28. 5. 2007, S. 5. Larry Bond, The Mighty Fallen. Our Nation’s Greatest War Memorials New York 2007, S. 34. Die lokalen Gefallenen wurden 1835 exhumiert und samt Grabmal auf die Lexington Battle Green überführt. Aus dem Grabmal wurde so ein Denkmal. Ein zusätzliches Monument, die Minutemen Statue, ist dann um 1900 aufgestellt worden, http:// www.libertyride.us/historic.html#1 (8. 4. 2012). Eigener Augenschein. Die beiden gehören nicht zu den bedeutenden Zeitgenossen: http:// www.nndb.com/cemetery/805/000208181/ (20. Mai 2012)

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schen Toten, einzeln oder gemeinsam, ohne besonderen Aufwand begraben. Die Überlebenden feierten statt dessen die Siege und ihre Feldherrn.14 Auch in der amerikanischen Miliz-Armee der Unabhängigkeitskriege hatten einfache Soldaten noch keinen besonderen Status. Im Gegenteil, sie wurden nicht besser oder schlechter behandelt als die Masse der Bevölkerung. Außer der Beisetzung blieb nicht viel übrig, und wenn es überhaupt ein Grab gab, dann ist dieses längst aufgelassen worden.15 Diese Abwesenheit der Toten des Unabhängigkeitskrieges und das weitgehende Fehlen einer zeitgenössischen Denkmalskultur verweisen auf die große Wende im Gefallenengedenken in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bereits vor dem Bürgerkrieg (1861–1865), im Antebellum Amerika, gab es Anzeichen für eine solche Transformation der Gedächtniskultur,16 etwa mit der Errichtung einzelner Denkmäler für die verblassende Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg. Ohne die Erfahrung und Verarbeitung des Bürgerkrieges wäre diese Wende des Gefallenengedenkens jedoch nicht vorstellbar.17 Wiederum wird man bei der Wahrnehmung der Ausdrucksformen Vorsicht walten lassen müssen; denn die mit dem Bürgerkrieg so häufig in Verbindung gebrachte Denkmalskultur entstand erst nach einer grundsätzlichen Neugestaltung der Bestattungs- und Friedhofskultur. Letztere nahm im Bürgerkrieg die Form an, die wir heute noch kennen. Die bislang private, kirchliche und kommunale Bestattung wurde in eine einzelstaatliche oder nationale Kriegsgräberkultur umgewandelt. Die individuelle Bestattung auf dem jeweiligen Heimatfriedhof war grundsätzlich möglich, wenn auch wegen der vielen Überführungen mit erheblichem Aufwand verbunden. Auch wenn die meisten Hinterbliebenen das wünschten, blieb die persönliche Bestattung doch selten, weil einer massenhaften Rückführung der Leichen hohe Hindernisse entgegenstanden. Die neue kollektive oder besser: kommunitäre Form der Beisetzung spiegelte vielmehr eine wachsende nationale Identität einerseits und eine regimentsorientierte soldatische Identität andererseits wider.18 14 15

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George Washington wäre das erste Beispiel hierfür. Robert E. Cray Jr., Commemmorating the Prison Ship Dead. Revolutionary Memory and the Politics of Sepulture in the Early Republic, 1776–1808, in: William and Mary Quarterly 56 (1999), S. 565–90. Vgl. Lucy Elizabeth Frank, Representations of Death in Nineteenth-Century US Writing and Culture, Aldershot 2007; Gary Laderman, The Sacred Remains. American Attitudes toward Death, 1799–1883, New Haven 1996. Vgl. Faust, Republic of Suffering; John Neff, Honoring the Civil War Dead. Commemoration and the Problem of Reconciliation, Lawrence 2005; Mark S. Schantz, Awaiting the Heavenly Country. The Civil War and America’s Culture of Death, Ithaca 2008. Vgl. John W. Busey (Hg.), The Last Full Measure. Burials in the Soldiers’ National Cemetery at Gettysburg, Hightstown 1988.

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Mit der Nationalisierung und der militärischen Zentrierung des Kriegstodes im Gefallenengedenken ging eine Individualisierung der Gefallenen einher. Dies erscheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Denn erst der nationale Rahmen schuf die Voraussetzung dafür, dass der Soldat als Individuum beigesetzt und erinnert wurde, das aus der Gemeinde hervorstach. Auch wo Massengräber angelegt wurden, achtete man auf die Möglichkeit, die Personen im Grab identifizieren zu können, damit Angehörige den Ort besuchen konnten. Prägend war, dass die Toten mit einem hohen Aufwand identifiziert und auf großen Soldatenfriedhöfen individuell beigesetzt wurden. Diese Form des individuell separierten Massenbegräbnisses wurde im Bürgerkrieg aus der Not geboren und stellte zugleich eine symbolische Bestrafung der Südstaaten dar. Da die Zahl der Soldaten, die nicht auf dem Schlachtfeld, sondern nachtäglich an ihren Verletzungen gestorben waren, im Raum Washington so hoch war, dass die provisorischen Friedhöfe überfüllt waren, wurde kurzerhand das Anwesen des Generals der Konföderation, Robert E. Lee, für die Beisetzung der Toten genutzt. 1864 wurde das Areal dann offiziell zum Friedhof (für Unions-Soldaten) deklariert. Zusammen mit dem etwas älteren United States Soldiers’ (and Airmens’) National Cemetery wurde der Friedhof in Arlington der erste Nationalfriedhof in den Vereinigten Staaten.19 Mit dem Arlington National Cemetery begann eine Entwicklungslinie, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Arlington kann als Urbild für die weiteren 145 nationalen Friedhöfe gelten, die in den einzelnen US-Bundesstaaten liegen und weniger bekannt und spektakulär sind.20 Dazu kommen 24 Friedhöfe in Übersee. Dieses System der Nationalfriedhöfe ist ein weiterer Grund dafür, warum das Gefallenengedenken in den Vereinigten Staaten seitdem in erster Linie eine Friedhofskultur ist. So wichtig jedoch dieser Grundzug zur Charakterisierung des amerikanischen Gefallenengedenkens ist, so wird man auch hier auf einen Anachronismus hinweisen müssen. Die Entwicklung führte zwar ganz sicherlich zu den ikonisch gewordenen Soldatenfriedhöfen vor allem des Ersten und dann des Zweiten Weltkrieges mit ihren unendlichen Reihen von Gräberfeldern – individualisierter Massentod als Stein gewordene Realität – und ihren monumentalen Gedenkstätten.21 Die Arbeit der vom Kongress 1923 ge19

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Vgl. James Edward Peters, Arlington National Cemetery. Shrine to America’s Heroes, Bethesda 2008; Edward Steere, Shrines of the Honored Dead. A Study of the National Cemetery System, Washington, D.C 1954. Website des Department of Veterans Affairs, das 131 nationale Friedhöfe verwaltet. Das Department of the Army verwaltet zwei und der National Park Service im Department of Interior weitere 14 nationale Friedhöfe. http://www.cem.va.gov/cem/cems_nmc.asp. (28. 4. 2012); http://www.cem.va.gov/cems/listcem.asp. ( 28. 4. 2012) Eindrücklich Reinhart Koselleck/ Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Jay M. Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning, The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995.

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gründeten American Battle Monuments Commission, welche den Einsatz, die Auszeichnungen und die Opfer der Streitkräfte würdigen sollte (also mehr war als eine Kriegsgräberfürsorge) und auch die Friedhöfe in Übersee verwaltete, blieb allerdings auf die beiden Weltkriege beschränkt.22 Die neueren amerikanischen Friedhofsanlagen (seit dem Bürgerkrieg) sind darüber hinaus überwiegend in Europa zu finden (sowie in Nordafrika, Mexiko, Panama und auf den Philippinen), und sie sind durch das europäische Vorbild geprägt. Aber insgesamt blieben diese auf fremden Boden angelegten Friedhöfe eine Ausnahme in der Geschichte der Vereinigten Staaten, ebenso wie der massenhafte Monumentalismus dieser Grabanlagen.23 Die Ausnahme jedoch wirkte insofern stilbildend, als diese monumentale Tradition im World War II Memorial aufgegriffen wurde.24 Kehren wir deshalb noch einmal kurz zurück zunächst nach Arlington und dann zum amerikanischen Bürgerkrieg.25 Wenn die Kriegsgräberanlagen des Ersten und Zweiten Weltkrieges vor allem durch ihre schiere Serialität und Homogenität betroffen machen, so zeigt ein genauerer Blick auf Arlington doch etwas anderes. Zwar sind die amerikanischen Grabanlagen ebenfalls gleichförmig und damit ähnlich angeordnet wie die europäischen Soldatenfriedhöfe; der Friedhof selbst aber ist in Abschnitte aufgeteilt, in denen Gleiches zu Gleichem kommt. So konzentrieren sich die Gräber von Militärseelsorgern auf dem Chaplains Hill, und die Gräber der Krankenpflegerinnen liegen alle in der Nähe eines Denkmals, das ihrem Gedenken gewidmet ist. Diese geordnete Vielfalt, wenn nicht vielfältige Unordnung, wird dadurch noch größer, dass die im Prinzip gleichen Grabsteine im Detail bis heute variiert werden können. Das führte zu einem zähen Kampf zwischen einer auf Regulierung drängenden Militärbürokratie – der Arlington Cemetery ist dem Heeresministerium unterstellt – und einzelnen oder kollektiven Interessenvertretern, die eine spezifische Identität des gefallenen Soldaten hervorheben wollten und dies im Namen des Toten vor Gericht einklagten.26 Ziehen wir zudem in Betracht, dass Arlington ein Ehrenfriedhof ist, auf dem auch Präsidenten wie John F. Kennedy als Oberbefehlshaber begraben sind und auf dem Gefallene ebenso beigesetzt werden können wie Veteranen, 22 23 24 25 26

http://www.abmc.gov/home.php. (28. 4. 2012) Ron Robin, Diplomatie et commémoration. Les cimetières américains en France (1918/1955), in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 42(1995), S. 126–141. National World War II Memorial: http://www.nps.gov/nwwm/index.htm. (28. 4. 2012). Peters, Arlington National Cemetery. Dass sich die Friedhofsverwaltung selbst als dysfunktional erwies, stellte sich in einem Skandal 2010 heraus, der bestätigte, was sich auch etwa gleichzeitig in der Veterans Administration zeigte. Bei aller Hochachtung von Veteranen und Gefallenen, zählen sie in der Praxis weder im aktiven Militär noch in der Politik viel. Diese Differenz zwischen Diskursivität und Praxis läßt sich durchgehend beobachten, aber ist erst neuerdings medienwirksam geworden.

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dann wird deutlich, dass die gesamte Anlage bei aller Ähnlichkeit mit den europäischen Kriegsgräber-Friedhöfen doch ein eigenes, amerikanisches Gepräge hat. Der wohl wichtigste Unterschied liegt darin, dass Arlington, wie alle amerikanischen Nationalfriedhöfe, nicht allein den im Krieg Gefallenen, sondern allen Angehörigen der Streitkräfte gewidmet ist. Festzuhalten ist daher zweitens, dass selbst auf dem zentralen Nationalfriedhof kommunitäre (gruppenorientierte) Tendenzen ebenso wenig zu unterdrücken sind wie individualisierende. Auf dieses Element der Interessenvertretung in Sachen Gefallenengedenken und Veteranenehrung und der spontanen Ausgestaltung an sich einheitlicher Designs werden wir noch zurückkommen, wenn wir uns die gegenwärtige amerikanische Gedenkkultur näher anschauen. Die Frage allerdings bleibt, wie wir von der Stiftung einer nationalen Friedhofskultur zu einer Gedenkkultur im Allgemeinen und zu deren Repräsentation in der Form von Denkmalen und monumentalen Anlagen kommen. Man könnte sich das als Fortsetzung, als Überhöhung, Monumentalisierung und Säkularisierung von Grabanlagen vorstellen. Doch das reicht nicht, um die Kreativität des Totengedenkens im und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg zu verstehen.27 Dass gerade in der Zeit nach dem Bürgerkrieg, im Postbellum, die Versuche eines Ausgleichs der im Bürgerkrieg gespaltenen Gesellschaft ebenfalls einen Nationalisierungs- und Sakralisierungsdruck erzeugt haben, sei hier nur nebenbei erwähnt.28 Denn während die nationalen Friedhöfe auf der sakralen Bedeutung des Totengedenkens aufbauten und religiöse Formen gewissermaßen nationalisierten, ist umgekehrt die Sakralisierung des Nationalen und insbesondere der Kriegstoten das eigentliche Kennzeichen der im Bürgerkrieg entstehenden Kultur des Gefallenengedenkens.29 Das Schlachtfeld von Gettysburg ist in dieser Hinsicht die entscheidende Stätte und die knappe Rede Abraham Lincolns am 19. November 1863 ist das entscheidende Ereignis. Der Präsident kam nach Pennsylvania, um ganz in der Tradition militärischer Befehlshaber einen Teil des Schlachtfeldes als Friedhof für die Gefallenen einzuweihen.30 Er fuhr dann aber in einer berühmten Wende 27 28 29

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Dazu eindrücklich Drew Gilpin Faust, The Civil War Soldier and the Art of Dying, in: Journal of Southern History 67 (2001), S. 3–38. Vgl. William Blair, Cities of the Dead. Contesting the Memory of the Civil War in the South, 1865–1914, Chapel Hill 2004; Neff, Honoring the Civil War Dead. Vgl. James M. Mayo, War Memorials as Political Landscape. The American Experience and Beyond, New York 1988; G. Kurt Piehler, Remembering War the American Way, Washington D.C. 1995. Der Text findet sich bei http://avalon.law.yale.edu/19th_century/gettyb.asp. (28. 4. 2012) ,,We are met on a great battlefield … We have come to dedicate a portion of its final resting place for those who here gave their lives that he nation might live. It is altogether fitting and proper that we should do this.“ Zur Interpretation: Garry Wills, Lincoln at Gettysburg: The Words that Remade America, New York 2006.

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fort: ,,But in a larger sense we cannot dedicate – we cannot consecrate – we cannot hallow this ground. The brave men, living and dead, who struggled, here, have consecrated it far above our poor power to add or detract.“ Lincoln sprach aus, was zwar in der Luft lag, aber auf diese Weise und mit dieser Autorität noch nie gesagt worden war. Die Soldaten sakralisieren mit ihrem Einsatz den Boden, auf dem sie gefochten haben, und sie sakralisieren sich damit selbst. Ihre Bereitschaft zu kämpfen und zu sterben, heiligt die Sache und spornt die Überlebenden an, das Ziel zu erreichen. Die Überlebenden stehen in der Nachfolge der Toten – aber (im Unterschied zu einem tatsächlichen ,,Totenkult“ wie etwa im Nationalsozialismus) nicht, um zu sterben, sondern um im Leben die Mission der Toten zu erfüllen.31 ,,It is rather for us to be here dedicated to the great task remaining before us – that from these honored dead we take increased devotion to that cause for which they here gave the last full measure of devotion – that we here highly resolve that these dead shall not have died in vain.“ Das ist demokratischer Totenkult par excellence. Die Heiligung, jedenfalls der Vorbildcharakter des Soldaten liegt in der Freiwilligkeit des Einsatzes für die gemeinsame Sache und damit für die Nation, die wiederum die Kämpfer dafür ehrt, dass sie für die gemeinsame Sache eingetreten sind, die dann im Frieden realisiert werden muss. Diese Metaphysik der Totenehrung ist inzwischen ausführlich beschrieben und kritisch seziert worden.32 Ihre längerfristigen Folgen sind bekannt; denn der Diskurs, der 1863 so rhetorisch brillant angestoßen wurde, dauert bis heute an und hat nichts von seiner Kraft verloren. Freilich steuerte Lincolns Rede das Gegenteil von dem an, was mit dem Gefallenengedenken als Totenkult passierte. Denn die Schlussfolgerung zielte nicht auf den Bau von Denkmalen oder einen Erinnerungstourismus (und schon gar nicht auf die Nachfolge in den Tod33 ), sondern ihm ging es darum, das Kriegsziel in dauerhafte Politik umzusetzen: ,,That this nation shall have a new birth of freedom; and that this government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.“ Lincoln forderte das politische Überleben der Nation durch eine Neubegründung der Freiheit ein. Die Ehrung der Gefallenen und die soziale Absicherung der Überlebenden waren ein Mittel unter anderen zu diesem Zweck. Nicht toter Stein, nicht Rückerinnerung, sondern ein ,,living memorial“, die Verwirklichung des Ziels einer besseren Gesellschaft, eine Zukunftsbestimmung also, wurden 31 32 33

Wegweisend: Drew Gilpin Faust, A Riddle of Death. Mortality and Meaning in the American Civil War, Gettysburg 1995. Vgl. Cecilia Elizabeth O’Leary, To Die for. The Paradox of American Patriotism, Princeton 1999. Vgl. Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow 1996.

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hier beschworen. Der wichtigste Ausdruck des Gefallenengedenkens waren insofern das Ende der Sklaverei und die dazu nötige Verfassungsrevision durch die 12., 13. und 14. Ammendments und, wie es nicht anders sein kann, eine Patronagepolitik, die sich in der Beschäftigung von Veteranen zum Beispiel in den Postämtern des Landes niederschlug.34 In diesem Sinne wurde auch am Ende des Zweiten Weltkrieges argumentiert, dass das einzig wirkliche monument, das Veteranen und Gefallene ehre, in der Verbesserung der amerikanischen Gesellschaft bestehe. Das drückte sich unter anderem in der ,,GI Bill“ aus (dem Servicemen’s Readjustment Act aus dem Jahr 1944, der die Wiedereingliederung der Soldaten in die zivile Gesellschaft erleichtern sollte), aber auch im Programm zum Ausbau eines nationalen Highway-Netzes. Für die Toten gab es die Ehrenfriedhöfe in Europa und in Amerika. Monumente brauchten weder die einen noch die anderen, so jedenfalls stellte es sich zeitgenössisch dar. Sie waren geehrt durch das ,,living memorial“ einer Politik, die einhielt, was sie im Krieg versprochen hatte, und die den Veteranen durch besondere Privilegien dankte.35 Diese Haltung war einerseits eine Reaktion auf den Monumenten-Rummel, der sich in der Erinnerung an den Bürgerkrieg ab den 1880er Jahren herausbildete, andererseits hatte sie Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Denn es dauerte bis in die 1980er Jahre, dass eine neue Welle von Denkmalserrichtungen anschwoll, die bis heute das Land immer weiter überspült. Gefallenengedenken als Monument-Kultur hat seinen zeitlich und geographisch fest umrissenen Platz in der Zeit der Weltkriege und zwar in Übersee vorwiegend auf den europäischen Schlachtfeldern. Er ist weder Ausdruck einer ,,amerikanischen Gesellschaft“ noch einer wie immer gearteten Moderne des Massentodes, und selbst die Bestimmung als demokratische Erinnerungskultur ist umstritten, wenn wir die Vorstellung eines ,,living memorial“ als alternativen, ja in vieler Hinsicht primären Ausdruck einer demokratischen Gedenkkultur betrachten.36 Überhaupt entstanden ,,Monumente“ – Kriegerdenkmäler – als Teil der Erinnerungskultur erst relativ spät. Die Mehrzahl datiert aus der Zeit zwischen dem Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere aus der Periode zwischen 1890 und 1920, einer Phase des rasant wachsenden Reichtums und der Ausbreitung einer amerikanischen Bürgerlichkeit, verbunden mit sozialer 34 35

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Vgl. Wallace Evan Davies, Patriotism on Parade. The Story of Veterans’ and Hereditary Organizations in America, 1783–1900, Cambridge 1955. Zur kunsthistorischen Dimension: Andrew M. Shanken, Planning Memory. Living Memorials in the United States during World War II, in: Art Bulletin 84 (2002), S. 130–147; vgl. auch die kurze Diskussion in Piehler, Remembering War the American Way. Vgl. Suzanne Mettler, Soldiers to Citizens. The G.I. Bill and the Making of the Greatest Generation, Oxford 2005.

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Ungleichheit im Rahmen der Verstädterung und der rapide voranschreitenden Industrialisierung Amerikas. In diesem Boom entfaltete sich ein veritabler Monumentenboom, der schon von Zeitgenossen als Manie verstanden wurde.37 Wir können ihn als Teil einer breiteren Erinnerungskultur erkennen, die in einer Zeit des rapiden sozialen Umbruchs und einer neuen Einwanderungswelle Vergangenheit in Form von Symbolen und Statuen der Nation vorbuchstabierte. Die Ikonographie dieser Monumente war außerordentlich traditionell. Sie stellten führende Männer dar, zu Pferde oder abgesessen, seltener Embleme und Allegorien; Obeliske und Pyramiden dominierten. Sie sollten an wichtige Stationen einer glorreichen amerikanischen Vergangenheit denken lassen. So wurden gerade in dieser Zeit eine Vielzahl an Denkmalen gestiftet, die an den Unabhängigkeitskrieg erinnerten. Unter diesen ikonenhaften Heroen fanden sich Paul Revere (Boston), James Edgar Oglethorpe (Savannah, Georgia), der ,,kämpfende“ Präsident Andrew Jackson (Washington, D.C., New Orleans und Tennessee), aber auch ,,Der Flaggenträger“ (Bedford, Massachusetts; Savannah, Georgia).38 Dieser Trend der Personifizierung heroischer Persönlichkeiten hat zwar nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweilig nachgelassen, aber auf lange Sicht hat sich diese Anverwandlung des aristokratischen Reiterstandbildes gehalten. Neuere Beispiele dafür sind die Statuen von General George Patton in der United States Military Academy in West Point, New York, oder von ,,Iron Mike“, wie ein Denkmal für besonders tapfere Soldaten umgangssprachlich genannt wird, in der Garnison der 82nd Airborne Division in Fort Bragg, North Carolina. Das vielleicht Interessanteste an der Kontinuität dieser Statuen ist die soziale Bandbreite der Personifizierten – heutzutage kommen in der amerikanischen Alltagskultur auch Football- und Baseball-Spieler ganz selbstverständlich für einen Platz auf dem Sockel in Frage – und der Umstand, dass sie sich neuerdings nicht mehr in ihrem Sonntagsgewand, sondern in ihrer Arbeitskleidung – im Falle des Militärs: im Kampfanzug – zeigen. Typisch ist ebenfalls, dass sie von einzelnen Gruppen oder Institutionen gestiftet werden, die sich durch die Qualitäten der personifizierten Gestalt vertreten fühlen. Prägend bleibt die gleichzeitige Verbürgerlichung und Militarisierung, ein gutes Beispiel für Bellizismus.39 Das soldatische Gedenken selbst tendiert dagegen eher zur Allegorisierung. Während die Toten von Gettysburg zunächst identifiziert, dort beerdigt und dann auf die ,,nationalen“ Friedhöfe umgebettet worden waren,40 entwickelte sich vor Ort eine massenhafte Kultur von Memorials, die von den Bundesstaaten geför37 38 39 40

Vgl. Doss, Memorial Mania. Beispiele: Bond, The Mighty Fallen. Vgl. Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008. Vgl. Busey, The Last Full Measure.

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dert wurden und die die militärischen Einheiten des jeweiligen Staates repräsentierten. Der idealtypische Freiwillige der 155th Pennsylvania Volunteer Infantry, der ,,Zouave Soldier“, bekam eine Statue wie ein General, während die 72nd Pennsylvania Infantry mit ihrer Muskete, der ,,clubbed musket“, berühmt wurde. Andere bekannte Memorials in Gettysburg gehören beispielsweise der 4th Ohio Infantry, der 5th New Hampshire Infantry, der 78th und der 102nd New York Infantry, der 13th New Jersey – oder den Pettygrew’s Men von North Carolina, um zumindest einen der südstaatlichen Marker zu nennen.41 Diese Aufzählung dient zunächst als Hinweis darauf, dass gerade an ,,geheiligten“ Orten ein Gedenktourismus floriert. Lincolns hohe Worte zogen eine durch und durch regionalisierte und parzellierte Ausgestaltung des Schlachtfeldes nach sich. Hier handelt es sich um Erinnerungsmale im wörtlichen Sinne, um ,,kleine“ Formen der Erinnerung. Denn ihr Zweck besteht bis heute darin zu zeigen, welche Einheit und welcher Bundesstaat an der dreitägigen Schlacht bei Gettysburg Anfang Juli 1863 teilgenommen hatten. Deshalb auch sind die Nord- und Südstaaten in Gettysburg gleichermaßen vertreten. Sie alle partizipierten und profitierten von der Lincolnschen Sakralisierung des Schlachtfeldes und seiner Soldaten und besagten nicht mehr und nicht weniger, als dass ,,wir“ dabei waren. Es brauchte also die Sakralisierung von Gettysburg, um diese besondere Form der Erinnerungskultur als nachholender und befriedeter (Nord und Süd vereinender) Beteiligung in Gang zu setzen. Es handelt sich bei diesen Erinnerungs-Markern bundesstaatlicher Einheiten gewissermaßen um offizielle Graffiti, also die Einschreibungen einer soldatischen Gedenkkultur. Da diese Gedenkkultur auf der bundesstaatlich und lokal identifizierbaren Milizkultur des Bürgerkriegs aufbaute, war sie bis in die Gegenwart hinein tief in der Zivilgesellschaft verankert. Lokalstolz und Nationalstolz verbanden sich hier ganz unvermittelt. Die beiden Weltkriege brachten in diese wuchernde Gedenkkultur eine räumliche Distanz – die Schlachtfelder und Friedhöfe waren ,,over there“ – und damit eine stärkere Konzentration auf das Nationale, wie man dies von einer nationalen Wehrpflichtigen-Armee erwarten kann. Diese Distanz drückte sich in einer Achtung und Ehrfurcht gebietenden Monumentalität aus. Die Ästhetik dieser Denkmale war eindeutig europäisch geprägt und allegorisch überladen. Es fehlt den Monumenten der American Battle Monuments Commission der landestypische und kommerzielle Kitsch, der Vertrautheit und landsmännische Verwandtschaft andeutet und vielleicht deshalb so amerikanisch anmutet.42 Man bewegt sich in einer allegorischen Welt der Monumentalästhetik, die vor allem dadurch beeindruckt, dass sie überdimensioniert, eben monumental, ist.43 Dieser Drang 41 42 43

Allgemein dazu Blair, Cities of the Dead. Man vergleiche die ABMC Website mit der Übersicht ,,War Memorials in Parks“ der Stadt New York bei http://www.nycgovparks.org/about/history/veterans. (12. Mai 2012) Beispiele auf der Website der American Battle Monuments Commission: http://

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zum Erhabenen ist dann in die Vereinigten Staaten reimportiert worden und fand seinen Ausdruck im Grabmal des Unbekannten Soldaten und im Memorial Amphitheatre (1921) auf dem Nationalfriedhof in Arlington.44 Diese Anlage hinterläßt den Eindruck einer zunehmenden Distanz zwischen der Gesellschaft und ihren Denkmalen. Sie wurde ein Ort für offizielle Ehrungen. Doch die Monumentalkultur konnte das Gefallenengedenken nur kurzzeitig an sich binden. Die Folgegeschichte des Grabmals des Unbekannten Soldaten bestätigt dies.45 Die Anlage mit ihrem Memorial Amphitheatre war eigentlich gedacht als ein Haltepunkt, wo Familien in dem unbekannten Soldaten ihren eigenen Sohn erkennen und um ihn trauern konnten. Die Familien aber zogen es vor, stellvertretend die Namen der Gefallenen auf den Familien-Grabsteinen einzugravieren, wo die Grabsteine dann mit kleinen Flaggen als ,Kriegergrab’ gekennzeichnet wurden. Auch die Anknüpfung an die folgenden Kriege lief ins Leere. Zwar wurden weitere unbekannte Soldaten des Zweiten Weltkriegs, des Korea- und Vietnamkriegs, dort bestattet, aber sobald moderne Analyseverfahren die Identifizierung unbekannter Soldaten möglich machten, wurden die Überreste exhumiert und den betroffenen Familien übergeben. Mit ihrem Namen erhielten die Toten auch eine eigene Grabstätte. Für einen historischen Moment schien es so, als ob der ,,Staat“ Hauptakteur des Gefallenengedenkens sein könnte; aber die Entwicklung verlief anders. Vorschnelle Schlüsse sollte man deshalb aus dieser Denkmalskultur nicht ziehen. Ausgerechnet mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges trat eine deutliche Ernüchterung über die monumentalen Aspekte des Veteranen- und Gefallenengedenkens ein. Ob dies auch für die Veteranen selbst zutraf, ist zu bezweifeln. Denn insbesondere das superrealistische und überheroische ,,Iwo Jima“ – offiziell: das Marine Corps War Memorial – deutet darauf hin, dass in einer anverwandelten, maskulinen und figurativen Formensprache die Denkmalskultur großen Anklang fand.46 Das amerikanische Publikum wollte seine Helden ,real‘ sehen, nicht versinnbildlichen. Es traf sich in Veteran Halls und bei loka-

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www.abmc.gov/home.php. Dass es dennoch nicht ohne die ,,kleinen“ Formen geht, zeigt die Übersicht der American War Memorials Overseas, http://www.uswarmemorials.org/. (28.4.2012) http://www.arlingtoncemetery.net/tombofun.htm (28.4.2012). Zu dieser Geschichte gehört auch, dass die Veteranen nach dem Ersten Weltkrieg ins politische und gesellschaftliche Abseits abgeschoben wurden. Dazu: Paul Dickson / Thomas B. Allen, The Bonus Army. An American Epic, New York 2005. Im Jargon der ,,taz“ würde man auf Deutsch von einer ,,Kranzabwurfstelle“ sprechen, was nur vor dem Hintergrund der Distanzierung der Deutschen vom Gefallenengedenken möglich ist. Im Amerikanischen wäre eine solche Bezeichnung undenkbar. Auch Kritiker würden sich nicht erlauben, so despektierlich über die Toten und ihre Denkmale zu reden. http://www.nps.gov/gwmp/marinecorpswarmemorial.htm (28.4.2012). Jost Dülffer, ÜberHelden: Das Bild von Iwo Jima in der Repräsentation des amerikanischen Sieges, in: Freitag, 8. September 2006.

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len Paraden. Aber selbst diese Artikulationen einer Veteranenkultur und eines Gefallenengedenkens ändern nichts daran, dass in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg der politische Druck, an Soldaten und Veteranen mit Denkmalen zu erinnern, zeitweilig deutlich zurückging – noch bevor der gesellschaftliche Konsens über Vietnam zerbrach. Der Staat war mit seinem monumentalen Gedenken in eine Sackgasse geraten. Nicht nur Intellektuelle und Künstler lehnten solche Denkmale ab. Die USA hatten bereits im Koreakrieg (1950–1953) große Schwierigkeiten, ein allgemein akzeptiertes Gefallenengedenken für Kriege zu gestalten, die an medialer Präsenz gewonnen hatten, aber doch nicht als Überlebenskriege verstanden wurden. Diese Spannung zwischen populärer Gedenk- und Erinnerungskultur einerseits und nationaler Monumenten- und Monumentalkultur andererseits hat sich seit dem Bürgerkrieg durch die gesamte amerikanische Geschichte gezogen. Sie konnte in der nationalen Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg noch aufgehoben werden. Bereits im Koreakrieg aber trat sie wieder offen zu Tage und wurde im Vietnamkrieg vollends zum Problem, als der bellizistische Grundkonsens der amerikanischen Gesellschaft verloren ging.47 Die Toten dieser Kriege fanden deshalb lange Zeit keinen Ort der Ruhe. Im Gefallenengedenken kam es zu einem Hiatus. Es bedurfte einerseits einer Neubegründung der ästhetischen Formensprache des Gefallenengedenkens, andererseits einer gesellschaftlichen Bewegung, welche die geehrten Toten vom Staat zurückverlangte, um eine Gesellschaft zu versöhnen, die seit dem Vietnam-Krieg zerstritten war. Die Problematik der Versöhnung ist nicht neu. Historisch haben Gettysburg und später Arlington den sakralen Raum für eine Anerkennungspolitik geschaffen, der schließlich auch ein Stück der Lincolnschen Problematik geopfert wurde. Aber wo und wie sollte dies nach dem Auseinanderbrechen des gesellschaftlichen Zusammenhalts der Nachkriegszeit geschehen?

Nationales Gedenken Ort, Politik und Form der erneuten Versöhnung waren gleichermaßen überraschend.48 Der Moment kam unerwartet aber der Ort war vielversprechend. Er kam an einem Ort, der im Nachhinein dafür prädestiniert schien, aber nicht dafür vorbereitet war: der National Mall in Washington, D.C. Der Streifen 47

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Gar nicht so sicher ist, ob das Erreichte genügt, um tatsächlich einen nationalen Konsens – und sei es nur in Fragen der Gefallenenverehrung – zu schaffen. Das ist der Hintergrund des aufschlussreichen Bandes von John R. Gillis (Hg.), Commemorations. The Politics of National Identity, Princeton 1994. Kirk Savage, Monument Wars. Washington, D.C., the National Mall, and the Transformation of the Memorial Landscape, Berkeley 2009.

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Land, der sich an das Kapitol anschließt und in der ursprünglichen Planung eine Prachtstraße werden sollte, wurde aber in eine Parklandschaft und schließlich in eine Art Commons, eine Bühne der Nation, verwandelt, die mit Denkmalen und Museen ein singuläres nationales Gedenkensemble bildet. Und es kam so selbstverständlich als ,,nationales“ Denkmal daher, als ob es schon immer nationale Denkmäler auf amerikanischen Boden gegeben hätte. Zwar waren seit dem 19. Jahrhundert nationale Friedhöfe und seit dem frühen 20. Jahrhundert die überseeischen Denkmale errichtet worden, aber ein ,,national memorial“ – das war neu. Dass dieses Memorial zu einem Zeitpunkt kam, als der korporative Staat des 20. Jahrhunderts überall im Rückzug war, die alten gesellschaftlichen Spannungen noch keineswegs ausgeheilt waren und sich neue politische Zerklüftungen abzeichneten, und obendrein modernistisches Denken und Design von Prä- und Postmodernen gleichermaßen angegriffen wurden – war all das nicht zu erwarten. Die Besucher nehmen das Memorial nicht nur an, sondern schreiben ihm nachgerade eine kathartische, eine heilende Wirkung zu. Das machte es gar zu einem – im 19. Jahrhundert hätte man gesagt: – heiligen oder sakralen Ort. Davon wollte und will zwar niemand mehr reden, aber es herrscht doch Einigkeit darüber, dass dieses Memorial seine Besucher zutiefst berührt.49 Führen wir uns also das national und international wohl bekannteste Kriegerdenkmal der Vereinigten Staaten vor Augen. Das 1982 eingeweihte Vietnam Veterans Memorial auf der National Mall in Washington, D.C., liegt in einem Park, der recht eigentlich der Mittelpunkt der Hauptstadt und jedenfalls der Ort ist, an dem sich die Nation trifft, sei es zum Feiern, zum Erinnern oder zum Protestieren. Auf Grund der Vielzahl zirkulierender Bilder, sehen und – erstaunlicher Weise – verstehen wir dieses von Maya Lin, einer jungen Studentin der Yale University entworfene Denkmal, selbst wenn wir die Stätte nie persönlich besucht haben sollten, denn es hat inzwischen weit über den Ort hinaus eine ikonische Ausstrahlungskraft gewonnen.50 Man kann ganz in der deutschen Tradition von der ,,Aura“ des Monuments reden.51 ,,I imagined taking a knife and cutting into the earth, opening it up, an initial violence and pain that in time would heal. The grass would grow back, but the initial cut would remain a pure flat surface in the earth with a polished, mirrored surface, much like the surface of a geode when you cut it and polish the edge. The need for the names to be on the memorial would become the memorial; there was no need to embellish

49

50 51

Vgl. Ingrid Gessner, Kollektive Erinnerung als Katharsis? Das Vietnam Veterans Memorial in der öffentlichen Kontroverse, Frankfurt am Main 2000. Der durchaus gelungene Versuch, das Numinose diskursiv aufzulösen, hat m.E. gerade den umgekehrten Effekt. http://www.nps.gov/vive/index.htm (29.4.2012). Vgl. Miriam Hansen, Cinema and Experience. Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, and Theodor W. Adorno, Berkeley 2012.

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the design further. The people and their names would allow everyone to respond and to remember.“52 Da ist also zunächst der Schnitt in die Rasenfläche und der allmähliche Abstieg unter die Erde hin zum tiefsten Punkt, dem Schnittpunkt der Schenkel des Denkmals, und der Aufstieg aus der Erde und die Rückkehr in das geschäftige Treiben der Mall. Dieser Schnitt in die Erde soll an die Wunde erinnern, die der Vietnamkrieg riss, nimmt aber auch die sehr viel ältere Erfahrung des Abstiegs in die Unterwelt auf. In dieser Bewegung von der Oberfläche in die Tiefe und zurück geht der Besucher entlang einer angewinkelten, auf den tiefsten Punkt zulaufenden Wand aus poliertem schwarzen Granit, weshalb dieses Memorial auch The Wall genannt wird. Auf dieser Wand sind die Namen der im Vietnamkrieg Gefallenen eingetragen. Diese Liste beansprucht Vollständigkeit, wird mit großer Gründlichkeit geführt und umfasst inzwischen 58195 Namen. Die Namen können einzeln auf der Homepage des Memorials abgerufen werden, die eine kurze Zusammenfassung der militärischen Verwendung, der Todesursache, sowie des Status des Toten, ob geborgen oder vermisst, widergibt.53 Täglich wird an Geburtstage oder Todestage der Gefallenen erinnert mit dem Hinweis, wo die entsprechenden Namen jeweils zu finden sind. Die eingravierten Namen sind also mit einem elektronischen Gedächtnis versehen. Sowohl die physische Welt der ,,Mauer“ als auch die virtuelle Welt der Namen machen die jeweilige Einzelperson des gefallenen Soldaten zum Mittelpunkt oder besser zum Spiegel der Erinnerung. Deshalb ist der hauptsächliche Eindruck trotz der nahezu sechzigtausend Namen nicht derjenige der Massenhaftigkeit, sondern des individuellen, der Anonymität entrissenen Todes. Schließlich reflektiert die polierte Granitmauer mit ihren Namen den Betrachter, sei es, dass er bloß vorbeigeht oder dass er einen Namen genauer ins Auge fasst. Diese Reflexion des Besuchers im Namen der Toten wird virtuell wiederholt, wenn einzelne Namen auf der Webseite abgerufen werden. In dem einen wie dem anderen Falle entsteht eine Bindung zwischen Lebenden und Toten, in der sich die Lebenden im Namensfeld der Toten sehen und die Toten durch die Lebenden entweder auf der ,,virtuellen Mauer“ des Bildschirmes oder durch das namentlich wahrnehmende ,,Ins-Auge-fassen“ aufgerufen werden. ,,In the design of the memorial, a fundamental goal was to be honest about death, since we must accept that loss in order to begin to overcome it. The pain of the loss will always be there, it will always hurt, but we must acknowledge the death in order to move on.“54 Das Vietnam Memorial ist also nicht schlechthin eine stellvertretende oder symbolische Erinnerung an die Toten, sondern es erinnert, indem es als erinnerndes Medium zwischen Lebenden und – in den eingravierten Namen präsenten – 52 53 54

Maya Lin, Making the Memorial, in: New York Review of Books 2 (2000), S. 33–35. http://www.virtualwall.org/ Lin, Making the Memorial.

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Toten fungiert. ,,The use of names was a way to bring back everything someone could remember about a person. The strength in a name is something that has always made me wonder at the ,,abstraction“ of the design; the ability of a name to bring back every single memory you have of that person is far more realistic and specific and much more comprehensive than a still photograph, which captures a specific moment in time or a single event or a generalized image that may or may not be moving for all who have connections to that time.“55 Eine Vielzahl an Berichten und Eintragungen in das Gästebuch des Memorials bestätigt, dass sich viele Besucher dieser Symbiose zwischen Lebenden und Toten bewusst sind und deshalb das Memorial aufsuchen. Es ist durchaus folgerichtig, dass diese ornamentlose Besinnung dann doch nicht genug war für die politisierte Öffentlichkeit. Der kleinere der Eingriffe bestand darin, gegenüber dem Eingang in das Memorial ein figuratives Element hinzuzufügen, eine ,,realistische“ Skulptur, die Three Servicemen Statue. Sie stellt drei ,,combat soldiers“ dar, laut ihrer Befürworter heroisch und lebensnah. Diese drei – ein Weißer, ein Schwarzer und ein Chicano-Soldat (ein Amerikaner mexikanischer oder lateinamerikanischer Herkunft) – bilden ein multikulturelles Ensemble, und es gab eine lange Debatte darüber, ob nicht eine Krankenpflegerin hinzugefügt werden sollte, was aber letztlich abgelehnt worden war.56 Die entsprechende Statue fand in Arlington ihren Platz. Der heftige Streit ging über den ,,schwarzen Grabstein“ des Memorials von Maya Lin einerseits und andererseits den angeblichen ,,thousand yard stare“ der drei Soldaten, die, wie man sagte, nach ihrem Namen auf der Totenliste des Memorials suchten. Jede Seite fühlte sich durch die andere verunglimpft. Dabei ist das Linsche Memorial ein schwarzer Grabstein, es sollte nichts anderes sein, und die angeblich so heroischen Soldaten sind sehr menschlich und sehen außerordentlich verloren drein, und genau das wollte der Bildhauer auch darstellen. Auf beiden Seiten stimmen ästhetische Darstellung und rezeptive Vorstellung nicht überein. Dies ist deshalb möglich, weil die Formensprache – figurativ vs. abstrakt – eine gewisse inhaltliche Vorstellungswelt nach sich zieht, noch bevor sie gesehen wird. Figurativ ist gleich traditionell ist gleich heroisch ist gleich Opferbereitschaft. Abstrakt ist gleich modern/intellektuell ist gleich anti-Krieg ist gleich Drückebergerei. Solche diskursiven Ketten ziehen sich durch die gesamte neuere Diskussion über das Gefallenengedenken in Amerika. Indem das Vietnam Veterans Memorial nicht in der Lage war, diese Ketten zu sprengen, hat es nichts

55 56

Lin, Making the Memorial. http://www.vvmf.org/ThreeServicemen. (28.4.2012); Karal Ann Marling and John Wetenhall, The Sexual Politics of Commemoration: The Vietnam Women’s Memorial Project and ,,The Wall“, in: Prospects 14 (1989), S. 341–72.

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bewegt.57 Der grundlegende Unterschied blieb bestehen, dass die Three Servicemen Statue in den Augen ihrer Befürworter etwas vorstellt und damit Sinn stiften soll, während das Vietnam Veterans Memorial eine Einstellung ganz wortwörtlich zu evozieren versucht. Diese Einstellung besteht im intimen Dialog mit den Toten, der am Denkmal exemplarisch realisiert werden kann. Wie verquer die Debatten in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren verliefen, zeigte sich an dem zweiten nationalen Memorial, das auf der Mall errichtet wurde – dem Korean War Veterans Memorial. Seine Konstruktion hatte die Cooper-Lecky Architects übernommen (nachdem sich die Gewinner des ersten Preises wegen radikaler Veränderungsaufforderungen zurückgezogen hatten), die gleiche Firma, die auch das Vietnam Veterans Memorial errichtet hatte.58 Die Firma fügte figurative, abstrakte und historisch deskriptive Elemente zusammen und schuf damit ein durchaus eindrucksvolles Ensemble, in dessen Mittelpunkt 19 überlebensgroße Stahlstatuen von Soldaten der vier Waffengattungen – Army, Marines, Navy, Air Force – standen. Ihnen fehlt allerdings weitgehend ein affektueller Gehalt, es kommt kaum zu emotionalen Reaktionen bei den Besuchern. So ist 1995 ein erzählendes Memorial eröffnet worden, das, in dieser Beziehung nicht unähnlich den wirklichen Soldaten des Koreanischen Krieges, nach Anerkennung sucht. Im Gegensatz dazu ist das dritte Memorial, das National World War II Memorial, nachgerade überwältigend in seinen Proportionen und seiner Monumentalität.59 Es nimmt die formale Ästhetik der Weltkriegsdenkmäler auf und definiert sich als ,,symbolisch für das entscheidende Ereignis des 20. Jahrhunderts“, was sich in einem ausladenden Ornamentalismus niederschlägt. Dieses Denkmal ist ganz ohne Zweifel als Gegenmodell und Gegenprogramm zum Vietnam Veterans Memorial gedacht – als eine Schaubühne für den ,,good war“ und die ,,greatest generation“.60 Es erhebt einen universalen und imperialen Anspruch und stellt die Vereinigten Staaten dar als Befreier der Welt von Tyrannei und spiegelt ein Geschichtsbild wider, das den Zweiten Weltkrieg als konsequente Fortsetzung des Unabhängigkeitskrieges und des Bürgerkrieges versteht. Ob die intendierte Sinnstiftung auch Erfolg haben wird, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Das monumentale Ensemble ist sicherlich überdimensioniert genug, um Erstaunen hervorzurufen. Aber der Eindruck ist doch eher der eines Freilichtmuseums, in dem man immer wieder auf von Film und Fernsehen her bekannte Bild- oder Textreferenzen 57 58 59 60

Sanford Levinson, Written in Stone: Public Monuments in Changing Societies, Durham, N.C., 1998. http://www.nps.gov/kowa/index.htm. (28.4.2012) http://www.wwiimemorial.com/. (28.4.2012) Michael C. C. Adams, The Best War Ever. America and World War II, Baltimore 1994; John E. Bodnar, The ,,Good War“ in American Memory, Baltimore 2010; Kristina Scholz, The greatest story ever remembered. Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg als sinnstiftendes Element in den USA, Frankfurt a. M. 2008.

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stößt. Das macht dieses Denkmal insgesamt nicht weniger beliebt, doch stimmt das Publikum insgesamt darin überein, dass es das nicht einlöst, was es hätte tun sollen – die Geschichte des Zweiten Weltkrieges als Drehpunkt der Weltgeschichte greifbar zu machen und die Besucher damit in ehrfürchtiges Erstaunen zu versetzen. Denkmale offerieren Deutungsangebote der Überlebenden. Das WeltkriegsMemorial zeigt das überdeutlich, weil es so ziemlich alle sinnstiftenden Elemente der letzten hundert Jahre zitiert. Es ist in diesem Sinne post-modern. Aber solche Monumente bleiben ,,kalt“, solange sie nur zu den Überlebenden sprechen, ob sie nun imperial oder demokratisch, abstrakt oder figurativ sind. Das Geheimnis der erfolgreichen Denkmale besteht darin, dass sie eine Verbindung mit den Toten vermitteln. Gefallenendenkmale bleiben in diesem Sinne der Friedhofsarchitektur verpflichtet. Genau das hat man dem Vietnam Memorial vorgeworfen; genau das wollten die anderen nationalen Memorials nicht sein; und gerade darin, nicht in der Formensprache oder der politischen Aussage per se, liegt seine Anziehungskraft. Das Erstaunliche ist, dass die Zwiesprache zwischen Lebenden und Toten allem Anschein nach tatsächlich stattfindet und dass abstrakte Formen dafür besser geeignet sind als konkrete.61 Die Toten haben ihren Eigensinn, wobei dieser Sinn letztendlich darin liegen wird, was die Besucher mit dem Vietnam Memorial machen. Maya Lin wie ihre Kritiker haben überhaupt nicht in Betracht gezogen, dass die Besucher ihren ganz eigenen Umgang mit diesem Memorial entwickeln würden. So legten die Besucher von Anfang an ,,Hand an“. Das heißt, die Widerspiegelung der Überlebenden in den Namen der Toten war nicht genug. Die Vorbeigehenden hielten ein und berührten die Namen, sie legten sich an die Wand, als ob sie den schwarzen Spiegel durchdringen wollten – Freunde und Bekannte der namentlich genannten Toten ebenso wie völlig Fremde, Veteranen ebenso wie Nachgeborene. Gestandene Männer und Frauen weinten öffentlich und alle schienen dies als das Natürlichste der Welt zu begreifen. Angesichts der Vielzahl von Photos dieser Art in den Medien könnte man sogar sagen, dass das sozusagen die lebendige Wahrheit des Memorials ausmachte. Bekannte, aber auch Fremde umarmten sich wie selbstverständlich in gemeinsamer Rührung. Es gehört zum rituellen Umgang mit dem Memorial, dass das Intime und Persönliche in der Öffentlichkeit artikuliert wird. Weniger berührte Besucher traten einfach in die zweite Reihe und zollten ihren Respekt. ,,I thought the Memorial was perfect, sad, beautiful – it made me cry and that’s what I needed […] It felt good to cry near the names of those I had touched […] I was with them again. The Wall made me face reality. It allowed me to grieve.“62 61 62

Kristin Ann Hass, Carried to the Wall. American Memory and the Vietnam Veterans Memorial, Berkeley 1998. Ebd., S. 8.

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Wie bei bei allen Denkmalen gibt es auch hier einen lebhaften Handel mit Mementos des Besuchs, aber das genügt hier nicht. Besucher legen wiederum ,,Hand an“. Sie machten Abriebe einzelner Namen – und da ein ,,John Rambo“ der tatsächliche Name eines der Gefallenen war, gewannen diese Abriebe ganz besondere, dann auch kommerziell ausbeutbare Beliebtheit. Im Unterschied zu anderen Memorials läßt die Aufsicht derartige persönliche und kommerzielle Geschäfte zu, wenn es diese auch zu steuern versucht. Das Vietnam Memorial macht eine offensichtlich intime Welt öffentlich. Man kann vielleicht sagen, dass es diese Welt evozierte oder hervorbrachte, aber die Gesten selbst gehen ganz offensichtlich auf Bräuche zurück, die allen verständlich sind, selbst wenn sie auf der Bühne der National Mall und mitten im Getriebe des Hauptstadttourismus einigermaßen befremdlich wirken und auch entsprechend kommentiert wurden. Dieses Memorial ist für viele zum stellvertretenden Grabstein geworden, an dem sie ,,ihre“ Toten oder ganz allgemein die Toten des Vietnamkrieges beklagen können. In der Anverwandlung der Besucher ist das Denkmal zu einer Klagemauer geworden – für eine Klage über das individuelle Leid ebenso wie für eine Klage über die vergessenen Gefallenen, sei es des Vietnamkrieges oder anderer Kriege. Dass diese Klage Respekt heischt und Anerkennung einfordert sowohl von der Gesellschaft als auch vom Staat, das gehört ebenfalls dazu. Die Selbstverständlichkeit des Tuns darf jedoch nicht über die grundsätzliche Provokation dieses Handelns hinwegtäuschen. Dies trifft auch auf eine weitere Geste zu, die nach einem weithin zitierten ,,urban myth“ damit begann, dass ein Veteran sein Purple Heart, seine Verwundeten-Medaille in den nassen Zement warf. In der Nachfolge haben bis in die Gegenwart Besucher des Memorials in großen Mengen alle möglichen Dinge hinterlassen, die sich jedem Versuch einer Klassifizierung entziehen. ,,The white bear with ribbons, pile of buttons, Sony Walkman and earphones, white lollipop, POW bracelet, yellow painted stake with black cloth ribbon, rosary, sock with note from USMC [US Marine Corps] John Christopher Robertson, 18 flags, Danag hat, toys, letters, assorted medals, Agent Orange t-shirt etc., etc.“63 Diese merkwürdige Praxis wurde zunächst einmal vom NPS für das Vietnam Memorial zugelassen. Typischer Weise wurde es dann später für das Weltkriegsmemorial zwar nicht explizit verboten (obwohl das Hinterlassen von Müll selbstverständlich untersagt ist), doch wird vom Aufsichtspersonal kontinuierlich und drängend davon abgeraten, als zu diesem Monument nicht passendem Verhalten. Inzwischen werden diese Dinge vom NPS sorgsam gesammelt, katalogisiert und aufbewahrt. Sie sind integraler Bestandteil des Vietnam Memorials geworden ebenso wie die elektronische ,,virtual wall“.64 63 64

Ebd. S. 103. Ebd., S. 22–24.

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Dieses Hinterlassen von Dingen bei allen möglichen Denkmälern ist inzwischen so sehr zu einer allgemeinen Gewohnheit geworden, dass der Sinn dieser Praxis nicht mehr so deutlich durchscheint. Es ist ein Brauch geworden.65 Offenbar handelt es sich hier um eine Gabe an die Toten. Es mag ein Abschiedsgeschenk sein, eine Trennungsgeste also. Aber es kann (und wird) ebenfalls als eine Art Austausch verstanden, als die Rückgabe eines hochgeschätzten Gegenstandes – man kann sich denken, wer etwa einen Lolli niedergelegt hat – als Tausch für die Gabe des Lebens. Das ist ein ungleicher Tausch, der nur andeutet; wie auch die Gesten des Niederkniens oder des Anlehnens, bzw. das Niederlegen vor den Stein des Vietnam Memorials (wir erinnern uns an das oben genannte Memorial Day Foto der beiden Frauen, die sich auf den Grabstein legen). Es ist als ungleicher Tausch eine Geste der flehenden Bitte, aber auch ein Akt der Befreiung. Maya Lin konnte diese Geste nicht ahnen, aber es ist diese Einstellung – die Evokation des Verlustes als ein Moment des Weiterlebens – die sie mit ihrem Memorial wecken wollte.

Schluss Wir sind damit an den Anfang zurückgekehrt. Die Geste der Gabe erinnert an die Totengaben einer zwar alten aber weiterhin praktizierten Grabkultur, die vielleicht zeitweilig verdrängt worden ist, aber doch eine neue Verbreitung erfahren hat. Sie war und ist ein integraler Bestandteil des amerikanischen Gefallenengedenkens. Decoration Day war der ursprüngliche Name für den Memorial Day, der am letzten Sonntag im Mai gefeiert wurde – gleichzeitig Gedenktag und offizieller Sommerbeginn in den Vereinigten Staaten. Decoration Day war zunächst ein Gedenktag für gefallene Soldaten der Union, der zum ersten Mal als widerständiger Akt zustande kam, als befreite Sklaven in Charleston, South Carolina, im Jahr 1865 die Massengräber eines Gefangenenlagers exhumierten, um die toten Unionssoldaten einzeln zu begraben, den Ort zu umzäunen und ein Eingangstor zu errichten. Sie haben spontan als Geste des Dankes einen Kriegsgräber-Friedhof angelegt und ihn in den folgenden Jahren gepflegt. Decoration Day wurde erst im Zug des Ersten Weltkrieges ein Feiertag für alle Amerikaner. Darin ist in vieler Hinsicht die Geschichte des amerikanischen Gefallenengedenkens komprimiert.66 65

66

Erika Lee Doss, The Emotional Life of Contemporary Public Memorials. Towards a Theory of Temporary Memorials, Amsterdam 2008. Peter Jan Marory und Christina Snchez Carretero (Hg.), Grassroots Memorials. The Politics of Memorializing Traumatic Death. New York 2011. Diese Geschichte sollte allerdings nicht überbewertet werden. Zu den tatsächlich vielfältigen Wurzeln des Decoration Day siehe David W. Blight, Decoration Day – The Origins of

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Der Tag wurde Decoration Day genannt, weil er eine Tradition South Carolinas und überhaupt der Südstaaten aufnahm und die Soldaten der Nordstaaten ihn sich rasch anverwandelt haben. Gräber wurden zu besonderen Anlässen, etwa am Totensonntag, dekoriert – so wie das auch in der Gegenwart noch üblich ist, wenn kleine Flaggen auf Veteranengräber gesteckt werden. Decoration Day ist aber auch ein Feiertag und markiert den Sommerbeginn. Zwei Beispiele stehen für die weitreichende Durchdringung der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft und des amerikanischen Alltagslebens mit gedenkkulturellen Artikulationen; auch die Musik und der Sport sind wie selbstverständlich Bühnen hierfür. Der amerikanische Komponist Charles Ives hat den Decoration Day im frühen 20. Jahrhundert in seine Holiday Symphonie integriert, in der seine musikalischen Kindheitserinnerungen verarbeitet und neu vertont werden. Ein Satz der Symphony, mit dem Titel ,,Decoration Day“, greift verschiedene zentrale Elemente dieser Gedenkkultur auf: die Kapelle seines Vaters auf dem Weg zum Friedhof, das für Militärbegräbnisse obligatorische Trompetensolo (,,Taps“), und schließlich die Rückkehr vom Friedhof mit beschwingter Marschmusik und der fröhliche Übergang in einen langen Sommer. Die ,,Drive-By Truckers“, eine Rock / Alternative Country / Cowpunk-Band, haben mit ihrem Album ,,Decoration Day“ 2003 eine etwas andere Version des Themas angeboten: ein episches Familiendrama der ,,gothic culture“ mit Ehe, Inzest, Scheidung, Rache, Mord und Selbstmord. Eines der berühmtesten der amerikanischen Autorennen, das ,,Indianapolis 500“ der National Association for Stock Car Auto Racing (NASCAR), darf in diesem Zusammenhang dann auch nicht fehlen. Das Rennen wurde 1911 bewusst auf den Decoration Day gelegt – gerade weil er der Feiertag des Sommerbeginns und der Gedenk- und Ehrentag der Kriegstoten war (und bis heute ist). Das Autorennen als populäre, unterhaltsame und genussreicher Bestandteil des Totengedenkens? Diese Vermischung von Dingen, die – vielleicht nicht nur aus deutscher Sicht – eigentlich nichts miteinander zu tun haben, ist das zugleich anstößige und rührende Spezifikum des amerikanischen Gefallenengedenkens.

Memorial Day in North and South, in: Alice Fohs und Joan Waugh (Hg.), The Memory of the Civil War in American Culture, Chapel Hill 2004, S. 94–129.

Vietnam Shaun Kingsley Malarney

Leben mit den Kriegstoten Gebeine, Geister und die soziokulturelle Dynamik des Totengedenkens1 Einleitung In seiner wegweisenden Untersuchung ,,Gefallen für das Vaterland: Nationales Heldentum und namenloses Sterben“ bemerkte der Historiker George L. Mosse, dass eine der wichtigsten kulturellen Veränderungen nach den französischen Revolutionskriegen (1792–1799) und den deutschen Befreiungskriegen gegen Napoleon (1813–1814) das Aufkommen des – wie er es nannte – ,,Mythos vom Kriegserlebnis“ war. Obgleich komplex in seiner Deutung, half der Mythos vom Kriegserlebnis ein entscheidendes Problem anzugehen, das während dieser Kriege aufgetreten war. Anders als bei früheren Kriegen, die vorwiegend von Söldnern geführt worden waren, kämpften nun hauptsächlich Freiwillige, die motiviert waren zu kämpfen, weil sie ,,ihrer Sache und ihrer Nation“ treu ergeben waren. Wie in allen Kriegen starben jedoch viele dieser Soldaten in der Schlacht und daher ,,war [es] notwendig, ihr Opfer zu legitimieren und zu rechtfertigen.“ Mosse zufolge spielte der Mythos vom Kriegserlebnis bei der Legitimierung dieses Opfers eine große Rolle, und in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) wurde das Wirken des Mythos ergänzt durch die aufkommenden ,,greifbaren Symbole des Mythos […]: Soldatenfriedhöfe, Kriegerdenkmäler und Gedenkfeiern für die Gefallenen.“2 Mosses Analyse dreht sich um eine entscheidende Realität: Abgesehen von der tragischen Tatsache ihres Todes stellen Menschen, die im Krieg sterben, die sie Überlebenden vor besondere Probleme. Die Untersuchungen von Mosse und anderen haben gezeigt, welche Probleme der Tod von Soldaten in der Schlacht für die Legitimität von Nationalstaaten darstellt und welche Lösungen, wie My1

2

Der Beitrag entwickelt Argumente weiter, die in knapper Form skizziert worden sind in: Shaun Kingsley Malarney, Senshisha to tomoni ikiru. Gendai betonamu ni okeru ikotsu to kyouji, soshite shusoku suru monogatari [Living with War Dead. Bones, Danger, and Narrative Closure in Contemporary Vietnam], in: Quadrante 10 (2008), S. 7–32. George Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993, S. 16.

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then, Gedenkstrukturen und neue Rituale von ihnen entwickelt und angewandt werden, um diese Probleme aufzulösen.3 Andere Wissenschaftler haben diesen Ansatz ergänzt, indem sie die eher persönlichen Reaktionen der überlebenden Verwandten oder Familienmitglieder auf den Kriegstod untersuchten.4 Wie diese Studien zeigen, stellt der Kriegstod verschiedene gesellschaftliche Akteure vor unterschiedliche Probleme, und diese Probleme erfordern ihre eigenen klaren Lösungen. Ziel dieses Beitrags ist es, die eigene soziokulturelle Dynamik des Kriegstodes im heutigen Vietnam zu untersuchen. Im Zeitraum zwischen 1946 und 1990 durchlebte Vietnam eine Reihe von Kriegen, die Millionen Bürgern das Leben kostete: Zuerst kam der achtjährige Krieg gegen die Franzosen (1946– 1954), danach der langwierige Wiedervereinigungskrieg, in dem die nördliche Demokratische Republik Vietnam der südlichen Republik Vietnam und ihren Verbündeten, vor allem den Vereinigten Staaten, gegenüberstand (1959–1975), anschließend folgte der kurze Grenzkrieg gegen die Chinesen (1979–1980) und schließlich der Krieg in Kambodscha nach dem Sturz der Roten Khmer durch die Vietnamesen (1979–1989). Diese Kriege brachten hunderttausenden vietnamesischen Soldaten den Tod, aber auch mindestens einer Million Nichtkombattanten. Wie die oben erwähnten Kriege brachten auch diese Kriege ihre eigenen Probleme mit sich, und obwohl einige Probleme mit denen Europas im 19. Jahrhundert vergleichbar waren – vor allem das Bedürfnis nach Rechtfertigung des Soldatentods – unterschieden sich andere in kultureller Hinsicht. Die in vorliegendem Beitrag entwickelte Analyse soll belegen, dass die kulturelle Klassifizierung von Kriegstoten in Vietnam beträchtliche interne Unterschiede aufweist, die sich danach richten, auf welche Art eine Person im Krieg zu Tode gekommen ist. Es wird gezeigt, dass diese unterschiedlichen Klassifizierungen, wie sie sowohl von staatlichen als auch lokalen Akteuren angeführt werden, bestimmte Gefahren berücksichtigen, die die Kriegstoten für verschiedene lebende gesellschaftliche Akteure darstellten, wobei diese Gefahren wiederum den verschiedenen Akteuren kulturell überzeugende Lösungen abforderten, vor 3

4

Siehe Jay W. Baird, To Die for Germany. Heroes in the Nazi Pantheon, Bloomington 1992; Bruce Kapferer, Legends of People, Myths of State. Violence, Intolerance, and Political Culture in Sri Lanka and Australia, Washington 1988; Heonik Kwon, After the Massacre. Commemoration and Consolation in Ha My and My Lai, Berkeley 2006; Nina Tumarkin, The Living and the Dead. The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia, New York 1994. Siehe Drew Gilpin Faust, The Civil War Soldier and the Art of Dying, in: The Journal of Southern History 67 (2001), H. 1, S. 3–38; Shaun Kingsley Malarney, ,,The Fatherland Remembers Your Sacrifice“. Commemorating War Dead in North Vietnam, in: Hue-Tam Ho Tai (Hg.), The Country of Memory. Remaking the Past in Late Socialist Vietnam, Berkeley 2001, S. 46–76; ders., Culture, Ritual and Revolution in Vietnam, Honolulu 2002; Tumarkin, The Living and the Dead.

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allem in der Art der Schilderungen, Rituale und Beisetzungen. Obwohl durch die Analyse die Komplexität und Multivalenz der Kriegstoten in Vietnam im Laufe der letzten Dekaden deutlich wird, kann man doch zu dem Schluss kommen, dass die Überlebenden der Kriege in Vietnam trotz dieser Unterschiede einen gemeinsamen Wunsch haben, jene die tragischerweise ihr Leben im Krieg verloren haben, in die heutige Gesellschaftsordnung zu integrieren und sie schließlich in Frieden ruhen zu lassen.5

Tote Soldaten und sozialistischer Staat Die vietnamesische sozialistische Revolution fand offiziell im August 1945 statt, doch bereits im Dezember 1946 marschierten Soldaten der ehemaligen französischen Kolonialmacht erneut in Vietnam ein, um ihre Gewalt über das Land zu bekräftigen, und stürzten es in einen Krieg, der erst am 30. April 1975 ein endgültiges Ende finden sollte. Obgleich mit Ausbruch des Krieges die Zahl der Getöteten beträchtlich anstieg, hatten die vietnamesischen Kommunisten, die in der Revolution die eindeutige Führungsrolle inne hatten, bereits eine Reihe ihrer Anhänger im kolonialen Befreiungskampf verloren und so unternahmen sie bereits sehr früh Anstrengungen, um die Opfertaten der Verstorbenen zu glorifizieren. 1925 führten die vietnamesischen Kommunisten eine neue kulturelle Kategorie zur Anerkennung ihrer Toten ein – den ,,revolutionären Märtyrer“ (liệt sĩ ). Der Begriff liệt sĩ existierte bereits früher in der vietnamesischen Sprache, doch mit der Umwidmung durch die vietnamesischen Kommunisten bezeichnete er nun eine Person, die ihr Leben zur Unterstützung der revolutionären Sache ,,geopfert“ (hi sinh) hatte. Gestützt auf ein offizielles Dokument aus dem Jahre 1957 gibt Benoit de Treglodé eine eingängige Beschreibung des revolutionären Märtyrers als ,,eine Person, die seit 1925 glorreich im Kampf gegen Imperialismus und Feudalismus auf dem Feld der Ehre gestorben ist“. Er bemerkte weiterhin, dass der revolutionäre Märtyrer jemand war, der ,,bei der Verteidigung des Werks der nationalen Revolution heldenhaft an der Front gefallen ist“.6 Man darf jedoch nicht vergessen, dass es zunächst die Partei und später die Regierung war, die entschieden, welche Personen als revolutionäre Märtyrer eingestuft wurden. Es gab keine Einschränkungen bezüglich des Alters, Geschlechts oder gar der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, allerdings konnte die Bezeichnung nur im Ergebnis einer amtlichen Überprü5

6

Eine umfassende Darstellung zu einigen der in den nächsten beiden Abschnitten erörterten Punkte bei Malarney, The Fatherland Remembers Your Sacrifice, S. 46–76 und ders., Culture, Ritual and Revolution in Vietnam. Benoit de Tréglodé, Héros et Revolution au Viet Nam. 1948–1964, Paris 2001, S. 267.

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fung und Bestätigung erworben werden. Dies stellte eine wichtige historische Veränderung dar. In der vorkolonialen Zeit hatten Regierungen Helden anerkannt und gerühmt, die in der Schlacht gekämpft und ihr Leben gelassen hatten, doch war dieser Vorgang nie so fest umrissen und institutionalisiert wie später für die revolutionären Märtyrer. Die vietnamesischen Kommunisten führten ab 1925 eine Liste revolutionärer Märtyrer, die nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten im Jahre 1946 stark anwuchs. Aus der Sicht der vietnamesischen Kommunisten kamen die Gefahren, denen diese Kriegstoten ausgesetzt gewesen waren, denen in den europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts gleich. Bei jedem gefallenen Soldaten bestand das Risiko, dass die Überlebenden seinen Tod als sinnlos empfinden würden: Dies konnte dazu führen, dass die Unterstützung der Bevölkerung für den Kampf nachließ. Damit verband sich die Sorge, dass diese Ernüchterung über den Krieg auch zu einer Enttäuschung über die revolutionäre Umgestaltung der nordvietnamesischen Gesellschaft führen könnte. Um dieser Gefahr zu begegnen, wurde in den folgenden Jahrzehnten eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um der Idee Nachdruck zu verleihen, dass der Tod dieser Soldaten bedeutsam war. Wie daran deutlich wird, hat die revolutionäre Regierung so mit Bedacht öffentliche Appelle zum Erfolg der sozialistischen Revolution mit tiefergehenden nationalistischen Gefühlen in Bezug auf die Bewahrung der Unabhängigkeit Vietnams verbunden. Eine der ersten Maßnahmen, die mit der Zeit weiter entwickelt wurden, war die Integration der Kriegstoten in ein umfassenderes Gesamtbild des heroischen vietnamesischen Widerstandes gegen ausländische Aggressoren. Im Laufe seiner Geschichte hat Vietnam zahlreiche Kriege gegen seine Nachbarn geführt, dazu gehören vor allem seine Konflikte mit dem Nachbarn China, das die nördlichen Teile Vietnams erfolgreich eroberte und zwischen 111 v. Chr. und 938 n. Chr. zu seiner Provinz machte. Über die Jahrhunderte haben eine Vielzahl von Personen Ruhm erlangt, weil sie gegen Angreifer von außen kämpften, wie die Trưng Schwestern, die ihr Leben verloren, nachdem sie in den Jahren 40–43 n. Chr. erfolgreich die chinesische Herrschaft stürzten, Triệu Thị Trinh, die als Anführerin eines weiteren Aufstands gegen die Chinesen im Jahre 248 n. Chr. ihr Leben verlor, und Trần Hưng Ðạo, ein General, der die Strategie entwickelte, mit der 1285 die mongolische Invasion Vietnams gestoppt wurde. Der sozialistische Staat definierte diese und andere Personen als ,,Nationalhelden“ (anh hùng dân tộc) bzw. einfach als ,,Helden“ (anh hùng). Revolutionäre Märtyrer wurden in diese größere Gemeinschaft der Helden eingepasst, die gegen ausländische Angreifer kämpften. General Võ Nguyên Giáp, der militärische Führer, der im Dezember 1944 die erste offizielle antikoloniale militärische Einheit bildete, die bezeichnenderweise Zug Trần Hưng Ðạo genannt wurde, und der später, im Jahre 1954, die vietnamesischen Streitkräfte in ihrem historischen Sieg über die Franzosen bei Ðiện Biên Phủ befehligen

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sollte, wodurch die Franzosen schließlich gezwungen wurden, sich aus Vietnam zurückzuziehen, bemerkte: ,,Die aktuellen Ideen unserer Partei, unseres Militärs und Volkes für den offensiven Kampf lassen sich nicht von den traditionellen militärischen Vorstellungen unseres Volkes trennen. Im Laufe unserer Geschichte hatten alle siegreichen Widerstands- bzw. Befreiungskriege, gleich ob von den Trưng Schwestern, Lý Bôn, Triệu Quang Phục, Lê Lợi oder Nguyễn Trãi angeführt, eines gemein, eine kontinuierliche Offensive, die darauf abzielte, das Joch der feudalen Herrschaft der Ausländer abzuwerfen.“7 Jene, die kämpften und im Kampf gegen ausländische Aggressoren starben, standen somit in einer langen, edlen Reihe patriotischer Kämpfer. Der Staat überhöhte mit verschiedenen rhetorischen Kunstgriffen sowohl den Kampf als auch das Opfer. Der Widerstand gegen ausländische Aggressoren wurde zum Beispiel als eine ,,gerechte Sache“ oder ,,gerechte Pflicht“ (chính nghĩa) beschrieben, ein Begriff, der das moralische Gewicht der Unternehmung steigerte. Auch die Kriege erhielten aussagekräftige Bezeichnungen, so wurde der Krieg gegen die Franzosen als khởi nghĩa bezeichnet, was Aufstand gegen einen ungerechten Unterdrücker bedeutet, während der Krieg gegen die Amerikaner ,,Krieg der nationalen Rettung gegen die Amerikaner“ (Chiến Tranh Chống Mỹ Cứu Nước) getauft wurde. Der Kampf wurde außerdem als eine heilige Handlung beschrieben. Der Generalsekretär der Partei erklärte 1968: ,,Die Rettung der Nation ist eine heilige Pflicht (nghĩa vụ thiêng liêng) des Volkes […]. Wir sind entschlossen zu kämpfen und zu gewinnen, um unsere Unabhängigkeit und Freiheit zu bewahren, unsere Gesundheit und unser Glück zu sichern und das Land zu einem wohlhabenden und wunderschönen Vietnam zu gestalten.8 Sie bezeichneten den Kriegstod auch als ,,ehrenvoll“ (vinh dự) und verwendeten das Verb công hiến, um den Tod der revolutionären Märtyrer zu beschreiben. Die Semantik dieses Verbs ist wichtig, da es die Bedeutung in sich trägt sich für etwas Größeres als sich selbst zu opfern. In diesem Falle heißt es daher, dass der Soldat sein Leben aufgeboten hat, um das vietnamesische Volk zu schützen und zu bewahren. Schließlich pries der Staat öffentlich den persönlichen Mut und die Opfer, die die revolutionären Märtyrer aufbrachten. Der Generalsekretär der Partei, Le Duẩn, erklärte in seinen Äußerungen aus dem Jahre 1968: ,,Ohne die tugendhafte Opferbereitschaft ist man kein wahrer Revolutionär. Wenn man das revolutionäre Ideal verwirklichen will, sich aber nicht traut, sich aufzuopfern, so spricht man nur leere Worte.“9 Solche Äußerungen waren eine öffentliche Bekräftigung der Tugenden der Märtyrer; und verschafften ihnen im gesellschaftlichen Leben ein enormes Ansehen. 7 8 9

Vietnam, Institut für Philosophie, Ðảng Ta Bàn Về Ðạo Ðức [Unsere Partei erörtert die Ethik], Hanoi 1973, S. 269. Ebd., S. 275. Ebd.

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Diese kulturellen Neuerungen waren nur ein, wenn auch wichtiger, Teil eines wesentlich breiteren offiziellen Bemühens um die Glorifizierung des Kriegstodes. Wie Mark Philip Bradley dazu feststellte, umfasste dieses Bemühen eine breite Vielfalt anderer Medien wie Film, Roman, Poesie, Malerei sowie die Errichtung baulicher Anlagen, die den Kriegen und den Kriegstoten gewidmet sind.10 Um den Menschen diese Botschaft näher zubringen, schuf der Staat auch eine Reihe von Gedenkräumen und -ritualen, um den Edelmut des Kriegstodes stärker zu unterstreichen. Sehr früh fanden diese Intentionen ihren Ausdruck im Jahre 1947 mit der Festlegung des 27. Juli als Tag der Kriegsinvaliden und Märtyrer (Ngày Thương Binh Liệt Sĩ ). An diesem Tag organisierten Staatsbeamte von lokalen Kommunalverwaltungen bis zur Staatsregierung Veranstaltungen, auf denen die Beiträge versehrter und verstorbener Veteranen im Rahmen amtlich geförderter und durchgeführter Feiern anerkannt wurden. Über viele Jahre fanden diese Feiern nur unregelmäßig statt, seit 1967 werden sie jedoch jährlich durchgeführt.11 In den 1950er Jahren begann die revolutionäre Regierung mit der Umsetzung einer anderen Politik, die darauf abzielte, den Kriegstoten auch physische Präsenz innerhalb der neuen revolutionären Gesellschaft zu verleihen, indem sie den Auftrag erteilte, ,,Friedhöfe revolutionärer Märtyrer“ (nghĩa trang liệt sĩ ) anzulegen. Diese konnten verschiedene Formen annehmen. In einigen Fällen wurde von offizieller Seite ein exklusiver Bereich eines bestehenden Friedhofs für die Bestattung revolutionärer Märtyrer ausgewiesen, während in anderen Fällen neue Friedhöfe angelegt wurden, die ausschließlich für revolutionäre Märtyrer vorgesehen waren. Für die Anlage eines solchen Friedhofes war es jedoch notwendig, dass die sterblichen Überreste der revolutionären Märtyrer ihren Heimatkommunen zurückgegeben werden mussten und da dies in vielen Fällen nicht geschah, legten einige Kommunen keine solch exklusiven Stätten an. Ungeachtet dessen, ob es dort revolutionäre Märtyrer gab oder nicht, errichteten praktisch alle Kommunen Denkmäler für sie, die im Allgemeinen als đài tượng niệm oder đài liệt sĩ bezeichnet wurden. Architektonisch waren diese Denkmäler unterschiedlich gestaltet, ihnen war jedoch gemein, dass sie Losungen trugen wie ,,Das Vaterland vergisst euer Opfer nicht “ (Tổ Quốc Ghi Công) oder ,,Vergesst nie unsere moralische Schuld gegenüber den revolutionären Märtyrern“ (Đời Đời Nhớ Ơn Người Liệt Sĩ ). Diese Losungen waren wichtig, um der Bevölkerung zu vermitteln, dass das Opfer der verstorbenen Soldaten von offizieller Seite gewürdigt wird, doch der Staat wollte auch das Edle und die Bedeutung der revolutionären Märtyrer weiter propagieren, indem er neue Friedhöfe und Denkmäler 10

11

Siehe Mark Philip Bradley, Contests of Memory: Remembering and Forgetting War in the Contemporary Vietnamese Cinema, in: Hue-Tam Ho Tai, The Country of Memory, S. 196– 226 Douglas Pike, PAVN. People’s Army of Vietnam, New York 1986, S. 318.

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in den Alltag der Menschen einbrachte. So wurde zum Beispiel in der Provinz Ninh Bình von offizieller Seite erklärt, dass ,,jeder für den Schutz und die Pflege der Friedhöfe der revolutionären Märtyrer in den Städten und Kommunen verantwortlich ist. Die Menschen sollen ihr Gedenken zeigen und zum Ausdruck bringen, dass sie sich ihrer Schuld gegenüber den heroischen Märtyrern bewusst sind, die ihr verdienstvolles Werk (công đức) für die Revolution vollbracht haben.“12 Mit den gleichen Regelungen wurden Kommunen dazu angehalten, die Jugend vor Ort zu den Friedhöfen zu führen, so dass ihnen frühzeitig vermittelt wurde, die Gräber zu pflegen und die Opfer der Märtyrer zu schätzen. In der Provinz Nam Hà kam man von offizieller Seite auf eine ungewöhnliche Idee, indem man festlegte, dass Trauungen mit einem Besuch auf dem örtlichen Friedhof für die Kriegstoten enden sollten, so dass die Frischvermählten einen Blumenstrauß am Denkmal niederlegen konnten, um ihre Wertschätzung für die revolutionären Märtyrer zum Ausdruck zu bringen.13 Im heutigen Vietnam sind Friedhöfe für revolutionäre Märtyrer oder Denkmäler fast in jeder Kommune zu finden. Der größte Friedhof ist der Nationalfriedhof der Revolutionären Märtyrer Trường Sơn (Nghĩa Trang Liệt Sĩ Quốc Gia Trường Sơn). Mit der Anlage dieses in der Provinz Quảng Trị in Zentralvietnam gelegenen Friedhofs wurde Ende der 1970er Jahre begonnen; jetzt ruhen dort die sterblichen Überreste von etwa 10.000 Kriegstoten aus verschiedenen Provinzen Vietnams. Gedenkstrukturen und -räume spielten eine wichtige Rolle, um der Bevölkerung das Ansehen und den Edelmut zu vermitteln, die mit dem Kriegstod verbunden wurden. Selbst wenn es für die Kämpfenden zweifellos wichtig war, einer vermeintlichen Sinnlosigkeit des Todes in der Schlacht entgegenzuwirken, war es für den Staat zugleich eine Herausforderung, sicherzustellen, dass die Hinterbliebenen der Kriegstoten nicht zur selben Schlussfolgerung kamen. Die mit dem Tag der Kriegsinvaliden und Märtyrer verbundenen Zeremonien spielten eine wichtige Rolle: Damit sollte der Edelmut des Kriegstodes wie die Wertschätzung dieses Opfers durch den Staat bekräftigt werden und die Hinterbliebenen sollten der Unterstützung des Staates versichert werden. Als wichtigste Reaktion auf die Sorgen der Hinterbliebenen entwickelte sich während des Amerikanischen Krieges eine neue Zeremonie, die den revolutionären Märtyrern gewidmet war und als ,,offizielle Gedenkveranstaltung für revolutionäre Märtyrer“ wiedergegeben werden kann (lễ truy điệu). Es lohnt sich, die Gliede12

13

Ninh Bình, Cultural Service, Công Tác Xây Dựng Nếp Sống Mới, Con Người Mới và Gia Ðình Tiền Tiến Chống Mỹ, Cứu Nước [Die Aufgabe im Kampf gegen die Amerikaner neue Wege, einen neuen Menschen und eine fortschrifttliche Familie zur Rettung der Nation zu schaffen], Ninh Bình 1968, S. 64. Vietnam, Ministerium für Kultur, Những Vãn Bản Về Việc Cưới, Việc Tang, Ngày Giỗ, Ngày Hội [Dokumente zu Hochzeiten, Beerdigungen, Todestagen und öffentlichen Festivals], Hanoi 1979, S. 24.

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rung dieser Zeremonie zu beschreiben, wie sie üblicherweise in der Kommune Thịnh Liệt südlich von Hanoi durchgeführt wurde. Die erste Bedingung für die Organisation einer offiziellen Gedenkveranstaltung war der Eingang einer offiziellen Bestätigung beim Volkskomitee der Kommune, dass ein Einheimischer zu einem revolutionären Märtyrer geworden war. Nach Erhalt dieser Bestätigung sorgte der Verantwortliche für Sozialpolitik, ein Mitglied des Volkskomitees, das für verschiedene Sozialfürsorgeprogramme in der Kommune zuständig ist, dafür, dass die Nachricht der Familie übermittelt wurde, zuerst inoffiziell durch Freunde oder Familienangehörige und anschließend in aller Form bei einem offiziellen Besuch. Während dieses Besuches drückte der Verantwortliche für Sozialpolitik sein Beileid aus und vereinbarte Datum und Uhrzeit für die Zeremonie mit der Familie. Ähnlich wie bei regulären Beerdigungen fand die offizielle Gedenkfeier im Hause des Verstorbenen statt, aber entgegen der Tradition wurde die Zeremonie nicht von einem Familienmitglied durchgeführt, sondern vom Verantwortlichen für Sozialpolitik. Die offiziellen Thịnh Liệt Gedenkfeiern fanden üblicherweise um 14.00 Uhr statt und dauerten eine Stunde. Zahlreiche Funktionäre aus der Verwaltung der Kommune wie zum Beispiel der Präsident und der Sekretär der Kommunistischen Partei waren anwesend. Der Verantwortliche für Sozialpolitik brachte der Familie Blumen, die er auf einem, dem Verstorbenen gewidmeten, Altar abstellte. Nach einer Schweigeminute hielt er eine Trauerrede zu Ehren des Verstorbenen. In dieser Trauerrede betonte der Redner, dass der Soldat sein Leben geopfert (hi sinh) hat und pries den Soldaten für dieses Opfer. In einem Abschnitt der standardisierten Erklärung, die vom Verantwortlichen für Sozialpolitik verlesen wurde, hieß es: ,,Die Kader und Soldaten der Einheit sind unendlich traurig und stolz, einen Menschen gehabt zu haben, der uns in seinem Willen verbunden war, ein Waffenbruder, der sein Leben im Kampf für ein unabhängiges und freies Land gegeben hat (công hiến), der geschworen hat, nie aufzuhören den Willen aufzubringen zu kämpfen und die Stärke, den Feind zu beseitigen; der seine ganze Seele und Kraft eingesetzt hat, um den Feind im Krieg der nationalen Rettung gegen die Amerikaner zu vernichten und alle Aufgaben zu erfüllen, die ihm die Partei, die Regierung und das Volk gestellt haben.“14 Weiter unten in dieser Erklärung sagte der Verantwortliche, dass die Funktionäre gekommen waren, um der Familie ihren Respekt zu zollen und ,,die Traurigkeit [mit der Familie] zu teilen“, wie man auf vietnamesisch sagt. Diese letzte Formulierung ist wichtig, da es sich um einen Ausdruck handelt, der auf normalen Beerdigungen immer verwendet wird; durch dessen Übernahme haben die Funktionäre ihre offizielle Rolle mit den moralischen Begriffen der einfachen Dorfbewohner vermischt. Nach der Trauerrede übergab der Verantwortliche der 14

Zit. nach Malarney, Culture, Ritual and Revolution in Vietnam, S. 177.

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Familie eine ,,Todesanzeige“(giấy báo tử), ein einmaliges Geschenk von ca. 150 Dollar und eine Urkunde, auf der der Name des Soldaten und ,,Das Vaterland wird dein Opfer nicht vergessen“ in großen, roten Buchstaben geschrieben stand. Diese Urkunden sind noch immer an den Wänden der Häuser von revolutionären Märtyrern zu finden. Insgesamt wurde die offizielle Gedenkfeier von den Hinterbliebenen positiv empfunden und geschätzt. Abgesehen von diesen rituellen Neuerungen bestand eine andere Methode der Regierung zur Glorifizierung des Kriegstodes und Legitimierung des von den Soldaten erbrachten Opfers darin, besondere Regeln zur Unterstützung der Hinterbliebenen eines revolutionären Märtyrers zu entwickeln. Sobald jemand Soldat wurde, machte man seine Familie zur ,,Politikfamilie“ (gia đình chính sách). Diese Familien erhielten zusätzliche Unterstützung, wie zum Beispiel zusätzliche Nahrungsmittelrationen während des Amerikanischen Krieges. Wenn ein Soldat starb und festgestellt wurde, dass der verstorbene Soldat ein revolutionärer Märtyrer war, behielt die Familie ihren Status als ,,Politikfamilie“ (gia đình chính sách), obwohl sie auch als ,,Familie eines revolutionären Märtyrers“ bezeichnet wurde (gia đình liệt sĩ ). Diese Familien erhielten weiterhin eine Reihe von Sonderleistungen in den Bereichen Gesundheitswesen, Bildung und Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Sie erhielten außerdem eine monatliche Zahlung, die ihnen helfen sollte, ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Das Ergebnis dieser Politik für die Familien bestand darin, dass es immer leichter für sie sei, was auch immer sie machten, wie ein ehemaliger Funktionär der Kommune Thịnh Liệt bei Hanoi bemerkte.15 Nach der Wiedervereinigung des Landes im Jahre 1975 setzte die Regierung ihre Bestrebungen zur Glorifizierung des Kriegstodes fort. Ein sichtbares Ergebnis dessen war das weitere Anlegen von Friedhöfen der revolutionären Märtyrer und anderer Gedenkstätten im ganzen Land. Vor der Wiedervereinigung gab es diese Stätten nur im Norden, aber jetzt sind sie in nahezu jeder Kommune zu finden, in der es revolutionäre Märtyrer gab. Obwohl die Mehrzahl der ehemaligen Stätten den örtlichen Kommunen gewidmet war, legte die Regierung ebenfalls Stätten und Räume von nationaler Bedeutung an. Die erste und größte dieser Stätten war der Nationalfriedhof der revolutionären Märtyrer Trường Sơn (Nghĩa Trang Liệt Sĩ Quốc Gia Trường Sơn), der sich in der Provinz Quang Trị in Zentralvietnam befand. Die Anlage dieses Friedhofs begann Ende der 1970er Jahre; jetzt ruhen dort die sterblichen Überreste von etwa 10.000 Kriegstoten aus verschiedenen Provinzen Vietnams. Das vielleicht eindrucksvollste Denkmal ist der Schrein für den Unbekannten Soldaten, dessen Errichtung 1995 abgeschlossen wurde. Der Schrein befindet sich auf dem Ba-Đình-Platz im Zentrum Hanois, in der Nähe des Gebäudes der Nationalversammlung und gegenüber dem Ho-ChiMinh-Mausoleum. Bei wichtigen Anlässen führen Regierungsbeamte kurze Ge15

Interview mit dem Autor.

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Shaun Kingsley Malarney Abbildung 1: Denkmal für die Kriegstoten der Gemeinde in einem Dorf nahe Hanoi (Foto: Shaun K. Malarney).

denkfeiern für die in der Schlacht Getöteten durch. Neben diesen Neuerungen hat die Regierung außerdem Museen errichtet, bei denen der Krieg im Mittelpunkt steht, wie zum Beispiel das Kriegsreliktemuseum in Ho-Chi-Minh-Stadt (eröffnet 1975) und das Vietnamesische Militärhistorische Museum in Hanoi (eröffnet 1956). Schließlich konzentrierte sich die Regierung auch weiterhin auf die Schwierigkeiten vor denen ihre Bürger standen, und in den 1990er Jahren erweiterte sie ihre bereits bestehenden Regelungen, indem sie eine neuen Kategorie der ,,Heroischen Vietnamesischen Mütter“ (Bà Mẹ Anh Hùng Việt Nam) schuf, um Mütter zu ehren, die mehrere Kinder im Krieg verloren hatten. Insgesamt trugen all diese Regelungen dazu bei, dass das Sterben für das Land in der Schlacht glorifiziert und seiner potentiellen Sinnlosigkeit entgegengetreten wurde.

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Familien und ihre Kriegstoten Man kann mit Recht sagen, dass die verschiedenen, vom sozialistischen Staat eingeführten Verfahren und Ideen mit dazu beitrugen, die Unterstützung für die Kriegsanstrengungen aufrecht zu erhalten und bei vielen Nordvietnamesen der Vorstellung einer möglichen Sinnlosigkeit des Todes in der Schlacht erfolgreich entgegenzutreten. In der Tat werden die Legitimität und der Edelmut der Kriegsanstrengungen im heutigen Nordvietnam noch heute weitgehend akzeptiert und anerkannt. Trotz ihres Erfolges hatte die offizielle Gedenkveranstaltung für die Kriegstoten und die ideelle Seite des Staatsprogramms aber einen entscheidenden Mangel, der eine andere Reaktion der Familien erforderte. Bei der Untersuchung dieses Falls werden die verschiedenen Dimensionen der Kategorie Kriegstote in Vietnam und der damit verbundenen anderen Gefahren beleuchtet. Sozialistische Revolutionen im 20. Jahrhundert lehnten die Idee der Existenz übernatürlicher Kräfte ab, seien es Götter oder Geister, und machten sich offiziell eine Politik des Atheismus zu eigen. Die Vietnamesische Revolution bildete dabei keine Ausnahme und schloss von Beginn an aus, dass übernatürliche Kräfte existierten die einen nachweislichen Einfluss auf das menschliche Leben haben. Diese Ablehnung basierte auf zwei wesentlichen Gründen. Auf einfachster Ebene vertraten Regierungsbeamte die Meinung, dass ein Festhalten an der Idee des Übernatürlichen, die sie im Allgemeinen als ,,Aberglauben“ (mê tín dị đoan) bezeichneten, ein Symbol der ,,Rückschrittlichkeit“ (lạc hậu) und des ,,Feudalismus“ (phong kiến) war. Während sich die revolutionäre Politik auf solch wichtige Veränderungen wie die Schaffung neuer politischer und wirtschaftlicher Strukturen in Vietnam konzentrierte, wollte die Regierung auch eine neue ,,sozialistische Kultur“ (văn hóa xã hội chủ nghĩa) schaffen, die ,,progressiv“ (tiến bộ) war und Vietnam in eine leuchtende sozialistische Zukunft führen würde. Rückschrittliche und feudale Gedanken waren Hindernisse für die Schaffung eines neuen Vietnams, daher mussten sie beseitigt werden. Zweitens ging der Staat auch davon aus, dass Gedankengut, das die Existenz des Übernatürlichen anerkannte, bzw. insbesondere die Idee, dass übernatürliche Kräfte in menschliches Leben eingreifen können, potentiell gefährlich waren. Dies betraf zunächst die physische Gefahr solcher Ideen. Im vorrevolutionären Vietnam war man weitgehend der Meinung, dass übernatürliche Kräfte, wie zum Beispiel zornige Geister, Unglück bringen konnten, besonders, indem sie Leute krank machten. Aufgrund dieser Ideen bemühten sich einige Vietnamesen angeblich nicht um entsprechende medizinische Behandlung, sondern suchten stattdessen verschiedene Geisterspezialisten auf, damit diese heilende Rituale vollzogen, wie vorherzusehen war mit schlechten Ergebnissen.16 Dies galt auch für ver16

Malarney, Culture, Ritual and Revolution in Vietnam, S. 82f.

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meintlichen Fatalismus oder Passivität, zu denen solche Ideen führen konnten. Ausgehend von diesem Standpunkt behaupteten Regierungsbeamte, dass Leute, die die Idee akzeptierten, dass übernatürliche Kräfte eine kausale Kraft im menschlichen Leben darstellen, sich weit weniger ihrer Fähigkeit bewusst würden, die Welt zu verändern und eine neue Gesellschaft zu errichten. Ein Dokument des Kulturdienstes Ninh Bình aus den Jahr 1968 fasste diesen Ansatz sehr treffend so zusammen: ,,Wenn die Massen noch immer an den Himmel, Geister und Schicksal glauben, dann werden sie natürlichen Veränderungen und den Schwierigkeiten, die die alte Gesellschaft hinterlassen hat, machtlos gegenüber stehen. Die Menschen werden nicht in der Lage sein, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, um die Gesellschaft und die Welt um sie herum zu gestalten.“17 Die Funktionäre des sozialistischen Staats waren daher bestrebt, einen ,,wissenschaftlichen Geist“ (tinh thần khoa học) unter der Bevölkerung zu verbreiten, der es ihnen ermöglichen würde, das neue sozialistische Vietnam aufzubauen. Die Billigung einer Atheismuspolitik durch die Revolutionsregierung hatte starke Auswirkungen auf die Art der Gedenkrituale, die die Regierung für die revolutionären Märtyrer durchführte. Da der Staat die Existenz von Dingen, die nicht empirisch nachweisbar waren, wie z. B. der menschlichen Seele, nicht hinnahm, mussten die Rituale daher ihrem Charakter nach völlig säkular sein. Die Rituale waren den Teilnehmern als Ausdruck der Dankbarkeit und Wertschätzung wichtig, sie dienten jedoch ausschließlich dem Gedenken. Der säkulare Charakter der offiziellen Gedenkfeiern ließ die Teilnehmer mit einem enormen Mangel in den Ritualen zurück angesichts der Schwierigkeiten bzw. Gefahren, die der Tod eines Individuums für die Lebenden mit sich brachte. Weit verbreiteten vietnamesischen Vorstellungen zufolge setzt sich der menschliche Körper aus drei Hauptbestandteilen zusammen: Der Erste ist die physische Komponente des Körpers, der lebende und atmende biologische Organismus, doch dieser wird von einer Reihe ,,Geisteressenzen“ (vía), begleitet, von denen eine Frau neun und ein Mann sieben besitzt sowie einer Seele (linh hồn). Mit Eintritt des Todes hört das physische Substrat des Körpers auf zu funktionieren und die Geisteressenzen hören ebenfalls auf zu existieren. Die Seele besteht jedoch fort und ist, genau wie zu Lebzeiten, ein fühlendes Wesen mit Bewusstsein, Empfindungen und Emotionen. Viele Vietnamesen behaupten, dass die Seele mit dem Tod den Körper verlässt und dann an dem Ort präsent ist, an dem die Person gestorben ist. In dieser Phase ist die Seele außerordentlich verletzlich und auf die Unterstützung der Lebenden angewiesen. Nach landläufiger Meinung muss die Seele, um endgültigen Frieden zu erreichen, von der Welt der Lebenden in die sogenannte ,,andere Welt“ (thế giới khắc) reisen. Die ,,andere Welt“ ähnelt der Welt der Lebenden darin, dass die Toten gehalten sind zu essen und zu trinken, Kleider zu tragen, Geld zu verwenden, Häuser zu be17

Ninh Bình, Công Tác, S. 6.

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sitzen und sogar Auto zu fahren, fern zu sehen und Karaoke zu singen. Es ist jedoch zu beachten, dass die Lebenden für die verschiedenen Bedürfnisse einer Seele sorgen müssen, sobald diese die ,,andere Welt“ erreicht hat. So gehören zu Begräbnisritualen Gegenstände, die von toten Seelen benötigt werden, wie Nahrung, Geld und Kleidung, die entweder durch Weihrauchdämpfe übermittelt werden, wie bei Nahrung oder durch Rauch, der bei der Verbrennung von Gegenständen aus Weihpapier (hàng mã), die die Form von Geld, Kleidung oder anderen Gegenständen haben, entsteht. Die Bereitstellung dieser Dinge für die Seele in der ,,anderen Welt“ lässt diese glücklich sein; wird allerdings versäumt diese Dinge zu übermitteln, so wird die Seele unzufrieden und zornig. Um die ,,andere Welt“ zu erreichen, ist die Seele auf die Durchführung entsprechender Bestattungsrituale angewiesen. Bei richtiger Ausführung dieser Rituale helfen die Lebenden, die Seele zu leiten und in die ,,andere Welt“ zu senden. Sobald sie diese erreicht hat, können die Lebenden weiter für sie sorgen und sie zufrieden und selig sein lassen. Das Entsenden der Seele ist jedoch nicht unbedingt einfach und verlangt, dass dabei mehrere Voraussetzungen erfüllt sind. So ist zum Beispiel eine Seele, die unter relativ friedlichen Umständen in vertrauter Umgebung stirbt, zum Beispiel zu Hause, wahrscheinlich weniger von der Todeserfahrung erschüttert und wird nicht in Angst fliehen. Für Vietnamesen ist ein solcher Tod ein guter Tod. Umgekehrt gilt für die Seele einer Person, die gewaltsam, durch Unfall oder fern der Heimat stirbt, dass sie einen schlechten Tod gestorben ist. Diese Seele wird wahrscheinlich von der Erfahrung geschockt sein und fliehen; damit macht sie es den Lebenden schwer, sie an den Ort zurückzubringen, an dem das Bestattungsritual vollzogen wird, um sie in die ,,andere Welt“ zu senden. Eine andere wichtige Voraussetzung besteht für die Lebenden darin, bei der Bestattung zu wissen, an welchem Ort sich der Leichnam befindet. Die Vietnamesen beerdigen ihre Toten lieber, anstatt sie einzuäschern, sie wollen eher dass der Leichnam anwesend ist. Eine Bestattung kann durchgeführt werden, wenn der Ort des Leichnams bekannt, der Leichnam aber nicht präsent ist, obgleich eine solche Bestattung gegenüber einer normalen stark vereinfacht ist. In beiden Fällen können die Lebenden die Seele erfolgreich auf ihren Weg in die ,,andere Welt“ geleiten. Sind die physischen Überreste des Verstorbenen jedoch verloren, ist die Seele dazu verdammt, in dieser Welt stecken zu bleiben, und kann nicht in die ,,andere Welt“ übergehen. In der kulturellen Betrachtung ist sie nun zum ,,Geist“ (con ma) geworden. Geister verfügen über einige wichtige Eigenschaften. Angesichts der Tatsache, dass sie einen schlechten Tod gestorben sind, gelten sie als zornig, weil sie unerwartet und auf unangenehme Weise gestorben sind. Ihr Zorn wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass sie als Geister, die an die Welt der Lebenden gebunden sind, keine lebenden Nachfahren haben, die für sie sorgen können. Daher müssen sie für sich selbst sorgen, und zwar indem sie von den Ahnenriten stehlen, die für Seelen in der ,,anderen Welt“ vollzogen werden

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oder das nehmen, was immer die Lebenden ihnen übrig lassen. Schließlich werden die Geister angesichts des ihnen innewohnenden Zorns diesen gegen die Lebenden richten und ihnen Krankheit und Unglück bringen. Geister sind von Natur aus unglücklich und dazu verdammt, keinen Frieden zu finden, sofern sie nicht von lebenden Menschen unterstützt werden. Die Gefahren, die der Kriegstod für die Hinterbliebenen mit sich brachte, sind daher offensichtlich. Zehntausende junger Soldaten, vor allem Männer, starben unter gewaltsamen Umständen hunderte Meilen von ihrer Heimat entfernt. Angesichts der unzureichenden Transportmöglichkeiten der Volksarmee Nordvietnams wurden daher die meisten Soldaten in der Nähe des Ortes, an dem sie starben, beerdigt oder waren völlig verloren. Für die Hinterbliebenen bedeutete der Kriegstod daher die erschreckende Möglichkeit, dass ihre Angehörigen dazu verdammt waren, zornige Geister zu werden und man nicht richtig für ihre Seelen sorgen konnte. Wie oben ersichtlich, wurde auf der offiziellen Gedenkfeier das, was für tausende Familien eine sehr schmerzhafte und verstörende Realität war, die eine der größten Sorgen darstellte, mit denen sie sich nach dem Tod ihrer Angehörigen in der Schlacht konfrontiert sahen, überhaupt nicht angesprochen. Diese Kriegstoten waren ihrem Wesen nach keineswegs säkular, sondern lebendige Seelen, die ihre Fürsorge brauchten. Die Familien reagierten auf diese Schwierigkeiten sehr unterschiedlich. Wie unten genauer erörtert wird, markierten der Kriegstod und der darauffolgende Verlust des Körpers für Einige den Beginn einer jahrzehntelangen Suche nach den sterblichen Überresten, damit der Verstorbene schließlich beerdigt werden konnte und die Familie von dieser Last befreit wurde. In einigen Kommunen, wie zum Beispiel in Thịnh Liệt, südlich von Hanoi, wurden neue Rituale geschaffen, um einige der Schwierigkeiten, die der Kriegstod in der Ferne mit sich brachte, zu bewältigen. Während des Amerikanischen Krieges entwickelten Mitglieder der örtlichen Kommune eine Zeremonie der ,,Erinnerung an die Toten“ (lễ tử niệm or lễ tượng niệm), die für anerkannte revolutionäre Märtyrer durchgeführt wurde. Das Bedeutsame an dieser Zeremonie war, dass sie der offiziellen Gedenkfeier in keiner Weise entgegen stand oder eine Kritik an dieser darstellte, sondern dass sie stattdessen als Ergänzung zu ihr betrachtet wurde, die ganz anderer Sorgen annahm. Zeremonien zur ,,Erinnerung an die Toten“ wurden wie normale Beerdigungen immer im Hause des Verstorbenen durchgeführt. Anders als eine normale Beerdigung, deren Organisation und Durchführung immer unmittelbar nach dem Tod begann, erfolgte die Zeremonie zur ,,Erinnerung an die Toten“ einige Tage nachdem man die Nachricht vom Tode eines Soldaten erhalten hatte. Im Gegensatz zu einer normalen Beerdigung, die eine große Zahl von Gästen, komplexe Riten und einen Leichenschmaus beinhaltete, war die Zeremonie zur ,,Erinnerung an die Toten“ ein einfaches Ereignis, bei dem es keinen Leichenschmaus gab, sondern nur einfache Riten und an der lediglich eine begrenzte Anzahl an

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Freunden und nahen Verwandten teilnahm. Die Zeremonie fand vor einem Traueraltar statt, den die Familie des Verstorbenen im Haus aufgestellt hatte und der dem bei normalen Beerdigungen verwendeten Altar ähnelte. Die Familie stellte darauf ein Portrait des Verstorbenen sowie andere Gegenstände, wie Blumen, Kerzen und eine Räucherurne. Das Vorhandensein des Altars und der Urne waren mit dem letztlichen Ziel der Zeremonie verbunden, das darin bestand, die Seele des Verstorbenen zu beruhigen, so dass sie in der ,,anderen Welt“ Frieden finden konnte. Nachdem man sich vor dem Altar versammelt hatte, führte ein älterer Mann aus der Patrilinie, in der Regel ein Onkel oder Großonkel, ein kurzes Ritual durch, um die Seele des Verstorbenen ins Haus einzuladen. Nachdem dieses Ritual durchgeführt worden und die Seele anwesend war, erwiesen andere Familienmitglieder dem Verstorbenen die letzte Ehre und sprachen Gebete (khấn) für die Seele des Verstorbenen; dabei verbeugten sie sich und hielten Räucherstäbchen in den Händen. Diese Gebete sollten der Seele helfen, in der ,,anderen Welt“ Ruhe zu finden. Nachdem die Gebete beendet waren, wurden die Räucherstäbchen in die Urne gestellt. Die nächste Phase der Zeremonie beinhaltete die direkte Versöhnung der Seele (cúng). Zu diesem Zeitpunkt war es an der Familie, die Dinge aufzubieten, die der Verstorbene in der ,,anderen Welt“ benötigt. Wie bereits oben beschrieben, war es Aufgabe der Lebenden für die Seele des Verstorbenen zu sorgen, und zu diesem Zeitpunkt sprach ein Familienmitglied von jüngerer Abstammung als der Verstorbene Bittgebete, mit denen der Verstorbene gebeten wurde, die ihm angebotenen Dinge anzunehmen. Die Trennung zwischen dem säkularen staatlichen Verständnis vom Kriegstoten und der lebendigen Vorstellung von der lebenden Seele, an der die Familienmitglieder festhielten, wurde in dieser Phase der Riten deutlich. Entsprechend den Regeln der Revolution, die auf die Beseitigung des Aberglaubens abzielten, war es den Vietnamesen verboten, ,,Geisterpriester“ (thầy cúng) um die Durchführung von Ritualen für die Toten zu ersuchen, wie ihnen auch das oben beschriebene Verbrennen von Objekten aus Weihpapier (hàng mã) verboten war. Dennoch baten viele Familien während der Zeremonie zur Erinnerung der Kriegstoten um die Unterstützung von Geisterpriestern und verbrannten Gegenstände aus Weihpapier wie Geld oder Kleidung, um für den Verstorbenen in der ,,anderen Welt“ zu sorgen. Nach Abschluss dieser Rituale versammelten sich die Anwesenden zu einem kleinen Imbiss im Hause. Die Zeremonie zur Erinnerung an die Toten, die einen Ersatz für eine normale Beerdigung, bei der der Leichnam physisch präsent war, darstellte, half den Lebenden, die Seele ihres verstorbenen Angehörigen in die ,,andere Welt“ zu senden und ihr für den Aufenthalt dort Unterstützung zu geben. Es handelte sich nicht um ein großes gemeinschaftliches Ereignis wie eine normale Beerdigung, sie hatte jedoch das gleiche Ziel, nämlich die Seele eines verstorbenen Angehörigen in die ,,andere Welt“ zu senden und den Prozess in die Wege zu leiten, der der Seele hilft, Ruhe zu finden. Auffallend ist jedoch, dass sich die Vorstellung

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vom ,,revolutionären Märtyrer“ in der Zeremonie grundlegend von der offiziellen Gedenkfeier unterscheidet. Letztere war ihrem Wesen nach völlig säkular und der Verstorbene existierte nur als Erinnerung weiter. Für die Familien der revolutionären Märtyrer waren die Seelen ihrer Angehörigen jedoch noch sehr lebendig und bedurften der Fürsorge und Unterstützung. Die Familien schätzten die offizielle Gedenkfeier, daher kann die Zeremonie zur Erinnerung an die Toten nicht als ein Akt des Widerstands oder der Opposition angesehen werden, doch sie war völlig unzureichend, um mit einigen schmerzhaften Realitäten umzugehen, mit denen die überlebenden Angehörigen eines revolutionären Märtyrers konfrontiert wurden. Zu diesem Zweck schufen Familien in Orten wie der Kommune Thịnh Liệt ihre eigenen neuen Lösungen, um mit der schmerzhaften und beängstigenden Realität des Kriegstodes umzugehen.

Massaker und die Reklamation anderer Toter Revolutionäre Märtyrer waren nur eine Gruppe von Personen, die im Krieg starben und – wie oben erwähnt – bedurfte die Anerkennung als revolutionärer Märtyrer eines offiziellen Beschlusses, dass der Tod der Person tatsächlich in Verbindung mit Kampfhandlungen eingetreten ist. Zahlreiche Soldaten starben zum Beispiel aufgrund von Krankheiten während sie beim Militär waren, andere bei Unfällen und wieder andere aufgrund von unerwarteten Ereignissen, wie Angriffen von Tieren. Diese Personen wurden als ,,Kriegstote“ (tử sĩ ) bezeichnet, erhielten jedoch nicht den Titel revolutionäre Märtyrer. Neben Militärangehörigen wurde auch eine große Zahl von Nichtkombattanten getötet, diese Personen wurden als ,,Opfer des Krieges“ (nạn nhân chiến tranh) bezeichnet. Im Norden handelte es sich bei diesen Opfern beinahe immer um Personen, die entweder durch gezielte oder fehlgeleitete amerikanische Bombardements starben. Die bekannteste Gruppe waren jene, die in der Nacht vom 26. Dezember 1972 getötet wurden, als ein amerikanischer B-52-Bomber seine Bomben über der Khâm Thiên Straße im Süden Hanois abwarf, was zur Zerstörung des Gebiets und zum Tod von 283 Zivilisten führte.18 Dieser Angriff gilt als eine große Tragödie des Amerikanischen Krieges; auf der Straße wurde ein Denkmal zur Erinnerung an und Ehrung der Opfer errichtet. Als unschuldige Opfer des amerikanischen Bombardements lässt sich ihr Tod und der weiterer Nordvietnamesen leicht in das Gesamtbild integrieren, das der sozialistische Staat zum Kriegstod gezeichnet hat, da auch für sie gilt, dass sie ihr Leben im Rahmen des umfassenderen Kampfes zur Vernichtung des amerikanischen Feindes gegeben haben. 18

Nguyễn Huy Phúc / Trần Huy Bá, Ðường Phố Hà Nội [Die Straßen von Hanoi] Hanoi 1979, S. 245.

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Viele Nordvietnamesen waren unschuldige Opfer des Krieges, es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass im Süden und vor allem in den zentralen Regionen Vietnams mehr Nichtkombattanten getötet wurden. In der Tat starben Schätzungen von Wissenschaftlern zufolge während des Amerikanischen Krieges mehr als eine Million Menschen in Zentral- und Südvietnam. Wie der Anthropologe Heonik Kwon beschrieb, brachte der Tod dieser Personen dennoch eine Reihe von Schwierigkeiten und Gefahren mit sich, die sich von denen unterscheiden, die sich im Zusammenhang mit den revolutionären Märtyrern und Zivilisten aus dem Norden stellten, und diese Tatsache erforderte eigene spezifische Antworten.19 Bei der Beschreibung des Todes von Nichtkombattanten in Süd- und Zentralvietnam ist zu beachten, dass diese Kriegsopfer in zwei Hauptgruppen unterteilt wurden. Die erste Gruppe waren Personen, die ähnlich wie ihr Gegenüber im Norden versehentlich bei Militäraktionen getötet wurden, vor allem durch fehlgeleitete Bomben, Beschuss oder Schusswaffengebrauch. Eine zweite Kategorie waren Personen, die bei Massakern absichtlich getötet wurden. Wie Kwon beschreibt, gab es von 1966 an eine große Zahl vorsätzlicher Tötungen von Zivilpersonen, vor allem durch Marineinfanteristen aus der Republik Korea, die in der Provinz Quảng Ngãi operierten.20 Anfang 1968 fanden zwei der schrecklichsten Massaker des Krieges statt, am 24. Februar als 135 Zivilpersonen in Ha Mỹ in der Provinz Quảng Nam von Marineinfanteristen der Republik Südkorea niedergemetzelt wurden und am 16. März als etwa 500 Zivilpersonen bei einem Massaker der US Army in Mỹ Lai in der Provinz Quảng Ngãi getötet wurden. Obwohl die Opfer dieser Massaker Kriegsopfer waren, nahmen sie aufgrund einer Reihe von Eigenschaften letztendlich eine aus soziokultureller Sicht kaum wahrnehmbare Position bzw. eine Randstellung ein. Erstens waren die meisten Opfer definitiv Nichtkombattanten, was es selbst mit viel Phantasie sehr schwer machte, sie in die Kategorie derer einzugliedern, die ihr Leben für die große Sache geopfert hatten. In Ha Mỹ zum Beispiel waren unter den 135 Getöteten nur drei männliche Personen, die alt genug waren zu kämpfen, während es sich bei den anderen Opfern um Frauen, Kinder, Dorfälteste und andere handelte.21 Die Lage in Mỹ Lai und andernorts war ähnlich. Zweitens war der Krieg in Süd- und Zentralvietnam durch vielfache Unklarheiten hinsichtlich der politischen Loyalität der Einwohner gekennzeichnet. Im Gegensatz zu konventionellen Kriegen, in denen sich uniformierte Soldaten auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen, waren sowohl der Französische als auch der Amerikanische Krieg eine Kombination aus konventioneller und Guerillakriegführung. Während des Amerikanischen Krieges fanden die meisten Bodenkämpfe in 19 20 21

Siehe Kwon, After the Massacre. Ebd., S. 43. Ebd., S. 45.

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Zentral- und Südvietnam statt, wo Soldaten der Armee der Republik Vietnam (ARVN) und ihre Verbündeten in den USA, Korea sowie andere verbündete Streitkräfte einen konventionellen Krieg gegen die Vietnamesische Volksarmee (PAVN – die Armee Nordvietnams) führten und gleichzeitig einen Guerillakrieg gegen die Nationale Befreiungsfront (NLF), eine Guerillagruppierung, die mit der Regierung in Hanoi verbündet war und allgemein als Viet Cong (VC) bezeichnet wird. Die Mitglieder der Nationalen Befreiungsfront rekrutierten sich in der Regel aus den örtlichen Kommunen und wurden von diesen unterstützt, dies geschah jedoch oft im Geheimen, da sie in Gebieten operierten, die genau genommen vom Feind kontrolliert wurden. Daher war die Bevölkerung in diesen Regionen in der Regel gemischt; sie bestand aus Personen, die die Regierung in Saigon unterstützten und solchen, die die NLF unterstützten. Da die NLF konspirativ agierte und die Einstellung weit verbreitet war, dass die Menschen die Seite unterstützte, die ihnen die größten Überlebenschancen bot, blieb unklar, wen die Leute wirklich unterstützten. Von daher bestand diese Ungewissheit auch, wenn es zu einem Massaker kam, so dass man zögerte, die Opfer öffentlich zu glorifizieren, da dies bedeuten könnte, dass man feindliche Tote ehrt. Nachdem der Krieg schließlich vorbei war, wollte sich die siegreiche Nordseite nicht länger mit diesen schwierigen und komplexen Aspekten des Krieges befassen, sondern stattdessen das Volk vorwärts zu seiner leuchtenden Zukunft führen, daher schenkte man diesen Opfern von offizieller Seite keine Beachtung.22 Dies hatte für die Massakeropfer in der Zeit unmittelbar nach 1975 zur Folge, dass sie an den Rand gedrängt und vernachlässigt wurden. Wie Kwon bemerkt, war die siegreiche Regierung tatsächlich an den Toten interessiert, allerdings beschränkte sich ihr Interesse auf das Auffinden und Umbetten der sterblichen Überreste revolutionärer Märtyrer (dieselben Anstrengungen gab es im Norden). Diese wurden in der Tat zu einem wichtigen Mittel zur Vereinigung der Bevölkerung, daher ermutigte die Regierung ihre Bewohner, die sterblichen Überreste zu finden, was Kwon eingängig als eine ,,heilige Mission“ bezeichnet,23 und verband dies mit der Anlage von Friedhöfen für revolutionäre Märtyrer im Zentrum der Kommunen. Kwon kommentiert: ,,Die Leichname der gefallenen Helden und die Kriegsfriedhöfe, wo diese Leichname ruhten, wurden zu einer Hauptstätte der nationalen Erinnerung an den vereinten Kampf gegen eine ausländische Macht.“ Weiter heißt es: ,,Ein zentraler Bestandteil des nationalen Totengedenkens nach dem Krieg bestand darin, den Heldentod in den Mittelpunkt des Nachkriegs-Dorflebens zu rücken und das zivile Interesse an der Bewahrung der Erinnerung zu fördern.“24 22 23 24

Ebd., S. 66. Ebd. Ebd.

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Im Gegensatz zur Umsicht und Fürsorge, die man den sterblichen Überresten der revolutionären Märtyrer entgegengebrachte, wurden die sterblichen Überreste der Opfer der Massaker deutlich respektloser behandelt. In Ha Mỹ zum Beispiel wurden die Massakeropfer zuerst in flachen Gräbern beerdigt, doch in der Zeit nach 1975 legte die Regierung Wert auf wirtschaftliche Entwicklung und so wurden die sterblichen Überreste achtlos entfernt, um Felder für die Landwirtschaft zu erschließen, und es wurden praktisch keine Anstrengungen unternommen, die Identität der sterblichen Überreste zu ermitteln. Kwon bemerkt, dass einige der Freiwilligen, die aus der Stadt Ðà Nẵng kamen, um sich an dieser Arbeit zu beteiligen, nach Auffassung der örtlichen Kommune ,,keinen Respekt für die ausgegrabenen Knochen zeigten, als sie halfen Streumunition und Landminen von den Ackerflächen zu räumen“.25 Bezeichnenderweise wurden die Knochen bei der erneuten Beerdigung nicht in der Mitte des Dorfes bestattet, sondern am Rande, was nach Meinung der überlebenden Verwandten letztlich ,,keine richtigen Gräber“ waren.26 Diese Wende der Ereignisse stellte die Hinterbliebenen vor große Probleme. Kwon bemerkte: ,,Diese hastige, kollektive Umbettung verhinderte jegliche begleitenden traditionellen Rituale. Die Umbettung von Opfern war nach Meinung vieler Dorfbewohner von Ha Mỹ unzulässig und war für die Hinterbliebenen Auslöser für große Schande und Schmerz.“27 Nach Meinung der Hinterbliebenen wurde für ihre Toten weder angemessen gesorgt, noch wurden sie ordnungsgemäß beigesetzt. Daher begannen Familien Anfang der 1990er Jahre im Zuge der Liberalisierung des politischen Klimas nach traditionellen und neuen Wegen zu suchen, die Probleme, die durch die Behandlung der Opfer der Massaker entstanden waren, zu lösen. Auch wenn hier nicht auf alle Maßnahmen eingegangen werden kann, seien doch einige genannt. Dazu gehörte z.B. die sorgfältige Entnahme, Identifizierung und erneute Beerdigung der Knochen der Opfer in Familiengrabstätten oder -grüften, die Sanierung der Familiengrabstätten und -grüfte, den Bau von Außenschreinen, wo nichtidentifizierte wandernde Seelen der Kriegstoten einkehren, besänftigt und betreut werden können, die Errichtung nichtoffizieller Gedenkbauten zur Erinnerung an die Toten und die Schaffung neuer ritueller Praktiken, um für diese Seelen zu sorgen. Interessanterweise schuf der Staat letztendlich neue Riten, um die Opfer der Massaker zu ehren, wie zum Beispiel, eine offizielle Gedenkfeier für die Opfer von Mỹ Lai, allerdings hatten die meisten Familien kein Interesse daran, da es ihnen verboten wurde, Nahrungsmittel oder Weihgegenstände mitzubringen, die ihrer Meinung nach notwendig waren, um angemessen für ihre Toten zu sorgen.28 Wie Kwon 25 26 27 28

Ebd. Ebd., S. 65. Ebd., S. 50. Ebd., S. 63.

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eindrucksvoll beschreibt, erlebten die Opfer der Massaker einen ,,kummervollen Tod“ (chết oan), der sie in Schmerzen verharren und im Leben nach dem Tode leiden ließ.29 Obwohl es Jahre gedauert hat, konnten die überlebenden Angehörigen letztendlich die Schmerzen über den kummervollen Tod für sich selbst und ihre verstorbenen Angehörigen lindern, indem sie diese in einer persönlichen und kulturell angemessenen Weise beisetzten. Schließlich ist zu erwähnen, dass eine Gruppe, die weiterhin außerhalb der offiziellen Heldenschilderung existiert, und der in der Öffentlichkeit nicht gedacht wird, die Toten der Armee der Republik Vietnam (Süd-Vietnam bis 1975) sind. Während des Krieges wurden hunderttausende Soldaten der ARVN im Gefecht getötet, doch diese Soldaten erhielten keine öffentliche Feier, tatsächlich wurden viele ihrer alten Ruhestätten geschlossen und in einigen Fällen wurden die sterblichen Überreste entfernt, um Platz für neue Bauten zu schaffen. Diese Personen können weder als revolutionäre Märtyrer eingestuft werden, noch als Personen, die ihr Leben für das Regime gegeben haben. Als ein interessantes Zeichen dafür, wer im Krieg zur Wiedervereinigung des Landes siegreich war, werden jedoch Zentral- und Südvietnamesen, die während des Krieges für die Sache des Nordens kämpften – sei es entweder in der Volksarmee oder der Nationalen Befreiungsfront – in diese Kategorien eingestuft, und in den Kommunen im Zentrum und Süden gibt es Friedhöfe, die ihnen gewidmet sind. Aus Sicht des heutigen Regimes steht eine offizielle Anerkennung von Personen, die sie als feindliche Tote ansehen, völlig außer Frage und deshalb müssen sich die Hinterbliebenen von ehemaligen ARVN-Angehörigen mit rein privaten Gedenkfeiern zufrieden geben.

Gebeine und narrativer Abschluss Das Beispiel der Feier zur Erinnerung an die Toten in der Kommune Thịnh Liệt war eine Möglichkeit, bei der die Hinterbliebenen eines revolutionären Märtyrers die Trauerfeiern für die Kriegstoten, deren Leichnam physisch abwesend war, auf eine persönlich und kulturell bedeutsame Weise durchführen konnten. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese Riten lediglich die Lösung darstellten, wie sie in einer einzigen Kommune praktiziert wurde. Außerdem konnte die Durchführung neuer Rituale bei vielen dieser Familien sowie bei zahlreichen anderen Familien überall in Vietnam nicht die Seelenqualen lindern, die sie empfanden, weil sie die Gebeine ihrer Angehörigen nicht besaßen. Für viele Familien verstärkten sich der anfängliche Schmerz und das Trauma des Todes über die Jahre durch die Tatsache, dass sie nicht wussten, wo die Gebeine ihrer 29

Ebd., S. 13.

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Angehörigen lagen. Schätzungen zufolge gibt es mindestens 300.000 Fälle von verschollenen Soldaten, daher teilen hunderttausende Familien und ihre Angehörigen diesen Schmerz. Für den Umgang mit diesem Problem wurde eine Reihe umfassender und interessanter Lösungen entwickelt. Am einfachsten war es, wenn Soldaten im Krieg damit rechneten, dass – sollten sie fallen – ihr Leichnam verloren ginge; daher trafen viele Vereinbarungen mit anderen Soldaten in ihren Einheiten, dass diese den Hinterbliebenen das Todesdatum und den Ort mitteilen, damit die Todestagsfeiern am richtigen Tag durchgeführt und möglicherweise eines Tages sogar die sterblichen Überreste geborgen werden konnten. (Es ist zu beachten, dass die meisten Familien, vor allem in Nordvietnam, eine zweite Bestattungsfeier durchführen, bei der der Leichnam exhumiert wird, die Knochen gereinigt und an einem anderen Ort wieder bestattet werden. Somit ist der Gedanke, die beerdigten sterblichen Überreste zu exhumieren, aus kultureller Sicht nicht schockierend.) Leider wurden diese Informationen in hunderttausenden Fällen nie erfolgreich übermittelt und es war oft der Fall, dass sogar auf den offiziellen Totenscheinen lediglich derart allgemeine Angaben eingetragen waren, wie: Der Soldat starb ,,im Süden“. Die Familien blieben mit den schmerzhaften unbeantworteten Fragen zum Geschehenen allein. Im Laufe der letzten Jahrzehnte entstand ein umfangreiches Netzwerk, das helfen soll, die Übermittlung informeller Angaben zu Kriegstoten zu erleichtern. Per Radio, Fernsehen, Zeitungen und Spezialpublikationen wie ,,Kriegsveteranen Vietnams“ (Cựu Chiến Binh Việt Nam), das vom Ministerium für Arbeit und Kriegsversehrte sowie dem Zentralkomitee für Kriegsveteranen herausgegeben wird, können Personen, die über Informationen zu Orten verfügen, an denen sich sterbliche Überreste von Kriegstoten befinden oder Personen, die Informationen über bestimmte Kriegstote suchen, diese wichtigen Informationen in Umlauf bringen. Es ist bemerkenswert, dass die betreffenden Fälle sogar bis zum Französischen Krieg zurückreichen. Nachfolgend sind einige typische Beispiele aus ,,Kriegsveteranen Vietnams“ angeführt: – Revolutionärer Märtyrer Nguyễn Duy Tương. Geburtsort Trường Xuân, Anh

Sơn, Nghệ An. Einheit Sông Lô, 312. Brigade, stellv. Truppführer. Heldenhaft gefallen am 21. Juni 1954 im Frühjahrsfeldzug 1954 in der Region Vĩnh Khua (?) Hoffen sehnlichst auf Informationen und Grabstätte. Bitte Informieren Sie das Kind des revolutionären Märtyrers Nguyễn Hương, 34/6 Nguyễn Thiện Thuật, Nha Trang. – Revolutionärer Märtyrer Nguyễn Ðức Leo, geboren 1948. Dorf Mai Ðộng, Kommune Liên Khê, Thủy Nguyên, Hải Phòng. Trat im September 1966 in die Armee ein. Heldenhaft gefallen am 22. April 1971. Ich habe Informatio-

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nen, dass die sterblichen Überreste im Hinterland der Provinz Phú Yến, Hill 732 Chư Pông, Ðắc Lắc beerdigt wurden. Hoffen sehnlichst auf Informationen und Grabstätte. Bitte übermitteln Sie Informationen an den Vater des revolutionären Märtyrers Nguyễn Ðức Mậu, an die Adresse im Geburtsdorf.30 Die beiden Einträge verdeutlichen wie vage und unterschiedlich die Kenntnisse der überlebenden Familien sein können. In beiden Fällen kennen sie das Todesdatum, doch im ersten Fall weiß die Familie nicht einmal grob, in welcher Region der Soldat starb, geschweige denn, wo er begraben ist, während die Familie im zweiten Fall über etwas genauere Informationen hinsichtlich des Ortes, an dem der Soldat begraben wurde, verfügt, doch auch das muss noch bestätigt werden. Bestürzend ist, dass diese Familien Jahrzehnte (die erste Familie vier und die zweite mehr als zwei) ohne konkrete Informationen gelebt haben, die ihnen geholfen hätten, die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zu finden. Dennoch hoffen die Familien, dass sie die benötigten Informationen über diese von offizieller Seite unterstützten Kanäle finden können. Angesichts des spürbaren Leids, das viele Familien erfahren haben, wurden andere neue Verfahren entwickelt, die ihnen helfen, die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zu finden. Eine neue Erfindung war die Entwicklung eines neuen divinatorischen Rituals zur Identifizierung von sterblichen Überresten in bereits bestehenden Gräbern. Friedhöfe für revolutionäre Märtyrer in ganz Vietnam verfügen über zahlreiche ,,namenlose“ (vô danh) Gräber, bei denen die Identität der begrabenen Soldaten nicht bekannt ist. Seit Mitte der 1990er Jahre können Familien, die den Ort des Friedhofes kennen, in dem ein Angehöriger begraben ist, ein Ritual durchführen, bei dem ein Essstäbchen senkrecht in den Boden in der Nähe des Grabes gesteckt und dann ein Ei auf dem Stäbchen balanciert wird. Wenn das Ei auf den Boden fällt, dann enthält das Grab nicht die sterblichen Überreste des Angehörigen. Ein Ei, das sich auf dem Stäbchen hält, lieferte jedoch die Bestätigung, dass es sich bei den sterblichen Überresten im Grab um die des Angehörigen handelte. Dieses divinatorische Ritual zeitigte bei mehreren Gelegenheiten Ergebnisse, und einen früheren Artikel zu diesem Phänomen aus der Zeitschrift ,,Die Neue Welt“ (Thế Giới Mới) vom April 1996 zufolge, gelang es sogar, die sterblichen Überreste eines Soldaten zu finden, der seit dem Ausbruch des Französischen Krieges im Dezember 1946 vermisst wurde.31 Das divinatorische Eierbalancieren war für einige Familien erfolgreich, doch wie die Suchanzeigen in ,,Kriegsveteranen in Vietnam“ zeigen, haben einige Familien keine genauen Kenntnisse darüber, wo sich die sterblichen Überreste ihrer 30 31

Kriegsveteranen Vietnams [Cựu Chiến Binh Việt Nam] 10 (1994), S. 46. Xuân Cang / Lý Ðặng Cao, Tìm Mộ Liệt Sĩ Bằng Phương Pháp Mới? [Gräber revolutionärer Märtyrer mit einem neuen Verfahren finden?], in: Thế Giới Mới (1996), S. 8–11.

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Angehörigen befinden könnten. Daher bedarf es anderer Verfahren, um deren Verbleib zu ermitteln. Das bekannteste Verfahren, das im Laufe des vergangen Jahrzehnts entwickelt wurde, ist bekannt als ngoại cảm. Es ist schwer, eine genaue Übersetzung dafür zu finden, doch das Wort lässt sich erklären, indem man es in seine Bestandteile gliedert. Ngoại bedeutet extern oder außen, während cảm fühlen oder von etwas emotional betroffen sein bedeutet. Somit bezeichnet ngoại cảm zusammen die Fähigkeit von externen Dingen emotional betroffen zu sein. Im Falle der ngoại cảm-Kundigen, die im Vietnamesischen als nhà ngoại cảm bezeichnet werden, verfügen diese über die Fähigkeit, mit den Seelen der Toten zu kommunizieren, insbesondere mit den Seelen der Kriegstoten. Obgleich die Kategorie der ngoại cảm-Kundigen in Vietnam eine neue Entwicklung ist, sei erwähnt, dass sie Teil eines traditionellen Zweigs religiöser Spezialisten aus dem Volke sind, denen zugeschrieben wird, mit den Toten kommunizieren zu können. Dazu zählen zum Beispiel vietnamesische Geisterpriester (thầy cúng), ebenso die sogenannten Geistermedien (Ông đồng, Bà đồng). Geisterpriester führen etwa ,,Seelenruf-“ (gọi hồn) Zeremonien durch, bei denen die Lebenden die Seele eines Verstorbenen einladen und mit ihr sprechen können, während Geistermedien – so die Vorstellung – über die Fähigkeit verfügen, Geister in ihre Körper einzuladen, so dass die Lebenden direkt mit ihnen sprechen können. Ngoại cảm-Spezialisten sind daher eine Spielart bereits bestehender Bräuche. Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der selbsternannten Ngoại cảm-Spezialisten explodiert, obgleich zu erwähnen ist, dass viele von ihnen Scharlatane sind, die die Verletzlichkeit der Menschen ausnutzen. Andererseits gibt es eine kleine Gruppe von Ngoại cảm-Spezialisten, die in Vietnam als rechtmäßige und erfolgreiche Fachleute anerkannt sind. So wurden im Juli 2007 in einer offiziellen Zeremonie mit dem Titel ,,Das Auffinden der sterblichen Überreste von Revolutionären Märtyrern durch besondere Fähigkeiten“ (Tìm Hài Cốt Liệt Sĩ Bằng Khả Năng Ðặc Biệt) zehn verschiedene Ngoại cảm-Spezialisten für ihren Beitrag zum Auffinden von Gräbern revolutionärer Märtyrer in der Zeit zwischen 1997 und 2007 ausgezeichnet. Der Gruppe insgesamt wird zugeschrieben, dass sie in den zehn Jahren die Gräber von mehr als 15.000 revolutionären Märtyrern und anderen Personen, die sich um die Revolution verdient gemacht haben, gefunden hätten. Ein Ngoại cảm-Spezialisten, Nguyễn Thị Nguyện, soll die sterblichen Überreste von mehr als fünftausend revolutionären Märtyrern gefunden haben, während zwei andere, Phạm Văn Lập und Trần Văn Tìa jeweils über tausend Gräber entdeckt haben sollen. Zu den Ausgezeichneten gehörte auch der bekannte Ngoại cảm-Spezialist Phan thị Bích Hằng aus Hanoi. Interessanterweise waren drei der Spezialisten aus Hanoi, drei aus Saigon und jeweils einer aus Hải Dương, Thái Nguyên, Bá Rịa-Vũng Tau und Ðiện Biên.32 Diese Spezia32

Nguyên Bảng, Nhiều Nhà Ngoại Cảm Tìm Mộ Liệt Sĩ Ðược Khen Thương [Zahlreiche Nhà Ngoại Cảm, die Gräber revolutionärer Märtyrer gefunden haben, erhalten Auszeichnun-

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listen sind also bei weitem kein bloß nordvietnamesisches Phänomen, sondern kommen aus dem ganzen Land. Es gibt kaum wissenschaftliche Untersuchungen zu den nhà ngoại cảm, daher muss man sich auf den Volksmund und journalistische Berichte über deren Aktivitäten verlassen; es scheint jedoch, dass ihre Wege der Nachwuchswerbung für dieses Spezialgebiet denen anderer Geisterspezialisten ähneln. Laut Vũ Thế Khanh, dem Direktor der Wissenschaftlich-Technischen Union für Informatikanwendung (Liên Hiệp Khoa Học Công Nghệ Tin Học Ứng Dụng), die eine wissenschaftliche Untersuchung zu ngoại cảm durchgeführt hat, gibt es im wesentlichen vier Wege zum ngoại cảm-Spezialisten. Erstens gebe es einige Leute, die mit dieser Fähigkeit geboren würden, obwohl diese Fälle in der Tat sehr selten sind. Ein zweiter Weg betrifft Personen, die bereits über ,,besondere Fähigkeiten“ verfügten und von Wissenschaftlern weiter ausgebildet werden, um Gräber zu lokalisieren (wie erfolgreich diese Personen sind, das wird noch untersucht und Ergebnisse sind noch nicht veröffentlicht worden). Eine dritte Möglichkeit finde sich bei außerordentlich streng religiösen Mönchen, die sich für viele Jahre einem strengen Klosterregime verschrieben hatten, das in ihnen zufällig diese Fähigkeit geweckt habe. Als streng religiöse Mönche, die sich vom alltäglichen Leben zurückgezogen haben, hätten viele dieser Männer, die über diese besondere Fähigkeit verfügten, entschieden, dies anderen gegenüber nicht preiszugeben. Eine Ausnahme bildet Nguyễn Văn Nhã aus Hồ-Chí–Minh-Stadt, der zu den von der Regierung Ausgezeichneten gehörte. Dabei kann man ihn, obwohl er seine Fähigkeiten einsetzt, um anderen zu helfen, nur telefonisch erreichen, daher haben die meisten Menschen, mit denen er zusammenarbeitet, noch nie sein Gesicht gesehen. Außerdem lehnt er es ab, irgendeine Art der Entlohnung anzunehmen, um dem Vorwurf zu entgehen, dass er seine Fähigkeit einsetze, um daraus materielle Vorteile zu ziehen.33 Die überwiegende Mehrheit der vietnamesischen ngoại cảm-Spezialisten erwirbt ihre Fähigkeiten jedoch nach einem traumatischen oder lebensbedrohlichen Ereignis: Nguyễn Văn Chiều, zum Beispiel, nachdem er schweren Elektroschocks ausgesetzt war. Andere hatten hohes Fieber oder andere Krankheiten, bei denen sie Nahtoderfahrungen machten. Viele werden zu einem Geistermedium nach einer schweren Krankheit. Der bekannteste Fall von Berufung ist wahrscheinlich der von Phan thị Bích Hằng, die gegenwärtig in Hanoi lebt. Hằng wurde 1973 in der Kommune Khánh Hòa im Distrikt Yên Khánh der

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gen], in: Tiền Phong Online, 23.07.2007. Online abrufbar unter http://www.tienphong.vn/ Tianyon/Index.aspx?ArticleID=90529&ChannelID=46. Công An Nhân Dân, Ði Tìm Lời Giải của những Nhà Ngoại Cảm Việt Nam [Die Lösungen von Vietnams Nhà Ngoại Cảm finden], http://tintuc.timnhanh.com/xa_hoi/20070311/ 35A5C0F3 (03.11.2007).

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Provinz Ninh Bình geboren. Als Frau mit wissenschaftlicher Begabung hat sie die Universität absolviert und ist und jetzt an der Hochschule für Betriebswirtschaft Hanoi (Ðại Học Quản Trị Kinh Doanh) beschäftigt. Im Jahre 1990 befand sie sich zusammen mit einem Freund auf dem Weg nach Hause, nachdem sie die Aufnahmeprüfung an der Universität abgelegt hatten. Dabei wurden sie beide von einem streunenden Hund gebissen. Sie dachten sich nichts dabei und setzten ihren Weg fort. Etwa einen Monat später zeigte ihr Freund Anzeichen von Tollwut und starb einige Tage darauf. Sein Tod war für Hằng ein Schock und ihre besorgte Familie bemühte sich sofort um medizinische Behandlung für sie, bei der sowohl westliche als auch östliche Heilkunst Anwendung fanden. Hằngs Zustand verschlimmerte sich so weit, dass ihre Familie für kurze Zeit dachte, sie wäre tatsächlich gestorben, doch sie erholte sich wieder. Nach ihrer Genesung stellte Hằng fest, dass sie über die Fähigkeit verfügte, zu wissen, wann Leute sterben würden und sie informierte zwei Männer in ihrer Kommune über deren bevorstehenden Tod, der tatsächlich eintrat. Verständlicherweise fand Hằng diese Fähigkeit verstörend, doch später wandelte diese sich in die Fähigkeit, mit den Toten zu sprechen und die Gräber von vermissten Toten zu finden. Sie gilt jetzt als eine der erfolgreichsten ngoại cảm-Spezialisten und hat eine Reihe bekannter Entdeckungen gemacht.34 Im heutigen Vietnam gibt es Dutzende Personen, die sich mit ngoại cảm-Aktivitäten befassen; dabei ist es außerordentlich bemerkenswert, in welchem Maße sie von offizieller Seite unterstützt werden. Auf dem Höhepunkt der Revolution hätte die Regierung zweifellos alle ngoại cảm-Aktivitäten als Aberglauben eingestuft und streng verboten. Heute jedoch befürwortet die Regierung diese Aktivitäten sogar ausdrücklich und stellt Finanzmittel für ihre Erforschung bereit. Die oben genannte Wissenschaftlich-Technische Union für Informatikanwendungen ist in der Durchführung wissenschaftlicher Forschungen auf diesem Gebiet aktiv, ebenso das dazugehörige Zentrum zur Erforschung menschlicher Fähigkeiten (Trung Tâm Nghiên Cứu Tiềm Năng Con Người) und andere Institutionen. Damit soll das ngoại cảm Phänomen aus wissenschaftlicher Sicht verstanden werden. Betrachtet man jedoch das Hauptziel von ngoại cảm, dann wird seine Akzeptanz durch die Regierung noch verständlicher. Ngoại cảm-Spezialisten haben den Hinterbliebenen von mehr als 15.000 revolutionären Märtyrern geholfen, die sterblichen Überreste ihrer in der Schlacht getöteten Angehörigen zu finden. Dies hatte einen größeren sofortigen Nutzen für die vietnamesische Regierung, da es ihr Bekenntnis zu den revolutionären Märtyrern demonstriert, die ihr Leben für das Volk und die Revolution gaben, doch die Funktionäre waren sich auch sehr genau bewusst, welchen persönlichen Nutzen dies den Familien bringen konnte. Durch das Auffinden der sterblichen Überreste 34

Ebd.

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ihrer Angehörigen räumten die Hinterbliebenen schließlich die damit verbundenen Gefahren aus, indem sie entsprechende Beerdingungsrituale für sie durchführten und deren Seelen beruhigten. In gewisser Hinsicht können die Familien durch die erfolgreiche Lokalisierung der sterblichen Überreste ihrer Angehörigen das letzte Kapitel im Leben dieser Angehörigen schreiben und die Geschichte zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Damit wurden sie von einer riesigen Last aus Schmerz und Trauer befreit. Ein beeindruckendes Beispiel dafür lieferte eine BBC-Dokumentation über ngoại cảm mit dem Titel Psychic Vietnam aus dem Jahre 2006. Im Film hatte eine Familie fast vierzig Jahren nach den sterblichen Überresten eines männlichen Familienmitglieds gesucht und sich als letzten Ausweg an eine bekannte ngoại cảm-Spezialistin gewandt, namens Nguyễn thị Minh Nghĩa in der südlichen Provinz Bà Rịa – Vũng Tàu (sie war ebenfalls eine der Ausgezeichneten). Nghĩa konnte tatsächlich Angaben zu dem Ort machen, an dem sich der Verstorbene befand. Als sie diese Information endlich hatte, sagte die Witwe des Verstorbenen: ,,Ich bin beruhigt. Das ist alles, was ich immer wollte. Jetzt kann ich glücklich sterben.“35 Ihre Reaktion glich der Tausender anderer vietnamesischer Familien.

Zusammenfassung Sozialwissenschaftler haben längst anerkannt, dass der Tod eine wichtige Herausforderung für die soziale Ordnung darstellt und daher eine aussagekräftige Antwort aus kultureller Sicht erfordert.36 Für zum Funktionalismus tendierende Anthropologen sind Beerdigungsrituale eine solche Antwort, da sie die Lebenden in einer Zeit der Krise zusammenbringen, um den Wert des Lebens, der Familie und der Gemeinschaft zu bekräftigen. Der Tod von Menschen im Krieg ist Teil dieses allgemeinen Phänomens, allerdings hat er auch seine eigenen Merkmale, da er im Allgemeinen gewaltsam und schmerzhaft ist und oft weit entfernt von der Heimat eintritt. Tatsächlich stellt der Kriegstod eine Störung des normal erwarteten Lebenslaufes dar und jene, die dabei getötet werden, sterben einen, vom kulturellen Standpunkt aus ,,schlechten Tod“. Der jahrzehntelange Krieg im Vietnam des 20. Jahrhunderts führte im wörtlichen Sinne millionenfach zu einem ,,schlechten Tod“ und diese Wirklichkeit hat die Überlebenden dieser Kriege vor gewaltige Probleme gestellt.

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Joe Phua, Communicating with Vietnam’s War Dead, in: BBC World Service, 17.05.2006. Online abrufbar unter http://news.bbc.co.uk/2/hi/programmes/this_world/4989480.stm. Maurice Bloch / Jonathan Parry, Death and the Regeneration of Life, Cambridge 1982.

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Wenn man nur auf die Zahl blickt, auf die Millionen Kriegstoten in Vietnam, kann man den tiefgreifenden komplexen Zusammenhängen der gesellschaftlichen Reaktion auf den gewaltsamen Tod nicht gerecht werden. Wie die Analyse der sehr konträren staatlichen und volkstümlichen Reflexion über die Kriegstoten zeigt, gab es starke Unterschiede zwischen der vom Staat propagierten säkularen Idee vom Kriegstod und der volkstümlichen Vorstellung vom Weiterleben der Seelen von Kriegstoten und der nötigen Fürsorge durch die Lebenden. Dies wiederum führte zu unterschiedlichen rituellen Ausprägungen im Umgang mit dem Kriegstod von offizieller Seite und seitens der Bevölkerung. Die Kriegstoten wurden in verschiedene Gruppen eingeteilt, diese reichten von den angesehenen revolutionären Märtyrern, über Kriegsopfer als Nichtkombattanten bis hin zu den gegenwärtig offiziell stigmatisierten Toten der ARVN. In diesen Fällen hatte die Klassifizierung eines Verstorbenen einen starken Einfluss darauf, wie die Lebenden die Toten nach dem Tod behandelt haben. Einige wurden von offizieller Seite glorifiziert, andere ignoriert oder vergessen, während wieder andere nur privat betrauert und gefeiert werden konnten. Einige Kriegstote gehörten auch zu jenen, deren Leichen sofort geborgen und beerdigt wurden, was ihren Familien Jahre der Ungewissheit und der Trauer ersparte, während die sterblichen Überreste anderer Kriegstoter jahrzehntelang verschollen waren oder immer noch sind, was ihre Angehörigen weiterhin quält. Diese Belege zeigen: Obwohl der sozialistische Staat für die Einführung einer Reihe neuer Vorstellungen und Rituale hinsichtlich der Kriegstoten verantwortlich war, trafen diese nach ihrer Einführung in die vietnamesische Gesellschaft auf volkstümliche Praktiken und Sorgen, die wiederum als Katalysator für einen fortgesetzten soziokulturellen Austausch und Erneuerung wirkten. Auch wenn sich der Staat weiterhin mit den Kriegstoten befasst hat und um sie besorgt ist und noch immer die öffentliche Wahrnehmung der Toten in die sozialistische und nationalistische Ideologie einfügt, so wurde in den letzten Jahren die gesellschaftliche Praxis gegenüber den Kriegstoten stärker durch die Sorgen des Volkes über das individuelle Schicksal der Kriegstoten bestimmt. Trotz dieser wichtigen Unterschiede gibt es noch eine tiefergehende Realität, die die verschiedenen Fälle, die in diesem Beitrag erörtert werden, eint. Der Tod von Vietnamesen im Krieg stellt die Lebenden, sowohl die Angehörigen wie die Regierung, vor große Probleme. Für den Staat stellt eine Entglorifizierung des Kriegstodes die Legitimation der Revolution und des Regimes potentiell in Frage. Für die Familien wiederum resultierte aus dem Kriegstod mit seiner massenhaften Anonymität unter anderem das Problem, dem religiösen und psychischen Gebot Genüge zu tun, den Seelen der verstorbenen Angehörigen Frieden und Seelenruhe zu ermöglichen. Formuliert man das Problem mit den Begriffen, die vom Soziologen Robert Hertz und dem Anthropologen Arnold van Gennep verwendet werden, so bedeutet dies: Der Kriegstod löst den ehe-

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mals Lebendigen effektiv aus seinem Netz normaler sozialer Beziehungen und bringt ihn in eine gefährliche und liminale Lage.37 So lange ihre Liminalität andauerte, so lange sie unvollständig in die lebendige gesellschaftliche Ordnung integriert blieben, sollte auch diese Gefahr weiter bestehen. Die Maßnahmen, die die Lebenden nach dem Tode ergreifen, können somit als Bemühungen zur Reintegration der Kriegstoten in die gesellschaftliche Ordnung und Beendigung ihrer Liminalität verstanden werden. Ähnliche Maßnahmen wurden ergriffen, um dies zu erreichen, wie zum Beispiel die Suche nach den sterblichen Überresten, die Durchführungen von Ritualen für diese sowie die Beerdigung der sterblichen Überreste an einem gesellschaftlich oder persönlich erstrebenswerten Ort, doch das Wichtige, was dabei erkannt werden muss, ist, dass die Kriegstoten in verschiedene Bereiche der gesellschaftlichen Ordnung integriert wurden. Durch staatliche Maßnahmen wurden sie zu Nationalhelden überhöht und dergestalt politisch in die nationale Gemeinschaft integriert. Die Familien aber nahmen sie – wie Kwons Werk über die Opfer des Massakers unbestreitbar belegt – in die Gemeinschaft der familiären Vorfahren auf. Insgesamt wurden durch diese sehr unterschiedlichen Verfahrensweisen die bedrohlichen Konsequenzen des Kriegstodes für die Lebenden und die politische Ordnung gemildert. Diese kumulativen Maßnahmen haben noch eine andere wichtige Auswirkung: Sie setzen den Schlusspunkt für die Aufarbeitung, in die die Kriegstoten einbezogen wurden. Das ist offensichtlich, da die Erhebung eines verstorbenen Soldaten zum revolutionären Märtyrer das Ende seines Lebens durch eine heroische Opfertat markiert und er so in das Gesamtbild des staatlichen heroischen Kriegstotengedenkens aufgenommen wurde. Die Familien benötigten jedoch genaue Angaben zu Datum und Ort des Todes und der Ruhestätte eines Angehörigen, so dass sie dafür sorgen konnten, dass entsprechende rituelle Handlungen durchgeführt wurden, um die Seelen ihrer Angehörigen zu beruhigen. Ohne diese Informationen waren die letzten Momente im Leben des Verstorbenen unbekannt und somit blieb er oder sie auf gefährliche Weise von den Lebenden getrennt. Folglich litten sowohl die Lebenden als auch die Toten. Mithilfe dieser Informationen konnte den Hinterbliebenenfamilien das Lebensende ihres Angehörigen bewusst werden und sie konnten damit beginnen, den Toten Frieden zu bringen. Die Gruppe der Kriegstoten Vietnams ist vielfältig und komplex, doch sie sind vereint durch den Wunsch der Angehörigen, ihnen zu helfen. Indem ihre Geschichte zu einem Ende gebracht wird, das es den Angehörigen ermöglicht, den Toten Ruhe und Seelenfrieden zuzubilligen, finden die Überlebenden ihren privaten und religiösen Frieden und nähert sich die vietnamesische Gesellschaft ihrem politischen. 37

Siehe Robert Hertz, A Contribution to the Study of the Collective Representations of Death, in: Ders., Death and the Right Hand, London 1960; Arnold Van Gennep, The Rites of Passage, London 1960.

Autorenverzeichnis Maoz Azaryahu, geb. 1955, Professor of Cultural Geography, University of Haifa, Israel Amatzia Baram, geb. 1938, Professor em. of the History of the Middle East, University of Haifa/President of the Center of Iraq Studies, University of Haifa, Israel Joan Beaumont, geb. 1948, Professorin, Australian National University, Canberra, Australien Neil J. Diamant, geb. 1964, Associate Professor of Asian Law and Society, Dickinson College, Carlisle/PA, USA Sylvia Dümmer Scheel, geb. 1979, Doktorandin (Geschichte Lateinamerikas), Freie Universität Berlin Jörg Echternkamp, geb. 1963, Wissenschaftlicher Oberrat am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam, Privatdozent an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Michael Geyer, geb. 1947, Samuel N. Harper Professor of German and European History, University of Chicago, USA Mechtild Gilzmer, geb. 1953, Privatdozentin für Literatur- und Kulturwissenschaft romanischer Länder, Technische Universität Berlin Stefan Goebel, geb. 1973, Senior Lecturer in Modern British History, University of Kent at Canterbury, Großbritannien Guido Hausmann, geb. 1960, Privatdozent, Lehrstuhlvertretung Professur Geschichte Osteuropas, Ludwig Maximilians-Universität München Manfred Hettling, geb. 1956, Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Carsten Humlebæk, geb. 1966, Associate Professor Copenhagen Business School, Department of International Culture and Communication Studies, Frederiksberg, Dänemark Agilolf Kesselring, geb. 1972, wiss. Mitarbeiter bei der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968, Philipps-Universität Marburg / Universität Helsinki Piet Kamphuis, geb. 1953, Direktor des Nederlands Instituut voor Militaire Historie (NIMH), Den Haag, Niederlande Georg Kreis, geb. 1943, Professor em. für Neuere Allgemeine Geschichte, Europainstitut der Universität Basel, Schweiz Klaus Kreiser, geb. 1945, Professor em. für Turkologie, Universität Bamberg

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Autorenverzeichnis

Shaun Kingsley Malarney, geb. 1965, Professor of Cultural Anthropology, International Christian University Tokyo, Japan Michele Nani, geb. 1971, wiss. Rat/ricercatore (Consiglio Nazionale delle Ricerche), Istituto di Storia dell’Europa Mediterranea, Genua, Italien Achim Rhode, geb. 1969, wiss. Mitarbeiter, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin Stefan Rinke, geb. 1965, Professor für Geschichte Lateinamerikas, Freie Universität Berlin Tino Schölz, geb. 1976, wiss. Koordinator am Internationalen Graduiertenkolleg ,,Formwandel der Bürgergesellschaft. Japan und Deutschland“ Halle–Tokyo, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Jonathan F. Vance, geb. 1963, J.B. Smallman Professor of History, The University of Western Ontario, London/Ontario, Kanada Joanna Wawrzyniak, geb. 1975, wiss. Mitarbeiterin, Institut für Soziologie, Universität Warschau, Polen Ronen Zeidel, geb. 1964, Vicepresident of the Center for Iraq Studies, University of Haifa, Israel