Gattungsinterferenzen: Der Artusroman im Dialog 9783110462128, 9783110461961

The Arthurian romance is often regarded as the prototype of medieval awareness of genre, and from the start, has interco

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German Pages 248 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Arthurisches in der volkssprachigen Verschronistik
»Li valhans roi Artus«. König Artus in der volkssprachlichen Chronik des Jean d’Outremeuse
Arthurische Erzähltradition in den Fassungen der Virginal. Zur Intergenerik aventürehafter Dietrichepik
Die Rüstung des Helden. Gattungsinterferenzen zwischen aventürehafter Dietrichepik und spätem Artusroman
Von Gwigalois zu Wigelis
Strickers Daniel zwischen Herrscherroman und Heiligenlegende
Gotteskrieger und Gottesgeheimnisse. Legendarisches im Lohengrin
Interferenzen zwischen Artusroman und Minnesang. Eine Standortbestimmung mit Blick auf die Gasoein-Episode der Crône Heinrichs von dem Türlin
Sprechen und singen. Transgenerische Personalisierungen des Ich bei Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach
Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Überlegungen zu Wolframs von Eschenbach Titurel
Forschungsinterferenzen. Chrétien de Troyes und der Artusroman
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Gattungsinterferenzen: Der Artusroman im Dialog
 9783110462128, 9783110461961

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Gattungsinterferenzen

Schriften der Internationalen Artusgesellschaft

Deutsch-österreichische Sektion Herausgegeben von Cora Dietl, Klaus Ridder, Brigitte Burrichter, Nathanael Busch, Friedrich Wolfzettel, Jörg O. Fichte

Band 11

Gattungsinterferenzen Der Artusroman im Dialog

Herausgegeben von Cora Dietl, Christoph Schanze und Friedrich Wolfzettel

ISBN 978-3-11-046196-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046212-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046203-6 ISSN 1869-7070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Christoph Schanze, Gießen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Vorwort der Herausgeber | VII Gesine Mierke  Arthurisches in der volkssprachigen Verschronistik | 1 Brigitte Burrichter  »Li valhans roi Artus« König Artus in der volkssprachlichen Chronik des Jean d’Outremeuse | 19  Titus Knäpper  Arthurische Erzähltradition in den Fassungen der Virginal Zur Intergenerik aventürehafter Dietrichepik | 33  Pia Selmayr  Die Rüstung des Helden Gattungsinterferenzen zwischen aventürehafter Dietrichepik und spätem Artusroman | 57  Christoph Fasbender  Von Gwigalois zu Wigelis | 79  Cora Dietl  Strickers Daniel zwischen Herrscherroman und Heiligenlegende | 95  Verena Linseis  Gotteskrieger und Gottesgeheimnisse Legendarisches im Lohengrin | 117  Christoph Schanze, Matthias Kirchhoff  Interferenzen zwischen Artusroman und Minnesang Eine Standortbestimmung mit Blick auf die Gasoein-Episode der Crône Heinrichs von dem Türlin | 155  Patrick Lange  Sprechen und singen Transgenerische Personalisierungen des Ich bei Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach | 177 

VI | Inhalt Elisabeth Martschini  Wer nicht wagt, der nicht gewinnt Überlegungen zu Wolframs von Eschenbach Titurel | 209  Friedrich Wolfzettel  Forschungsinterferenzen Chrétien de Troyes und der Artusroman | 221

Vorwort der Herausgeber Die Frage nach einem mittelalterlichen Gattungsbewusstsein1 trotz fehlender eindeutiger Terminologie, nach einem ›Erwartungshorizont‹ der Rezipienten im Jauß’schen Sinne2 und nach markierten oder unmarkierten Wechselwirkungen verschiedener literarischer Gattungen3 hat die mediävistische Literaturwissenschaft immer wieder beschäftigt. Das Themenfeld der ›Gattungsinterferenzen‹ wurde und wird dabei meist als Sonderfall der Intertextualität oder deren Grenzbereich zugehörig aufgefasst,4 denn häufig sind Bezugnahmen auf andere Texte zugleich auch Bezugnahmen auf deren ›Gattung‹, also auf die Summe der spezifischen Eigenschaften einer Textreihe.5 Gattungsinterferenzen sind in diesem

|| 1 Vgl. dazu den Ansatz zu einer Gattungstheorie bei Hans Robert Jauß, »Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters«, in: Maurice Delbouille (Hrsg.), Généralités, Heidelberg 1972 (Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters 1), 107–138, den kurzen Überblick von Ulrich Ernst, »Gattungstheorie im Mittelalter«, in: Rüdiger Zymner (Hrsg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart, Weimar 2010, 201f., sowie die grundsätzlichen Überlegungen von Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius, »Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik«, in: dies. (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 1–39, v. a. 1f. – Zur Reflexion über Gattungen in der für das Früh- und Hochmittelalter verbindlichen lateinischen Theorie (z. B. Isidor von Sevilla) vgl. Udo Kindermann, »Gattungssysteme im Mittelalter«, in: Willi Erzgräber (Hrsg.), Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Veröffentlichung der Kongressakten zum Freiburger Symposion des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1989, 303–313, und Uta Störmer, »Grammatik, Rhetorik und Exegese als Quellen gattungstheoretischer Reflexionen im Mittelalter«, ZfG 11 (1990), 133–146. 2 Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970. 3 Vgl. z. B. den – älteren – Sammelband Hubert Heinen, Ingeborg Henderson (Hrsg.), Genres in Medieval German Literature, Göppingen 1986 (GAG 439), sowie den methodisch innovativen Sammelband Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16). – Einen allgemeinen Überblick zu Gattungsinterferenzen bietet Alexander Nebrig, »Intergenerische Relationen«, in: Evi Zemanek, ders. (Hrsg.), Komparatistik, Berlin 2012, 83–97. 4 Vgl. dazu z. B. Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ›Parzival‹, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Mikrokosmos 36), 53–58, die auf die Unmöglichkeit einer rigorosen Trennung von Intertextualität und Bezugnahmen auf andere Gattungen verweist (vgl. ebd., 53f.). Allgemein dazu Ulrich Suerbaum, »Intertextualität und Gattung. Beispielreihen und Hypothesen«, in: Ulrich Broich, Manfred Pfister (Hrsg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, 58–77. 5 Mit Klaus Grubmüller, »Gattungskonstitution im Mittelalter«, in: Nigel F. Palmer, Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster.

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Sinne Systemreferenzen; sie dienen der produktiven Fortschreibung und Weiterentwicklung von ›gattungsbedingten‹ Eigenschaften: In den epischen Gattungen der mittelhochdeutschen Literatur um 1200 dient Intertextualität primär der Gattungskonstitution; sie etabliert Muster, sei es durch Selbstvergewisserung innerhalb einer Gattung, sei es durch Anlehnung an andere Gattungen in der Gattungsmi6 schung.

Anders als etwa die späte Heldenepik7 stand der Artusroman bei der Untersuchung von Austauschprozessen zwischen verschiedenen Gattungen und Textreihen bisher nicht im Zentrum des Interesses, obwohl er – mit Chrétien als ›Gründungsvater‹ der Textsorte – dank seines im Hinblick auf Thematik, Struktur und Erzählweise relativ klaren Grundmodells gerne als Prototyp einer geschlossenen literarischen Gattung betrachtet wird.8 Unbestritten ist, dass die ›Gattung‹ des Artusromans ein nachträgliches literaturwissenschaftliches Konstrukt ist, unbestritten ist aber auch, dass der Artusroman schon im Hochmittelalter aufgrund seines spezifischen, märchenhaft-fiktiven Erzählstoffs von anderen Stoffkreisen unterschieden wurde. Erinnert sei lediglich an die Ausdifferenzierung in drei matières durch Jean Bodel: die arthurische, den Tristan-Stoff einschließende matière de Bretagne, die antike Erzählungen umfassende matière de Rome, schließlich die matière de France der (französischen) Heldenepik.9 Freilich will Jean Bodel kein

|| Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, Tübingen 1999, 193–210, sollten gattungstheoretische Erwägungen zur mittelalterlichen Literatur auf einem Verständnis von Gattungen als Werkreihen aufruhen und nicht von einer ahistorischen klassifikatorischen Gattungssystematik ausgehen, denn literarische Gattungen sind – nicht nur im Mittelalter – Gebilde mit »undeutlichen Rändern und unbestimmbaren Grenzen«; Klaus Grubmüller, »Einleitung zum Kommentar«, in: Novellistik des Mittelalters, hrsg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23/Bibliothek deutscher Klassiker 138), 1005–18, hier: 1005. Vgl. zur Spezifizierung eines mittelalterlichen Gattungsbewusstseins als eines Strukturbewusstseins auch Sonja Kerth, Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung, Wiesbaden 2008 (Imagines Medii Aevi 21), 6, sowie Hartmut Bleumer, »Narrative Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des Eckenliedes«, ZfdA 129 (2000), 125–153, hier: 128. 6 Elisabeth Lienert, »Intertextualität in der Heldendichtung. Zu Nibelungenlied und Klage«, Wolfram-Studien 15 (1998), 276–298, hier: 297. 7 Vgl. dazu v. a. die Monographie von Kerth (wie Anm. 5). 8 Vgl. dazu z. B. ebd., 8. – Dieser Ansatz schlägt sich auch in gattungsbeschreibenden Monographien nieder, wie – für den mittelhochdeutschen Bereich – etwa bei Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998, oder bei Wolfgang Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters. Eine Einführung, Berlin, Boston 2012. 9 Jehan Bodel, La chanson des saisnes, hrsg. von Annette Brasseur, Genf 1989, V. 6–11.

Vorwort der Herausgeber | IX

umfassendes Gattungssystem umreißen; und nur am Rande sei bemerkt, dass seine Klassifizierung mit einer Abqualifizierung der matière de Bretagne einhergeht, die ihm zufolge »vain et plaisant« (V. 9: »eitel und unterhaltsam«) ist und damit weder dem ›lehrhaften und sinnreichen‹ Anspruch der matière de Rome (V. 10) noch dem ›Wahrheitsanspruch‹ der matière de France (V. 11) gerecht wird. Es gibt zwar vereinzelt Vorstöße, den Artusroman auch in seinen Interferenzen mit anderen Gattungen und Textsorten zu betrachten,10 aber wenn es um dialogische Austauschprozesse geht, hat die Analyse intertextueller Relationierungen bislang doch deutliche Priorität.11 Dieser war bereits 1990 ein Band der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft gewidmet.12 In ihm wird zwischen »interarthurischen Lektüren«13 und dem Dialog zwischen verschiedenen Gattungen unterschieden,14 und einzelne Beiträge fragen nach den Konstituenten der Gattung ›Artusroman‹.15 Trotzdem liegt das Hauptaugenmerk dieses Bands auf Beziehungen zwischen Einzeltexten. Nachdem sich die mediävistische Forschung insbesondere in den späten 1990er Jahren für Gattungshybride des Spätmittelalters (die z. T. auch Arthurisches beinhalten) interessiert hat,16 er-

|| 10 Ansätze dazu finden sich z. B. bei Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (Beihefte zur GRM 12). 11 Grundlegend dazu – neben Draesners Studie zum Parzival (wie Anm. 4) und v. a. dem in Anm. 12 genannten Sammelband – die Beiträge in: Norris J. Lacy (Hrsg.), Text and Intertext in Medieval Arthurian Literature, New York, London 1996. 12 Vgl. Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artusroman und Intertextualität. Beiträge der deutschen Sektionstagung der internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. Nov. 1989 an der Universität Frankfurt, Gießen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67/[SIA 2]). 13 Vgl. Walter Haug, »Der Tristan – eine interarthurische Lektüre«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artusroman und Intertextualität. Beiträge der deutschen Sektionstagung der internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. Nov. 1989 an der Universität Frankfurt, Gießen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67/[SIA 2]), 57–72. 14 Vgl. Joerg O. Fichte, »Arthurische und nicht-arthurische Texte im Gespräch, dargestellt am Beispiel der mittelenglischen Romanze Sir Perceval of Galles«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artusroman und Intertextualität. Beiträge der deutschen Sektionstagung der internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. Nov. 1989 an der Universität Frankfurt, Gießen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67/[SIA 2]), 19–34. 15 Vgl. Manfred Zimmermann, »Nachklassische Artusepik ohne Artus: Die Dichtungen Bertholds von Holle«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artusroman und Intertextualität. Beiträge der deutschen Sektionstagung der internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. Nov. 1989 an der Universität Frankfurt, Gießen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67/[SIA 2]), 235–244. 16 Vgl. u. a. Armin Schulz, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: ›Willehalm von Orlens‹, ›Partonopier und Meliur‹, ›Wilhelm

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staunt es, dass eine breitere Aufarbeitung der Gattungsinterferenzen der Artusromane – v. a. auch der sogenannten ›klassischen‹ – ausgeblieben ist. Das überrascht insofern, als dem Artusstoff per se eine besondere Nähe zu einer anderen Gattung eignet, nämlich der Chronistik, sind doch die frühesten Texte, die von der Artussage berichten, der Historiographie zuzuordnen: Erste Hinweise auf einen britischen Heerführer namens Artus/Arthur finden sich bekanntlich in lateinischen Chroniken aus dem 9. Jh. (etwa in der Historia Brittonum), gewissermaßen kodifiziert wurde der ›historische‹ Artus in der 1136 verfassten Historia Regum Britanniae Geoffreys von Monmouth, der volkssprachlichen Literatur verfügbar gemacht wurde er schließlich durch Waces Roman de Brut.17 Der vorliegende Band setzt an der Beobachtung an, dass der Artusroman von Anfang an, seit seiner ›Erfindung‹ durch Chrétien de Troyes und seiner deutschsprachigen Adaptation durch Hartmann von Aue, mit typischen Bestandteilen anderer literarischer Gattungen spielt. Umgekehrt begegnen arthurische Elemente und Strukturen nicht nur in Artusromanen, sondern sie strahlen in viele andere Texte und Gattungen aus. Im Fokus der Beiträge des Bandes stehen die Effekte von solchen oft geradezu programmatischen gattungsübergreifenden ›Dialogen‹, die autorintendiert sein können, die aber oftmals auch erst im Rezeptionsprozess zutage treten und nicht zuletzt von der literarischen Kompetenz und dem ›Wissen‹ der Rezipienten abhängig sind, v. a., wenn sie unmarkiert auftreten.18 Der ursprünglichen Bedeutung von ›Interferenz‹ entsprechend (der aus der Physik stammende Begriff bezeichnet die bei der Überlagerung zweier Wellen entstehenden Phänomene), verstehen wir unter ›Gattungsinterferenzen‹ die gegenseitige Überlagerung von vorgeprägten Textmustern, die ein innovatives Moment birgt, indem sie Konventionen aufbricht und dadurch neue Wege der Sinnvermittlung eröffnet. Konkret handelt es sich um die gegenseitige Beeinflussung literarischer Texte und Textreihen durch Prozesse wie konkrete Übernahmen von

|| von Österreich‹, ›Die schöne Magelone‹, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161); Cora Dietl, Minnerede, Roman und ›historia‹. ›Der Wilhelm von Österreich‹ Johanns von Würzburg, Tübingen 1999 (Hermaea NF 87); Manfred Kern, Agamemnon weint oder arthurische Metamorphose und trojanische Destruktion im ›Göttweiger Trojanerkrieg‹, Erlangen, Jena 1995 (Erlanger Studien 104). 17 Vgl. z. B. die Überblicksdarstellungen bei Mertens (wie Anm. 8), 14–24, Achnitz (wie Anm. 8), 23–34, sowie Jürgen Wolf, Auf der Suche nach König Artus. Mythos und Wahrheit, Darmstadt 2009. 18 »Bezugnahmen eines Textes auf einen gattungsspezifischen, strukturellen oder episodischmotivlichen Zusammenhang sind [...] nicht in jedem Falle vom Autor – bewußt – markiert«; Klaus Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion und literarische Tradition im späthöfischen Roman. ›Reinfried von Braunschweig‹, ›Wilhelm von Österreich‹, ›Friedrich von Schwaben‹, Berlin, New York 1998, 39.

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Motiven oder Figurenensembles, die Adaptation von Handlungs- und Weltentwürfen, die Verschmelzung oder Annäherung von narrativen oder reflexiven Strukturen und Schemata oder den Austausch rhetorischer und poetischer Verfahren sowie um die Veränderungen, die aus solchen in der Regel nicht einseitigen, sondern dialogisch organisierten Wechselwirkungen resultieren. Im Vordergrund steht folglich der produktive Vorgang, der durch die Verbindung verschiedener Gattungselemente angestoßen wird und den wir gerade nicht als ›Hybridisierung‹19 begreifen, sondern als dynamischen, in beide Richtungen offenen Austauschprozess. Der Band führt ausgewählte Ergebnisse des 24. Internationalen Artuskongresses (Bukarest, Juli 2014) zusammen, bei dem die ›Intergenerik‹ eines der Rahmenthemen darstellte. Die Beiträge von Mitgliedern der Deutsch-österreichischen Sektion der Artusgesellschaft bieten einen breiten Überblick über die eingangs skizzierten ›arthurischen‹ Gattungsinterferenzen, womit sie zur Verortung der Artusliteratur im Spektrum der verschiedenen mittelalterlichen Gattungen beitragen und zeigen, welchen heuristischen und interpretatorischen Mehrwert die Konzentration auf Austauschprozesse zwischen verschiedenen Gattungen haben kann. Die ersten beiden Beiträge befassen sich mit der Bedeutung und Funktion von arthurischen Stoffen, Figuren und Motiven in chronikalen Texten. G e s i n e M i e r k e s Gegenstand ist die mittelhochdeutsche Verschronistik. Anhand der Braunschweigischen Reimchronik, der Weltchronik des Jans von Wien und der Steirischen Reimchronik Ottokars von der Geul geht sie der Frage nach, welche Funktion arthurische Reminiszenzen in der Verschronistik haben und wie sie das historische Erzählen beeinflussen. Mit Blick auf die Figur des Königs Artus lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden: Artus taucht in der Chronistik entweder als ›reale‹ Figur oder als Exempelfigur auf, wobei die strikte Trennung dieser beiden Funktionen im Spätmittelalter nicht nur in der Chronistik zunehmend unscharf wird. In der Braunschweigischen Reimchronik und bei Jans von Wien zeigen sich v. a. implizit arthurische Elemente: In der Braunschweigischen Reimchronik wird Albrecht als arthurischer Minneritter inszeniert, wobei der Verfasser den literarischen Bedeutungsüberschuss, der aus den Gattungsinterferenzen mit dem Artusroman resultiert, zur Legitimation der politischen Aussagen des Textes nutzt. Ähnlich geht Jans von Wien vor, wenn er die Vita Karls des Großen arthurisch

|| 19 Zum Begriff der ›Hybridität‹ vgl. z. B. Sonja Kerth, »Jenseits der matière. Intertextuelles Erzählen als Erzählstrategie«, Wolfram-Studien 18 (2004), 263‒281, hier: 265; Schulz (wie Anm. 16), 36f.; Kerth (wie Anm. 5), passim, v. a. 5‒8.

XII | Vorwort der Herausgeber

überformt. Hier dienen die literarisierten Elemente aber eher der moralisatio des Geschehens. Explizite Bezüge zur Artusliteratur zeigt die Steirische Reimchronik, wenn Artus und seine Tafelrunde als Inbegriffe der ritterlichen Idealität vorgestellt werden. Insgesamt wird deutlich, dass die Chronistik um 1300 gewissermaßen eine Gegenbewegung zur Tendenz des höfischen Romans vollzieht, der verstärkt auf Historisches (Fakten und Personen) zurückgreift: Sie integriert Sequenzen, Motive und Figuren der höfischen Epik in die Darstellung historischen Geschehens. Gattungsinterferenzen erweisen sich so als Zeichen der produktiven Rezeption literarischer Texte und Muster, die auf einem in beide Richtungen durchlässigen Austauschprozess beruht. B r i g i t t e B u r r i c h t e r widmet sich in ihrer Fallstudie anhand einer bisher kaum beachteten französischen Chronik ebenfalls der volkssprachlichen Historiographie: Jean d’Outremeuse erzählt die Geschichte der Diözese Lüttich und bindet sie in eine umfassende Weltgeschichte ein, wobei die Artusgeschichte eng mit der französischen Geschichte verknüpft wird. Auffällig ist, dass Jean d’Outremeuse sich auf die Geschichten einzelner Helden konzentriert. Das gilt auch für seinen Bericht von der Artuszeit, der v. a. von einem kohärenzstiftenden ›kreativen‹ Umgang mit den benutzten Vorlagen geprägt ist. Angelehnt ist die Artusgeschichte an Geoffreys von Monmouth Historia Regum Britanniae, wobei das Motiv der Tafelrunde entweder aus Waces Roman de Brut stammt oder aus der Romanliteratur übernommen wurde. Jeans bevorzugter Held ist allerdings nicht Artus, sondern Tristan. In der Darstellung der nacharthurischen Zeit nimmt die karolingische Epoche breiten Raum ein. Sie wird über die Figur des Ogier le Danois mit der Artusgeschichte verknüpft: Ogier, ebenfalls ein ›Lieblingsheld‹ Jeans d’Outremeuse, wird nach seinem Tod nach Avalon entrückt, wo er sich mit den Größten der Artusritter messen kann. Die Artusgeschichte fungiert hier als Exempel zur Aufwertung der Apotheose Ogiers. Daran zeigt sich der Stellenwert der Artusgeschichte in der Lütticher Chronik insgesamt: Sie dient dazu, die ›wahren‹ Helden wie Tristan, Paris (der in der Artusgeschichte ebenfalls eine herausgehobene Rolle spielt) oder Ogier ins rechte Licht zu rücken, denn ihre Taten übertreffen in Jeans d’Outremeuse Darstellung die Taten des großen Königs Artus. Die beiden folgenden Beiträge haben Wechselwirkungen zwischen dem Artusroman und der aventürehaften Dietrichepik zum Thema. T i t u s K n ä p p e r konstatiert einleitend, dass beide Gattungen im Hoch- und Spätmittelalter ähnlich beliebt gewesen seien, weshalb es nicht verwundere, dass viele Motive aus der Artusepik in Dietrichepen eingegangen sind. Die Dietrichepik zeigt dabei einen variantenreichen Umgang mit arthurischen Motiven; sie werden einmal positiv, einmal negativ bewertet. Ziel des Beitrages ist es, zu zeigen, dass die Verschie-

Vorwort der Herausgeber | XIII

denartigkeit der einzelnen Virginal-Fassungen mit dem je unterschiedlichen Verhältnis zur Artusepik erklärt werden kann, bei der sich die Texte stofflich wie erzähltechnisch bedienen. Der Grad der Relation zur höfischen Epik und besonders zum Artusroman dient gewissermaßen als gattungskonstituierendes Merkmal der Dietrichepik. Die Analyse ausgewählter Abschnitte verdeutlicht, dass in der Heidelberger Virginal zahlreiche arthurische Motive und Erzählschablonen zitiert werden. Sie werden ins Negative verkehrt, erfahren keine ›klassische‹ Auflösung und sind gerade dadurch integrierbar, wohingegen in der Dresdner und der Wiener Virginal durch die ungebrochene Übernahme arthurischer Ideale und Prinzipien gattungsinterferenzbedingte Widersprüche entstehen. Hier zeigt sich aber gerade dadurch in Ansätzen eine Entwicklung des Protagonisten. In der Heidelberger Virginal werden arthurische Motive und Strukturen dagegen genutzt, um die Idealität der Artuswelt als irrelevant darzustellen. Auch P i a S e l m a y r stellt die engen Bezüge zwischen der aventürehaften Dietrichepik und dem (›nachklassischen‹) Artusroman ins Zentrum ihres Beitrages. Beiden Gattungen ist die Darstellung des idealen Weges eines Helden, ausgehend von der initialen Störung der Hofesfreude über den Auszug des Helden bis hin zur Restitution, gemein, wobei Dietrich beständig zwischen höfischem und heroischem Handeln schwankt. Ebenfalls für beide Gattungen gilt, dass die Exorbitanz der Figuren an ihre Rüstungsgegenstände gebunden ist. Die Zeichenhaftigkeit der Ausstattung der Helden hat eine zentrale Funktion: Sie erinnert an vergangene Heldentaten und weist auf zukünftige voraus. In der Wiener Virginal, die Rüstungsbeschreibungen durch den terminus technicus ›wapenliet‹ zu einem zentralen Element erhebt, zeigt sich das primär an Orkise, dem Hauptgegner Dietrichs bzw. Hildebrands. Ähnliches gilt für Eckes Rüstung und ihre leitmotivartige Geschichte im Eckenlied. Die Rüstung kann Eckes unhöfische Abstammung und Art nicht verdecken, sie legt sie vielmehr bloß, weshalb Dietrich zunächst den Kampf verweigert. Nach seinem Sieg und der Aneignung der gegnerischen Ausrüstung wird sie für Dietrich zum Zeichen seines Sieges über den unhöfischen Gegner. Ein mögliches Vorbild für die in der Dietrichepik zu beobachtende Funktionalisierung von bedeutungstragenden Rüstungsgegenständen könnte der späte Artusroman sein. Zwar gibt es auch in anderen Gattungen zeichenhafte Rüstungen, aber breiter und forcierter treten Dinge erst im späten Artusroman in den Fokus der Handlung; der Held wird hier oftmals über seinen materialen Besitz bestimmt, was am Beispiel des Wigalois Wirnts von Grafenberg exemplifiziert wird. Trotz gattungsspezifischer Differenzen könnten – so die These des Beitrags – in der Bezugnahme der aventürehaften Dietrichepik auf den späten Artusroman die Wurzeln für die wapenliet der Dietrichepen liegen.

XIV | Vorwort der Herausgeber

Liegt in den ersten vier Beiträgen der Fokus auf nichtarthurischen Texten, die Elemente der Artusliteratur aufnehmen, so kehren die folgenden Beiträge die Perspektive um: Im Zentrum stehen arthurische Texte, die in unterschiedlichster Weise von anderen Gattungen beeinflusst werden. Paradigmatisch zeigt das C h r i s t o p h F a s b e n d e r am Beispiel des Wigalois, dessen Protagonisten von Anfang an Elemente eingeschrieben sind, die in der (passiven und produktiven) Rezeption die Überschreitung von Gattungsgrenzen nahelegen. Die bereits häufig beschriebene Krisenlosigkeit des Helden, die eine Absage an die sinntragende Struktur der Hartmann’schen Romane darstellt, öffnet Wirnts Artusroman für andere Erzählstrategien. Die legendarischen Muster und Strukturen, die in die Handlung integriert werden, korrespondieren mit der hagiographischen Erzählstruktur des Textes; auch die Illustrationen der Leidener Wigalois-Handschrift, die Wigalois als den Erlöser einer gestörten Weltordnung inszenieren, legen eine christliche Lesart des Wigalois nahe. Ähnliches zeigt sich im Dresdener Heldenbuch: Dort wird der Wigalois mittels ikonographischer Anklänge an die Georgslegende interpretiert, was einerseits eine geistliche Lesart ermöglicht. Andererseits legt der Überlieferungskontext eine Lesbarkeit unter Perspektiven der heroisierenden Dichtung des Spätmittelalters nahe, wie sie auch der Wigelis, die spielmännische Wigalois-Bearbeitung durch Dietrich von Hopfgarten in der Manier später Dietrichdichtungen, zeigt. Die Deutungsoffenheit war dem Wigalois-Stoff offensichtlich – nolens oder volens – bereits in die Wiege gelegt; sie gründet in der latenten Polyvalenz des Protagonisten. Wesentlich offensichtlicher als im Wigalois ist das Spiel mit intertextuellen und intergenerischen Referenzen, das der Stricker in seinem Daniel vom blühenden Tal entwickelt. C o r a D i e t l geht in ihrem Beitrag v. a. den Referenzen auf biblische und legendarische Motive nach und fragt nach deren Funktion. Dass das Transzendieren von Text- und Gattungsgrenzen im Daniel programmatisch ist, zeigt sich schon im Prolog, in dem der Erzähler aus Lamprechts Alexander zitiert und auf andere Artusromane sowie die Artus-Chronik-Tradition anspielt. Er deckt damit für literaturkundige Rezipienten sein Collage-Verfahren auf: Mittels sehr unterschiedlicher Texte wird das Bild eines idealen Herrschers gezeichnet; zugleich ist die Relativierung des Wahrheitsanspruches, die im Alexander-Zitat erkennbar wird, ein klares Fiktionalitätsbekenntnis. Die anschließend untersuchten Schlachtendarstellungen im Daniel changieren zwischen Intergenerik und Intertextualität, wobei mit den Referenzen auf das Chanson de Geste-Modell und das Artus-Chronik-Modell nicht Bezugnahmen auf Einzeltexte, sondern auf die jeweiligen Gattungen im Vordergrund stehen. Heroische Bilder wie die des Kampfes als Schreib- und Schmiedekunst werden allerdings durch Anspielungen

Vorwort der Herausgeber | XV

auf biblische Bilder, v. a. aus der Apokalypse, überlagert, wodurch die Erinnerung an das kommende göttliche Gericht in den Vordergrund rückt. Die zentrale Aventüre um die ›Grüne Aue‹ ist dementsprechend mit Handlungsmustern aus Legende und antikem Epos durchsetzt; aber auch hier werden die Bezugnahmen, etwa auf die Silvesterlegende, gebrochen und durch andere text- und v. a. gattungsübergreifende überlagert. Im Vordergrund steht jeweils die Auseinandersetzung mit der Frage nach einer guten Herrschaft. Insgesamt ist der Referenzrahmen für den Daniel die Geschichtsdichtung. Statt klarer intertextueller Bezüge sind eher diffuse Anklänge an Motive aus biblischen, legendarischen und apokalyptischen Schriften zu konstatieren, was in erster Linie die Figurenzeichnung beeinflusst: Daniel ist arthurischer Musterritter und biblischer Prophet; Artus erscheint als Endzeitkönig, wobei der Stricker offen lässt, ob er historische Realitäten beschreiben oder eine tiefere Wahrheit vermitteln will – oder nicht doch bloß fiktionale ›Lügen‹. Auch der bairische Lohengrin speist sich aus vielen verschiedenen Quellen. V e r e n a L i n s e i s setzt sich mit einer davon näher auseinander: der BrandanLegende, die im Anfangsabschnitt mehrmals erwähnt wird. Diese Bezugnahmen des Lohengrin auf die Brandan-Legende sind zunächst direkte Übernahmen aus dem Wartburgkrieg, später aber auch strukturelle Bezugnahmen sowie Motivanklänge. Der Beitrag geht der Funktion dieser Interferenzen zwischen der Legende eines auserwählten Heiligen und der Erzählung von einer vorherbestimmten Erlöserfigur nach. Die Parallelen sind augenfällig: Bei beiden spielen Wunder und die Suche nach Wahrheit eine zentrale Rolle, zudem werden beide als von Gott gesandte Helfer in der Not dargestellt. Mit dem klassischen Artusroman, v. a. mit dem Parzival, haben sowohl der Lohengrin als auch die Brandan-Legende gemein, dass Neugierde, Glaubhaftigkeit, Fragwürdigkeit sowie Fragegebot bzw. Frageverbot zentrale Themen sind; zudem zeigen der Gralsroman und die Legende dieselbe Verbindlichkeit in Bezug auf die Relevanz religiöser Fragen. Anders als im Artus- und Gralsroman ist Lohengrins Auszug kein freiwilliger, sondern ein erzwungener. Dasselbe gilt für Brandan. Auch in der Beschreibung der Reise von Brandan und Lohengrin gibt es viele Gemeinsamkeiten: Beide Darstellungen erinnern an das Bild von Gottes Kirche als Schiff. Das Verständnis dieser Anspielungen funktioniert im Lohengrin ohne explizite Hinweise auf einen möglichen Typus wie Brandan, doch gewinnt der Roman durch die Interferenzen eine weitere Dimension, die eine Art Unterebene zu unmittelbaren Verweisen auf die biblische Heilsgeschichte aufzeigt. Ungewöhnlich für einen Artusroman sind schließlich die Visionselemente, die im Lohengrin genutzt werden, um die Gralsritter als Werkzeuge Gottes im Dienste der Kirche darzustellen. Auch hier zeigt sich die Nähe des Romans zur Legende. Die Interferenzen mit der ›Brandan-

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Folie‹ dienen also der Entfaltung einer christlich-legendarisch ausgeweiteten Dimension einer Artusritterfigur und gewissermaßen der Apotheose des Helden. Den Schritt weg von erzählenden Gattungen vollziehen C h r i s t o p h S c h a n z e und M a t t h i a s K i r c h h o f f . Ihr Beitrag befasst sich mit dem Verhältnis von Artusroman und mittelhochdeutscher Minnelyrik. Anders als in der romanischen Literatur gibt es im Mittelhochdeutschen zwischen Lyrik und Epik auffallend wenige Interferenzen. Dennoch zeigt v. a. die jüngere Forschung ein nicht geringes Interesse an Austauschprozessen zwischen mittelhochdeutscher Epik und Lyrik im Allgemeinen. Zwischen dem Artusroman und der Minnelyrik im Speziellen sind aber nur sehr selten eindeutige Gattungsinterferenzen auszumachen, was in der Forschungsdiskussion oftmals nicht klar ersichtlich ist. Vorgeschlagen wird hier eine eher zurückhaltende Bewertung der gegenseitigen Beeinflussung, weil der Minnelyrik im Mittelhochdeutschen offensichtlich wenig Arthurisches eignet und umgekehrt. Stattdessen regt der Beitrag an, über die Gründe dafür nachzudenken, dass Artusroman und Minnesang anscheinend in einer Art Ausschlussverhältnis zueinander standen. Als ein Fallbeispiel für die wenigen expliziten Bezugnahmen in Artusromanen auf Konzepte oder typische Situationen der Minnelyrik wird schließlich die Gasoein-Episode in der Crône Heinrichs von dem Türlin analysiert, in der – singulär im Artusroman – eine Figur dezidiert als Minnesänger auftritt. Der Erzähler betreibt großen Aufwand damit, Gasoein als Minneritter und als Minnesänger darzustellen; zudem ist die Textpassage mit weiteren Anklängen an den Minnedienst der hohen Minne durchsetzt. Nimmt man die Figurenzeichnung Gasoeins als Personifikation des Minnesangs ernst, lassen sich viele Aspekte der Episode besser verstehen als ohne die minnelyrische Vergleichsebene. Die Gattungsinterferenzen zwischen Artusroman und Minnesang haben in der Crône primär zwei Funktionen: Sie dienen der Kontrastierung zweier gegensätzlicher Liebeskonzepte (Herrschaftsehe und Liebespassion), die die Überlegenheit der arthurischen Herrschaftsehe zementiert, und führen vor Augen, was passieren kann, wenn das fiktive Modell des Minnesangs in die ›Realität‹ der Artuswelt überführt wird – auch hier steht die Profilierung des höfisch-arthurischen Liebeskonzepts gegenüber der Liebespassion des Minnesangs im Vordergrund. P a t r i c k L a n g e geht von der Frage aus, ob man die Instanzen ›Autor‹ und ›Erzähler‹ bzw. ›Dichter‹ und ›Sänger-Ich‹ in der mittelhochdeutschen Literatur überhaupt sauber trennen kann und ob sich Gattungen so deutlich voneinander abgrenzen lassen, wie es die Forschung meist suggeriert, obwohl die Grenzen v. a. zwischen Epik und Lyrik fließend sind und sich beide Genres innerhalb der mittelhochdeutschen Literatur gegenseitig beeinflussen. Der Beitrag zeigt ein ›re-

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ferentielles Kontinuum‹ auf, das zur Personalisierung des Sprecher-Ichs innerhalb eines Textes, aber auch über Text- und Gattungsgrenzen hinaus im Œuvre eines Autors, beiträgt; so ergibt sich eine Nähe zwischen der transgenerischen Personalisierung des ›Ich‹ und dem ›Autor‹. Am Beispiel eines Minneliedes Hartmanns von Aue und der Zelterpassage aus dem Erec wird verdeutlicht, dass sich bei Hartmanns Selbstnennungen das Sprecher-Ich über eine Du-Instanz konstituiert. Die Parallelität der beiden Hartmann-Namensnennungen legt eine Gleichsetzung der beiden Du-Instanzen, die an die jeweilige Ich-Instanz gebunden sind, nahe. So ergibt sich ein transgenerisches Ich, eine Personalisierung des Ich zwischen den Gattungen Epik und Lyrik. Anders als bei Hartmann erfolgen die Selbstnennungen bei Wolfram von Eschenbach (Willehalm und Parzival) in der ersten Person. V. a. in der sogenannten ›Selbstverteidigung‹ im Parzival zeigt sich die Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen, wenn sich Wolframs Erzähler selbst als Minnesänger vorstellt und damit eine Amalgamierung von Autor und Erzähler erreicht. Das referentielle Kontinuum, auf das Wolframs Selbstnennungen bezogen sind, ist ein gattungsübergreifendes. Insgesamt ergibt sich durch Selbstnennungen wie die analysierten eine Aufhebung der strikten Trennung von Autor und textinterner Ich-Instanz, weshalb dafür plädiert wird, mit Blick auf Gattungsgrenzen eher von graduellen Unterschieden als von einer klaren Trennung zu sprechen. Mit Wolframs von Eschenbach Titurel steht ein Text im Mittelpunkt des essayistisch angelegten Beitrages von E l i s a b e t h M a r t s c h i n i , der wie nur wenige andere hochmittelalterliche Werke ein per se gattungsübergreifender Text ist. Hinterfragt werden die Prämissen verschiedener Interpretationsansätze: der Fragmentstatus des Werks, der für einen höfischen Roman ungewöhnlich ist und bei dem unklar ist, ob er gewollt oder zufällig ist; die ebenfalls ungewöhnliche strophische Form, die Bezugsmöglichkeiten zum Minnesang und zur Heldenepik eröffnet; schließlich die sehr uneinheitliche Überlieferung. Angesichts dieser vielen Fragezeichen ergeben sich beinahe unlösbare Schwierigkeiten für eine kohärente Interpretation. Der Beitrag will daher einen neuen Zugang zum Titurel ermöglichen, indem er erwägt, ob Wolfram nicht vielleicht einen genuinen Roman schaffen wollte: nämlich den ersten deutschsprachigen ›Originalroman‹ und den ersten höfischen Roman in Strophen. Die Frage, warum Wolfram mit seinem Projekt, obwohl es angesichts des Fragmentstatus als gescheitert betrachtet werden muss, erfolgreicher war als Albrecht mit seiner ›Vollendung‹ des Titurel im monumentalen Jüngeren Titurel, bleibt allerdings einer der rätselhaftesten Umstände der mittelhochdeutschen Epik. Der letzte Beitrag bietet einen Ausblick, der die Perspektive des Bandes weitet. In seinem Forschungsüberblick zur Frage des gattungsmäßigen Status der

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Romane Chrétiens de Troyes fasst F r i e d r i c h W o l f z e t t e l die Chrétien’schen Gattungsverhältnisse und Gattungsinterferenzen als ›Forschungsinterferenzen‹ auf. Er hält fest, dass neuere Forschungstendenzen häufig die ursprüngliche Einschätzung, Chrétien sei der ›Vater‹ eines bestimmten Artusroman-Modells gewesen, überlagern, und konstatiert eine zunehmende Autonomisierung des immer komplexer wahrgenommenen Chrétien-Œuvres von der nachfolgenden arthurischen Verstradition, die er als ›Forschungsinterferenz‹ beschreibt. Die ältere Forschung war eher auf einen Ausgleich zwischen Chrétien und seinen Nachfolgern bedacht und stellte die Kontinuitäten in den Vordergrund. Die neuere Forschung konzentriert sich dagegen auf die Analyse von Brüchen und Spannungen innerhalb der Chrétien’schen ›Vorbilder‹ (z. B. in Erec et Enide), wodurch die ursprünglich angenommene Vorbildfunktion der ›klassischen‹ Artusromane Chrétiens zunehmend in Frage gestellt wird. Von dieser Problematisierung des vorgeblichen Modells führt dann keine Verbindung mehr zu der späteren, in sich ruhenden Gattungstradition. Am deutlichsten werden diese ›Forschungsinterferenzen‹ am Beispiel des Conte du Graal mit seinem neuen Romankonzept, der als Anti-Roman, nicht als Modell aufgefasst wird. Wir danken all den Kolleginnen und Kollegen, die sich an den einzelnen Sektionen des Bukarester Kongresses beteiligt haben, für eine überaus konstruktive Diskussionsatmosphäre sowie für angeregte und anregende Fachgespräche über die Generationen und die engeren Fächergrenzen hinweg; die Diskussionen sind den hier versammelten Beiträgen sehr zugute gekommen. Unser Dank gilt auch den Organisatorinnen des Kongresses, allen voran Frau Dr. Catalina Girbea (Bukarest). Zu danken haben wir aber auch den Beiträgern, die nicht in Bukarest vorgetragen haben und sich trotzdem auf das Thema und das Konzept unseres Bandes eingelassen haben. Dadurch konnten wir das inhaltliche und methodische Spektrum des Bandes ganz erheblich ausweiten. Dem Verlag Walter de Gruyter und v. a. Herrn Dr. Jacob Klingner und Frau Angelika Hermann danken wir für die wie immer angenehme, stets hilfsbereite und zuvorkommende Betreuung des Bandes. Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Michael Shields (Galway) für die Korrektur der englischen Abstracts sowie unserer Hilfskraft Erik Paris, dessen uneigennütziges Engagement während des Redaktionsprozesses eine unschätzbare Hilfe darstellte.

Gießen, im Januar 2016

Christoph Schanze Cora Dietl Friedrich Wolfzettel

Gesine Mierke

Arthurisches in der volkssprachigen Verschronistik Abstract: Towards the end of the 13th century, vernacular verse chronicles grew in popularity, a circumstance connected with the fact that they are increasingly influenced by courtly romances. Against this background the article considers how schemes and patterns adopted from literary texts can function in historiographical texts. On the basis of selected examples (the Weltchronik of Jans Enikel, the Steirische Reimchronik of Ottokar von der Steiermark and the Braunschweigische Reimchronik) the specific role of interferences between different genres is examined. The interfigural significance of literary motifs and protagonists (such as Arthur and his knights) in narrative historiography is also considered.

Der Artushof ist als Erinnerungsort zweifellos ein in ganz Europa verbreitetes Phänomen.1 Artusromane wurden um und nach 1200 rezipiert; Artus und seine Ritter treten in verschiedenen literarischen Texten als Haupt- und Nebenfiguren auf.2 Sie werden an unterschiedlichsten Stellen in die Erzählwelten hineinzitiert und »in höchsten weltlichen und geistlichen Kreisen«3 verehrt. Dass Artus auch in der Chronistik auftaucht, scheint daher wenig verwunderlich. Nimmt man jedoch die Entstehung des Artusromans im letzten Drittel des 12. Jh. in der Volkssprache als Bezugspunkt, setzt die chronistische Existenz des bretonischen Herrschers in der volkssprachigen Historiographie erst mit einiger Verzögerung ein, wie Jürgen Wolf herausstellt.4 Dies verwundert zunächst, da Artus zuallererst in der lateinischen Chronistik belegt ist (in Geoffreys of Monmouth Historia Regum

|| 1 Vgl. auch Jürgen Wolf, »König Artus im Preussenland. Merkwürdigkeiten der Überlieferung und Wahrnehmung«, in: Bernhart Jähnig, Arno Mentzel-Reuters (Hrsg.), Neue Studien zur Literatur im Deutschen Orden, Stuttgart 2014 (Beihefte zur ZfdA 19), 79‒92, hier: 79. 2 Einen Überblick geben Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998, sowie Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie. Vorträge des Symposions der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft vom 10. bis 13. November 1983 im Schloß Rauischholzhausen, Gießen 1984 (Beiträge zur deutschen Philologie 57/[SIA 1]). 3 Jürgen Wolf, »Verlorene Historizität oder Warum einer der neun größten Helden der Welt in der deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters nur Randfigur ist«, in: Friedrich Wolfzettel u. a. (Hrsg.), Artusroman und Mythos, Berlin, Boston 2011 (SIA 8), 183‒202, hier: 186. 4 Vgl. ebd., 187.

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Britanniae bzw. in Waces Roman de Brut). Grundsätzlich zeichnen sich für die Rezeption arthurischer Sujets in der volkssprachlichen Chronistik zwei Tendenzen ab: 1. Als ›reale‹ Figur taucht Artus am Ende des 13. Jh. in der Weltchronik des Martin von Troppau, in den Flores temporum, schließlich im 14. Jh. in der Österreichischen Chronik von den 95 Herrschaften und in der Weltchronik-Kompilation des Heinrich von München auf.5 2. Als Exempelfigur wird er in der Chronistik des 14. Jh. etwa in der Steirischen Reimchronik, aber auch in den Katalogen der Minnesklaven aufgerufen.6 Zudem erscheint er in den Fresken der Burg Runkelstein, die um 1390 entstanden, neben Karl dem Großen und Gottfried von Bouillon unter den vorbildhaften Herrschern.7 Diese Trennung zwischen der Rezeption von Artus als historischem Herrscher und seiner Rezeption als literarischem Exemplum verschwimmt in der spätmittelalterlichen Literatur, so auch in der Chronistik. Insbesondere in den Namenkatalogen erscheint Artus als vorbildlicher Herrscher, ohne dass seine ›Herkunft‹ – aus Historia oder Roman – sicher abzuleiten wäre.8 Daher bleibt zu hinterfragen, ob eine strikte Trennung der beiden Rezeptionswege überhaupt vonnöten ist. In der lateinischen Chronistik, etwa der Historia regum britanniae,

|| 5 Vgl. Wolf (wie Anm. 1), 192f., und Gisela Kornrumpf, »König Artus und das Gralsgeschlecht in der Weltchronik Heinrichs von München«, Wolfram-Studien 8 (1984), 178‒198. 6 In der Süddeutschen Tafelsammlung vom Beginn des 15. Jh. etwa erscheint Artus neben Adam und Eva, Aristoteles und Phyllis, Vergil im Korb, Alexander dem Großen, David und Bathseba, Dalila und Samson etc. in der Reihe der Minnesklaven. Vgl. dazu ausführlich Marcus Castelberg, Wissen und Weisheit. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ (Washington, D.C., Library of Congress, Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4), Berlin, Boston 2013 (Scrinium Friburgense 35), 215f.; Friedrich Maurer, »Der Topos von den Minnesklaven«, DVjs 27 (1953), 182‒206. 7 Hier werden in der Galerie des Sommerhauses zunächst in der Tradition der ›neun Helden‹ neben den antiken Herrschern Hektor, Alexander und Julius Cäsar aus der Zeit ante legem, den Königen des Alten Testaments Josua, David und Judas Makkabäus (sub lege) sowie den christlichen Herrschern Artus, Karl dem Großen und Gottfried von Bouillon (sub gratia) auch Figuren aus der Literatur, etwa Parzival, Gawein, Iwein, Wilhelm von Österreich und Aglie, Tristan und Isolde, Wilhelm von Orleans und Amelie sowie Dietrich von Bern, Siegfried und Dietleib von Steier, aufgerufen. Vgl. dazu ausführlich Joachim Heinzle, »Die Triaden auf Runkelstein und die mittelhochdeutsche Heldendichtung«, in: Walter Haug u. a. (Hrsg.), Runkelstein. Die Wandmalereien des Sommerhauses, Wiesbaden 1982, 63‒93, v. a. 64‒68. 8 Zu den Namenkatalogen vgl. ausführlich Michael Müller, Namenkataloge. Funktionen und Strukturen einer literarischen Grundform in der deutschen Epik vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, Hildesheim u. a. 2003 (Documenta Onomastica Litteralia Medii Aevi, Reihe B: Studien 3).

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wird geschichtliches Wissen über Artus als historische Person zusammengetragen. Im Roman wird dies literarisch überformt und von der Historia gelöst. Als zentrale Eigenschaft haftet Artus schließlich ‒ und dies ist für die folgende Rezeption entscheidend ‒ Vorbildhaftigkeit an, die ihn auch für die Ahnengalerie der Weltgeschichte adelt. Ich möchte im Folgenden keinen umfassenden Überblick darüber geben, wann und wo Artus oder einer seiner Ritter in der chronistischen Literatur erscheint.9 Ich möchte vielmehr kursorisch danach fragen, w a r u m Artus und sein höfisches Gefolge in der volkssprachlichen Chronistik auftauchen, welche Rolle sie spielen bzw. welche Funktion die arthurischen Reminiszenzen haben und welchen Einfluss diese auf das historiographische Erzählen ausüben. Dabei soll es v. a. um die Frage nach Gattungsmischung, um die Übernahme von Erzählmustern und -schemata aus dem arthurischen Roman und ihre Einbindung in die Chronistik gehen. Mit Gattungsmischung meine ich Gattungsinterferenzen, also die wechselseitige Beeinflussung literarischer Texte und die daran gebundenen Veränderungen. Diese möchte ich gerade nicht als Phänomene von Hybridität beschreiben. Der Begriff der ›Hybridität‹, wie er insbesondere für das Erzählen im späthöfischen Roman Verwendung findet, ist m. E. problematisch, da er eine Abwertung des spätmittelalterlichen Erzählens indiziert.10 Er nutzt die ›klassischen‹ Texte als Folie, sodass der produktive Prozess und die Variation, die mit der Verflechtung verschiedener Gattungselemente einhergehen, auf den ersten Blick zu wenig Berücksichtigung finden.11 Mir geht es im Folgenden v. a. um die Gattungserweiterungen und -veränderungen, kurz: um Prozesse der Um- und Neubildung12 im Sinne Hugo Kuhns. Aus dieser Perspektive hält die Verschronistik des

|| 9 Kornrumpf (wie Anm. 5), 181f., hat darauf hingewiesen, dass Artus im Zuge der Rezeption lateinischer Chronistik im 14. Jh. als historische Person auch in der deutschsprachigen Chronistik auftaucht; vgl. auch Wolf (wie Anm. 1), 79‒92. 10 Vgl. auch den Begriff der ›Verwilderung‹ bei Karlheinz Stierle, »Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit«, in: Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.), Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, Heidelberg 1989, 253‒313, hier: 258. 11 Zum Begriff ›Hybridität‹ vgl. z. B. Sonja Kerth, »Jenseits der matière. Intertextuelles Erzählen als Erzählstrategie«, Wolfram-Studien 18 (2004), 263‒281, hier: 265; Armin Schulz, Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: ›Willehalm von Orlens‹, ›Partonopier und Meliur‹, ›Wilhelm von Österreich‹, ›Die schöne Magelone‹, Berlin 2000 (Philologische Studien und Quellen 161), 36f. Auf die Produktivität des Hybriden hebt auch Sonja Kerth, Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung, Wiesbaden 2008 (Imagines medii aevi 21), 5‒8, ab. 12 Hugo Kuhn, »Aspekte des 13. Jahrhunderts in der deutschen Literatur«, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 1967/5, München 1968, 42.

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13. und 14. Jh. zwar am Muster historiographischer Texte fest. Indes verändern sich die Chroniken im Hinblick auf ihre Wirk- und Aussageabsicht. Historia bleibt magistra vitae, allerdings verändert sich nach dem ›Gang‹ durch die höfische Literatur das Bezugssystem. Gattungsinterferenzen können sich auf der Ebene der Motiv- und Schemaübernahme sowie der Adaptation von Handlungs- und Weltentwürfen abspielen. Aus dieser Perspektive ist Gattungsmischung immer eine Form der Transformation, da auf Vorgängiges zurückgegriffen wird. Dabei sind nicht zuletzt intertextuelle Vernetzungen Kennzeichen der Überlagerung von Gattungen.13 Insbesondere für die ›nachklassischen‹ Romane wurden Struktur- und Systeminterferenzen als Merkmal des Erzählens um 1300 herausgearbeitet.14 Diese Tendenz der Offenheit für andere Textgattungen, die überdies an zahlreichen intertextuellen Verweisen sichtbar wird, lässt sich auch in der Chronistik des beginnenden 14. und des 15. Jh. ausmachen und als produktiver Prozess beschreiben.15 Vor diesem Hintergrund werde ich mich im Folgenden auf Motiv-, Schemaund Figurenzitate sowie auf Autorennennungen konzentrieren und diese anhand von drei Textbeispielen – der Braunschweigischen Reimchronik, der Weltchronik des Jans von Wien und der Steirischen Reimchronik – auf ihren Bedeutungsgehalt prüfen und ihre Auswirkungen auf das chronikale Erzählen untersuchen.

1 Die Braunschweigische Reimchronik Die Braunschweigische Reimchronik, die im letzten Viertel des 13. Jh. entstanden ist, erzählt in additiver Reihung verschiedener Herrscherporträts die Geschichte des Hauses Braunschweig-Lüneburg. Diese gipfelt in einem Planctus auf Herzog

|| 13 Vgl. Schulz (wie Anm. 11), 37f.; Kerth, Gattungsinterferenzen (wie Anm. 11), 15. 14 Vgl. Schulz (wie Anm. 11); Stephan Fuchs, Hybride Helden: Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 31); Klaus Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: ›Reinfried von Braunschweig‹, ›Wilhelm von Österreich‹, ›Friedrich von Schwaben‹, Berlin, New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12); Mathias Herweg, Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010 (Imagines medii aevi 25). 15 Vgl. Dorothea Klein, »Wann endet das Spätmittelalter?«, in: Horst Brunner u. a. (Hrsg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. FS Johannes Janota, Tübingen 2003, 299‒ 316, hier: 316.

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Albrecht I. Als »Modell der Textorganisation«16 fungiert der Baum, der die Genealogie des Herrschergeschlechts auch bildlich wiedergibt. Als dessen edelster Abkömmling gilt Herzog Albrecht, der bereits im Kryptogramm17 des Prologs angesprochen und schließlich am Ende ausführlich gepriesen wird.18 Bezieht man die auf das Kryptogramm folgenden Verse auf Albrecht, werden er und seine Nachkommen bereits zu Beginn als hervorragendes Herrschergeschlecht gepriesen. Mithin nennt der Erzähler zugleich sein Erzählmotiv: Es geht ihm um »daz kunne und daz geslechte« (V. 59) Albrechts. In dessen Porträt kulminiert die Chronik, und so erscheint Albrecht als »blome« und »an werdhe purpurvar« (V. 7818), folglich als Blüte des Baumes. Seine Darstellung, die sich im Vergleich mit den anderen Abschnitten ausführlich über ca. 1500 Verse erstreckt, ist durch zahlreiche Motivübernahmen aus der höfischen Epik gestaltet und mit verschiedenen intertextuellen Verweisen unterlegt.19 Die Episode beginnt mit der Beschreibung von Physiognomie und Tugenden des Herrschers:

|| 16 Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, 388. 17 Vgl. V. 53‒55: »in brunste neymanne swich her / tzo ghevend alleine brechten dher / erdhe steyne im silbers ghemezeliche«. Zitierte Ausgabe: Braunschweigische Reimchronik, in: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 2: ›Sächsische Weltchronik‹, Eberhards ›Reimchronik von Gandersheim‹, ›Braunschweigische Reimchronik‹, Chronik des Stiftes S. Simon und Judas zu Goslar, ›Holsteinische Reimchronik‹, hrsg. von Ludwig Weiland, Hannover 1877 (MGH, Deutsche Chroniken 2), 430–587. Wenn nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen im Folgenden von der Verfasserin. Ausführlich zum Kryptogramm: Karl Stackmann, »Kleine Anmerkung zu einer Ehrung für Albrecht den Grossen«, ZfdA 106 (1977), 16‒24, hier: 17f. Auch Rumelant von Sachsen lobt Albrecht, teils in ähnlicher Form; vgl. Rumelant von Sachsen. Edition – Übersetzung – Kommentar, hrsg. von Holger Runow, Berlin, New York 2011 (Hermaea NF 121), II, 12, 9–11, VIII, 4, 9–12, sowie VI, 5, 13. 18 Vgl. dazu ausführlich Gesine Mierke, »Norddeutsche Reimchroniken. Braunschweigische und Mecklenburgische Reimchronik«, in: Gerhard Wolf, Norbert Ott (Hrsg.), Handbuch Chroniken des Mittelalters, Berlin, Boston 2016 [im Druck]. 19 Ein direktes Zitat ist aus Wolframs Parzival nachweisbar. In der Braunschweigischen Reimchronik heißt es: »Kundrye uz dhem Grale / icht so wunderlich gereyte reyt« (V. 8974f.) Vgl. Parzival, 312, 1–18. Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 22003. Vgl. die Zusammenstellung direkter Zitate bei Karl Kohlmann, Die ›Braunschweiger Reimchronik‹ auf ihre Quellen geprüft, Kiel 1876, v. a. 12; Wilfried Herderhorst, »Die Braunschweigische Reimchronik als ritterlich-höfische Geschichtsdichtung«, Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 37 (1965), 1‒34.

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So gaph im got ouch ze heyle, daz her eyn scone, groz man was, zo dher werlt wolredhene, als ich las, wis und von sconem gebere, daz her wol mit grozer ere herre kunde wesen, sven her wolte, sven iz dhe zit haben wolte. (V. 7825‒31) So begnadete ihn Gott auf die Weise, dass er ein schöner, stattlicher Mann war, wortgewandt und klug, wie ich gelesen habe, und angemessen im Benehmen. So konnte er mit großem Ansehen herrschen, wenn er wollte und wenn die Zeit dafür gekommen war.

Albrecht wird als stattlicher und höfisch gebildeter Ritter ausgewiesen, dessen innere und äußere Anlagen ihn zur Herrschaft befähigen. Er ist so kampferfahren, dass viel »wunderlicher mere« über ihn zu berichten wären, fährt der Erzähler fort. Albrechts Herrschaftszeit gelte als Friedenszeit, und so erscheint er als rex pacificus: iz was ouch bi sinen tagen so gut vridhe, hor ich sagen, 20 daz her wol ze lobene stunt (V. 7842–44). Wie ich es sagen höre, herrschte zu seiner Zeit sicherer Friede und man lobte ihn dafür.

Die sich daran anschließende Vita des Fürsten gleicht im Ganzen der eines höfischen Ritters. Hier werden verschiedene Motive und Versatzstücke aus der höfischen Literatur zitiert: Aventürefahrt, Schwertleite, höfische Feste, Brautwerbung, ritterliche Kämpfe und Turniere. So bricht Albrecht etwa mit 16 Jahren »an daz wilde haph« (V. 7858) auf, um in England von König Heinrich zum Ritter geschlagen zu werden. Obwohl dieses Vorhaben zunächst scheitert, wird seine spätere Hochzeit mit Elisabeth schließlich als großes höfisches Fest geschildert: »svaz ich von hochzit ê ghesprach, / daz ist allez gar eyn wint« (V. 7885f.). Alle Mächtigen des Landes kommen zum Fest ‒ nicht zuletzt, um von Albrecht zum Ritter geschlagen zu werden: »her machete greven unte knaphen / zo rittere uzer mazen vil« (V. 7923f.).

|| 20 Ob diese Verse auf das Lob Artusʼ im Iwein-Prolog anspielen, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, sinnvoll für die Darstellung Albrechts wären sie auf jeden Fall. Im Iwein heißt es an entsprechender Stelle: »des gît gewisse lêre / künec Artûs der guote, / der mit rîters muote / nâch lobe kunde strîten. / er hât bî sînen zîten / gelebet alsô schône / daz er der êren krône / dô truoc und noch sîn name treit« (V. 4–11). Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, ›Gregorius‹, ›Der arme Heinrich‹, ›Iwein‹, hrsg. und übers. von Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6/Bibliothek deutscher Klassiker 189).

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Nach der Hochzeit zieht Albrecht schemagemäß aus, da Auseinandersetzungen mit umliegenden Herrschaften drohen. Neben der Bewährung im Kampf wird auch die Bewährung im Frauendienst geschildert: Albrecht befreit die dänische Königin mit »manliches mannes mut« (V. 8244) aus einer Notlage. Zudem wird er als Löwe apostrophiert, seine Kämpfe werden mit denen Alexanders und Dariusʼ (V. 3486f.) und seine Feste mit denen König Artus’ verglichen, der die herausragende Ritterschaft an seinem Hof versammelt habe (V. 7881–7932). In der Chronik erscheint Albrecht von Braunschweig in der Rolle des Minneritters, des für Gott und sein Herrschaftsgebiet kämpfenden Adligen, sodass deutliche Bezüge zur höfischen Dichtung bestehen.21 Direkte Figurenzitate rufen Helden v. a. aus der antiken Literatur auf, rücken Albrecht in eine weltgeschichtliche Linie mit diesen Herrschern und formulieren so einen entsprechenden Herrschaftsanspruch. Albrecht ist zu ebenso mächtiger Herrschaft befähigt wie Alexander und Darius. Der Löwe als sein Attribut lässt ihn zudem nicht nur als starken Potentaten, sondern v. a. als christlichen Herrscher erscheinen. Obwohl keine direkten Zitate aus höfischen Romanen in den Text integriert sind, wirkt Albrecht durch seine Handlungen, durch die Inszenierung von Festen, Turnieren und Kämpfen wie ein höfischer Herrscher, der das Abendland als rex iustus et pacificus beherrscht. Dies wird durch die Muster und Motive umgesetzt, die der Autor aus dem höfischen Roman in die Chronistik überführt. Die zeitliche Ordnung bleibt der historia verpflichtet; die Ereignisse sind von der Schöpfung bis in die Gegenwart des Erzählers chronologisch angeordnet. Konkrete Jahreszahlen und Heiligenfeste strukturieren das Geschehen und verorten die Begebenheiten in der Gegenwart oder unmittelbaren Vergangenheit. Somit ist das Geschehen in der Heilszeit, nicht in der Abenteuerzeit angesiedelt.22 Entsprechend ist die Raumstruktur angelegt. Albrecht kämpft nicht gegen Riesen und Zwerge im wilden Wald, sondern gegen zeitgenössische Rivalen aus den umliegenden Ländern und Herrschaftsgebieten. Vor dem Hintergrund der Artusromane erscheint er als höfischer Ritter, der den Idealen der höfischen Kultur verpflichtet ist. Lediglich an einer Stelle verweist der Erzähler direkt auf Wolframs Parzival. In dem Heer, das Erzbischof Bernhard von der Welpe23 und Albrecht III. von Brandenburg gegen den Braunschweiger versammeln, befindet sich auch »vromdhe ritterscaph«

|| 21 Vgl. Rudolf Koenig, Stilistische Untersuchungen zur ›Braunschweigischen Reimchronik‹, Halle a. d. S. 1911, 83‒89. 22 Zu den genannten Zeitkonzepten vgl. Uta Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007, 80f.; Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, Berlin, Boston 2012, 295f. 23 Es ist unklar, wer hier gemeint sein könnte. Den Namen gibt Weiland (wie Anm. 17), 569.

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(V. 8962). Ihre Pferde sind von »wundherliche[r] gestalt« (V. 8963), mit sonderbar großen Hufen und eigenartigem Beschlag. Im Ganzen entsprechen diese Ritter, ihre Rösser und Gewohnheiten nicht den höfischen Konventionen. Folglich stellt der Erzähler resümierend fest, dass nicht einmal »Kundrye uz dhem Grale« (V. 8974), die hier offenbar als Inbegriff des Außergewöhnlichen angeführt wird, so bizarre Reittiere besessen habe. Der Erzähler setzt an dieser Stelle voraus, dass das Publikum weiß, wie Kundrye bei Wolfram beritten war. Im Parzvial heißt es von ihrem Reittier bekanntlich: ein mûl hôch als ein kastelân, val, und dennoch sus getân, nassnitec unt verbrant, als ungerschiu marc erkant. (312,7‒10) Ein Maultier, hochbeinig, wie ein Kastilianer, mit aufgeschlitzten Nüstern, fahl und doch verbrannt wie die Grenze von Mähren, eine Mähre eben.

Der Bezug zur Gralswelt dient an dieser Stelle dazu, das Magdeburger Bürgeraufgebot zu verhöhnen, zugleich aber auch die ungewöhnliche Bedrohung auszudrücken,24 die das fremde Heer für Albrecht darstellt und einen etwaigen Sieg der Angreifer vollkommen ausschließt. Die intertextuellen Bezüge produzieren in dieser Chronik einen literarischen Bedeutungsüberschuss, der die legitimierenden und damit schließlich auch politischen Aussagen des Textes unterstützt bzw. erst erzeugt. Historische Ereignisse werden so in Darstellungsmustern der höfischen Literatur präsentiert.

2 Jans’ von Wien Weltchronik Der Wiener Bürger Jans Enikel erzählt um 1280, sieht man das Fürstenbuch als Fortsetzung der Weltchronik mit regionalgeschichtlichem Schwerpunkt, unmittelbar zur gleichen Zeit wie der Verfasser der Braunschweigischen Reimchronik die Geschichte der Welt vom Sündenfall im Paradies bis in seine Gegenwart.25 Augenfällig ist dabei, dass historische Daten und Fakten zwar den Rahmen des Textes || 24 Vgl. Bernd Schirok, »Wolfram und seine Werke im Mittelalter«, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Wolfram von Eschenbach: Ein Handbuch, Bd. 1: Autor, Werk, Wirkung, Berlin 2011, 1–82, hier: 52; Bernd Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter, Darmstadt 1982 (Erträge der Forschung 174), 100. 25 Zitierte Ausgabe: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 3: Jansen Enikels Werke. ›Weltchronik‹ und ›Fürstenbuch‹, hrsg. von Philipp Strauch, Hannover, Leipzig 1900 (MGH, Deutsche Chroniken 3).

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bilden, die Ereignisse aber in anekdotische und schwankhafte Erzählungen eingebunden werden, die auf moralischer Ebene funktionieren. Die Herrscher zeichnen sich weniger durch besonders positive Eigenschaften aus, vielmehr stehen ihre ungewöhnlichen Neigungen und Taten sowie skurrile Gewohnheiten im Zentrum der Episoden. Entsprechend wird vom Rollentausch Achills und von der Nekrophilie Karls des Großen berichtet, von den Experimenten Friedrichs II. oder der Krötengeburt Neros erzählt. Aufs Ganze gesehen werden Herrscher dargestellt, die aus dem Korsett christlicher Ordovorstellungen herausfallen und in liminalen Situationen gezeigt werden. Dabei wird die Bewertung des Erzählten dem Publikum überlassen. Die Chronik erzählt »Geschichte in Form von Geschichten«,26 die sich leicht einprägen, aber auf der Ebene des sensus moralis der Auslegung durch das Publikum bedürfen. Formal sind die Ereignisse chronologisch angeordnet. Der Erzähler bezieht sich, in historiographischer Tradition stehend, auf die Lehre von den Weltreichen und den Weltaltern, die das Geschehen strukturieren. Dennoch enthält die Darstellung weit mehr als Daten und Taten der Herrscher. Mithin sind in der Kompilation neben Bezügen zu den Trojaromanen, zum Minnesang und zur lateinischen Chronistik auch Einflüsse des höfisch-arthurischen Romans zu erkennen, denn der Erzähler greift häufig auf Muster und Motive der Literatur zurück.27 Somit soll im Folgenden der Fokus weniger darauf liegen, was erzählt wird, als vielmehr darauf, wie erzählt wird. Die Geschichte Karls des Großen ist episch breit ausgestaltet, und die einzelnen Sequenzen schildern Karls Herrschaft als Aventürefahrt, wie sie auch ein Artusritter absolvieren könnte (V. 25521–26258).28 Die historische Person wird so in literarische Zusammenhänge überführt. In der gesamten Episode geht es um genuin arthurische Themen wie Minne und Herrschaft, um den Auszug des Helden und um seine Heimkehr, um Wiedererkennen und Minnewerbung. So wird nach der Schilderung von Karls Feldzügen die Heerfahrt nach Ungarn als eine Aventüre des Herrschers erzählt.29 Im Mittelpunkt steht hier mit der Vereinbarkeit von Kampf und Liebe ein Thema des Artusromans.

|| 26 Ursula Liebertz-Grün, Art. »Reimchronik. II. Deutsche Literatur«, in: LexMA, Bd. 7, 650f., hier: 651. 27 Vgl. den Überblick bei Strauch (wie Anm. 25), XCV‒XCVIII. 28 Vgl. dazu auch Gesine Mierke, Riskante Ordnungen. Von der ›Kaiserchronik‹ zu Jans von Wien, Berlin, Boston 2014 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 18), 147‒155. 29 Vgl. auch die »Sage vom Wunderritt« bei Caesarius von Heisterbach (VIII, 59): Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, übers. und komm. von Nikolaus Nösges und Horst Schneider, 5 Bde., Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86/1–5), Bd. 4, 1643‒47.

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Während des Ungarnfeldzugs vernachlässigt Karl (wie Iwein) seine Pflichten als Landesherr und Ehemann und überschreitet die ihm von seiner Frau gewährte Frist. Folglich machen sich in Rom und Aachen Unruhen breit. Dort wird unterdessen Karls zurückgelassene Ehefrau von den Fürsten ihrer Pflichten als Landesherrin ermahnt und genötigt, einen anderen Mann zu heiraten. Ein Engel informiert Karl über die Vorgänge im Land und die bevorstehende Hochzeit und fordert ihn zur Rückkehr auf: diu botschaft wart im bekant: ›ob ez dir liep ist oder leit, künic, sî dir für wâr geseit, kümst dû niht zuo der küniginn, zwâr sô verleitent dich dîn sinn. ein ander künic hât si genomen.[‹] (V. 25836‒41) Diese Botschaft wurde ihm verkündet: ›König, ob es dir lieb ist oder nicht, dir sei wahrlich Folgendes gesagt: Wenn du nicht zur Königin zurückkehrst, verführt dich dein Verlangen. Ein anderer König hat sie dann zur Frau genommen.‹

Die Schilderung der Rückkehr ist nach dem Schema der Heimkehrersagen gestaltet. In der Szene des Wiedererkennens wird Karl symbolisch zum zweiten Mal inthronisiert:30 und gie er selber in den tuom. daz macht sîn wîstuom, daz er zwâr niht vergaz, wan er ûf den stuol saz, dâ die künege werdent gewîht; [...] ûf den stuol saz er zehant. daz dûht in dô ein guot gewin. ab dem swert liez er hin sliefen die scheid, daz ist wâr. er nam daz swert alsô bar und leit daz über sîniu knie. (V. 26065‒77) Und er ging in den Dom. Da er klug war, wusste er ganz genau, dass er sich auf den Thron setzen musste, auf dem die Könige geweiht werden; [...] auf den Thron setzte er sich umgehend. Das schien ihm das Richtige. Er ließ die Scheide vom Schwert gleiten, das ist wahr. Er nahm das blanke Schwert und legte es über seine Knie.

|| 30 Zu Funktion und Bedeutung des Rituals vgl. Christiane Witthöft, Ritual und Text. Formen symbolischer Kommunikation in der Historiographie und Literatur des Spätmittelalters, Darmstadt 2004, 22‒35.

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Karl sitzt in der Pose des Richters, das Schwert über seinen Knien liegend, und markiert wie Hagen und Willehalm für die Beobachter seine Rechtsautonomie.31 Karls Idoneität wird bestätigt, wodurch er aufs Neue als Herrscher erkennbar wird. Die Szene gleicht der Tugendprobe, die den wahren König offenbart. Entsprechend endet sie in der Weltchronik mit der Anerkennung des alten/neuen Herrschers durch den Bischof. Er begrüßt Karl mit den Worten: »sît willikomen, lieber herr mîn, / iurr kunft wil ich frô sîn« (V. 26149f.). Im Anschluss daran verfehlt sich Karl zweimal gegen Gott. Er hat, wie es im Text heißt, »zorniclîchen / geret gegen got de[n] rîchen« (V. 26247f.). Zudem pflegt er über den Tod seiner Frau hinaus ehelichen Beischlaf mit ihr. Diese Geschichte von der Nekrophilie Karls, die in der Weltchronik erstmalig auftaucht,32 erscheint als Motiv der maßlosen Liebe des Herrschers in verschiedenen Märchen und Erzählungen der Neuzeit.33 In diesem zweiten Teil der Karlsepisode wird das Bild des vormals gerechten und tugendhaften Herrschers gebrochen. Karl vergeht sich – wie der Artusritter – und muss rehabilitiert werden. Dies gelingt schließlich mit der Hilfe des Bischofs, der Karls Frau von dem teuflischen Zauber befreit. Insgesamt wird Karl als historische Person in der Weltchronik literarisiert. Die Episode erscheint als Synthese verschiedener Muster und Motive, die hier in ein neues Sinnganzes eingefügt werden. Themen aus dem arthurisch-höfischen Roman wie Minne und Herrschaft, Schemata wie etwa der Auszug des Herrschers und seine Heimkehr, Wiedererkennen und Werben um die zurückgelassene Frau werden aufgegriffen. Mit Blick auf die gesamte Chronik reiht sich Karl in die Reihe der Minnesklaven ein, die der Verfasser mit Adam und Eva, Noahs Sohn und dessen Frau,34 David und Bathseba, Daniel und Susannah, Samson und Dalila sowie Vergil im Korb aufmacht. Der Text lässt sich so, versteht man ihn als Exempelsammlung, die allge-

|| 31 Vgl. Nibelungenlied, Str. 1783f. (Zählung nach Bartsch); Willehalm, 141, 5‒7. Zur Pose vgl. Walter Haug, »Parzivals zwîfel und Willehalms zorn. Zu Wolframs Wende vom höfischen Roman zur Chanson de geste«, in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, 529–540, hier: 538f. 32 Vgl. dazu Mierke (wie Anm. 28), 152‒155. 33 Bereits in Legendenerzählungen des 9. Jh. sowie in der französischen Ägidiuslegende aus dem 10. Jh. erscheint der Bericht über seinen Fehltritt, vgl. Karl Reuschel, »Die Sage vom Liebeszauber Karls des Großen in dichterischen Behandlungen der Neuzeit«, in: ders., Karl Gruber (Hrsg.), Philologische und volkskundliche Arbeiten. FS K. Vollmöller, Erlangen 1908, 371–389. 34 Jans nennt keinen Namen; vermutlich ist hier Cham gemeint; vgl. auch Strauch (wie Anm. 25), 36, Anm. 3.

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meine Grundkonstellationen durchspielt, systematisieren. Die Macht des Weiblichen wird auch dem gerade heiliggesprochenen Karl den Großen zum Verhängnis. Karl ist weder makelloser Held noch heiligmäßiger Herrscher. In der Anlage der Figur sind unterschiedliche Erzähltraditionen verbunden und überlagern sich.

3 Ottokars von der Steiermark Steirische Reimchronik Während in den bisher behandelten Textbeispielen Arthurisches nur implizit auftaucht, werden in der Steirischen Reimchronik, die zu Beginn des 14. Jh. verfasst wurde,35 die Ritter der Artusrunde explizit erwähnt. Die breit angelegte Chronik des Ottokar von der Geul erzählt in vier großen Teilen Reichsgeschichte und die Geschichte von Österreich-Steiermark, das zugleich durch den Blick auf die Nachbarländer in europäische Zusammenhänge eingebettet wird. Die Fokussierung auf Akkon im letzten Teil gibt dem Werk schließlich auch eine heilsgeschichtliche Perspektive. Dennoch ist es dem Verfasser v. a. um Landesgeschichte getan; er legitimiert die österreichischen Herrscher und bettet ihr Handeln in größere politische Zusammenhänge ein.36 Die Steirische Reimchronik beschließt in der vorliegenden Skizze nicht nur aus chronologischen Gründen die Reihe der Beispiele. Sie stellt überdies neben den Beschreibungen höfischer Feste, Turniere und Begrüßungen, wie sie auch in der Braunschweigischen Reimchronik und der Weltchronik des Jans von Wien vorkommen, explizite Bezüge zur Artusliteratur her, die dem Text eine literarische Tiefendimension geben und ihn ›doppelt codieren‹.37 Darüber hinaus betont der Erzähler mehrfach seine literarischen Kenntnisse.38 Namentlich genannt werden

|| 35 Grundlegend zu Autor und Werk Ursula Liebertz-Grün, Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300, München 1984, 101‒115. 36 Vgl. Horst Wenzel, Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters, Bern u. a. 1980 (Beiträge zur älteren deutschen Literaturgeschichte 5), 140f. 37 Vgl. Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990, 58; Schulz (wie Anm. 11). 38 Vgl. dazu Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 5: Ottokars ›Österreichische Reimchronik‹, nach den Abschriften Franz Lichtensteins hrsg. von Joseph Seemüller, 2 Teile, Hannover 1890/93 (MGH, Deutsche Chroniken 5), CXVIf.; Wenzel (wie Anm. 36), 143

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Dichter wie Wolfram von Eschenbach (V. 39196, 45314 und 94897), Hartmann von Aue (V. 94891‒98), Frauenlob (V. 86539‒62) und Berthold von Regensburg.39 Aus Gottfrieds Tristan (V. 19919‒24) und Hartmanns Iwein (V. 18015‒21) werden einige Passagen unmarkiert übernommen.40 Wie Walter Heinemeyer bereits betonte,41 ist das Lob Wolframs von Eschenbach besonders prominent. Als der Erzähler den Tod Rudolfs und dessen Grabstein beschreibt, beklagt er seine eigene dichterische Unzulänglichkeit und bezieht sich dabei auf Wolfram: her Wolfram von Eschenbach, dô man in bî dem leben sach, swie gar er was an tihten kluoc, er müeste arbeit genuoc darûf hân geleit. Swie vil er hât geseit, mit schœnen mæren geziert und mit worten gefloriert die grôzen ritterschaft, der diu hêrschaft phlac ze Litmarveil [...] (V. 39196‒206). Herr Wolfram von Eschenbach! Als der noch lebte! Wie kunstfertig er dichten konnte! Sehr viel Sorgfalt muss er darauf verwendet haben. Viel hat er erzählt und in schöne Geschichten kunstvoll verpackt, mit Worten geschmückt, von jener großen Ritterschar, die über Litmarveil herrschte.

Hier wird an Wolfram, der die colores rhetorici in besonderer Weise einzusetzen wusste, als Meister der Dichtkunst erinnert. Unweigerlich fühlt man sich an die Lobpreisung Hartmanns von Aue in Gottfrieds Literaturexkurs erinnert, die hier Vorlage gewesen sein könnte. Dass der Autor den Tristan kannte, wird zudem an anderer Stelle deutlich. Augenfällig ist dennoch, dass er vornehmlich auf Wolframs epische Werke (Parzival, Titurel und Willehalm) zurückgreift und Bezüge zum erzählten Geschehen herstellt. Damit stellt sich der Chronist in die Reihe der Dichter, die er als vorbildhaft präsentiert. Dies ist für die Verschronistik nicht untypisch. So ruft auch Jans von Wien im Prolog seiner Weltchronik die Dichter an:42

|| und 145; Helmut Weinacht, Art. »Ottokar von Steiermark«, in: 2VL, Bd. 7, 238‒245; ders.: Art. »Ottokar von Steiermark«, in: 2VL, Bd. 11, 1157f. 39 Vgl. dazu Weinacht 1989 (wie Anm. 38), 241f.; ausführlich dazu Walter Heinemeyer, »Ottokar von Steier und die höfische Kultur«, ZfdA 73 (1936), 201‒226. 40 Übernommen werden aus Hartmanns Iwein V. 6497‒6503, aus Gottfrieds Tristan V. 2759‒ 3080 (Jagdszene); vgl. dazu ebd., 211f. 41 Vgl. ebd., 208. 42 Vgl. dazu Mierke (wie Anm. 28), 253f.

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ir tihter über tiutschiu lant oder swâ die tihter sîn bekant von dem mer hinz an den Rîn, die lâzen mich irn diener sîn, wan ich in den gedenken bin, daz ich die gefuog wil von in lernen unde tihten; der gefuog wolt ich mich rihten. (V. 101–108) Ihr Dichter deutschsprachiger Lande oder wo auch immer man euch kennt – vom Meer bis an den Rhein. – Sie haben mich in ihren Dienst genommen, weil ich mich entschlossen habe, die Kunstfertigkeit von ihnen zu lernen und das Dichten; nach ihrem Vorbild will ich mich richten.

Weder Jans noch Ottokar geht es um faktische Genauigkeit und die narratio rei gestae. Vielmehr wollen sie Geschichte erzählen und sich dafür der entsprechenden stilistischen Mittel bedienen. Der Bezug auf andere literarische Texte, insbesondere die Anspielungen auf den höfischen Roman und die Artusgesellschaft, dienen überdies dazu, die historische Vergangenheit oder Gegenwart mit der Idealität der höfischen Kultur in Beziehung zu setzen. So vergleicht Ottokar die Tugendhaftigkeit Albrechts mit der des König Artus: an der tugent sîn lop als unverhouwen als des kunigs Artûses ist, von dem man sprichet unde list, daz alliu zuht ist ungewegen, gegen der er hât gephlegen. (V. 22961‒65) An Tugendhaftigkeit steht sein Lob ungeschmälert neben dem des König Artus. Von dem sagt und liest man, dass alle Sittsamkeit die seine nicht aufwiegen könne.

Der Vergleich mit Artus speist sich dabei allein aus dessen fiktiver Existenz. Artus wird nicht als historischer Herrscher in die Chronik integriert ‒ er und seine Ritter sind literarische Figuren, die das zeitgenössische Publikum aus seinem kulturellen Kontext kannte. Durch ihre Einbindung in die Chronik ändert sich das Bezugssystem des Textes. Es sind nicht allein die historischen Herrscher, in deren Nachfolge man sich zu stellen wünscht. Als Ausweis für besondere Tugendhaftigkeit und Inbegriff ritterlicher Idealität gelten gerade Artus und seine Tafelrunder. Der Verweis auf die Figuren erfolgt differenziert. Je nach Aussageabsicht werden für ritterlich-tugendhaftes Verhalten Artus, Gawan oder Lanzelot aufgerufen, für den Kampf zwischen Heiden und Christen Figuren aus Wolframs Willehalm erwähnt. Wenn es um den Reichsgedanken geht, erscheinen Darius, Alexander oder Hektor als Gewährsmänner antiken Herrschertums. Die Reihe der

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Exempelfiguren konnte variieren und war beliebig erweiter- bzw. reduzierbar. Allen Figuren hafteten bereits zu Beginn des 14. Jh. feste Epitheta an, die sie für den Transformationsprozess beständig machten. Der Verfasser der Steirischen Reimchronik war sich seiner Methode offenbar bewusst, denn durch die Anspielungen auf den höfischen Roman, durch die Übernahme bestimmter Motive, stilistischer Wendungen etc. werden die historischen Personen nicht nur zu den Figuren der Literatur ins Verhältnis gesetzt, sondern sie erscheinen in einer – scheinbar ungebrochenen ‒ Linie mit ihnen. Der Grenzgang zwischen den Gattungen macht diesen Eindruck erst möglich. Durch die intertextuellen Verweise entfaltet der Verfasser ein dichtes Netz an literarischem Wissen. Auch hierfür sei ein Beispiel angeführt: Die besondere frumikeit Rudolfs wird mit verschiedenen Exempelfiguren aus dem Alten Testament, der Antike und aus dem höfischen Roman belegt. Man liest über Rudolf: [...] daz dem kunic Rudolfen iht anders hab geholfen des rîches wan sîn frumikeit, die er von sîner kintheit unz in sîn alter hât getragen. sol der tôt an dem betagen, des müest ich immer trûric wesen, wær ander ieman genesen, die ouch bî iren jâren, an frumikeit volkomen wâren, als David unde Salomon, Alexander und Sampson, Achilles unde Gahmoret, Parzival und Lanzilet. (V. 38886‒99) [...] dass König Rudolf für die Herrschaft nichts anderes als seine Tapferkeit geholfen hat, die er von Kindesbeinen bis ins Alter bewahrt hat. Ich würde immer traurig sein, wenn der Tod bei ihm erschiene und jemand anderes gerettet werden würde von denen, die zu ihren Lebzeiten an Tapferkeit vollkommen waren wie David und Salomon, Alexander und Samson, Achilles und Gahmuret, Parzival und Lancelot.

Der Erzähler benutzt die Auflistung der bekannten Könige und Helden, um das Lob Rudolfs zu überhöhen. Helden der Heils- und Weltgeschichte sowie der Literatur werden hier in eins gesetzt und geben zusammen die Idealität Rudolfs wieder. Die Chronik, die zeitgleich mit der Weltchronik Jans’ von Wien verfasst wurde, stellt gewissermaßen eine Steigerung des literarischen Potentials der erzählenden Historiographie dar. Der Text spielt die Register intertextueller Verweise durch und verbindet Historiographie und Poesie. An ihm lässt sich zeigen,

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welche Rolle Verweise auf die höfische Literatur für die Erzählung von Landesgeschichte spielten. Dabei ging es weniger um historische Genauigkeit, als vielmehr darum, Geschichte anschaulich und zweckgebunden darzustellen.43 Mithin sind die Anspielungen auf die höfische Literatur Ausweis des Wissens und der kulturellen Kompetenz des Erzählers. Die Schilderungen der Fürsten und Adligen sind an den Mustern der höfischen Literatur orientiert. Dabei entstehen keine historischen Abbilder der literarischen Figuren, sondern die historischen Gegebenheiten werden vor dem Hintergrund der Idealität der Literatur betrachtet. Somit werden auch Brüche sichtbar, die die höfische Idealität konterkarieren bzw. den Blick auf die erzählte Gegenwart lenken.

4 Zusammenfassung Die hier vorgestellten Textbeispiele nehmen in unterschiedlicher Weise auf die Gattung Artusroman Bezug. Die Differenzen sind nicht zuletzt auch den verschiedenen Rezipientenkreisen geschuldet, auf welche die Chroniken abzielen. Die Braunschweigische Reimchronik ist als Laudatio eines Herrschergeschlechts angelegt, die in der Lobpreisung Albrechts I. gipfelt. Hier wird Landesgeschichte für adelige Nachfahren vermittelbar gemacht. Folglich wird die Idealität arthurischer Ritterschaft mit den historischen Herrschern verbunden und für das Verfassen von Landesgeschichte in Anspruch genommen. Ganz anders dagegen die Weltchronik des Jans von Wien: Hier wird Weltgeschichte für ein städtisches Publikum nicht entlang vorbildhafter Figuren erzählt, vielmehr werden die bekannten Herrscher in ungewöhnlichen Situationen, also beim Überschreiten der Grenzen des vorgegebenen Ordo, gezeigt. Schemata und Motive aus der höfischen Literatur dienen dazu, das Faktische der Chronistik aufzubrechen und moraldidaktische Aussagen zu vermitteln. In der Steirischen Reimchronik fließen beide Varianten der Rezeption höfischer Literatur in der erzählenden Historiographie zusammen. In der Gesamterzählung tauchen zahlreiche intertextuelle Verweise auf, die eine Rezeption vor dem Hintergrund der höfischen Romane unabdingbar machen. Artus und seine Tafelrunder werden zum Bezugssystem für die Geschichtserzählung. Somit erhält gerade der »ahistorische Artus« für die Fürstengeschlechter eine nicht zu unterschätzende Bedeutung und bleibt für sie gerade

|| 43 Vgl. auch Wenzel (wie Anm. 36), 141.

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nicht »irrelevant«,44 erhebt doch hier die Geschichte Figuren aus der Welt des Romans zu ihrem Maßstab. In viel stärkerem Ausmaß als um 1200 werden um 1400 die Ritter der Tafelrunde zu Trägern eines Ritterideals, das gerade im Spätmittelalter seine stärkste Expression findet. Literarisches Wissen sowie die Verbindung verschiedener Gattungen und die Ausdifferenzierung interfiguraler Zusammenhänge tragen zur Entfaltung dieser adeligen Kultur bei. Die intertextuellen Anspielungen (direkte Zitate – markiert oder unmarkiert, Paraphrasen, Übernahme gattungstypischer Motive und Schemata) sind produktiv und sinnkonstituierend.45 Insbesondere die Systemreferenz bzw. die Gattungsinterferenzen brechen Gattungskonventionen auf und schaffen Möglichkeiten für neue Wege der Sinnvermittlung und -aneignung. In der Forschung hat bereits in den 1980er Jahren eine Aufwertung der Verschronistik stattgefunden, die soweit reichte, die Chroniken als neue epische Leitform in der Nachfolge des höfischen Romans zu postulieren und mehr noch auf die ihnen eigene »neue handfeste Verbindlichkeit des Erzählens in Geschichte und Religion« hinzuweisen; sie wurde gar zur ›Über-Form‹ erhoben, in der »die Versuche des Zeitalters zusammenschießen, im Erzählen den Sinn des Lebens zu fassen«.46 Mit Blick auf die Chronikkompilationen des Spätmittelalters ist dies unumstritten. Der kurze Blick auf die volkssprachigen Verschroniken des 13. und 14. Jh. zeigt, dass sich auch das historiographische Erzählen um 1300 verändert. Es löst sich von den Vorgaben der Historiographie und geht gerade keine ›Verbindlichkeit‹47 ein. Im Vergleich mit dem höfischen Roman um 1300 ist eine Parallelentwicklung zu beobachten. Während jener nach historischen Fixpunkten sucht und verbindlich auf diese Bezug nimmt, zeichnet sich in der Chronistik eine entgegengesetzte Bewegung ab. Zugespitzt ließe sich festhalten: Der höfische Roman um 1300 greift verstärkt auf Historisches (Fakten und Personen) zurück, während die Chronistik zunehmend auf Sequenzen, Motive und Figuren der hö-

|| 44 Beide Zitate Wolf (wie Anm. 3), 188. 45 Vgl. auch Ariane Mhamood, Komik als Alternative. Parodistisches Erzählen zwischen Travestie und Kontrafaktur in den ›Virginal‹- und ›Rosengarten‹-Versionen sowie in ›Biterolf und Dietleib‹, Trier 2012 (LIR 47), 27. 46 Beide Zitate Joachim Heinzle, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30– 1280/90), Tübingen 21994 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II/2), 170. 47 Ich beziehe mich hier auf Herweg (wie Anm. 14).

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fischen Epik referiert. Folglich hat die ›Erfahrung‹ der Fiktionalität auch den Umgang mit Geschichte verändert.48 Aus der Perspektive der Sinnvermittlung jedoch scheinen mir die Texte weniger ›hybrid‹ als bislang angenommen, da deutlich ein Sinnganzes, eine bestimmte Geschichte der Welt mit einem Deutungspotential vermittelt, eben Geschichte in der Volkssprache erzählt wird. Gerade die Gattungsinterferenzen sind als Ausweis produktiver Rezeption literarischer Texte zu verstehen, die das Erzählen verändern und Gattungen erweitern. Artus und seine Ritter liefern den ethisch-moralischen Rahmen, an dem sich das fürstliche Selbstverständnis orientiert. Aufs Ganze gesehen wird die Chronistik keine ›Untergattung‹ des Romans, im Gegenteil: In wesentlichen Bereichen bleiben deutliche Unterschiede erhalten (Raumsemantik, Weltentwurf). Allerdings sind bei einigen anderen Elementen wie etwa dem Handlungsverlauf und der Verwendung von Erzählschemata Ähnlichkeiten festzustellen. Durch intertextuelle Verweise werden offensichtliche Bezüge hergestellt, wird Sinn stabilisiert und neu produziert. Elemente des Artusromans werden dabei in die Ordnung der Chronistik überführt. Das Personal des höfischen Romans kann so zum Referenzensemble für historische Personen werden. Dabei findet v. a. eine Orientierung auf ethisch-moralischer Ebene statt. Die Möglichkeiten, Geschichte abzubilden und Weltgeschichte darzustellen, werden auf diese Weise erweitert.

|| 48 In der volkssprachigen Chronistik findet eine Adaptation von Themen und Mustern statt, wird Faktisches in die »Fiktion hineingezogen«; vgl. Walter Haug, »Entdeckung der Fiktionalität«, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, 128–144, hier: 133.

Brigitte Burrichter

»Li valhans roi Artus« König Artus in der volkssprachlichen Chronik des Jean d’Outremeuse Abstract: In his Myreur des histors, Jean d’Outremeuse integrates Arthurian history into the European history of the 6th century, chiefly following Geoffrey of Monmouth’s version while adapting it to his own purposes. The achievements of Arthur are far more important in the Myreur than in Geoffrey’s work: he conquers Jerusalem and is declared Roman emperor. He is motivated less by a desire for honour than by the intention to help a friend or obtain personal vengeance. In the end, Avalon is assigned a major role in the Carolingian epoch. The history of King Arthur is interwoven with the history of France and serves as a prelude to the crusades. Jean d’Outremeuse, however, uses it primarily as a backdrop for the depiction of his preferred protagonists of the Arthurian and the Carolingian periods.

Jean des Preis, dit d’Outremeuse,1 verfasst gegen Ende des 14. Jh. seinen Myreur des histors, ein speculum historiale in der Volkssprache. Konzipiert ist es als Chronik des Bistums Lüttich: »Ch’est li promier libre des croniques de pays de l’evesqueit de Liege« (Bd. 1, 1: »Dies ist das erste Buch der Chroniken der Diözese Lüttich«), so leitet Jean d’Outremeuse sein Werk ein. Die große Kompilation aus Geschichten aller Art erzählt die Weltgeschichte mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Moselraum von der Sintflut bis in die Mitte des 14. Jh. Die angekündigte Fortsetzung bis zur Gegenwart des Autors, der im Jahr 1400 starb, ist nicht erhalten. Über den Verfasser selbst ist nicht viel bekannt, er war vermutlich Gerichtsschreiber am bischöflichen Gericht in Lüttich. Die namentliche Annäherung an die bedeutende Lütticher Familie Des Prés hat wohl kein reales Fundament.2

|| 1 So nennt er sich selber: »nous, Johans des Preis, dis d’Oultre-Mouse«. Zitierte Ausgabe: Jean d’Outremeuse, Ly myreur des histors, hrsg. von Adolphe Borgnet und Stanislas Bormans, 7 Bde., Brüssel 1864–1887 (Corps des Chroniques Liégeoises), Bd. 1, 1. Die Bände der Ausgabe entsprechen nicht der Buchzählung bei Jean d’Outremeuse selbst. 2 Vgl. zur Biographie Louis Michel, Les Légendes épiques carolingiennes dans l’œuvre de Jean d’Outremeuse, Brüssel, Lüttich 1935 (Académie Royale de Langue et de Littérature françaises de Belgique. Mémoires 10), 17–21.

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Schon früh begann er damit, Texte mit historischen Inhalten zu verfassen, etwa eine Gesta der Stadt Lüttich oder eine nicht erhaltene chanson de geste über Ogier le Danois, einen Ritter, der im Rolandslied erwähnt wird. Sein Hauptwerk ist aber der Myreur des histors, den Jean d’Outremeuse vermutlich als letztes Werk in der Reihe verfasst hat, wohl in den letzten Jahren des 14. Jh. Seine Chronik ist aus Geschichten unterschiedlichster Provenienz zusammengesetzt: Die Bibel ist ebenso Quelle wie die antiken Schriftsteller, die lateinischen Specula historialia und Reiseberichte, daneben schöpft Jean d’Outremeuse aber auch aus Legenden, Exempelsammlungen, Chansons de geste und Romanen. Das Geschichtensammeln ist sein Kompositionsprinzip: »chu que ons true en escript doit cascon metre justement en ses histor, et le puet gloseir, se ilh le soit faire, sens reproche« (Bd. 4, 1877, 53: »was man geschrieben findet, muss jeder korrekt in seine Geschichte aufnehmen und er kann es kommentieren, wenn er das versteht, ohne dafür getadelt zu werden«). Bis zum Ende der Antike erzählt der Myreur die Weltgeschichte unter drei Schwerpunkten: die biblische Geschichte, die antike Geschichte und die – weitgehend fabulöse – Geschichte der Lütticher Region. Für die Nachantike konzentriert sich Jean d’Outremeuse zunehmend auf Frankreich und das Bistum Lüttich. Das Werk ist auf vier Bücher angelegt, von denen nur drei erhalten sind (oder vielleicht auch nur geschrieben wurden). Diese drei Bücher sind in sieben Manuskripten aus dem 15. und 16. Jh. überliefert, von denen allerdings keines vollständig ist.3 In den 1860er Jahren wurde die Chronik ediert; sie umfasst in der gedruckten Version gut 3500 Seiten. Jean d’Outremeuse schreibt für ein Publikum, das er selber so charakterisiert: Portant que maintes gens oient volentirs racompteir en prendant solas et delectation en oyr parleir, racompteir, reciteir ou pronunchier anchienes hystors, croniques ou auctoritais et chozes anchienement passées et avenues le temps chi-devant (Bd. 1, 1). Viele Leute hören gerne, wenn erzählt wird, und finden Vergnügen und Erholung, wenn sie von alten Geschichten, Chroniken und Autoritäten sprechen, erzählen, rezitieren oder sagen hören und von Dingen, die früher, vor unserer Zeit passiert und geschehen sind.

Das städtische Publikum liebt alte Geschichten und sucht in der Chronik Unterhaltung. Aber Jean d’Outremeuse gibt sich durchaus auch als ›seriöser‹ Historiograph, er verweist häufig auf seine Quellen und datiert alle berichteten Ereignisse mit großer Genauigkeit. Für die vorchristliche Zeit sind diese Datierungen oft überbordend:

|| 3 Vgl. dazu die Übersicht bei Michel (wie Anm. 2), 22–28.

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Tongre fut commenchié à fondeir [...] l’an del origination del monde Vm C et XVII, qui fut li an del delueve Noé IIm VIIIc LXV, et li an del nativiteit Abraham mil IXc et XXXIIII ans, et l’an del nativiteit Ysaac M VIIIc et XXXV, et l’an del nativiteit Jacob M VIIc LXXIII, et l’an del nativiteit Joseph M VIc IIIIxx et V, et l’an de la destruction de la grant Troie M IIIIxx et XVIII, et l’an del coronation le roy David IXc XCIII, et le dereine année de cent et LXXII olimpiade, et l’an del coronation Romulus sicom emperere VIc et LXIII, et l’an del edification de la citeit de Romme VIc et XXXIII, et l’an del transmigration de Babylone Vc et VII le XIIIe jour de moi de fevrier, qui astoit le derain mois de l’an. Adont fut Tongres commenchié à edifier (Bd. 1, 188f.). Tongre wurde gegründet [...] im Jahr 5117 nach der Gründung der Welt, das war das Jahr 2865 nach der Sintflut und das Jahr 1933 nach der Geburt Abrahams und das Jahr 1835 nach der Geburt Isaaks und das Jahr 1773 nach der Geburt Jakobs und das Jahr 1645 nach der Geburt Josefs und das Jahr 1098 nach der Zerstörung des großen Troja und das Jahr 993 nach der Krönung des Königs David und das letzte Jahr der 172. Olympiade und das Jahr 663 nach der Kaiserkrönung des Romulus und das Jahr 633 nach der Gründung Roms und das Jahr 507 nach der Ausweisung [der Juden] nach Babylon am 13. Tag des Februar, der 4 der letzte Monat des Jahres war. Da also begann man mit der Errichtung von Tongre.

Das ganze umfangreiche Werk hat zudem zwei Charakteristika, die auch die Darstellung der Artuszeit kennzeichnen. Zum einen verbindet Jean d’Outremeuse die vielen, oft disparaten Geschichten eng miteinander, manchmal, indem er die Gleichzeitigkeit als Bindeglied nimmt, gelegentlich aber auch durch interne Bezüge. Zum anderen erzählt er besonders gern die Geschichten einzelner Helden, die nicht unbedingt die großen Protagonisten der offiziellen Geschichte sind. Damit gelingt ihm eine kohärente, stimmige Narration, sein Myreur ist mehr als nur eine simple Kompilation. Die Gleichzeitigkeit als Bindeglied wird meist durch eine simple Aufzählung von Ereignissen realisiert: Item, l’an VI del incarnation, en mois d’avrilh, le XIIIe jour, mourut Franco, ly dus de Galle; si regnat son fils apres luy, qui oit nom Troilus, lyqueis regnat XXIX ans. Item, en cel an meismes, le IXe jour de may, qui asoit en mardit, avient que Jhesus ly enfes, awec luy Johans-Baptist et plusieurs aultres jovenes enfans, aloit joweir aux champs (Bd. 1, 364). Ebenso, im Jahr 6 nach der Fleischwerdung Christi, im Monat April, am 13. Tag, starb Franco, der Graf Galliens; nach ihm regierte sein Sohn, der Troilus hieß und der 29 Jahre lang regierte. Ebenso, in demselben Jahr, am 9. Tag des Mai, der ein Dienstag war, geschah

|| 4 Tongre / Tongeren ist die Stadt, deren Bischofssitz später an Lüttich übergeht; bei Jean d’Outremeuse wird sie zur großen Vorgängerin Lüttichs stilisiert. Die Zeit nach Christi Geburt wird dann in der üblichen Zeitrechnung angegeben.

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es, dass das Kind Jesus mit Johannes dem Täufer und mehreren anderen Kindern auf die Felder zum Spielen ging.

Der Fokus auf die einzelnen Helden ist das bevorzugte Mittel bei der Erzählung der Artuszeit. Die Geschichte des Artusreichs findet ihren Platz in dieser großen Sammlung von Geschichten neben den anderen europäischen Reichen der Zeit. Jean d’Outremeuse wählt aus seinen Quellen einzelne Aspekte aus, die in sein Konzept passen, und er bereichert die Artusüberlieferung der Historiographen und Romanautoren um einige überraschende Taten des großen Königs. Bereits die Einführung der arthurischen Geschichte zeigt, wie er seine verschiedenen Themen verbindet, um einen homogenen Text zu schaffen. Jean d’Outremeuse erzählt die Geschichte der Merowinger am Ende des 5. Jh. Im Mai des Jahres 493, so der Myreur, tötet der Merowingerkönig Chlotar I. seinen unehelichen Sohn Chram, der sich gegen ihn aufgelehnt hatte.5 Der aufständische Chram ist eine historische Figur. Jean d’Outremeuse gibt ihm einen – historisch nicht belegten – ältesten Sohn, Paris. Dieser flieht, noch ein Kind, nach dem Tod des Vaters aus Angst vor seinem Großvater nach Britannien zu Utherpendragon: Damit ist die Verbindung zur Artusgeschichte hergestellt. Paris wächst zusammen mit dem gleichaltrigen Artus am Hof Utherpendragons auf, die beiden Thronerben des Franken- und des Britenreiches sind dadurch seit ihrer Kindheit freundschaftlich verbunden. Die Stellung von Artus ist durch die Artusgeschichte eindeutig, für Paris belegt Jean d’Outremeuse durch genaue genealogische Herleitungen, dass er der eigentliche Erbe des Frankenreichs ist (Bd. 2, 183). Aber Jean d’Outremeuse vereinigt hier nicht nur die Erben Großbritanniens und Frankreichs und verbindet so die Geschichte zweier Reiche, er führt auch bereits die karolingische Epoche ein. Im Lobpreis seines neuen Protagonisten erklärt Jean d’Outremeuse, Paris werde ein so guter Ritter, dass man auf Ogier von Dänemark, einen der Kämpfer des Rolandliedes, warten müsse, um einen vergleichbaren zu finden (Bd. 2, 180). Die Verbindungslinie, das wird sich später zeigen, ist hier nicht zufällig gezogen. Ogier ist einer der Lieblingshelden Jeans d’Outremeuse, der als Bindeglied über viele Epochen dient und mehrere disparate Ereignisse verbindet.6 Zeitgenossen Utherpendragons sind, neben Chlotar I.,

|| 5 Bd. 2, 180. In der realen Geschichte ereignete sich der Aufstand, der mit Chrams Tod endete, im Jahr 560. Quelle für die merowingische Geschichte ist Gregor von Tours, Historia Francorum, hier Buch 4, Kap. 20. Erst ab der Geschichte des 10. Jh. orientiert Jean d’Outremeuse sich sowohl bei der Chronologie als auch bei den Inhalten strenger an den lateinischen Chroniken. 6 Zum ersten Mal ist von ihm in der Apostelgeschichte die Rede, als der Hl. Petrus die Geburt von Karl dem Großen und Ogier le Danois prophezeit und dabei Ogier als den großen Helden

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König Tristan und der Philosoph Boethius. In der folgenden Erzählung ist Tristan, der Protagonist des Prosa-Tristan, der bevorzugte Held auf britischer, Paris auf merowingischer Seite. Tristan wird als großer Ritter eingeführt: A cel temps regnoit ly roy Tristans de Lonnois, qui fut un bons chevalier secreis: car, sicom dist Boece ly philosophes qui à cel temps regnoit, Tristans fut ly mieldre chevalier qui fust en monde à son temps (Bd. 2, 181). Zu dieser Zeit regierte der König Tristan von Lonnois, der ein guter, bescheidener Ritter war: denn, wie Boethius der Philosoph, der zu dieser Zeit regierte, sagte, war Tristan zu seiner Zeit der beste Ritter der Welt.

Diese erste Episode am britischen Hof endet mit dem Ritterschlag von Artus und Paris, der Bericht wendet sich wieder der merowingischen Geschichte zu. Der Tod Utherpendragons im Jahr 504 gibt den Anlass, die Geschichte der Briten von Brutus bis ins Jahr 1304 zu berichten (Bd. 2, 189–203). Jean d’Outremeuse folgt hier Geoffrey of Monmouth, häufig begnügt er sich mit einer Aufzählung, in der er die Könige durchnummeriert und außer dem Namen oft nur die Regierungsdauer nennt. König Artus hat in dieser Geschichte natürlich die herausragende Stelle inne, er ist der 80. König Britanniens und der Beste seiner Zeit. Jean d’Outremeuse berichtet kurz die Taten des Königs und der Tafelrunde;7 dessen Geschichte wird aber erst später erzählt (Bd. 2, 199). Diese ausführliche Erzählung beginnt mit einem kurzen Überblick. Artus wird mit 15 Jahren zum König gekrönt und erobert dann, ganz wie es bei Geoffrey of Monmouth steht, die umliegenden Länder, aber damit begnügt er sich in Jeans d’Outremeuse Version nicht: ly roi Artus mist tous ses voisiens en sa subjection, et conquist mult sour le roy de Persie, et ochist leur emperere qui astoit nommeis Lucidar; ilh fist mult de chouses desqueiles nos ne ferons nulle mention, et oussi fist-ilh de teiles dont nos parlerons (Bd. 2, 203f.). König Artus unterwarf alle seine Nachbarn und erreichte große Siege über den König von Persien, und er tötete den persischen Kaiser, der Lucidar hieß; und er vollbrachte viele Ta8 ten, die wir nicht erwähnen, und andere, von denen wir sprechen werden.

|| vorstellt (Bd. 1, 440f.). Die Hl. Paulus und Thomas ergänzen in ihrer Prophezeiung weitere Details (Bd. 1, 441 bzw. 444–456). Beiläufig wird auch vermerkt, dass Ogier später Tristans Schwert besessen habe (Bd. 2, 182). 7 Die Tafelrunde gibt es bei Geoffrey nicht, Jean d’Outremeuse hat sie aus Waces Roman de Brut (1155) oder aus der Romanliteratur. 8 Geoffrey kennt diesen Kaiser nicht.

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Danach setzt die chronologische Erzählung ein. Artus erobert Sachsen und ernennt seinen Freund Paris zum König der Sachsen. Er verheiratet ihn mit der Tochter des getöteten Königs, Paris gibt ihr bei der Taufe den Namen Helena, die Söhne der beiden werden auf die Namen Priamus und Hektor getauft – Frankreich ist also auf dem besten Weg, mit Artus’ Hilfe ein zweites Troja zu werden. Das genau hat Paris im Sinn: Er »le fist nommeir Helaine, et dest que de la prise de Troie et de Helaine de Gresse avoit esteit Troie destruite, mains de cesti prise soit plus Fance destruite« (Bd. 2, 204: »nannte sie Helena und sagte, dass durch die Eroberung Trojas und durch Helena von Griechenland Troja zerstört wurde, dass aber durch diese Eroberung Frankreich zerstört würde«). Bei Geoffrey erobert Artus nach dem Sieg über die Sachsen alle umliegenden Länder und zieht dann nach Gallien.9 Jean d’Outremeuse gibt dieser Eroberung eine neue Wendung, denn Artus erobert Gallien nicht für sich, sondern hilft seinem Freund Paris, dessen Anspruch auf die fränkische Krone durchzusetzen. Es kommt zunächst zu zwei Kämpfen zwischen Paris und seinen Onkeln, die Paris gewinnt. Im Jahr 506 bittet er dann Artus darum, ihm bei der Eroberung Frankreichs zu helfen, so beginnt der Krieg gegen den aktuellen merowingischen König, Chilperich I.10 Mit der Hilfe von Artus, Tristan, Yvain, Keu und anderen berühmten Artusrittern zerstört Paris Frankreich von Toulouse bis Lutetia, das nach längerer Belagerung 508 eingenommen wird. König Chilperich wird gefangengenommen, er verzichtet schließlich auf die Krone und erkennt Paris als rechtmäßigen König an. Nun ist die Geschichte der Merowinger historisch gut dokumentiert, und sie weiß zwar von Machtkämpfen im Merowingerreich, aber von keinem König Paris, der mithilfe des Königs Artus an die Macht gekommen wäre. Aber Jean d’Outremeuse findet eine Lösung für dieses Problem und eine neue Geschichte. Paris verzichtet großzügig auf die Macht und gibt die Krone an Chilperich zurück, statt über die Franken zu herrschen, setzt er sich ein anderes Ziel: Er will das zerstörte Lutetia wieder aufbauen. Die neue Stadt wird mit einem großen Turnier gefeiert, an dem die besten Ritter der Welt teilnehmen, darunter auch die junge Generation, z. B. Lancelot. Auch alle wichtigen Herrscher sind anwesend, neben etlichen

|| 9 Geoffrey of Monmouth, The history of the Kings of Britain, an edition and translation of De gestis Britonum (Historia regum Britanniae), hrsg. von Michael D. Reeve, übers. von Neil Wright, Woodbridge 2007, Liber IX, Z. 250–305 (206–209). 10 Chilperich I. herrschte in der Realität von 561–584 über Neustrien.

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Königen auch der römische Kaiser, Anastasius.11 Dieses Turnier wird sehr ausführlich beschrieben, den Sieg trägt Tristan davon. Artus schlägt am Ende der großen Feierlichkeiten vor, dass die neu aufgebaute Stadt den Namen ihres Erbauers tragen solle: so wie Rom nach Romulus benannt sei, so solle das wiederaufgebaute frühere Lutetia den Namen des neuen Erbauers bekommen: Paris (Bd. 2, 212). Die Namensgebung wird ausführlich diskutiert und, nachdem alle Anwesenden zugestimmt haben, beglaubigt (212f.). Artus spielt also in Jeans d’Outremeuse Version eine bedeutende Rolle für die merowingische Geschichte und die Stadt Paris. Nach dieser Umdeutung des Gallienfeldzugs kehrt die Erzählung zu König Artus als König der Briten zurück. Nun, nachdem die umliegenden Länder erobert sind, nachdem die Ordnung im Frankenreich wieder hergestellt ist, setzt sich Artus ein höheres Ziel: Er will den christlichen Glauben verteidigen. Im Jahr 510 zieht er zunächst zusammen mit den Rittern der Tafelrunde gegen die Vandalen in Nordafrika, die er schnell besiegt. Er lässt Kirchen bauen, dann geht er weiter ins Heilige Land, wo er die Syrer unterwirft und Antiocha einnimmt. Die nächste Etappe ist Jerusalem: [...] et dest que cest citeit ne devoit mie estre governée par les Sarasiens, mais par les cristiens, et li digne sepulcre ne devoit mie estre gardeis par les mescreans. Et fut ladit citeit assegiet l’an Vc et XII, en mois d’avrilh (Bd. 2, 214). So belagerte Artus die Stadt Jerusalem und er sagte, dass diese Stadt nicht von Sarazenen, sondern von Christen regiert werden müsse, und das Heilige Grab nicht Ungläubigen gehören dürfe. Und diese Stadt wurde im Jahr 512, im April, belagert.

Die Belagerung dauert, und Jean d’Outremeuse nutzt die Gelegenheit, die anderen Vorkommnisse des Jahres zu berichten: ein großes Erdbeben in Asien (am 25. Juli) und die üblen Taten der Königin Fredegunde, die Chilperichs legitime Söhne ermordete. Jerusalem fällt im Jahr 514 und wird eine christliche Stadt. Artus macht sich auf den Heimweg, wird dabei von einer Übermacht Ägypter angegriffen, die er aber dank seiner mutigen Ritter und mit Gottes Hilfe besiegt (Bd. 2, 215). Der ganze Feldzug wird sehr knapp erzählt und nicht weiter ausgeschmückt, die Episode erweckt eher den Eindruck, als wolle Jean d’Outremeuse das Bild des christlichen Königs Artus durch diesen ›Kreuzzug‹ vervollständigen. Zurück in Europa, wird Artus vom römischen Kaiser Anastasius angegriffen, der ihm die Einnahme Syriens neidet. Artus kommt mit seinem Heer bis vor die

|| 11 Anastasius herrschte von 491–518 und erkannte Chlodwig und Sigismund als Regenten Galliens an.

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Tore von Rom. Der Friedensschluss mit Anastasius’ Nachfolger Justinian beendet diesen Krieg. Der Bericht wendet sich dann wieder den Merowingern und der weiteren europäischen Geschichte zu, bis ein Turnier am Artushof im Jahr 539 Anlass gibt, an den Hof zurückzukehren. Tristan nimmt inkognito an dem Turnier teil, er siegt, wird aber am Ende von Gawain und 40 Rittern angegriffen. Er kann sich retten, aber er erklärt nun dem Artushof den Krieg (Bd. 2, 236). Alle Ritter stellen sich auf die Seite Tristans, so dass schließlich Gawain zu Tristan gehen muss, der ihm verzeiht (237). Ein weiteres Turnier im Jahr 541 bildet den Auftakt zur Erzählung über den Tod Tristans, Jeans d’Outremeuse bevorzugten Helden der Artuszeit, der von König Marke getötet wird: Si y fut ly bons roy Tristant, qui morut en cel an meisme mult crueusement, et le fist morir son oncle March de Cornualhe, frere à sa mere, portant qu’ilh estoit jalos de li et de la royne Yseut sa femme. Et morut la royne Yseut awec Tristant, si furen mis en unc sepulcre, dont ses armes et son espée furent apres sa mort portée en la court le roy Artus (Bd. 2, 241). Auch der gute König Tristan war [beim Turnier], der in eben diesem Jahr grausam starb, und sein Onkel Marke ließ ihn umbringen, der Bruder seiner Mutter, weil er eifersüchtig war auf Tristan und seine Frau. Und die Königin Isolde starb mit Tristan, sie wurden zusam12 men in ein Grab gelegt. Sein Wappen und sein Schwert wurden an den Artushof gebracht.

Dort wird Tristan betrauert, der ganze Hof trägt schwarz: ein Brauch, den der Artushof damit einsetzt.13 Die Totenfeier wird ausführlich geschildert. Dann ziehen mehrere Ritter aus und nehmen König Marke gefangen, Lancelot rächt den Freund und schlägt Marke den Kopf ab. Dessen unehelicher Sohn erhebt Klage beim römischen Kaiser, dieser fordert Artus heraus (Bd. 2, 242). Hier kehrt Jeans d’Outremeuse Erzählung zur Version Geoffreys zurück, wie schon der Gallienfeldzug wird nun auch die Provokation durch Rom umgedeutet. Hier löst der Tod Tristans den großen römischen Krieg aus, der zum Untergang des Artusreichs führen wird, aber das ist nicht die einzige Änderung. Der Krieg ist hart, viele Helden sterben, unter ihnen Yvain und Perceval, aber es gelingt Artus, bis nach Rom vorzudringen und den Kaiser in die Flucht zu schlagen. Die Römer sind daraufhin

|| 12 Im weiteren Verlauf wird klar, dass dazu auch die Throninsignien zählen. 13 »[Tristan] fut ploreis XL jours par le roy Artus et ses chevaliers de la Tauble Reonde, et fisent tous noires cottes, chapirons et manteais que ilh portarent XL jours, et chu furent les promiers noires vestimens que onques fussent fais par tout le monde« (Bd. 2, 241: »Tristan wurde 40 Tage lang von König Artus und seinen Rittern von der Tafelrunde beweint, und sie ließen schwarze Cotten, Chaperons und Mäntel machen, die sie 40 Tage lang trugen, und dies waren die ersten schwarzen Kleidungsstücke, die jemals auf der ganzen Welt gemacht wurden«).

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überzeugt, dass es keinen besseren Herrscher als Artus gebe, und wählen ihn zum römischen Kaiser: Adont montat li roy Artus sour mere, et assiegat Romme; et les Romans orent entre eaux teils conselhe, et desent que ly roy Artus estoit bien digne d’eistre emperere de Romme, car chu estoit li miedre chevalier de monde. Adont les Romans ovrirent leurs portes, et vinrent al roy Artus et le rechurent à saignour, et ly roy Artus l’otriat (Bd. 2, 243). Da [nach der Flucht des Kaisers] fuhr Artus aufs Meer und belagerte Rom; und die Römer hielten Rat und sagten, dass der König Artus wahrhaft würdig sei, Kaiser von Rom zu sein, denn er war der beste Ritter der Welt. Da öffneten die Römer die Tore und verlangten ihn zum Herren, und König Artus akzeptierte es.

Aber drei Tage nach der Krönung kommt die Nachricht vom Verrat Mordrets, und die Geschichte nimmt auch im Myreur den bekannten Verlauf. Allerdings ist das Ende noch blutiger als in der Mort le roi Artu: Lancelot köpft die Königin und sperrt sie zusammen mit dem noch lebenden Mordret in eine Kiste. Dann regelt er die Nachfolge im Reich und zieht sich in die Einsiedelei zurück. Die Präsenz der arthurischen Welt endet freilich nicht mit dem Untergang des Reiches. Lancelot, der seinen König, wie in Mort le roi Artu, in seiner Einsiedelei überlebt, muss im hohen Alter von 177 Jahren fliehen, als die Sarazenen Cornwall überfallen. Er geht an den merowingischen Hof, an dem sich neben König Theuderich auch Pippin der Ältere aufhält (Bd. 3, 357f.).14 Lancelot erzählt ihnen die großen Taten von König Artus und insbesondere von Tristan. Einige Generationen später vertreibt sich dann Karl der Große die Zeit mit Lektüren der Artusgeschichte und offenbar v. a. des Prosa-Tristan. Seine Lieblingshelden sind Tristan und Palamedes, eine Vorliebe, die er mit Jean d’Outremeuse teilt.15 Am Ende seines Lebens will Karl sogar eine Tafelrunde nach Artus’ Vorbild einrichten, seine Ritter sind allerdings dagegen (Bd. 3, 376).

|| 14 Jean d’Outremeuse datiert diese Begegnung auf das Jahr 667. Die Daten stimmen nicht mit der realen Geschichte überein, Theuderich II., König von Burgund, war zwar Zeitgenosse Pippins, er starb aber bereits 613, Pippin 640. 15 »[Charlemagne] se desduisat à lire et oiir anchienez histoires [...] et les giestez de Troie et del roy Artus; et disoit qu’ilh prosoit plus le fait Tristant et Palemedes que touz les chevaliers altres de la Table-ronde; et prisoit trop plus Tristant que Palemedes convertement, car disoit que Palamedes asoit li mieldres chevaliers du temps Artus, fors que Tristant, qui tout passoit« (Bd. 4, 2: »Karl der Große liebte es, alte Geschichten zu lesen und zu hören [...] und die Geschichten von Troja und des Königs Artus; und er sagte, dass er die Taten Tristans und Palamedes’ mehr schätze als die aller anderen Tafelritter, und im Stillen schätzte er Tristan höher ein als Palamedes, denn er sagte, Palamades sei der beste Ritter der Artuszeit mit Ausnahme Tristans, der alle übertreffe«).

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Jeans d’Outremeuse bevorzugter Held der karolingischen Zeit ist Ogier der Däne, den er bereits ganz zu Beginn der Artusgeschichte eingeführt hat. Nun kommt er mit Ogier wieder auf König Artus zurück. Ogier ist mit einer Angelsächsin verheiratet und reist mit seiner Frau nach England. Dort erzählt ihm der Hofnarr des amtierenden englischen Königs die Geschichten von Tristan, und Ogier unternimmt eine Besichtigungstour zu den Erinnerungsorten des Artusreichs: Er sieht die Table Ronde, die Schlösser in Camelot und Carlion und die Gräber verschiedener Artusritter (Bd. 4, 20f.). Im hohen Alter zieht Ogier noch einmal gegen die Sarazenen aus, auf der Rückfahrt kommt er in ein heftiges Unwetter und erleidet Schiffbruch.16 Zwei Engel retten ihn und tragen ihn samt Pferd auf eine nahegelegene Insel. Sie kündigen ihm harte Proben an, an deren Ende er im Château Plaisans, im ›Angenehmen Schloss‹, aufgenommen werde; Gott werde ihm beistehen. Tatsächlich wird Ogier von allerlei wilden und fantastischen Tieren angegriffen. Während des Kampfes wird er von einem der Tiere angesprochen und erfährt, dass die Tiere die Seelen von Verstorbenen sind, die im Leben gesündigt haben. Ogier befindet sich also in einer Art Purgatorium (Bd. 4, 47–51). Im Zuge der Kampfbeschreibungen nennt der Erzähler auch den Namen der Insel. Ogier ist auf Avalon, das man, so Jean d’Outremeuse, nur mithilfe Gottes oder Morgaines findet. Der Kampflärm lockt die Bewohner des Schlosses an, Artus und Gawain kommen in voller Rüstung. Ogier greift sie sofort an, und es kommt zu einem harten und langen Kampf. Ogier ist der bessere Ritter, aber Artus und Gawain sind unverwundbar. Schließlich greift Oberon ein und informiert seine Mutter Morgaine darüber, dass der unbekannte Ritter Ogier sei, der Erwählte Gottes, der nach Gottes Willen in Château Plaisans leben solle. Morgaine beendet den Kampf. Mit langen Lobreden auf alle Beteiligten und einer Ausführung zur Magie schließt Jean d’Outremeuse die Artusgeschichte. Ein letztes Mal kehrt die Chronik nach Avalon zurück, als Gott Ogier nach Frankreich ruft, um Philippe Auguste gegen die Sarazenen zu helfen.17 Morgaine tritt hier als Beauftragte Gottes auf, die Ogier nach Frankreich bringt und ihn nach der Schlacht wieder zurück nach Avalon holt (Bd. 5, 124–138). || 16 In Jeans d’Outremeuse Vorlage, dem Roman d’Ogier aus dem frühen 14. Jh., gerät Ogier in ein Magnetmeer und trifft auf Vogelmenschen, eine Episode, die offensichtlich mit der entsprechenden Erzählung im Herzog Ernst verwandt ist. Der Roman d’Ogier ist in zwei Fassungen erhalten, aber nicht ediert, vgl. dazu Knud Togeby, Ogier le Danois dans les littératures européennes, Munksgaard 1969, 134–155. 17 Das bei Jean d’Outremeuse geschilderte Szenario eines großen sarazenischen Heeres ist frei erfunden. Er doppelt damit die innereuropäischen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Schlacht von Bouvines (27. Juli 1214).

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Die Artusgeschichte spielt so eine wichtige Rolle in Jeans d’Outremeuse Chronik, er erzählt sie von Artus’ Kindheit bis zu dessen Aufenthalt in Avalon in der Karolingerzeit.18 In Jahren gerechnet sind das über 400 Jahre, von 493 bis 896, rechnet man Ogiers Rückkehr nach dem letzten Kampf dazu, dauert sie bis 1214, also über 700 Jahre. Jean d’Outremeuse bietet der matière de Bretagne viel Raum und fügt sie sehr überlegt in seine große Weltchronik ein. Bei der Geschichte des Königs beschränkt er sich zunächst auf Ereignisse, die ihren Platz in einem historischen Bericht haben. Er geht kurz auf die Genealogie ein und zeigt dann einen König, der viel erobert und überall für Ordnung sorgt. Artus’ Aktionsradius ist weit größer als bei Geoffrey of Monmouth, er kämpft gegen den persischen Kaiser, gegen die Merowinger und gegen die Heiden im Orient. Als König stellt er die Ordnung wieder her: In Frankreich verhilft er dem rechtmäßigen Erben zum Thron, im Orient setzt er wieder christliche Regierungen in den heiligen Stätten ein, insbesondere in Jerusalem. In den Friedenszeiten, die es auch bei Geoffrey gibt, ist Artus mit großen Turnieren präsent. Die großen Rittertaten der Tafelritter bleiben ausgespart, die Liebesgeschichten zwischen Tristan und Isolde sowie Lancelot und Guenievre werden erwähnt, aber nicht narrativ entfaltet. Die großen Kriegszüge des Königs werden umgedeutet. Der Krieg gegen die Sachsen verschafft dem Freund Paris ein Königreich, der Kriegszug gegen Gallien wird zum Kampf um die merowingische Königskrone. Der letzte Krieg gegen Rom ist dagegen durch eine individuelle Rache motiviert – Lancelot tötet Marke, um Tristan zu rächen –, die den politischen Grund bei Geoffrey ersetzt. Dieser Krieg verschafft Artus die höchste Ehre, römischer Kaiser zu werden, bevor das Artusreich durch Mordrets Verrat untergeht. Jean d’Outremeuse respektiert also in groben Zügen die ›historischen‹ Fakten, bereichert sie aber mit Ereignissen, die alles andere als kanonisch sind (und deren Quellen nicht immer bekannt sind). Die Eroberung der Sachsen und die Eroberung Jerusalems nimmt vermutlich die entsprechenden Feldzüge im Ogier-Roman zum Vorbild.19 Auch für die nach-arthurischen Episoden gibt es nur teilweise bekannte Vorbilder, die Jean d’Outremeuse zudem umdeutet. Zunächst wird die Artusgeschichte zum Exempel: Mit dieser Intention erzählt sie der alte Lancelot Pippin und Theuderich, mit dieser Intention liest sie auch Karl der Große.

|| 18 Dort wird er, so informiert ein Engel, noch 400 Jahre bleiben (Bd. 5, 137). 19 Siehe dazu oben Anm. 16.

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Schließlich dient sie der Apotheose Ogiers von Dänemark, Jeans d’Outremeuse größtem Helden, der zu spät geboren wurde, um sich mit König Artus und Gawain zu messen. Durch Gottes Hilfe gelangt Ogier nach Avalon, kann gegen den König kämpfen und sich als bester Ritter aller Zeiten ausweisen. Die Erzählung des Myreur zeichnet ein spezifisches Merkmal aus: die Konzentration auf einen Helden, der nicht der König ist. Für die Artuserzählung (im weiten Sinne) sind dies Paris für die Merowinger und Tristan für die Artuswelt, für die Karolingerzeit ist es Ogier le Danois. Diese Helden sind es, die Jean d’Outremeuse die Verbindung der verschiedenen politischen Welten und der verschiedenen Epochen ermöglichen und so die Kohärenz der Erzählung erleichtern. Neben diesen Helden ist König Artus eher ein ambivalenter Heros: Zwar ist er durchaus der große König, und Jean d’Outremeuse schreibt ihm noch weit größere Erfolge zu als die Artusgeschichte selbst. Aber neben seinen Lieblingshelden, Paris, Tristan und Ogier, kommt die Größe des Königs nicht recht zur Geltung. Genau darin würde ich den wahren Grund Jeans d’Outremeuse sehen, seine Rechtfertigung der Artusgeschichte. Natürlich erzählt er sie, weil sie Teil der europäischen Geschichte ist.20 Aber letztlich dient sie v. a. dazu, seine wahren Helden in ein leuchtendes Licht zu stellen, die Helden, die besser sind als der große König. Eine Chronik, das dürfte durch die Darstellung der Artusgeschichte deutlich geworden sein, ist im Verständnis von Jean d’Outremeuse zuerst eine unterhaltsame Erzählung über vergangene Dinge, die durch Quellenverweise und genaue, eher hypergenaue Datierungen eine historiographische Anmutung erhält. Er thematisiert dabei immer wieder, dass manche seiner Geschichten unwahrscheinlich klingen, und stellt es ins Belieben des Lesers, ihnen Glauben zu schenken oder nicht. Für ihn selber ist die Allmacht Gottes Beglaubigung genug.21 Seine

|| 20 Wenngleich er eigentlich angekündigt hatte, sie nur knapp berichten zu wollen: »Et portant que les histoirs de ches pays dont je parolle sont mult belles et sont longes, elles sont par elles acopulecz, sique chis present croniques n'en fuit nient si expresse mention, et oussi ilh ne fait de pluseurs altres qui sont acopuleez par elles« (Bd. 2, 188: »Und weil die Geschichten dieser Länder, von denen ich rede [Britannien und Logres], sehr schön und lang sind, sind sie für sich zusammengestellt, deshalb erwähnt sie diese Chronik nicht ausführlich, und dies gilt auch für andere [Geschichten], die für sich zusammengestellt sind«). 21 »Forte chouse est à croire chu que j’ai dit; et se n’astoit chu que Dies est touz poisans et parfais, si puet faire ancors plus grande s’ilh li plaisoit, tant com emmi le creroy à mesaise; car qui veut, ilh le croit, qui ne vuet, non; mais qui me trait à croire, est chu que j’ay dit de Dieu, et que il ne font riens qu’ilh ne fachent en nom de Dieu le Peire, Filh et Saint-Esprit« (Bd. 4, 58: »Es ist schwer, das zu glauben, was ich gesagt habe; und wenn nicht Gott allmächtig und perfekt wäre und dass er noch mehr machen könnte, wenn es ihm gefiele, dann würde ich es selber kaum

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Version der Artusgeschichte fügt sich in das große Geflecht von Geschichten ein, er bereichert die historiographische und literarische Überlieferung mit zahlreichen Episoden, um König Artus nach seinen Bedürfnissen zu gestalten und ihm einen wohlkalkulierten Platz in der Lütticher Chronik zu geben, denn Ogier le Danois – darauf kann hier allerdings nicht näher eingegangen werden – ist der große Held der Lütticher Geschichte.

|| glauben; denn wer mag, der glaube es, und wer nicht, der nicht; was mich dazu bringt, es zu glauben, ist das, was ich über Gott gesagt habe und dass sie [Morgaine und die anderen Bewohner von Avalon] nichts machen, dass sie nicht im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes tun«).

Titus Knäpper

Arthurische Erzähltradition in den Fassungen der Virginal Zur Intergenerik aventürehafter Dietrichepik Abstract: There can be no doubt that many narratives within the epic cycle of Dietrich von Bern are strongly influenced by Arthurian romance. Nevertheless, it is still unclear how and to what extent individual texts within this group (socalled ›aventürehafte Dietrichepik‹) are based on the early Arthurian romances; compared with the latter, the Dietrich texts are underresearched. This article shows how the authors of the three versions of the Virginal handled their Arthurian model in very different ways.

Ihrer heutigen doch eher marginalen Bekanntheit zum Trotz, erfreuten sich Erzählungen über Dietrich von Bern im hohen wie späten Mittelalter enormer Beliebtheit. Die Dichtungen über die Aventüren des Vogts von Verona standen aufgrund ihrer Popularität im späten Mittelalter in direktem Konkurrenzverhältnis zu den ebenfalls breit rezipierten Artusromanen. Dass sich Hörer wie Leser für derlei Erzählungen geradezu begeisterten, veranschaulichen insbesondere die zahlreichen Kritiken geistlicher Gelehrter, die vor dem Genuss dieser allzu weltlichen Literatur warnen. So beschuldigt bereits der Bamberger Domschulmeister Meinhard in einem Brief seinen Bischof Günter von Bamberg, den Auftraggeber des Ezzoliedes, sich statt Augustin- und Gregor-Texten lieber »semper Attalam, semper Analungum et cetera iste genus«,1 also Dietrich- bzw. Nibelungendichtungen, vortragen zu lassen. Noch Johann Geiler von Kaysersberg (1445– 1510) behauptet, wenn man überhaupt noch Theologiestudenten finde, so »disputieren sye von herr Dietrich von Bern, nihil de praeceptis domini«.2 Nicht

|| 1 Zitierte Ausgabe: Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV., hrsg. von Carl Erdmann und Norbert Fickermann, München 1950 (MGH, Briefe der deutschen Kaiserzeit 5), 120f. Vgl. dazu Otto Gschwantler, »Heldensage als Tragoedia. Zu einem Brief des Domschulmeisters Meinhard an Bischof Gunther von Bamberg«, in: Klaus Zatloukal (Hrsg.), 2. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Die Historische Dietrichepik, Wien 1992, 39–67. 2 Zitiert in: Hellmut Rosenfeld, Art. »Dietrichdichtung«, in: RGA, Bd. 5, 430–442, hier: 431.

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minder beliebt waren Erzählungen über Artus und die Ritter der Tafelrunde, deren Inhalte Novizen begeisterten und zu Tränen rührten, wie Aelred von Rievaulx berichtet: »Nam et in fabulis, quae vulgo de nescio quo finguntur Arcturo, memini me nonnumquam usque ad effusionem lacrymarum fuisse permotum«.3 Das Interesse des Mittelalters an Artus wie Dietrich erreicht schließlich mit den Bemühungen Kaiser Maximilians I., beide Figuren in die eigene Ahnenreihe zu integrieren, seinen vorläufigen Höhepunkt. Gerade wegen der Beliebtheit beider Stoffe überrascht es wenig, dass zahlreiche Motive der Artusepik auf verschiedenste Art und Weise in Dietrichepen integriert wurden. Dies erfolgte natürlich auch umgekehrt, doch nur die Dietrichepik vermochte es, innerhalb eines Erzählstoffes arthurische Ideale zu übernehmen, um sie in der nächsten Version der Erzählung wieder ins Negative zu verkehren. Unter anderem entstand dadurch eine Fassungsvielfalt von Texten eines Stoffes, die die Forschung bis heute beschäftigt. Während sich zahlreiche Texte der Dietrichepik gegen höfisch-arthurische Ideale wie etwa den Minnedienst oder das Prinzip der Aventüre richteten, entstanden weitere Fassungen derselben Texte, die arthurisches Erzählmaterial wiederum in ein positives Licht rückten. Aufgrund dieser ›widersprüchlichen‹ Auseinandersetzung stehen die Texte beider Gattungen in einer einzigartigen und auffallend engen Relation zueinander: In der Typik ihrer Erzählschablonen ist die aventiurehafte Dietrichepik nah verwandt mit der Artusepik [...]. Inwieweit sich die Übereinstimmungen aus direktem Einfluß der Artus4 epik auf den Dietrichstoff erklären, ist nicht mehr festzustellen [...].

Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Verschiedenartigkeit der Versionen der Virginal aus ihrem jeweils unterschiedlichen Verhältnis zur Artusliteratur zu erklären.5 Die sich in ›(un-)markierten‹ Motivreferenzen spiegelnden divergenten

|| 3 Aelred von Rievaulx, Speculum Charitatis II, 17 (PL 195, 595). 4 Joachim Heinzle, »Dietrich von Bern«, in: Ulrich Müller (Hrsg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984, 141–155, hier: 151. 5 Diesbezüglich werden explizit markierte Gattungsinterferenzen ebenso herangezogen wie nicht markierte, auf die Gattung Artusroman verweisende Textbezüge. Es gilt an dieser Stelle mit Klaus Ridder zu betonen, dass »Bezugnahmen eines Textes auf einen gattungsspezifischen, strukturellen oder episodisch-motivlichen Zusammenhang [...] nicht in jedem Falle vom Autor – bewußt – markiert [sind]«; Klaus Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion und literarische Tradition im späthöfischen Roman. ›Reinfried von Braunschweig‹, ›Wilhelm von Österreich‹, ›Friedrich von Schwaben‹, Berlin, New York 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 12), 39. Bei Fällen, in denen Interferenzen nicht markiert sind, können sie durchaus intendiert sein. Es ist einem Autor möglich, in sein Werk bewusst eine unmarkierte Referenz auf einen Text oder einer Textsorte zu integrieren, wenn der Text, auf den er

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Bewertungen der Artusliteratur haben Einfluss auf das produktionsästhetische Wirken der Verfasser. Eben dieser unterschiedliche Umgang mit Prätexten, »die Kreuzung verschiedener Erzählmodelle«,6 erschwert es, die Gattung ›Dietrichepik‹ als solche zu fassen. Erzähltechnisch wie stofflich bedienen sich die überlieferten Dietrichepen bei anderen Gattungen.7 Gattungsmerkmale der Heldenepik sollten daher nicht kontrastiv zum höfischen Roman gesehen werden,8 sondern der Grad intergenerischer Referenzen auf den höfischen, im Speziellen den Artusroman, muss als gattungskonstituierendes Merkmal der Dietrichdichtungen herangezogen werden. Aufgrund des großen, durch explizit markierte Interferenzen nachweisbaren Einflusses der Artusromane auf die Dietrichepik, der zweifelsohne zu einer Überformung der heroischen Stoffe führte, können erstere problemlos als Prätexte herangezogen werden. So lässt sich in Hinblick auf die Dietrichdichtungen des Mittelalters zu Recht festhalten, dass »die Auseinandersetzung mit dem höfischen Roman [...] zum Motor der Entwicklung der Gattung geworden«9 ist. Gleichzeitig gilt es zu berücksichtigen, dass der Einfluss der Einzeltexte aufeinander zwar von der Artusepik dominiert, aber dennoch wechselseitig ist. Nicht allein die späten Artusromane verweisen auf Heldenepisches, auch Wolfram bezieht sich z. B. im Kingrimursel-Liddamus-Dialog des Parzival explizit auf die Dietrichepik.10 Unsicher bleibt diesbezüglich aber, ob die Erzählungen über den Vogt von Verona schon zu Beginn des 13. Jh. in schriftlicher Form vorlagen.

|| sich bezieht, im kulturellen Gedächtnis der Zeit präsent und abrufbar, also allgemein bekannt ist. Dies kann sowohl auf erzähltechnischer als auch auf struktureller Ebene geschehen, wenn z. B. auf ein für andere Gattungen typisches Erzählschema oder etwa eine bestimmte Figurenkonstellation bewusst rekurriert wird. 6 Manfred Kern, »Das Erzählen findet immer einen Weg. Degeneration als Überlebensstrategie der x-haften Dietrichepik«, in: Klaus Zatloukal (Hrsg.), 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik, Wien 2000, 89–113, hier: 104. 7 Anders als Lienert sehe ich nicht, dass mittelhochdeutsche Heldenepen sich lediglich bezüglich der »Techniken des Erzählens bei anderen [...] Gattungen« bedienen und sich »stofflich in der eigenen Tradition ihrer selbst« vergewissern; Elisabeth Lienert, »Intertextualität in der Heldendichtung. Zu Nibelungenlied und Klage«, Wolfram-Studien 15 (1998), 276–298, hier: 295. Zur Gattungsfrage vgl. Fritz Peter Knapp, »Gattungstheoretische Überlegungen zur sogenannten märchenhaften Dietrichepik«, in: Klaus Zatloukal (Hrsg.), 5. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik, Wien 2000, 115–130. 8 Vgl. Lydia Miklautsch, Montierte Texte – hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen, Berlin, New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 36). 9 Heinzle (wie Anm. 4), 151. 10 Vgl. George Gillespie, »Wolframs Beziehung zur Heldendichtung«, in: Kurt Gärtner, Joachim Heinzle (Hrsg.), Studien zu Wolfram von Eschenbach. FS Werner Schröder, Tübingen 1989, 67–74, hier: 69f.

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Indem sich Dietrichepen mit Texten der eigenen Gattung ebenso auseinandersetzen wie mit Texten der Artusepik, greifen sie auf bereits literarisch verfügbare Erzählelemente, Handlungsschemata und Motivgestaltungen zurück; sie werden zur »Dichtung über Heldendichtung«.11 Ein Text, der sich aufgrund seiner strukturellen Offenheit12 und der inhaltlichen Varianz der Fassungen besonders für eine solche Untersuchung eignet, ist die sogenannte Virginal. Die Virginal, auch als Dietrichs erste Ausfahrt, Dietrich und seine Gesellen oder Dietrichs Drachenkämpfe tituliert, ist in drei vollständigen Handschriften aus dem 15. Jh.  Heidelberger Virginal (V10 bzw. Virginal h), Dresdner Virginal (V11) und Wiener Virginal (V12)13 , die drei selbständige Versionen beinhalten, und zehn Fragmenten überliefert.14 Die Forschung des 19. Jh. konzentrierte sich darauf, eine Urfassung der Virginal zu rekonstruieren.15 Eine ursprüngliche Fassung ist wohl um 1300 entstanden, aber nicht überliefert.16 Die vollständigen Textzeugnisse weichen inhaltlich zum Teil stark voneinander ab. Die umfangreichste Fassung liefert die Heidelberger Virginal (1097 Strophen), auf die sich die meisten Fragmente beziehen. Die Dresdner Virginal liefert

|| 11 Michael Curschmann, »Dichtung über Heldendichtung. Bemerkungen zur Dietrichepik des 13. Jahrhunderts«, in: Leonard Forster, Hans-Gert Roloff (Hrsg.), Akten des 5. Internationalen Germanisten-Kongresses Cambridge 1975, Bern u. a. 1976 (Jahrbuch für internationale Germanistik A, II, 5/4), 17–21. 12 Grundlegend dazu Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, München 1978 (MTU 62), hier: 233–244. 13 Verwendete Ausgaben: Heidelberger Virginal (V10): Virginal, hrsg. von Julius Zupitza, Berlin 1870 (Deutsches Heldenbuch 5), Nachdruck Hildesheim 1968, 1–200; Dresdner Virginal (V11): Dietrich und seine Gesellen, hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen und Alois Primisser, in: Der Helden Buch in der Ursprache, 2. Theil, Berlin 1825 (Deutsche Gedichte des Mittelalters, Teil II/2), 143–159; Wiener Virginal (V12): Dietrichs erste Ausfahrt, hrsg. von Franz Stark, Stuttgart 1860 (BLV 52). 14 Zur Überlieferung der Virginal vgl. Ernst Schmidt, Zur Entstehungsgeschichte und Verfasserfrage der ›Virginal‹, Prag 1906 (Prager Deutsche Studien 2), sowie Joachim Heinzle, Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin, New York 1999, 135f. 15 Den Fragen zur Entstehungsgeschichte und Rekonstruktion einer Urfassung der Virginal, die den heutigen wissenschaftlichen Methoden zum Teil nicht mehr gerecht werden und den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, widmen sich: Wilhelm Wilmanns, »Über Virginal, Dietrich und seine Gesellen, und Dietrichs erste Ausfahrt«, ZfdA 15 (1872), 294–309; Justus Lunzer, »Über Dietrichs erste Ausfahrt«, ZfdA 43 (1899), 193–257; Carl von Kraus, »Virginal und Dietrichs Ausfahrt«, ZfdA 50 (1908), 1–123; Hugo Kuhn, »Virginal«, PBB 71 (1949), 331–386. 16 Vgl. Joachim Heinzle, Art. »Virginal«, in: 2VL, Bd. 10, 385–388.

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eine starke Reduktion des Stoffs.17 Sie kennt die Gefangennahme Dietrichs in Muter nicht, stattdessen ergänzt sie Kämpfe Dietrichs gegen Libertin, Janapas, einen Eber und einen Riesen sowie die Hochzeit des Protagonisten mit der Zwergenkönigin. Die Wiener Virginal (866 Strophen) wiederum verbindet V10 und V11 miteinander, indem sie die Muter-Episode ebenso kennt wie die Janapas- und LibertinEpisode: Inhaltlich nimmt die Heidelberger Virginal eine Sonderstellung unter den drei Versionen ein. Nur hier wird zusammenhängend von der Gefangenschaft Dietrichs auf der Burg Muter und von dem Loyalitätskonflikt erzählt, der um Dietrichs Behandlung zwischen dem Burg18 herrn und seinen Riesen entbrennt [...].

Der Beginn der Heidelberger Virginal erscheint zunächst wenig arthurisch. Die Handlung beginnt nicht etwa mit einem umfangreichen Prolog, der Darstellung der enfance des Helden oder der Erörterung von dessen genealogischer Abstammung, sondern mit einer Vorstellung des Antagonisten.19 Diese offenbart bereits die erste Inkonsequenz des Textes: Ein zwölfjähriger Heide tyrannisiert ›seit Jahren‹ das Reich der Königin.20 Es werden zahlreiche weitere Textstellen folgen, die die ältere Forschung dazu veranlassten, von einer »stümperei, wie sie ärger nicht gedacht werden kann«,21 zu sprechen. Erst im Anschluss an die Darstellung Orkises22 wird das Augenmerk auf den eigentlichen Protagonisten gelenkt.

|| 17 Die Vorlage von V11 besaß offensichtlich 408 Strophen: »des alten vir hundert vnd echte ist; / dis hie hundert vnd dreissigke sein: / so vil vnnützer wort man list« (130, 11–13). Sie ist nicht überliefert. 18 Uta Störmer-Caysa, »Die Architektur eines Vorlesebuches. Über Boten, Briefe und Zusammenfassungen in der Heidelberger Virginal«, ZfG 12 (2002), 7–24, hier: 7. Insofern die Abweichungen der Dresdner und Wiener Fassung von Relevanz für diese Untersuchung sind, werden sie zusätzlich herangezogen. Die Berücksichtigung sämtlicher Abweichungen von V10 ist zu diesem Zweck jedoch nicht erforderlich. 19 Die Erzählperspektive der aventürehaften Dietrichepen richtet sich zu Beginn der Erzählungen häufig auf den Antagonisten, so u. a. im Eckenlied und im Rosengarten zu Worms. 20 In V11 und V12 ist Orkise bereits achtzehn Jahre alt. Zudem wird die Bedrohung der Christenheit in die Zeit einer vorherigen Generation gerückt, da schon der Vater des Heiden »manig cristenlant« (V12, 1, 9) verwüstete. 21 Kraus (wie Anm. 15), 16. Zu den Inkonsequenzen des Texts zuletzt Störmer-Caysa (wie Anm. 18), 13, hier v. a. Anm. 19. 22 V11 und V12 verwenden zum Teil andere bzw. entstellte Namen. Zudem nennen sie etwa den Vater Orkises Terivas/Teriufas, den V10 nicht kennt. Wie Heinzle (wie Anm. 12), 36, orientiere auch ich mich der Einfachheit halber an den normalisierten Formen von V10.

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Inhalt nach V10: Der junge Dietrich von Bern befindet sich am Hof von Hildebrand. Dort wird Dietrich während eines Mahls von anwesenden Damen gebeten, von Aventüre zu berichten. Da er jedoch nicht einmal weiß, wovon die Damen sprechen, bittet er seinen Erzieher Hildebrand um Hilfe. Dieser berichtet vom Heiden Orkise, der das Reich der Zwergenkönigin Virginal tyrannisiert. Um zu lernen, was Aventüre ist, soll Dietrich mit ihm aufbrechen, um gegen den Heiden zu kämpfen. Während Hildebrand gegen den außergewöhnlich starken Orkise kämpft, verteidigt sich Dietrich erfolgreich gegen die Vasallen des heidnischen Herrschers. Nachdem Hildebrand seinen Gegner getötet hat, kommt er Dietrich zur Hilfe. Zum Dank werden die Helden von der Königin auf ihre Residenz Jeraspunt eingeladen. Die Kommunikation zwischen der Königin, der Jungfrau und den Bernern findet fast ausschließlich über Boten statt. Auf ihrer Weiterreise befreit Hildebrand seinen Verwandten Rentwin aus dem Maul eines Drachens. Dietrich greift nur zögerlich ein. Nach kurzem Zwischenstopp auf Rentwins Burg reisen Hildebrand und Dietrich weiter. Der junge Berner reitet voraus und verirrt sich. Dem Riesen Wicram gelingt es, Dietrich hinterrücks bewusstlos zu schlagen und auf der Burg des Herzogs Nitger in Ketten zu legen. Nitger, eigentlich ein höfischer Mann, hat zu wenig Gefolgsleute, sodass er Riesen an seinen Hof geholt hat. Diese wiederum sind kaum unter Kontrolle zu halten. Ibelin, die Schwester des Herzogs, leitet einen Hilferuf des Gefangenen weiter, sodass die Berner ausrücken, um Dietrich zu befreien. In elf Reihenkämpfen werden die Riesen erschlagen. Anschließend nimmt Nitger sein Land von Dietrich zu Lehen. Auf der Weiterreise nach Jeraspunt kämpfen die Helden erneut gegen 23 Drachen und Riesen. Dort angekommen, endet die Erzählung mit einem Fest.

Mit der initialen Darstellung des tyrannischen Heiden Orkise, der mit einer Gruppe von 80 Männern das Reich der Königin Virginal bedroht und eine Jungfrau einfordert, beginnt die Handlung ›gattungskonform‹ mit einer Provokation Dietrichs. Das Motiv des heidnischen Usurpators, der eine wehrlose Jungfrau erpresst und einen jährlichen Blutzoll fordert, findet sich mit geringer Varianz bereits in der Artusdichtung, etwa in Strickers Daniel von dem blühenden Tal, im Wigamur, im Meleranz des Pleiers und im Gauriel von Muntabel Konrads von Stoffeln.24 Doch besonders die doppelte Motivation des Protagonisten, den Hof zu verlassen – verursacht durch die an die Öffentlichkeit gelangte Unkenntnis Dietrichs, der nie eine Aventüre erlebte und somit während des Mahls am Hof nichts von »vremder mære« (V10, 7, 6f.) weiß –, verweist auf arthurische Erzähltraditio-

|| 23 Eine ausführlichere Übersicht über die Handlung der aventürehaften Dietrichepen bietet Victor Millet, Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung, Berlin, New York 2008. 24 Vgl. dazu Sonja Kerth, Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung, Wiesbaden 2008 (Imagines Medii Aevi 21), 156.

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nen.25 Die Störung der Mahlzeit auf Grund fehlender Aventüreberichte ist ein klares Gattungssignal für den Artusroman – darauf hat schon Sonja Kerth verwiesen.26 So muss König Artus, um nur eines der zahlreichen Beispiele für dieses Motiv zu nennen, im Wigalois Wirnts von Grafenberg »unze wol nâch mittem tage« (V. 255) 27 auf seine Mahlzeit warten, da es seine Gewohnheit sei, sich erst dann zu Tisch zu begeben, wenn er von Aventüre gehört habe (V. 247–257). Eine ebensolche Störung des höfischen Rituals verursacht Dietrich, dessen Ausbildung und Kenntnisse sich vor den Damen als defizitär erweisen. Er kann weder von eigener Heldentat berichten, noch weiß er von der Bedrohung durch die Heiden, von der Dietrich erst durch Hildebrand erfährt (9, 7f.). Befreiungs- und Herausforderungsschema sind somit in V10 eng miteinander verknüpft. V11 dagegen verzichtet auf das Herausforderungsschema. In dieser Fassung zieht Dietrich aus, um den Heiden aus dem Land zu vertreiben. Von einer weiteren Motivation erfährt man nichts. Die Damen am Hof wissen von Dietrichs Unerfahrenheit. Sie bringen Dietrich nicht in Verlegenheit und bitten Hildebrand inständig, auf den jungen Vogt, der noch einem Kind gleiche, zu achten (V11, 5, 12–6, 1). Obwohl die Verwüstung des Reichs Dietrich zur Schande gereicht (V10, 9, 10), scheint sein Wunsch nach »ritterlîchen [...] sturmen« (10, 5f.) eher durch den Minnedienst bedingt zu sein. Zwar hat sich Dietrich nicht verlegen, doch erinnert die harsche Kritik Hildebrands durchaus an das Vergehen Erecs. Dietrich habe sich ehrlos verhalten, da er »gemaches vil gepflegen« (18, 5) habe und seinen herrscherlichen Pflichten nicht angemessen nachgekommen sei. Sein Reich – in welcher Form das Reich der Königin Virginal unter die Oberhoheit Dietrichs gehört, ist nicht bekannt – wird durch den Heiden bedroht. Tirol, dessen Umland von Orkise verwüstet wird, gehört definitiv zum Stammland Dietrichs.28 Während Hildebrand die Notwendigkeit der Landesverteidigung betont, will Dietrich am Hof

|| 25 Dass es neben Dietrich weitere Edelleute gibt, die nicht wissen, was Aventüre bedeutet, ist bereits aus dem Iwein Hartmanns von Aue bekannt. Kalogrenant übernachtet bei einem Edelmann, der äußert, »daz im nie mêre / dehein der gast wære komen / von dem er hæte vernommen / daz er âventiure suochte« (V. 374–377). Dieser Adlige befindet sich jedoch außerhalb der Artuswelt, während Dietrich sich im Zentrum der Macht befindet. Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Iwein, hrsg. und übers. von Manfred Stange, Wiesbaden 2006. 26 Vgl. Kerth (wie Anm. 24), 157. 27 Zitierte Ausgabe: Wirnt von Grafenberg, ›Wigalois‹. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übers., erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005. 28 Das Herkunftsgebiet Dietrichs ist in den deutschsprachigen Dichtungen das nördliche Italien. Nur der Wolfdietrich, das Prosaheldenbuch und die Gesta Theoderici kennen Griechenland

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von Aventüre erzählen können. Doch diese initiale Motivation wird sich im Augenblick des Kampfes in V10 in ihr Gegenteil verkehren. Nur V11 und V12 ›korrigieren‹ das anti-arthurische Verhalten Dietrichs, indem sie ihn als höfischen Ritter im Dienst adeliger Damen darstellen. Die Notwendigkeit, auf Aventüre zu reiten, resultiert in V10 folglich nur oberflächlich, in Rückbezug auf die Unwissenheit Dietrichs, aus arthurisch-ritterlicher Verhaltensnorm – also der ritterlichen Bewährung um höfischen prîs. Vielmehr wird die Pflicht der Landesverteidigung in den Vordergrund gerückt. Hildebrand erwähnt nicht einmal mehr den Heiden Orkise, sondern ganz allgemein wurme, als er über Dietrichs kommenden Aufgaben spricht (18, 6). Der junge Held hat erst einmal das ›Böse‹, versinnbildlicht durch die Drachen, zu bekämpfen, um das Land zu befreien. Dietmar Peschel-Rentsch betont dementsprechend: Die wurme stehen als Lernstoff in einem heldenepisch-erziehungsprogrammatischen Zusammenhang als Gattungsbegriff für jedwedes Ungeziefer, das in diesem Text das Aven29 tiure-Material abgibt: Heiden, Drachen und Riesen.

Dietrich muss als zukünftiger Herrscher – zu Beginn der Erzählung setzt noch Hildebrand den Stadtvogt ein (11, 10)30 – in erster Linie für pax et iustitia sorgen. Das arthurische Aventüre-Ideal, das impliziert, dass ein Held sich auch in Friedenszeiten zu bewähren hat, wird lediglich durch die nach neuen Geschichten fragenden Damen am Hof thematisiert. Es dient ausschließlich Dietrich zur Motivation, die sich bereits in der ersten Konfrontation mit dem Feind in ihr Gegenteil verkehren wird. Entgegen der Tradition des Artusromans reitet Dietrich nicht allein auf Aventüre, sondern mit seinem Lehrmeister. Dies stellt die Protagonisten der Dietrichepik vor andersartige Problemsituationen, die bereits im Rahmen der ersten Aventüre offenkundig werden.31 Denn es ist zunächst nicht Dietrich, sondern sein

|| und das oströmische Reich als Herkunftsland. Vgl. Roswitha Wisniewski, Mittelalterliche Dietrich-Dichtung, Stuttgart 1986, 25–58, hier: 34. 29 Dietmar Peschel-Rentsch, »Schwarze Pädagogik  oder Dietrichs Lernfahrt. Er weste umb âventiure niht. Hildebrants Erziehungsprogramm und seine Wirkung in der Virginal«, in: Klaus Zatloukal (Hrsg.), Pöchlarner Heldengespräch. Heldendichtung in Österreich  Österreich in der Heldendichtung, Wien 1997, 189–216, hier: 199. 30 Vgl. dazu Cordula Kropik, »Dietrich von Bern zwischen Minnelehre und Fürstenerziehung. Zur Interpretation der Virginal h«, JOWG 14 (2003/04), 159–173, hier: 166. 31 Artusritter werden im Rahmen einer Aventüre (wenn überhaupt) von einer Minnedame und Knappen begleitet, die so gut wie nie aktiv in das Kampfgeschehen eingreifen. In seltenen Fällen werden in den späten Artusromanen die Ritter der Tafelrunde von befreundeten Rittern begleitet

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Lehrmeister Hildebrand, der das Geschehen bestimmt. Der Kampf zwischen Hildebrand und dem heidnischen Anführer Orkise entspricht allerdings – davon abgesehen, dass Dietrich als eigentlicher Protagonist nur indirekt beteiligt ist – durchaus arthurischen Normen.32 Während Dietrich abseits vom Geschehen auf seinen Waffenmeister wartet, widersagt Orkise seinem Kontrahenten, dessen Ausrüstung äußerst kostbar ist, auf höfische Weise (50, 1). Nach ausgeglichener Tjost und Schwertkampf gelingt es Hildebrand, den Heiden zu erschlagen: Daz houbet er im abe swanc. er sprach ›dîn lîp nâch tôde ranc: daz kam von dînre unstæte. nu klagte ich den gemeiten lîp: dâ hazzent dich megd und wîp, den du ie leide tæte. dîn untriuwe dich ervellet hât: do genôz ich meines rehtes.‹ (66, 1–8) Er schlug ihm den Kopf ab und sagte: Du hast den Tod gesucht: Das verursachte deine Unbeständigkeit. Jetzt würde ich deinen stattlichen Körper beklagen, wenn dich nicht alle Jungfrauen und Frauen hassen würden, denen du jemals Leid zufügtest. Deine Treulosigkeit hat dich niedergerafft: Damit habe ich Gerechtigkeit erlangt.

Das Enthaupten des Gegners scheint zunächst die in den Dietrichepen gelegentlich evozierte Vorstellung einer archaisch-mythischen Vorzeit zu bedienen. Doch das Abschlagen des Haupts ist ein häufiges Motiv mittelhochdeutscher Erzählungen. Auch in Artusromanen erleiden unhöfische Gegner wie Riesen und Heiden dieses Schicksal.33 Das Motiv des Kopfabschlagens dient allerdings weder im höfischen Roman noch in den Dietrichdichtungen der Darstellung roher Brutalität,

|| – vgl. Kerth (wie Anm. 24), 162f. –, doch die Aventürefahrt eines ranghöheren, aber von seinem Untergebenen abhängigen Schülers ist ein Phänomen der Dietrichepik. 32 Zur Darstellung arthurischer Zweikämpfe vgl. v. a. Norbert Sieverding, Der ritterliche Kampf bei Hartmann und Wolfram. Seine Bewertung im ›Erec‹ und ›Iwein‹ und in den Gahmuret- und Gawan-Büchern des ›Parzival‹, Heidelberg 1985, sowie Oliver Bätz, Konfliktführung im ›Iwein‹ des Hartmann von Aue, Aachen 2003. 33 Besonders Riesen werden im Artusroman enthauptet, um Eindeutigkeit zu zeigen. Als außerhöfische Wesen verdienen sie nur in Ausnahmen Schonung, ansonsten werden sie getötet. Um jeden Zweifel am Tod der Riesen zu beseitigen – schließlich kämpfen diese nicht selten selbst mit abgetrennten Armen oder Beinen weiter –, liegt es nahe, den Sieg des Artusritters mit dem Enthaupten des Gegners zu untermauern. Vgl. dazu Ernst H. Ahrendt, Der Riese in der mittelhochdeutschen Epik, Güstrow 1923. So entfernt bzw. zerstört z. B. Erec die Köpfe der Riesen in der Cadoc-Episode (V. 5509f., 5568), Garel die des Riesen Purdan (V. 5671) und der Riesin Fidegart (V. 5777) und Gauriel die der beiden Riesen auf der Brücke (V. 2669f.). Verwendete Ausgaben:

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sondern als Topos für den unmissverständlichen Tod eines Gegners.34 Ähnliches gilt auch innerhalb der Dietrichepik, denn die Ehre Hildebrands wird dem arthurischen Ideal entsprechend mit der Hervorhebung der unstæte und untriuwe seines Widersachers aufrechterhalten. Das Erschlagen Orkises ist Hildebrands Worten entsprechend gerechtfertigt. »Schonung erweist sich nur praktikabel gegenüber einem Gegner auf der gleichen Kulturstufe.«35 Diese wird dem Kontrahenten aber wegen seiner Religionszugehörigkeit abgesprochen. Dies unterstreicht auch die Darstellung in V12. Im Rahmen des Zweikampfs bittet der Heide um Schonung, die Hildebrand allerdings aufgrund von »schimpf« und »ubermut« (176, 13) seitens des Unterlegenen nicht gewährt. Der Kampf gegen Heiden – »dein göter sein dem teüfel gleich« (170, 2) – verlangt Eindeutigkeit. Diese steht nicht im Mindesten im Gegensatz zum höfischen Ideal der Ritter der Tafelrunde, das es zwar ermöglicht, auch Heiden sicherheit zu gewähren, aber etwa in Gurnemanzʼ berühmter Schonungslehre des Wolframʼschen Parzival Widersacher ausnimmt, die dem Kontrahenten schweres Leid zufügten.36 Auf eben solches bezieht sich Hildebrand in seiner Rechtfertigungsrede, indem er den Hass der Opfer Orkises mit dem erlittenen Leid begründet. Dass man eine solche Legitimation im Rahmen von Heidenkämpfen auch aus Kreuzzugsdichtungen kennt,37 vermag

|| Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Manfred Günter Scholz, übers. von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5/Bibliothek deutscher Klassiker 188); Pleier, ›Garel von dem blüenden Tal‹. Ein höfischer Roman aus dem Artussagenkreise, hrsg. von M. Walz, Freiburg 1892; Konrad von Stoffeln, ›Gauriel von Muntabel‹. Eine höfische Erzählung aus dem 13. Jahrhunderte, hrsg. von Ferdinand Khull, Neudruck der Ausgabe 1885, Osnabrück 1969. 34 Vgl. John L. Flood, »The Severed Heads. On the Deaths of Gunther and Hagen«, in: Volker Honemann u. a. (Hrsg.), German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. FS Roy Wisbey, Tübingen 1994, 173–191, hier: 178. 35 Christoph Huber, »Ritterideologie und Gegnertötung. Überlegungen zu den Erec-Romanen Chrétiens und Hartmanns und zum Prosa-Lancelot«, in: Kurt Gärtner u. a. (Hrsg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, Tübingen 1996, 59–73, hier: 60. 36 »lât derbärme bî der vrävel sîn. / sus tuot mir râtes volge schîn. / an swem ir strîtes sicherheit / bezalt, ern hab iu sölhiu leit / getân diu herzen kumber wesn, / die nemt, und lâzet in genesn« (171, 25–30). Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 22003. Zum sicherheit geben vgl. Margrit DésillesBusch, ›Doner un don‹ – ›Sicherheit nemen‹. Zwei typische Elemente der Erzählstruktur des höfischen Romans, Berlin 1970. 37 Vgl. Maria Elisabeth Dorninger, »Die Sarazenen in den Alpen. Zum Bild der Heiden in der Virginal«, JOWG 14 (2003/04), 257–269.

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nicht davon abzulenken, dass besonders mit der Betonung ritterlicher Werte auch auf ›typisch arthurisches‹ Erzählmaterial verwiesen werden kann. Dietrich hingegen verhält sich nicht der höfisch-ritterlichen Norm entsprechend. Er fürchtet wenig heldenhaft um sein Leben, da er völlig unerfahren seinem ersten ›Ernstkampf‹ entgegen sieht. Als vier Heiden aus der Begleitung Orkises den Vogt von Bern erblicken, teilen sie bereits die Beute unter sich auf (73, 10).38 Dietrich tötet ohne größere Anstrengungen drei seiner Kontrahenten. Der vierte, schwer verwundet, warnt seinen Gegner vor weiteren Heiden. Diese besiegt der Protagonist anschließend mit Hilfe seines Lehrmeisters.39 Nach überstandenen Mühen folgt von Seiten Hildebrands eine rudimentäre Erklärung der Bedeutung von Aventüre: seht, diz sint âventiure. ir lernent dulden ungemach und hânt iu daz ze stiure daz man vil êren an iuch lât, sit iuwer hant sô hôhen prîs durch werdiu wîp ervohten hât. (110, 8–13) Seht ihr, das nennt man âventiure: Ihr lernt Unbequemlichkeit zu erdulden und habt zum Lohn, dass man euch viel Ehre zuspricht, da eure Hand so hohen Preis für ehrenvolle Damen errungen hat.

Eine ebensolche summarische Darstellung der Aventüre liefert der Artusritter Kalogrenant im Iwein Hartmanns, als er einem wundersamen Waldmann, einem »hässlichen außerhöfischen Wesen«,40 das er auf seinem »ganz dem Aventiuremuster«41 entsprechenden Ausritt antrifft, das höfische Bewährungsideal erklärt (V. 529–537). Die Aussagekraft dieser Definition von Aventüre ist in der For-

|| 38 Ein literarisch weitverbreitetes Motiv, das z. B. an den Übermut der Räuber im Erec erinnert, die ebenfalls die schon sicher geglaubte Beute noch vor dem Kampf untereinander aufteilen (V. 3334–47). Ob es sich hier um ein bewusstes Motivzitat handelt, bleibt jedoch fraglich. Ebenso bezeugt die Erwähnung des Wilden Mannes, der die Heiden warnt und ihnen den Weg weist (V10, 84), nicht explizit eine Auseinandersetzung mit Hartmanns Iwein, wo ein Wilder Mann Kalogrenant den Pfad zum Brunnen zeigt (V. 418–599). Vgl. dazu Kerth (wie Anm. 24), 169. 39 Über den Kampf selbst erfahren wir relativ wenig, da auch dieser aus der Perspektive des Waffenmeisters Hildebrand dargestellt wird. Dietrich sondert vor Zorn Feuer ab (V10, 104, 9) und agiert der ihm zugewiesenen heldenepischen Verhaltensnorm entsprechend zunächst zaghaft und schließlich wutentbrannt. 40 Bätz (wie Anm. 32), 93. 41 Christoph Cormeau, Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, München 21993, 202.

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schung umstritten, beinhaltet aber die bisher dargestellten Grundprinzipien ritterlicher Kampfesethik, obwohl sie als »zur Karikatur verkürzte[s] âventiure-Konzept«42 zentrale Aspekte unberücksichtigt lässt. Kalogrenant verweist auf die Bedeutung der Rüstung und Waffe, die Notwendigkeit, dass auch der Gegner gerüstet sei und einen Kampf bewusst suche, sowie auf das Motiv der Kampfhandlung, den prîs. Das Prinzip der Aventüre wird »auf eine äußerliche Hülle«43 reduziert und lediglich in den wesentlichen Grundzügen beschrieben. Die allgemeine Definition lässt weitere, situationsbedingte Aussagen über die Aventüre nicht zu, sodass an dieser Stelle von einem »pervertierten, weil nur formalen Begriff von âventiure«44 gesprochen werden kann. Oberflächlich bleibt die Definition nämlich in Bezug auf die Motivation, die hinter dem Verlangen nach Ehre steckt. Ob jemand mit »rîters muote« (Iwein, V. 6) oder aus Übermut, Ruhmsucht und Machtgier kämpft, bleibt gänzlich unberücksichtigt. Es spricht also viel dafür, Kâlogrenants Äußerungen ernst zu nehmen. Zieht man das Gruppenverständnis der iuvenes hinzu, dann erscheint der vordergründige prîs-Gedanke kaum mehr abwegig. Ebenso leuchtet es ein, daß âventiure nur mit einem gleichgesinnten Gegenüber denkbar ist. Auch das Fehlen jeglicher Ausfahrts-Motivation und sozialer Impulse reiht sich hier ein, denn als iuvenes-Ritter des Hofes gilt es allein, sich in Szene zu setzen 45 und prîs zu erwerben.

Ohne weitere Motivation ist die Aventüre für Kalogrenant in dieser Situation nicht viel mehr als der Kampf zweier bewaffneter Ritter um Ehre.46 Die innere Haltung des Ritters spielt für ihn keine Rolle. Auch wenn der zentrale Begriff der ritterlichen Suche des Heilswegs in der Heidelberger Virginal wie im Iwein in aller Kürze dargestellt wird, finden dennoch zentrale Aspekte des ritterlichen Werdegangs Erwähnung. Nur durch erlittenes ungemach innerhalb der Aventüre wird prîs erworben. Doch diese rudimentäre Erklärung stellt den jungen Berner nicht zufrieden. Entrüstet kritisiert Dietrich die Aventüre-Ideologie, denn Hildebrand argumentiert nicht mehr wie zuvor mit der Pflicht der Landesverteidigung. Er stellt vielmehr das Lob der Damen in den Vordergrund. Aus der wesentlich mehr Raum einnehmenden Kritik entsteht ein

|| 42 Walther Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Darmstadt 21992, 132. 43 Cormeau/Störmer (wie Anm. 41), 202. 44 Hubertus Fischer, Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns ›Iwein‹. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos, München 1983 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 3), 34. 45 Bätz (wie Anm. 32), 97. 46 Vgl. Sieverding (wie Anm. 32), 84.

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Streitgespräch zwischen den Helden (V10, 111–116). Dietrich dankt ironisch dem »altgrîsen«(113, 3) für seine Unterweisung und will den Heimweg antreten. Hildebrand aber besteht darauf, weiterzureisen, und betont immer wieder, dass die Gunst der Damen auf beide Helden wartet. Es gelingt ihm nur mit einer List, Dietrich zur Weiterreise zu bewegen. Erst als er den jungen Berner zur befreiten Jungfrau führt, lässt sich Dietrich mit der Aussicht auf gemach überreden (120). Um die Freuden weiblicher Fürsorge zu erlangen, ist Dietrich gezwungen, Mühsal auf sich zu nehmen. Als Motivation dient ihm nicht Ehre, sondern Wollust. Damit wird das arthurische Ideal des Frauendienstes ad absurdum geführt. Dass Dietrich diese Art des Frauendienstes schließlich in Frage stellt, ist nur konsequent, hat Hildebrand doch als Ziel vom »prîs durch werdiu wîp« (110, 12f.) gesprochen und das Ideal des Ehrerwerbs vermittels des Schutzes der Waffenlosen nicht einmal erwähnt. In der neueren Forschung wird betont, dass Frauendienst und Aventüre in der Virginal nicht negativ dargestellt werden. Kerth beispielsweise vermutet, dass es ganz im Gegenteil die Unerfahrenheit und Torheit Dietrichs kennzeichne, wenn er sich immer wieder mit Hildebrand über Wert und Notwendigkeit sozial motivierter Kämpfe streitet.47 Kropik hingegen formuliert, dass sich die Virginal h »statt einer affirmativen oder kritischen Spiegelung des höfischen Aventiurewesens dem Problem von Aufgabe und Legitimation adliger Autorität«48 verschreibt. Wie dargestellt, ist es aber nun einmal gerade der Frauendienst, den Dietrich ausführlich kritisiert bzw. dessen Sinn er nicht versteht: »dient man hie schœnen vrouwen mite, / sost in mit kranken vröuden wol« (111, 12f.). Die bereits erwähnte tumbheit bzw. Unerfahrenheit Dietrichs ist nicht zu leugnen. Doch darin ist nicht das Versagen Dietrichs zu suchen, sondern das seines Erziehers, der nicht in der Lage ist, seinen Schützling rechtzeitig das Notwendige zu lehren. Hildebrand ist Vertreter einer »alten art« (175, 9), deren – den arthurisch-höfischen äußerst nahestehenden49 – Lehren der jüngere Dietrich offensichtlich für obsolet hält. Trotz gegenteiliger Behauptungen Hildebrands ist Dietrich nicht auf das Aventürewesen vorbereitet, da er nicht einmal weiß, was es ist.

|| 47 Vgl. Kerth (wie Anm. 24), 158. 48 Kropik (wie Anm. 30), 163. 49 George Gillespie, »Hildebrants Minnelehre. Zur Virginal h«, in: Jeffrey Ashcroft u. a. (Hrsg.), Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St. Andrews-Colloquium 1985, Tübingen 1987, 61–79, hier: 74, betont, dass mit den unterschiedlichen Auffassungen der Protagonisten die »Idealität der Minneauffassung der Artusepik« konfrontiert wird mit »der Realität der Heldendichtung«.

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Ebenso wie Parzival schuldlos an seiner tumbheit ist, da Herzeloyde ihn absichtlich von jeglicher höfischer Erziehung fernhielt, hat auch Dietrich ohne eigenes Verschulden keine höfische Erziehung erhalten. Der anfänglichen Argumentation, es sei die Pflicht eines Herrschers, das Land zu verteidigen – auf die auch Kropik ihr Augenmerk legt50 –, widerspricht Dietrich an keiner Stelle. Erst als in Hildebrands Argumentation der (typisch arthurische) Frauendienst in den Vordergrund tritt, zweifelt Dietrich an Sinn und Nutzen der Aventüre. Obwohl er für seine Haltung Spott erntet (203, 1 und 206, 1), weiß er sich in Notsituationen als ein Günstling der sælde (119, 3) zu helfen. Im Gegensatz zu den Artusrittern sucht Dietrich jedoch den Kampf nicht aktiv. Dennoch versteht er es, sich in Auseinandersetzungen zu behaupten, »auch wenn es dabei gar nicht ›ritterlich‹ zugeht.«51 Während Hildebrand der höfischen Norm entsprechend agiert, hindern Dietrich zwei Laster, sich ritterlich zu verhalten: zageheit und zorn. Im Vorfeld der Konflikte fürchtet sich Dietrich vor seinen Kontrahenten, um daraufhin während der Kampfhandlungen voller Wut Feuer zu speien. Dem »Ideal höfischer Affektkontrolle«52 zuwiderhandelnd, gelingt es Dietrich nicht, als ritterlich-höfisch überlegener Kontrahent aufzutreten. Während zahlreiche Protagonisten der Artusromane fernab vom Hof ihre Erziehung genießen (Lancelot, Parzival etc.) und dennoch den Wert des Minnedienstes wie selbstverständlich inkorporieren, ist es groteskerweise der am Hof sozialisierte Dietrich, der den Frauendienst nicht verstehen will. Zwar findet der Dienst an bürge unde lant in Hildebrands Lektionen weiterhin Erwähnung, doch es ist das Frauenrittertum, das bei Dietrich auf Unverständnis stößt.53 Letzteres geht in den Ausführungen des Lehrmeisters immer mit der Landesverteidigung einher (210, 7–211 und 239). Doch während Hildebrand die Pflichten eines Herrschers »wie ein dienstbeflissener Feldwebel«54 auswendig zu wiederholen neigt, versucht er Dietrich v. a. mit den Verlockungen des Frauendiensts zu motivieren. Hildebrand kennt die Tugenden eines Ritters, der »gemach vil selten hât« und auf triuwe, stæte, manheit, milte, mâze, kiusche und bescheidenheit achtet

|| 50 Kropik (wie Anm. 30), 163. 51 Peter K. Stein, »Virginal. Voraussetzungen und Umrisse eines Versuchs«, JOWG 2 (1982/83), 61–89, hier: 80. 52 Klaus Ridder, »Kampfzorn. Affektivität und Gewalt in der mittelalterlichen Epik«, in: Wolfgang Braungart u. a. (Hrsg.), Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, Bielefeld 2004 (BSLL 20), 41–56, hier: 48. 53 Dass sich Dietrich im Rahmen der Konkretisierung des ›Erziehungsthemas‹ besonders am Frauendienst stört, hat schon Stein (wie Anm. 51), 70, betont. 54 Gillespie (wie Anm. 49), 64.

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(211), doch gelingt es ihm nicht, Dietrich diese häufig nur in Form von Stichworten geäußerten Verhaltensnormen zu vermitteln. Zwar behauptet der Lehrmeister, er habe Dietrich in höfischen Lebensformen unterrichtet, doch die Taten des jungen Berners verweisen auf das Gegenteil: Ich lêrte in sprechen reiniu wort, ganzer tugende vollen hort: ich liez in nie gehirmen. ich lêrte in êren priesters leben, lop den reinen vrouwen geben, schâchzabel ziehen, schirmen. ich lêrte in êren rîterschaft, wie er die behielte menlîch in rehter nœte kraft alde man schatzes wielte. (361, 1–10) Ich lehrte ihn höfisch zu sprechen, den gesamten Schatz der Tugend: Ich ließ ihn nie ruhen. Ich lehrte ihn den Klerus zu ehren, die edlen Damen zu loben, Schach zu spielen und sich zu verteidigen. Ich lehrte ihn, die Ritterschaft zu ehren und wie er die in der Not mannhaft behalten könnte, so, wie man einen Schatz hüten würde.

Mit der Aussage »ich liez in nie gehirmen« (361, 3) widerspricht sich Hildebrand selbst, denn schließlich klagt er noch vor dem Aufbruch aus Bern, Dietrich hätte »gemaches vil gepflegen« (18, 5). Im Gegensatz zu den meisten Protagonisten der Artusromane besucht Dietrich nicht ein einziges Mal eine Messe und bittet kaum um Gottes Beistand. Eine Ehrung des Klerus (361, 4) wird gar nicht erst thematisiert, was vermutlich mit dem generellen Problem zusammenhängt, den Arianer Theoderich als Christen darzustellen.55 Auch der Behauptung, Hildebrand habe dem jungen Vogt von Verona das schirmen – gemeint ist hier, sich selbst zu schützen, und nicht, andere zu beschützen – beigebracht, widerspricht der Text. Zwar behauptet Dietrich selbst: »schirmen ich gelêret bin« (75, 4), doch entweder vertraut er seinen Fähigkeiten nicht – sein zagen ist häufig unbegründet –, oder er hat tatsächlich ausschließlich gelernt, sich vor gegnerischen Angriffen zu schützen, ohne selbst zu attackieren, denn er äußert direkt zuvor, dass er »vehten nicht enkan« (75, 2). Zudem weiß Dietrich weder, wie man gegen Drachen kämpft (21, 6–9), noch hat er jemals an irgendeinem Kampf teilgenommen (75, 2).

|| 55 Vgl. Wisniewski (wie Anm. 28), 39f.

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Das letzte Kriterium der angeblichen Ausbildung Dietrichs spielt auf dessen Armut an, die in der Virginal jedoch nicht thematisiert wird und eher Gegenstand der historischen Dietrichepik ist. In Dietrichs Flucht beispielsweise ist Dietrich auf die finanzielle Unterstützung durch Rüedeger angewiesen (V. 4790–4808).56 Hildebrand ist somit der Erziehung Dietrichs nicht in der Form nachgekommen, wie er behauptet. Der Lehrmeister zeichnet sich zwar als erfahrener Kämpfer aus – immerhin hat er vor mehr als achtzig Jahren seinen ersten Kampf ausgetragen (649) –, doch die alte art Hildebrands und die damit obsolet gewordenen höfischen Ideale des Lehrmeisters werden immer wieder vom Berner in Frage gestellt. Der Text widerspricht sich somit nicht selbst, sondern führt mit Dietrichs Komik evozierendem Verhalten die Aussagen eines alten Erziehers ad absurdum. In V10 erweist sich Dietrich als ein widerspenstiger Schüler, dessen Lehrer ihn nicht zu disziplinieren vermag. Das hohe Alter Hildebrands wirkt sich bereits auf dessen körperliche Konstitution aus. Trotzdem greift der Lehrer in jeder Notsituation seines Schülers ein,57 sodass eine Entwicklung des eigentlichen Protagonisten schon im Ansatz unterbunden wird: »Wenn Dietrich zu Recht als krisenloser Held eingestuft wird, dann ist in nicht geringem Ausmaß Hildebrands didaktisches Defizit dafür verantwortlich zu machen.«58 Die Beurteilung des Helden als krisenlos erweist sich an dieser Stelle jedoch als problematisch, da sich Dietrich genau genommen fortwährend in einer Krise befindet. Zwar versteht Dietrich ebenso wie Erec, warum ihn sein gemach am Hof entehrt, doch ist er aufgrund des Gefahrenpotentials einer Aventüre nicht bereit, sein Fehlverhalten zu sühnen. Die Bequemlichkeiten des Hofes durch Unbequemlichkeiten zu erlangen, erscheint absurd. Durch öffentliche Kritik der Situation wird Dietrichs ehrloses Verhalten publik und führt ihn in eine schwere Krise, denn »[d]ie Ehre konkretisiert sich nach außen, öffentlich, als Ruf, Ansehen, guter Name ... Fehlt dieser, fehlt auch das Eigentliche des Menschseins«.59 Erec wiederum kann seine

|| 56 Benutzte Ausgabe: ›Dietrichs Flucht‹. Textgeschichtliche Ausgabe, hrsg. von Elisabeth Lienert u. a., Tübingen 2003. 57 Hildebrand tötet Orkise und wesentlich mehr Heiden als sein Schüler, und er ist es, der Rentwin befreit und mit seinen Gefolgsleuten Dietrich aus den Händen Wicrams befreit. Lediglich V11 liefert für dieses Verhalten Hildebrands eine Erklärung: Ute bittet Hildebrand, nicht von des Jungen Seite zu weichen (7, 6). 58 Detlef Goller, »Her Dietrîch und sîn Hildebrant – Die Unzertrennlichen? Aspekte von Herrschaft und Erziehung in einer langen literaturhistorischen Beziehung«, PBB 131 (2009), 493–509, hier: 503. 59 Wolfgang Haubrichs, »Ehre und Konflikt. Zur intersubjektiven Konstitution der adligen Persönlichkeit im früheren Mittelalter«, in: Kurt Gärtner u. a. (Hrsg.), Spannungen und Konflikte

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Ehre durch altruistisches Verhalten im Kampf für andere wiedererlangen, indem er die rechte mâze zwischen Kampfbereitschaft und Liebe zur Frau findet: »Es geht im Erec nicht um Schuld oder Unschuld, sondern um richtiges und falsches Verhalten. Falsches Verhalten muss korrigiert, richtiges eingeübt werden.«60 Doch Dietrich überwindet die Krise nicht, da er das ›richtige‹ höfische Verhalten – den Minnedienst – weiterhin in Frage stellt. Seiner Kampfkraft zum Trotz, ist Hildebrand auf Grund seines Alters nicht mehr in bester körperlicher Verfassung. Als er z. B. einen Brief erhält, muss er ihn weiterreichen, da seine Augen inzwischen zu schlecht sind, um ihn zu lesen: ich hân gelebet ouch die zît, ich hæte in wol gelesen: nu brist mir an den ougen sît, diu wellen mir entwesen. (455, 7–10) Ich hätte ihn vor Zeiten auch gut lesen können: Doch sind meine Augen nun zu schwach, die wollen nicht mehr wie einst.

Zwar liest Hildebrand den Brief nun doch, obwohl er »kleine hie geschriben stât« (455, 12), aber die Hinweise auf sein hohes Alter häufen sich. Er selbst klagt sogar: »Nu ziuhet mich daz alter hin« (916, 9). Ebenso alt wie Hildebrand selbst erscheinen seine Lehren. Ziel der Aventüre ist es offensichtlich, Dietrich auszubilden, damit dieser nach seiner Rückkehr die Regierungsaufgaben des alternden Hildebrand übernehmen kann. Doch der Generationenkonflikt scheint unüberwindbar, denn Dietrich ändert seine ablehnende Haltung bezüglich des Frauendienstes nicht:61 Aber selbst wenn Hildebrands Bemühungen dazu führen, daß der vormals unselbstständige Fürst von Bern bei seiner Rückkehr die Regierungsgeschäfte in vollem Maße übernehmen 62 kann, so ist dennoch in seinen Äußerungen nichts von wachsender Einsicht zu bemerken.

|| menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, Tübingen 1996, 35–58, hier: 35. 60 Joachim Bumke, Der ›Erec‹ Hartmanns von Aue. Eine Einführung, Berlin, New York 2006, 37. 61 Manfred Zips, »Dietrichs Aventiure-Fahrten als Grenzbereich spätheroischer mittelhochdeutscher Heldendarstellung«, in: Egon Kühebacher (Hrsg.), Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes, Bozen 1979, 135–171, sieht dagegen eine »Entwicklung der Gestalt Dietrichs zum Frauenritter« (150). 62 Kropik (wie Anm. 30), 166.

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Dies ändert sich auch im folgenden, ebenfalls von Hildebrand dominierten Drachenkampf nicht. Während Dietrich gegen einen Drachen antritt, besiegt sein Lehrer eine ganze Gruppe von wurmen und befreit zudem noch Rentwin aus dem Maul eines Ungeheuers (147–157). Währenddessen gerät Dietrich in Not, da sein Schwert zerbricht. Wieder beklagt er sich über die Aventüre und äußert gegenüber Hildebrand: mich hât iur âventiure von sinnen und von kreften brâht. ir hânt undanc und werdiu wîp und swer daz habe ûf mich erdâht. (175, 10–13) Eure âventiure hat mir den Verstand und die Kraft geraubt. Ich danke euch und den edlen Damen und wer auch immer sich das ausgedacht hat, nicht im Geringsten.

Erst als Hildebrand ihm ein neues Schwert übergibt, gelingt es Dietrich, das Ungeheuer zu enthaupten. Er bleibt auf seinen Begleiter angewiesen. Auf Burg Arona angekommen, berichtet Rentwin seinem Vater Helferich von Dietrichs Heldentaten. Doch Hildebrand widerspricht und äußert, dass Dietrich noch kein Lob verdient habe. Der Berner sei gleich einem »ungemachten valken« und müsse erst »heldes muot« gewinnen, bevor er zu einer ernsten Gefahr für seine Feinde werde (235). Es ist diese innere Haltung, die Dietrich von Helden des arthurischen Romans unterscheidet.63 Dietrich erkennt bei seiner ersten Einkehr in Arona nicht, dass seine Bewährung noch lange nicht abgeschlossen ist. Während sich zahlreiche Artusritter nach initialer ›Wiedergutmachung‹ weiter auf Aventüre begeben und dem Artushof absichtlich fernbleiben,64 ist es in der Virginal Hildebrand, der Dietrich zu weiteren Heldentaten motivieren muss. Während Rentwins »muot [...] ûf kein gemach« (283, 1) gerichtet ist, orientiert sich Dietrichs »tumber muot« (314, 12) bzw. »affenmuot« (320, 5) an den vröuden

|| 63 Im Nibelungenlied fehlt es Dietrich nicht an »rehten heldes muot« (2325, 1). Zitierte Ausgabe: Das ›Nibelungenlied‹ und die ›Klage‹, nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, mittelhochdeutscher Text, Übers. und Komm., hrsg. von Joachim Heinzle, Berlin 2013 (Bibliothek des Mittelalters 12/Bibliothek deutscher Klassiker 196). Es gilt zudem zu beachten, dass heldes muot im Sinne einer »heroischen Gesinnung« nicht mit der ritterlich-höfischen Gesinnung der Artusromane gleichzusetzen ist. Vgl. dazu Joachim Heinzle, »heldes muot. Zur Rolle Dietrichs von Bern im Nibelungenlied«, in: Dorothee Lindemann u. a. (Hrsg.), ›Bickelwort und wildiu mære‹. FS Eberhard Nellmann, Göppingen 1995 (GAG 618), 225–236, hier: 226. 64 Berühmtestes Beispiel ist hier vermutlich Parzivals Weigerung, zum Lager König Artus’ zu reiten, bevor er nicht Keies Vergehen gerächt hat (304, 10–18).

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des Hofs.65 Den Verlockungen des Frauenlobs erlegen, bricht Dietrich noch vor seinen Gefährten von Arona auf, um als erster zur Königin zu gelangen. Dietrich verirrt sich und verlässt somit, dem arthurischen Prinzip der Aventüre entsprechend, den rechten Pfad in Richtung eines Walds, einer außerhöfischen Welt. Die Wildnis dient also auch innerhalb der Dietrichepik als Ort für Aventüre: Die Aventiurestationen werden immer wieder durch scheinbar falsche Wegwahl angesteuert: Die Helden verirren sich, Schallspuren wie das Weinen einer Jungfrau, verräterische Einladungen und ins Dickicht flüchtende Tiere bringen sie vorübergehend von der Route 66 ab und erfordern lebensgefährliche Demonstrationen ihrer kämpferischen Tüchtigkeit.

In dieser lebensbedrohlichen Umgebung trifft Dietrich auf den Riesen Wicram. Der Berner trägt weder Rüstung noch Waffen – ein Vergehen, das bereits im Erec zu einer Rachefahrt führte67 –, sodass der Riese mit »valsche[m] muot« (322, 9) den Berner gefangen setzen kann. Dass diese Szene auf den Sperberkampf in Hartmanns Erec anspielt, verdeutlicht die Frage des Torhüters an Wicram, als dieser Muter erreicht: »der torwart zuo dem risen sprach / ›wannân kumt der sperwære‹« (327, 7f.). Während der Sperber in Hartmanns Erec als Gewinn für den höfischen Frauenritter fungiert, wird Dietrich als Verweigerer des Frauendiensts zur Beute selbst. Erecs Kampf gegen Iders wird geradezu parodiert, indem im heldenepischen Pendant des Konflikts jeglicher Aspekt höfischer Tugend vermieden wird. Dietrich, zum höfischen Preis eines unritterlichen Riesen degradiert, lädt Spott auf sich, während Wicram – anders als Iders in Hartmanns Erec (V. 1221) – die eigene »schalkheit« (329, 12) nicht erkennt. Im Gegensatz zum Artusritter kann Dietrich den Ehrverlust nicht selbst vergelten und somit seinen Kontrahenten nicht zur Einsicht des Fehlverhaltens verhelfen. Dietrich verhandelt sogar um sein Leben und bietet dem Riesen Silber als Lösegeld (325, 12). Dieses wenig heldenhafte Agieren erscheint jedoch völlig unnötig, denn wenig später beweist Dietrich, als er in Ketten gelegt (381, 12) Wicrams Sohn Grandengrus mit einem Stein erschlägt, dass er sich dank seiner enormen Kräfte auch ohne Waffen ver-

|| 65 Anders als Kerth (wie Anm. 24), 161f., sehe ich in der tumbheit Dietrichs kein »positives Gegenstück« zu dessen zagheit. Die Ironie des Textes liegt m. E. doch gerade darin, dass Dietrich plötzlich Eifer entwickelt, nicht um die Aventüre zu suchen, sondern um das Ziel, das Lob der Königin Virginal, zu erreichen. 66 Kerth (wie Anm. 24), 161. Schon in den ›klassischen‹ Artusepen führen z. B. Schallspuren menschlicher Art (Erec hört die Klagen der Partnerin Cadocs; V. 5296), aber auch tierischer Natur (Iwein hört den Kampf des Löwen gegen einen Drachen; V. 3829), in der Wildnis zu Aventüren. 67 In der Initialaventüre reitet Erec »blôz als ein wîp« (V. 103).

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teidigen kann. Bemerkenswert an dieser Stelle ist zudem, dass die lebensbedrohliche Gefahr von Dietrichs Zweikämpfen durch fehlerhafte bzw. nicht vorhandene Ausrüstung verstärkt wird. Nachdem sich Dietrich mit einem zerbrochenen Schwert gegen den Drachen verteidigen musste, steht ihm nun überhaupt keine Ausrüstung zur Verfügung. Mit der beständigen Gegenwart des Todes thematisiert die Virginal eine Problematik, die Helmut Brackert bereits für den Parzival festhielt: »Ritterschaft führt ins Leid.«68 Es ist Dietrich vorbehalten, den Sinn dieses Leids in Frage zu stellen. In den folgenden elf Zweikämpfen, die im Rahmen der Befreiung Dietrichs geschildert werden, bleibt der gewaltsame Tod zentrales Motiv der Darstellung; alle Riesen werden von den herbeigerufenen Helden erschlagen. Dietrich bleibt bis zum Ende der Erzählung uneinsichtig und kritisiert den »hochmuot der alten art« (857, 7f.).69 Als Hildebrand bemerkt, dass Dietrich kaum dazulernt – jetzt nicht mehr aus tumpheit, sondern aufgrund von dessen genereller Ablehnung gegenüber dem Frauendienst –, macht er sich über den Vogt von Bern lustig, denn dieser klagt noch immer: ich wold sîn ûf der wisen, aldâ ich ê bin gewesen: dâ tæten mir die wurme niht und liezen mich die risen genesen. (851, 10–13) Ich wäre gern auf der Wiese, auf der ich eben noch war: Da täten mir die Drachen nichts an, und die Riesen ließen mich in Ruhe.

Diese »rede eins zagen« (852, 4) nimmt Hildebrand zum Anlass, seinen Schüler zynisch als »vil zarter lieber herre« (852, 6) zu bezeichnen. Er wirft ihm vor, ein schändlicher Feigling zu sein. Wolfhart, ebenfalls ein erfahrener Kämpfer, und Virginal können Hildebrand nur zustimmen: »ach, herre, ir schent uns durch diu lant / mit iuwer zegerîe« (854, 3f.). Doch Dietrich hält die Aventüre weiterhin für

|| 68 Helmut Brackert, »der lac an riterschefte tôt. Parzival und das Leid der Frauen«, in: Rüdiger Krüger u. a. (Hrsg.), ›Ist zwîvel herzen nâchgebûr‹. FS Günther Schweikle, Stuttgart 1989, 143–163, hier: 144. 69 Dass Dietrich zuletzt als legitimer »erwachsener Herrscher« auftrete und mit dieser neu erworbenen Position, trotz mangelnder Veränderung, die »legitime Hierarchie« des Personenverbands der Berner stifte, sehe ich nicht; vgl. Kay Malcher, Die Faszination von Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik, Berlin, New York 2009, 247f. Auch in den letzten Kämpfen der Heidelberger Virginal gelingt es Dietrich nicht, seine Gegner alleine zu bewältigen. Noch immer ist er auf die Unterstützung seines Erziehers angewiesen und bleibt ein »ungemachter valken« (235, 10). Konflikte und Abhängigkeiten des Berners bestehen weiter.

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gefährlich und kann schließlich dem Lehrer, als er beinahe einem Drachen unterliegt, vorhalten: iuwer braht ist alsô grôz, an schanden lebet niht iuwer gnôz. sît daz ich ie gekande herren, ritter, knehte guot in allen disem lande, sô vant ich nie verzagetern muot [Vers fehlt] als ir nu hie sint gewesen. lânt vürbaz iuwer strâfen sîn: die helde mügen vor iu genesen. (915, 4–13) Euer Geschrei ist so heftig, dass euch an Schande niemand gleichkommt. Wen ich auch immer an guten Herren, Rittern und Knappen in diesem Land kannte, keiner hatte eine feigere Gesinnung [...] als ihr sie hier bewiesen habt. Lasst ab von eurem Tadel: Die Helden sollen von euch verschont werden.

Nun ist es also Dietrich, der dem alten Meister vorwirft, ein Feigling zu sein. Durch sein Verhalten bringe Hildebrand andere in Not. Die arthurischen Ideale werden zu einem gefährlichen Unterfangen degradiert. Dennoch bleiben sie besonders am Ende von V10 präsent. Auf dem Turnier von Jeraspunt wird ritterlich gekämpft, und es wird hervorgehoben, dass selbst Parzival im Rahmen des Turniers an seine Grenzen gekommen wäre (1045, 12f.). Die arthurische Welt fungiert hier als »Vorbild, an dem die Leistungen der Recken gemessen werden.«70 Am Hof Virginals wird sie sogar imitiert. Nach dem typischen arthurisch initiierten Turnier speisen die Helden an der »tavelrunde« (1056, 3). Während in V10 die Artuswelt am Hof der Königin Virginal als Folie des höfischen Ideals dient, wird ihre Idealität im Rahmen der Aventüre Dietrichs durchbrochen. Die fortwährende Ablehnung des Frauendiensts führt somit in konsequenter Weise dazu, dass Dietrich nicht in den Genuss von lob und prîs gelangt. Immer wieder wird der Weg zur Königin unterbrochen, bis Dietrich, sich endlich an seinem Ziel wähnend, wieder die Heimreise antreten muss. So endet die Virginal h auch nicht wie die übrigen Fassungen mit einer Hochzeit, sondern mit der Unterbrechung des Fests der Königin durch einen Boten. Der langersehnte prîs bleibt durch einen »Realitätseinbruch«,71 der erneut die Pflicht der Landesverteidigung in den Vordergrund rückt, versagt.

|| 70 Kerth (wie Anm. 24), 167. 71 Stein (wie Anm. 51), 82.

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Besonders die Aventüren in V11 und V12, die die Heidelberger Virginal nicht kennt, sind denen der Artusromane ähnlich gestaltet. In der Wiener Virginal fordert der höfische Ritter Libertin von Palerne den Berner zu einer Tjost »durch alle werde frawen fein« (V12, 376, 13). Dietrich, der sich zuvor mit Hildebrand heftige Wortgefechte um den Sinn des Frauendiensts liefert, ist plötzlich erfreut über die Herausforderung und bereit, »durch alle werde weip« (377, 7) und »werder frawen solt« (379, 7) gegen Libertin zu tjostieren. Der Sinneswandel Dietrichs überrascht unter Berücksichtigung von Libertins Hinweis, er habe den Oheim Dietrichs (Sigstab) im Zweikampf verwundet, umso mehr, da die Allgegenwärtigkeit des Todes über dem höfischen Agon schwebt. Dietrich aber erscheint in dieser Szene nicht als zage, sodass davon ausgegangen werden kann, dass der Verfasser von V12 arthurisches Material in die Erzählung einfügte, ohne mögliche Inkonsequenzen zu berücksichtigen. Die Episode könnte geradezu »einem imaginären poetologischen Musterbuch für nachklassische Artusepik [...] entnommen sein.«72 Die Opponenten freunden sich nach dem Zweikampf sogar an, wie z. B. Erec und Guivreiz in Hartmanns Artusroman. In der Wiener Virginal wird Dietrich geradezu als arthurisch-höfischer Ritter rehabilitiert. Die Idealität des Artushofs spiegelt sich in Dietrichs Aventüre. Höfische Verhaltensnormen werden zwar weiterhin in Frage gestellt, der Stellenwert der Kritiken Dietrichs sinkt jedoch im Laufe seiner erst in V11 und V12 denkbaren Entwicklung.73 So kann Libertin im Folgenden äußern: waz man von helden ie gesach oder ie hat vernumen, das ist gen den von Pern entwicht; kunig Artus ist so kunes nicht an seinen hof ie kumen. (V12, 482, 2–6) Was man je von Helden gesehen oder vernommen hat, ist nichtig im Vergleich zum Berner. An König Artusʼ Hof ist nie so etwas Kühnes gekommen.

Der Artushof wird in seiner idealen Vorbildfunktion überboten. Dieser Wandel wird jedoch nur mit Hilfe eines radikalen Einschnitts bezüglich der Darstellung von Dietrichs höfischer Gesinnung möglich. Die eingefügten arthurischen Erzählschablonen erzeugen einen Bruch mit dem gattungsspezifischen Motivrepertoire der Dietrichepik. Erst unter Ausblendung der gattungstypischen Eigenschaften Dietrichs, in Form der Missachtung seiner zagheit sowie seines zorns – in den

|| 72 Kerth (wie Anm. 24), 170. 73 Dass der Verfasser von V12 sein Interesse nicht auf Höfisches richtet, sehe ich gegen von Kraus (wie Anm. 15), 5, nicht.

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meisten Fällen erschlägt Dietrich seine Kontrahenten –, kann eine arthurische Erzählschablone integriert werden. Diese ist somit nur begrenzt »problemlos verfügbares Material.«74 Die offene Struktur der Dietrichepen ermöglicht keine grenzenlose Ausweitung der Werke ohne Widersprüche. Während zahlreiche arthurische Motive besonders in V10 problemlos ex negativo anzitiert werden können, rufen Übernahmen arthurischer Ideale in V11 und V12 einen gattungsbedingten Widerspruch hervor. Indem der Verfasser der Heidelberger Virginal nur in eingeschränktem Maße auf dieses Material zurückgreift, werden Inkonsequenzen gattungsbedingter Natur tendenziell vermieden. Das arthurische Ideal ablehnend, werden auch hier Erzählschablonen anzitiert, aber niemals ›klassisch‹ aufgelöst. Die Aventüren der Virginal sind erzähltechnisch, dem späten Artusroman entsprechend, lose miteinander verbunden und – das beweisen die unterschiedlichen Fassungen – austauschbar. Die verschiedenen Fassungen greifen auf Motive und Erzählschablonen der Artusromane zurück. Die Virginal stellt jedoch keinen ›Entwicklungsroman‹75 dar. Der Berner meistert nicht eine einzige Aventüre selbständig und durchläuft keinerlei Entwicklung. Die Symbolstruktur des arthurischen Doppelwegs wird dadurch nicht anzitiert.76 Die einzelnen Stationen beschreiben keine lineare Entwicklung, da sich Dietrich dieser entzieht. Somit können sie ihre Bedeutung nicht aus ihrer strukturellen Position im Werk beziehen. Doch auch die späten Artusromane greifen nicht auf den ›klassischen‹ Doppelweg Chrétien-/Hartmannʼscher Prägung zurück und verbinden Aventüren mit Hilfe verschiedener Erzähltechniken wie dem entrelacement.77 In der Virginal fungieren Boten und Briefe nicht nur als Verbindungsstellen zwischen verschiedenen Orten, sondern besonders zwischen den Aventüren Dietrichs: Der Erzähler macht regelmäßigen Gebrauch von explizit angesagtem Perspektivenwechsel, wobei er jeweils einen Handlungsstrang sistiert, sich einem anderen zuwendet und beim nächsten Wechsel zum verlassenen Strang hin diesen wieder auf den aktuellen Stand 78 bringt.

|| 74 Kerth (wie Anm. 24), 171. 75 Vgl. dazu Ruth Sassenhausen, Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung, Köln 2007 (Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 10). 76 Dagegen vermeint Heinzle (wie Anm. 12), 234, »das für den Artusroman Chrestienscher Prägung charakteristische Moment der Handlungsdoppelung« in der Virginal zu erkennen. 77 Vgl. etwa hinsichtlich des Prosa-Lancelot Ferdinand Lot, Ètudes sur le ›Lancelot en prose‹, Paris 1918; vgl. auch Kerth (wie Anm. 24), 159. 78 Stein (wie Anm. 51), 69.

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Dieser Perspektivenwechsel wird mit Hilfe zahlreicher Boten, die die Handlung immer wieder wiederholen und somit die Figuren über Geschehenes unterrichten, vollzogen. Insgesamt treten 26 Boten auf, die 13 Briefe überbringen; achtmal wird die bisherige Handlung zusammengefasst.79 Jede Wiederholung eröffnet eine neue Perspektive mit neuen Details.80 Zudem kann Dietrich seine unterlegenen Kontrahenten nicht etwa wie die Ritter der Tafelrunde an den Hof Artus’ bzw. Virginals senden, damit sie seine Siege und weitere Informationen verkünden – schon aus dem einfachen Grund, dass er die meisten seiner Kontrahenten erschlägt. Doch die Königin befindet sich zumeist in ihrer Burg bzw. in einem Zeltlager und ist somit relativ immobil.81 Um die Kommunikation zwischen den Figuren aufrecht zu erhalten, sind somit in der Virginal zahlreiche Institutionen der Informationsvergabe unabdingbar, denn »[d]ie Damen müssen über die âventiuren der Ritter unterrichtet werden, damit sich die vröide über die erfolgreiche Verteidigung am Hof verbreiten kann.«82 Die häufigen Wiederholungen scheinen die Handlung zu zergliedern, doch sie folgt dem Weg Dietrichs. Dieser führt lediglich in V11 und V12 in Ansätzen zu einer Entwicklung des Protagonisten. So kann Dietrich in diesen Versionen die Königin Virginal heiraten. Höfisch-arthurisches Erzählgut wird eingefügt, wenn auch nicht ganz problemlos – es handelt sich immerhin um eine Zwergenkönigin. V10 verwendet hingegen arthurische Motive und Erzählschablonen, um die Idealität der Artuswelt in Form obsolet-negativer Exempel zu dekonstruieren.

|| 79 Vgl. Störmer-Caysa (wie Anm. 18), 11. 80 Vgl. Stein (wie Anm. 51), 78. 81 Vgl. Störmer-Caysa (wie Anm. 18), 12. Ähnlich wie König Artus, den Helmut de Boor, Die Höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170–1250, München 91973, 64, als »ruhende[n] Pol, um den Tat gedeiht«, beschreibt, scheint auch Virginal im Zentrum der Erzählung zu stehen, ohne selbst zu handeln. 82 Katharina Philipowski, »Apologie der Differenz: Formalismus als Literarizitätskriterium am Beispiel der Heidelberger Virginal«, in: Konrad Ehlich (Hrsg.), Germanistik in und für Europa. Faszination – Wissen. Texte des Münchener Germanistentages 2004, Bielefeld 2006, 373–379, hier: 378. Vgl. zu den Kommunikationsformen innerhalb der Virginal auch Timo Reuvekamp-Felber, »Briefe als Kommunikations- und Strukturelemente in der Virginal. Reflexionen mittelalterlicher Schriftkultur in der Dietrichepik«, PBB 125 (2003), 57–81; Katharina Philipowski, »Sprechen, Schreiben und Lieben in der Virginal. Die Heidelberger Fassung als Beispiel literarischer Metakommunikation«, Euphorion 102 (2008), 331–362.

Pia Selmayr

Die Rüstung des Helden Gattungsinterferenzen zwischen aventürehafter Dietrichepik und spätem Artusroman Abstract: The close intertextual relationship between aventürehafte Dietrichepik and late Arthurian romance has been well established in criticism. Both genres regularly initiate their subject matters by an episode of severe disruption to courtly joy which precipitates the hero’s adventurous departure and will eventually lead to a restoration of order by means of violence. Beyond this structural analogy, texts of both genres tend to place equal emphasis on the semiotics of their heroes’ armour, which goes well beyond its function as a mere means of identification. Instead, in both aventürehafte Dietrichepik and in late Arthurian romance, the heroes’ suits of armour reach crucial importance as signifiers of past and, most importantly, future heroic deeds. Their design is thus essentially bound up with the constitution of the hero in both genres.

1 Aventüre und Waffen Die aventürehafte Dietrichepik umfasst eine Gruppe erzählender Versdichtungen in mittelhochdeutscher Sprache, deren Zentrum die Heldentaten Dietrichs von Bern bilden.1 Sie wird meist zur späten Heldenepik gezählt und gilt als Hybrid zwischen heroischem und höfischem Erzählen. Ähnlich wie im Artusroman geht es in der aventürehaften Dietrichepik um das Bestehen des Protagonisten in einer anderen Welt und den Kampf gegen ordnungsstörende, antihöfische Figuren.2 || 1 Vgl. Joachim Heinzle, Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin, New York 1999, 1. 2 Vgl. zu Begriff und Funktion der Aventüre Peter Strohschneider, »âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze«, in: Gerd Dicke u. a. (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin, New York 2006 (TMP 10), 377–383, hier: 380; ebenfalls dazu Mireille Schnyder, »Sieben Thesen zum Begriff der âventiure«, in: Gerd Dicke u. a. (Hrsg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin 2006, New York (TMP 10), 369–375, hier: 370. Zur Übernahme des Motivs der arthurischen Aventürefahrt in der aventürehaften Dietrichepik vgl. Horst P. Pütz, »Ritterepos und Heldenepos im Spätmittelalter«, in: Egon Kühebacher (Hrsg.), Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters, Bozen 1979, 212–223.

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Das Aventüre-Ereignis und die Anderwelt sind in beiden Gattungen3 eng miteinander verknüpft: In den anderweltlichen Räumen sind die Ordnungsstörung und die Bemühungen des Ritters um die Wiederherstellung der Ordnung lokalisiert. Entweder durch Provokation oder durch eine andersgeartete Herausforderung kommt es zum handlungsauslösenden Moment, sodass der Held aufbricht und in den Anderwelten der Erzählung seine Exorbitanz unter Beweis stellt. Dieses exile, in das er aufbricht, liegt stets jenseits der Situationszusammenhänge des ›Hier und Jetzt und Wir‹ des höfischen Zentrums; es muss durchschritten werden, bevor das Syntagma mit seiner Rückkehr an den Hof abgeschlossen werden kann.4 In der aventürehaften Dietrichepik nimmt Dietrich die Herausforderung einmal zaghaft an wie im Eckenlied,5 ein andermal kann er nur siegreich sein dank der Hilfe seines weisen Waffenmeisters Hildebrand (z. B. im Laurin oder im Sigenot). Offenkundig ist die Fokussierung der Erzählung auf den Helden Dietrich und seinen am Ende errungenen Sieg. Die damit einhergehende Wiederherstellung der Ordnung, die mit individueller sowie kollektiver êre und sælde verbunden ist, kann jedoch in beiden Gattungen nicht auf Dauer erreicht werden; sie muss stets neu erworben werden und bleibt fragil. Der zuvor geschilderte Weg des Aufbruchs, der Bewährung und der Rückkehr wird im Artusroman wie auch in der aventürehaften Dietrichepik exemplarisch, am Schicksal eines Ritters, vorgeführt.6 Dietrich von Bern schwankt dabei zwischen höfischem und heroischem Verhalten: Zum einen ist er der vorbildlich affektkontrollierte, in puncto Gewalt

|| 3 Unter dem Terminus der literarischen Gattung verstehe ich mit Klaus Grubmüller Gebilde mit »undeutlichen Rändern und unbestimmbaren Grenzen«; Klaus Grubmüller, »Einleitung zum Kommentar«, in: Novellistik des Mittelalters, hrsg., übers. und komm. von Klaus Grubmüller, Frankfurt a. M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23/Bibliothek deutscher Klassiker 138), 1005–18, hier: 1005. Gattungen sind demnach keine abgeschlossenen Systeme mit festen Grenzen, sondern vielmehr als literarische Reihen, konkreter als Werkreihen bzw. produktiv offene Systeme aufzufassen, die sich in einem Prozess von Horizontstiftung und Horizontveränderung weiterentwickeln. Vgl. Sonja Kerth, Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung, Wiesbaden 2008 (Imagines Medii Aevi 21), 6, sowie Hartmut Bleumer, »Narrative Historizität und historische Narration. Überlegungen am Gattungsproblem der Dietrichepik. Mit einer Interpretation des Eckenliedes«, ZfdA 129 (2000), 125–153, hier: 128. 4 Vgl. Peter Strohschneider, Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014 (Beihefte zur GRM 55), 233. 5 Eine ausführliche Interpretation zur zagheit Dietrichs im Eckenlied findet sich bei Hildegard Elisabeth Keller, »Dietrich und sein Zagen im ›Eckenlied‹ (E2): Figurenkonsistenz, Textkohärenz und Perspektive«, JOWG 14 (2003/04), 55–75. 6 Vgl. Jens Haustein, »Die zagheit Dietrichs von Bern«, in: Gerhard R. Kaiser (Hrsg.), Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur, Heidelberg 1998 (Jenaer germanistische Forschungen NF 1), 47–62, hier: 56.

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zunächst zögerliche Ritter und Herrscher, der sich im anderen Moment in eine feuerspeiende Kampfmaschine verwandeln kann.7 Nicht nur in der Suche nach Aventüre treffen Gattungselemente beider Erzähltraditionen aufeinander bzw. spielen von der einen in die andere Gattung hinein. Gemeinsam ist den höfischen Helden des späten Artusromans, wie z. B. Wigalois, Lanzelet und Daniel, sowie den Heroen der aventürehaften Dietrichepik, Dietrich von Bern und seinem Waffenmeister Hildebrand, ihre Exorbitanz: Durch ihre körperlich herausragende Kampfeskraft und ihr im Laufe der jeweiligen Erzählung erworbenes Wissen übertreffen sie alle anderen Figuren. Sie sind ausgezeichnete Ritter, die nicht nur Herrschaft, sondern auch Besitz zu ihren Errungenschaften zählen können. Diese Herausgehobenheit scheint nun in beiden Gattungen nicht nur allein an die Figur des Helden gebunden zu sein, sondern auch an die Dinge, genauer ihre Rüstungsgegenstände, die sie entweder erst im Kampf erwerben oder die ihnen in spezifischer Art zugewiesen werden. Die Rüstungsutensilien der Helden dienen nicht nur der Identifikation der Figuren,8 sondern sie scheinen auch mit ihren Heldentaten zusammenzuhängen, ja an diese gekoppelt zu sein. In beiden Gattungen fallen die Rüstungsbeschreibungen in besonderem Maße auf und nehmen unterschiedliche narrative Funktionen ein, von einer memorativen Semantisierung bis hin zur überdeutlichen Markierung des Helden oder der Sichtbarmachung des Antihelden. Wer ein Held in der aventürehaften Dietrichepik und dem späten Artusroman ist oder werden will, braucht dafür nicht nur eine Aventüre als Gelegenheit der Bewährung, dazu Kampfeskraft und Heldenmut, sondern – so meine These – auch eine einzigartige und kostbare Ausstattung. Wie die Wirkungen und Funktionen der Rüstungsutensilien genau entfaltet werden, wird im Folgenden am Beispiel der Wiener Virginal und des Eckenliedes untersucht. Beide Texte treten in den Fokus der Analyse, da sie mit einer hohen Konzentration an unterschiedlichen Rüstungsbeschreibungen aufwarten. Aus der Reihe der späten Artusromane wird auf Wirnts von Grafenberg Wigalois zurückgegriffen, der eine große erzählerische Dichte an Dingen aufweist.

|| 7 Vgl. Armin Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, 2., durchges. Aufl., hrsg. von Manuel Braun u. a., Berlin, Boston 2015, 154. 8 Vgl. Jan-Dirk Müller, »Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs Willehalm, dem Nibelungenlied, dem Wormser Rosengarten A und dem Eckenlied«, in: Gertrud Blaschitz (Hrsg.), Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. FS Harry Kühnel, Graz 1992, 87– 111, hier: 91.

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2 Die Wiener Virginal oder Erzählung von wapenliet In der aventürehaften Dietrichepik werden die spezifischen Rüstungsgegenstände nicht nur mit Eigennamenverweisen, die auf das Personal der Heldensage rekurrieren, versehen, sondern die Wiener Virginal9 gibt für diese Art der Beschreibung und Hervorhebung der Rüstung auch den terminus technicus ›wapenliet‹ an.10 Diese wapenliet beschränken sich nicht nur auf die Heldenrüstung, sondern meinen auch die ausladende Rüstungsbeschreibung, die sowohl die heldische wie auch die gegnerische Figurenausstattung betreffen kann. Die Wiener Virginal könnte unter diesem Gesichtspunkt auch als ›Rüstungstext‹ bezeichnet werden, nehmen doch die expliziten und zudem ausladend langen Passagen der wapenliet viel Platz in der Erzählung ein. Die wapenliet sind in der aventürehaften Dietrichepik so weit verbreitet, dass sie als Gattungssignal fungieren und

|| 9 Die Wiener Virginal (nach Heinzle V12) ist Teil von Lienart Scheubels Heldenbuch, das wohl um 1480 entstanden ist. Vgl. Björn Michael Harms, Narrative ›Motivation von unten‹. Zur Versionenkonstitution von ›Virginal‹ und ›Laurin‹, Berlin, Boston 2013 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 7), 72. Die Virginal ist in drei vollständigen Handschriften – der Dresdner Virginal, der Heidelberger Virginal und der Wiener Virginal – und in zehn Fragmenten vom frühen 14. bis ins späte 15. Jh. überliefert. Die vollständigen Handschriften enthalten selbständige Versionen des Textes, die Wiener Virginal entspricht einem Mischtext aus den Versionen, für die die Heidelberger und die Dresdner Handschrift stehen; vgl. Heinzle (wie Anm. 1), 135– 137. Uta Störmer-Caysa, »Die Architektur eines Vorlesebuches. Über Boten, Briefe und Zusammenfassungen in der Heidelberger Virginal«, ZfG 12 (2002), 7–24, hier: 7, spricht in Bezug auf die Wiener Virginal von »Erzählelementen, die im Erzählfluß als gleichberechtigte Varianten zur Wahl stünden«. Ausführlich zu den einzelnen Textversionen Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, München 1978 (MTU 62), 34–37 und 329–334, sowie Hugo Kuhn, »Virginal«, PBB 71 (1949), 331–386. Zu den Unterschieden der Fassungen vgl. auch Dietmar Peschel-Rentsch, »Schwarze Pädagogik – oder Dietrichs Lernfahrt: er weste umb âventiure niht. Hildebrants Erziehungsprogramm und seine Wirkung in der Virginal«, in: ders., Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkung in mittelalterlicher Literatur, Jena, Erlangen 1998, 176–202, hier: 189–191, der auch die Strukturanalogien zum sogenannten ›klassischen‹ Artusroman herauszuarbeiten versucht. 10 Zu Beginn von Str. 84 steht die Überschrift Die wapen-lieder, mit der die Schilderungen der herausragenden Rüstung des Heiden Orkise eingeleitet werden; ihr Ende finden sie mit der Überschrift Ein end der wapenlit zu Beginn von Str. 104. Zitierte Ausgabe: Dietrichs erste Ausfahrt [Wiener Virginal], hrsg. von Franz Stark, Stuttgart 1860 (BLV 52).

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Verknüpfungen zwischen den Sageninhalten bzw. verschiedenen heldenepischen Prätexten herstellen.11 In einer Damenrunde wird der noch unerfahrene und junge Dietrich von Bern gefragt: ›her, ist euch icht kunt, wißt ir icht fremder mere? ist euch kein abenteür geschehen? die wolt wir horen gerne, die warheit solt ir uns verjehen‹. (29, 5–9) Herr, kennt Ihr unbekannte, neue Geschichten? Habt Ihr etwa noch kein Abenteuer erlebt? Die Geschichten würden wir gerne hören, die Wahrheit sollt Ihr uns darüber sagen.

Dietrich kann von keinem solchen Abenteuer berichten und verlässt daraufhin schamrot die vrouwen, um Rat bei seinem Waffenmeister Hildebrand zu suchen. Dieser sieht nun die Zeit gekommen, den jungen Ritter »mit sinnen und mit fugen« (28, 3) an Aventüre heranzuführen,12 denn: Ach got, was sol zur welte der, und dem sein schilt und auch sein sper doch nimmer bruch gewünne, der doch tregt eines herren nam! (33, 1–4) Ach Gott, was soll derjenige auf der Welt, der zwar Herr genannt wird, aber dessen Schild und Speer doch niemals im Kampf erprobt wurden!

|| 11 Vgl. Kerth (wie Anm. 3), 201. 12 Viele Forscher haben die Wiener Virginal als höfisches Erziehungsprogramm gedeutet und die Ausfahrt und die Aventüre als Frauendienst gesehen, so z. B. Kurt Ruh, »Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters«, in: Willi Erzgräber (Hrsg.), Europäisches Spätmittelalter, Wiesbaden 1978 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft 8), 117–188, hier: 158–160, und auch Kay Malcher, Die Faszination von Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik, Berlin 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 60), 232. Anders sieht dies Cordula Kropik, die im Mittelpunkt der Aventüre nicht Ruhm und Ansehen bei einzelnen Damen oder eine Erziehungsgeschichte feststellt, sondern das Wohl der Gemeinschaft in Gestalt all ihrer Exponenten, auch der schutzbedürftigen; vgl. Cordula Kropik, »Dietrich von Bern zwischen Minnelehre und Fürstenerziehung. Zur Interpretation der Virginal h«, JOWG 14 (2003/04), 159–173, hier: 171. Florian Kragl, Heldenzeit. Interpretationen zur Dietrichepik des 13. bis 16. Jahrhunderts, Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 12), 331–335, sieht eine Verdoppelung des Aventüre-Begriffs. Ausführlich zur Forschungsübersicht Harms (wie Anm. 9), 71–79.

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Der zerschlagene Schild und Speer werden zum Ausweis des erfahrenen Kämpfers. Sie sollen demnach nicht nur als schmückende Waffe und Erkennungsmerkmal dienen, sondern im Kampf aktiv eingesetzt werden und bei der Rückkehr an den Hof als Erinnerungsmedium des harten, aber siegreichen Kampfes gelten. Held ist also nur derjenige, der einen Verschleiß an seinen Rüstungsutensilien aufweisen kann und demnach einen Beweis hat, wirklich gekämpft zu haben. Im folgenden Erzählverlauf werden die Rüstungen Dietrichs und Hildebrands ausführlich beschrieben, mit der sie gegen den Heiden Orkise anreiten und in die sich später auch die Zeichen des Kampfes einschreiben sollen (39, 1–40, 12). Diese sind so kostbar und herrlich gefertigt, dass sie durch ihre Inkommensurabilität strahlen.13 Das so bezeichnete wapenliet beginnt nun aber einige Strophen später, und nicht die Rüstung Dietrichs oder Hildebrands steht im Fokus der Erzählung, sondern die Rüstung des Gegners. Schon auf dem Weg zur Aventüre begegnet Hildebrand einer junkfraw in Not, die ihm Auskunft über Orkise geben kann. Der Waffenmeister fordert von dem jungen Mädchen eine genaue Beschreibung des Heiden, genauer gesagt seines harnasch. 19 Strophen lang erklärt diese nun ausführlich dessen Ausrüstung, angefangen beim Harnisch: ›[...] der ist wol getan, der gült im wol ein ganzes lant, der in zu eigen solte han‹ (84, 11–13). Dieser ist so hervorragend gefertigt, dass er demjenigen, der ihn sein Eigen nennen sollte, so viel wert ist wie ein ganzes Land.

Auch sein Waffenrock, Schwert, Speer, Schild und Helm sind über die Maßen kostbar und von herausragender Kunstfertigkeit; damit ausgestattet scheint »der helt enzündet gar« (85, 13). Orkise wird zu einer strahlenden Erscheinung aufgrund seiner Ausstattung, der Glanz seiner Rüstung korrespondiert mit dem Licht und bündelt sich zu einem unübersehbaren Brennball.14 Seine Rüstung flößt Hildebrand Respekt ein (104, 2f.) und führt ihn zu der Annahme, dass der Gegner standesgemäß und schwer zu bekämpfen sein müsse – ein Kampf gegen ihn könne Ruhm und Ehre einbringen und sei daher lohnenswert. All dies kann der Waffenmeister aus der

|| 13 41, 4–7: »sie legten lichten harnasch an / da die zwen wunderküne man, / hin gen der sunnen gleste / so gab ir harnasch licht schein«. 14 87, 1f.: »Der haiden fürt ein lichte prünn, / die leücht nach kaiserlicher wünn«.

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Rüstungsbeschreibung des Mädchens ableiten, die Rüstungsutensilien stehen metonymisch für ihren Träger und seinen Ruf.15 Dass Orkise hauptsächlich über diese wahrgenommen wird, zeigt der Anfang der Wiener Virginal, an dem der Heide schon einmal mit seiner Ausrüstung vorgestellt wird. Mit großer Sorgfalt und Mühe stattet ihn seine zauberkundige Ziehmutter, die Königin von Arabin, aus, um ihn auf seine Mission zu schicken: »sie steürt in auf die cristenheit, / das er sie solte töten« (2, 7f.). Seine Rüstung dient also zuvorderst dem Zweck, ihn im Kampf gegen die Christen zu wappnen, damit er den Sieg davontragen kann. Zudem wird die Rüstung zu einem Dingsymbol, das Ausweis seiner Auserwähltheit ist und ein Warnzeichen für seine Gegner darstellt, denn: [...] wenn der haidenische man verwapent in dem walde reit von im erleüchtet ward der tan (5, 11–13). Wenn der Heide gerüstet in den Wald ritt, wurde der Wald von ihm erleuchtet.

Wie eine Lichtgestalt erscheint Orkise im Wald, sein Auftritt bindet die Blicke.16 Hier nun überschneiden sich die Rüstungsbeschreibungen der Kämpfer aus ›Bern‹ mit der des Heiden. Hildebrand, Dietrich und Orkise scheinen durch ihre Ausstattung jeweils zu leuchten und werden damit gut sichtbar und wahrnehmbar im anderweltlichen Raum der Aventüre. Die leuchtenden Brünnen ziehen sich gegenseitig an, da sie ihre Träger als herausragende Kämpfer im dunklen tan markieren und einen Kampf, mit dem Ruhm und Ehre zu erwerben sind, wahrscheinlich erscheinen lassen. Dietrich und Hildebrand erweisen sich im weiteren Verlauf als tapfere Recken, die sowohl den Heiden niederschlagen können wie auch Drachen, Riesen und weiteres anderweltliches Figurenarsenal. Bei diesen Kämpfen nun verliert

|| 15 Eine ähnliche metonymische Verbindung von Held und Rüstungsutensil findet sich in Hartmanns von Aue Iwein. Der Erzähler berichtet vom beginnenden Wahnsinn des Protagonisten und setzt dabei eine klare Schuldzuweisung fest: »in het sîn selbes swert erslagen« (V. 3224). Das Schwert steht hier für seinen Besitzer, der die Schuld an seinem Versagen nur bei sich zu suchen hat. Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Iwein, hrsg. und übers. von Rüdiger Krohn, komm. von Mireille Schnyder, Stuttgart 2012. 16 »Was man sieht, ist also alles, was ob dieser Situation unter der Kategorie des Auftritts zusammengefaßt werden kann, einer Situation, die den gebündelten Blick auf der einen Seite und das repräsentative Geschehen auf der anderen Seite je zur Selbstständigkeit gelangen läßt«; Harald Haferland, Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, München 1989 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, 10), 82.

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Dietrich sein Schwert, das ihm später durch den Herzog von Arona ersetzt wird. Die Schwertgabe ist einmal Dankesgabe für geleistete Befreiungstaten, dann aber auch Auszeichnung des herausragenden Helden und seiner Kampfeskraft. Das mit Diamanten übersäte Rüstungsutensil ist ein Artefakt, das durch einen intentionalen Schaffensakt von Wilant dem Alten in der Türkei hergestellt wurde.17 Die besondere materiale Ausstattung gestaltet sich wie folgt: Er gab dem fogt von Pern ein schwert mit reicher kost geziret, dem hochgepornen fürsten wert, mit rotem gold poliret wol an der klingen uber al, dar mit sein hant tet mangen schlag, das es durch das gepirg erhal. (401, 8–13) Er gab dem Vogt von Bern ein kostbar verziertes Schwert, dem hochgeborenen Fürsten angemessen, mit rotem Gold an der gesamten Klinge geschmückt. Damit schlug er viele kräftige Hiebe, die durch das gesamte Gebirge zu hören waren.

Die edle Ausschmückung des Schwertes lässt es strahlend erleuchten, und so komplettiert es die ohnehin leuchtende Rüstung des Helden in idealer Weise. Es ist ein Unikat von unermesslichem Wert und übermäßiger Schärfe (402, 1: »Kein waffen nie so wol geschneit«). Der Berner ist ob »der gabe fro« (403, 1), hat er doch nun eine passende Waffe, die ihn für seine bereits geleisteten Taten auszeichnet und weitere Heldentaten überhaupt erst ermöglicht. Dietrich, der anfangs unerfahrene Jüngling, »der streites nie gepflegen« (27, 2), hat sich in den bisherigen Kämpfen so bewährt, dass nicht nur seine vormalige Ausrüstung Spuren davon getragen hat bzw. gänzlich kaputt gegangen ist, sondern er nun auch für seine manheit und sterce durch die Waffengabe ausgezeichnet wird. Dietrich wird als Held markiert, der mit einem besonderen, bedeutungstragenden Gegenstand ausgerüstet ist – sein neues Schwert ist der sichtbare Beweis für die höfische Öffentlichkeit, dass Heldentaten in der Vergangenheit vollbracht wurden und damit auch neue in der Zukunft vollbracht werden. An den Rüstungsutensilien lässt sich demnach zweierlei erkennen: zum einen, ob es sich um einen standesgemäßen Gegner handelt, und zum anderen, ob der Träger höfisch, ehrenhaft und ausgezeichnet ist.

|| 17 Artefakte sind notwendigerweise immer planmäßig hergestellt und wesentlich intentionsabhängig. Vgl. Ludger Jansen, »Warum sich Artefakte ihrer Marginalisierung widersetzen«, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 61 (2013), 267–282, hier: 267.

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3 Eckes Brünne, Eckesachs und Hiltegrin – die Funktion der Rüstung im Eckenlied 3.1 Eckes Brünne Erscheint in der Wiener Virginal die Beschreibung und Funktion der Rüstungsutensilien als besonders hervorgehoben, dürfte sich dieser Eindruck mit Blick auf das Eckenlied bestätigen. Das Eckenlied erfreute sich großer Beliebtheit, was sich an der Überlieferung zeigt: Erhalten sind mindestens sieben Handschriften von der ersten Hälfte des 13. bis an die Wende vom 15. zum 16. Jh. und mindestens 12 Drucke von 1491 bis ca. 1590.18 Man rechnet es zu den ätiologischen Sprossdichtungen, denn es erklärt den Namen von Dietrichs Schwert Eckesachs, indem es zeigt, wie Dietrich es Ecke abgewinnt.19 Das Eckenlied erzählt die Geschichte vom riesenhaften Jungritter Ecke, der sich, um Ehre zu erringen und weil ihn drei Königinnen aussenden, auf die Suche nach dem in seiner Fama allgegenwärtigen, ansonsten aber in der epischen Welt noch von niemandem geschauten Dietrich von Bern macht.20 Weder an manheit noch an êren können sich andere an dem Berner messen, »sus stat in ob sin lob vil gar« (18, 10). Ecke fühlt sich durch die Erzählungen der Heldentaten Dietrichs in seiner eigenen êre geschmälert und will daher den Berner zum Zweikampf herausfordern. Die handlungslogisch notwendige Störung, mit der das Geschehen in Gang kommt, liegt bei ihm.21 Dietrich ist ein erwünschter Gegner, weil er als der Kühnste gilt und Ecke bei einem Sieg über ihn nicht nur Ruhm, sondern auch einen eigenen Ruf erwerben kann:22 Mit einem Sieg über den Berner könnte sich

|| 18 Vgl. Heinzle (wie Anm. 1), 109. Die beiden vollständigen Handschriften, das Donaueschinger Eckenlied und das Dresdner Eckenlied, enthalten selbständige Versionen. Die Drucke bieten eine dritte Version, die auch von drei handschriftlichen Fragmenten bezeugt wird; vgl. ebd., 112. Zu den einzelnen Fassungen und deren inhaltlichen Überschneidungen und Abweichungen Heinzle (wie Anm. 9), 19–23 und 290–298. Die folgende Interpretation hält sich an die Fassung L (nach Heinzle: E2), überliefert im Donaueschinger Cod. 74. Zitierte Ausgabe: Das ›Eckenlied‹. Text, Übers. und Komm., hrsg. von Francis B. Brévart, Stuttgart 1986. 19 Vgl. Haustein (wie Anm. 6), 53. Es liegt die Vermutung nahe, dass Eckesachs ursprünglich ein sprechender Name von Dietrichs Schwert war (mhd. ecke heißt ›Schneide‹ und sahs ›Messer, Schwert‹; übersetzt würde eckesachs also ›Schwert mit scharfer Schneide‹ bedeuten), dass dieser Name dann als ›Schwert des Ecke‹ gedeutet wurde und dass das Eckenlied zu dem Zweck verfasst wurde, den Namen zu erklären; vgl. Heinzle (wie Anm. 1), 120f. 20 Vgl. Malcher (wie Anm. 12), 22. 21 Vgl. Bleumer (wie Anm. 3), 139. 22 Vgl. Müller (wie Anm. 8), 104.

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Ecke endlich auch einen Namen machen. Als zusätzliche Motivation wird er von den drei Königinnen von Jochgrimm, insbesondere von Seburg, dazu aufgefordert, den Helden lebend in ihr Königreich zu bringen; als Belohnung wird ihm die Minne einer der Königinnen versprochen.23 Damit Dietrich wirklich am Leben bleibt, stattet Seburg Ecke als vorauseilenden Lohn für die Einhaltung des Versprechens mit der besten »brúnne« (21, 3) aus, »die mannes ge ie gesach« (21, 4).24 Dass die Rüstung von nun an leitmotivisch die Erzählung durchzieht, bestätigt die ausführliche Schilderung ihres Aussehens, ihrer Machart und speziell ihrer Herkunft.25 Natürlich ist diese besonders kunstvoll gefertigt und von großem materiellen Wert. Nichts an der Brünne ist aus Stahl, die fingerdicken Ringe sind aus purem Gold und in Drachenblut gehärtet: kains swertes snid ir als ain har gewan nie dú vil gte dú wart geworket in Arabi usser dem besten golde. ir wont aines landes koste bi, swer si vergelten sollte. (24, 5–10) Keine Schneide eines Schwertes hat dieser vortrefflichen Rüstung auch nur das Geringste anhaben können. Sie wurde in Arabien hergestellt und ist aus kostbarstem Gold gefertigt. Sie ist eines ganzen Landes wert, wer auch immer sie verkaufen wollte.

|| 23 »Nicht die Ehre dessen, von dem man erzählen könnte, er habe den Berner erschlagen, sondern eine Statuserhöhung, die aus der gesellschaftlichen Anerkennung im Dienst an einer Dame resultiert, hat Seburg dem Helden zu bieten. Sie, die in der gesellschaftlichen Hierarchie über Ecke steht, entwirft den Zusammenhang eines reziproken Dienst-Lohn-Verhältnisses«; Malcher (wie Anm. 12), 55. Im Rahmen der Übernahme von Elementen aus dem Artusroman ist dem Verfasser des Eckenliedes Aventürekritik und Kritik am Frauendienst vorgeworfen worden. Beides gehört zusammen, da nach landläufiger Vorstellung im Eckenlied der Frauendienst zur Aventüre führt. Vgl. Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (Beihefte zur GRM 12), 187. Kragl (wie Anm. 12), 266, spricht von einer »sonderbare[n] Verquickung von Ruhmerwerb und Minnedienst«. 24 William Layher, »vom touf unz an sind ende geschach im nie so we. Schmerz als historische Erfahrung in der germanisch-deutschen Heldenepik (Beowulf – Eckenlied – Nibelungenlied)«, in: Hans-Jochen Schiewer u. a. (Hrsg.), Schmerz in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2010 (TRAST 4), 191–211, hier: 205, deutet die Übergabe der Brünne als Zeichen dafür, dass sich Seburg sicher ist, dass der Kampf für Ecke nicht leicht werden wird, v. a. wegen der Bedingung, Dietrich lebendig zurückzuführen. 25 Vgl. Carola L. Gottzmann, Heldendichtung des 13. Jahrhunderts. Siegfried – Dietrich – Ortnit, Frankfurt a. M. u. a. 1987 (Information und Interpretation 4), 147.

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Die Beschreibung der Rüstung evoziert Unverletzbarkeit und damit den Grenzwert physischer Resistenz, die dem Menschen genuin mangelt.26 Doch nicht nur ihre materiale Beschaffenheit und besondere Funktion heben sie als unikales Objekt hervor, sondern auch ihre Vorbesitzer. So wurde der erste Besitzer, König Ortnit aus der Lombardei, von Drachen – da die Brünne ja unzerstörbar ist – herausgesaugt (21, 13: »die sugen in durch das werk«). Später erkämpfte sie sich der »lobeliche« (22, 1) Wolfdietrich aus Griechenland, und zwar »an alle schande« (22, 3). Er stiftete die Rüstung einem Kloster in Dijon zu Burgund, wo sie Seburg nach seinem Tod erstand »umb fúnfzig tusent mark« (22, 13).27 Die Brünne erinnert an ihre Vorbesitzer, deren Taten sich in den Gegenstand eingeschrieben zu haben scheinen.28 Der Träger partizipiert dadurch an ihrem Heldentum, die Vorbesitzer bleiben durch die Brünne in der Erzählung stets präsent. Ecke wird damit aber nicht ausgestattet und ausgesendet, um ihr seine eigenen Taten einzuschreiben, sondern um den Vorbildern gemäß zu handeln. Man soll ihren Träger nicht als ›Individuum‹ erkennen, sondern als Repräsentanten überlegener Gewalt.29 Die Weitergabe an Ecke ist somit keine Auszeichnung, sondern eine Kennzeichnung. Erst im Moment der Ausrüstung wird Ecke überhaupt zu einer sichtbaren Erscheinung:30 Erfährt der Rezipient vorher nichts über seine Gestalt, da Ecke nur als Sprecher aufgetreten ist, wird er nun anhand der Rüstungsausstattung beschrieben. Die Ausrüstung geschieht nicht um Eckes, sondern um Dietrichs willen: Seburg stattet den Riesen nur damit aus, damit er eine weitere Motivation hat, den Berner lebend nach Jochgrimm zu bringen.31

|| 26 Vgl. Udo Friedrich, »Transformationen mythischer Gehalte im Eckenlied«, in: ders., Bruno Quast (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004 (TMP 2), 275–297, hier: 282f. 27 In der Vorgeschichte um Ortnit ist die Rüstung defensives Instrument in der Auseinandersetzung mit der wilden Natur. Der Drachenkampf ist in mittelalterlicher Epik Inbegriff dieser kulturellen Selbstbehauptung. In der Vorgeschichte um Wolfdietrich steht die Rüstung konträr zum Pazifismus der Religion. In der conversio des Heros wird ein entscheidender Kampf sichtbar, nämlich der mit den Seelen seiner Gegner. In Ortnit und Wolfdietrich werden zwei entgegengesetzte Exempel ins Bild gesetzt, die die klassische Aitiologie der Waffe unterlaufen. Vgl. ebd., 284. 28 Gegenstände können ein Abbild der Vergangenheit sein aufgrund ihrer bloßen Existenz oder auch in bestimmten Situationen Erinnerungen evozieren. Zudem können Objekte explizit als mnemotechnische Hilfsmittel verwendet oder benutzt werden, was jedoch aktives Handeln voraussetzt. Vgl. Hans Peter Hahn, Materielle Kultur. Eine Einführung, Berlin 2005, 39. 29 Vgl. Müller (wie Anm. 8), 106. 30 Vgl. Bleumer (wie Anm. 3), 142. 31 Vgl. ebd. 140f.

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In der Art der wapenliet der Wiener Virginal wird auch im Eckenlied die Ausstaffierung mit Rüstungsutensilien für die Ausfahrt genauestens beschrieben. Die Königin selbst legt Ecke die »zwo hosan« (30, 1), gefertigt aus reinem Gold, an. Sie überreicht ihm das kostbare Schwert, den Schild und setzt ihm selbst den Helm auf (31–34). Dadurch soll ein Kontrakt zwischen zwei sozial ungleich gestellten Parteien zustande kommen.32 Die Waffen und Rüstungsutensilien nimmt Ecke voller Dankbarkeit an und weiß deren Wert durch die strahlend sichtbaren Verzierungen mit Gold und Edelsteinen zu schätzen. Doch das Pferd, das ihm Seburg am Ende ebenfalls übergeben will, lehnt er vehement ab. Diese Ablehnung ist bedeutsam, fällt sie doch auf die Schenkende zurück: Ohne das Pferd ist die Rüstung nicht mehr repräsentativ und bedeutet große Schande für Seburg. Die Rüstungsutensilien werden als bloße Hülle dechiffriert, die das ungehobelte Wesen Eckes nicht verbergen können.33 Ecke wird durch die Rüstungsübergabe nicht zum Helden, sondern seine unhöfische Abstammung und Art wird dadurch überdeutlich in der Erzählung markiert und offengelegt – wie sich an der Reaktion Hildebrands in Str. 44 zeigen wird. Obwohl er also herausragend ausgestattet ist, steht ab diesem Punkt der Erzählung schon fest, dass er gegen den Helden nicht gewinnen kann. Die Rüstung erscheint als ›geliehener‹ Gegenstand, der eigentlich einem Helden zugehörig ist – die ihr eingeschriebene heldische Vorgeschichte wird dem jetzigen Träger nicht gerecht. Nichtsdestotrotz verfehlt Ecke mit den Rüstungsutensilien nicht eine gewisse Wirkung. In der Wildnis fällt er schon den »wilden tieren« (37, 12) durch den glockenhellen Klang auf, den seine Rüstung in Bewegung erzeugt. Ecke, der Held ohne Namen, wird nun auffallend akustisch und visuell wahrgenommen: Von der Tierwelt wird ihm »vil nach gekaphet« (37, 13). In Bern ist es nicht der Klang, sondern die Strahlkraft, die Aufmerksamkeit erregt – er wirkt durch seine Ausstattung wie entzündet. Besorgt äußert sich dazu ein Bewohner von Bern: ›ja, herre! wer ist jener man, der dort stat in dem fúre? er trait so liehten hrnasch an und ist so ungehúre. und stat er kaine wile da, die gten stat ze Berne verbrennet er iesa‹. (42, 7–13)

|| 32 Vgl. Bleumer (wie Anm. 3), 141. 33 Dass Ecke das Pferd nicht ablehne, weil er ein Riese sei und daher nicht reiten könne, hat Christoph Fasbender, »Eckes Pferd«, JOWG 14 (2003/04), 41–53, ausführlich und textnah durchdekliniert.

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Oh, mein Herr! Wer ist dieser Mensch, der dort in Feuer steht? Er trägt eine so glänzende Rüstung und sieht so gefährlich aus. Wenn er noch eine Weile da stehenbleibt, wird er die herrliche Stadt Bern in Brand stecken.

Mit der Rüstung wird Ecke zwar nicht zum Helden, aber er wird als gefährlich und zerstörerisch wahrgenommen. Er erscheint so »ungehúre«, dass ihm durch sein bloßes Erscheinen zugetraut wird, ganz ›Bern‹ in Brand zu stecken. Die Rüstung und ihre Semantik können demnach unabhängig vom Träger die Identität eines Gegenstandes sichtbar machen. Im Glanz der Harnische entsprechen sich Ecke und Dietrich: Als sie im Wald aufeinandertreffen, sind es zuerst die Brünnen, die miteinander zu korrespondieren scheinen. Sie geben beide einen so »liehten schin« (70, 2) ab, dass sie sich im Wald gegenseitig anziehen. Die Figuren werden nur über ihre Ausstattung wahrgenommen. Sie ist es auch, die Dietrich zuvorderst bei der Begegnung mit Ecke ins Auge fällt: Er kann sich nicht erklären, wie etwas so genuin Höfisches in dessen Besitz gelangen kann (75). Das einzige, was ihn an Ecke interessiert, sind Name und Herkunft seiner Rüstung. Dietrich weiß, dass eine Geschichte und ein Vorbesitz mit der Brünne verbunden sein müssen: Sie ist so kostbar, dass sie nur eines Helden würdig ist. Wie schon oben an der Wiener Virginal gezeigt, bestätigt sich auch hier, dass Rüstungsutensilien nicht nur Identifikationszeichen sind, sondern auch als mnemotechnisches Hilfsmittel dienen, die vergangene Taten und Auszeichnungen des Helden nach außen hin sichtbar machen. Die Aura der Rüstung scheint aber nicht mit der Figur Eckes zu korrespondieren, sie steht für sich selbst ein. Es wird überdeutlich sichtbar, dass Ecke sie nicht im Kampf erworben hat. Der Berner ist nicht gewillt, gegen Ecke anzutreten, der ihn mit diversen Hinweisen auf seine Ausrüstung dennoch zu einem Kampf zu bewegen versucht. Dietrich will aus mehreren Gründen nicht kämpfen: Zum einen scheint der Riese kein angemessener Gegner zu sein. Das Äußere kann das Innere hier nicht verdecken, seine Abstammung tritt durch die hochpolierte Rüstung nur noch deutlicher hervor. Zum anderen schlägt Dietrich mit seiner Kampfweigerung die Rüstung als Preis aus, die Ecke für den Fall eines Sieges in Aussicht gestellt hatte. Ecke hatte die Rüstung in seiner Antwort auf die Fragen Dietrichs auf Machart, Güte, Verwendbarkeit und monetären Wert reduziert. Wenn aber der Besitz der Brünne überhaupt einen Anreiz für Dietrich darstellen kann, dann nur, so impliziert seine Frage, wenn sie die Möglichkeit eröffnete, sich in eine mit Legitimität aufgeladene heroische Tradition einzureihen.34

|| 34 Vgl. Malcher (wie Anm. 12), 96.

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Als es schließlich doch zum Kampf kommt, trägt Dietrich den Sieg davon. Als Zeichen seiner Überlegenheit nimmt er dem Riesen die Rüstung ab und passt sie mit Hilfe des Schwertes Eckesachs seinen Körpermaßen an (147). Die Brünne wird mit einer neuen Geschichte versehen, die nur noch mit dem Berner verbunden ist. Indem sie nun den passenden Besitzer gefunden hat, fungiert sie in der weiteren Erzählung als Ausweis seines Sieges gegen den unholden Gegner (63 und 211).

3.2 Eckesachs und Hiltegrin Schon vor Kampfbeginn rückt das Schwert Eckesachs ebenfalls in den Fokus der Erzählung. Dem wapenliet der Rüstung wird nun ein weiteres über das Schwert zur Seite gestellt. Bei der Einkleidung des Riesen lässt Seburg ein kostbares, hier noch namenloses Schwert herbeibringen: »sin knoph« (31, 5) ist ein Hyazinth, die Scheide ist pures Gold, und der Beschlag an der Spitze ist mit einem roten Rubin versehen (31). Weder die Funktionen noch die vormaligen Besitzer finden Erwähnung, nur die kunstvolle Materialität rückt bei der Übergabe in den Fokus. Es ist der Riese selbst, der das Schwert mit einem Namen und mit einer Genealogie versieht. Dietrich will beim Aufeinandertreffen die Geschichte der Rüstung erfahren, der Riese erzählt ihm aber stattdessen eine Lügengeschichte über sein Schwert: »ain vil gt swert das trag ich, / das smittont vil getwerge« (79, 2f). Geschmiedet in einem »holen berg« (79, 6), sei ihm gleich nach der Fertigstellung durch die Zwerge der Name »sahs« (80, 2) zugewiesen worden.35 Unzerstörbar, so erzählt Ecke weiter, sei es, da die Zwerge es »in der Drale« (81, 12f.) härten ließen. Seine vormaligen Besitzer seien zudem allesamt ausgezeichnete Helden, die herausragende Taten damit vollbracht hätten (81f.). Indem Ecke dem Schwert eine Geschichte und damit zusätzliche Bedeutung zuweist, zeichnet er sich selbst als unbesiegten Kämpfer aus. Er stilisiert sich zum Helden, der in legitimer Besitzfolge des Eckesachs steht. Dietrich durchschaut seinen Gegner und reagiert anders als vom Riesen gewünscht: In ironischer Rede lehnt er den Kampf nun erst recht ab.

|| 35 Ein Schwert namens ›Eckesachs‹ kommt auch in Heinrichs von Veldeke Eneasroman vor. Volcanus, der Schmiedegott, lässt Eneas ein Schwert zukommen, das noch herausragender und v. a. schlagkräftiger ist als Eckesachs (160, 20–161, 5). Benutzte Ausgabe: Heinrich von Veldeke, Eneasroman, nach einem Text von Ludwig Ettmüller ins Nhd. übers., mit einem Stellenkomm. und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, Stuttgart 2010. Heinzle (wie Anm. 1), 120, deutet diese Nennung als Hinweis auf die Existenz einer mündlichen Ecke-Sage vor dem Eckenlied.

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Ein Riese kann eben nicht der rechtmäßige Besitzer eines höfischen Schwertes sein.36 Nachdem der Kampf letztlich doch stattgefunden hat, nimmt Dietrich dem Riesen das Schwert als Zeichen der Unterwerfung ab. Zugleich erprobt er auch die sagenhafte Schlagkraft, indem er damit die eigentlich unzerstörbare Rüstung für sich passend schlägt (147). Dietrich hat das Schwert im rechtmäßigen Kampf erobert, der Held besitzt nun nicht nur die Rüstung, sondern auch die Waffe als Beweis seiner geleisteten Tat. In Kombination mit dem Schwert ist der Held so furchteinflößend, dass sich die folgenden Gegner teilweise sogar weigern, gegen ihn anzutreten.37 Dietrich begegnet Ecke im tan aber nicht ungerüstet. Er ist zu diesem Zeitpunkt der Erzählung, anders als in der Wiener Virginal, schon ein erfahrener und weithin bekannter Held; dementsprechend wird seine Heldenhaftigkeit über seine Ausrüstung vermittelt. Im Besonderen wird Hiltegrin, der Helm Dietrichs, in der Erzählung zu einem Dingsymbol, das für seinen Träger steht. Die Helme Eckes und Dietrichs ziehen sich ähnlich wie die Rüstungen an und erzeugen strahlende Lichteffekte. Zwei Monden ähnlich, erscheinen sie im dunklen Wald (70). Dietrich bemerkt den übermäßigen Glanz und glaubt, dass dieser allein von seinem Helm komme. Er fängt ein Selbstgespräch an, indem er Hiltegrin über die Maßen lobt: ›wie bistu hint geschnet! dem smide ms zergan sin pin, des hant dich hat gekrnet: des wúnschet im min zunge gar. so du ie elter wirdest, so wirst ie liehter var.‹ (71, 7–13) ›Wie schön du heute Nacht bist! So hat sich die Mühe des Schmiedes, dessen Hand dich so geschmückt hat, gelohnt: Das wünsche ich ihm voll und ganz. Je älter du wirst, desto leuchtender wird deine Farbe.‹

Dietrich ist von der Wirkung seines Helmes entzückt, sein Selbstgespräch ähnelt einem Minnegespräch: Ähnlich einer vrouwe preist er die Vorzüge des Helms. Er

|| 36 »Die Waffe ist zu allererst Garant und damit Zeichen der Macht: Waffentragen ist Vorrecht des Adels, ist Ausdruck seines Gewaltmonopols und markiert den sozialen Unterschied. Sie ist Bestandteil ritueller gesellschaftlicher Akte«; Friedrich (wie Anm. 26), 285. 37 So will Vasolt Eggenot nicht zu Hilfe kommen, als dieser im Kampf gegen Dietrich zu verlieren droht: »Er wolt im gern geholfen han, / er entorst hern Dietherich niht bestan. / sin swert das forht er sere« (219, 1–3).

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hebt die äußere Schönheit hervor, die auf die handwerkliche Kunstfertigkeit des Schmiedes verweist, und den immer heller werdenden Glanz. Entgegen der typischen Abnutzungserscheinungen anderer Helme, die mit der Zeit an Strahlkraft verlieren, widersetzt sich Hiltegrin dem zeitlichen Verfall und wird durch die damit vollbrachten Taten nur noch schöner. Der Gegenstand wird dabei zu einem Subjekt, nicht zu einem Objekt der Ansprache. Die Beziehung zwischen Hiltegrin und Dietrich ist eine symbiotische:38 Die Aura des Helden ist an Hiltegrin gebunden, ja man könnte sogar sagen, dass der auratische Gegenstand auf Dietrich wirkt, so wie der Helm erst mit dem richtigen Träger seine Bedeutung entfalten kann. Der Held tritt hinter seiner Rüstung zurück, die ihn voll und ganz repräsentiert.

4 Der Held und seine Rüstung im späten Artusroman am Beispiel von Wirnts von Grafenberg Wigalois Wie gezeigt werden konnte, spielt die Rüstung des Helden und seiner Gegner in der aventürehaften Dietrichepik eine wichtige Rolle. Dabei wird die ausführliche Beschreibung sogar mit dem terminus technicus ›wapenliet‹ versehen. Die wapenliet sind Gattungselemente, die einen metatextuellen Charakter besitzen, indem sie mit ihren (oft ätiologischen) Herkunftsgeschichten intertextuelle Verweise zwischen verschiedenen Dichtungen der Werkreihe ›aventürehafte Dietrichepik‹ herstellen.39 Mit der detailgenauen Waffenbeschreibung verbunden sind dem Rüstungsutensil eingeschriebene Taten, die sich memorieren lassen und die Vorgeschichte des Gegenstandes in den Blick rücken, aber auch an die Eroberung durch den Helden erinnern. Dietrich wird dadurch als herausragender Kämpfer gekennzeichnet, ausgezeichnet und im Raum der Aventüre wie auch am Hof erkennbar. Doch die aventürehafte Dietrichepik ist nicht die einzige Gattung, in der von Rüstungsgegenständen bzw. der Ausrüstung des Helden und der damit verbundenen Herkunfts- bzw. Eroberungsgeschichte erzählt wird. Im Artusroman (z. B. Gahmurets Helm oder Ithers Rüstung im Parzival), dem höfischen Roman (z. B. das Schwert in Gottfrieds von Straßburg Tristan), dem Antikenroman (z. B. Eneasʼ Rüstung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman) oder auch in der Chanson

|| 38 Vgl. Friedrich (wie Anm. 26), 286. 39 Vgl. Sonja Kerth, »Helden en mouvance. Zur Fassungsproblematik der Virginal«, JOWG 14 (2003/04), 141–157, hier: 144f.

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de geste (z. B. Rolands Schwert und Horn) fallen bedeutungstragende Rüstungsgegenstände auf. Deutlich breiter und forcierter jedoch treten Dinge und insbesondere auch Rüstungen im späten Artusroman in den Fokus der Handlung: Hier spielen die Waffen des Helden eine herausgehobene Rolle, sind sie doch zum einen die Voraussetzung für eine gelingende Aventüre und tragen sie zum anderen zur Konstitution des Helden bei. Der Held wird im Wesentlichen über seinen materialen Besitz bestimmt. Hier, so meine These, wird die Grundlage für die wapenliet gelegt, die von der Gattung der späten Artusromane in die aventürehafte Dietrichepik hinüberspielen. Wigalois, der Ritter mit dem Rade, ist mit bedeutungstragenden Dingen fast schon überladen, und daher verwundert es wenig, dass er auch eine exzeptionelle Rüstung sein Eigen nennen kann.40 Der im 13. Jh. von Wirnt von Grafenberg verfasste Artusroman ist in 41 vollständigen oder fragmentarischen Handschriften überliefert,41 was für eine große zeitgenössische Beliebtheit spricht, wie sie später auch beim Überlieferungsstand der Dietrichepen festgestellt werden kann.42 Nach dem Kampf gegen einen Drachen, der mit Hilfe einer von Gott gesandten Lanze besiegt werden kann, wird der ohnmächtige Held von gierigen Fischersleuten seiner wertvollen Rüstung und seines magischen Gürtels beraubt (V. 5314–92).43 Beleare, die Frau des Ritters, den Wigalois vor dem Drachen gerettet hat, findet den Wehrlosen und lässt ihn in ihre Burg bringen. Aus Dankbarkeit

|| 40 In meiner Dissertationsschrift Der Lauf der Dinge. Ein Verfahren zur Konstruktion von Anderwelten im ›Wigalois‹ und im ›Lanzelet‹, die voraussichtlich 2016 in der Reihe Mikrokosmos erscheinen wird, gehe ich genauer auf die Funktion bedeutungstragender Gegenstände ein. Die nun folgende Argumentation orientiert sich in weiten Teilen an meiner Dissertation. 41 Die Datierung des Wigalois wurde in der Forschung viel diskutiert. Da sich in der Erzählung die Anspielung auf den Tod Bertholds von Andechs-Meran befindet, ist man sich aber sicher, dass der Roman erst nach 1204 im bayerischen Raum entstanden ist. Vgl. Gert Kaiser, »Der Wigalois des Wirnt von Gravenberc«, Euphorion 69 (1975), 410–443, hier: 410f., und Peter A. Vinilandicus, »Der Artushof im Wigalois. Vom Zusammenbruch und Wiederaufbau«, in: Matthias Däumer u. a. (Hrsg.), Artushof und Artusliteratur, Berlin, New York 2010 (SIA 7), 155–167, hier: 155f. Volker Mertens, »Iwein und Gwigalois. Der Weg zur Landesherrschaft«, GRM 31 (1981), 14– 31, hier: 26f., schlägt eine Datierung nach 1234 vor und bezieht sich dabei auf den Tod von Bertholds Sohn, Otto I. von Andechs-Meran. 42 Vgl. Hans-Jochen Schiewer, »Prädestination und Fiktionalität in Wirnts Wigalois«, in: Volker Mertens, Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Fiktionalität im Artusroman, Tübingen 1993 [SIA 3], 145– 159, hier: 146. 43 Zitierte Ausgabe: Wirnt von Grafenberg, ›Wigalois‹. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übers., erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, 2., überarb. Aufl., Berlin, Boston 2014.

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beschenkt sie ihn mit einer neuen Rüstung, die eine besondere Herkunftsgeschichte aufweist: er wart von einem wîbe verstoln einem getwerge alrêrst ûz einem berge, dâ ez in mit listen gar hêt geworht wol drîzic jâr. (V. 6079–83) Der Harnisch wurde anfangs von einer Frau einem Zwerg aus einem Berg heraus gestohlen, wo er mit großer Kunst wohl dreißig Jahre an ihm gearbeitet hatte.

Die Rüstung wurde über einen langen Zeitraum durch zwergische Handwerkskunst in einem Berg hergestellt. Sie ist aufgrund ihrer Größe allerdings nicht für einen Zwerg bestimmt, sondern als höfische Kampfbekleidung für die Ausstattung eines Helden gedacht. In einer zwergischen Anderwelt wird also ein Artefakt hergestellt, das nicht für die Bewohner der Anderwelt vorgesehen ist. Die Rüstung scheint schon zum Zeitpunkt der Fertigung für Wigalois bestimmt zu sein, da sie auch nur für ihn verfügbar ist. Der Held wird hier nicht mehr über sein Handeln konstituiert, sondern er wird mit dieser speziellen Rüstung als Held ausstaffiert und ausgezeichnet. Ähnliches wurde in diesem Beitrag bereits bei der Rüstungsbeschreibung Dietrichs in der Wiener Virginal und im Eckenlied festgestellt. Die Fertigung des prachtvollen Artefakts verlangt vom getwerge große Geschicklichkeit und ars. Durch die besondere Kunstfertigkeit der Herstellung sticht der Harnisch als außergewöhnlich kostbar hervor, er ist »daz aller beste îsengwant / daz ie dehein keiser getruoc« (V. 6067f.). Die Funktion der Rüstung scheint ideal auf den Kampf ausgerichtet zu sein: Sie ist sowohl leicht zu tragen wie auch undurchdringlich für Waffen jeglicher Art. Das Material, aus dem sie gefertigt wurde, ist so außergewöhnlich, dass es durch den Erzähler nicht bestimmt werden kann: welher hande der harnasch sî, und wære er al der werlte bî, daz ez ziemen errâte, des ist er vrî. (V. 6088–90) Selbst der Weltkundigste wäre nicht imstande zu bestimmen, aus welchem Material der Harnisch sei.

Der harnasch wird aus dem Zwergenberg von einem wîp entwendet und gelangt nach Libyen, wo ihn ein König namens Lamer in seinen Besitz zu bringen versucht. Dieser hat Kenntnis über die besondere materiale Funktion der Rüstung und will sie besitzen, um seine Macht zu steigern. Er »beroubet die stat und daz

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lant / unz daz man im daz îsengwant / in sîn gezelt muose tragen« (V. 6097–99). Aus dem anderweltlichen Raum des Zwergenbergs wird der Gegenstand in eine weltliche Sphäre gebracht, in der ein Kampf um dessen Besitz entbrennt. Über unbekannte Wege kommt das Artefakt schließlich in das Land Korntin, wo er von König Jorel an Beleare und Moral übergeben wird. Sie halten den Besitz geheim und bewahren die Rüstung versteckt auf. Beleare übergibt nun die Rüstung als Geschenk an Wigalois. Der Harnisch soll ihn für die Drachentötung und seine dadurch bewiesene Tapferkeit auszeichnen. Wigalois’ Vortrefflichkeit wird durch die exzeptionell herausragende Rüstung sichtbar gemacht, die seit ihrem Übergang in die höfische Welt »deheinem manne« (V. 6106) gezeigt wurde. Das Artefakt soll den Ritter auf seiner weiteren Aventüre vor Gefahren, weltlicher oder anderweltlicher Art, schützen helfen.44 Zudem dient sie als Ausweis der geleisteten Tat: Die Drachentötung bleibt als Erinnerung an die Rüstung gebunden. Wigalois wird der harnasch nicht einfach übergeben, sondern in einem quasi rituellen Akt durch die ehemaligen Aufbewahrer angelegt: daz reine wîp in niht betrouc an disem, wan dehein man bezzern harnasch nie gewan. sînen halsberc liez er dâ; in disen begunde in wâfen sâ der wirt und diu wirtin. (V. 6125–30) Die edle Frau wollte ihn mit dem neuen Harnisch keinesfalls hintergehen, denn kein Mann besaß jemals einen besseren. Seinen eigenen Halsberg ließ er dort zurück. Burgherr und Burgherrin legten ihm sogleich die neue Rüstung an.

Ähnliches lässt sich auch bei Eckes Einkleidung durch Seburg im Eckenlied beobachten. Die Besitzer rüsten den Helden mit der zwergisch gefertigten Rüstung und übertragen dabei ihre Hoffnungen und Wünsche, den Sieg betreffend, auf ihn. Anders als im Eckenlied, in dem ein Riese durch die Einkleidung zum höfischen Kämpfer gemacht werden soll, bringt die neue Rüstung im Wigalois keine Statusänderung mit sich: Der Held bleibt Held.45 Seine neue Ausstattung dient

|| 44 Vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Sonderausgabe, unveränderter Nachdruck der 2., überarb. und erw. Aufl. 1992, mit einem Vorwort von Claudia Brinker-von der Heyde, Darmstadt 2009, 254. 45 Dass die Einkleidung auch im Artusroman in der Regel mit einem Statuswechsel verbunden ist, zeigt sich in Wolframs von Eschenbach Parzival, z. B. an Parzivals Narrenkleid oder dem Anlegen der roten Rüstung des Ritters Ither. Der Wigalois bildet hier eine Ausnahme.

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der Wehrhaftigkeit gegen die noch kommenden Gegner, insbesondere gegen das Monstrum Marrien.

5 Zeige mir deine Rüstung und ich sage dir, wer du bist Der Wigalois ist nicht der einzige späte Artusroman, in dem ein Rüstungsbestandteil eine exzeptionelle Rolle einnimmt und Heldentaten des Ritters nach außen hin als Kennzeichnung und Auszeichnung sichtbar macht. Als weiteres Beispiel sei Strickers Daniel von dem blühenden Tal genannt: Hier erkämpft sich der Held ein ausgezeichnetes Schwert von einem tyrannischen Zwerg namens Juran. Ähnlich wie bei Dietrich und Hiltegrin besteht auch zwischen Juran und seinem Schwert eine symbiotische Bindung. Als ihm Daniel durch eine list das Schwert abnimmt, ist der Zwerg durch »des swertes minne« (V. 1716)46 so benommen, dass er leicht überwältigt werden kann. Der neue Besitzer wird durch das swert mit gesteigerter Kampfkraft und Mut erfüllt, und auch hier tritt der Held hinter dem Gegenstand zurück. So heißt es in der Erzählung über die Wahrnehmung Daniels: »Daniel was gar ein helt, / ouch was sîn swert ûzerwelt« (V. 3621f.). Auf der Figurenebene steht der Gegenstand für seinen Besitzer, die geleisteten Taten haben sich in die Waffe eingeschrieben und repräsentieren seine Heldenhaftigkeit.47 Wie später im Eckenlied wird auch im Daniel dem unhöfischen Gegner die höfische Waffe abgenommen und dem vorherbestimmten Besitzer zugeführt. Beiden Gattungen, der aventürehaften Dietrichepik und dem späten Artusroman, sind die ausführlich geschilderten Rüstungsutensilien gemein. Wie gezeigt wurde, geht es dabei nicht nur um eine genaue erzählerische Ausgestaltung der Waffen, sondern vielmehr um die Bedeutungsaufladung dieser mit einer Herkunfts- und Abstammungsgeschichte und mit einer darauf folgenden Verknüpfung mit dem Helden.48 Den Gegenständen haften Geschichten in Form von Vorbesitzern und Kämpfen an. Sie sind damit einer narrativen Verschachtelung || 46 Zitierte Ausgabe: Der Stricker, Daniel von dem blühenden Tal, hrsg. von Michael Resler, Berlin, Boston 32015 (ATB 92). 47 Gleiches zeigt sich auch beim Schwert des Helden in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet, in das sich der Sieg Lanzelets über den Herausforderer Iweret eingeschrieben hat. Bei der Übergabe durch die Boten von Dodone wird einerseits an den ehemaligen Besitzer, andererseits aber auch an die geleistete Tat des Helden erinnert. 48 Dies findet sich auch im Artusroman vor dem Wigalois, z. B. in Wolframs von Eschenbach Parzival. Dort ist der Lanze des Anfortas ebenfalls eine nicht gerade nebensächliche Geschichte

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dienlich, bringen sie doch in sich geschlossene Geschichten in die Erzählung ein und sind zugleich handlungsmotivierend. Der Held ist maßgeblich mit seiner Ausrüstung verbunden. Im Daniel beweist der Protagonist seine Exorbitanz durch die Schwertgewinnung. Der Ritter und die Waffe verschmelzen in ihrer Außenwahrnehmung miteinander: Das Schwert steht für Daniel und repräsentiert seine damit vollbrachten Heldentaten. Im Wigalois dient die Rüstung der Auszeichnung des Helden für den Drachenkampf. Nur mit dieser ist er gegen die noch auf ihn zukommenden dämonischen Gefahren gewappnet. So kann Wigalois nur gegen das feuerwerfende Monstrum Marrien aufgrund seiner Rüstung bestehen: Das von diesem geschleuderte, eigentlich alles zerfressende Feuer kann die zwergisch gefertigte Rüstung nicht durchdringen.49 Der Harnisch scheint extra für den Helden gemacht zu sein, seine Exorbitanz spiegelt sich in seiner Ausrüstung wider. Im Hinblick auf die wapenliet zeigen sich jedoch in der aventürehaften Dietrichepik auch Unterschiede gegenüber dem Artusroman. In der aventürehaften Dietrichepik sind die Strahlkraft und sichtbare Wahrnehmung des Helden ganz besonders von seinen Rüstungsutensilien abhängig. Zudem erhalten die Waffen durch Eigennamen eine eigene Identität, die stärker ausgebildet ist als im Artusroman. Das Schwert Eckesachs und der Helm Hiltegrin haben absoluten Wiedererkennungswert, erinnert doch allein schon ihr Name an die vormaligen Besitzer und ist zudem noch sprechend: Eckesacks mit der wörtlichen Bedeutung als ›Schwert mit scharfer Schneide‹, Hiltegrin als ›Kampfschrei‹.50 Diese jeweilige kriegerische Konnotation unterstützt die memoria an den Kampf,51 die sich in dieser Intensität nicht im Artusroman finden lässt. Trotz dieser Differenzen interferieren Gattungsmotive des späten Artusromans und der aventürehaften Dietrichepik. Gattungsprägend für den späten Ar-

|| eingeschrieben: »ein knappe spranc zer tür dar în. / der truog eine glævîn / (der sit was ze trûren guot): / an der snîden huop sich pluot / und lief den schaft unz ûf die hant. / deiz in dem ermel wider want. / dâ wart geweinet unt geschrît / ûf dem palase wît« (231, 17–24). Die Vorführung der Lanze vergegenwärtigt vor den Augen des Gralshofes die Verfehlung des Anfortas. Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 22003. 49 V. 6990–93: »Vil schiere wart im bekannt / daz sînem halsberge lieht / daz selbe listviuwer niht / mohte geschaden; des wart er vrô«. 50 hilt bedeutet ›Kampf‹, grin ›schreien‹; vgl. Friedrich (wie Anm. 26), 286, Anm. 37. 51 Vgl. ebd.

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tusroman sind die bedeutungstragenden Gegenstände, die den Helden konstituieren. In keiner anderen Gattung stehen Dinge so sehr im Fokus. Man könnte sogar sagen: Der Held ›ist‹ seine Dinge. Einen wichtigen Beitrag leisten dazu die Rüstungsutensilien und Waffen, die er auf seiner Aventürefahrt gewinnt und die Beweis und Ausweis seiner geleisteten Taten sowohl im anderweltlichen Raum als auch am Artushof sind. Die erinnernde und auszeichnende Funktion von Waffen rückt auch in der Dietrichepik in den Mittelpunkt und bestimmt das Heldenbild wesentlich. Zudem werden durch die wapenliet in beiden Gattungen paradigmatische Verflechtungen zwischen Räumen und Figuren ermöglicht, die jenseits der syntagmatischen Handlungsabläufe liegen. Im späten Artusroman und – vielleicht davon beeinflusst – auch in der aventürehaften Dietrichepik ist die Ausstattung des Helden konstitutiv für dessen Heldwerdung bzw. seiner Wahrnehmung als eines solchen. Es gilt daher das Motto: ›Zeige mir deine Rüstung und ich sage dir, wer du bist.‹

Christoph Fasbender

Von Gwigalois zu Wigelis Abstract: The paper argues that in its fundamental design Wirnt von Grafenberg’s Wigalois facilitates modes of reception that transcend genre. In importing both hagiographical and heroic narrative models the author was inviting recipients to apply corresponding interpretative strategies, which were articulated through transgeneric realisations of the novel in text and image.

In der Textreihe der hochmittelalterlichen Artusromane genießt der Wigalois Wirnts von Grafenberg (um 1220/30) eine Sonderstellung. Literaturgeschichtlich legitimiert sie sich aus Wirnts ostentativer Absage an die sinntragende bzw. sinnstiftende Struktur, die er in Hartmanns Romanen vorfand. Ostentativ kann die Absage insofern genannt werden, als Wirnt nicht nur überaus deutlich seine Kenntnis des Erec und Iwein offenlegt.1 Ostentativ ist sie auch, weil Wirnt das entscheidende Momentum der sinntragenden Erzählstruktur, die zäsurierende Krise des Protagonisten, mit entwaffnender Offenheit anzitiert, dabei aber den Vorgang seelischer Zerrüttung des Protagonisten in ein Szenario strahlender Epiphanie eines Heilsbringers verwandelt.2 In der Aufhebung der temporären Identitätskrise im kollektiven Urteil der umgebenden Menge offenbart Wirnts Absage an die vorgängige Struktur freilich ihre konzeptionellen Prinzipien. Die ›Entzauberung‹ einer arthurischen Welt, die – zunehmend nicht bloß an ihren Rändern – selbst erlösungsbedürftig ist, fordert einen über alle Zweifel (und Selbstzweifel) erhabenen Protagonisten.3

|| 1 Vgl. Peter Kern, »Die Auseinandersetzung mit der Gattungstradition im Wigalois Wirnts von Grafenberg«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Artusroman und Intertextualität, Gießen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67/[SIA 2]), 73–83; Hans-Jochen Schiewer, »Prädestination und Fiktionalität in Wirnts Wigalois«, in: Volker Mertens, Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft, Tübingen 1993 [SIA 3], 146–159, v. a. 150f.; Christoph Fasbender, Der ›Wigalois‹ Wirnts von Grafenberg. Eine Einführung, Berlin, New York 2010, 4–6. 2 Vgl. Christoph Fasbender, »Gwigalois’ Bergung. Zur Epiphanie des Helden als Erlöser«, in: Brigitte Burrichter u. a. (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin, Boston 2013 (SIA 9), 209–222, v. a. 222. 3 Ich würde daher Ursache und Wirkung andersherum ansetzen als etwa Schiewer (wie Anm. 1), 151: Der »vorbildliche Held« ist nicht »Konsequenz« aus der Einführung einer »linearen Struktur« und der Aufgabe des Doppelwegs. Er ist der Grund für Wirnts Modifikation der Struktur.

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Wirnts Roman ist »Gegentyp« und »Konkurrent« zum Erzählen Hartmann’scher Prägung, weil ihm eine völlig andere Konzeption von Rittertum und Gesellschaft zu Grunde liegt.4 Am »Strukturzitat«5 der Krise macht Wirnt das sichtbar. In Wirnts Absage zeigt sich exemplarisch die diskursive Entfaltung des arthurischen Romans: die »lebhafte, in Erzählkonzepten ausgetragene Auseinandersetzung« mit dem die Textreihe begründenden ›Musterfall‹.6 Man wird nicht behaupten, Hartmann habe den ›ersten deutschen Artusroman‹ schreiben und damit eine Gattung konstituieren wollen. Unstrittig ist indes, dass sich die Textreihe im deutschen Sprachraum im ständigen Rekurs auf den ex post zum Modellfall erhobenen ersten Beweger überhaupt erst konstituierte und dass der Rekurs auf Hartmann ganz wesentlich eine Auseinandersetzung mit seinem ›Doppelweg‹-Modell werden sollte. Die Ausbildung einer Textreihe »in sich selbst fortschreibender Bezugnahme«,7 die sich zumal in ihrer Diskussion einer sinnkonstituierenden Struktur offenbart, ist indes nicht nur eine notwendige Voraussetzung, um Strukturbewusstsein als Konstituens eines historischen Gattungsbewusstseins zu unterstellen. Gattungsbewusste Selbstreferentialität ist überhaupt erst die Rechtfertigung für eine Suche nach ›inter-‹ und ›transgenerischen‹ Erscheinungen im Erzählen um den König Artus: zumindest dann, wenn man nicht bloß auf eine phänomenologische Klassifizierung fokussiert, sondern in jedwedem Bezug auf Merkmale anderer ›Genera‹ einen absichtsvollen Eingriff in das »Geflecht von Bezügen«8 zwischen den Textreihen nachweisen möchte – einen Eingriff zumal, der sich nicht allein als akademisches Problem aufweisen, sondern als historisch wirksam nachweisen lässt.

|| 4 Vgl. Walter Haug, »Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer nachklassischen Ästhetik«, DVjs 54 (1980), 204–231, hier: 209 (»Gegentyp«). Walter Haug, »Über die Schwierigkeiten des Erzählens in ›nachklassischer‹ Zeit«, in: ders., Burghart Wachinger (Hrsg.), Positionen des Romans im späten Mittelalter, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), 338–365, hier: 343, spricht vom Wigalois als dem einzigen Werk, »das dem Chrétienschen Typus Konkurrenz gemacht hat«. 5 Fasbender (wie Anm. 2), 212. 6 Vgl. Klaus Grubmüller, »Gattungskonstitution im Mittelalter«, in: Nigel F. Palmer, Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, Tübingen 1999, 193–210, hier: 205; speziell zum Wigalois noch immer grundlegend Christoph Cormeau, ›Wigalois‹ und ›Diu Crône‹. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Artusromans, München 1977 (MTU 57), v. a. 1–22. 7 Grubmüller (wie Anm. 6), 209. 8 Ebd., 201.

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Hier, zwischen Strukturanalyse und Rezeptionsforschung, liegt die methodische Herausforderung des ›intergenerischen‹ Ansatzes. Hier setzt daher auch der vorliegende Beitrag an. Er kann (und er hat) sich gleich eingangs auf den common sense berufen, Wirnt von Grafenberg führe eine intensive Diskussion mit seinen Prätexten, indem er Hartmanns Strukturmodell gleichsam bei den ›Hörnern der Krise‹ greift, um genau hier, am Dreh- und Angelpunkt des überkommenen Strukturmodells, eine neue Wendung zu präsentieren.9 Damit wäre die oben geforderte Voraussetzung eines strukturbewussten Gattungsbewusstseins als gegeben zu erachten: zumindest insofern, als Wirnt das vorgängige Modell gezielt modifizierte. Nicht entschieden ist damit, inwiefern der Wigalois auch ›positiv‹ Entwurfscharakter besitzt: inwiefern Wirnt nicht nur als Verweigerer einer alten, sondern auch als Stifter einer neuen Struktur gelten kann, inwiefern also der Wigalois auch unter strukturellem Gesichtspunkt als »Gegentyp« (Haug) seiner Prätexte konzipiert war. Lässt sich in diesem Sinne eine strukturelle Neufassung plausibel machen, ist dabei das »sich verändernde Geflecht von Bezügen«10 zu anderen Textreihen in Augenschein zu nehmen. Welche intergenerischen Verschiebungen und Annäherungen sind phänomenologisch erkennbar? Wurden sie historisch wirksam, und wie wirkten sie sich auf die Rezeption des Wigalois aus? Ich wende mich (1.) zunächst (kurz) der alten Frage nach einer eigenen, d. h. sinntragenden Struktur des Wigalois zu und komme dann (2.) auf die intergenerischen Implikationen zu sprechen. Besonders breiten Raum sollen (3.) die Zeugnisse der Wigalois-Rezeption einnehmen. Sie sind die verlässlichsten Zeugen hinsichtlich der Chancen und Grenzen des von Wirnt postulierten Modells.

1 Struktur und Krise Dass die Frage, inwiefern dem Wigalois ein eigenständiges, in Auseinandersetzung mit Hartmann gewonnenes Strukturkonzept zu Grunde liegt und liegen kann, überhaupt gestellt werden darf, hängt an der unklaren Entstehung des Romans. Wir verfügen über keine direkte französische Vorlage und kennen mit dem Bel Inconnu (um 1190) und dem Chevalier du papegau lediglich zwei Texte, die für jeweils einen Teil des deutschen Wigalois stehen.11 Wirnt beharrt darauf, den Stoff || 9 Vgl. Fasbender (wie Anm. 2). 10 Grubmüller (wie Anm. 6), 201. 11 Zur Quellenproblematik Cormeau (wie Anm. 6), 68–103; vgl. Fasbender (wie Anm. 1), 8–12, sowie Wolfgang Achnitz, Deutschsprachige Artusdichtung des Mittelalters. Eine Einführung, Berlin, Boston 2012, 207–209.

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– das »mære« bzw. »die âventiure« (V. 11686, 11690) – von einem »knappen« (V. 11687) mündlich übermittelt bekommen zu haben.12 Da er bestens mit Wolframs Parzival vertraut ist, kennt er natürlich auch dessen Erzähler-Konzeption, so dass man den tatsächlichen Transmissions-Modus wohl nicht anhand der Selbstaussagen wird klären können.13 Unbestritten bleiben zwei Möglichkeiten: »Ob Knappe oder Wirnt: jemand hat entweder eine (verlorene) Montage übernommen, oder er hat selbst zwei ausformulierte literarische Quellen montiert.«14 Der Wechsel der Bezugstexte wäre etwa beim Kampf des Helden mit dem Truchsess vor Roimunt zu verorten (ca. V. 3970),15 die Roimunt-Episode selbst (V. 3973– 4491) wäre dann eine Art Umschlagpunkt zwischen der ersten (V. 1884–3972) und der zweiten Aventürereihe (V. 4492–7904). Man hat wiederholt auf die ›neue Qualität‹ der zweiten Aventürereihe hingewiesen; Claudia Brinker nannte sie konsequent eine »Jenseitsreise«.16 Es trifft auch zu, dass dem deutschen Artusroman hier etwa mit dem Zentauren, der im Dunkel Griechisches Feuer gegen den Protagonisten schleudert, oder dem raubeinigen Waldweib Ruel auf der Ebene der Motive Neues zugeführt wird. Allerdings setzt sich hinter Roimunt auf undurchsichtigem Terrain der Triumphzug des Protagonisten mit eben der Notwendigkeit fort, mit der er in der Ebene der Artuswelt hinter Karidôl begonnen hatte. Dies ist eine petitio principii. Gwigalois ist von Anfang an als Ritter ohne Defizite konzipiert. Alles, was ihm fehlt, sind Frau und Land. Beides erringt er nicht

|| 12 Zitate nach der weiterhin einzigen wissenschaftlichen Ausgabe: ›Wigalois, der Ritter mit dem Rade‹ von Wirnt von Gravenberc, hrsg. von J. M. N. Kapteyn, Bd. 1: Text, Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9). 13 Zum Gesamtkomplex vgl. Neil Thomas, »Wirnts von Gravenberg Wigalois und die Auseinandersetzung mit der Parzival-Problematik«, ABäG 60 (2005), 129–160; Eberhard Nellmann, »Parzival (Buch I–VI) und Wigalois. Zur Frage einer Teilveröffentlichung von Wolframs Roman«, ZfdA 139 (2010), 135–152; Christa Bertelsmeier-Kierst, »Zum Prozess des mittelalterlichen ›Umschreibens‹. Ein Beitrag zur ältesten Überlieferung des Wigalois«, ZfdA 142 (2013), 452–475; Gesine Mierke, »Genealogie und Intertextualität. Zu Wolframs von Eschenbach Parzival und Wirnts von Grafenberg Wigalois«, ABäG 74 (2015), 180–200. Bertelsmeier-Kierst postuliert, wie Thomas und Nellmann, Teil-Kenntnisse einer »Frühfassung« des Parzival, die nach Fertigstellung einer »Frühfassung« des Wigalois in dessen Überarbeitung geflossen seien (474f.). Man wird die philologisch interessante Überlegung in Beziehung setzen müssen zu konzeptionellen Erwägungen, wie sie zuletzt Mierke anstellte (Gawein-Figur), die (notwendig?) bei einer Gesamtkenntnis des Parzival ansetzen (186). 14 Fasbender (wie Anm. 1), 12. 15 Vgl. zusammenfassend ebd. 9. 16 Vgl. Claudia Brinker, »Hie ist diu aventiure geholt! Die Jenseitsreise im Wigalois des Wirnt von Grafenberg: Kreuzzugspropaganda und unterhaltsame Glaubenslehre?«, in: dies. u. a. (Hrsg.), Contemplata aliis tradere. FS Alois Maria Haas, Bern u. a. 1995, 87–110.

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dadurch, dass er im Gang der Handlung zu einem vertieften Verständnis seiner selbst und seiner gesellschaftlichen Pflichten gelangte. Er erringt es mit dem Schwert und unerschütterlichem Gottvertrauen.17 Es wäre indes verfehlt, wollte man die von Wirnt aus Hartmanns Romanen herbeizitierte Krisensituation deshalb, weil sie offenkundig eine andere Funktion als in den Vorgängerromanen erfüllt, als irrelevantes Strukturzitat abtun.18 Wirnt hat, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, den strukturellen Tiefpunkt des Protagonisten umgestaltet zur Epiphanie eines Heilsbringers.19 Bezeichnend sind die durchaus gegenläufigen Wahrnehmungen. Während der aus der Ohnmacht nach dem Drachenkampf erwachende Gwigalois sukzessive seine Identität zu verlieren glaubt, identifiziert die ihn in den frühen Morgenstunden suchende Gesellschaft sukzessive ihren Erlöser.

2 Legendarisches Erzählen Maßgeblich an der Bergung des Erlösers beteiligt ist ein Fischerehepaar. Verbitterung und Skrupellosigkeit der armen Leute kannte Wirnt aus Hartmanns Gregorius, wo sie ebenfalls Entscheidendes zur Resozialisierung des Helden beitragen konnten.20 Wirnt zitiert zwei Legendenfiguren herbei, und er lässt das Schicksal der inferioren Gestalten durch die glückliche Bergung des Erlösers eine legendenhafte Wendung zum Guten nehmen. Der arthurische Roman kennt keine Ethik, die das plötzliche Wohlergehen derer, die den Protagonisten eben noch meucheln wollten, legitimierte – und das ganz ohne Reue, nur dem Wink der Situation gehorchend.21 Helden, die als Werkzeuge der Heilsgeschichte freigesprochen erscheinen, kennt denn auch nur eine Erzählform, für die ein absolutes Heil gesetzt ist.

|| 17 Vgl. Jutta Eming, »Aktion und Reflexion. Zum Problem der Konfliktbewältigung im Wigalois am Beispiel der Namurs-Episode«, in: Kurt Gärtner u. a. (Hrsg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium 1993, Tübingen 1996, 91–101. 18 Vgl. Haug (wie Anm. 4), 211, sowie Klaus Grubmüller, »Artusroman und Heilsbringerethos. Zum Wigalois des Wirnt von Gravenberg«, PBB 107 (1985), 218–239, v. a. 223f. 19 Vgl. Fasbender (wie Anm. 2), 210f. und 220f. 20 Vgl. Werner Schröder, »Der synkretistische Roman des Wirnt von Gravenberg. Unerledigte Fragen an den Wigalois«, Euphorion 80 (1986), 235–277, hier: 265–267; Fasbender (wie Anm. 2), 220f. 21 Vgl. Schröder (wie Anm. 20), 267.

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Der Wigalois wurde verschiedentlich mit der christlichen Legende in Verbindung gebracht. Max Wehrli deutete als erster an, »daß offenbar über bloße Motivanleihen hinaus auch gewisse Analogien und Gemeinsamkeiten der Struktur von Legende und Roman bestehen«.22 Christoph Cormeau konstatierte, dass Wirnts Roman »zum Schauplatz von Legendenwundern« werde.23 Hierher gehören etwa die zahlreichen Anrufungen Gottes, das petite et accipite-Prinzip, die Fokussierung auf den Heilsbringer und die Dämonisierung seiner Gegenüber. Klaus Grubmüller schließlich erkannte im Weg des Helden »im Kern« den »des Heiligen der Legende«.24 Aus ihr, der Legende, habe Wirnt »die Bauform des in einer Linie aufsteigenden Weges gewonnen«.25 Die legendarischen Motive scheinen also nicht bloß in den Gang der Handlung inseriert. Sie korrespondieren mit Elementen einer hagiographischen Erzählstruktur. Die Forschung hat den Befund noch eine Weile hin und her gewendet, ohne recht zu wissen, welche weiteren Folgen er für die Beschäftigung mit dem Wigalois haben könnte. Ich möchte Folgendes festhalten. 1. Indem Wirnt einen Heldentypus einführte, der keinen Prozess der Selbstfindung durchläuft, hob er die zäsurierte Symbolstruktur der etablierten Form implizit auf. 2. Indem die Interaktion des Protagonisten mit seiner Umwelt in dem Sinne unterbleibt, dass er etwas von seinen Gegenübern lernen könnte, bekommen diese neue Funktionen zugewiesen. Wirnt ordnet sie nunmehr so auf den Protagonisten hin, dass sie ihn und sein Erlösungswerk hinlänglich zur Geltung bringen.26 3. Die Erzählwelt, die sich aus diesen stofflichen Prinzipien konstituiert, könnte sich ebenso gut in anderen Formen aktualisieren. Sie ist gekennzeichnet durch ein absolutes Gut, für das der Held und die Seinen einstehen, und ein absolutes Böse, das sich in der Gegnerschaft zum Helden konstituiert. Beides ist aus der Logik des Ansatzes gesetzt, und mit beidem rückt der Wigalois ab von den Texten, in deren Stoff- und Formtradition er einsetzte. Die gesamte Ambivalenz des Erzählten, auf welche die Forschung immer wieder hingewiesen hat – angefangen beim grundsympathischen Teufelsbündner Roaz bis hin zum netten Vergewaltiger Lion27 –, ist wohl in der

|| 22 Max Wehrli, »Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter«, in: ders., Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze, Zürich 1969, 155–176, hier: 161. 23 Cormeau (wie Anm. 6), 56. 24 Beide Zitate Grubmüller (wie Anm. 18), 236. 25 Ebd., Anm. 36. 26 Man könnte den Wigalois daher mit einigem Recht den sogenannten ›Protagonistenromanen‹ zuordnen, wie Markus Stock Texte wie den König Rother, Herzog Ernst B oder den Straßburger Alexander bezeichnet; vgl. Markus Stock, Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ›Straßburger Alexander‹, im ›Herzog Ernst B‹ und im ›König Rother‹, Tübingen 2002 (MTU 123), v. a. 31. 27 Vgl. Eming (wie Anm. 17), v. a. 94–96.

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Hauptsache ein von Wirnt selbst eingebauter, allerdings weitgehend überforderter Katalysator der dem Wigalois zu Grunde liegenden Logik. So entsteht der Eindruck, Wirnt habe über das Vehikel des Artusromans die Satteldecke der Legende gebreitet.

3 Die Bilder der Leidener Wigalois-Handschrift Die gattungs- und strukturorientierten Ansätze haben Wirnts Roman diesbezüglich eine Mehrdimensionalität attestiert. In der Regel ging die Diagnose mit dem Hinweis einher, dass Wirnts eklektischer Pluralismus in der Zitation der Strukturmuster das Herausarbeiten einer eindeutigen Botschaft erschwerte. Sollte diese Ambivalenz mehr als ein akademisches Problem sein, müsste sie sich zumindest ansatzweise auch in der (frühen) Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte des Romans wiederfinden lassen. Nicht, weil sich durch den Befund der Handschriften eine Strukturanalyse gleichsam erübrigte. Doch scheint mir gerade beim Wigalois die vielfach postulierte Untersuchung der Rezeption28 noch nicht hinlänglich für eine Bestimmung der historischen Lektüren des Romans ausgeschöpft. Dafür bieten sich zumal die Bilderhandschriften an, insofern traditionelle Bildformeln komplexe Argumentationen zunächst verkürzen, um dann den Blick des Betrachters wesentlich weiter schweifen zu lassen. Die Leidener Bilderhandschrift des Wigalois bietet in gewisser Weise ein getreues Abbild der Strukturdebatte, insofern sie Wirnts Text nahezu unberührt lässt, dabei aber Mittel einsetzt, die den Codex als »arthurisches Andachtsbuch«29 lesbar machen. Da sie nun endlich der Forschung zugänglich gemacht wurde, ist der Weg auch für substantiellere Analysen als die bisher vorgelegten geebnet.30

|| 28 Vgl. Hans-Jochen Schiewer, »Innovation und Konventionalisierung. Wirnts Wigalois und der Umgang mit Autor und Werk«, in: Eckhart Conrad Lutz u. a. (Hrsg.), Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation, Tübingen 2005, 65–83; Fasbender (wie Anm. 1), 1. 29 Hans-Jochen Schiewer, »Die Leidener Wigalois-Handschrift. Ein arthurisches Andachtsbuch?«, BBIAS 43 (1991), 406f. Zur Handschrift vgl. Fasbender (wie Anm. 1), 201f. 30 Vgl. Victor Curt Habicht, »Zu den Miniaturen der Leidener Wigalois-Handschrift«, Der Cicerone 14 (1922), 471–475; Kunst und Kultur im Weserraum 800–1600. Ausstellung des Landes Nordrhein-Westfalen Corvey 1966, Münster 1966, 541–543 (Abb. 225); Anja Becker, »Dialogszenen in Text und Bild. Beobachtungen zur Leidener Wigalois-Handschrift«, in: Nine Miedema, Franz Hundsnurscher (Hrsg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik, Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), 19–41; Andrea Grafetstätter, »Nur was du nie gesehn wird ewig dauern. Weiblich besetzte Bildprogramme im Wigalois«, in: Brigitte Burrichter u. a. (Hrsg.), Aktuelle Tendenzen der Artusforschung, Berlin, Boston 2013 (SIA 9), 381–

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Die Leidener Handschrift (Leiden, UB, LTK 537) wurde ausweislich des Schreiberkolophons 1372 in der Zisterze Amelungsborn (Niedersachsen) für Herzog Albrecht II. von Braunschweig-Grubenhagen kopiert. Der Schreiber Jan van Brunswig kommt weder als Urheber noch als Ausführender der insgesamt 49 Illustrationen in Betracht.31 Ob der Bilderzyklus für den vorliegenden Zusammenhang konzipiert wurde, ist unklar. Anders als in den meisten Bilderhandschriften höfischer Erzählwerke werden wesentliche Szenen ins Bild gesetzt, »so dass allein das Bildprogramm ein Nacherzählen des Romans möglich machen würde«.32 Man könnte darin nachgerade das Werk einer Außenseiter-Werkstatt erblicken. Dies gilt auch für die Ausführung der Bilder, die man »abseits der großen Stilentwicklung«33 in einem geistlichen Kontext verortet. Dafür sprechen der Stil, für den verschiedentlich ›byzantinischer‹ Einfluss registriert wurde; die Farben, die sogar den Angaben im Wigalois folgen, und die Formen, die an den Einfluss textiler Arbeiten erinnern; schließlich der Umstand, dass Amelungsborn ein Heidekloster ist wie etwa die Niederlassung der Zisterzienserinnen in Wienhausen, wo bekanntlich prominente Tristan-Wandteppiche entstanden sind.34 Da sich der Einfluss christlicher Ikonographie schwerlich erst auf der Reproduktionsebene eingestellt haben wird, ist in der Tat wenn nicht mit einem »nicht überlieferten Wigalois-Teppich«,35 so doch mit einer entsprechenden Vorlage zu rechnen. Der Einfluss christlicher Bildkunst ist in der Tat mit Händen zu greifen. Er lässt sich auf mehreren Ebenen fassen. Gelegentlich werden ganze Formeln aus anderem Kontext aufgerufen (fol. 79r): »Die Heidenkönigin Japhite mit ihren Mägden [...] erinnert an Maria als Thron Salomonis, begleitet von Personifikationen der Tugenden«.36 Mitunter werden auch genuine Darstellungsverfahren

|| 402, v. a. 385. Zu erwähnen ist auch Antonia Gräber, Bild und Text bei Wirnts von Gravenberg ›Wigalois‹, Magisterarbeit masch., Freiburg i. Br. 2001, hrsg. und mit einem Vorwort von Marcus Schröter und Volker Schupp, Freiburg i. Br. 2012. Die meisten Detailbeobachtungen finden sich noch bei Becker (wie Anm. 30). Ich wiederhole meinen Wunsch einer »Untersuchung der Einzelszenen auf eine Verwendung christlicher Bildformeln«; Fasbender (wie Anm. 1), 202. 31 Die Angaben zur Zahl der Bilder schwankt. Fasbender (wie Anm. 1), 201, zählt im Anschluss an Ingeborg Henderson, »Manuscript Illustrations as Generic Determinants in Wirnt von Gravenbergʼs Wigalois«, in: Hubert Heinen, dies. (Hrsg.), Genres in Medieval German Literature, Göppingen 1986 (GAG 439), 59–73, noch 47 Bilder, die den Text illustrieren. Hinzu treten die beiden Bilder auf dem Vorsatzblatt (fol. Ir, Iv). Nimmt man das von Becker (wie Anm. 30), 24f., Anm. 21, errechnete verlorene Bild hinzu, kommen wir auf 49 bzw. 50. 32 Grafetstätter (wie Anm. 30), 385. Ähnlich bereits Becker (wie Anm. 30), 26. 33 Kunst und Kultur (wie Anm. 30), 543. 34 Vgl. Schiewer (wie Anm. 26), 406; Fasbender (wie Anm. 1), 201. 35 Schiewer (wie Anm. 29), 406. 36 Kunst und Kultur (wie Anm. 30), 543.

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christlicher Kunst genutzt. Wenn auf fol. 32r am linken Bildrand Königin Elamie noch für Gwigalois’ Erfolg im Kampf mit dem roten Ritter Hojir betet, der am rechten Bildrand bereits besiegt ist und Sicherheit leistet, hat der Künstler das zeitliche »Nacheinander der Kommunikationsvollzüge« im Bild synchronisiert.37 Schließlich hat man es gelegentlich mit Bildelementen zu tun, die eine dargestellte Person oder Handlung qua Motivzitat christlich ›aufzuladen‹ scheinen. Wenn Gwigalois Elamies Hand nimmt (fol. 28v), greift er, wie Anja Becker gesehen hat, genau genommen nach ihrem Handgelenk: »Diese Geste kann ein ikonographisch geschulter Betrachter des Mittelalters als Erlösergeste identifizieren, denn auf diese Weise wird oft illustriert, wie Christus Adam aus der Hölle herauszieht.«38 Eine solche Deutung der Bilder ist natürlich voraussetzungsreich. Sie muss davon ausgehen, dass die Konzepteure nicht nur ihnen vertraute Formeln und Verfahren adaptierten, sondern dass sie deren Einsatz wenigstens punktuell mit Wirnts Roman abstimmten; ›abstimmten‹ in einer Weise, dass sie ein Gesamtverständnis vom Protagonisten Gwigalois besaßen, das sie dazu ermutigte, hinter dem Rächer der betrogenen Witwe (Elamie) den Erlöser einer gestörten Weltordnung aufscheinen zu lassen. Ein solches Gesamtverständnis lässt sich bei den Konzepteuren tatsächlich plausibel machen, zieht man die beiden Illustrationen auf dem Vorsatzblatt (fol. Ir–v) hinzu. Dessen recto-Seite zeigt eine christlich-allegorische Darstellung, deren Mitte ein seitenfüllender Baum einnimmt, auf dessen Ästen und neben dessen Stamm zahlreiche Tiere angeordnet sind. Der Baum selbst, als Baum des Lebens ein Symbol für Christus, sowie die Tiere [...] laden zur 39 allegorischen Ausdeutung ein.

Anja Becker verweist noch darauf, dass es sich bei den Tieren u. a. um Pelikan, Wildesel, Hirsch, Panther und Hase handele,40 die sich durchweg auf Christus hin auslegen lassen. Auf der Rückseite des Vorsatzblattes freilich geht es weiter mit einer »Illustration der literarischen Artuswelt, verdichtet in ihren zwei herausragenden Attributen, der Tafelrunde und der Festfreude«.41 Man kann dieses Nacheinander der beiden Ordnungsbilder natürlich problematisieren, indem man

|| 37 Eine Analyse des Bildes findet sich bei Becker (wie Anm. 30), 34f. (Zitat: 35). 38 Ebd., 30. 39 Ebd., 25; vgl. Anja Becker, »Das Problem der Interpretation alteritärer Texte. Responsivität als Antwort?« in: dies., Jan Mohr (Hrsg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren, Berlin 2012, 73–101, v. a. 95. 40 Vgl. Becker (wie Anm. 30), 25. 41 Becker (wie Anm. 39), 97.

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nach dem Verhältnis der beiden Bilder zueinander, ja nach einer möglichen Hierarchie fragt.42 Für unsere Fragestellung dürfte das von nachgeordneter Bedeutung sein. Allein die Tatsache, dass Wirnts Roman in der Leidener Handschrift durch eine christliche Bildseite eröffnet wird, dass christliche Bildformeln und Darstellungsmodi in seine Illustrierung Eingang fanden und dass einzelne Motive den miles christianus Gwigalois deutlich als christiform hervorheben, bestätigt eine christliche Lesart des Wigalois. Dass die im niederdeutschen Raum gefertigte mitteldeutsche Handschrift in dieser Hinsicht kein Einzelgänger ist, zeigt das folgende Beispiel.

4 Heidenkampf und heroisierendes Erzählen Das Dresdener Heldenbuch Kaspars von der Rhön (Dresden, SLUB, M 201; vom Schreiber auf 1472 datiert) wird bekanntlich durch eine Illustration aus anderem Zusammenhang eröffnet. Auf einem Apfelschimmel sprengt ein Held in goldener Rüstung mit einem Rad als Helmzimier über einen bereits auf dem Rücken sich windenden Drachen hinweg: Mit seinem Schwanz umklammert der Drache einige Männer. Links im Hintergrund kniet vor einem Felsen eine bekrönte Dame [...], die mit über der Brust gekreuzten Armen betet. Der Hintergrund ist eine Landschaft am Meer (oder an einem See) mit einer Stadt am Ufer, 43 blauen Bergen und dünnen, hochstämmigen Bäumen.

Die kniende Dame ist unschwer mit der Prinzessin aus Libyen, der Berittene unschwer mit dem Heiligen Georg zu identifizieren.44 Wann die Illustration, die nun nicht nur den Band, sondern auch den ersten Text eröffnet (fol. 4*v), beigebunden wurde, ist nicht mehr rekonstruierbar.45 Aus || 42 Vgl. Becker (wie Anm. 39), 97f. Ich halte diese Frage nicht für trivial. Aber ich fühle mich auch nicht dazu eingeladen, mich »quasi meditierend in die aufgezeigten Sinnzusammenhänge zu versenken« (97). Eine Antwort auf die Frage nach der Hierarchie der Bilder ergibt sich mir bereits, wenn ich deren Abfolge probeweise umdrehe. 43 Das ›Dresdener Heldenbuch‹ und die Bruchstücke des ›Berlin-Wolfenbütteler Heldenbuchs‹, hrsg. von Walter Kofler, Stuttgart 2006, 14f. 44 Zur Ikonographie vgl. Sigrid Braunfels, Art. »Georg«, in: LcI, Bd. 6, 365–390, hier: 379 (zu Stundenbüchern ebd., 389); vgl. auch ›Die legent vnd dz leben des hochgelopten manlichen ritters sant joergen‹. Kritische Neuedition und Interpretation einer alemannischen Prosalegende des heiligen Georg aus dem 15. Jahrhundert, hrsg. von Markus Schmitz, Berlin 2013 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 49), 280–290, v. a. 283–287. 45 Vgl. Kofler (wie Anm. 43), 14, 19 und 55f.

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dem Farbabklatsch geht hervor, dass sich zuvor eine andere Miniatur an ihrer Stelle befand. Dass ausgerechnet der siegreiche Drachenkämpfer Georg nun den Ortnit (fol. 1r–43r) eröffne, monierte zuletzt Walter Kofler. Er fand, dass das Bild »überhaupt nicht« in »den neuen Kontext«46 passe, da Ortnit den Drachen gar nicht überwinde, vielmehr von jenem im Schlaf überwunden und an seine Jungen verfüttert werde. Einen ›richtigen‹ Drachenkampf gebe es erst im anschließenden Wolfdietrich, der im Heldenbuch selbst eine Titelminiatur erhielt (fol. 43v). Der Illustrator kombinierte darin Ortnits Tod mit Wolfdietrichs Drachenkampf, wobei man den Kämpfer bereits vom Drachenschwanz umschlungen sieht.47 Vielleicht ist es sinnvoll, beim eröffnenden Bild einer doch nicht ganz achtlos angelegten Handschrift nicht nur Ikonographie und Texthandlung abzugleichen, sondern die Komplexität des Verhältnisses von Text, Bild und Codex auszuloten.48 Natürlich kann das Bild des Sujets ›Drachenkampf‹ wegen vor den Text gesetzt worden sein, aber auch dann wäre ja der doppelte Bezug auf zwei Drachenkämpfertexte (Ortnit und Wolfdietrich) gegeben. In seiner schlichtesten Deutung sagte das Bild also etwa: Im Folgenden geht es um Drachenkämpfe. Allerdings macht bereits die Ikonographie sinnenfällig, dass es nicht nur um den bloßen Kampf mit dem Bösen, sondern um die Überwindung des Bösen gehen wird. Das Bild löste sich damit von einer möglichen Illustrationsfunktion hin zu einer Kommentarfunktion. Bedenkt man weiterhin, dass der Heilige Georg eine Identifikationsfigur des Hochadels noch im 16. Jh. war und sich etwa Kaiser Maximilian I. als triumphaler Glaubensstreiter abbilden ließ,49 das Bild im Eingang des Dresdener Heldenbuchs mithin den Prototypen des miles Christi zeigt, dann entfaltet die

|| 46 Beide Zitate Kofler (wie Anm. 43), 15. Zum Ortnit (k) des Dresdener Heldenbuchs vgl. Christian Schmid-Cadalbert, Der ›Ortnit AW‹ als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur, Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28), 233–248. 47 Vgl. Kofler (wie Anm. 43), 15. 48 Kofler (wie Anm. 43), 55, nimmt an, dass das »Ersatzbild« zum Ortnit »sicher erst unter Gottsched« in die Handschrift gelangt sei. 49 Vgl. Inge Friedhuber, »Maximilian I. und der St. Georgs-Ritterorden«, in: Franz Nikolasch (Hrsg.), Symposion zur Geschichte von Millstatt und Kärnten, Millstatt 1984 (ND Klagenfurt 1997), 431–453; Leo Andergassen, »Maximilian I. als heiliger Georg«, in: Marco Abate (Hrsg.), Circa 1500. Leonhard und Paola – ein ungleiches Paar. ›De ludo globi‹ – Vom Spiel der Welt. Landesausstellung 2000, Mailand 2000, 371: »Eine ganze Reihe der Projekte des Kaisers steht in direktem Bezug zum Georgsthema beziehungsweise dem Georgs-Orden«. Zum Verhältnis des Kaisers zum Wigalois, den er über das Wappen im Theuerdank gleichsam als Identifikationsfigur identifizierte, vgl. Cora Dietl, »Zwischen Christus und Tristan: Bilder einer kaiserlichen Kindheit«, JOWG 17 (2008/09), 35–45, hier: 37.

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Ikonographie eine auf den adligen Adressaten bzw. Besitzer des Codex beziehbare Botschaft weit jenseits der Textillustration.50 Der Jerusalem-Reisende Herzog Balthasar von Mecklenburg, der als ein früher Besitzer der (Nürnberger) Handschrift zu gelten hat, wäre mit einer solchen Selbst-Deutung gewiss einverstanden gewesen.51 Schließlich wäre noch an die Deutung Georgs als Defensor Mariae zu erinnern.52 Nun wurde das Bild im Eingang des Dresdener Heldenbuchs (fol. 4*v) nicht etwa einem Gebetbuch oder Legendar entnommen, sondern der Dresdener Wigalois-Handschrift (Dresden, SLUB, M 219, 2. Hälfte 15. Jh.; Sigle: U), die sich vordem in Gottscheds Besitz befand.53 Die Zuordnung des Bildes ist eindeutig; auf fol. 4*r des Heldenbuchs steht der originäre Werktitel (Wigolays). Wir müssen daher von einem genuinen Kontext ausgehen, in dem die Georgs-Ikonographie den Wigalois interpretierte. In der betenden Dame im Hintergrund wäre die um das Heil ihres vermissten Gatten besorgte Gräfin Beleare, in den vom Drachenschwanz Umklammerten dessen Gefolge und im Ritter mit dem Rad der Artusheld Gwigalois zu erkennen.54 Hatten die Illustrationen der alten Leidener Handschrift Wirnts Roman bereits auf seine geistliche Lesart hin transparent gemacht, tritt mit der Georg-Drachenkämpfer-Allusion der Dresdener Wigalois-Handschrift nicht nur eine Bestätigung hinzu. Die Verbindung mit den Heldendichtungen des WolfdietrichStoffes zeigt darüber hinaus die Lesbarkeit des Wirnt’schen Romans auch unter Perspektiven der heroisierenden Dichtung des Spätmittelalters.55 Der Drachenkampf ist da nur e i n (wenn auch wesentliches) Motiv. Im Ortnit tritt mit dem Heidenkampf ein weiteres hinzu, welches das Heldengedicht mit dem Wigalois verbindet. Klaus Grubmüller hat es deutlich herausgestellt: »Der Kampf gegen das Böse ist im Wigalois immer zugleich Kampf gegen die Heiden, ist Kreuzzug in einem weiteren Begriff.«56 Tatsächlich verhandelt Wirnt die Heiden-Thematik

|| 50 Zu entsprechenden Tendenzen adliger Selbstdeutung vgl. Schmitz (wie Anm. 44), 394f. 51 Zu Balthasar vgl. Kofler (wie Anm. 43), 53–56. Dass sich Mecklenburger Herzöge an Maximilian I. orientierten, ist kein Einzelfall. Ich verweise hier nur auf die wohl in Nürnberg gefertigte Theuerdank-Handschrift in Rostock, auf die Jan Cölln, »Theuerdank in Rostock. Ein Fall der handschriftlichen Rezeption des Buchdrucks im 16. Jahrhundert«, PBB 126 (2004), 425–433, v. a. 431f., aufmerksam macht. 52 Vgl. Braunfels (wie Anm. 44), 384f. 53 Vgl. Kofler (wie Anm. 43), 19 und 21. 54 Vgl. ebd., 14f. 55 Hans-Jochen Schiewer (wie Anm. 1) verweist darauf, dass zur »literarische[n] Realität von Wirnts Roman [...] selbstverständlich« auch die »Spielmannsepik« gehöre (beide Zitate: 152). 56 Grubmüller (wie Anm. 18), 237.

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ausführlicher und differenzierter, als hier gezeigt werden kann (und, zumindest für unser Empfinden, auch differenzierter als der Ortnit).57 Am Ende der Bemühungen seines Protagonisten um die Errichtung einer christlichen Herrschaft stehen Graf Adan, Marine und die Jungfrauen, die sich anlässlich der Hochzeit taufen lassen, »exemplarisch für eine glücklich missionierte Heidenschaft.«58 Ich bündele auch diesen Aspekt. Im Dresdener Heldenbuch eröffnet die Illustration aus einer Wigalois-Handschrift den strophischen Ortnit (k). Sie verknüpft so den Wirnt’schen Roman zum einen mit der Legende des Heiligen Georg, zum andern mit dem spielmännischen Heldengedicht, mit dem sie nachgerade über dessen Konstituenten (Drachen- und Heidenkampf sowie Gewinnung der Braut) verbunden erscheint. Die doppelte Verbindung scheint v. a. im Stofflichen zu gründen. Sie wird allerdings durch Wirnts spezifische Auffassung der romanesken Symbolstruktur wesentlich begünstigt. Beides zusammen weist eine latente Polyvalenz des Protagonisten bereits in Wirnts Roman aus. Gwigalois, von dem Jutta Eming einmal meinte, dass er »handelt und nicht denkt«,59 könnte Protagonist einer Legende, könnte ebenso Protagonist eines spielmännischen Heldengedichts sein. Wirnts Publikum hat diese Mehrschichtigkeit erkannt und – nicht allein in den Illustrationen – wiederholt aktualisiert. Von allen Figuren des arthurischen Stoffkreises blieb freilich allein Gwigalois eine Aktualisierung in anderen Erzählformen vorbehalten. Ich gehe abschließend auf die strophische Bearbeitung durch Dietrich von Hopfgarten ein.

5 Der Wigelis Dietrichs von Hopfgarten Die Wigelis-Dichtung Dietrichs von Hopfgarten ist nur fragmentarisch erhalten. Wir verfügen glücklich über den Textschluss, an dem der Verfasser sich selbst, seine Vorlage und sein Bearbeitungsverfahren nennt. Der Schreiber datiert die Abschrift auf 1455. Der Text selbst entstand in der ersten Hälfte des 15. Jh. Sein Verfasser könnte mit einer Person aus dem Umfeld des Landgrafen von Thüringen oder mit deren gleichnamigem Enkel, der 1438 bei Brüx gegen die Hussiten kämpfte, identisch sein.60 Der Text, der seinen Namen nach der Schreibung des

|| 57 Ich verweise hier auf Fasbender (wie Anm. 1), 102–105. 58 Christoph Fasbender, Der ›Wigelis‹ Dietrichs von Hopfgarten und die erzählende Literatur des Spätmittelalters im mitteldeutschen Raum, Stuttgart 2010 (Beihefte zur ZfdA 10), 137. 59 Eming (wie Anm. 17), 97. 60 Vgl. Christoph Fasbender, Art. »Dietrich von Hopfgarten«, in: Wilhelm Kühlmann (Hrsg.), Literatur Lexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Begründet von Walther

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Protagonisten erhielt, ist direkt abhängig von Wirnts Roman. Der Bearbeiter gesteht am Textschluss, er habe seine Vorlage – er nennt sie »daz getichte« (20, 7) – »czu den leden bracht« (20, 9), also in Strophen transponiert.61 Die Strophenform ist der ›Bernerton‹, die Strophe der späten Dietrichepik, wie sie etwa im Dresdener Heldenbuch dominiert. Die Umarbeitung des paargereimten Wigalois in den 13-versigen Ton brachte naturgemäß einige syntaktische Änderungen mit sich. Sie zog, ebenfalls nicht überraschend, hie und da Wortersatz nach sich. Die Tendenz geht allerdings über Synonyme, die aus metrischen Gründen gewählt wurden, hinaus. Gleich am ersten erhaltenen Vers lässt sich das zeigen: »her leite sich uff seins schildes rant« (1, 5) heißt es da, wobei »schildes rant« metonymisch für den Schild steht. Wigelis legt sich, eingesperrt zwischen Schwertrad und Pestnebel, erschöpft auf der Brücke vor Glois nieder und befiehlt sein Leben dem Höchsten. Auch Wirnt hatte Gwigalois unsanft zur Ruhe gebettet, aber wesentlich härter noch: »an einen stein der dâ lac« (V. 6844). Die Szene ist insofern interessant, als sie auch in der jüngeren Prosa des Wigoleis vom Rade im Titulus angekündigt, im Text aber faktisch nicht ausgeführt wird.62 Der Stein des Anstoßes wurde also gleich zweimal entfernt. Dietrich von Hopfgarten, der sich vielleicht eine Holzbrücke ohne Steine vorstellte, legte Wigelis etwas standesgemäßer auf sein heroisches Werkzeug. Er verkannte aber wohl den von Wirnt zitierten Standard: dass sich moribunde Helden nämlich häufig an Steine lehnen, um zumindest halbwegs aufrecht zu sterben.63 Träfe das zu, hätte Wirnt den Stein idealtypisch gesetzt. Dietrich von Hopfgarten hat ihn wohl auch deswegen entfernt, weil er keinen Moment daran zweifelte, dass sein Held das Brückenszenario überleben würde. Sein Protagonist ist, obwohl er grundsätzlich in den Spuren seines Vorbildes wandelt, seiner Sache so sicher, wie es sich für den Helden eines Gedichts im ›Bernerton‹ ziemt. Trotzdem – vielleicht auch als Gegengewicht dazu – ist der Erzähler seinetwegen immer wieder in heller Aufregung. Diese Aufregung artikuliert sich in Phrasen vom Typus »nu horet« (8, 10), »nu horet wunder varbas me« (6, 6), »nu wyset daz« (7, 12) oder »do von ich wol sprechen mag« (17, 13). Einige dieser Phrasen finden sich auch bei Wirnt, einige an anderer Stelle, etliche hat Dietrich als Tribut || Killy, Bd. 3, Berlin, New York 2008, 22f.; Achnitz (wie Anm. 11), 366f. und 381f.; Christoph Fasbender, Art. »Dietrich von Hopfgarten«, in: Wolfgang Achnitz (Hrsg.), Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen, Bd. 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen, Berlin, Boston 2013, 1441. Alle Argumente bei Fasbender (wie Anm. 58), 35–48. 61 Zitierte Ausgabe: ebd., 52–72. 62 Vgl. ebd., 52. 63 Zur Stelle vgl. ebd., 112f.

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an die Gattung des spielmännischen Heldengedichts entrichtet.64 Insgesamt freilich hat er wenig ergänzt, ein bisschen verändert und sehr viel gekürzt. Die Kürzungen erfolgten indes in den überlieferten Passagen sehr ungleich.65 Brückenwunder, Schwertrad und Zentaurenkampf bietet der Wigelis (Str. 1–10) in aller Ausführlichkeit; die Rückkehr zu Larie, der Liebesbrief und das Fest zu Roimunt (Str. 11–19) werden dagegen stärker gerafft. Einige Aufmerksamkeit erhält der große Gottesdienst, den ein Bischof mit dem Ziel der Heidenbekehrung hält, woraufhin Graf Adan und zweiundvierzig Jungfrauen (vierzig bei Wirnt!) die Taufe empfangen. Einen Hoftag, bei dem der junge Herrscher die Huldigungen der abhängigen Länder empfangen hätte, hält Wigelis ebenso wenig, wie er im Anschluss daran noch einer Bewährungsaventüre im Feldzug gegen Namurs bedarf.66 Bemerkenswert ist der Schluss, der die Ritter der Tafelrunde in die Festgesellschaft eingliedert: Dy hoczit eyn ende nam, manig ritter der dar abe quam von koning Artus tafelrunder dy beginden großer manheit vel, do von ich hy nicht sagen wil, wan es ist ganz besonder. (20, 1–6) Das Fest ging nun zu Ende. Mancher Ritter war gekommen von der Tafelrunde des Königs Artus. Sie präsentierten sich auf eine sehr ritterliche Weise. Doch will ich davon nicht weiter erzählen, weil das eine andere Geschichte wäre.

In den letzten Versen könnte man, akzentuierte man das »ich« und das »hy«, Hinweise auf ein Repertoire erblicken.67 Ich verstehe sie eher so, als hebe der Verfasser mit dem »ganz besonder« auf eine Differenz zwischen dem hier Erzählten und den Erzählungen von der »manheit« (20, 4) der Artusritter ab. Es ist womöglich jene Differenz, die bereits zwischen dem Wigalois und seinen arthurischen Vorgängern fassbar wird und die Wirnts Roman für eine spielmännische Bearbeitung in der Manier später Dietrichdichtung empfänglich machte.

|| 64 Vgl. Fasbender (wie Anm. 58), 106f. 65 Zum Umfang vgl. ebd., 139–142. 66 Vgl. ebd., 136f.; Ulrich Seelbach, Art. »Wigalois«, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 14, 785– 788, hier: 787. 67 Das entspräche, funktional gesehen, Wirnts Hinweis auf die Geschichte des Gwigalois-Erben Lifort Gâwânides (V. 11653–57). Dass auch Wirnt allenfalls vordergründig »um neue Aufträge« buhlt, im Kern aber die Herausforderung der Quelle diskutiert, betont Schiewer (wie Anm. 1), 148.

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6 Fazit Ein kurzes Fazit. Der Stoff um den Artusritter Gwigalois wurde durch Wirnts Wigalois in Deutschland eingeführt. Er erlebte dort eine vielgestaltige, für die arthurische Stoffgruppe einzigartige Rezeption, die ihn an die Seite eines Herzog Ernst stellt. Diese Rezeption, zu der außer dem Wigelis zunächst noch Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer, der jiddische Widuwilt in Stanzen und die Augsburger Prosaauflösung, später dann die dänische und schwedische Bearbeitung zu rechnen sind, vermittelt einen Eindruck von der ›Polyfunktionalität‹ des Protagonisten.68 Sie ist, nolens oder volens, ein Verdienst Wirnts von Grafenberg. Christianisierung und Entproblematisierung öffneten die Figur hin auf Narrative aus Legende und Heldengedicht. Gwigalois fand als Heiliger Georg im Heldenbuch ebenso sein Publikum wie als unproblematischer Schlagdrauf im ›Bernerton‹. Erst der »Gegentyp« (Haug) hat demnach ein ›Wiedererzählen‹ jenseits der Grenzen der belehrenden Großform möglich gemacht. Ein beständiges Transzendieren ihrer Vorgaben war Wirnts Roman bereits in die Wiege gelegt.

|| 68 Zum Begriff der Polyfunktionalität vgl. Uwe Meves, Studien zu ›König Rother‹, ›Herzog Ernst‹ und ›Grauer Rock‹ (›Orendel‹), Frankfurt a. M., Bern 1976, 145–225; Jens Haustein, »Herzog Ernst zwischen Synchronie und Diachronie«, in: Helmut Tervooren, Horst Wenzel (Hrsg.), Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte, Berlin 1997 (Sonderheft zur ZfdPh 116), 115–130.

Cora Dietl

Strickers Daniel zwischen Herrscherroman und Heiligenlegende Abstract: Stricker’s Daniel uses an enormous number of ›non-Arthurian‹ motifs and structures. This has frequently led scholarship to interpret the romance as a confused potpourri, or as a whimsical or ironic play upon literary patterns. The present paper analyses intertextual and intergeneric references in both sections of the text’s main plot, Daniel’s aventure at the Green Meadow and Arthur’s battles against Matur. The scenes are interlinked by the excessive image of blood – spilled either by tyrants or by the fighters of the ›just‹ cause, and both parts of the plot are interwoven with references to biblical and legendary motifs. Seen as a unity, they seem to paint the image of Arthur as the last emperor fighting Antichrist in the final battle. Stricker, however, leaves the question open whether his story depicts historical reality, whether it carries deeper truth – or whether is a mere lie.

1 Vom Ernst des ›Spiels‹ mit Gattungskonventionen Wir haben gesehen, wie der Stricker sich bemüht hat, seinem Gedichte dem Inhalte nach das Ansehen eines Artusromans aus französischer Quelle zu geben. Das ist ihm im Übrigen durchaus nicht gelungen, weil ihm die eigentümlichen Formen und die Anschauung der höfischen Epik fremd geblieben sind. Die Darstellungsweise und der Stil des Gedichts steht 1 vorwiegend unter dem Einfluss der älteren nationalen Dichtung.

Mit seiner fundamentalen Kritik an des Strickers Daniel legte Gustav Rosenhagen 1890 – ohne es zu wollen – den Grundstein für zahlreiche Untersuchungen zur Gattungshybridität und zu inter- und transgenerischen Aspekten dieses Romans. Rosenhagen notiert unzählige Übernahmen und Anlehnungen des Strickers aus bzw. an andere(n) Werke(n) verschiedener Gattungen,2 sieht darin aber kein virtuoses Spiel mit intertextuellen und intergenerischen Bezügen, sondern einen

|| 1 Gustav Rosenhagen, Untersuchungen über ›Daniel vom Blühenden Tal‹ vom Stricker, Kiel 1890, 91. 2 Vgl. ebd., 84: »Es ist also ein recht umfangreiches Gebiet, aus dem der Stricker geschöpft hat. Es sind: 1) schriftliche Quellen, deutsche Epische Gedichte vom Alexanderlied bis zum Wiga-

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Nachweis von mangelnder Eigenständigkeit des Dichters; er setzt ein Gattungsbewusstsein des Verfassers voraus und moniert, dass dieser der Gattung des Artusromas nicht gerecht werde, wertet dies aber nicht etwa als intergenerisches Experiment, sondern als Ausdruck mangelnder Vertrautheit mit dem ›Geist‹ höfischer Epik. Unter veränderten literaturtheoretischen Prämissen wird des Strickers Daniel heute anders bewertet: »he displays familiarity with many contemporary literary traditions and the ability to interweave the different threads into a coherent whole«, erklärt Rachel Kellett.3 Dass dieses ›coherent whole‹ absichtlich etwas anderes sein will als ein ›regulärer‹ Artusroman, wird in der neueren Daniel-Forschung nicht mehr bezweifelt; von »offenbar gewollte[r] Distanzierung von wesentlichen Normvorgaben der artusepischen Klassik«4 ist die Rede, von einem literarischen Experiment, bei dem »nicht der Held, sondern der Roman selbst zum Krisenobjekt geworden«5 ist, von einer »Erneuerung des Artusromans unter dem Gesichtspunkt des literarischen Spiels«6 oder einer »versteckt-ironische[n] Manier«,7 in welcher der Stricker die Unmöglichkeit des arthurischen Rittertums aufdecke. Alle diese Deutungen setzen ein Gattungsbewusstsein bei Verfasser und intendiertem Rezipienten voraus,8 wie man es für den Artusroman nicht zuletzt wegen

|| lois. 2) mündliche und zwar: a) indirekt literarische aus der französischen Literatur. b) sagenhafte, ) aus der deutschen Sage. ) aus internationaler Sage (Polyphem, Meerungeheuer, Vampyre u. s. w)«. 3 Rachel E. Kellett, Single Combat and Warfare in German Literature of the High Middle Ages. Stricker’s ›Karl der Große‹ and ›Daniel von dem Blühenden Tal‹, Leeds 2008, 101. 4 Karl-Ernst Geith u. a., Art. »Der Stricker«, 2VL, Bd. 9, 417–449, hier: 427. 5 Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998, 214. 6 Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (Beihefte zur GRM 12), 64. Vgl. auch den Abschnitt ›Parodie oder Affirmation‹ in: Markus Wennerhold, Späte mittelhochdeutsche Artusromane. ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹, ›Daniel von dem Blühenden Tal‹, ›Diu Crone‹. Bilanz der Forschung 1960–2000, Würzburg 2005 (Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie 27), 179f. 7 Albrecht Classen, »Transformationen des arthurischen Romans zum frühneuzeitlichen Unterhaltungs- und Belehrungswerk: Der Fall Daniel vom blühenden Tal«, ABäG 33 (1991), 167–192, hier: 189. 8 Vgl. Xenja von Ertzdorff, »Strickers Daniel vom blühenden Tal. Ein Artus-Roman des 13. Jahrhunderts im Ambiente des 15. Jahrhunderts«, in: dies., Spiel der Interpretation. Gesammelte Aufsätze zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. von Rudolf Schulz und ArnimThomas Bühler, Göppingen 1996 (GAG 597), 381–392, hier: 382: »Ein gebildetes, in der Welt der höfischen Romane versiertes Publikum setzt er auf jeden Fall voraus, wo dieses nicht so genau Bescheid wußte, mochte es sich an der Exotik und Wunderlichkeit des Geschehens ergötzen, oder auch an den blutrünstigen Kampfbeschreibungen sich erfreuen oder entsetzen«.

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des berühmten Zeugnisses Jean Bodels anzunehmen gewillt ist.9 Dass freilich die ›Gattung‹ des Artusromans in ihrer ›Reinform‹ eine nachträgliche Konstruktion der Literaturwissenschaft ist und in der literarischen Produktion von Anfang an die Grenzen des ›Artusromans‹ umspielt wurden, ja, dass die literarischen Gattungen in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters als deutlich dynamischer zu verstehen sind als Gattungen unter dem Vorzeichen einer Regelpoetik,10 bleibt unbestritten. Trotzdem scheint der Stricker deutlicher gegen Gattungskonventionen zu verstoßen und dies klarer zu markieren als seine Vorgänger. Daher sei im Folgenden nochmals die Frage gestellt, ob er damit nur Gattungsuntypisches in den Artusroman einbringt, um so dessen Grenzen auszuloten, und ob er nur intertextuell auf individuelle Texte anderer Gattungen anspielt, oder ob er tatsächlich Konventionen anderer Gattungen zitiert. Ich möchte dabei auch hinterfragen, ob dieses Spiel mit anderen Gattungen wirklich nur ein »fabulierende[s] Spiel [ist], das mit einem Augenzwinkern über alle Mittel verfügt« und in »heiter-spielerische[r] Laune«11 verfasst ist, oder ob der Stricker damit nicht durchaus auch ernste Aussagen verbinden könnte. Bereits 1986 hat Elke Ukena-Best den Daniel als »Herrscherroman«12 bezeichnet, der dem gleichen Grundmodell folge wie des Strickers Karl. Guido Schneider spricht gar von einem »didaktischen Herrschaftsroman im eigentlichen Wortsinne«.13 Dies verträgt sich letztlich wenig mit einer gänzlich spielerischen Lesart des Textes,14 gegen die sich || 9 Jehan Bodel, La chanson des saisnes, hrsg. von Annette Brasseur, Genf 1989, V. 6–11. Vgl. dazu Ulrich Ernst, »Gattungstheorie im Mittelalter«, in: Rüdiger Zymner (Hrsg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart, Weimar 2010, 201f. 10 Vgl. Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius, »Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik«, in: dies. (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 1–29, hier: 1. 11 Beide Zitate Walter Haug, »Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer ›nachklassischen‹ Ästhetik«, DVjs 54 (1980), 204–231, hier: 220. Wolfgang Schmidt, Untersuchungen zu Aufbauformen und Erzählstil im ›Daniel von dem blühenden Tal‹ des Stricker, Göppingen 1979 (GAG 266), 212, spricht gar von einem »Unterhaltungsroman«, der gerade noch über dem Niveau des Trivialromans liege. 12 Elke Ukena-Best, ›Karl von Kerlingen‹ und ›Artûs von Britanîe‹. Die Herrscherromane des Stricker, Habil. masch. Heidelberg 1986; vgl. auch Elke Müller-Ukena, »rex humilis – rex superbus. Zum Herrschertum der Könige Artus von Britanje und Matur von Cluse in Strickers Daniel von dem blühenden Tal«, ZfdPh 103 (1984), 27–51, wo sie argumentiert, im Daniel würden in Matur und Artus zwei Herrschermodelle miteinander verhandelt. 13 Guido Schneider, ›er nam den spiegel in die hant, er in sîn wîsheit lêrte‹. Zum Einfluß klerikaler Hofkritiken und Herrschaftslehren auf den Wandel höfischer Epik in groß- und kleinepischen Dichtungen des Stricker, Essen 1994 (Item 1), 109. 14 Zu weiteren politischen Lesarten des Textes vgl. Wennerhold (wie Anm. 6), 168–173.

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u. a. auch Stephen Wailes verwehrt hat, mit dem Hinweis, es handle sich beim Daniel um einen subversiven Roman, und ›Subversion‹ bedeute immer, dass man die Sache ernst meine.15

2 Des Strickers programmatische Intertextualität Bereits im Prolog bekennt sich der Stricker programmatisch zur Intertextualität seines Daniel. Als ›Quellenangabe‹ zitiert er fast wörtlich die Quellenangabe des Pfaffen Lamprecht im Alexanderlied: Elberîch von Bisenzun der brâte uns diz liet zû, der hetiz in walischen getihtit. ich hân is uns in dûtischen berihtet.

nieman ne schuldige mih: alse daz bûch saget, sô sagen ouh ih. (Lesart Vorau: »louc er, sô liuge ich.«) 16 (V. 13–18) Alberich von Besançon überlieferte uns diese Erzählung. Er hatte sie auf Französisch verfasst. Ich habe sie uns auf Deutsch geschrieben. Niemand möge mich beschuldigen: So wie das Buch es sagt, so sage es auch ich (log er, so lüge auch ich).

Von Bisenze meister Albrich, der brâhte ein rede an mich ûz wälscher zungen. die hân ich des betwungen, daz man sie in tiutschen vernimet, swenne kurzwîle gezimet. nieman der enschelte mich: louc er mir, sô liuge ouch ich. 17 (V. 7–14) Meister Alberich von Besançon übermittelte mir diese Erzählung in französischer Sprache. Ich habe sie so bearbeitet, dass man sie nun auf Deutsch vernimmt, wenn man Kurzweile pflegt. Niemand soll mich schelten: Log er, so lüge auch ich.

Weitere Teile des Daniel-Prologs sind locker an Hartmanns Iwein-Prolog (V. 1– 20)18 angelehnt, wobei allerdings Artus nicht primär als das Vorbild von sælde und êre bringender Güte auftritt, sondern als Vorbild eines guten Mäzens, der || 15 Stephen L. Wailes, »Wolfram’s Parzivâl and Der Stricker’s Daniel von dem Blühenden Tal«, Colloquia Germanica 26 (1993), 299–425, hier: 312. 16 Zitierte Ausgaben: Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht (›Straßburger Alexander‹), hrsg. von Irene Ruttmann, Darmstadt 1974; Lamprechts ›Alexander‹. Die drei Texte mit dem Fragment des Alberic und den lateinischen Quellen, hrsg. von Karl Kinzel, Halle 1884. 17 Zitierte Ausgabe: Daniel von dem Blühenden Tal, hrsg. und übers. von Michael Resler, Cambridge 2003 (Arthurian Archives, German Romance 1). 18 Benutzte Ausgabe: ›Iwein‹. Eine Erzählung von Hartmann von Aue, hrsg. von G. F. Benecke, K. Lachmann, L. Wolff, Berlin 71968.

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freigebig Tugendlehren fördert (V. 23–41), der alle anderen Könige, von denen man erzähle, übertreffe (V. 47–49) und dessen Wort immer wahrhaft sei (V. 60– 63).19 Zum besonderen Lob des Königs Artus gereicht es auch, dass er nicht isst, bevor er nicht ein »niuwez mære« (V. 81) gehört hat, eine Eigenart, die ihm in anderen Artusromanen durchaus auch Tadel einbringen kann.20 Der Prologsprecher meint, er würde auch noch gerne etwas über die Jugend des Königs Artus erzählen (V. 57), aber das wäre allzu überwältigend und man würde ihn dann für einen Lügner halten (V. 56). Er müsste nämlich auf die chronikale Artustradition zurückgreifen, in der von der Jugend des Artus erzählt wird, die aber im deutschsprachigen Gebiet wenig Beachtung fand (außer in der zur Zeit des Strickers entstandenen Crône Heinrichs von dem Türlin). Mit dem Alexander-Zitat, der Anspielung auf den Iwein, auf weitere Artusromane wie den Wigalois und auf die Artus-Chronik-Tradition beweist der Prologsprecher von Anfang an seine breite literarische Bildung; zugleich deckt er für alle literaturkundigen Rezipienten sein Collage-Verfahren auf: Er zieht sehr unterschiedliche Texte heran, um das Bild eines idealen Herrschers zu zeichnen, bricht dieses aber sogleich doppelt: Einerseits lobt er die Wahrhaftigkeit des Herrschers und aller seiner verbalen Äußerungen, andererseits seine Förderung von guter, am Beispiel des Herrschers zu Tugend anleitender Literatur. Zugleich nimmt der Prologsprecher für sich in der Rolle als ›Verfasser‹ einer solchen ›guten‹ Literatur oberflächlich in Anspruch, der Quelle getreu zu folgen und also ebenso der Wahrheit verbunden zu sein, auch wenn er nicht verhindern könne, dass die Quelle lüge. Er lügt aber dabei offensichtlich, indem er hier nicht seine Quelle nennt, sondern die Quellenangabe eines anderen Werks zitiert. Auf der anderen Seite behauptet er indirekt, man würde ihm nicht glauben, wenn er Wahres über die Tugenden des Artus berichte (also dem von ihm selbst gelobten Auftrag des Königs entspreche) und Chroniken (die an sich ja einen höheren Wahrheitsanspruch besitzen als Romane) als Quellen heranziehe. Am Ende dieses Verwirrspiels kann nur die Aussage stehen: Das Nachfolgende ist eine sehr

|| 19 Zum Prolog vgl. Wennerhold (wie Anm. 6), 140–145; Schneider (wie Anm. 13), 112–125, der die Iwein-Kritik in Verbindung mit dem Verweis auf die andere Gattung des Alexanderromans sieht, in welcher die Diskussion historischer Herrschaftskonzepte im Zentrum steht; zum Lamprecht-Zitat Resler (wie Anm. 17, 10f.); zu des Strickers Iwein-Interpretation vgl. Peter Kern, »Rezeption und Genese des Artusromans. Überlegungen zu Strickers Daniel vom blühenden Tal«, ZfdPh 93 (1974), Sonderheft, 18–42, hier: 20–22. 20 In Wirnts Wigalois etwa wandelt sich das anfängliche Lob dieses Zugs des Artus (V. 248) sehr schnell in Kritik (V. 225f.). Benutzte Ausgabe: Wirnt von Grafenberg, ›Wigalois‹. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übers., erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005.

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selbständige Zusammenstellung, deren Wahrheitsgehalt zunächst an den jeweiligen Quellen, vielleicht auch der Quellengattung, hängt; die Wahrheit der Quelle kann aber entweder in den Augen eines Rezipienten, dem sie nicht vertraut ist, den Anschein der ›Lüge‹ erhalten oder durch das Zitat in fremdem Kontext in Unwahrheit verkehrt werden. Eine solche Relativierung des Wahrheitsanspruchs eines Textes unter Verweis auf die Wahrheitsverhältnisse verkehrende Tätigkeit des frei kombinierenden Verfassers darf als klares Fiktionalitätsbekenntnis verstanden werden.21 Das Lob freilich, dass Artus »tugentlîche lêre« (V. 38) liebe, bleibt von der Frage nach Fiktion oder Wahrheit unberührt.22

3 Die Darstellung der Schlachten: Offensichtliche Intergenerik – oder Intertextualität? In den Schlachtendarstellungen im Daniel sieht die Forschung weitgehend einmütig den Einfluss einer anderen literarischen Gattung. Die Schlachten, die der Herrschaftssicherung des Artus dienen, folgen, so liest man, dem »Chanson-degeste-Modell«23 und rücken damit die Gestalt des Artus näher an die Kaiser Karls.24 Alternativ sind sie als Reminiszenz an die bereits erwähnte Artus-Chroniktradition gesehen worden.25 Dabei geht es weniger um intertextuelle Bezüge im Sinne von konkreten Anspielungen auf Einzeltexte wie das Rolandslied, den Karl, die Historia Regum Britanniae oder auch – wie im Prolog – auf den Alexanderroman mit ihren jeweiligen Handlungskonstituenten und Sinngebungsstrategien. Elke Uke-

|| 21 Die Forschung hat hierin auch einen Verweis auf die (artusuntypische) list des Helden gesehen, die Daniel mit Alexander verbinde. Vgl. Hedda Ragotzky, Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers, Tübingen 1981 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1), 51. 22 Hier möchte ich Haug (wie Anm. 11), 219, Anm. 26, widersprechen, der meint, ein heiteres literarisches Spiel und eine Persiflage schlössen eine ernste Aussage aus. Ich sehe keinen Grund, weshalb Ernst und Spiel nicht miteinander vereinbar wären. 23 Mertens (wie Anm. 5), 212. 24 Meyer (wie Anm. 6), 36, spricht von einem »momentane[n] Gattungsparadigma« der Chanson de geste, wobei das Gattungsparadigma des Artusromans vorübergehend suspendiert werde. Der Königskampf sei »eine Kontrafaktur des Kampfes Karl–Paligân aus dem Karl«. 25 Helmut J. R. Birkhan, »Motiv- und Handlungsschichten in Strickers Daniel«, in: Volker Honemann u. a. (Hrsg.), German Narrative Literature of the Twelfth and Thirteenth Centuries. FS Roy Wisbey, Tübingen 1994, 363–389, hier: 367.

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nas Assoziation der Unterwerfungsforderung Maturs mit der Paligans in des Strickers Karl26 ist, wie Birkhan zu Recht betont, nicht zwingend, man könnte genauso gut auf entsprechende Stellen bei Geoffrey verweisen.27 In beiden Fällen ergeben sich aus einem konkreten Verweis auf den anderen Text keine unmittelbaren Hinweise für die Interpretation des Daniel. In ihm interessiert die Maurenoder Sachsenkriegsthematik oder die Welteroberung Alexanders ebenso wenig wie das Motiv des Verrats Geneluns, der Uneinigkeit der Briten bzw. der übertriebenen curiositas Alexanders. Vielmehr wird generell auf Konstellationen angespielt, die sich in Historiographie und Geschichtsdichtung immer wieder finden. Hierin, in der Assoziation mit geschichtsdarstellenden und -deutenden Genres, d. h. in der Intergenerik, dürfte der Interpretationshinweis zu suchen sein, der mit den Schlachtendarstellungen im Daniel gegeben ist. Zu beachten sind hierbei auch strukturelle Auffälligkeiten. Eikelmann verweist (unter Berufung auf Bumke) darauf, dass die Kriegsdarstellungen eher der »historisch-verknüpfenden Erzähltechnik«28 entsprechen, während die Aventüren Daniels der »Episodentechnik des Artusromans«29 folgen. Letztere stehen parallel zur Artushandlung; dabei bildet die Aventüre von der Grünen Aue den Gipfel einer sich steigernden Reihe von drei Aventürehandlungen (Trüber Berg, Lichter Brunnen, Grüne Aue),30 in denen der Held der Bitte von Hilfesuchenden gegen Okkupatoren und Tyrannen nachkommt, was eher dem Prinzip des Artusromans entspricht; allerdings ist die gegenhöfische Welt in diesen drei Aventüren, wie auch Regina Pingel feststellt, dahingehend überspitzt, dass sie »Züge einer civitas diaboli trägt«.31 Das Geschehen in der Grünen Aue ist, wie nicht nur Mertens betont, »mit Handlungsmustern aus verschiedenen literarischen Gattungen«32 durchsetzt, nämlich der Legende und dem antiken Epos. Hier allerdings

|| 26 Vgl. Müller-Ukena (wie Anm. 12), 51. 27 Vgl. Birkhan (wie Anm. 25) 28 Manfred Eikelmann, »Rolandslied und später Artusroman. Zu Gattungsproblematik und Gemeinschaftskonzept in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal«, Wolfram-Studien 11 (1989), 107– 127, hier: 118. 29 Ebd., 119. 30 Ausführlich zur Reihung der drei Aventüren Roland Franz Roßbacher, Artusroman und Herrschaftsnachfolge. Darstellungsform und Aussagekategorien in Ulrichs von Zatzikhoven ›Lanzelet‹, Strickers ›Daniel von dem Blühenden Tal‹ und Pleiers ›Garel von dem Blühenden Tal‹, Göppingen 1998 (GAG 649), 181–187. 31 Regina Pingel, Ritterliche Werte zwischen Tradition und Transformation. Zur veränderten Konzeption von Artusheld und Artushof in Strickers ›Daniel von dem Blühenden Tal‹, Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Mikrokosmos 40), 84. 32 Mertens (wie Anm. 5), 214.

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lohnt sich eine genauere Betrachtung, um zu entscheiden, ob tatsächlich mit anderen Gattungen oder lediglich mit intertextuellen Verweisen auf Einzeltexte gespielt wird.

3.1 Die Grüne Aue – mehr als nur eine arthurische Aventüre Bei einer Untersuchung der Aventüre von der Grünen Aue ist grundsätzlich zu beachten, dass sie keineswegs eine von der Artushandlung völlig getrennte Parallelhandlung darstellt, sondern mit dieser eng verknüpft ist. Vor Beginn der Kampfhandlung gegen Matur kommt Daniel zum ersten Mal mit der Grünen Aue in Kontakt: als er gemeinsam mit dem Graf vom Lichten Brunnen bei einem prächtigen Zelt auf einen seltsamen Ritter stößt, den der Graf verfolgt, woraufhin dieser durch einen herabstürzenden Felsbrocken in der Grünen Aue eingeschlossen und durch eine plötzliche Flut von Daniel getrennt wird. Die Grüne Aue ist damit als eine Aufgabe markiert, die für Daniel in diesem Moment nicht zu lösen ist, weil auch die auf Artus einstürzende ›Flut‹ der Krieger des Matur eine dringlichere Aufgabe darstellt; die aufgeschobene Aventüre muss aber eine Aufgabe des Helden bleiben. Nach der ersten entscheidenden Schlacht gegen Matur, als der Hauptgegner des Artus bereits besiegt, das Reich aber durch sechs weitere Heere Maturs (die dessen Witwe gehorchen) bedroht ist, gelangt Daniel in die Grüne Aue; er kann den kranken Tyrannen, der durch ein Blutbad Heilung sucht, töten und das Land befreien. Die bereits zum Opfertod Bestimmten rettet er, und sie unterstützen nun Artus’ Heer. Damit wird suggeriert, dass die Befreiung der Grünen Aue und die Entbindung Artus’ von den Herrschaftsansprüchen Maturs und seiner Sippe zusammenhängen. Der Fall Maturs scheint Voraussetzung für die Tötung des Kranken zu sein, und dessen Tod wiederum ermöglicht den Sieg über die restlichen Heere Maturs. Als schließlich bei der Heirat Daniels mit Maturs Witwe König Artus entführt und die eben gefestigte Herrschaft des Königs erneut bedroht wird, kehrt Daniel noch einmal in die Grüne Aue zurück, um von dort das unsichtbare Netz zu holen, in dem er zuvor gefangen worden war. Mit diesem Netz erst kann die Bedrohung des Artusreichs abgewendet werden. Noch einmal wird damit deutlich, dass Daniels Erfolg in der Grünen Aue die Grundlage für die Stabilisierung der Herrschaft des Königs Artus legt. Eine solche enge Verbindung der Aventüren des Titelhelden mit der Herrschaft des Artus unterscheidet den Daniel von anderen Artusromanen, in denen eher die Ehre des Hofs oder auch die Ehe des Königs (Lanzelet) verteidigt werden

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muss.33 Intertextuelle Bezüge im Aventürenteil könnten eine solche Betonung des Herrschaftsaspekts unterstreichen – oder aber andere Akzente setzen. Gefangen in der Grünen Aue und aus dem magischen Netz befreit, erfährt Daniel, was es mit dem Land auf sich hat: Nû vernemet durch got wie der tîfel sînen spot in disem lande hât gemacht. unser tac ist worden ze einer naht. es ist rehte hiute ein jâr dô sante uns leider, daz ist wâr, der leidige tîfel sînen boten. (V. 4329–35) Bei Gott, hört, wie der Teufel in diesem Land seinen Spott getrieben hat. Uns ist der Tag zur Nacht geworden. Es ist heute genau ein Jahr her, da sandte uns leider – und das ist wahr – der üble Teufel seinen Boten.

Dieser Bote des Teufels, das erfährt der Rezipient kurz darauf, ist ein Mann, »der was kal unde rôt« (V. 4383). Auch seine Physiognomie unterstreicht also die Assoziation des Teuflischen.34 Er taucht bei einem Fest des Burgherrn auf und hat eine solche Autorität, dass, was immer er befiehlt, keiner es wagt, gegen dieses Gebot zu verstoßen (V. 4384–87). Er gebietet zunächst, dass alle Gäste des Fests heimgehen und die gesamte Bevölkerung ihres Landes herholen, ob reich oder arm, ob klein oder groß, ob gesund oder krank. Kaum sind sie alle versammelt, erklärt er: er hæte ein siechtuom sô getân daz er ein bat müese hân in der wochen zeiner stunt und würde harte wol gesunt swenne er daz ein jâr getæte. swaz mannes namen hie hæte, die solden in alle gesehen, des müese allez geschehen. an der stat tôte er hundert man

|| 33 Vgl. Müller-Ukena (wie Anm. 12), 28, die von einem »letztlich sakrosankten Repräsentanzzentrum[] höfischer Idealität« in den ›klassischen‹ Artusromanen spricht; die ›nachklassische‹ Tradition des Prosalancelot bleibt dabei unbeachtet. 34 Ich würde nicht so weit gehen wie Johanna Reisel, Zeitgeschichtliche und theologisch-scholastische Aspekte im ›Daniel von dem blühenden Tal‹ des Strickers, Göppingen 1986 (GAG 464), 208f., die ihm die menschliche Art abspricht und ihn mit dem vierten Tier im Traum Daniels (Dn 7, 7) identifiziert.

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und alsô vil unz er gewan bluotes eine bütene vol, ez geviele in übel oder wol. dar inne wolde er sich baden. (V. 4413–25) Er habe eine solche Krankheit, dass er wöchentlich ein Bad haben müsse, und wenn er das ein Jahr lang täte, dann werde er sicher gesund. Wer auch immer männlichen Geschlechts sei, der solle zu ihm kommen. So geschah es. Auf der Stelle tötete er hundert Männer und noch so viele, bis er eine Bütte voll Blut gewonnen hatte. Darin wollte er sich baden.

Durch die vorausgegangene Aventüre vom Lichten Brunnen, in welcher Daniel ein Land von einem Kopffüßler und seinem Heer von Ungeheuern befreit hat, die den von ihnen Getöteten das Blut aussaugten (V. 1916–23), ist der Rezipient bereits sensibilisiert für die Verbindung der Motive ›Blut‹ und ›Tyrannei‹. Hier scheinen sie in sehr traditioneller Weise miteinander kombiniert zu sein: Die Krankenheilung (genauer: Aussatzheilung) durch ein Bad in Menschenblut ist ein in der Literatur durchaus geläufiges Motiv. Dessen prominenteste Formulierung findet sich in der Silvester-Legende, die der Stricker zwar noch nicht in der für die spätere Tradition grundlegenden Version des Jacobus de Voragine kennen konnte, wohl aber in der Fassung des Eusebius von Caesarea, auf welche sich Jacobus stützt35 und nach der auch die Kaiserchronik die Legende erzählt. Die Blutheilung des Aussätzigen ist dort eng mit der Kaisergeschichte und dem Thema der conversio verbunden: Als der vom Aussatz befallene Kaiser Konstantin die Ärzte um Rat fragt, weiß nur einer unter ihnen ein Mittel gegen die Krankheit des Herrschers: gebiut dînen haimlîchen holden, si gewinnen mir diu kindelîn di in zwain jâren geborn sîn. in ir bluote muoz ich dich paden, 36 sô solt dû dînen gesunt wider haben. (V. 7821–25) Gebiete deinen diskreten Vertrauten, dass sie mir die Kindlein holen, die in den letzten beiden Jahren geboren worden sind. In ihrem Blut werde ich dich baden. So wirst du deine Gesundheit wiedererlangen.

|| 35 Vgl. Jacobus de Voragine, Legenda Aurea. Goldene Legende, hrsg. und übers. von Bruno W. Häuptli, Freiburg u. a. 2014 (Fontes Christiani), Bd. 1, 264, Anm. 4. 36 Zitierte Ausgabe: Die Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hrsg. von Edward Schröder, Hannover 1895 (MGH, Deutsche Chroniken I, 1).

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Durch die Beschreibung der zu tötenden Kinder als bis zu Zweijährige ziehen Eusebius und der Verfasser der Kaiserchronik eine Parallele zum Kindermord in Betlehem. Da dieser wiederum typologisch auf den Opfertod Christi zu beziehen ist, wird das Blutbad indirekt mit dem Opfertod Christi in Verbindung gebracht, was später Jacobus de Voragine andeutet, wenn er die Diskussion der Frühkirche um die Feier der Einsetzung des »corporis et sanguinis [...] sacramentum« (266, 24)37 unmittelbar vor der Erzählung von der Lepra-Erkrankung Konstantins referiert und die Heilung des Kaisers auch nicht in die Hand von Ärzten legt, sondern von »pontifices idolorum« (268, 1), die zum Bad im Blut von 3000 Knaben raten. In der Legende verzichtet Konstantin auf das Opfer und lässt sich von Papst Silvester taufen. Das Taufwasser wäscht ihn von der Sünde und von der Krankheit rein – und bestätigt damit indirekt das Sakrament des Bluts: des Bluts des sich freiwillig opfernden Gottes, das von Sünden befreit, das aber, von ›Götzendienern‹ falsch verstanden und im erzwungenen Blutopfer Unbeteiligter verzerrt nachgeahmt, nicht wirken kann. Das Motiv der Aussatzheilung mit Blut ist so eng verbunden mit dem Motiv der Erlösung durch den Opfertod Christi; es ist ein religiöses Motiv, das aber zumindest in der Variante der Massentötung für das Blutbad auch deutlich mit dem Motiv der Herrschaft verbunden ist. Darin unterscheidet sich die Silvester-Legende von den Erzählungen von Blutheilungen im Armen Heinrich oder im Prosalancelot,38 wo die Freiwilligkeit des einen unschuldigen Opfers verlangt wird und der Fokus damit mehr auf der Christus-Nachfolge des Sich-Opfernden liegt als auf dem Kranken, der aufgrund seiner Machtbefugnis39 eine Massentötung zu seiner Heilung anordnen kann und sich als teuflisch inspirierter Herodes-Nachfolger präsentiert. Der intertextuelle Bezug zur Silvester-Legende dürfte eine Rezipientenerwartung wecken, dass der Kranke bekehrt werde. Störend ist hier allerdings, dass der Kranke namenlos bleibt; bei einer conversio würde das Gattungsmuster letztlich vorgeben, dass der Name des Bekehrten genannt würde. Was entsprechende Erwartungen zusätzlich stört, ist die Übersteigerung des Typus des teuflisch inspirierten Herrschers im Daniel: Der Kranke lässt nicht etwa wie Herodes oder Konstantin alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten; vielmehr sollen alle männlichen Wesen, egal welchen Alters, ihr Blut für ihn, den ›Boten des Teufels‹

|| 37 Jacobus de Voragine (wie Anm. 35), Bd. 1, 264–287. 38 Vgl. Mertens (wie Anm. 5), 211. 39 Vgl. Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts, hrsg. von Karl Köpke, Quedlinburg, Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 32), 65, 69–73.

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(V. 4335), lassen: nach und nach, jede Woche, ein Jahr lang. Die immer wiederkehrende Forderung nach einem Blutopfer, die schließlich das Land entvölkert, zerstört nicht nur, wie Meyer schreibt, den »Sinn der Legende«40 und fiktionalisiert die Episode damit, sondern sie dient einer neuen extremen Negativcharakterisierung des Kranken, der damit in die Nähe von bedrohlichen Schreckensgestalten wie dem Drachen in der Georgslegende rückt.41 Zu seiner Verteufelung trägt schließlich auch der zähmende Zauber seiner Worte bei, der alle »tumber denne ein huon« (V. 4429) macht, so dass sich keiner seinem Gebot widersetzt und alle sich brav abschlachten lassen. Spätestens an dieser Stelle, wenn die Opfer nicht nur getötet, sondern auch entmenschlicht werden, sind die Erwartungen, welche durch die Intertextualität, d. h. durch die Nähe zur Silvesterlegende, geweckt worden sein konnten, nämlich dass Daniel den Kranken bekehren und damit heilen könnte, endgültig gebrochen. Der Rezipient erwartet jetzt eher eine kämpferische Lösung, wie sie der Georgslegende oder auch dem höfischen Roman entspricht. Die betörende Stimme des Kranken ist in der Forschung als ein Zitat der Sirenen in der Odyssee gedeutet worden, während der Kranke selbst als eine Polyphem-Figur aufgefasst worden ist.42 Wie Odysseus reagiert Daniel auf den ›Sirenengesang‹, indem er sich mit Wachs die Ohren versiegelt (V. 4576f.). So sehr sich die Parallele zu den Sirenen aufdrängt, so hat doch Mertens darauf hingewiesen, dass es sonst im 13. Jh. keine Hinweise für eine Bekanntheit dieser Passage der Odyssee gebe.43 Mit Blick auf die t e u f l i s c h e Qualität des Kranken44 und auf die Gegenbildlichkeit zwischen dem Blutbad und dem Erlösungstod Christi, wie sie in der Silvesterlegende angelegt ist, drängt sich allerdings noch eine andere Parallele auf: Die teuflisch betörende Stimme, der sich alle, egal welchen Alters und Stands, beugen, wodurch sie selbst dem Tod geweiht sind, erinnert an die Stimme des falschen Propheten in der Apokalypse, dem es mit seinem Wort gelingt, alle zu überzeugen, »et seducit habitantes terram [...] et faciet omnes pusillos et magnos et divites et pauperes et liberos et servos habere caracter in dextera manu aut in frontibus suis« (Apc 13, 14–16: »und es verführt die Bewohner der Erde [...] und es bringt es fertig, dass alle, die Kleinen und die Großen, die Reichen || 40 Meyer (wie Anm. 6), 40. 41 Jacobus de Voragine (wie Anm. 35), Bd. 1, 812–823, hier: 812, 7–14. 42 Vgl. Rosenhagen (wie Anm. 1), 84; Jürgen Egyptien, Höfisierter Text und Verstädterung der Sprache. Städtische Wahrnehmung als Palimpsest spätmittelalterlicher Versromane, Würzburg 1987 (Epistemata 39), 85; Pingel (wie Anm. 31), 179. 43 Vgl. Mertens (wie Anm. 5), 211. 44 Zu Daniels Gegnern als Vertretern der civitas diaboli und Repräsentanten teuflischer superbia vgl. Pingel (wie Anm. 31), 104–112.

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und die Armen, die Freien und die Sklaven, ein Zeichen auf ihrer rechten Hand oder auf ihrer Stirn tragen«).45 Als Antichrist-Gestalt und Bote des Teufels kann der Kranke nicht wie Konstantin bekehrt, getauft und zum vorbildlichen Herrscher gewandelt werden. Eine Wunderheilung ist völlig ausgeschlossen und es bietet sich nur die Alternative seiner Tötung. Dass Daniel exakt an dem Tag erscheint, an dem das Jahr der Blutbäder erfüllt ist und an dem der Kranke seine Heilung erwartet, ist mehr als nur ein Zitat der Terminprobleme im Iwein. Vielmehr erscheint Daniel nun als der zur vorbestimmten Zeit gesandte Erlöser, der einen falschen, als Antichrist gezeichneten Herrscher beseitigt – in einer Szene, welche zwischen die Phasen von Artus’ Kampf um die Herrschaft eingeschoben ist, wodurch das Herrschaftsmotiv betont wird.

3.2 Artus’ Kampf gegen Maturs Heere – mehr als nur eine arthurische Schlachtdarstellung Durch die apokalyptische Brille gesehen, erhält auch der Kampf des Königs Artus gegen Matur eine neue Qualität. Bereits Müller-Ukena hat in diesem Kampf eine Konfrontation zwischen dem christlichen Idealherrscher und dem Typus des teuflischen rex superbus gesehen;46 Reisel versteht Matur als ein Abbild Nebukadnezars, eines Prototyps der superbia.47 Der Krieg Artus’ gegen Matur ist für einen Artusroman auffällig, nicht nur, weil der König selbst im Zentrum einer Kampfhandlung steht, was eher dem »Paradigma der Chanson de geste«48 entspricht, sondern auch, weil die Gewaltdarstellung dem Ton höfischen Schreibens nicht zu entsprechen scheint.49 Der, wie Hahn bemerkt, »sonst mit Bildern eher sparsame[] Autor«50 beschreibt die || 45 Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, hrsg. von Roger Gryson u. a., Stuttgart 41994. 46 Vgl. Müller-Ukena (wie Anm. 12), 30–44; ebenso Pingel (wie Anm. 31), 199. 47 Vgl. Reisel (wie Anm. 34), 188; Sabine Böhm, Der Stricker. Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerks, Frankfurt a. M. u. a. 1995 (Europäische Hochschulschriften I, 1530), will im Daniel nichts Religiöses sehen (206) und versucht die Identifikation Maturs mit dem rex superbus mit einem Hinweis auf seine keineswegs unhöfische Verhaltensweise zu widerlegen (189); freilich kann eine Antichristfigur durchaus höfisch auftreten. Roßbacher (wie Anm. 30), 212f., diskutiert stattdessen eine Identifikation Maturs mit dem Welfenkönig Otto IV. und Artus’ mit den Staufern. 48 Mertens (wie Anm. 5), 210; vgl. Meyer (wie Anm. 6), 36. 49 Wolfgang Schmidt (wie Anm. 11), 206, meint simplifizierend, dass dem »Dichter bürgerlicher Herkunft« die ritterliche Ethik fremd war. Zu Stand und Gönnerschaft des Strickers vgl. Geith u. a. (wie Anm. 4), 418f. 50 Ingrid Hahn, »Das Ethos der kraft. Zur Bedeutung der Massenschlachten in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal«, DVjs 59 (1985), 173–194, hier: 188.

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Schlachten in auffällig bunter Metaphorik. So kommentiert der Erzähler, als sich Artus, Gawein, Iwein und Parzival in der ersten Schlacht besonders hervortun: si wâren alle viere tiurlîche schrîbære. ir griffel wâren swære, sie schriben soliche buochstabe daz sie niemer nieman abe mohte gewaschen noch geschaben. (V. 3542–47) Sie waren alle vier vortreffliche Schreiber. Ihre Griffel waren schwer. Sie schrieben solche Buchstaben, dass niemand sie jemals wieder abwaschen oder abschaben konnte.

Wie bittere Ironie51 klingt es, wenn der Kampf im Bild des Schreibens dargestellt wird, das Schwert mit dem Griffel, die tödliche Wunde mit der nicht mehr löschbaren Schrift gleichgesetzt wird. Ähnlich werden im Nibelungenlied die Lieder Volkers mit seinen Schwertstreichen parallelisiert: »Sîne leiche lûtent übele, sîne züge, die sint rôt. / jâ vellent sîne dœne vil manigen helt tôt« (1999, 1f.).52 Dort aber ist deutlich, dass das heldenepische Singen und die Erzählung von der Gewalt eine Einheit bilden,53 dass also das, was ›ironisch‹ oder ›zynisch‹ klingt, zugleich poetologisch zu verstehen ist, denn erst das Lied und die memoria machen die kriegerische Heldentat zu dem, was sie ist. Das Lied ist hier, entsprechend der Medien- und Gattungsdifferenz zwischen dem in einer oralen Tradition stehenden Heldenlied und dem in der Schrifttradition verwurzelten Roman, ersetzt durch die Schrift. Durch den Kampf entsteht die ›Schrift‹: die Erzählung – oder eine andere, intertextuell mit angesprochene ›Schrift‹? Ähnlich heroisch mutet ein anderes Bild an, das der Erzähler im Daniel für den Kampf verwendet: er begunde freislîche smiden. er smidete als ich iu sage: im quam dehein helm ze slage, er machte drûz zwêne âne gluot (V. 3626–29).

|| 51 Den Vorwurf des ›Zynismus‹ lehnt Meyer (wie Anm. 6), 37, ab; er spricht von einer Metaphorik, die der für Heldenepen gattungstypischen Hyperbolik diene. 52 Zitierte Ausgabe: Das ›Nibelungenlied‹. St. Galler Handschrift, hrsg. und erl. von Hermann Reichert, Berlin, New York 2005; in der Zählung von Bartsch entspricht dies Str. 2002. 53 Vgl. Cora Dietl, »Die Präsenz des Sängers im Buch des Dede Korkut und im Nibelungenlied«, in: Sieglinde Hartmann, Kamal M. Abdullayev (Hrsg.), Das ›Nibelungenlied‹ und das ›Buch des Dede Korkut‹. Literaturwissenschaftliche Analysen des zweiten interkulturellen Symposiums in Mainz, Deutschland, 2011, Baku, Frankfurt 2015 (Slawistische Universität Baku, Wissenschaftliche Schriften), 24–32, hier: 30.

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Er begann fürchterlich zu schmieden. Er schmiedete, wie ich es euch sage: Sobald er mit dem Schlag einen Helm erreichte, machte er daraus ohne Schmiedefeuer zwei.

Das Bild des Ritters als eines Schmieds ist an das Rolandslied angelehnt (145, 18).54 In seinem Karl verwendet der Stricker das Bild wieder: sam die smide slânt ûf den ambôz, so daz îsen ist vaste in gluote, 55 sluoc mans ûf die schilde und ûf die huote. (V. 5124–26) So wie die Schmiede auf den Amboss schlagen, wenn das Eisen in voller Glut steht, so schlug man auf die Schilde und auf die Helme.

Daniel aber schlägt im Kampf nicht nur wie ein Schmied zu, er sägt und setzt die Axt an wie ein kräftiger Zimmermann, heißt es bald darauf (V. 3690–93). Während sich in der Darstellung der ersten Schlacht die Metaphorik weitgehend an (aus Heldenepik und Karlsdichtung bekannten) Mustern der bildlichen Beschreibung von Kampfkunst und Kampfhandwerk (sowie der sich in der Kampfhandlung spiegelnden Erzählkunst) orientiert, ändert sich die Bildlichkeit nach Daniels Aventüre in der Grünen Aue, d. h. nachdem die teuflisch anmutende ›Antichrist-Figur‹ getötet ist. Jetzt ist der Kämpfende, der schreibt, schmiedet, zimmert etc., nicht mehr als selbständige ›Schöpferfigur‹, die sich selbst eine memoria erschafft, gezeichnet, sondern er ist nun dienender Teil einer Gemeinschaft: Zuerst hören wir wieder Schwerter wie Hämmer auf den Amboss prallen (V. 5050f.), dann tritt Artus auf – »er was der andern pfluoc« (V. 5054) – und bricht für die anderen den Acker auf, dass er urbar werden kann: »unz daz der acker from wirt« (V. 5064). Jetzt erinnert die Bildlichkeit weniger an heldenepische Kontexte als an biblische. So verwendet etwa Jesaja das Bild des Schmieds, der am Ende der Tage das Feuer entfachen wird (Is 54, 16: »ecce ego creavi fabrum sufflantem in igne prunas«), bei Joel wird das Volk Gottes aufgefordert, seine Pflugscharen zu Schwertern zu schmieden und die ›Ernte‹ einzufahren (Ioel 3, 10–13: »concidite aratra vestra in gladios [...] mittite falces quoniam maturavit messis«), was später in der Apokalypse wiederholt wird (Apc 14, 18–20). Damit aber schillert die Kampfdarstellung zweideutig: Neben die Funktion der heroischen Übersteigerung und der Bewusstmachung von dichterischer Memoria-Bildung tritt nun die Erinnerung an das kommende göttliche Gericht.

|| 54 Benutzte Ausgabe: Das ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad, hrsg. und übers. von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993. 55 Zitierte Ausgabe: Stricker, Karl der Große, hrsg. von Karl Bartsch, Quedlinburg, Leipzig 1857 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 35), Nachdruck Berlin 1965.

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Artus ebnet den anderen den Weg, Gawein betätigt sich als ›Seelsorger‹ und ›Erzieher‹, er teilt Schwertsegen aus (V. 5076f.) und »stilte dâ diu kint« (V. 5082) mit Schlägen. Aus der Tat für die ›Gemeinschaft‹ wird schließlich ein gemeinsames Handeln unter den Augen einer höhergestellten ›Autorität‹. Der Kampf, schon zu Beginn der zweiten Schlacht fast nebenbei als ein »turnieren« (V. 5002) bezeichnet, wird schließlich als ein Wettstreit dargestellt, der unter den Argusaugen eines strengen Schiedsrichters stattfindet. Der Schiedsrichter (griezwarte) heißt ›Tod‹ (V. 5170f.) und scheidet die Kämpfenden auf seine Weise.56 – Schließlich findet der Erzähler noch ein neues Bild: Artus und Daniel treten jetzt als Ärzte auf (vgl. auch V. 5638f.) und heilen andere so, wie der Kranke in der Grünen Aue Heilung für sich suchte: ir arzenîe was der tôt, dâmit sie büezen kunden swen sie vor in funden. die des tages wâren gezalt, er wære junc oder alt, er wære swach oder starc, er wære milte oder karc, er wære gewâfent oder blôz, er wære wênic oder grôz, er wære kurz oder lanc, er wære swarz oder blanc, er wære tump oder wîs, er hæte laster oder prîs, er wære lugenære oder wârhaft, küene oder zaghaft, er wære snel oder laz, ez wart ir keinem erboten baz, er wære herre oder kneht, wan daz sie daz selbe reht allesament enpfiengen und des niht engiengen, sie müesten den tôt erkunnen. (V. 5244–65) Ihre Arznei war der Tod. Damit konnten sie alle behandeln, die sie vor sich fanden. Alle, die an diesem Tag gezählt wurden, ob jung oder alt, schwach oder stark, freigebig oder geizig, gerüstet oder unbewaffnet, gering oder bedeutend, kleinwüchsig oder groß, dunkel oder hellhäutig, töricht oder weise, lasterhaft oder lobenswert, verlogen oder wahrhaftig, kühn

|| 56 Zur Verkehrung der schiedsrichterlichen Aufgabe vgl. Hahn (wie Anm. 50), 191; zu möglichen Bedeutungsunterschieden des Wortes griezwarte vgl. Resler (Anm. 17), 407, Anm. 193.

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oder zaghaft, tatkräftig oder träge, keinem ging es besser, er sei Herr oder Knecht, allen erging es gleich und sie entgingen dem nicht, dass sie den Tod erfahren mussten.

Durch Parallelismen und Anaphern wird diese Stelle überdeutlich hervorgehoben: Alle ohne Ausnahme werden von Artus und Daniel gefällt, so wie zuvor für den Kranken alle sterben mussten. Das universale Sterben steigert sich von Schlacht zu Schlacht.57 Immer häufiger wird jetzt auch das Blut beschrieben, das an Pferden und Kämpfern herunter rinnt (V. 5518). Nach und nach steigt der Stand des Bluts, das sich am Boden sammelt: sie riten in den bluote, daz gie den rossen an diu knie, dar inne ertrunken alle die die dâ nider wurden geslagen. (V. 5628–31) Sie ritten im Blut. Dieses reichte den Pferden bis an die Knie und in ihm ertranken all die, die vom Pferd gestoßen wurden.

Dass auf dem Schlachtfeld das Blut knietief steht, ist ein in der Heldenepik und v. a. in der Karlsepik nicht seltenes Motiv.58 Im Rolandslied heißt es: »si wuten in dem bluote unz an die chnie« (V. 4151) und »daz bluot uber velt ran« (V. 4335), weshalb »di sconen velt bluomen / wurden alle bluot vár« (V. 4480f.). Die Betonung der Schrecken der Schlacht dient der Überhöhung der Helden. Das aber ist nicht ihr einziger Zweck, sie dient auch einer religiösen Deutung der Schlacht an dem Tag, an dem alle gezählt werden (V. 5247): Im Rolandslied fließen die Götzenbilder im Blut weg, »di gote musen in dem bluote hin fliezzen« (V. 4472), während das Blut der Gerechten zum Himmel schreit (V. 4987: »ir bluot rief hin zehimele von der erde«) und Gott diesen Ruf erhört und für Rache sorgt (V. 4988f.). Das Blut ist damit Zeuge vor Gott und wäscht das Widergöttliche weg. Die Zeugenfunktion des Bluts greift der Stricker im Daniel auf, allerdings nicht unmittelbar auf Gott bezogen, sondern mit einem indirekten Rückbezug auf den Prolog, in dem er die Sitten der Artusritter beschrieben hatte: Artusritter berichten nämlich dem Hof, wenn ihnen Schande widerfahren ist (V. 111f.). So haben die hier gefallenen Ritter keine Chance dazu, denn das Blut verweigert genau diese Zeugenschaft:

|| 57 Vgl. auch die Totentanzdarstellung in V. 5520–25: »von dem lebene in den tôt / tet vil maniger einen sprunc. / dâ was nieman ze junc, / er muoste vil schiere alten / solde er der fröude walten / deheine wîle der man dâ pflac«. 58 Vgl. dazu Resler (wie Anm. 17), 408, Anm. 207.

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dâ wart manger geschant daz er dâ nider wart geslagen. die schande hôrte in niemand klagen, er klagte nieman den schaden sô er in dem bluote muoste baden unz an die stunde daz er ertranc. (V. 5676–81) Da erwarben viele dadurch Schande, dass sie niedergeschlagen wurden. Die Schande hörte sie niemand klagen. Niemand klagte den Schaden, wenn er in Blut baden musste, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ertrank.

Mit dieser Darstellung des ›Wegwaschens‹ der getöteten Gegner im Blut und dem damit verbundenen In-Frage-Stellen arthurischen Erzählens ist der Gipfel der Schlachtdarstellung erreicht. Noch einmal drängt sich ein biblisches Bild auf: Am Tag des Gerichts, so Johannes, »exivit sanguis de lacu usque ad frenos equorum per stadia mille sescenta« (Apc 14, 20). Das Blut, das nicht nur bis zum Knie, sondern bis zu den Zügeln der Pferde steht, erzwingt geradezu, dass man »in dem bluote baden« (V. 5680) muss. Damit wird die Schlacht zu einem Zerrbild des Blutbads des Boten des Teufels: Das Blutbad als ein wahnsinniger Versuch der Heilung eines einzelnen von Krankheit bzw. Sünde ist hier zu einem generellen Blutbad als Sühne eines unrechtmäßigen Angriffs auf Artus geworden. Wer sich in dieses Blutbad begibt, bekennt sich zu seiner Schande, die zugleich eine Feindschaft gegenüber Artus bedeutet, aber er wird von dieser nicht geheilt, sondern ertrinkt und wird zusammen mit seiner memoria weggewaschen – ähnlich wie der Teufelsdiener, der die Grüne Aue besetzt hatte, beim Zurichten des Bads den Tod gefunden hat und anonym von der Bildfläche des Textes verschwunden ist. Dem Blutbad, in dem Junge und Alte, Männer jeden Stands, wie es in der oben zitierten Passage heißt, den Tod finden, ja, dem alle im Lande zum Opfer fallen, kann nur Gott selbst ein Ende bereiten,59 der zunächst die Nacht sendet, die den Gefechtstag beendet. Zu Beginn des nächsten Tags wird der Kampf mithilfe des goldenen Tiers entschieden, das eigentlich den Truppen Maturs als Kriegssignal gilt und dessen lähmender Schrei der Unterwerfung der Artusritter dienen sollte, das aber Daniel gegen die Truppen Maturs einzusetzen weiß60 –

|| 59 Zur Rolle Gottes als kampfentscheidender Instanz vgl. Dorothea Müller, ›Daniel vom blühenden Tal‹ und ›Garel vom blühenden Tal‹. Die Artusromane des Strickers und des Pleier unter gattungsgeschichtlichen Aspekten, Göppingen 1981 (GAG 334), 113f. 60 Ragotzky (wie Anm. 21), 70, sieht in dem Tier ein Zitat des von Nebukadnezar errichteten goldenen Standbilds, vor dem sich alle Völker beim Klang der Hörner anbetend niederwerfen oder dem Feuer überantwortet werden sollten (Dn 3, 5–7), dessen Einrichtung aber den Triumph Jahwes durch das Wunder der drei Jünglinge im Feuerofen einleitet. Mertens (wie Anm. 5), 212,

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Artus triumphiert. Sein Hof ist nicht im Blut ertrunken, sondern er geht aus der Blutbadszene ähnlich wie Konstantin als christlich-idealer Herrscher hervor. Nachträglich mag hier auffallen, dass Artus im Kampf gegen Matur das kaiserliche Wappen getragen hat: »einen gekrœnten arn / fuorte er an sînem schilte« (V. 3010f.).61 Artus als Herrscher mit dem Adlerwappen, der geradezu über die Gewalten zu herrschen scheint, seine Ritter, die den erschütternden Lärm des goldenen Tiers beherrschen, die den Antichrist, der im Blut badete und der in der eigenen Sünde ertrank, überwunden haben, die als Meister des Tötens auftreten, ohne dass der Erzähler irgendeine Kritik an ihnen übte,62 erscheinen nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Karlsdichtung, in der Karl und Roland augenfällig als Kämpfer Gottes agieren, die dem Widerchristlichen begegnen,63 verherrlicht, geheiligt, ja geradezu auf eine apokalyptische Ebene gehoben. Die Schreie, die das goldene Tier ausstößt, erinnern aus dieser Perspektive an die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Die großen Schlachten, bei deren erster der Herausforderer Matur (und zuvor sein Riese) fällt, während bei den weiteren die restlichen der sieben Heere zunächst nach und nach, dann gemeinsam von allen Seiten die Artusritter umzingeln, gemahnen an die beiden großen apokalyptischen Schlachten, bei deren erster das Tier und sein Lügenprophet gestürzt, in deren zweiter die aus den vier Ecken der Erde zusammenströmenden Völker, Gog und Magog, besiegt werden (Apc 20, 9). In der apokalyptischen Schlacht schließlich gibt es keine arthurisch-ritterlichen Kampfnormen, aber das Abweichen von ihnen hat nichts (menschlich) Zynisches, vielmehr ist die Grausamkeit dieses Kampfes die harte Realität des ›Spektakels‹ am Ende der Welt, so wie es das ›Wort‹ (d. h. die Offenbarung) beschreibt.

|| sieht in dem Motiv eher eine Kontrafaktur des Brunnens im Iwein. Vgl. Reisel (wie Anm. 34), 188f.; Egyptien (wie Anm. 42), 74. 61 Roßbacher (wie Anm. 30), 211, weist auf die Bedeutung des Adlers hin, warnt aber davor, den Daniel deshalb »einfach als Schlüsselroman« zu lesen; Müller-Ukena (wie Anm. 12), 45, sieht im Adler v. a. ein »Hoheitszeichen gottbegnadeten Herrschertums«. 62 Zum Ausbleiben einer Kritik an der drastischen Gewaltanwendung Daniels und der anderen Artusritter bei positiver Hervorhebung des Gemeinschaftshandelns vgl. Böhm (wie Anm. 46), 182f., unter Berufung auf Eikelmann (wie Anm. 28), 114f. und 120f. 63 Matur trägt bei dem Kampf den Vogel babiân im Wappen (V. 3001), den Wailes (wie Anm. 15), 308, als verkehrtes Abbild der Gralstaube deutet.

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4 Die Wahrheit (oder die Lüge) vom Ende Als ein »fabulierende[s] Spiel« in »heiter-spielerische[r] Laune«64 möchte ich den Daniel nicht sehen; der Stricker bekennt sich zwar im Prolog offen zu einem frei kombinierenden Dichten, er betont aber die Bedeutung der Lehre und lobt die Herrscherqualität, welche nicht zuletzt gerade in der Liebe zum lehrhaften Wort beruht. In diesem Sinne will der Roman einen Idealherrscher zeichnen, der alle anderen Könige, von denen die Literatur erzähle, übertreffe. Artus reiht sich, wenn auch auf Alexander, Karl und biblische Herrscher angespielt wird, nicht in die Reihe der Neun Helden ein, sondern er steht über ihnen. Das tut er allerdings nicht aufgrund eines vorbildlich höfischen Verhaltens, wird er im Kampf doch eher als der gewaltige ›Ackermann‹ denn als der sämtliche Regeln höfischer Affektkontrolle befolgende Ritter gezeichnet. Dass er aber auch nicht ein unüberwindlicher Superheld ist, zeigt die Riesenvaterepisode am Ende des Romans, in der er in großer Hilflosigkeit erscheint. Was Artus im Daniel vor allen anderen Königen auszeichnet, ist die Position, die ihm in der Weltgeschichte eingeräumt ist. Durch intergenerische Anspielungen macht der Stricker zunächst klar, dass seine Referenzgröße im Bereich der Geschichtsschreibung, -dichtung oder -deutung zu suchen ist, dass mit ›Artus‹ aber kein konkreter Herrscher gemeint ist. Bei näherer Betrachtung verdichten sich die Hinweise auf legendarische und biblische Muster. Hinter den Schlachten zwischen den Heeren des Artus und des Matur leuchten als Folie die in der Apokalypse und in den prophetischen Büchern des Alten Testaments beschriebenen sieben Schlachten des Endkampfes auf, auf welchen der vom biblischen Daniel gedeutete Traum des Nebukadnezar von den Weltreichen vorausdeutet. Maturs umschlossenes Land Clûse könnte dann Jerusalem65 als Ort des Endkampfes und als Ort der Himmlischen Hochzeit reflektieren. Eingebunden werden diese biblischen Anspielungen in ein Netz der typologischen Anspielungen, das immer wieder um das Motiv des heilenden, reinigenden, Erinnerungen abwaschenden Bluts, des Bluts der unschuldigen Opfer oder des Bluts der von der gerechten Rache Gottes Gefällten, kreist. Wirklich greifbar sind die Bezüge zur Apokalypse allerdings nicht, vielmehr entziehen sie sich jedem vereindeutigenden Zugriff. Unmissverständliche ›intertextuelle‹ Bezüge, die genau auf ein biblisches Buch bezogen wären, liegen hier nicht vor, vielmehr || 64 Beide Zitate Haug (wie Anm. 11), 220. 65 Auf die Abgeschlossenheit des geradezu paradiesisch beschriebenen Lands hat Elke MüllerUkena (wie Anm. 12), 40, hingewiesen, allerdings ohne dabei die Beschreibung dieses Lands ernst zu nehmen; sie wertet die Darstellung des »Land[s] der Superlative« durch den Riesen selbst vielmehr als Ausdruck der superbia.

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lässt sich eine eher diffuse ›intergenerische‹ Beziehung zu Motiven aus biblischen, legendarischen und apokalyptischen Schriften beobachten. Der Protagonist des Romans schillert so zwischen der Rolle eines vortrefflichen, sich durch list und prudentia auszeichnenden Artusritters66 und der des für die Sinngebung der intergenerischen Bezüge verantwortlichen biblischen Propheten; Artus erscheint als Endzeitkönig. Ist dies nun ein apokalyptisch überhöhter Abgesang auf die Gattung des arthurischen Romans oder eher eine Absage an die (literarisch vermittelte) Suche nach einem höfischen Herrscherideal angesichts der Herausforderungen des drohenden Endes des letzten (des Römischen) Weltreichs?67 Eine Beschreibung von ›teuflischen‹, widerchristlichen Machtgelüsten und Zweifeln an der Legitimation des rechten Herrschers, die schließlich das Weltenende herbeirufen, darf als ernste Warnung verstanden werden; das Ganze kann freilich auch reine ›Lüge‹ sein, »quia nescitis qua hora Dominus vester venturus sit« (Mt 24, 42).

|| 66 Vgl. Christoph Huber, »Ars et prudentia. Zum list-Exkurs im Daniel des Strickers, in: Cora Dietl, Dörte Helschinger (Hrsg.), ›Ars‹ und ›Scientia‹ im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung. FS Georg Wieland, Tübingen, Basel 2002, 155–171. Mertens (wie Anm. 5), 207, spricht von einer gegenüber dem biblischen Propheten profanisierten Klugheit; vgl. Egyptien (wie Anm. 42), 74: Daniel entspreche dem »Typus des mantischen Weisen«. 67 Ragotzky (wie Anm. 21), 69, verweist darauf, dass mit Alexander, Herrscher des dritten Weltreichs, bereits im Prolog auf das Modell der vier Weltreiche angespielt wird.

Verena Linseis

Gotteskrieger und Gottesgeheimnisse Legendarisches im Lohengrin Abstract: The romance of Lohengrin, an Arthurian knight, has often been reduced to chronistic or Christian components; the sources of the text are however many and varied. One of them, the legend of St Brendan, who travels around the world to experience and document the wonders of God, is mentioned several times at the start. The references are taken from the Wartburgkrieg – but this does not explain everything. As well as the opening references, other passages in Lohengrin also allude less directly to Brendan, either by structure, motif or through their thematic focus on claims for truth. The following analysis identifies such passages, examining the function of interferences between the legend of a sanctus electus, Brendan, and a pre-ordained saviour-figure, Lohengrin. The figure of Lohengrin shows that not only Christ, but also holy men like Brendan can serve as a model. Both travel on the orders of God, leaving home for their original mission and departing again a second time, after their mission is complete. But they leave something behind: salvation and belief.

Nû sage mir, meister, sunder haz, wâ windet gotes tougen? nieman vürebaz 1 gesuochen tar, swer blîben wil bî sinne. (V. 81–83) Nun sage mir bitte, Meister, wo endet Gottes Geheimnis? Niemand, der bei Verstand bleiben will, wagt es, noch weiter danach zu suchen.

Diese Frage stellt Clingsor an Wolfram im Vorspann der bairischen LohengrinDichtung (entstanden zwischen 1283 und 1289) im Rahmen von mehreren Prüfungen innerhalb eines Sängerwettstreits.2 Der Haupttext berichtet über den vom

|| 1 Zitierte Ausgabe: ›Lohengrin‹. Edition und Untersuchung, hrsg. von Thomas Cramer, München 1971. Der Lohengrin ist im Schwarzen Ton verfasst, mit je zehn Versen pro Strophe. In der Edition wurde sowohl an eine Strophen- als auch an eine Verszählung gedacht. – Ein herzlicher Dank gilt an dieser Stelle Herrn Dr. Rudolf H. Wackernagel, der mich mit der Ausgabe von Heinrich Rückert (Quedlinburg 1858) beschenkt und damit noch einmal auf den Reiz dieses Textes aufmerksam gemacht hat. 2 Vgl. Cramer (wie Anm. 1), 163. Ob dieser Datierung zu folgen ist oder doch der Umkreis Ludwigs des Bayern in Betracht kommt, wie es Heinz Thomas vorschlägt, kann hier nicht diskutiert

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Gral ausgesendeten Ritter Lohengrin, der in einem Schiff, das von einem Schwan gezogen wird, nach Brabant fährt, um dort die Herrscherin Elsa, ihr Land und ihre Herrschaft vor Feinden zu retten. Er kämpft in mehreren Schlachten, muss schließlich aber wieder zurückkehren, da seine Ehefrau Elsa das Fragetabu nach seiner Herkunft gebrochen hat. Diese Erzählung scheint auf den ersten Blick kaum in Verbindung mit den anfangs genannten Passagen zu stehen, die zweifelsohne gemeinsam mit weiteren Strophen des ›Rätselspiels‹ den WartburgkriegDichtungen entnommen sind.3 Diese vorgeschalteten Strophen führen die Figur des Hl. Brandan ein und geben den Kern seiner Legende wieder. Er habe von einem Engel ein Buch erhalten, doch »[e]r zêch den engel und daz buoch gar trügenhafter maere. / vor zorne warf erz an die gluot« (V. 127f.). Auch die von einem Engel verhängte Strafe für diesen »ungeloube« (V. 129) wird genannt: »dû muost ez wider holn mit maniger swaere« (V. 130). Im Kontext des hier zitierten ›Quaterrätsels‹, dessen Lösung die Einheit der vier Evangelien ebenso offenbart wie den vierfachen Schriftsinn, wird als Quelle von Wolframs Gelehrsamkeit das Buch genannt, das Brandan »von eines ohsen zungen nam« (V. 95), also direkt vom Evangelisten Lukas erhielt. Wolfram, hinter dessen Figur sich der Erzähler verbirgt, habe dieses Buch erhalten und qualifiziere sich damit regelrecht als einzig möglicher Erzähler des Lohengrin. Und doch sind gerade diese wenigen einleitenden Strophen, die dem Sängerstreit entlehnt sind (Str. 1–25, 27, 28 und 30), alles andere als ein kontextfreier Paratext, der ohne engeren Zusammenhang zur eigentlichen Erzählung steht. Vielmehr kann die intertextuelle Anspielung auf die weitverzweigte Brandanlegende, die im Interesse dieser Untersuchung steht, als eine von mehreren Folien angesehen werden, die im Verlauf der eigentlichen Lohengrin-Geschichte immer

|| werden. Thomas selbst kommt am Ende seiner Ausführungen zu dem Schluss: »Viel wichtiger wäre es, wenn der Rang dieser Dichtung als einer einzigartigen, in hohem Maße aufschlußreichen Quelle zur Literatur, Mentalität und Politik des 14. Jahrhunderts erkannt und gewürdigt würde«; Heinz Thomas, »Ettal, Neuhausen und anderes: Neues zum Lohengrin«, in: Dorothea Lindemann, u. a. (Hrsg.), ›bickelwort‹ und ›wildiu maere‹. FS Eberhard Nellmann, Göppingen 1995 (GAG 618), 340–353. 3 Zu den Brandanstrophen im Wartburgkrieg vgl. L[eopold] Peeters, »Brandanprobleme«, Leuvense Bijdragen 59 (1970), 3–27, speziell zum Quaterrätsel 19. Zur Tradition des Sängerstreits vgl. Burghart Wachinger, Der Sängerstreit auf der Wartburg. Von der Manesseschen Handschrift bis zu Moritz von Schwind, Berlin, New York 2004 (Wolfgang Stammler Gastprofessur 12). Zum Wartburgkrieg generell vgl. z. B. Beate Kellner, Peter Strohschneider, »Poetik des Krieges. Eine Skizze zum Wartburgkrieg-Komplex«, in: Manuel Braun, Christopher Young (Hrsg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2007 (TMP 12), 335–356.

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wieder konzeptionell durch die Handlung hindurchscheinen. Die Legende von der Seereise des Hl. Brandan, der den Auftrag erhält, die wundersamen Geheimnisse Gottes (V. 82: »gotes tougen«)4 mit dem Schiff zu er-fahren, könnte den Verfasser des Lohengrin auch unmittelbar für die Haupterzählung inspiriert haben. Im Mittelpunkt der hier vorgelegten Studie steht die Frage, wie und wofür genau Interferenzen zwischen den Brandandichtungen, anderen älteren Heiligenlegenden und dem Lohengrin als nachklassischem Gralsroman5 eingesetzt sind. Dafür müssen zunächst die Hauptfiguren Lohengrin und Brandan in Hinblick auf ihre Charakterisierung verglichen werden. Motive, Strukturen und die Art und Weise des Erzählens geben darüber hinaus Aufschluss, als wie eng eine mögliche Anlehnung aufgefasst werden kann. Dass es für eine derart komplexe Dichtung wie den lange verkannten Lohengrin eine unter Umständen nie vollständig entschlüsselbare Anzahl von Interferenzen mit anderen Texten und Gattungen gibt, muss nicht eigens betont werden. Die originäre Herkunft der Brandan-Strophen und die intertextuellen Bezüge zur Wartburgkrieg-Dichtung werden hier ganz bewusst in den Hintergrund gestellt. Vielmehr soll im Zentrum der folgenden Ausführungen der Text zum Vergleich mit dem Lohengrin kommen, der als Quelle hinter den unmittelbar eingegangenen Passagen steht: die sog. ›Reisefassung‹ der Legende von der Meerfahrt des Hl. Brandan, die nach Haug »auf ein verlorenes mittelfränkisches Original von ca. 1150«6 zurückgeht. Diese Fassung beginnt im Gegensatz zur ursprünglich lateinischen ›Navigatio‹Fassung, die Brandan aufgrund des Berichts eines Reisenden ausziehen lässt, ebenfalls mit der Buchverbrennung, auf die der Lohengrin rekurriert. Brandan liest in einem Buch von zwei Paradiesen auf der Erde, einer Kehrseite der Welt, wo es Tag sei, wenn es hier Nacht ist, von drei Himmeln, riesigen Fischen mit Land und Wäldern auf dem Rücken und einer Milderung der Höllenqualen für

|| 4 Auch im Brandan ist von »gotes tougen« (V. 3) die Rede. Zitierte Ausgabe: ›Brandan‹. Die mitteldt. ›Reise‹-Fassung, hrsg. von Reinhard Hahn und Christoph Fasbender, Heidelberg 2002 (Jenaer Germanistische Forschungen 14). 5 So bezeichnet Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998, 176, die Artusromane des 13. Jh., die sich seiner Ansicht nach bereits von »der sinnvermittelnden Symbolstruktur Chrétien-Hartmann-Wolframscher Prägung und der dadurch bedingten Determiniertheit der Aventiuren« lossagen. 6 Walter Haug, Art. »Brandans Meerfahrt«, in: 2VL, Bd. 1, 985–991. Welche Version des Brandanstoffs dem Rätselspiel im Wartburgkrieg zugrunde lag, ob »nun die ›Reise‹-Fassung oder eine heute verlorene, neben Navigatio und ›Reise‹ mithin dritte Version der Legende [...] ist also nach wie vor unentschieden«; Reinhard Hahn, »Ein engel gap dem wîsen man ein buoch. Anmerkungen zur Brandanlegende im Wartburgkrieg«, ZfdPh 119 (2000), 112–129, hier: 114. Die Wahl fiel in diesem Fall auf die ›Reisefassung‹, um einen Vergleich praktikabel und nachvollziehbar zu halten.

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Judas in jeder Samstagnacht (V. 23–43). Brandan gerät vor Unglauben über diese Wunder in Zorn, verbrennt das Buch und verflucht dessen Dichter (V. 44–50). Daraufhin spricht Gott zu ihm und befiehlt ihm – weil er durch den Zorn Brandans seine Wunder »unde der warheit sinne« (V. 59) verloren sieht – dass der Abt mit eigenen Augen sehen müsse, was davon wahr und was erlogen sei: »sus muste er gelden daz buch« (V. 69). Schon im Vergleich der beiden Hauptfassungen der Brandanlegende zeigen sich wesentliche Unterschiede. Trotz einer differierenden Rahmenerzählung und einer andersartigen Strukturierung (die ›Navigatio‹ ordnet wiederkehrende Stationen Brandans in Zyklen an, die sich am Kirchenjahr orientieren) bleibt die Meerfahrt das Thema. Die Entdeckungsreise des Abtes ist für eine Heiligenvita eine ungewöhnliche Qualifizierungsleistung, sodass sich für einen späteren Abgleich der Interferenzen zwischen Lohengrin und Brandans Meerfahrt eine Überprüfung der Gattungszugehörigkeit der ›Reisefassung‹ lohnt. Eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Gattung als »soziologisch erwartete[m] und künstlerisch gemeinte[m] Typ«7 gibt es bei der Legende um den Hl. Brandan nicht. Walter Haug spricht von einer »legendarische[n] Reisebeschreibung« mit »orientalisch-antike[n] Motive[n]« und »Szenen aus der christlichen Legenden- und Visionsliteratur«. Er betont bei der ›Navigatio‹ die engen Beziehungen mit »der altirischen Schiffahrtserzählung, dem Immram«, und spricht bei der ›Reisefassung‹ von einem »verstärkte[n] Motivschub aus der Visionsliteratur«.8 Christoph Huber fasst die verschiedenen Überlegungen zur Einordnung folgendermaßen zusammen: Gattungsgeschichtlich liegt die Erzählung zwischen Legende, Roman, Reisebericht, Jenseitsvision. Spuren der ›Reisefassung‹ finden sich bei Wolfram von Eschenbach u[nd] in 9 dem Streitgedicht in Sangspruchstrophen Der Wartburgkrieg.

Beim Lohengrin scheint die Gattungsfrage mit dem offenen Begriff »Versroman über den Schwanenritterstoff«10 vordergründig relativ einfach beantwortet. Die

|| 7 Hugo Kuhn, Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur, München 1956 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 1956, H 4), 3–32, hier: 3. 8 Haug (wie Anm. 6), hier: 985. 9 Christoph Huber, Art. »Brandan (Brandans Meerfahrt)«, in: 2Killy, Bd. 2, 121f., hier: 122. Vgl. dazu auch Christoph Fasbender, Art. »Sankt Brandans Reise«, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, hrsg. von Wolfgang Achnitz, Bd. 3: Reiseberichte und Geschichtsdichtung, Berlin, Boston 2012, 190–193, hier 190: »Geistlicher Verstext [...], der Elemente von Legende, Roman, Reisebericht und Jenseitsvision mischt«. 10 Thomas Cramer, Art. »Lohengrin«, 2Killy, Bd. 7, 496. Die Gattungsfrage scheint bei der Vielfalt der eingebetteten Motive und miteinander verwobenen Erzählmuster nicht einfach zu erklären.

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bisherige Forschung zum Gralsroman Lohengrin betont zwei Aspekte der Dichtung. Sie sei entweder aufgrund zahlreicher Entlehnungen aus der Sächsischen Weltchronik und der »ausgeprägten historischen Interessen und Quellenkenntnisse« sowie der »Beschlagenheit [des Verfassers] im öffentlichen Recht und im diplomatischen Geschäftsgang«11 und eines im Text sichtbaren allgemeinen »historisch politischen Interesse[s]«12 eine Dichtung mit politischer Ausrichtung, oder »eine Dichtung mit starkem Einschlag in die Utopie«.13 Bei diesem »politisch-utopische[n] Gedankenkomplex«14 handele es sich aber nicht um ein »klar umgrenztes und direkt ausgesprochenes politisches Konzept, wie man es etwa von der politischen Spruchdichtung her kennt. Die Stellungnahme des Lohengrin-Dichters vollzieht sich in Anspielung, Assoziation und Tendenz«.15 Die Deutungen der Forschung reichen von einer gezielten Umdichtung chronikal überlieferten Stoffs, die sich jedoch kaum von Inhalt und Wahrheitsanspruch der Chroniken löse, bis hin zu einer Auffassung, der Lohengrin stelle eine intendierte »Universalgeschichte [...] mit besonderem Interesse für die Geschichte des Gottesvolkes und seiner Anführer durch die Zeiten«16 dar. Hier wird bereits die zweite Haupttendenz der Lohengrin-Forschung benannt, die ebenfalls den Versuch unternimmt, den Roman in seiner Gesamtheit zu fassen. Bereits 1986 diskutierte Herbert Kolb in seinem Beitrag die heilsgeschichtliche Dimension des Lohengrin und relativierte die als Christus-Figuration17 bezeichnete Rolle Lohengrins, besonders in Bezug auf das Eingreifen der beiden Apostel Petrus und Paulus im Kampf des Gralsritters gegen die Heiden. So berechtigt diese Richtigstellung für die genannte Szene ist, so gering scheint der Einfluss dieser Korrektur auf das auch von der späteren Forschung gesehene Ge-

|| Allein eine Zuordnung zu einer der Großgattungen ›Epos‹ oder ›Versroman‹ kann von allen Forschern mit Sicherheit getroffen werden, vgl. Mike Malm, Art. »Lohengrin«, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, hrsg. von Wolfgang Achnitz, Bd. 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen, Berlin, Boston 2012, 726–731, hier: 726f. 11 Beide Zitate Cramer (wie Anm. 1), 164. 12 Ebd., 165. 13 Regina Unger, Wolfram-Rezeption und Utopie. Studien zum spätmittelalterlichen bayerischen ›Lohengrin‹-Epos, Göppingen 1990 (GAG 544), 270. 14 Ebd., 281. 15 Cramer (wie Anm. 1), 163. Vgl. dazu auch Malm (wie Anm. 10), 728: »Der Text verweist gleichzeitig auf die Tradition des höfischen Romans wie auf die deutschsprachige Chronistik.« 16 Unger (wie Anm. 13), 284. 17 Vgl. Malm (wie Anm. 10), 729, Cramer (wie Anm. 10), 497, Cramer (wie Anm. 1), 183, sowie Herbert Kolb, »Lohengrin und die römischen Apostel«, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 223 (1986), 104–113.

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samtkonzept des Romans. Die Formulierung, der Lohengrin sei ein »Herrscherroman im Gewand der Heilsgeschichte«,18 vereint beide Schwerpunktsetzungen. Eine solche Auffassung schmälert die Funktion der Heilsgeschichte im Text als ummäntelndes Beiwerk und gesteht ihr kaum eigenes Gewicht zu. Die zentrale Rolle von biblischen und legendarischen Anspielungen (»mit penetranter Eindeutigkeit«19), geschilderter religiöser Praxis und dem über Visionen hinausgehenden Eingreifen himmlischer Mächte steht dieser Entkräftung des Heilsgeschichtlichen im Lohengrin konträr entgegen. Fraglos beinhaltet der Roman beide Leitthemen: die Reichspolitik und die Heilsgeschichte. Schöpft aber diese Doppelthematik bereits das volle Spektrum an zentralen Aspekten des Romans aus? Gibt es nicht vielmehr noch funktionale Zwischenstufen und eher untergeordnete Bereiche – wie etwa den Brandanstoff –, die gleich einem Bordun die Erzählung begleiten und untermalen? Dass der Lohengrin-Roman bislang eine so eng umgrenzte und doch kaum erschöpfende Gattungszuschreibung erfahren hat, erstaunt auf den ersten Blick, v. a., da die Suche nach Gattungsinterferenzen bei der Forschung zu vielen Texten bereits die nach Quellen, Motiven oder dem Entstehungsraum ersetzt hat. Als Gralsroman, als den man den Text wohl allein deshalb schon bezeichnen darf, da Lohengrin vom Gral erwählt und ausgesendet wird, bietet das Werk Raum für Einflüsse aus und Interferenzen mit anderen Gattungen: Reiseroman, religiöser und Kreuzzugsdichtung usw. Der Lohengrin geht darüber hinaus, zunächst, indem er chronikale Texte einbettet und so eine Aktualisierung und lokale Verortung der dargestellten Handlung anstrebt sowie politisch Partei ergreift. Des Weiteren wäre sicherlich zunächst der Abgleich mit typischen Strukturen von klassischen Artusromanen lohnend und die Erörterung der Frage, inwieweit der Lohengrin eine Queste oder Suchfahrt beschreibt. Gerade die Bewegung, das Verlassen eines Raums und Überschreiten von Grenzen, bietet dem Roman die Möglichkeit, sich an weitere Gattungen anzuschließen. Visionsliteratur, Legenden, Bibeldichtungen und Kreuzzugsepik als Erzählungen einer religiösen Reise sowie jegliche sonstige Reiseliteratur – diese Gattungen scheinen im Lohengrin immer wieder durch die Erzählung der Begründung einer Herrschergenealogie hindurch:

|| 18 Malm (wie Anm. 10), 729. 19 Cramer (wie Anm. 1), 182.

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Der Schwanritter scheint für die Funktion des Verfechters und Retters dieser imperialen Ordnung ausersehen zu sein, weil sich in dieser Figur stoffgeschichtlich seit jeher übernatürlich Legendarisches mit Historie, Gottesgesandtschaft mit weltlicher Machtfunktion ver20 bindet.

Im Folgenden versuche ich in erster Linie die Möglichkeit aufzuzeigen, dass die Figur des Hl. Brandan und ihre Legende im Kontext des Lohengrin mehr ist als »intertextuelles namedropping«21 oder lediglich einer unreflektierten Übernahme aus dem Wartburgkrieg-Rätsel22 geschuldet ist. Die offensichtlichste Verbindung zwischen Brandan und der Lohengrin-Rahmenerzählung drängt sich in der Wahrhaftigkeit der Berichterstattung förmlich auf. Während der irische Abt zu Beginn der ›Reisefassung‹ textintern an der Wahrheit des Gelesenen zweifelt, das Buch über erstaunliche Wunder Gottes verbrennt und somit die Reise und der Bericht darüber und über den von Brandan in einem neuen Buch festgehaltenen Ersatz erst seine Berechtigung erfährt, wird die Glaubwürdigkeit des Unglaubwürdigen im Lohengrin in den Rahmen verlegt, in den Dichterstreit zwischen Clingsor und Wolfram: »Brandan ez schreip, der was niht meisterkünste blôz. / Clingesor, ich kan die rehten wârheit singen« (V. 319f.). Dieser Verweis findet sich bereits in einem Teil des Lohengrin, der nicht mehr auf den überlieferten Wartburgkrieg

|| 20 Thomas Cramer, Art. »Lohengrin«, 2VL, Bd. 5, 899–904, hier: 902. Zur Genealogie, die durch Lohengrin begründet wird, vgl. allgemein Beate Kellner, »Schwanenkinder – Schwanritter – Lohengrin. Wege mythischer Erzählungen«, in: Udo Friedrich, Bruno Quast (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004 (TMP 2), 131–154, und Peter Strohschneider, »Ur-Sprünge. Körper, Gewalt und Schrift im Schwanritter Konrads von Würzburg«, in: Horst Wenzel (Hrsg.), Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997, 127–153. 21 Sonja Kerth, Gattungsinterferenzen in der späten Heldendichtung, Wiesbaden 2008 (Imagines medii aevi 21), 42. 22 Vgl. dazu Cramer (wie Anm. 1), 184: »Der Lohengrin-Dichter greift sich als Prolog und Exposition jenen Teil des Wartburgkrieges heraus, der eben das Problem, den Widerstreit zwischen mystisch-sinnbildendem und wissenschaftlich-rationalem Denken erörtert. Clingsor, der meisterpfaffe und sein Teufel Nazarus werden von Wolfram besiegt, obwohl oder gerade weil er ihnen an rationalem Wissen unterlegen ist; gegen die Wissenschaft wird die Weisheit ausgespielt: [...] Das quater-Rätsel, das als Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch dem Rationalisten muß rîzen ûf des hirnes zil (v. 89), macht dem bildhaften Denken Wolframs keine Schwierigkeiten. Wolfram, der Sieger, dem die Lohengrin-Erzählung in den Mund gelegt wird, steht damit vor der Dichtung als Exponent einer Denkhaltung, die als vorbildlich angesehen wird. Im verwendeten Teil des Rätselspiels fand der Lohengrin-Dichter eine programmatische Einleitung.« Zum Rätsel im Wartburgkrieg vgl. Tomas Tomasek, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1997, 220–250.

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zurückgeht, an einer Stelle, die den Übergang zwischen Rahmen und Kernerzählung bildet und die auch neue Strophen birgt.23 Für die Figur des Hl. Brandan ist diese Schwelle zwischen Str. 25–31 (»nur die Strophen 25, 27, 28, 30 [sind] auch in den Wartburgkrieg-Hss. C und J überliefert«24) im Lohengrin eine Eingangsmöglichkeit. Von den insgesamt fünf namentlichen Nennungen Brandans (in den Str. 10, 12, 13, 27 und 32) bleibt die letzte ohne Vorlage im Wartburgkrieg. Sie verbindet die Figur, die im Prolog genannt wird, mit dem Haupttext. Gerade aber für die Schwellenstrophen, wo sich der Lohengrin allmählich von seiner Vorlage löst und mit dem Schwanenritterstoff einsetzt, wird der Hl. Brandan zentral. So erzählt der mit Wolfram konkurrierende Sänger Clingsor, dass er von der Gralsangehörigen Felicîâ den Namen eines Abtes erfahren habe, der, wenn er ihn verriete, »iu allen wol bekant« (V. 245) sei. »Der [...] mit sîner hant vil gar die spaehe [schreip]« (V. 246), habe ihm über die näheren Lebensumstände Artus’ im Gebirge berichtet. Die Helden, welche ihn aus Britannien an diesen weltfernen Ort begleitet haben, »sint dekeinem vilân sagebaere« (V. 250). Artus’ Hundertschaft an Helden gleicht in ihrer Unsagbarkeit und Unermesslichkeit den Wundern Brandans und dem Bericht darüber. Wolfram klärt nun die Rezipienten, die mit Clingsors Nennung des namenlosen Abtes bislang nichts verbinden konnten, über dessen Identität auf: »daz hât mir sande Brandân wol bediutet« (V. 263). Die beiden Sänger haben also dieselbe Quelle, nur hat Wolfram mehr von dem Abt erfahren und erweist sich daher als vertrauenswürdigere Instanz für die nachfolgende Geschichte. In Str. 32 wendet sich der Lohengrin endgültig von seiner WartburgkriegQuelle ab und dem Schwanenritter zu. An dieser Scharnierstelle wird der Hl. Brandan, wie bereits erwähnt, noch einmal zur Bekräftigung und Wahrheitsbeteuerung des Gesagten verwendet (V. 319f.). Die Authentifizierung bezieht sich an dieser Stelle zunächst auf das Gerufenwerden des Artusritters von einem durchdringenden Glockenklang, der von Brabant bis in die Gralswelt schallt und die Sendung des Ritters veranlasst. Glocke und Sendung sind zudem Kernthemen der Strophen, welche in den langsam ausklingenden Vorspann eingefügt wurden und beide Teile des Lohengrin-Textes verbinden. Beide Themen lassen sich als Seiten derselben Medaille sehen, denn Ruf und Berufung werden mit der der Glocke immer lauter. Die Glocke überbringt in Str. 26 eine Botschaft und ruft um Hilfe, erzeugt jedoch einen höfischen Missklang und trübt die Freude am Gralshof (V. 260: »an vreuden laere«), da »diu selbe glocke in allen durch ir ôren hal« (V. 259). In der nächsten vorlagenlosen Strophe (Str. 29) fordert ein thüringischer || 23 Vgl. hierzu Cramer (wie Anm. 1), 34. 24 Ebd., 34.

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Fürst dazu auf, ihm und seiner Hofgesellschaft »mit singen tuon bekant, / wie Lohengrîn von Artûs wart ûz gesant« (V. 284f.). Nachdem Clingsor zugunsten Wolframs zurückgetreten ist, setzt wieder die »schellen« (V. 303) der Elsa von Brabant ein, welche diese zur Ehre Gottes besitzt: »swenn der ougen saf von irem herzen gienc, / dô liute sie die schellen, diu vil staete« (V. 305f.). Mehrfach klingt im Folgenden dieses Leitmotiv an, denn sowohl in Str. 31 als auch in Str. 32 werden die Glocke selbst und ihre Wirkung repetiert. Die Gralsgesellschaft wird vom Klang »betoubet« (V. 307) und Lohengrin zur Hilfe für Elsa ausgesandt. In der Strophe 32, die nicht im Wartburgkrieg enthalten ist, wird die Wirksamkeit der »vil kleinen schellen« (V. 313) eng an die Wunder Gottes geknüpft. Ausgehend von dem kleinen Glöckchen habe Gott große Wunder geschaffen, die – so muss dieser Vers gedeutet werden – im Folgenden erzählt werden. Dreimal wird in dieser Strophe Gott genannt, als Erlöser, Schöpfer von und Herrscher über Wunder (V. 311f.: »Got loeset reht wol swie er wil, / dekeiner helfe sînen tugenden ist ze vil«; V. 313: »waz wunders schuof er der vil kleinen schellen«; V. 317: »Der aller wunder hât gewalt, der schuof ir kleinez klingen«). Durch die Beschreibung, Elsa trage sie an ihrem »paternoster« (V. 315), wird die Glocke noch enger an Gott gebunden. Dort nimmt sie wohl den Platz des Kreuzes ein und übernimmt somit auch unmittelbar die Erlösungsfunktion. Noch einmal wird der Begriff des Wunders bemüht, als es um reale und funktionale Größe geht: »Der aller wunder hât gewalt, der schuof ir kleinez klingen, / daz über tûsent rast erdôz« (V. 317f.). Die Dreizahl der Göttlichkeit und der Wunderbarkeit (zweimal wird ›Wunder‹ genannt, einmal die als zugehörig zu verstehende ›Wahrheit‹) bilden in ihrem Brückenschlag zwischen der Glocke und der Gralsgesellschaft eine Art musikalischer Schlusskadenz dieser Übergangspassagen und geben dadurch eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Gral und Christentum oder Kirche. Zudem bildet die Brandangeschichte hier geradezu einen Spiegel. Wunder, Wahrheit und von Gott gesandte Helfer in der Not – so lassen sich Lohengrin und Brandan nebeneinanderstellen.

1 Fragen, Zweifel und die Wahrheit Zwischen beide ›Leitmotiv‹-Strophen ist eine interessante Aufforderung an die Zuhörer eingeschaltet: »der ez niht weiz, dem sî noch vrâge erloubet« (V. 310). Fragegebot und -verbot durchziehen nicht nur den Parzival, den Artusroman über Lohengrins Vater, sondern auch den Lohengrin selbst und Brandans Meerfahrt. Während Parzival, dem Rat seiner Mutter folgend, keine neugierigen und aufdringlichen Fragen stellen soll, wird gerade die Frage aus Mitleid von der

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Gralsgemeinschaft gefordert, damit er sich als würdiger Nachfolger erweist. Das entsprechende christliche Gebot der compassio ist hier sicherlich mitgedacht. Im Lohengrin dagegen muss die Ehefrau wie in Erzählungen von der gestörten Mahrtenehe geloben, niemals nach der Herkunft ihres Mannes zu fragen. In der Einleitung aber sind Fragen noch gestattet – zumindest diejenigen der Rezipienten. Neugierde, Fragwürdigkeit und Glaubhaftigkeit bzw. Vertrauen sind Leitmotive, die sich nicht nur durch die gesamte Artusepik hindurchziehen, sondern beispielsweise auch für Brandan eine zentrale Rolle spielen. Der heilige Abt verbrennt zu Beginn der Legende das Buch, weil er die Wunder darin nicht glauben kann, weil er sie anzweifelt, »wan ez ungeloublich was« (V. 39): er enwolde noch enmachte des icht geloubic wesen, wie er ez hette gelesen, er ensehez mit den ougen sin. (V. 44–47) Er konnte und wollte das nicht glauben, was er gelesen hatte, bevor er es nicht mit seinen eigenen Augen sähe.

Dort, wo das Wissen aufhört, sollte eigentlich25 der Glaube anfangen.26 Doch anstatt einfach an die Wunder Gottes zu glauben, hinterfragt er sie und versucht sie zu begreifen. Im Fall Brandans wird in der Sekundärliteratur häufig von curiositas27 gesprochen, die sich als eigentliches Motiv hinter Unglauben, Zornausbruch und Buchverbrennung verberge und bereits damit beginne, dass Brandan aktiv nach Wundern »in selzenen buchen« (V. 22) suche: den buchen er ie da nachgie, biz daz er selzen dinc ervant unde vil manige wilde lant« (V. 26–28). Er forschte in den Büchern nach, bis er seltsame Dinge und viele unbekannte Länder aufspürte.

|| 25 »Ubi defecerit ratio, ibi est fidei aedificatio«; Augustinus, 247. Predigt In diebus Paschalibus Nr. XVIII, in: PL 38, 1156–58, hier: 1157. 26 So spricht einer der neutralen Engel zum reisenden Abt: »Brandan, wan du das weist / und des wilt nicht gelouben han, / des saltu grozen schaden entpfan / um daz buch, da die warheit an was / geschriben. leit ist dir worden daz« (V. 1314–18). 27 Vgl. Jan-Dirk Müller, »Curiositas und erfarung der Welt im frühen Prosaroman«, in: Ludger Grenzmann, Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), 252–271.

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In der ›Reisefassung‹ wird Brandan von einem neutralen Engel28 mit dem ungläubigen Thomas verglichen (V. 1313–1410). Während dem Apostel zwar gestattet wurde, das von ihm Bezweifelte wortwörtlich zu be-greifen und damit den Zweifel als stärkste Form des Infragestellens zu beseitigen, wird doch in diesem Vergleich der Glaube, der ohne das Materielle auskommt und der nicht zweifelt, als Optimum vor Augen gestellt. Trotzdem kann sich der Rezipient, der möglicherweise selbst in seinem Glauben schwankt, in bester Gesellschaft wissen. Selbst ein Jünger Jesu und ein heiliger Abt haben schon vor ihm die Wahrheit in Frage gestellt und fanden dafür trotzdem Verständnis und Vergebung – natürlich nach einer angemessenen Buße. Gott prüft Brandan hart, »daz erz geloubete deste baz, / daz daz buch die warheit saite« (V. 210f.). Obwohl der Erzähler den Rezipienten des Lohengrin zugesteht, Zweifel zu erheben und Fragen zu stellen, scheut er den Vergleich mit dem ungläubigen Thomas. Beide Texte referieren Neugierde, Fragekonventionen und Wissensdiskurse ihrer Gattungen und lassen sich doch gerade im Punkt der Glaubwürdigkeit vergleichen. Der Lohengrin duldet auf der Metaebene Fragen aus Unkenntnis,29 will sich aber in Verbindlichkeit und Wahrheitsanspruch glaubwürdig verstanden wissen. Als Referenz wird hier der Hl. Brandan gewählt, nicht etwa der Apostel Thomas, der für den Unglauben das naheliegende Beispiel gewesen wäre. Sicherlich ist der Abt keine zufällige Wahl für einen Vergleich, denn er bietet als gebildeter und doch zweifelnder Mensch ein hohes Identifikationspotential, das möglicherweise größer ist als das des Apostels an der vielleicht kritischsten Stelle der Heilsgeschichte. Gerade die Unglaubwürdigkeit der geschriebenen Geschichte verbindet diese beiden Figuren und bewirkt damit eine Authentifizierung der Lohengrin-Erzählung. Zudem beruft sich der Lohengrin-Erzähler mehrfach auf den Hl. Brandan als Autorität (z. B. V. 263: »daz hât mir sande Brandân wol bediutet«; vgl. auch V. 253–246 und 319). Er beglaubigt damit seinen Text und reinigt ihn an dieser Stelle vom Verdacht der Fiktion. Hier geht der Erzähler einen Umweg, er wählt nicht einen offensichtlichen Vergleich zwischen dem ungläubigen

|| 28 Bemerkenswert ist der Vergleich des Aggressors im Lohengrin mit dem übermütigen Luzifer und seinem Sturz. Die Herzogin wirft Friedrich von Telramunt ein ähnliches Vergehen vor, nämlich die Auflehnung gegenüber seinem Herrn. Lohengrin wird also gesandt, um Elsa vor diesem gefallenen Engel, also dem Teufel, zu beschützen und ihren Kampf gegen ihn stellvertretend zu führen. Auch Brandan kämpft während seiner Meerfahrt mehrmals gegen die Teufel. 29 So auch später noch, wenn er als nachprüfbare Quellen auf weitere Schriftstücke verweist: »swer sîn niht weiz, der suoche ez an den schriften« (V. 1980).

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Thomas bzw. der Auferstehung Christi und der Geschichte Lohengrins – ein Beispiel dafür, dass die Behauptung von »unübersehbaren Christus-Analogien«30 vorsichtig gebraucht werden sollte. Während der letzte Vers von Str. 31 im Lohengrin geradezu zu Fragen auffordert, zeigt der Schluss der darauffolgenden Strophe, dass ihr Spielraum begrenzt ist und der Wahrheitsgehalt nicht hinterfragt werden darf. Wahrheit muss hier in Korrelation mit biblischem Wahrheitsanspruch gesehen werden.31 Diese Perspektive zeigt sich v. a. durch die Referenz auf den irischen Abt: »Brandân ez schreip, der was niht meisterkünste blôz. / Clingesor, ich kan die rehten wârheit singen« (V. 319f.).32 Dabei ist der Weg des Buches im Lohengrin akribisch nachgezeichnet: Von der Zunge des Lukasochsen gelangt es in die Hände des Abtes (V. 93–95). Dieser gibt es an Uranias weiter, der es nach Schottland bringt (V. 117–119). In der Folge muss es in Wolframs Besitz gelangt sein, da er sich auf dieses Buch beruft (V. 119: »ich vreut mich, daz ich die hôhen wirde vant«; V. 263: »daz hât mir sande Brandân wol bediutet«). Schließlich wird der eigentliche Ursprung des Buches nachgeliefert, nämlich dass es Brandan von einem Engel erhalten habe (V. 124). Wolfram bzw. der Erzähler kann sich also auf eine Quelle berufen, die höchste Autorität beansprucht.33 Brandans Reiseniederschrift ersetzt in der ›Reisefassung‹ ein Buch, das von einem Teil der Wunder Gottes34 berichtet, dessen Verlust von Gott bestraft wird. Der Ersatz ist göttlich angeregt und auf der Fahrt wie im Entstehungsprozess begleitet. Der Auftrag an Brandan ist wiederum eine göttliche Mission und legitimiert daher den neu entstandenen Text, der ohne göttlichen und englischen Schutz und Auftrag nicht zustande gekommen wäre. Sowohl das Buch als auch die Wahl der Worte unterstehen einem himmlischen Einfluss und müssen daher geglaubt werden. Die Konzeption der Rahmenhandlung des Berichts über die Meerfahrt Brandans soll ja gerade einen erneuten Zweifel an den im Buch berichteten Wundern verunmöglichen. Die ›rechte Wahrheit‹, also »Geltungs- und Wahrheitsanspruch«35 des Lohengrin, werden in engsten

|| 30 Cramer (wie Anm. 1), 182. 31 Vgl. dazu die Anmerkung von Hahn/Fasbender (wie Anm. 4) zur Wahrheit im Brandan: »Mhd. wârheit kann entsprechend der veritas der kirchlichen Autoren auch die Wahrheit der Hl. Schrift, Gottes Wort, heilsgeschichtlich Relevantes bedeuten« (142, Komm. zu V. 1317). 32 Auch später weist der Erzähler noch einmal darauf hin: »Nû hoert, lât iu die wârheit sagen« (V. 401). 33 Vgl. Hahn (wie Anm. 6), 122f. 34 Vgl. dazu Lohengrin, V. 124–130. 35 Jan-Dirk Müller, »Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur«, in: ders., Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin, New York 2010, 83–110, hier: 86.

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Zusammenhang mit Brandan, seiner Mission und seiner göttlichen Inspiration gestellt und dürfen daher unter keinen Umständen angezweifelt werden.36 Beide Rahmungen der Texte schaffen Faktualität und religiöse Relevanz und unterstellen ihre Erzählungen einer bekannten Ordnung.37 Gralsroman und Legende unterscheiden sich demnach nicht in ihrer Verbindlichkeit. Wie der Erzähler des Lohengrin sich in seiner Kunstfertigkeit und Glaubhaftigkeit auf eine Stufe mit Brandan stellt, dem Sprachrohr Gottes, das zum göttlichen Auftrag auch eigene Erfahrung vorweisen kann, so rückt die Artusgesellschaft dadurch dem Christentum, den Heiligenlegenden und der Heilsgeschichte nahe.

2 Die akustische Botschaft: ein göttliches Druckmittel Die Erzählung setzt in Str. 33 nun noch einmal neu an und berichtet über die Bedrängnis der Herzogin. Hier, in Str. 37, wird auch die Herkunft des Glöckchens erklärt: Ein Falke, der im Kampf gegen einen Kranich unterlegen war, kommt mit einer lahmen Klaue zur Herzogin. Diese löst eine goldene Glocke von ihm.38 Die Unterlegenheit des edlen Jagdtiers und seine Verwundung lassen bewusst Raum für Deutungen. Einerseits zeigen sie die Situation der bedrängten Herrscherin, andererseits verweisen sie auf den nahenden Geliebten und möglicherweise auch bereits auf seine Gefährdung. Geht man beim verletzten Falken von einem Zeichen der Bedrohung aus, welches die Situation der Herzogin wiedergibt und gleichzeitig tröstend beantwortet, so bringt in einem Zirkelschluss die Herzogin ihre Trauer über ihre Lage und den Vogel – der zugleich Zeichen wie Vorzeichen zu sein scheint – zum Ausdruck. Sie bricht in Tränen aus, rauft sich die Haare und ruft Gott an. Der Klang der Glocke, die kein exklusives Motiv für Artus- und Gralsromane ist, sondern stattdessen quer durch alle Gattungen schlägt, steht in keinem Verhältnis zu Klang und Wirkung. Das Gefolge von Artus »wart betoubet« (V. 307), es geht also ein ohrenbetäubender Klang von dem kleinen Glöckchen

|| 36 So kommentiert der Erzähler auch die Reisedauer des Schwans: »In der wochen quam er dar, daz habt niht vür ein wunder / wan ez gotes wille was« (V. 707f.). 37 Vgl. dazu Müller (wie Anm. 27), 83–110. 38 Cramer (wie Anm. 1), 181, schreibt dazu: »Die Schelle am Fuß des Falken, die über seinen Verbleib Auskunft gibt, steht symbolisch für die Fama; vom Fuße des Falken gelöst und am Paternoster getragen wird sie zum Ruf Gottes, der den Gral erreicht. Der Falke im Kampf mit dem Reiher ist Emblem für die Ungewißheit des Schlachtenglücks«.

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aus: Der Kaplan der Herzogin hört »wie der glocken klanc / in doners wîse breche durch der wolken grüfte« (V. 372f.); »von irem dône teilten sich die lüfte« (V. 376). Der Artusgesellschaft wird dadurch klar, dass sie eingreifen muss »oder von der glocken in der sorge leben« (V. 379). Unter dem Dauerton der Glocke ist dem Hof »vreude tiure« (V. 406). Der Klang bereitet allen ›Kopfzerbrechen‹: »daz von dem dôn sich heten hirn entrennet« (V. 7156), sodass »der dôn daz houbet in allen braeche« (V. 7166). Artus ordnet daraufhin eine Prozession mit zwanzig Priestern an, denn er geht davon aus, dass der Hof Gottes Zorn auf sich gezogen hat, doch »ez half niht, daz diu glocke niht geswîgen müge. / diz hôrt man klagen die alden und die iungen« (V. 419f.). Da der Bußgang der Männer ohne Erfolg bleibt, ergreift die Königin mit ihren Damen nun stärkere Mittel und befiehlt einen barfüßigen Kirchgang in härenen Hemden und Ruten zur eigenen Züchtigung. Besonders hart wirkt diese Bußübung, da sie von den Damen des Hofes ausgeführt wird: »man sach dâ liehtiu ougen mit den münden klagen. / in tet ein glocke maniger hande swaere« (V. 445f.). Die Ohnmacht des Artushofes gegenüber der Herzogin von Brabant und ihrer Glocke wird offensichtlich, da auch dieser Vorgang keine Früchte trägt – im Gegenteil: Die Gemeinschaft der Tafelrunde ist vollkommen wehrlos und wird von dem Falkenglöckchen beherrscht (V. 447–450). Keie kämpft sich schließlich bis zur Königin durch und rät ihr – die Glocke übertönend – zu einer anderen Opferungszeremonie. Die Töchter Parzivals, Lanzelets und Gaweins sollen edel gewandet39 werden und Falken tragen. Ohne dass Keie und die Gralsgesellschaft von dem Falken als Überbringer der Lärm verursachenden Glocke wissen, nähern sie sich mit dem Vorschlag, Falken steigen zu lassen, phänomenologisch daran an. In Str. 50 wird erneut die Glocke als Werk oder besser Wunder Gottes aufgezeigt, von dem der Tafelrunde Lob und Ehre erwächst.

|| 39 Über den Stoff der Gewänder hat sich die Forschung seit jeher den Kopf zerbrochen und ist doch bislang zu keiner Lösung gelangt. Vgl. z. B. Unger (wie Anm. 13), 107f., Anm. 1. – Keie rät der Königin: »vrouwe, lâts kleiden in den Vlesîant, / Den Iûdas ûz dem Pelibronne brâhte« (V. 465f.). Klar scheint zu sein, dass es sich bei dem Vlesîant um eine Art Stoff handeln muss und bei Pelibronne möglicherweise um einen Ort. Vorausgesetzt, man bleibt bei der naheliegenden Identifikation des Judas mit dem Verräter Jesu, so wäre es unter Umständen lohnend, der Legendentradition des Judas weiter nachzugehen. Die Brandantexte berichten von einem kleinen Tüchlein, das Judas auf seinem Stein, auf dem ihn Hitze und Kälte plagen, nutzen darf. Dieses Tuch, so erklärt er es dem Hl. Brandan, habe er einst Jesus gestohlen, es dann aber aus Reue einem Armen geschenkt. Die dankbaren Gebete hätten bewirkt, dass Gott ihm diesen Diebstahl verziehen habe (vgl. V. 1003–15). Vgl. zum Tüchlein des Judas auch Wilhelm Creizenach, Judas Ischarioth in Legende und Sage des Mittelalters, Halle a. d. S. 1875, 29.

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Gleichzeitig erzwingt sie von Artus auch die Aussendung eines Ritters. Die Töchter entlassen die wilden Falken in die Freiheit gleich einer Opfergabe (V. 497– 500), mit dem Ziel, ihnen »vreude« (V. 499) zu geben. Gerade an der höfischen Freude mangelt es derzeit der Tafelrunde, und in der Opferung der edlen höfischen Tiere – wenngleich es auch keine geschulten Jagdfalken sind – kommt deutlich zum Ausdruck, welch große Opfer man für diese Freude zu bringen bereit ist. Der Falke als Symbol für den Geliebten spielt wohl auch hier, bei dieser Opferung, eine Rolle, denn Lohengrin wird Elsas Geliebter und Mann werden, so wie ihr Falke in einer Art Vorausdeutung zu ihr kam. Der Zusammenhang der Falken, der wilden Opfertiere des Grals, und des Glockenträgers zeigt eine vierte Bedeutungsebene der ersten Falkenszene auf: Elsas Falke mit seiner Schelle kann nur als von Gott gesandt erklärt werden – und doch verlangt er in einer Art Ausgleichsmechanismus nach den Gralsfalken.40 Der eine Falke trübt die Freude, die wilden Falken sollen sie wieder herstellen, indem sie Gott besänftigen und das tinnitusartige Dauerläuten beenden.

3 Transzendente Medialität: Ton und Schrift Der unablässig erklingende Ton trübt einerseits die höfische Freude, andererseits wird er sofort richtig gedeutet als »botschaft« (V. 253) Gottes. Da jedoch diese Nachricht nicht sofort entschlüsselt wird, zeigt sich auf dem Gral eine Schrift. Wie bereits erwähnt, spielte schon im Prolog des Lohengrin Schrift eine zentrale Rolle, denn der Erzähler berief sich mehrfach auf Vorlagen (z. B. V. 355: »uns seit diu schrift«), die zum Teil auch mit dem Buch des Hl. Brandan in Verbindung gebracht werden. Ton und »[d]es grâles schrift« (V. 501) können scheinbar nicht getrennt verstanden werden, die Glocke unterstützt beide: »Dâ von Artûs und alle die sînen hôrten vremde maere« (V. 377). Doch nicht jeder kann dieses synästhetische Phänomen deuten. Der Erzähler spricht demjenigen ein Lob aus, der dies vermag: »der ez reht weiz, der ist niht künste laere« (V. 380). Schrift und Klang bedürfen also der Kunst des Deutens. Elyze, Tochter Parzivals und Schwester Lohengrins, scheint hier als einzige mit Deutungskompetenz ausgestattet.41 Als sich

|| 40 Dazu Cramer (wie Anm. 1): »Ich sehe keinen inneren Zusammenhang dieser Szenen, gewiß aber haben sie als Embleme ihre Bedeutung und Funktion an der jeweiligen Stelle« (181). Ob alle Jagdszenen miteinander zusammenhängen, sei an dieser Stelle dahingestellt. Zumindest jedoch für die Falken ist eine Verbindung möglich. 41 Vgl. Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, 330.

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die bekanntesten Gralsritter um den Rettungsauftrag streiten, erklärt sie zur Bestimmung des Auserwählten zunächst eine konsensuelle Regelung, die der Gral mitteilt: »vürwâr uns hât des grâles schrift alhie geseit, / in sul der künic und al die vürsten kiesen« (V. 569f.). Alles spricht zunächst gegen Lohengrin, der für den Kampf als zu jung und unerfahren eingeführt wird – »sô touc er doch vor kintheit zuo dem kampfe niht« (V. 552), denn »er was noch âne bart« (V. 595).42 Zu der angekündigten Wahl kommt es jedoch nicht, denn Lohengrins Schwester erkennt in ihrem Bruder den Auserwählten (V. 584–590). Sie bricht in Tränen aus, welche die akustisch erduldeten Schmerzen der Gralsgesellschaft noch verstärken,43 und verkündet dann: »dû bist der kempfe und sagt der grâl diu maere« (V. 590).44 Damit hat sie nicht nur selbst den angekündigten Mehrheitsbeschluss hinfällig gemacht, sondern sie fungiert gleichzeitig als Sprachrohr des Grals. Die Schrift, die auf dem Gral erscheint, muss laut vorgelesen und gedeutet werden, wobei sie sich offenbar selbst ihr Medium wählt. Der Lohengrin kommt in der Vermittlung eines Gottesauftrages folglich vollständig ohne direkte Engelsbegegnungen oder himmlische Stimmen aus, und doch braucht er den Ton zur Schrift. Sowohl Klang als auch Schrift sind im Lohengrin von Gott gesandt,45 kommen also aus einem transzendenten Raum und müssen sich eines Menschen bedienen, um verstanden zu werden. Bei der Legende eines Heiligen wie Brandan darf dagegen Gott selbst zu Wort kommen.

|| 42 Im Parzival Wolframs von Eschenbach werden mehrfach Jungen und v. a. Parzival selbst, der Vater Lohengrins, als bartlos und damit zu jung zum Kampf gezeichnet: Vgl. 63, 28; 174, 23; 211, 16; 227, 28; 286, 23; 307, 7; 395; 18; 446, 30; 497, 30. Benutzte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 22003. 43 »Dô in sîn swester ane sach, / daz wazzer von ir herzen zuo ir ougen brach. / hoert, ob diu magt iht iaemerlîchen weine« (V. 584–586). V. a. das »hoert« (V. 586) richtet sich nicht nur textimmanent an die Gralsgesellschaft, sondern es wird auch dem Rezipienten hörbar ›vor Ohren‹ geführt. Dazu muss er sich das immer noch andauernde Läuten der Glocke denken. Hier u. ö im Lohengrin werden Tränen als unmittelbar vom Herzen fließend beschrieben. Die Schwester ist damit noch stärker emotionalisiert, sie dient als Gefäß und Sprachrohr des Grals und Gottes. 44 Wenn man nicht der Handschrift M folgt, die hier »und« statt »uns« setzt, dann muss Lohengrin zugleich als Kämpfer und erlösende Botschaft (»diu maere«) gesehen werden. Person und Nachricht fallen dann in eins. – Interessant im Vergleich ist auch, dass Brandan seine Botschaft von Gott als »starke mere« (V. 74) wahrnimmt. 45 Susanne Köbele, »Die Illusion der ›einfachen Form‹. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende«, PBB 134 (2012), 365–404, hier: 389, spricht in Bezug auf den Sylvester Konrads von Würzburg von »tonlose[r] Rede und unsichtbare[r] Schrift«, die als »maximale[] Transzendierung des Medialen« begriffen werden können.

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Noch während in der ›Reisefassung‹ der irische Abt den Dichter verflucht und das Buch verbrennt, spricht Gottes Stimme zu ihm. Obwohl Gott erzürnt ist, spricht er Brandan dennoch mit »lieber vrunt Brandan« (V. 55) an. Der Heilige hört also seinen Auftrag, den ihm »der heilige Crist« (V. 62) erteilt, aber er sieht dabei nichts. Gerade im Sehen, Glauben und Festhalten besteht die Aufgabe, das Buch durch eigenes Erfahren der Wunder neu entstehen zu lassen und somit auch für andere wieder lesbar zu machen. Hier handelt es sich um ein Gebot, eine Bestrafung, der sich der Abt nicht widersetzen kann. Den Heiligen befällt aufgrund der »starke[n] mere [...], / die im got selbe sagete« (V. 74f.) Angst. Er ist gezwungen, den Willen Gottes zu erfüllen (V. 83). Nach seiner Rückkehr spricht »die gotes stimme« (V. 1903) wieder zu Brandan und teilt ihm mit, dass er das Gebot erfüllt habe. Auch im Lohengrin bleibt der Gralsgesellschaft keine andere Wahl. Die Glocke zwingt sie dazu, jedes Gebot Gottes zu erfüllen. Auch die Koppelung von Schrift und Ton ist hier vorhanden. Während Brandan als Strafe für die Vernichtung von Schrift Gottes Stimme hört und dann die Schrift wieder ersetzen soll, verdeutlicht im Lohengrin die Schrift auf dem Gral46 – ausgesprochen von der Tochter Parzivals –, was die Glocke schon lange verkündet. Auch auf einer anderen Ebene, nämlich in der Rahmenerzählung, ist der Lohengrin eng an Schrift gebunden. Da sich der Erzähler immer wieder auf seine schriftlichen Quellen, allen voran auf den Hl. Brandan, beruft, darf der Glaube an Schrift und ihre Verbindlichkeit ohne weiteres mit biblischer Quellentreue gleichgesetzt werden. Auch Lohengrin kehrt am Ende seiner Geschichte, als er seine Frau über seine Herkunft aufklärt, noch einmal zu Schrift, Schall und Gottesgebot zurück (V. 7154–60). Ein Ton sei ins Gebirge und die Gralsburg gekommen, doch davon allein hätte noch niemand gewusst, was zu tun sei. Doch »des grâles schrift diu half uns ûz der swaere« (V. 7160). Wieder verweist Lohengrin auf seine Schwester, welche die Schrift lesen und deuten kann (V. 7161–69). Der Gralsritter bedarf wie der Heilige der Anleitung durch Gott, auch wenn der Heilige mit dem Privileg oder der Gnade ausgestattet ist, persönlich mit ihm zu sprechen und auch mit ihm zu verhandeln. Doch zu Beginn der Erzählungen sind beide Helden dem Willen Gottes vollkommen ausgeliefert.

|| 46 Die Schrift auf dem Gral wird zum Auslöser für die Sendung eines Kämpfers bzw. eines Schwertes, das wiederum die Schrift als wahr beweist und bekräftigt: »dar zuo gap uns ein swert die schrift ze stiure« (V. 403).

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4 Krise, Auszug oder Sendung Im ›klassischen‹ Artusroman begibt sich der Held aus freien Stücken auf den [...] Doppelweg durch die Abenteuerwelt, dessen erster Durchgang mit dem Erwerb von Ehre und Liebe in einer Krise endet, die zum Ausgangspunkt des zweiten Durchgangs wird, in dem eben die Fehler korrigiert werden, die beim ersten Mal zum Scheitern geführt hatten. Dieses Modell ist eine eigenständige Weiterbildung eines universalen Konzepts, das als 47 gängiges Erzählmodell zu gelten hat: Gewinn – Verlust – Wiedergewinn.

Ob es sich im Lohengrin wirklich um einen arthurischen Doppelweg handelt, soll hier nicht im Fokus stehen. Vielmehr interessiert der Auslöser für den Auszug des Ritters aus der gewohnten Welt, der Weg, der zwei eigentlich getrennte Welten überbrückt, und der nicht ignorierbare Befehl, der einem Zwang gleichkommt. Lohengrin stellt sich bei seinem Abschied unter den Schutz Gottes, und er strebt »nâch rîchem solde« (V. 617) – soweit stimmt die Erzählung mit der klassischen Struktur überein. Er gewinnt in Brabant nicht nur Ehre im Kampf, sondern auch in Elsa eine Frau und begründet mit ihr eine neue Genealogie. Doch was bewirkt, dass Lohengrin überhaupt auszieht? Ist es wirklich ein Auszug, also eine freiwillige Fahrt oder eher eine erzwungene Mission? Bereits durch den nicht endenden Glockenton entsteht für die Gralsgesellschaft eine Krisensituation, in der gehandelt werden muss. Aus der allgemeinen wird schnell eine ›Krise des Individuums‹,48 denn ein einzelner Kämpfer muss gefunden werden, der die Freude am Hof wiederherstellt. Nicht die Ehre des Hofes oder eines Ritters wurde durch Schmähung oder Herausforderung verletzt, sondern die höfische Freude ist direkt beeinträchtigt, und das durch eine nicht sichtbare und zunächst nicht deutbare akustische Irritation. Erst durch die Schrift wird ein typisches Strukturelement der Gattung Artus- oder Gralsroman aufgerufen: Der Held muss vom Hof ausziehen, sich auf Aventürefahrt begeben und damit zumeist auch topografisch die Grenzen zu einer unbekannten Welt überschreiten. Dieses Überschreiten von Raumgrenzen ist zugleich auch ein Kernelement von Reiseliteratur und von einigen Legenden. Dem auserwählten Gralsritter Lohengrin wird zur Beilegung der Krise die Erlösungshoffnung des gesamten Hofes aufgebürdet. Die Wahl durch die Gemein-

|| 47 Mertens (wie Anm. 5), 35. 48 Vgl. Justin Vollmann, »Krise des Individuums – Krise der Gesellschaft. Artusroman und Artushof in der Krone Heinrichs von dem Türlin«, in: Matthias Däumer u. a. (Hrsg.), Artushof und Artusliteratur, Berlin, New York 2010 (SIA 7), 237–251.

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schaft wird vorzeitig ersetzt durch die Erwählung durch Gott. Lohengrin ist zunächst nicht Retter der höfischen Ehre, sondern Knecht Gottes, der in seinem Auftrag der bedrohten Herzogin beistehen muss und damit nicht nur ihre Ehre und Herrschaft rettet, sondern zugleich den Gralshof. Weder Artus noch Parzival sind seine Gebieter, sondern Gott. Lohengrin trägt die für einen Ritter typischen Bezeichnungen wie »recke[]« (V. 3797), »wîgant« (V. 4705) und am häufigsten »degen« (V. 2014 u. ö.). Der Hl. Brandan wird übrigens ebenfalls häufig wie ein Ritter benannt, z. B. als »gotes wigant« (V. 1664) oder »gotes degen« (V. 344, 1885 und 1916). Sowohl Heilige wie Ritter sind zur Hilfeleistung verpflichtet und können als Streiter für Gott eingesetzt werden. Die Mitteilung bekommt Lohengrin aus dem engsten Verwandtenkreis, von seiner Schwester. Als er aufbricht, löst er nicht nur eine allgemeine Klage des Hofes aus (V. 402: »wie der künic Artûs und die sînen klagen«), sondern seine Erwähltheit versetzt v. a. seine Familie in Trauer: Die Schwester bricht in Tränen aus und befürchtet, ihren Bruder das letzte Mal lebend zu sehen, die Mutter fällt in Ohnmacht (V. 619, möglicherweise eine Parallele zu den Ohnmachtsanfällen der Gottesmutter am Kreuzweg, sicher aber zum plötzlichen Tod der Herzeloyde)49 – und sein Vater Parzival, der selbst noch ein Junge war, als er seine Mutter verließ, rüstet ihn bestmöglich aus, wobei sein »herze in iâmer als ein zunder brande« (V. 603). Die Angst beim Aufbruch zur Reise gehört nahezu zu jeder Reisebeschreibung des Mittelalters dazu, gewissermaßen als Rechtfertigung, die Reise nicht leichtfertig und ohne triftigen Grund anzutreten.50 Während mit den Prozessionen zuvor der gesamte Hof, Männer und Frauen, versuchen, gegen das Läuten anzubeten, bleiben Vermittlung der Sendung und Aufbruch eine geradezu familiäre Angelegenheit. Parzival wird nicht nur als Vorbild gezeichnet, sondern steht in besonderer Verbindung zum Gral, wenn er nicht sogar Hüter des Mediums ist,51 dessen sich Gott bedient. Abgesehen von der Wiederholung des

|| 49 Bemerkenswert ist, dass Lohengrin seiner Frau später erzählt, seine Schwester wäre in Ohnmacht gefallen (V. 7170). 50 Auch beim Hl. Brandan muss gesagt werden, dass er vor der Fahrt ängstlich ist: »von angeste er daz clagete / unde viel nider uf die knie« (V. 76f.). Dies ist jedoch nicht zwangsläufig als Zweifel am Schutz Gottes auszulegen – schließlich verfällt er sofort ins Gebet –, sondern kann als Rechtfertigungsstrategie gesehen werden. 51 Cramer (wie Anm. 1), 35f.: »Elsters Angabe, am Anfang des Lohengrin sei Artus Gralskönig, am Schluß sei es Parzival, trifft nicht zu. Vom Gralskönig ist in der ganzen Dichtung nicht die Rede. Artus trägt am Anfang den Titel König [...], der ihm rechtens zukommt (welchen Titel sollte er sonst haben?), was durchaus nicht bedeutet, daß er König des Grals sei. Parzivals Stellung ist unbestimmt. Von ihm wird v. 7102 lediglich gesagt, er sei herre zuo dem grâl, was ebenfalls nicht

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Auszugs in der nachfolgenden Generation, welche wiederum ein Geschlecht unter den Menschen anstoßen soll, kann der Auftrag nur aus dieser Familie heraus und von der dem Gral übergeordneten Instanz erteilt werden. Göttliches Gebot, Vermittlung und Ausführung durch die Familie fallen in eins. An einen freiwilligen Auszug des jungen Helden ist also nicht zu denken, obwohl sich Lohengrin rasch in seine neue Rolle fügt. Schon der Jammer seiner Mutter, der »einen vels erbarmen« (V. 596) könnte, lässt in ihm eine Art Abenteuerlust erstarken: »sîn muot begunde ringen« (V. 597). Lohengrin ist auserwählt für einen bestimmten Auftrag. Die Krise des Hofes ist nur eine Ausformung seiner Sendung, die richtig verstanden werden will und die sich in einem Dreischritt vollzieht: Gott sendet das Glockenläuten über das Gebirge in die Abgeschiedenheit des Gralshofes, er lässt die Schrift auf dem Gral erscheinen und entschlüsselt ihre Bedeutung für Elyze. Ton und Schrift ergeben durch den Mund der Schwester Sinn. Weil die Störung von außen über den Hof hereinbricht, wird ja die Lösung entsprechend gewählt: Ein Mitglied muss die Störung dort draußen beseitigen. Auch Brandan verlässt sein gewohntes Umfeld, das Kloster, und auch in seinem Fall ist dies kein freiwilliger Abschied. Es ist im wahrsten Sinn eine Strafexpedition, die er zu leisten hat. Er tritt aus seiner Gemeinschaft heraus, doch er ist nicht allein und er entsagt nicht der Welt. Letzteres wäre wie Missionierung (hier könnte wieder die Missionstätigkeit des Hl. Thomas als Vorbild dienen) ein klassisches Motiv für die Reise eines Heiligen. Es handelt sich jedoch weder bei Lohengrin noch bei Brandan um einen »Weltabschied«52 eines Heiligen, um einen Rückzug aus dem alltäglichen, um ein heiliges Leben zu führen oder eines schnellen Todes zu sterben. Und doch lassen sich bei den Reisen Parallelen aufzeigen: Lohengrin und Brandan folgen einem Befehl Gottes, der ihnen einerseits mündlich mitgeteilt wurde, der andererseits an Schrift gebunden ist. Beide verlassen ihre ursprüngliche Aufgabe oder Bestimmung, nämlich jeweils eine führende Rolle in ihrer Welt. Der Abt Brandan hat durch den Titel und die Gnade, mit Gott sprechen zu können, bereits die Spitze seiner Gemeinschaft erreicht. Lohengrin war möglicherweise als Sohn und Nachfolger Parzivals zum nächsten Gralshüter bestimmt.53 Eine wundersame Reise, auf der sie sich beweisen können, wird

|| ›Gralskönig‹ heißen muß. Immerhin scheint er schon zu Anfang zuständig für den Umgang mit dem Gral (v. 485) und seine besondere Verbindung zu ihm wird betont (v. 522).« 52 Vgl. dazu Peter Strohschneider, »Weltabschied, Christusnachfolge und die Kraft der Legende«, GRM 60 (2010), 143–163. 53 Vgl. dazu Wolfgang Spiewok, »Loherangrin – ein nicht geschriebenes Epos Wolframs von Eschenbach«, in: Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok (Hrsg.), ›Perceval‹ – ›Parzival‹. Hier et aujordhui. FS Jean Fourquet, Greifswald 1994 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 48), 271–292,

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es für beide werden. Gerade die Legende ist ja auf »Wunderserien« angewiesen, denn sie »erzähl[t] vom Durchgriff der Transzendenz in die Welt«54 – ebenso, wie ein Artusroman eine Reihe von wundersamen Aventüren und damit den Auszug aus einer bekannten Sphäre erzählt. Ein solcher ›Durchgriff‹ ist bereits im Glockenläuten zu sehen, das von der Immanenz in die Abgeschiedenheit des Gralshofes oder seine Transzendenz klingt und das eine Gegenbewegung erfordert. Zudem sollen Brandan das Wissen um Gottes Wunder und Lohengrin (neben der Begründung eines neuen Geschlechts) den Glauben an Gottes Hilfe erneuern. Während Brandan zunächst seinen eigenen Glauben stärken und das zugrundeliegende Wissen für weitere Gläubige festhalten soll, bestätigt Lohengrins Einsatz, was Elsas Kaplan in seinem Glauben weiß: Gott muss beim Anblick ihrer Tränen handeln.55 Bei beiden verschmelzen somit Aventüre- und Pilgerfahrt. Grundsätzlich unterscheiden sich beide Fahrten im Fortbewegungsmittel. Lohengrin wird zunächst bestens ausgestattet, um vom Hof davonreiten zu können. Ihm werden Harnisch, Helm und Schild gebracht, dazu ein exorbitant riesiges Pferd, das kaum noch mit einem normalen Tier zu vergleichen ist. Es erstaunt auf wundersame Weise in Kraft und Schnelligkeit, denn »man seit, daz ez vor snelheit gein den lüften vlouc, / swie ez die erde mit den vüezen ruorte« (V. 609f.). Lohengrin greift nach den Zügeln und setzt einen Fuß in den Steigbügel, um aufzusitzen, doch es kommt anders. Wie ein Ritter will er ausziehen, doch sein eigener Wille zählt nicht. Gott stellt seinem Kämpfer ein angemessenes Gefährt, nämlich ein anderes wundersames Tier, das sich normalerweise nicht als Verkehrsmittel eignet: »sô kumt ein wilder swan dort her gevlozzen. / Der zôch ein schif daz wazzer ûf, daz hât in got gelêret« (V. 626f.). Bemerkenswert ist, dass es sich wie bei den freigelassenen Falken wiederum um ein wildes Tier handelt. Diese scheinen in einer besonderen Verbindung zu Gott zu stehen, und im Falle des Schwans wird natürlich darauf verwiesen, dass er nicht von Menschenhand dafür dressiert wurde, ein Schiff zu ziehen, sondern Werkzeug Gottes ist, bzw. es von ihm gelernt hat. Während Lohengrin auf die Federkiele des Schwans vertraut, weil es sich um ein von Gott gesandtes Tier handelt, lässt sich Brandan für seine Reise in aller

|| hier: 271: »Bleibt vorerst festzuhalten, daß Loherangrin als Nachfolger für das Amt des Gralsherrschers bestimmt ist und damit der abendländische Partner des Priester-Königs Johannes (Sohn des Feirefiz und der Repanse de Schoye, christlicher Missionar im Orient) ist«. 54 Beide Zitate Köbele (wie Anm. 45), 383. 55 »[D]er sprach: iuncvrouwe, seht daz man ez got künde. / Gêt in daz münster und kniet vür den altâr reine. / ich wil mir selber tuon den tôt / swenne got gesiht die treher ab den ougen rôt / ob iuch sîn triuwe lâz immer kempfen eine« (V. 356–360).

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Eile ein Schiff bauen: »einen kil er im wirken hiez« (V. 86). Trotzdem soll das Schiff möglichst stabil sein, um allen Gefahren auf dem Meer trotzen zu können. Beschrieben werden Segel, Mastbäume, metallene Reifen, Eisen und Anker, die das Schiff zusammenhalten sollen wie die Arche, »die da Noe worchte« (V. 95). Doch auch ausgefallenere Architekturelemente wie Fenster, mehrere Räume und eine geweihte Kapelle dürfen nicht fehlen. Dadurch sichert er sich für dieses von Menschen gefertigte Schiff den Segen Gottes. Beide Wassergefährte sind darüber hinaus Sinnbild für die Kirche, bei Brandan wird dies mit der Arche Noah explizit aufgerufen. Brandan sorgt sich kaum um eventuelle menschliche Bedürfnisse. Er nimmt lediglich Kleidung mit auf das Schiff.56 Ausführlich wird dagegen im Lohengrin über Reisevorkehrungen berichtet, die normalerweise ausgespart bleiben, etwa, dass das Pferd zurückgebracht werden soll und wie »der iunge wandels vrî« (V. 632) das Schiff betritt. Der Vater trägt ihm den Schild nach und reicht diesen »sînem kinde« (V. 634). Noch deutlicher für die Jugend des Helden und seine Abhängigkeit von Eltern und Hof spricht die Fürsorge des Vaters Parzival, als er danach fragt, wer sich um ihn kümmern werde, und kurzerhand um Proviant für seinen Sohn schicken lässt. Lohengrin wehrt sich allerdings gegen diese Art praktischer Vorsorge mit einem Verweis auf denjenigen, »durch den ich var, der lât mîn ungepflegen niht« (V. 639). Trotzdem wird er in seinem geradezu heiligmäßigen Gottvertrauen nach seiner Abfahrt als vollkommen Meer und Wellen ausgeliefert beschrieben. Dem Erzähler scheint die Frage nach dem leiblichen Wohl wichtig zu sein, denn ganze fünf Tage habe man keine Kanne mit Wein herbeigetragen, noch haben sich Truchsesse mit Essen verschwenderisch gezeigt (V. 644–646). Der Schwan fängt sich ein Fischlein und verschlingt es. Der hungernde Lohengrin wirft seinem Steuermann vor, ihn vergessen zu haben: »nû bin ich dîn geverte und izzest âne mich; / dû soldes mir daz vischel halbez teilen« (V. 649f.). Da stößt der Schwan erneut Kopf und Hals in das

|| 56 Vgl. dazu Brandan (wie Anm. 4), 97, Anm. 100. Hier zeigen die Textvarianten der Meerfahrt unterschiedliche Interessen. Die hier verwendete Edition beruft sich auf M, wo es heißt: »ouch hiez er allez daz gewant / an den kiel tragen genzlich, / da mite sibenzic man sich / solden betragen nun jar. / der herre vil wislich gebar« (V. 100–104). In der späten Prosafassung aus dem 15. Jh. wird mehr Wert auf Proviant gelegt: »sandt Brandon bat vnsern herren, das er in wolt in seiner huet haben, so wolt er gern sein gebot volbringen, vnd ließ im weraiten ainen grossen kiel vnd schueff vnd hies das wol weschlahen mit starckenn eisnen panden vnd macht den kiel noch Noes arch vnd hies darein so vil speis tragen, auch von claidern vnd alles das in notturff was zw dem leib vnd zw seinen zwelff brudern vnd allem irem gesind wol auff zwelff iar«. Zitierte Ausgabe: ›Sankt Brandan‹. Zwei frühneuhochdeutsche Prosafassungen. Der erste Augsburger Druck von Anton Sorg (um 1476) und Die Brandan-Legende aus Gabriel Rollenhagens ›Vier Bücher Indianischer Reisen‹, hrsg. von Rolf D. Fay, Stuttgart 1985 (Helfant Texte 4), 2, Z. 11–20.

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Meer, doch nicht um einen weiteren Fisch zu fangen. Lohengrin sieht in den Wellen plötzlich ein »oblâtelîn« (V. 654) schwimmen, das auf wundersame Weise trocken und sauber bleibt. Vorsichtig treibt es der Schwan mit dem Schnabel zu den Händen seines Passagiers. Er nimmt die Oblate nicht mit seinem Schnabel auf, sondern lenkt sie auf dem Wasser, um sie nicht zu beschädigen oder zu entweihen. Der Fürst teilt sie und gibt die zweite Hälfte dem Schwan: »ez wart nie vürste noch vogel baz gespîset« (V. 660). Fisch und geteiltes Brot, verspeist mitten in den Wogen des Meeres – dichter und deutlicher könnten die christlichen Symbole kaum ausfallen, die aus den Reisenden eine christliche Gemeinschaft machen, die in der Kommunion ihre Gefolgschaft zu Christus ausdrückt.57 Das Schiff als Symbol für die Kirche drängt sich bei Brandan durch die genannte Arche Noah auf, die bereits vorausnimmt, dass Brandan sicher heimkehren wird.58 Schon bald nachdem er aufgebrochen ist, kommt er zu einem Kloster auf einem Fels, in dem sieben Mönche wundersam ernährt werden. Jeden Mittag bringt aus dem Paradies eine Taube »vierdehalbe semele« (V. 333) und einen gebratenen Fisch.59 Höflich wird Brandan zu Tisch gebeten, doch er muss feststellen, dass die himmlische Essensration nicht erhöht wurde. Er argumentiert, dass

|| 57 Auch Cramer (wie Anm. 1), 182, betont hier das starke symbolhafte Geflecht, v. a. in Hinblick auf die Zeitlichkeit: »Auf die Bedeutung dieses Bildes wird unmißverständlich durch die eucharistischen und angelicanischen Elemente hingewiesen, die um das Bild gruppiert werden. Zweimal zieht der Schwan Nahrung aus dem Meer, zuerst den Fisch, das Sinnbild Christi, danach – um dem Leser die letzten Zweifel über die Bedeutung zu nehmen – die Hostie. Sie ist unbenetzt, d. h. das Meer der Zeitlichkeit befleckt die Hostie nicht, wiewohl sie aus der Zeitlichkeit stammt. Lohengrin bricht die Oblate und teilt sie mit dem Schwan wie Christus das Brot bricht und austeilt. [...] Irdische Nahrung hat Lohengrin zuvor ausdrücklich zurückgewiesen: [...] v. 660, Ioh. 4, 32ff. Mit dieser Ausgangsszene ist die Bestimmung und Bedeutung der Lohengrin-Gestalt festgelegt: er ist nicht irrender Ritter auf aventiuren-Fahrt, sondern von Gott gesandter und beauftragter Helfer und als solcher in entscheidenden Momenten Verkörperung Christi.« Richard Heinrichs, Die Lohengrin-Dichtung und ihre Deutung, Hamm 1905 (Frankfurter Zeitgemässe Broschüren XXIV, 5/6), 46, deutet die Speisung als vollständige Gleichsetzung von Lohengrin und Christus: »Lohengrin verfällt süßer Wonne voll in Schlaf. Nachdem er das hl. Sakrament genossen, ist die Identifizierung vollständig: er ist abgestorben dieser Welt und lebt in Christo. Wie aus einer andern Welt kommend wird er am Ziel seiner Sendung anlangen. Hier hat der Dichter in einem wahrhaft großartigen, reichen und einheitlich geschlossenen Bilde geradezu eine Fülle von Ideen in farbenprächtigem Gewande zur Darstellung gebracht: vielleicht die gehaltvollste und sinnreichste Schöpfung in der bilderreichen mittelalterlichen Poesie.« Dies scheint mir hier jedoch kaum am Text belegbar. 58 Vgl. dazu Brandan (wie Anm. 4), 96, Anm. 96. 59 Die dreieinhalb Weißbrote reichen exakt für sieben Mönche. Hahn/Fasbender (wie Anm. 4), 105, Anm. 333, weisen im Stellenkomm. auf eine enge Verbindung zum Parzival hin: »In Wolf-

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Gott so reich, gnädig und weise sei, dass er ihn sicherlich nicht übersehen hätte. Und er ist erzürnt über diese Beleidigung, dass ihn »hie mit got ubersach« (V. 345), weil »er mich mit nicht hat bedacht« (V. 348). Mit seinem Zorn, der für das Selbstbewusstsein des Heiligen spricht,60 ertrotzt sich Brandan, dass die Taube noch einmal ins Paradies fliegt und auch für ihn »des himelbrotes« (V. 372) bringt. Gralsritter und Heiliger werden auf ihrer göttlichen Mission von Gott als Teil seiner Kirche versorgt. Beide erhalten himmlische Speise, die einer Kommunion gleichzustellen ist – eine Art »intertextueller Szenographie«.61 Das Bild von Gottes Kirche als Schiff in den Wellen des Weltmeeres, behütet und gut versorgt, drängt sich bei beiden Figuren in diesen Textabschnitten auf und knüpft wie selbstverständlich im Brotbrechen an das letzte Abendmahl Jesu oder an die Emmausgeschichte an. Biblisches Substrat, das in legendarischem Erzählen aufgehoben wurde, fließt hier v. a. über das Motiv des Benachteiligungsvorwurfs in den Gralsroman ein. Derartige Versatzstücke lassen Allusionen an Texte wie Brandans Meerfahrt zu, ohne den Namen des Heiligen nennen zu müssen. Das Verständnis funktioniert auch ohne diesen Hinweis auf einen möglichen Typus, doch gewinnt der Roman eine weitere Dimension, die eine Art Unterebene zu unmittelbaren Verweisen auf die biblische Heilsgeschichte aufzeigt. Im Schwanenschiff Lohengrins, das so sicher scheint wie Brandans hochseetüchtiger »kiel« (V. 92 u. ö.), öffnet sich der Roman auch der Gattung der Reiseliteratur. Dort spielt die Versorgung mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen eine nicht zu unterschätzende Rolle – zumindest in den späteren Berichten. Eine Gemeinsamkeit mit dem höfischen Roman ist eine stark von Grenzen, etwa derjenigen zwischen Hof und Wildnis, durchzogene Raumvorstellung. Nicht grundlos wurde die Meerfahrt Brandans mehrfach der Reiseliteratur zugeordnet.62 Die Quellen des Stoffs sprudeln u. a. aus irischen Schifffahrtserzählungen,

|| rams Parzival wird erzählt, daß alljährlich am Karfreitag eine leuchtend weiße Taube vom Himmel herabkommt, auf dem Gral »ein kleine wîze oblât« (470, 5) niederlegt und anschließend zum Himmel zurückkehrt; von der Oblate empfängt der Gral seine wunderbare Gabe, Getränke und Speisen zu spenden«. 60 Ob man der literarischen Figur hier »kindisches Verhalten«, Rebellion, »Überheblichkeit«, »unheilig[es]« oder gar »anmaßendes Verhalten« unterstellen sollte, wie es Christine Kühn, »Heilige sind anders. Das Spiel mit religiösen Motiven in der mitteldeutschen Reise-Fassung des heiligen Brandan«, in: Albrecht Greule (Hrsg.), Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. FS Wolfgang Haubrichs, St. Ingbert 2008, 113–132, hier: 128–130, tut, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 61 In Anlehnung an Umberto Eco, ›Lector in fabula‹. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990, 102f.; vgl. dazu auch Kerth (wie Anm. 21), 76–85. 62 Vgl. Fasbender (wie Anm. 9), 190.

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dem »Imram, zu deutsch: ›Herumruderei‹«.63 Viele gattungstypische Merkmale der Reiseliteratur sind bei Brandan zu finden: Abschied von der Heimat, eine Schifffahrt über Meer inklusive aller natürlichen Gefahren wie Stürmen, hohen Wellen und Windstille, das Erreichen von unbekannten, neuen Welten oder Gegenden, wo unbegreifliche Wunder und andere Kulturen angetroffen werden. Nimmt man auch Begriff und Grundstruktur von Jenseitsreisen64 hinzu, so sind räumlich »Diesseits, Zwischenbereich und Jenseits« zu berücksichtigen.65 Wasser als Übergangsraum ist nicht an eine spezielle Gattung gebunden. Eine Funktion als gefahrvoller Grenzbereich weist es in Roman, Legende, Reisebericht usw. auf. Es trennt nicht nur zwei Höfe, sondern auch Kulturräume oder, wie im Lohengrin, zwei strikt voneinander getrennte Welten. Der Gralshof mit Artus, Parzival und Lohengrin liegt sicher verborgen hinter einem Gebirge, das als unüberwindbar beschrieben wird. Die Tafelrunde scheint vollkommen von der ›realen Welt‹ abgeschottet, wenn nicht schon in einer anderen, einer transzendenten Sphäre angesiedelt. Das Reich Elsas dagegen ist dem mittelalterlichen Rezipienten zugänglich. Brabant ist ein bekanntes Herrschaftsgebiet, das Geschlecht ist angesehen. Die Welt funktioniert hier nach den bekannten Regeln und Symbolen. Sie wird als greifbar nah, als vergleichbar mit der eigenen Welt beschrieben. Lohengrin wird gleich einem Boten Gottes in die Welt gesandt. Seine Fahrt über das wogende Meer ist eine Reise von einer Welt, die der Transzendenz näher steht als

|| 63 Walter Haug, »Brandans Meerfahrt und das Buch der Wunder Gottes«, in: Laetitia Rimpau, Peter Ihring (Hrsg.), Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, Berlin 2005, 37–55, hier: 39. 64 Vgl. Fasbender (wie Anm. 9), 190. 65 Walter Haug, »Vom Imram zur Aventiure-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epenstruktur«, Wolfram-Studien 11 (1970), 264–298, wieder in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, 379–408, hier: 397. Vgl. hierzu auch Müller (wie Anm. 41), 27, Anm. 78: »Untersuchungen zum Verhältnis von Artusroman und keltischer Mythologie z. B. [...] suchten die Differenz zwischen den Romanen und ihren sagengeschichtlichen Vorgängern zu minimieren, indem man auch jenen einen mythischen Gehalt zuschrieb. Die Sagenforschung konstatierte in bestimmten Vorgängen innerhalb der Artuswelt Ähnlichkeiten mit der Fahrt in ein mythisches Totenreich oder stellte an der Minneherrin Züge einer Fee (Todesgöttin o. ä.) fest. Dies rief die Gegner auf den Plan, die auf der literarischen Qualität der Romane als Überwindung ihres mythischen Substrats bestanden, so daß mittels solcher Ähnlichkeiten in keinem Fall ein ›verwischter Sinn‹ des Romans zu entdecken sei (z. B. Iweins Initial-âventiure als Jenseitsfahrt, die Laudine im Iwein als Herrin über ein Totenreich o. ä.). Doch selbst wenn quellengeschichtliche Abhängigkeit einzelner Motive nachzuweisen wäre, käme es auf ihre Funktion im neuen, nicht mehr mythisch geprägten Zusammenhang an«.

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der Immanenz, in die Welt des Rezipienten. Die Überfahrt entbehrt nicht der üblichen Gefahren: Die Wellen schlagen hoch. Doch Lohengrin, in Begleitung des Schwans, steht unter göttlichem Schutz und bewältigt in geradezu heiligmäßigem Gottvertrauen und ohne Furcht die Passage. Nach der erzwungenen Aufdeckung seiner Herkunft ist er genötigt, wieder heimzukehren. Er gehört sozusagen nicht in die Welt Elsas und muss deshalb auch wieder zurück zum Gral. Dies ist im klassischen Artusroman vorgesehen – allerdings mit der gewonnenen oder verteidigten Ehefrau –, denn der Auszug vom Hof dient der Bewährung des Ritters und ist von vornherein auf eine Heimkehr in Ruhm und Ehren ausgerichtet. Doch soll die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden, dass auch legendarisches Erzählen, und in unserem spezifischen Fall eventuell die Meerfahrt Brandans, Einfluss auf diese Kreisstruktur hatte. Am Auffälligsten ist das ungewöhnliche Verkehrsmittel, das Lohengrin nehmen muss. Das für einen Artusritter passende Pferd hat keinen Platz auf dem kleinen Boot, das ihm geschickt wird. Der Auszug vom Hof in einem Schwanenschiff ist für eine Aventürefahrt äußerst befremdlich. Ausgestattet nur mit Rüstung und Schild, ist Lohengrin darauf angewiesen, in seinem Ankunftsland als edler Ritter erkannt zu werden und ein Pferd zu bekommen. Dass es zwischen Imram und dem Artusroman strukturelle Verbindungen gibt, hat Walter Haug bereits 1970 gezeigt. Die ›Reisefassung‹ der Brandanlegende entspricht laut Haug eher dem Imram als die ›Navigatio‹, die eine zyklische Kreisstruktur aufrechterhält. Die Grobstruktur bleibt jedoch in beiden Fassungen die gleiche, wie bei jeder Reise gerahmt von Abfahrt und Heimkehr. Während es für ›normale‹ Reisen kaum um den Weg als eine Art der Bewährung geht, lässt sich sowohl für Brandan als auch für Lohengrin das ›Dazwischen‹ als eine solche verstehen. Für den Heiligen ist von vornherein eine Deutung der Fahrt naheliegend: In der Meerfahrt als symbolischer Lebensfahrt entspricht das wissende Vertrauen von seiten des Menschen einem Gehaltenwerden von seiten Gottes. Die Welt ist Funktion des Heilsweges. In der ›Reise‹ steht der zweifelnde Mensch einer Welt gegenüber, deren wunderbarer, d. h. auf Gott bezogener Charakter der Enthüllung bedarf. Der Unglaube des Menschen wird in der Begegnung mit dem Göttlich-Wunderbaren überwunden. Die Fahrt ist nicht eine Abkehr von der Welt, sondern sie führt durch die Welt hindurch. [...] Der Weg 66 durch die Wirklichkeit versteht sich als Erfahrung der Allmacht Gottes.

Eine sinnvolle und zielgerichtete Reise, die im Vertrauen auf Gottes schützende Hand angetreten und unternommen wird und die sich den Phänomenen Wunder und Wahrheit nähert – so kann auch die Reise Lohengrins verstanden werden,

|| 66 Haug (wie Anm. 65), 403.

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und so will sie der Erzähler in seiner Rahmenerzählung auch verstanden wissen. Deshalb verweist er nicht nur auf den heiligen Abt, sondern lässt ihn immer wieder, sozusagen tröpfchenweise, in seine Erzählung einfließen. Im Gegensatz zu anderen Artusromanen stützt sich der Lohengrin nachdrücklich auf einen »außerweltlichen Bezugspunkt, von dem er seinen Sinn empfangen könnte«.67 Der Sinn der Fahrt muss dabei über den Weg hinausweisen. Wenn es um eine Funktion der reisenden Figur geht, so sind die Begleiter Brandans in der ›Reise‹ sicherlich kaum mehr als Statisten. Die Erfahrungen sammelt Brandan für alle.68 Haug stellt zu Recht fest, dass sich Erec und Yvain im Gegensatz dazu stark auf die Gesellschaft beziehen: »Der Prozeß der Welterfahrung, der sich in der AventüreFahrt realisiert, führt folglich mit dem Helden auch die Gesellschaft in die Krise und wieder zu neuer Idealität.«69 Hier unterscheidet sich Lohengrin wesentlich von anderen Artusrittern. Natürlich ist er zuallererst Mitglied der Artusgesellschaft, wenn auch aufgrund seiner vielfach betonten Jugend wohl noch kein vollwertiger Ritter. Er muss Abschied nehmen, bevor er sich durch Heldentaten bewiesen hat – darin gleicht er seinem Vater Parzival. Seine erste Reise ist seine Bewährungsprobe, eine einzige große und mehrteilige Aventürefahrt. Er kommt nicht zwischendurch an seinen ursprünglichen Hof zurück und beginnt nach Erwerb von Ehe und Ehre einen zweiten Cursus. Vielmehr wechselt er die Zugehörigkeit. Durch seine Ehe mit Elsa, seine Kinder und die Anbindung an einen anderen König mit sämtlichen dazugehörigen Privilegien und Verpflichtungen wird er vollständig Teil des Brabanter Hofes. Da die Reise von Hof zu Hof äußerst kurz und ohne jede Gefahr oder Herausforderung bleibt, kann sie auch nicht als erster Cursus bezeichnet werden. Vielmehr muss alles, was vor Brabant liegt, als weitere Rahmenerzählung gedeutet werden. Gleich einer Burg liegt die Kernaventüre des Ritters Lohengrin, umgeben von einem Wassergraben, der gefahrvolles Hindernis, Übergangsraum und starke Grenze zugleich ist. Das Wasser oder Meer als Raumgrenze, die wie bei Brandan nur von göttlich Auserwählten gefunden und überquert werden kann, bildet hier auch eine strukturelle Grenze; und doch können gewisse Phänomene oder Wahrnehmungen dieses trennende Element überschreiten. Im Lohengrin ist es das hartnäckige Läuten der Falkenglocke, dessen Ursprung in Brabant gesucht werden muss. Brandan erlebt auf seiner Reise ebenfalls das Wunder eines Hörens-aber-nicht-Sehens (V. 1456–83):

|| 67 Haug (wie Anm. 65), 403. 68 Vgl. ebd., 404. 69 Ebd.

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Do horten sie groze wunne: Die glocken horten sie clingen, die pfaffen vil wol singen, kirchvolc lute rufen. (V. 1470–73) Da hörten sie große Freude: Sie hörten die Glocken klingen, den schönen Gesang der Pfaffen und das Rufen der Kirchengemeinde.

Wieder ist es ein auditives Erlebnis, und wie im Lohengrin sind es Glocken, welche die Gefährten zuerst hören. Der Zusammenhang mit einem Gottesdienst wird im Gesang der Priester und der Antwort der Gemeinde unmittelbar hergestellt. Danach hören sie Männer und Frauen tanzen, Pferde und Rinder, die getrieben werden. Und doch sehen sie nichts »wan wazzer und den himel« (V. 1483).70 Dies sind in Bezug auf die Wunder genau die zwei Ebenen, die zusammengehören und die den Gegensatz zur Welt bilden – in Brandans Meerfahrt wie im Lohengrin. Der Heilige wie der Ritter stehen dazwischen und vermitteln zwischen beiden Welten. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Texten besteht in der Fahrtrichtung. Während Lohengrin aus einer Art Parallel- oder Anderwelt71 ins ›reale‹ Brabant fährt,72 verlässt Brandan das greifbare oder besser: erreichbare Irland, um in seiner Erwähltheit Meerwunder zu er-fahren, die gewöhnlichen Menschen verschlossen bleiben. Einerseits ist es der Gralshof, also der Ausgangspunkt, und andererseits die Meerwunder, also das Ziel, die exklusive Gebiete sind, welche nur von den Auserwählten betreten werden können. Brandan kehrt nach Irland zurück, also in seine und des Rezipienten Lebenswelt, und doch ist dies nicht der letzte Punkt seiner Reise. Bei seiner Ankunft hört er Gottes Stimme – auch an dieser Stelle wieder ein auditives ohne ein visuelles Erlebnis –, die ihm zusichert,

|| 70 Mehrfach hört Brandan zuerst das Tosen der Teufel oder den Klang der Engel, bevor er etwas sieht. Es kommt jedoch noch ein weiteres Phänomen hinzu, das nicht zu sehen ist, ein höllischer Gestank, der wohl als Gegenstück zu einem paradiesischen Duft fungiert und der Brandan verkündet, dass er zu handeln hat: »ein unrein stanc sie angeviel. / von dannen muste entwichen der kiel« (V. 455f.). 71 Mertens (wie Anm. 5), 14, fasst die Welt des Artushofes folgendermaßen: »die Romane spielen in einem Irgendwo mit Riesen, Feen, Zwergen, Löwen und Drachen, Zaubergärten und verwunschenen Burgen.« 72 Heinrichs (wie Anm. 57), 4f., formulierte dies 1905 folgendermaßen: »Eingangs wurde der Lohengrin als eine Graldichtung bezeichnet. Er unterscheidet sich aber, und zwar zu seinem Vorteil, von den übrigen Graldichtungen. Während diese ihre Ideen in eine bunte Welt von Abenteuern hineinarbeiten und dadurch einen märchenhaften Charakter gewinnen, versetzt uns der Lohengrin-Dichter von dem Punkte an, wo sein Held aus dem weltfernen Gralbereiche handelnd auftritt, mitten in die geschichtliche Wirklichkeit und ins volle Kulturleben seiner Zeit.«

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dass Brandan jederzeit sterben könne, wenn er sich dies wünsche, und ohne Umwege ins Reich Gottes gelange (V. 1903–10). Dort, so muss man annehmen, bleibt dem Abt auch die visuelle Gottesschau nicht verwehrt, unter deren Entzug die neutralen Engel leiden. Konträr zu seinem erzwungenen Aufbruch wird ihm hier eine äußerst seltene Gnade zuteil: Er darf selbst entscheiden, wann er gehen will. Sein Weg endet also doch wieder weltentrückt in der Transzendenz. Ganz deutlich wird eine Trennung von Seele und Körper beschrieben: »die sele holten der engel diet, / der lip wart bestatet zu der erden« (V. 1918f.). Während die Seele in höchstmögliche Transzendenz überführt wird, verbleibt die sterbliche Hülle auf der Erde. Damit wird die Auszeichnung beschrieben, die Brandans Heiligkeit betont und zugleich Reliquien ermöglicht – immerhin wird der Heilige nicht entrückt, sondern der Leib verbleibt auf der Erde –, welche seinen Ruhm und seine Qualitäten als Heilsvermittler auf der ganzen Welt verstreuen können. Lohengrin wird von der nahen Welt Brabants wieder vom Schwan, dem göttlichen Tier, abgeholt und an den Gralshof rückgeführt. Er scheint im Gegensatz zu Brandan auf diese ›Entrückung‹ keinen Einfluss zu haben, sondern fügt sich, wie schon bei seinem Aufbruch, dem göttlichen Willen, der sich im Schwan wieder dem Ufer nähert. Lohengrins Fahrt ist nie selbstbestimmt, sondern wird immer von Gott begleitet und geleitet. Dies wird im Schwan sichtbar. Doch selbst Lohengrin hinterlässt seine Spuren auf der Welt in seinen Nachfahren. Seine Blutlinie wird im Roman ausführlich nachgezeichnet. In diesem von Lohengrin begründeten Geschlecht und dem vererbten Ruhm mag wieder wie in der Heiligenlegende die Vorstellung von der Verbreitung von Heil und Gnade mitschwingen.

5 Transzendenz in der Immanenz: Visionselemente Der Gattung ›Legende‹ sind Visionselemente inhärent – für einen Artusroman sind sie außergewöhnlich, was an dieser Stelle jedoch nur noch angedeutet werden kann. Dass Brandans Meerfahrt mehrfach Elemente aus der Visionsliteratur aufgreift,73 muss nicht eigens ausgeführt werden. Erinnert sei an die Begegnungen mit Engeln, neutralen Engeln, Teufeln, Henoch und Elia (die einzigen aus dem Leben direkt in den Himmel Entrückten der Bibel) und die Terra Repromissionis. Der Lohengrin greift neben der sehr markanten Audition erstaunlicherweise

|| 73 Vgl. dazu Haug (wie Anm. 63), 45.

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ebenfalls auf ähnliche Visions-Bausteine74 zurück, ohne sich dabei explizit an Brandans Meerfahrt anzulehnen. Besonders herausragend ist die Tier-Engel-Metamorphose, die zunächst Lohengrin wahrnimmt und später ein Gesandter des englischen Königs, ein heiliger Abt. Lohengrin hört zuerst den Schwanengesang und erkennt darin den Engel. Der vogel huop an unde sanc, daz ez suoz dem vürsten in sîn ôre klanc, wan er in engels wîse was gestimmet. In solcher varwe er im erschein, daz er gedâht: ›diz ist vürwâr ein engel rein, der hie bî mir ûf disem wâge swimmet. In hât got nâch mir gesant, daz er mich habe in huote.[‹] (V. 661–667) Der Vogel begann zu singen, sodass es dem Fürsten angenehm in seinen Ohren klang, denn er klang wie ein Engel. Er erschien ihm [Lohengrin] mit einem solchen Aussehen, dass er dachte: ›Dies ist wahrhaftig ein reiner Engel, der hier bei mir auf diesem Meer schwimmt. Gott hat ihn mir gesandt, damit er mich behüte.‹

Dem Klang passt sich das Äußere des Schwans an, er verwandelt sich förmlich vor Lohengrins Augen in einen Engel. Das edle, aber ungezähmte Tier offenbart sich als Bote Gottes und als Schutzengel des Fürsten. Wenig später gelangen beide ans Ufer in Brabant. Dort steht am Ufer »einn gevürsten abt [...] / des andâht gein got lûter was und reine« (V. 742f.). Dieser Abt, der schon zu Lebzeiten als Heiliger verehrt wird (V. 744), hat sich durch seinen reinen Lebenswandel offenbar dieselbe Vision verdient. Er erkennt das Wunder in dem Bild, das sich ihm im Schwan mit dem Ritter im Schiff bietet: »diz seltsaen wunder bediutet vremde sache« (V. 753). Der Abt rät zu einer Prozession mit dem Heiltum, einem klassischen Herrscheradventus, und man hört auf ihn. Sogleich läutet man (wieder) Glocken, kommt mit dem Heiltum und Fahnen und geht dem Ankömmling mit Gesang freudig entgegen.75 Lohengrin hört und sieht den prächtigen Empfang und springt sofort auf. Der Abt hingegen darf im Schwan kurz den Engel erkennen:

|| 74 Vgl. dazu Kerth (wie Anm. 21), 14: »Motive kommen also in bestimmten Gattungen nicht immer neutral, sondern oft in typischen Ausprägungen, d. h: markiert, vor. Normalerweise werden Handlungsbausteine, die z. B. im Artusroman verwendet werden, v. a. Markierungen tragen, die den Bezug zu dieser Gattung stärken [...]. Dies ist aber nicht zwangsläufig der Fall. Über die Markierung kann auch auf andere Gattungen verwiesen werden. 75 Auffällig ist die stete Anbindung sämtlicher Großereignisse im Lohengrin an einen Gottesdienst. Vgl. dazu auch Unger (wie Anm. 13), 295: »Im letzten erweist sich sein [des Erzählers] visionärer Entwurf theologisch fundiert: Er vertraut auf das wirkende Eingreifen der göttlichen

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Des abtes heilic leben rein schuof, daz im der swan in engels bilde erschein. nû sult ir hoeren, wie erz vürbaz handelt. Er viel gegen im an diu knie, des in sîn andaehtigez herze niht erlie. zehant er wider in vogels bilde sich wandelt. Der abt stuont ûf, doch het er wol gesehn daz grôze zeichen. (V. 771–777) Das heilige Leben des Abtes bewirkte, dass ihm der Schwan als Engel erschien. Nun sollt ihr hören, wie er sich daraufhin verhielt. Er fiel vor ihm auf die Knie, denn sein andächtiges Herz drängte ihn dazu. Sogleich verwandelte sich [der Schwan] wieder in einen Vogel. Der Abt stand auf, aber er hatte sehr wohl das große Zeichen gesehen.

Die Erscheinung vor dem Abt überträgt dessen Heiligkeit auf den Status Lohengrins. Dieser ist nicht nur Ritter, sondern Gotteskrieger. Mit einem Heiligen ist er natürlich nicht gleichzustellen, aber immerhin scheint er ähnlich auserwählt und begnadet zu sein und er erweist sich durch seine Deutungskompetenz als der gleichen Sphäre zugehörig, die der Engel im Schwan aufruft. Abt und Held begegnen sich durch die Vision auf Augenhöhe, trotz der Differenz zwischen geistlichem und weltlichem Leben. Ein weiteres Erzählelement der Visionsliteratur, das sich nicht mehr dem Erzählrahmen zuordnen lässt, sondern mitten im Text liegt, soll hier nur kurz genannt werden. Vielfach ist auf die Christus-Analogie hingewiesen worden, die Lohengrin im Kampf gegen die Heiden auszeichnet. Während Brandan gegen außerweltliche Teufel kämpft, streitet der Gotteskrieger Lohengrin gegen Heiden.76 Hier kommen ihm weiß gekleidete Reiter zu Hilfe, darunter – wie sich später herausstellt – sogar die Apostel Peter und Paul. Der Rekurs in der Zwölfzahl der

|| Macht auch nach dem Ende von Christi Erdentagen und auch in des Verfassers eigener Gegenwart. Er erinnert sich der Zusage der göttlichen Präsenz und der geglaubten Gegenwart des Reiches Gottes in jeder Eucharistiefeier. Deshalb sind im letzten Meßfeiern an nahezu sämtlichen Scheidepunkten der Handlung eingeführt.« Dies ist wiederum eine Parallele zu Brandan, der sogar auf seinem Schiff eine Kapelle samt Ausstattung mit sich führt, um immer wieder Messen feiern zu können. 76 Vgl. dazu Walter Haug, »Der Teufel und das Böse im mittelalterlichen Roman«, in: ders., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1989, 67–85, hier: 78, der eine Veränderung vom Gralsroman zum nachklassischen Roman feststellt: »Wenn der Gralsroman das Modell in der Weise erweitert hat, daß man Gott einbeziehen konnte, so wird in der nachklassischen Phase das Modell aufgebrochen, so daß der Teufel sich wieder im Roman zu etablieren vermag.«

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Streiter auf die zwölf Apostel77 ist ebenso klar wie die Verbindungen zu anderen Texten, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann, wie z. B. die Regensburger Schottenlegende und die Georgslegende des Reinbot von Durne.78

|| 77 Cramer (wie Anm. 1), 182, weist darauf hin, dass »fünf der elf Ungenannten [...] von den Heiden erschlagen (v. 4696) [werden]: nach mittelalterlicher Kenntnis starben die fünf Apostel Jacobus, Andreas, Bartholomeus, Thomas und Matthias den Märtyrertod. Lohengrin selbst kämpft unerkannt an der Spitze der Apostel, Christo gleich, dessen göttliche Natur verborgen ist«. 78 Diese Verweise deutlich gemacht und belegt hat Kolb (wie Anm. 17), 111: »Zudem mochten ihm aus seiner näheren zeitlichen und räumlichen Umgebung zwei Beispiele dafür griffbereit sein: die bairische Georgslegende des Reinbot von Durne und die Regensburger Schottenlegende. Dort vollzieht sich das Eingreifen des himmlischen Helfers im weißen Waffenkleid ›wie ein starker Wolkenbruch‹ und ›wie ein Donnerschlag‹. Auch diesen Zug läßt er sich nicht entgehen, als er das Eingreifen der beiden Apostel an der Seite Lohengrins schildert: ›reht als in eim vluor tuot ein starc ungewiter, / sus wart der heidentuom von in beschûret‹ (v. 4602f.)«. Dieser Zusammenhang wurde 1461 erkannt und schlug sich in einer Sammelhandschrift für den niederbayerischen Vogt Ortolf von Trenbach nieder, die aus Cgm 4871–4873 bestand: »Der Codex führte folgende in den Jahren 1456 bis 1461 entstandene Texte mit sich: Lohengrin (Cgm 4871), Visionen des Ritters Georg von Ungarn und Johannes von Mandeville: Reise in der deutschen Version von Michel Velser (Cgm 4872) sowie die volkssprachliche Fassung des juristischen Traktats Belial nach Jacobus de Theramo und Teile des Ehebüchleins Sermo de matrimonio, ebenfalls in deutscher Übersetzung (Cgm 4873)«; Andreas Erhard, Untersuchungen zum Besitz- und Gebrauchsinteresse an deutschsprachigen Handschriften im 15. Jahrhundert. Nach den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek München, München 2012, 49f. Erhard hat sich u. a. gezielt mit dem Gebrauchsinteresse einer derartigen Sammelhandschrift in Bezug auf den spezifischen Auftraggeber oder Besitzer befasst und kommt hier zu folgendem Ergebnis: »Die in Ortolfs Handschrift auf den Lohengrin folgenden Visionen des Ritters Georg von Ungarn und Velsers Johannes von Mandeville: Reise (Cgm 4872) ›gehören als Pilger- und Reiseberichte eng zusammen‹ und beleuchten in ihrer Symbiose einen spezifischen Aspekt adeliger Kultur, indem sie, wiederum mit Ortolfs Biographie verhandelbar, auf die hohe Attraktivität von Pilgerreisen beim Adel im 15. Jh. hinweisen. Zuletzt sind mit der theologisch-juristischen Abhandlung Belial und dem aszetischdidaktischen Sermo de matrimonio, beide in deutscher Übersetzung (Cgm 4873), zwei Texte in die Handschrift integriert, die [...] unmittelbar an die Berufs- und Lebenspraxis des Ortolf von Trenbach anschließen. [...] Auf den ersten Blick bot sie [die Sammelhandschrift, V. L.] mit dem Lohengrin und möglicherweise auch mit den Visionen des Ritters Georg von Ungarn sowie mit den Reisebeschreibungen des Ritters John Mandeville doch eine Bandbreite an ›für die Rezeption in Adelskreisen typischen Werken‹, die als Leitfäden für den mit militärischen Schutzfunktionen betrauten Pfleger, den turnieradeligen und pilgernden Ritter sowie für das angehende Mitglied eines geistlichen Ritterordens zu dienen und dessen öffentliches Handeln und Auftreten entsprechend zu normieren und zu steuern vermochten. Neben dieser möglichen ideellen, aber gleichsam in die Wirklichkeit hineinwirkenden Funktion, wird aber auch ein schlicht lebenspraktischer Gebrauchszweck für die Handschrift Ortolfs denkbar, wenn man den juristischen Traktat Belial und das Ehebüchlein Sermo de matrimonium [sic!] in Bezug zu seiner Lebenswirklichkeit setzt« (52 und 61).

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Das Eingreifen der Apostelfürsten zeichnet Lohengrin in besonderer Weise aus, es adelt und heiligt ihn in gewisser Hinsicht.79 Der Gotteskämpfer fungiert, indem er himmlische Heerscharen verpflichten kann, als Mittler zwischen der (richtigen) Seite im (Glaubens-)Krieg und Gott, der sich seinen Anliegen und Bitten nicht verschließt. Lohengrin ist kein gewöhnlicher Ritter und auch nicht nur ein Gralsritter. Er ist ein Streiter für Gott und bekommt dafür höchste Unterstützung. Rückwirkend strahlt diese Kompetenz der Heilsvermittlung auf den Hof und das Geschlecht Brabant zurück und letztlich auf den Gral und seine Ritter. Der Lohengrin scheint hier eine Leerstelle zu füllen: Dies alles und noch mehr kann leicht den Anschein erwecken, als wäre im Parzival die eine christliche Institution unmittelbar zu Gott, die Kirche, ausgewechselt gegen eine andere christliche Institution unmittelbar zu Gott, den Gral. Ist es nur ein Anschein? In diesen vom Parzival hinterlassenen Freiraum des Grals, der von nahezu allem Kirchlichen ausgenommen ist, tritt der Lohengrin-Dichter mit Entschiedenheit ein, ihn in vielerlei Weise mit Kirchlichkeit füllend. [...] Damit sind Kirche und Gral in ein konkretes, sich gegenseitig stützen80 des Verhältnis zueinander gebracht, das der Parzival offengelassen hatte.

Gott und Gral werden im Lohengrin so eng miteinander verbunden, dass zwischen Auftraggeber und Ausführendem kaum noch zu unterscheiden ist. Gerade die sonst bei Gralsromanen ausgesparten Länder, die dem Rezipienten bekannt sind, werden im Lohengrin mit einbezogen, und die Erreichbarkeit bzw. Abgeschiedenheit des Gralsreiches wird thematisiert.81 Elemente der Visionsliteratur

|| 79 Vgl. dazu Kolb (wie Anm. 17), 109: »Auch die Erhabenheit seiner alles Irdische übersteigenden Herkunft vom Gral erscheint dadurch gewürdigt. Zwar kommt er hierin den Aposteln, die in das Reich Gottes schon aufgenommen sind, nicht gleich. Doch der Gral, von dem er nach Brabant gesandt ist, steht Gott näher als irgend ein irdisches Land, aus dem die übrigen Verteidiger des Christentums nach Rom gekommen sind. Was ihn aber mit den Apostelheiligen verbindet, ist, daß er wie sie von Gott ›her gesant‹ (v. 7119) wurde, um irdische Angelegenheiten nach einem höheren Willen zu schlichten. Andererseits bleibt Lohengrin, während Sankt Peter und Paul bald wieder entschwinden, in irdisches Rittertum auch weiterhin eingeordnet und bleibe es auf immer, wenn ihn die am Ende doch gestellte Frage nach seiner Herkunft nicht zum Gral zurücktriebe.« 80 Ebd., 113. 81 Vgl. dazu ebd., 112: »Denn gerade diese von der Gralmission bei Wolfram ausgesparten Länder: Frankreich, Italien, Griechenland/Byzanz und Deutschland mit ihren Fürsten und ihrer Ritterschaft sind es, die im Lohengrin die bedrohte Christenheit und das ihr heilige Rom retten, der vom Gral ausgesandte Schwanenritter erscheint dabei als ihr charismatischer Vorkämpfer. Dies führt auf eine zweite Frage, die der Parzival offengelassen hatte und die der Lohengrin-Dichter durch den Mittelteil seiner Erzählung zu beantworten bemüht scheint: das Verhältnis des Grals zu einer, katholischen (im Sinne von ›allgemeinen‹) Kirche als der Verwirklichung der Gemein-

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werden gezielt dafür eingesetzt, Ritter, Höfe und Gral als Werkzeuge Gottes und im Dienste der Kirche darzustellen. Dazu gehört auch der unmittelbare Kontakt mit Peter und Paul – beide sind Apostel, Heilige, Heilsvermittler und Jünger Jesu. Höherrangige Heilsvermittler könnte Lohengrin im Kampf kaum an seiner Seite wissen. Wie der Hl. Brandan (er spricht mehrfach mit Engeln oder mit Gott: V. 344, 1093, 1885, 1916 und 1706), der ebenfalls einer Schar Männer vorangeht,82 streitet Lohengrin für seine Männer und setzt sich mit himmlischer Hilfe für sie ein. Was hier Bewährung, Seenot und Bedrohung durch wundersame und furchterregende Begegnungen mit Tieren, Mischwesen und Teufeln ist, ist dort die Schlacht gegen eine irdische Glaubensbedrohung, die Heiden, die sich nicht sauber trennen lässt von widergöttlichem Personal.83 Gegner (Teufel, Monster oder Riesen, Zwerge, Drachen), Retter und Ritter sowie die genannten Räume (Paradies, Anderwelt, Jenseits und Gralshof) sprengen die engen Grenzen der erfahrbaren, also durch Reisen zugänglichen und sichtbaren Immanenz.84 Sie verweisen als Einzelelemente und in ihrer Gesamtheit wie in Visionsliteratur auf

|| schaft der Christen in der Geschichte. Wie sich der Gral, umgeben von der ›ritterlichen Bruderschaft‹ der templeise, als ein im Irdischen existierendes, durch den hl. Geist mit überirdischer Kraft gespeistes Heiligtum, das seine zu Schutz und Pflege nach göttlicher Anweisung aus allen Landen berufenen Mitglieder empfängt (wie z. B. Loherangrin) und nach göttlicher Anweisung im besonderen Fall in bestimmte Lande wieder aussendet (wie z. B. Loherangrin), sich zur Gemeinschaft der Gläubigen in Christus, der Kirche, verhielte, dies hatte der Parzival überhaupt nicht berührt. Die Erzählung von der Gralssuche des Helden hatte gleichsam einen Bogen gemacht um die Institution Kirche in allen ihren Formen.« 82 Die Zahl der Gefährten Brandans schwankt in der Tradition erheblich, nicht nur zwischen ›Navigatio‹ und ›Reisefassung‹. Allein in der späten Prosafassung M aus dem 15. Jh. ist es die apostolische Zahl 12. Möglicherweise ist dies ein später Einfluss, vgl. Hahn/Fasbender (wie Anm. 4), 97, Anm. 102. 83 Mathias Herweg, »Zwischen Handlungspragmatik, Gegenwartserfahrung und literarischer Tradition. Bilder der ›nahen Heidenwelt‹ im späten deutschen Versroman«, in: Katharina Boll, Katrin Wenig (Hrsg.), ›kunst‹ und ›saelde‹. FS Trude Ehlert, Würzburg 2011, 87–113, hier: 90, spricht von einer Dämonisierung der Heidenschaft: »Es ist das Modell eines heilsgeschichtlich zwingenden, dabei zwingend erbarmungslosen Kampfes, bei dem die eine Seite die vorweggenommene civitas Dei der prospektiven Märtyrer, die andere die civitas diaboli der selbst als militärische Sieger dem ewigen Tod Geweihten repräsentiert. Der Feind wird entsprechend dämonisiert, animalisiert, in seinem irdisch-himmlischen Schicksal prä-judiziert, seine religiösen Formen und Motive sind wahlweise diskreditiert oder ridikülisiert. Dieses Heidenbild dominiert um 1300 noch weithin im Lohengrin«. 84 Vgl. dazu Spiewok (wie Anm. 53), 286: »Die Vorstellung von einem geheimnisvollen Jenseits, das durch Zauber gelegentlich in die irdische Welt ragt, ist dem Menschen des Mittelalters vertraut, denn er ist des Wunders gewärtig. [...] Man wird erinnert an Artus, der im Mort le roi Artu

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Unbekanntes, auf Wunder. Nur für Auserwählte sind diese erlebbar, nur für sie sind die Wege durchlässig. Als derartige Exklusiverscheinungen – wie es immer auch Visionen sind – verlangen sie vom Rezipienten festen Glauben.85 Und genau darin besteht die Funktion der ›Brandan-Folie‹ für den Lohengrin. Sie unterstützt die Entfaltung einer legendarisch oder christlich erweiterten Dimension der Artusritterfigur.86

6 Relevanz und Funktion des legendarischen Erzählens von Brandan Die christliche Dimension ist im Lohengrin nicht zu übersehen. Doch schon zu Beginn der Untersuchung stellte sich die Frage, ob es sich wirklich um »ChristusAnalogien«87 handelt oder ob nicht doch eher beim Rezipienten verschiedene Legenden aufgerufen werden, zu denen die Erzählung von Brandans Meerfahrt zählt. Exemplarisch wurden hier Elemente des Gralsromans hervorgehoben, die direkt oder verborgen – einem geschulten Rezipienten leicht zu entschlüsseln – in Text und Struktur auf den heiligen Abt verweisen können. Von einem sicheren Verweissystem zu sprechen, verbietet sich bei einem derart ausführlichen und breit schillernden Text, der sich aus vielen Gattungen und davon oft unabhängigen Motiven speist.88 Daher können zwar nur die Nennungen Brandans als sichere Hinweise gelten, andere inhaltliche Parallelkonstruktionen dürfen jedoch ergänzend hinzugenommen werden. V. a. in der Rahmung des Lohengrin erfüllt die Brandan-Analogie eine Funktion, die als konstitutiv für den Text betrachtet werden muss. So unglaubwürdig die Legende von den Meerwundern des Heiligen ist, so erfunden muss die Lohengrin-Erzählung zunächst wirken. Doch schon die Legende, auch die von Brandans Meerfahrt, übersteigt in ihren Ausformungen die »einfache Form«, indem

|| nach tödlicher Verwundung per Schiff zu jener fernen Feen-Insel ewigen Frühlings und ewigen Lebens entrückt wird.« 85 Vgl. dazu Köbele (wie Anm. 45), 384: »Auf dem Spiel steht also, mit der Glaubwürdigkeit des Wunders, v. a die Glaubwürdigkeit des Wunder-Erzählers, aber nicht nur sie allein, sondern auch die Glaubensbereitschaft des Lesers, unsere.« 86 Kerth (wie Anm. 21), 85, spricht von einer »Hybridisierung des Heldentypus«. 87 Cramer (wie Anm. 1), 182. 88 Kerth (wie Anm. 21), 13, spricht hier von »Motive[n], die wohl als gattungsneutral empfunden wurden«.

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sie »unterschiedliche Sinnbildungsleistungen«89 bietet. Wahrheit und Verbindlichkeit der Legende oder die Legende »als Inbegriff von Heilsgarantie und Wunderevidenz«90 bestätigen die Glaubhaftigkeit des Romans. So einfach diese Verbindung zunächst wirken mag, so vielschichtig wird sie weitergeführt.91 In vergleichbaren Figurenkonstruktionen, ähnlichen Motivgruppen und Verhaltensmustern bleiben beide Hauptpersonen einander nahe. Erst im Hauptteil werden die Analogien oder Anknüpfungspunkte zur Brandan-Folie schwächer; hin und wieder blitzen Stellen auf, die an den heiligen Abt denken lassen, etwa das plötzliche Eingreifen von weiß gekleideten Rittern in der Notlage mitten im Krieg gegen die Heiden. Doch die Analogien verschwimmen zunehmend – diverse Anspielungen können gedacht werden, Intertextualität zwischen diesen zwei spezifischen Texten wird immer undeutlicher und andere Gattungen und Texte gewinnen mehr Einfluss. Doch auch dann, wenn sich im Laufe der Lohengrin-Handlung Brandans Meerfahrt als ständiger Unterton irgendwann verliert, muss von einem Rezipienten ausgegangen werden, der diesen im Gedächtnis behält und ihn hin und wieder vernimmt. Gattungsinterferenz einerseits zur Beglaubigung einer Erzählerberufung,92 Wahrheitsbeteuerung der Gesamterzählung und andererseits zur Erweiterung und Erhöhung des Helden: so ist das Ergebnis dieser Untersuchung zusammenzufassen.93 Die Legende um Brandans Meerfahrt ist v. a. für den letzten Punkt nicht allein verantwortlich. Aber sie trägt den Helden weit in seine eigene

|| 89 Beide Zitate Müller (wie Anm. 41), 28. Vgl. dazu auch Köbele (wie Anm. 45). 90 Ebd., 368. 91 Kerth (wie Anm. 21), 41, warnt hier vor allzu einfachen intertextuellen Bezügen: »Vom bloßen Auftreten von Personen des eigenen Stoffkreises geht allerdings nur eine schwache intertextuelle Wirkung aus. Personenzitate stabilisieren die Gattung, aber ein dialogisches Verhältnis zu anderen Dichtungen ergibt sich erst, wenn ein identifizierbarer Prätext aufgerufen wird.« 92 Unter dieser Kurzformel sollen die Legitimierungsstrategien gefasst werden, die oben genannt wurden, wenn sich der Lohengrin-Erzähler auf Brandan als direkte Quelle beruft und sich zugleich selbst als einzig möglicher Erzähler erweist. Vgl. dazu Rainer Warning, »Berufungserzählung und Erzählerberufung. Hartmanns Gregorius und Thomas Manns Der Erwählte«, DVjs 85 (2011), 283–334. 93 Kerth (wie Anm. 21), 40, fasst die Funktionen von Gattungsinterferenzen folgendermaßen zusammen: »Einzeltextreferenzen liegen in ganz unterschiedlicher Form vor: Sie können sich auf eigene Werke desselben Autors oder eines anderen Verfassers beziehen, auf Texte der gleichen Gattung, aber auch anderer Gattungen. Auch die von den Verweisen ausgehende Wirkung kann ganz unterschiedlich sein: Abgrenzung; Kritik und Übertrumpfung; Anlehnung und Teilhabe am Renommee eines Autors/Werkes; literarisches Spiel; Gattungsstabilisierung oder Hybridisierung; Neuinterpretation des Prätextes und Erweiterung eigener Sinnperspektiven.«

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Geschichte hinein und stützt seine Legitimation trotz seiner mangelnden ritterlichen Erfahrung, erhebt ihn also erst zu Handlungsfähigkeit und bewahrt sie vor jedem Zweifel. Durch das analysierte Referenzsystem wird aus dem Gralsknaben Lohengrin ein Auserwählter, ein Ritter im Dienste des Grals, ein Kämpfer, ein Liebender,94 ein Wanderer und nicht zuletzt der Begründer eines neuen, geradezu von Gott eingesetzten Geschlechts. Der Verweis auf Heilsvermittlung und Reliquien, allen voran in der Erzählung von der Meerfahrt Brandans, wirkt sich in Form von Ehre und Erwähltheit bis in die Blutlinie aus, die in diesem Gralsroman initiiert wird. Legendarische, genealogische und chronikalische Erzählstränge sind dadurch aufs Engste im Roman miteinander verflochten. Brandan und Lohengrin gehen ein Stück des Wegs im Roman gemeinsam. Der zunächst laute harmonische Zweiklang wird im Verlauf immer leiser und kommt erst zum Schluss wieder zu Gehör, wenn der Schwan den Gralsritter wieder abholt. Die ohnehin vielschichtige Brandanlegende wirkt in vielerlei Zwischentönen in den Roman hinein, von den wichtigen Sinneseindrücken, Reiseund Raumvorstellungen, Visionselementen, der Konstruktion von Haupt- und Gegenfiguren bis hin zu Wahrheits- und Heilsanspruch im auf Erden zurückgelassenen Erbe.

|| 94 Heinrichs (wie Anm. 57), 45, sieht auch in der Verbindung mit Elsa eine symbolische »Verbindung Christi mit der Menschheit und seine Wirksamkeit in dieser und für diese Darstellung [...], und zwar: die Verbindung Christi mit der einzelnen Seele und zugleich mit der Kirche unter dem uns auch sonst geläufigen biblischen Bilde von Bräutigam und Braut, und zwar in der Verbindung Lohengrins mit der Elsa von Brabant«.

Christoph Schanze, Matthias Kirchhoff

Interferenzen zwischen Artusroman und Minnesang Eine Standortbestimmung mit Blick auf die Gasoein-Episode der Crône Heinrichs von dem Türlin Abstract: Compared with their equivalents in medieval Romance literature, there are relatively few generic interferences between Middle High German Minnesang and Arthurian narrative fiction. However, recent research has paid considerable attention to interpretative aspects arising from cross-genre interference between medieval German lyrical and epic texts. This paper examines the current state of debate and discusses some of the methods proposed. Focusing on the Gasoein episode in Heinrich von dem Türlin’s 13th-century Arthurian romance Diu Crône, an exemplary interpretation is presented to elucidate the significance of generic interferences and their importance as a key to the understanding of medieval German literary works in which they occur.

1 Zwischen Lyrik und Epik Die Wechselbeziehungen zwischen mittelhochdeutscher Lyrik und epischen Texten des hohen und späten Mittelalters sind schon öfter Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gewesen, obgleich sie weniger augenfällig und durch weniger Beispiele belegt sind als die generischen Interferenzen in der französischen und okzitanischen Literatur des Mittelalters. Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius haben festgehalten: »Die germanistische Mediävistik kann ihre europäischen Nachbar- und Grundlagenphilologien um diese Evidenz ihrer Gegenstände nur beneiden«.1 Dennoch werden generische Verknüpfungen zwischen Lyrik und Epik in der mittelhochdeutschen Literatur unter vielerlei Gesichtspunkten untersucht: Zu nennen sind etwa überlieferungsgeschichtliche und editionsphilologische Überlegungen, die u. a. Franz-Josef Holznagel und Thomas Bein mit Blick

|| 1 Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius, »Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik«, in: dies. (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 1–39, v. a. 3–15 (Zitat: 5).

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auf den Rappoltsteiner Parzival und dort inserierte Minnelyrikstrophen vorgelegt haben,2 oder eine von Timo Reuvekamp-Felber unter dem Schlagwort ›Interfiguralität‹ ausgearbeitete Typologie figurenbezogener Relationierungen beider Genera. Ihm geht es um die Frage, welche Konnotationen aufgerufen werden, wenn Namen aus dem Bereich der matière de Bretagne, z. B. derjenige Gahmurets, Parzivals oder Tristans, in lyrischen Texten Erwähnung finden.3 Deutlich grundsätzlicherer Art sind Überlegungen Manuel Brauns und Hartmut Bleumers, inwiefern sich die Unterscheidung zwischen Epik und Lyrik überhaupt aufrecht erhalten lasse bzw. ob zwischen Lyrischem und Epischem nicht insofern eine ›generische Paradoxie‹ vorliege, als das Lyrische, wie von Bleumer am Tristan exemplifiziert, gerade die Folie des Narrativen benötige, um überhaupt hinreichend zur Geltung kommen zu können.4 Es gibt also ein gewisses Interesse besonders der jüngeren Forschung an generischen Interferenzen zwischen Lyrik und Epik. Diesem Interesse korrespondiert der Befund, dass sich Gattungsverknüpfungen mit der Lyrik an diversen epischen Texten des 12. und 13. Jh. festmachen lassen. Wir nennen einige Beispiele: 1. Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst: Dort bilden Minnelieder Konstitutiva der epischen Handlung, was freilich ein Sonderfall in der deutschsprachigen Epik des Mittelalters ist.5 Rechnet man den Frauendienst der Lyrik zu, ist er ebenfalls als Sonderfall zu klassifizieren, denn in der mittelhochdeutschen Lyrik ist

|| 2 Vgl. Franz-Josef Holznagel, »Minnesang-Florilegien. Zur Lyriküberlieferung im Rappoltsteiner Parzival, im Berner Hausbuch und in der Berliner Tristan-Handschrift N«, in: Rüdiger Krohn (Hrsg.), ›Dâ hœret ouch geloube zuo‹. Überlieferungs- und Echtheitsfragen zum Minnesang. FS Günther Schweikle, Stuttgart, Leipzig 1995, 65–88; Thomas Bein, »Walther und andere Lyriker im Rappoltsteiner Florilegium. Zum Spannungsfeld von Poetik, Textkritik und Edition«, in: Thomas Cramer, Ingrid Kasten (Hrsg.), Mittelalterliche Lyrik: Probleme der Poetik, Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), 169–196. 3 Timo Reuvekamp-Felber, »Literarische Formen im Dialog. Figuren der matière de Bretagne als narrative Chiffren der volkssprachigen Lyrik des Mittelalters«, in: Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 243–268. 4 Vgl. Manuel Braun, »Epische Lyrik, lyrische Epik. Wolframs von Eschenbach Werk in transgenerischer Perspektive«, in: Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 271–308; Bleumer/Emmelius (wie Anm. 1), 10; Hartmut Bleumer, »Gottfrieds Tristan und die generische Paradoxie«, PBB 130 (2008), 22–61. 5 Vgl. zur »generisch-paradoxe[n] Situation«, die den Frauendienst prägt, z. B. Hartmut Bleumer, »Minnesang als Lyrik? Desiderate der Unmittelbarkeit bei Heinrich von Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadlaub«, Wolfram-Studien 21 (2013), 164–201, v. a. 184–192 (Zitat: 186); vgl. auch ders., »7. Narrativik: Der Frauendienst als narrative Form«, in: Sandra Linden,

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das aus der provenzalischen Dichtung stammende Modell, ein Lied durch vida oder razo episch zu rahmen, ansonsten unbekannt. 2. Die auffälligen formalen und auch inhaltlichen Entsprechungen zwischen strophisch verfasster Heldenepik und (frühem) Minnesang: Am prägnantesten treten diese bei einer Gegenüberstellung des Falkentraums Kriemhilds in der ersten Aventüre des Nibelungenlieds mit dem »Falkenlied« des Kürenbergers (MF 8, 33) hervor. 3. Gottfrieds Tristan mit seiner den gesamten Roman durchziehenden ›lyrischen Präsenz‹.6 Die Bedeutung des Minnesangs tritt auch in einzelnen Episoden des Tristan hervor – Gandin, Irlandfahrt, Isolde Weißhand –7 und konturiert den Protagonisten insgesamt. 4. Die Morungen-Referenzen in Herborts von Fritzlar Liet von Troye, auf die u. a. Rüdiger Schnell und Armin Schulz Bezug genommen haben.8 5. Das sechsstrophige, formal ungewöhnliche Frauenpreislied, das der Pleier in den Prolog seines Artusromans Tandareis und Flordibel integriert hat,9 ohne dieses Einsprengsel auch nur ansatzweise zu erläutern. Auch hierbei handelt es sich, soweit wir sehen, in der mittelhochdeutschen Literatur um einen Sonderfall. 6. Nicht zuletzt das eigentümliche Gattungs-Experiment des Titurel Wolframs von Eschenbach: Hier ergeben die sangbare strophische Form, die Minneleidthematik und die relative Kürze einerseits, der direkte Konnex mit Figuren und

|| Christopher Young (Hrsg.), Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung, Berlin, New York 2010, 358–397. 6 Vgl. Bleumer (wie Anm. 4). 7 Vgl. dazu – neben Bleumer (wie Anm. 4) – z. B. Ulrike Draesner, »Zeichen – Körper – Gesang. Das Lied in der Isolde-Weißhand-Episode des Tristan Gotfrits von Straßburg«, in: Michael Schilling, Peter Strohschneider (Hrsg.), Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, Heidelberg 1996 (Beihefte zur GRM 13), 77–101, sowie Christian Buhr, »Îsôt nâch Îsôte. Lyrisches im Tristan Gottfrieds von Straßburg«, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 252 (2015), 1–22. 8 Vgl. Rüdiger Schnell, »Andreas Capellanus, Heinrich von Morungen und Herbort von Fritslar«, ZfdA 104 (1975), 131–151; Armin Schulz, »Minnedämmerung? Zur Funktion von MinnesangZitaten in Herborts von Fritzlar Liet von Troye«, in: Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 309–326. 9 ›Tandareis und Flordibel‹. Ein höfischer Roman von dem Pleiære, hrsg. von Ferdinand Khull, Graz 1885, V. 103–138. Das Reimschema aab-ccb lässt eine stollig gebaute Strophe ohne Abgesang vermuten. Eine ausführlichere Analyse dieser kaum beachteten Kombination von Roman und Minnelied wäre wünschenswert.

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Handlungselementen des Parzival andererseits ein besonders auffälliges mixtum compositum.10 Dennoch gilt, dass generische Interferenzen zwischen den beiden Gattungen Artusroman und Minnesang in mittelhochdeutschen Texten eher selten vorkommen. Dies erstaunt aufgrund der Vielfältigkeit, Langlebigkeit und Prominenz beider Textsorten im hohen und späten Mittelalter; umso mehr, wenn man bedenkt, dass Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach, die Paradigmensetzer des Artusromans im deutschsprachigen Raum, auch Minnelieder dichteten. Ausweislich der Autorbilder in den Lyriksammlungen B und C wurden sie durch die Nachwelt aber jeweils dem ritterlichen Kampf und nicht z. B. der Vortragskunst oder der Minnewerbung zugeordnet. Wolfram rühmt sich zudem in seinem Parzival bekanntlich, »ein teil mit sange« (114, 13) zu können.11 So erscheinen die beiden Dichter in der Selbstdarstellung wie auch in der Wahrnehmung der Rezipienten als kompetent in beiden Bereichen.

2 Der Wunsch nach Intergenerik Angesichts der seltenen unmittelbaren Berührung von Artusroman und Minnesang könnte man vermuten, dass der Wunsch, beide Gattungen verknüpft zu finden, dazu geführt haben mag, generische Interferenzen zu behaupten oder zu insinuieren. So wurde etwa seit einem kurzen Aufsatz Arne Holtorfs von 196712 öfters darüber nachgedacht, ob die sieben anonym überlieferten Minnestrophen im sogenannten Rappoltsteiner Florilegium13 einen belastbaren Bezug zum epischen Überlieferungsnachbarn, dem Rappoltsteiner Parzival, erkennen lassen. Hierin wollten sowohl Holtorf selbst als auch andere Interpreten14 eine konzep-

|| 10 Grundlegend Max Wehrli, Wolframs ›Titurel‹, Opladen 1974 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge G 194); vgl. dazu z. B. Hartmut Bleumer, »Titurel. Figurationen der Zeit zwischen Narrativik und Lyrik«, Poetica 43 (2011), 227–266, sowie Braun (wie Anm. 4), 297–307. 11 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und komm. von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8/Bibliothek deutscher Klassiker 110). 12 Arne Holtorf, »Eine Strophe Reinmars von Brennenberg im Rappoltsteiner Parzival«, ZfdA 96 (1967), 321–328. 13 So nennt Bein (wie Anm. 2) die in den Rappoltsteiner Parzival inserierte Lyrik-›Sammlung‹. 14 Vgl. v. a. Holznagel (wie Anm. 2), vorsichtiger Bein (wie Anm. 2), dessen Aufsatz aber auch einen anderen thematischen Schwerpunkt hat.

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tionelle Beziehung zwischen dem Roman und den Lyrikinseraten als konstitutiven Elementen des minnenbuoches (vgl. 849, 44) sehen, als das der Rappoltsteiner Parzival im Epilog bezeichnet wird.15 Ein anderes Beispiel: Bis auf eine Strophe Heinrichs von Veldeke sind es keine Beispiele aus dem Minnesang, sondern aus der Sangspruch- und Leichdichtung, auf die Timo Reuvekamp-Felber zurückgreift, um sein Konzept der ›Interfiguralität‹ anhand der Übernahme von Figuren und Figurenensembles der matière de Bretagne in die Lyrik des 12. bis 14. Jh. zu erläutern. Dieser Umstand tritt bei Reuvekamp-Felber freilich kaum hervor: Von den 69 Namen, die in Des Minnesangs Frühling vorkommen,16 bleibt aus der Gattung Minnesang einzig eine Tristannennung bei Veldeke, die für Reuvekamp-Felbers Argumentation Relevanz besitzt.17 Zu nennen sind außerdem die Annahmen, amoene Orte in Artusromanen stünden in direkter Abhängigkeit vom locus amoenus im Minnesang18 oder in Wolframs Tageliedern sei eine sukzessive Episierung zu sehen,19 obwohl die Chronologie dieser Texte gänzlich unbekannt ist. Wir wollen vorschlagen, in Bezug auf die Interferenzen zwischen mittelhochdeutscher Artusdichtung und Minnesang zurückhaltender vorzugehen. Relationen zwischen den Genera sind in Einzelfällen vorhanden und auf verschiedenen Ebenen zu plausibilisieren. Dafür ist aber mitunter der Status des ›Experiments‹20 oder der Rückgriff auf eher randständige Texte nötig. Der Minnelyrik eignet zumindest im deutschsprachigen Raum offenbar wenig Arthurisches. Genauso verhält es sich umgekehrt. Könnte es daher nicht auch sinnvoll sein, diesen Befund einzugestehen und ihn, davon ausgehend, näher zu betrachten und neu zu perspektivieren? Hierfür wollen wir im Folgenden zwei Anregungen geben: Die erste (3.) soll dabei kaum mehr als angerissen, die zweite (4.) hingegen ausführlich dargestellt werden.

|| 15 Zitierte Ausgabe: ›Parzifal‹ von Claus Wisse und Philipp Colin (1331–1336). Eine Ergänzung der Dichtung Wolframs von Eschenbach, zum ersten Male hrsg. von Karl Schorbach, Straßburg, London 1888 (Elsässische Literaturdenkmäler aus dem XIV–XVII. Jahrhundert), Nachdruck Berlin, New York 1974. 16 Vgl. Reuvekamp-Felber (wie Anm. 3), 247. 17 Zu den nicht vorhandenen Referenzen auf den Artusstoff in Des Minnesangs Frühling vgl. auch Manfred Kern, Edle Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik von 1180–1300, Amsterdam, Atlanta 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135), 229. 18 Diesen Eindruck erweckt der Aufsatz zu Herborts Liet von Troye von Schulz (wie Anm. 8), v. a. 320–324. 19 Vgl. Braun (wie Anm. 4), v. a. 273–281. 20 Vgl. z. B. ebd., 272f.

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3 Perspektiven Es wäre unserer Ansicht nach geboten, zunächst einmal die G r ü n d e dafür in den Blick zu nehmen, warum Minnesang und Artusroman in der mittelhochdeutschen Literatur anscheinend in einer Art Ausschlussverhältnis zueinander standen. Diverse Aspekte mögen dafür ausschlaggebend sein. Manche davon sind wohl recht banal, wie etwa die Feststellung, dass die eine Textsorte letztlich den Weg zu Leid und Verzweiflung, die andere aber den Bewährungs- und Rehabilitationskursus zum Glück exemplifiziert. Konnotate der jeweils komplementären Textsorte stehen also von vornherein im Verdacht, nur irreleitende oder kontrastierende Wegmarken entlang eines an sich gänzlich anderen Schicksalsverlaufs zu sein – man denke etwa an Gaweins minne-indiziertes Irregehen in verschiedenen Artusromanen21 oder an die Frauenprobleme des Tandareis im zweiten Teil des Pleierʼschen Romans.22 Gottfrieds Tristan entspricht hingegen mit seiner Tendenz zur Ubiquität von (Liebes-)Leid und Untergang eher den ›Qualitäten‹ der hohen Minne, so dass die oben genannten Entsprechungen auch hier ihren Ursprung haben könnten. Ähnliches gilt für das »Falkenlied« des Kürenbergers, das formal und inhaltlich zusammen mit dem Typus der unglücklichen, verlassenen Frau, der die Minnelieder des frühen (›donauländischen‹) Minnesangs prägt, im Nibelungenlied aktualisiert wird. Ein anderes Beispiel: Bekanntlich sind Artusromane in der Regel auch Erzählungen, die die Affirmation der Ehe bzw. die Erlangung derselben thematisieren, was eine unüberbrückbare Differenz zur Liebessemantik der hohen Minne im Minnesang bedeutet. Der Umgang mit Frauen in Artusromanen ist mitunter aufsehenerregend fragwürdig – etwa der Erecs, Gahmurets und auch Parzivals – oder von einer Art Funktionslogik bestimmt wie etwa im Falle des Rates der Lunete im Iwein. Beides widerspricht dem doch sehr spezifischen Konzept der hohen Minne. Könnte es zuletzt nicht z. B. eine tragfähige, wenn auch schwerlich als richtig oder falsch zu erweisende Vermutung sein, dass das weitreichende gattungsmä-

|| 21 Vgl. Walther Haug, »Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer ›nachklassischen‹ Ästhetik«, DVjs 54 (1980), 204–231. Haug spricht mit Blick auf Gaweins wichtige Rolle in den ›nachklassischen‹ Artusromanen von dessen »kleine[r] Schwäche für Frauen« (207). 22 Vgl. dazu z. B. Björn Reich, »Der provozierte Rezipient. Schemabrüche und Schemaübersteigerungen beim Pleier«, in: Cora Dietl u. a. (Hrsg.), Ironie, Polemik und Provokation, Berlin, Boston 2014 (SIA 10), 239–255, hier: 249–252.

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ßige Auseinanderhalten von Minnesang und Artusroman für einen Vortragskünstler wie Wolfram von Eschenbach auch dem Wunsch nach einer gewissen Bandbreite des Repertoires und damit letztlich ›wirtschaftlichen‹ Überlegungen geschuldet war und deswegen der Versuch, beide Ebenen im Titurel zu überblenden, in ein fragmentarisches ›Experiment‹ ausgelagert wurde; eben einen Zwitter aus Wolframs epischem Strophengesang der zum genre objectif zählenden Tagelieder und dem Stoff- und Motivrepertoire des Parzival? Jedenfalls erscheint uns ein genaueres Nachdenken über den Umstand, dass Minnesang und Artusroman auffällig wenige Gemeinsamkeiten und generische Interferenzen aufweisen, lohnend. Damit lässt sich insofern heuristisch Neuland betreten, als erst die Auseinandersetzung mit möglichen Gründen dafür die Beschäftigung mit der Frage nahelegt, warum eigentlich der Befund für die Beziehung zu jeweils anderen Textsorten: Artusepik und Sangspruch, Minnesang und Tristandichtung etc. so unterschiedlich ausfällt. Dies müsste dann auch eine Erweiterung der Perspektive auf andere volkssprachige Literaturen des hohen und späten Mittelalters einschließen.

4 Minnesang, episch-arthurisch: Die Gasoein-Episode der Crône Für die Sichtweise, die die ersten Abschnitte unseres Beitrags bestimmt, gewinnen die wenigen Passagen in Artusromanen einen neuen Stellenwert, die über die genannten motivischen oder semantischen Elementarentsprechungen hinaus explizite Beziehungen zu Konzepten oder typischen Situationen des Minnesangs herstellen. Durch narrativ erzeugte Gattungsinterferenzen generieren sie eine Art ›struktureller Präsenz‹ von Minnesang im Artusroman (im Unterschied zur ›materialen‹ Präsenz von Minnelyrik in der erwähnten handschriftlichen Überlieferung). Das ist beispielsweise in der Elternvorgeschichte im Wigalois Wirnts von Grafenberg mit Jorams ›Werbung‹ um Königin Ginover zu beobachten23 – oder auch in der Gasoein-Episode in der Crône Heinrichs von dem Türlin.24

|| 23 Vgl. dazu Christoph Schanze, »Jorams Gürtel als ›Ding‹. Zur Polysemie eines narrativen Requisits«, PBB 135 (2013), 535–581, v. a. 557–560. 24 Ist es lediglich Zufall, dass die als Beispiele angeführten Passagen mit einer Werbung um Königin Ginover zusammenhängen, oder hat dies damit zu tun, dass das Motiv der Werbung um eine unerreichbare (verheiratete) Frau der Ausgangskonstellation der hohen Minne entspricht? Zu betrachten wären hier noch die Entführung Ginovers im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven

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Um letztere soll es im Folgenden gehen, womit wir lediglich e i n e mögliche Lesart dieser Passage des komplexen Romans vorlegen.25 Die Episode stellt mit Blick auf unsere Fragestellung insofern eine Ausnahme dar, als sie, soweit wir sehen, abgesehen von dem Sonderfall Tristan26 das einzige Beispiel dafür ist, dass eine handelnde Figur in einem (arthurischen) Roman dezidiert als Minnesänger auftritt. Die Gasoein-Episode mit ihrer Infragestellung der Liebe zwischen Artus und Ginover und dem Motiv der angedeuteten Untreue der Königin bildet einen von zwei zentralen, eng miteinander verknüpften und parallel geführten Problemkomplexen der A r t u s h a n d l u n g im ersten Teil der Crône;27 der zweite ist die Frage nach dem Zustand des Artushofes und dem der Artusidealität insgesamt: Beide, der Hof und seine postulierte Idealität,28 erscheinen zu Beginn der Handlung empfindlich gestört,29 wie die Ereignisse während des weihnachtlichen Hoffestes in Tintaguel zeigen. Zwar besteht Artus die dort stattfindende Becherprobe

|| bzw. in Chrétiens de Troyes Chevalier de la Charrette als Präszene der Entführung in der Crône sowie die Gandin-Episode im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Zum Themenkomplex der Ginover-Entführung vgl. Klaus Grubmüller, »Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung«, in: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hrsg.), Positionen des Romans im späten Mittelalter, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 1), 1–20, sowie Armin Schulz, »Der Schoß der Königin. Metonymische Verhandlungen über Macht und Herrschaft im Artusroman«, in: Matthias Däumer u. a. (Hrsg.), Artushof und Artusliteratur, Berlin, New York 2010 (SIA 7), 119–135. 25 Zur komplexen ›Poetik‹ der Crône vgl. z. B. Hartmut Bleumer, Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans, Tübingen 1997 (MTU 112); Nicola Kaminski, ›Wâ ez sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt‹. Abgründiges Erzählen in der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin, Heidelberg 2005; Justin Vollmann, Das Ideal des irrenden Lesers. Ein Wegweiser durch die ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin, Tübingen, Basel 2008 (Bibliotheca Germanica 53). 26 Einen Vergleich der ›Sonderfälle‹ Tristan und Gasoein unternimmt Kaminski (wie Anm. 25), 184–199. 27 Zur Zweiteiligkeit des Romans sowie zur Gliederung und zu den verschachtelten Handlungssträngen vgl. z. B. die Übersicht bei Vollmann (wie Anm. 25), 12–17. 28 Vgl. z. B. die Beschreibung des Artushofs in Tintaguel anlässlich des großen Weihnachtsfestes, mit dem die eigentliche Handlung einsetzt: Der Ruhm der Tafelrunde beruhe auf den »tugentreiche[n]« (V. 630) Taten der Tafelrunder, der Artushof sei voller Freude (V. 632: »Nu was der hof iojær gantz«), so der Erzähler. Zitierte Ausgabe: Heinrich von dem Türlin, ›Die Krone‹ (Verse 1–12281), nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal und Horst P. Pütz hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner, Tübingen 2000 (ATB 112); Heinrich von dem Türlin, ›Die Krone‹ (Verse 12282– 30042), nach der Handschrift Cod. Pal. germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg nach Vorarbeiten von Fritz Peter Knapp und Klaus Zatloukal hrsg. von Alfred Ebenbauer und Florian Kragl, Tübingen 2005 (ATB 118). – Die Übersetzungen stammen hier und im Folgenden von uns. 29 Vgl. dazu zusammenfassend Vollmann (wie Anm. 25), 58f.

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(V. 466–3207), aber sämtliche seiner Ritter versagen – wie zuvor auch die Damen der Hofgesellschaft. Im Anschluss an das Fest mit der Becherprobe wird deutlich, dass Artus die Kontrolle über sein Gefolge gänzlich verloren hat, denn Gawein bricht mit einem Großteil der Ritter heimlich zur Turnierfahrt nach Jaschune auf (V. 3218–64). Lediglich die drei Ritter Key, Gales und Aumagwin bleiben zurück, um den zürnenden Artus zu unterhalten: Die muosten bei dem chvnig sin, Daz er mit in die zeit vertribe, Seid er so ein belibe, Vnd seinem zorn baz entlibe. (V. 3269–72) Die mussten beim König verweilen, damit er sich mit ihnen die Zeit vertriebe und schneller von seinem Zorn abließe, da er so einsam zurückblieb.

Das ist die Ausgangssituation für die Gasoein-Handlung. Wir skizzieren zunächst die Ereignisse um Artus, Ginover und Gasoein de Dragoz:30 Artus geht mit den drei bei ihm gebliebenen Rittern bei klirrender Kälte auf die Jagd. Bei seiner Rückkehr wärmt er sich am Feuer und wird deshalb von Ginover verspottet. Sie erzählt von einem Ritter, den sie kenne und der jede Nacht, auch bei strengstem Frost, nur »ein weizez hemed« (V. 3409) trage, umherreite und dabei »von minnen süezen sanch« (V. 3412) hören lasse. Artus wird zunächst traurig, ärgert sich dann über den Spott seiner Frau und bricht mit seinen drei Gefährten auf, um der Geschichte auf den Grund zu gehen. Die vier Ritter lauern Gasoein nächtens auf und frieren wiederum erbärmlich. Als der leichtbekleidete, singende Ritter tatsächlich erscheint, unterliegen Key, Gales und Aumagwin nacheinander in der Tjost, nachdem Gasoein der Aufforderung, seinen Namen zu nennen, nicht nachkommen will. Der finale Kampf zwischen Artus und Gasoein bleibt unentschieden. Im Gespräch stellt sich heraus, dass Gasoein auf der Suche nach Artus ist; er verkündet, ältere Ansprüche auf Ginover zu besitzen, und zeigt als Beweis ein Minnepfand vor – den Fimbeus-Gürtel. Ein Gerichtskampf zwischen Gasoein und Artus in Karidol wird vereinbart. Gasoein bricht den Kampf jedoch mit der Begründung ab, der Anlass für den Kampf könne beide den Ruf kosten. Man einigt sich darauf, Ginover wählen zu lassen. Sie entscheidet sich nach langem Zögern für Artus. Ihr Bruder Gotegrin sieht durch das seltsame Verhalten der Königin die Familienehre verletzt und entführt sie, um sie mit dem Tode zu bestrafen. Gasoein kann Ginover aus dieser Gefahr retten, versucht nun aber, Ginover zu vergewaltigen. Gawein, der eben in den arthurischen Kreis zurückkehrt, verhindert dies. Der anschließende lange Kampf zwischen Gawein und Gasoein endet unentschieden und wird vertagt. Man kehrt zum Artushof zu-

|| 30 So der vollständige Name, der bei der ersten Namensnennung (V. 4775: »Gasoein de Dragoz«) sowie anlässlich der Verlobung mit Sgoydamur (V. 13847: »Er heiszet Gasozein de Tragoz«) angeführt wird. Er dürfte den Namenslisten aus Chrétiens bzw. Hartmanns Erec entstammen. Vgl. Gudrun Felder, Kommentar zur ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, Berlin, New York 2006, 137.

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rück, die Kämpfer werden in den Wochen bis Pfingsten geheilt, doch kurz vor dem Hoftag, an dem der Entscheidungskampf stattfinden soll, versöhnen sich Gasoein und Artus. Mit einer Doppelhochzeit – Gawein heiratet Amurfina, Gasoein Sgoydamur – endet der erste Teil der Crône.

Dass Gasoein als Minneritter, mehr noch als Minne- › S ä n g e r ‹ dargestellt wird, ist eine alles andere als neue Erkenntnis: Ginover erzählt Artus davon, dass Gasoein allnächtlich »von minnen süezen sanch« (V. 3412) erklingen lässt, »Durch den willen der amyen sin«, mit »Flacher stimme vnd slehter cheln« (V. 3414f.), und dass »Sein hertz gar nah vrœden spilt« (V. 3418), weil es »der minne got gebot« (V. 3419). Die Königin betont, dass er »hebet vil schone / Seinen sanch in reichem done« (V. 3425f.), und kündigt an: »Jch lob, daz man im lone« (V. 3427). Diese »überzeichnet[e]« Schilderung Gasoeins ruft offensichtlich den »literarischen Typus des bedingungslosen Minnedieners«31 auf. Der Erzähler bestätigt bei der Schilderung der Kämpfe an der Furt gleich mehrfach Ginovers Geschichte und Gasoeins Status als Minneritter und Minnesänger: Gasoein reitet singend32 und nur mit einem weißen Hemdlein bekleidet von Tjost zu Tjost. Er steht damit in denkbar großem Kontrast zum frierenden Artus. Auch Artus’ Zusammenfassung der Ereignisse gegenüber seinem Hofrat in Karidol vor dem Entscheidungskampf (V. 10154–10325) unterstreicht Gasoeins Status als Minnesänger: Ginover habe ihm berichtet, der fremde Ritter »sunge von minne einen sanch« (V. 10201) und habe »Ein flache stimme vnd hel« (V. 10202). Schließlich weist Gasoeins von »vrowe Minne« (V. 10525) verliehene Helmzier – ein »chleinot« (V. 10524): »Durch ein hertz ein scharpf stral / Von gold vnd von hertem stal« (V. 10526f.)33 – den Ritter als genuin dem Minnedienst zugeordnet aus, wie auch der Blumenkranz, den er trägt. Kurz: Gaosein ist die »Personifikation des Minnesangs«.34

|| 31 Beide Zitate Felder (wie Anm. 30), 42. 32 V. 3720–22: »Ein schanzvn er lute sanc, / Daz im div gaudin erchlanch / Von vrœden vnd minnen«; V. 4026f.: »Nv dauht in, wie er [Gales] hœrt / Den riter [Gasoein] singen«; V. 4295f.: »Der riter vuort sein örs dan / Vnd huob aber sein sanc«. 33 Gasoeins Helmzier erinnert an die von Vulkan für Tristan verfertigte, die Gottfried ausdrücklich als Signum der Liebesqual bezeichnet: »wie er’m den helm betihte / und oben dar ûf rihte / al nâch der minnen quâle / die viurîne strâle« (V. 4943–46). Zitierte Ausgabe: Gottfried von Straßburg, Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., übers. und komm. von Rüdiger Krohn, 3 Bde., 3., durchges. Aufl., Stuttgart 1984. Vgl. zu diesem intertextuellen Verweis auf die Tristan-Geschichte Bleumer (wie Anm. 25), 50–52. 34 Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts, Heidelberg 1994 (Beihefte zur GRM 12), 100 und 105, ähnlich auch 94.

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Im Zusammenhang mit der Darstellung Gasoeins als Minneritters u n d Minnesängers wurde bisher noch nicht genügend beachtet, dass sich 1. über Gasoeins Singen hinaus zahlreiche weitere Aspekte der Gasoein-Figur mit Blick auf das Modell ›Minnesang‹ vielleicht besser als ohne diese Vergleichsfolie verstehen lassen, dass 2. die gesamte Episode systematisch mit Anklängen an den Minnedienst und das Ideal der hohen Minne durchsetzt ist, und dass 3. das Verhalten von Artus und seinen Rittern aus dieser Perspektive gewissermaßen eine Kontrafaktur zu Gasoeins Minnesänger-Habitus bildet. Der Erzähler betreibt in dieser Episode einen auffällig großen Aufwand, um die Aventüre-Semantik des arthurischen Romans mit der Semantik der hohen Minne der Minnelyrik zu überschreiben. Zunächst zu Gasoein. Er wird durch Ginover quasi mit einem ›Natureingang‹ eingeführt: Er ist aber bechant vil. Wan in eys vnd der sne Niht mer entwelt dann der chle Deheinr seiner reise. Wan im des vrostes vreise Ze deheiner zeit nimer tuot Dann sumers hitz vnd bluomen bluot. (V. 3398–3404) Er ist allerdings weithin bekannt, denn Eis und Schnee behindern seine Ausfahrten nicht mehr als der Klee, und der grimmige Frost beeinflusst ihn niemals mehr als die Hitze des Sommers und das Blühen der Blumen.

Gasoein wird in der Beschreibung seines Verhaltens in eine anti-kausale Beziehung zur Natur und zu den Jahreszeiten gesetzt. Wie ein Minnesänger lässt er sich weder von der Kälte des Winters noch von der Sommerhitze und der Schönheit der Blumen von seinem Tun abbringen. Er friert nicht wie Artus und seine Ritter, sondern singt seine süßen Lieder.35 Bei Gasoeins Aufeinandertreffen mit Key zeigt sich die Wirkung dieser Lieder: Ein schanzvn er lute sanc, Daz im div gaudin erchlanch Von vrœden vnd minnen. (V. 3720–22).

|| 35 Anders als bei den angeblich durch eine locus amoenus-Beschreibung erzeugten generischen Interferenzen in Herborts Liet von Troye ist hier der Verweis auf den Minnesang deutlich weniger fraglich, weil eben nicht nur das Motiv des ›Natureingangs‹ zitiert wird, sondern weil es um dessen spezifische Wirkung auf das ›Ich‹ geht.

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Er [Gasoein] sang laut ein Lied, so dass ihm der Wald von Freude und Minne widerhallte.

Das Lied ist die Ursache dafür, dass der Wald vom Klang von Freude und Liebe erfüllt ist. Als Key das Lied hört, fühlt er sich deshalb wie im Traum (V. 3723f.). Das hat freilich auch damit zu tun, dass Key zuvor eingeschlafen war, während er auf den fremden Ritter gewartet hatte (V. 3698). Auch für Gales, den zweiten der auf der Lauer liegenden Artusritter, werden Gasoeins Stimme und sein Gesang zu dessen unverkennbarem Signum: »Nu dauht in, wie er hœrt / Den riter singen« (V. 4026f.). Gales spricht Gasoein an: Sein Agieren gereiche ihm zur Ehre, gleich, ob er »von weibe / Oder von anderre schulde« (V. 4076f.) so handle. Seine Mühe – gemeint ist der Ausritt bei Frost – werde ihm sicherlich gelohnt (V. 4083f.). Hier klingt das typische Dienst-LohnVerhältnis der hohen Minne an. Zwar gibt es solche Konstellationen auch im Roman, die Vorzeichen, unter denen Gasoeins Erscheinung steht, rücken Gales’ Lohn-Zuspruch aber in ein spezifisch minnesang-semantisches Licht, zumal Ginover gegenüber Artus bereits angekündigt hatte, dass man den fremden Ritter belohnen werde (V. 3427). Das wissen hier zwar weder Gasoein noch Gales, wohl aber der Erzähler und die Rezipienten des Romans. Zudem betont Gasoein in seiner Antwort gegenüber Gales, bei seiner Aventüre-Suche völlig unabhängig von den äußeren Einflüssen der Natur zu sein: Jch sag wol, ich bin ein man, Der auentivr suochet Vnd des niht enruochet, Wederz warm sei oder chalt. Mir ist der snegreise walt Ze reise also mære, Sam ez heiziv svnne wære. (V. 4105–11) Ich sage es deutlich, ich bin ein Mann, der Aventüre sucht und sich weder um Wärme noch Kälte schert. Mir ist unterwegs der schneeweiße Wald genauso lieb, als wenn die heiße Sonne schiene.

Gasoeins genuin ritterliche Tätigkeit – die Aventüre-Suche – wird hier erneut umsemantisiert: Sein Status als Ritter wird mit dem des von der Witterung völlig unbeeinflussten Minnesängers überschrieben. Dazu passt auch die nicht vorhandene ritterliche Ausrüstung, was Gales spöttisch erwähnt: »Jr habt niht an dem

|| 36 Zur Übersetzung von gaudin als ›Wald‹ (zu afrz. gaudine »Gehölz, waldige Gegend«, in dieser Bedeutung nicht in den Wörterbüchern verzeichnet; Lexer, Bd. 1, 744, gibt lediglich »freude, freudengelage« an) vgl. Felder (wie Anm. 30), 133f. (Komm. zu V. 3308).

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leibe, / Daz entoht einem weibe« (V. 4184f.).37 Auch durch diesen Umstand fehlt ihm der Status eines ›normalen‹ Ritters: Der so ›effeminierte‹ Ritter gehört einer gänzlich anderen Sphäre als der arthurischen an. Im Gespräch mit Artus betont Gasoein ebenfalls die »literarische Fundierung seiner Rolle«,38 indem er ausdrücklich auf das êre-Konzept der hohen Minne verweist – passend zu dem Modell, das er im gesamten ersten Teil der Episode verkörpert. Artus beharrt darauf, dass Ginover vor ihm keinen anderen Mann gehabt habe, um so den impliziten Vorwurf der Unehrenhaftigkeit abzuwehren. Gasoein argumentiert aber semantisch andersartig, wenn er betont, dass er mit seiner Behauptung Ginover nicht entehren wolle: ›Her chünig‹, sprach Gasoein, ›Dise red ich niendert mein Meiner vrowen zvneren. Jch wolt ir e meren Jr preis vnd ir werdecheit, E ich sei immer angeseit, Des ir laster wære. (V. 4938–44) ›Herr König‹, sagte Gasoein, ›meine Äußerungen dienen nicht dazu, meiner vrouwe die Ehre abzusprechen. Eher wollte ich ihren Ruhm und ihre Ehre mehren, als dass ich sie einer Verfehlung bezichtigte.

Daraus gewinnt Gasoein unmittelbar ein Argument für sein Anliegen: Es sei »erbære / Daz ich von ir geseit han, / Wan ich ze reht pin ir man« (V. 4945–47). Auf einer ganz anderen Ebene ist schließlich ein weiterer Aspekt der Inszenierung Gasoeins als Minnesängers angesiedelt. Der Minnelieder singende, der Kälte trotzende Sänger, der dem am Feuer sich wärmenden Artus »mit gehässiger Präzision« als »Ausgeburt von Ginovers Imagination«39 vor Augen gestellt wird, ist möglicherweise das Produkt einer intertextuellen Referenz auf ein Lied des Troubadours Bernart de Ventadorn. In diesem Lied (Nr. 44: Tant ai mo cor ple de

|| 37 Mit Florian Kragl sind die beiden Verse nach der Lesart der Hs. P (Cpg 374: »Es döhte«) wie folgt zu verstehen: »Ihr seid angezogen wie eine Frau«. Kragl schreibt dazu (65, Anm. 60): »Ich [...] verstehe den zweiten Vers als negativexzipierenden Satz [...]. Den Satz in Hs. V halte ich für verderbt; wenn er überhaupt etwas heißt, dann: ›Ihr tragt nichts am Körper; das gehörte sich nicht [einmal] für eine Frau.‹« (die Lesart der Leithandschrift lautet wie oben: »Daz entoht«); Heinrich von dem Türlin, Die Krone, unter Mitarbeit von Alfred Ebenbauer ins Nhd. übers. von Florian Kragl, Berlin, Boston 2012. – In V. 4491–94 spottet auch Artus über Gasoeins fehlende Ausrüstung. 38 Meyer (wie Anm. 34), 99. 39 Beide Zitate Kaminski (wie Anm. 25), 181.

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joya) stellt sich das Sprecher-Ich als genau dieser Typus eines Minnesängers vor, der seine Dame allen äußeren Unannehmlichkeiten zum Trotz singend preist: Kälte und Frost sind ihm wie buntes Blühen (I, 3f. und I, 11), der Schnee wie Grün (I, 12), und er wird von der »fin’ amors« (II, 1–4), der ›hohen Minne‹, so gewärmt, dass er trotz der Kälte nur ein Hemd trägt.40 Der »Troubadour Gasozein«41 scheint nachgerade dem Lied Bernarts entstiegen. Insgesamt ist die Situation abwegig: Ein leichtbekleideter Ritter, dem viele Attribute des Rittertums fehlen bzw. vom Erzähler und von den Figuren abgesprochen werden, reitet bei Tag und Nacht, sommers wie winters, in der Gegend umher und geriert sich als perfekter Minnesänger, der den Artusrittern mühelos überlegen und Artus gleichwertig ist. Gasoein bietet »ein bizarres Beispiel an ritterlicher Unempfindlichkeit und überlegener Kampfkraft«.42 Die Figurenzeichnung und die Ereignisse, die mit Gasoein zusammenhängen, könnten komisch wirken,43 aber diese komischen Elemente werden mit so großem erzählerischem Aufwand geschildert, dass sie ein ernst gemeintes Element der histoire bilden. Ob dieser Ernst auch auf der ›Diskursebene‹ greift, muss freilich offen bleiben. Gasoeins Status als Minnesänger, der nicht der arthurischen Welt angehört, lässt seine Beziehung zu Ginover besser verstehen. Zunächst haben seine Ansprüche auf Ginover bloßen Behauptungs-Status, auch wenn er sie durch den Fimbeus-Gürtel zu untermauern sucht. Ginovers Reaktion rückt sie in ein schlechtes Licht und lässt daran denken, dass Gasoeins Geschichte einen wahren Kern haben könnte: Nach dem ersten Aufeinandertreffen von Artus und Gasoein, bei dem letzterer seine Ansprüche anmeldet (V. 4779–4888), ist Ginover besorgt, weil sie nicht weiß, was in der Nacht passiert ist. Sie sagt zu ihrem Gefolge: Got geb, daz mir ze sorgen Disiv reis iht gevalle, Wan mein gedanch alle, Di varnt in mir ze wage.

|| 40 Zitierte Ausgabe: Bernart von Ventadorn, Seine Lieder, mit Einleitung und Glossar hrsg. von Carl Appel, Halle a. d. S. 1915. Der Text ist mit der Übersetzung von Appel auch bei Kaminski (wie Anm. 25), 181f., abgedruckt. Zum intertextuellen Verweis der Crône auf dieses Lied vgl. ebd., 183. 41 Frank Roßnagel, Die deutsche Artusepik im Wandel. Die Entwicklung von Hartmann von Aue bis zum Pleier, Stuttgart 1996 (helfant Studien 11), 148. 42 Bleumer (wie Anm. 25), 41. Zum komischen Potential dieses Arrangements vgl. ebd., 57–61. 43 Grubmüller (wie Anm. 24), 18, merkt zur Bearbeitung der Episode in Ulrich Füetrers Buch der Abenteuer an, in Ulrichs Fassung wirke das Verhalten Gsweins »eher ein wenig spleenig«, weil der »bedrohliche Hintergrund, jede Andeutung eines Früher oder Jenseits« fehle, der die Episode in der Crône prägt. Vgl. zur Frage nach ›Komik‹ in der Entführungsepisode Bleumer (wie Anm. 25), 54–70.

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Jchn weiz, waz mein hertze sage. Daz hat verlazen gewonlich site Vnd wont im ein vnvreud mite, Der ich nie mer enphant. (V. 5398–5405) Gott gebe, dass mir diese Ausfahrt nicht zu Sorge gereiche, denn in mir gehen alle meine Gedanken durcheinander. Ich weiß nicht, was mein Herz sagt. Sein gewohntes Wesen ist ihm abhanden gekommen, und eine Traurigkeit wohnt in ihm, wie ich nie größere empfunden habe.

Bei Ginovers Entscheidung am Pfingstfest betont der Erzähler, er wisse nicht, wie sich Ginover entscheiden werde und was sie überhaupt wolle: Nv begund si erbleichen Vnd wart dar nah gahes rot, Wan si verborgen hertzen not Jn dirre wal starch twanch. Jchn weiz, war ir hertz ranch Tougen, nahen oder verre. (V. 11003–08) Nun wurde sie bleich und gleich darauf rot, weil ihr bei dieser Wahl eine verborgene Herzensnot sehr zusetzte. Ich weiß nicht, wohin ihr Herz heimlich strebte, in die Nähe oder in die Ferne.

Schließlich wählt Ginover Artus und behauptet erstaunlicherweise, Gasoein nicht zu kennen, sogar noch nie von ihm gehört zu haben,44 obwohl sie selbst Gasoein erst in die Erzählwelt eingeführt hatte, allerdings ohne seinen Namen zu nennen.45 Gasoein reitet daraufhin wütend davon,46 womit der Streitfall geklärt zu sein schein. Auf der Diskursebene bleiben aber Zweifel an der Wahrheit von Ginovers Aussage,47 nicht nur angesichts ihres Scheiterns bei der Becherprobe: Der Becher lässt bei Ginover eine winzige Menge Weins fallen – ausgerechnet in ihren Schoß.

|| 44 »Wolt ir, daz ich mit einem man, / Des ich nie chünd gewan, / Solt nv ze seinem lande / Mit also großer schande / Vmb ein iwern zorn varn?« (V. 11018–22). Vgl. dazu auch Kaminski (wie Anm. 25), 205. 45 V. 3395–98: »Ouch seit ir zwar niht so heiz / Sam ein ritter, den ich weiz, / Des ich niht nennen wil. / Er ist aber bechant vil.« Es ist allerdings unzweifelhaft, dass es sich jeweils um Gasoein handelt. 46 Meyer (wie Anm. 34), 106, sieht auch hierin ein für den Minnesänger typisches Verhalten: Auf Ginovers Urteil »folgt entsprechend der Determination der Figur durch den Minnesang die sofortige Flucht Gasozeins – der in Ungnade gefallene Sänger hat am Hof nichts mehr zu suchen«. 47 Vgl. dazu Bleumer (wie Anm. 25), 23, und Vollmann (wie Anm. 25), 28–30.

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Artus besteht als einziger die Probe ohne Einschränkungen, was Key zu der Bemerkung veranlasst, Artus und Ginover seien völlig gleichwertig. Er weist zurecht darauf hin, »Daz mein vrowe vndern vrowen gewan / Vnd under üns mein herr den preis / Hat gewunnen« (V. 1922–24). Keys Bemerkung unterstreicht aber das ›Gefälle‹, das zwischen Artus und Ginover angelegt ist, denn Ginover kann ihre uneingeschränkte Idealität eben nicht unter Beweis stellen: Ihr Schoß verrät sie. Die Zweifel daran, ob Ginover im Hinblick auf Gasoein die Wahrheit gesagt hat, werden auch im weiteren Verlauf der Erzählung nirgends ausgeräumt. Versteht man Gasoein aber als Akteur in der literarischen Rolle eines Sängers der hohen Minne, dann ist Ginovers Einstellung ihm gegenüber zumindest aus seiner Perspektive gar nicht mehr entscheidend. Es ist völlig unerheblich, ob Ginover ihn liebt bzw. geliebt hat oder nicht; als Minnesänger genügt es ihm, dass das Minneverhältnis seinerseits ›klar‹ ist. Genau so stuft er es auch ein, denn im ersten Gespräch mit Artus betont Gasoein, Ginover sei ihm bereits bei ihrer Geburt »Von den nahtweiden« (V. 4840) bestimmt worden,48 Cupido und Amor (V. 4843f. und 4953) hätten ihren Teil dazu beigetragen, und daher sei er ihr »Vntz her von der wiegen« (V. 4955) zu Dienst gewesen.49 Dass solch eine dem Ideal der hohen Minne folgende Liebe nicht zwangsläufig auf Gegenseitigkeit beruhen muss, um zu ›funktionieren‹, zeigt Gasoeins Friedensangebot an Artus nach Ginovers Entführung und Rettung. Obwohl er beim ersten Aufeinandertreffen auf Ginovers Liebe ihm gegenüber hingewiesen hatte – »ir minne gab si mir / Jn der ersten stunde« (V. 4949f.) –, gibt Gasoein nun zu, Ginover ohne ihre Schuld verleumdet zu haben: Nu wil ich gewynnen Vil gern vwer huld, Wenn ich gar one ir schuld

|| 48 Zu den nahtweiden – feen- oder hexenartigen, bei Nacht jagenden Wesen, denen hier eine prophetische Rolle zugesprochen wird – vgl. die Erläuterungen bei Felder (wie Anm. 30), 156f. 49 Hier klingen anderweltliche Züge der Gasoein-Figur an, die sich auch andernorts zeigen, etwa im Hinweis auf den Feen-Status seiner Schwester (V. 10499–10501). Die proklamierten älteren Ansprüche auf Ginover sind, mit Grubmüller (wie Anm. 24), 12, ein »Verweis auf die mythischen Ursprünge« des Motivs, der Minnesänger-Ritter »vertritt für diese Episode das Element des Jenseitig-Bedrohlichen« (ebd., 18). Nicht zuletzt durch den Verweis auf die nahtweiden ist das Motiv der Martenminne aufgerufen; vgl. dazu Meyer (wie Anm. 34), 99. Die anderweltlichen Züge teilt Gasoein mit der Figur Jorams aus Wirnts von Grafenberg Wigalois; sie erinnern zudem an Lancelots Feenjugend in Chrétiens Chevalier de la charrette. Mit Blick auf die Stilisierung der Gasoein-Figur zum Minnesänger wäre es wohl nicht verfehlt, deren Herkunft in der ›Anderwelt‹ des Minnesangs bzw. der hohen Minne zu verorten; vgl. dazu Schulz (wie Anm. 24), sowie – mit Blick auf Joram im Wigalois – Schanze (wie Anm. 23), 557f.

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Sie mit wortten belog Vnd ùch mit al bedrog. Des sollent ir mir vergeben. (V. 12566–71) Nun möchte ich sehr gerne Eure Huld erlangen, weil ich sie völlig ohne ihr Zutun mit Worten hintergangen und Euch gänzlich dadurch betrogen habe. Das sollt ihr mir vergeben.

Wenn man ihm glaubt – und dies geschieht im Text –, dann legt Gasoein seine Minne-›Beziehung‹ zu Ginover als Phantasie des Ich-Sprechers und bloßes Wunschdenken offen. So ist es nicht verwunderlich, dass Artus und Gasoein beschließen, den Streitfall nicht im Zweikampf zu entscheiden, sondern Ginover die Wahl zu überlassen. Das Problem lässt sich nicht durch einen ritterlichen Kampf lösen, weil so oder so Unehre droht. Das liegt daran, dass die Wurzel des Problems in einem anderen Normen- und Wertebereich gründet, nämlich dem System der hohen Minne, auf das der Minnesang bezogen ist, nicht aber der höfische Roman. Artus betont immer wieder, dass ein Rechtsfall vorliegt, Gasoein beruft sich dagegen auf die Macht der Minne. Besonders deutlich wird das im Streitgespräch darüber, wie das Problem gelöst werden solle: Artus »getörst wol elliv reht / Getuon, div man vinden kan« (V. 10780f.), und beruft sich auf das Urteil von »wol gelerten herren« (V. 10791), Gasoein spricht den »pfaffen« (V. 10806) Entscheidungskompetenz in Liebesdingen ab, weil sie mithilfe der Dialektik (V. 10811) Wahrheit und Lüge nach Belieben vertauschen könnten; er vertraue daher einzig »der minne got« (V. 10818) und »vrouwe Venus« (V. 10830), von denen wiederum Artus keine Ahnung hat: »Dar vmb ist mir niht bechant, / Wie ez vmb die beid sei gwant« (V. 10832f.). Da man sich auf keine ›rechtliche‹ Grundlage einigen kann, wird Ginover die Entscheidung überlassen. Insofern entspricht diese Entscheidungsmacht der Wahlfreiheit der vrouwe der hohen Minne. Dass die Absage den Minnesänger Gasoein und nicht den Ehemann und Hausherrn Artus ereilt, ist dann nur konsequent. Artus profiliert als episches ›Gegenstück‹ den Minnesänger Gasoein.50 Während Artus nachts Gasoein auflauert, ist er zwar hôhen muotes, aber er friert, genau wie seine drei Gesellen, wovon der Erzähler ähnlich süffisant berichtet, wie er zuvor Ginover schelten ließ: Artvs an der huote Lach mit hohem muote, Wan daz in ser verdroz Vmb den vrost, der was groz,

|| 50 Vgl. dazu auch Meyer (wie Anm. 34), 95.

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Vnd daz er so lang was, Wan er vil chaum genas Vor der kelten vnd dem sne. (V. 4321–27) Artus lag hochgemut auf der Lauer, allerdings war ihm der starke Frost sehr verdrießlich, wie auch das lange Warten, denn die Kälte und der Schnee kosteten ihn beinahe das Leben.

Jener hôhe muot, der Artus im Sinne der hohen Minne qualifizierte, wird entwertet durch den Verweis auf den Umstand, dass Artus friert. Damit wird an Ginovers Spott am Kamin erinnert, den Ausgang der Situation. Artus verwünscht entsprechend seinen ›Frauendienst‹: Er sprach: ›Ich was ein tore, Daz ich durch dehein weip So verderb meinen leip, Nuor daz man seit, Daz der man von seinr arebeit Groz werdecheit gewinne. (4332–37) Er sagte: ›Ich war töricht, für irgendeine Frau mein Leben so aufs Spiel zu setzen, nur damit man sagt, dass der Mann durch seine Mühe große Ehre erlange.

Das ist eine klare Absage an das Konzept des Frauendienstes, das gerade im klaglosen Erdulden aller Unbill – sei es der Frost des Winters, sei es die frostige Ablehnung der Minnedame – seine Vollendung findet. Dem entspricht, dass der erste Teil der Crône in Frost und Schnee spielt.51 Der Maikönig Artus – »in dem mayen / Geborn« (V. 260f.), weshalb »sich geleichet / Dem maien Artuses leben« (V. 282f.)52 – hat also von vornherein schlechte Karten, ist der Winter doch »nicht die Zeit der literarischen Artus-Figur«,53 wohingegen der Minnesänger Gasoein scheinbar nach Belieben über die Jahreszeiten verfügen kann: Nach der GinoverEntführung verwandelt sich die epische Landschaft um die Gasoein-Figur herum in einen locus amoenus. Vor der Vergewaltigung, im darauffolgenden Kampf zwischen Gawein und Gasoein sowie beim anschließenden gemeinsamen Ritt zum

|| 51 Vgl. dazu das mit »Schnee« betitelte Kapitel bei Kaminski (wie Anm. 25), 175–199. 52 Vgl. auch das Epitheton »Artûs der meienbære man«, das der Figur des Artus in Wolframs Parzival zugesprochen wird (281, 16). Auch hier, in der Blutstropfenszene, wird bekanntlich mit dem Gegensatz von Schnee und arthurischem Frühling gespielt, worauf Wolframs Erzähler ausdrücklich hinweist (281, 12–21). Zum Verhältnis zwischen dem Winter der Crône und dem unzeitigen Schnee im Parzival vgl. Kaminski (wie Anm. 25), 175–180, zur Blutstropfenszene Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea NF 94). 53 Bleumer (wie Anm. 25), 58.

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Artushof wird dagegen wiederholt auf die Winterlandschaft hingewiesen (V. 11275, 12198, 12390). Mit dem locus amoenus als ›Bühne‹ für Gasoeins Vergewaltigungsversuch wird aber weniger ein Signal »für die auch im Rahmen der höfischen Literatur mögliche Liebesbegegnung«54 gesetzt, und der Handlungsort trägt auch nicht das »Signum der von Gasozein eingeforderten idealen Minnebeziehung«;55 vielmehr wird mit dem impliziten Verweis auf die Pastourelle ein ganz anderes Register der ›Minne‹ aufgerufen: der gewaltsame Vollzug der (körperlichen) Liebe am amoenen Ort. Spätestens hier wird die Gasoein-Rolle als Minnesänger gezielt ins Kippen gebracht: Gasoeins Erkenntnis, dass die Idee des Minnedienstes als hohe Minne zum Scheitern verurteilt ist, mündet notgedrungen »in das Gegenbild eines Realisierungsversuches«.56 Welche Erkenntnisse ermöglichen die hier zusammengetragenen Beobachtungen im Hinblick auf die Frage nach dem Stellenwert der Gattungsinterferenzen zwischen Artusroman und Minnesang in der Crône? 1. Es ist offensichtlich, dass in der Gasoein-Episode der Crône ein arthurisches Liebeskonzept mit seiner prinzipiellen Vereinbarkeit von Liebe und dynastisch motivierter Ehe dem Konzept der passionierten Liebe, das der hohen Minne zugrundeliegt, gegenübergestellt wird. In Ginover ist der grundlegende Gegensatz zwischen beiden Liebesmodellen verkörpert. Das Mittel dieser ›Verkörperung‹ ist die Figur Gasoeins mit seiner nie ganz ausgeräumten special relationship mit Ginover: Um den Schoß der Königin konkurrieren nicht gewöhnliche Welt und Anderswelt, sondern Herrschaftsehe und Liebespassion, anders gesagt: die Liebeskonzeption des arthurischen 57 Romans und diejenige des Minnesangs.

Die Auseinandersetzung mit dem ›anderen‹ Minnekonzept kann ein Reflex auf Ginovers Abstammung aus der Anderwelt sein, die eigentlich im hochhöfischen

|| 54 Meyer (wie Anm. 34), 109. 55 Bleumer (wie Anm. 25), 48. 56 Ebd., 48 und 69. Zu dieser ›Kontrafaktur‹ des locus amoenus als Liebesorts auch Gesine Mierke, Christoph Schanze, »Im Schatten des Baumes. Zur Semantisierung des Schattens im höfischen Roman«, LiLi 45/180 (2015), 13–45, hier: 18, Anm. 18; zur Liebeskriegs-Metaphorik der gesamten Szene sowie zu Venusberg-Allusionen avant la lettre vgl. Kaminski (wie Anm. 25), 214–226. 57 Schulz (wie Anm. 24), 133.

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Artusroman keine Bedeutung mehr hat58 – nur, dass es hier um die »Anderswelt des Minnesangs« geht.59 Bei dieser Konfrontation ist die hohe Minne des Minnesangs zunächst überlegen: hier der frierende Artus, dort der leichtbekleidete Gasoein, der die Artusritter trotz seiner äußerlichen ritterlichen Defizite mühelos besiegt. Die weiteren Entwicklungen legen aber offen, dass das Konzept der hohen Minne gerade wegen der ihm eignenden prinzipiellen Unerfüllbarkeit in der ›Realität‹ der arthurischen Herrschaftsehe mit ihrer Vereinbarkeit von Liebe und Ehe, von Liebesglück und gesellschaftlichen Ansprüchen, von Sexualität und Genealogie klar unterlegen ist – auch wenn Artus laut Ginover wesentlich weniger ›heiß‹ erscheint als Gasoein: »Ouch seit ir zwar niht so heiz / Sam ein ritter, den ich weiz« (V. 3395f.). Gasoein erkennt schließlich die Überlegenheit des arthurischen Modells an. Er kehrt ›seinem‹ Minnekonzept der hohen Minne nach Ginovers Ablehnung durch die Entführung der Königin und den anschließenden Vergewaltigungs-Versuch den Rücken. Mit diesem Übergriff hat er den »Dienst-Lohn-Gedanke[n] des Minnesangs [...] drastisch in Handlung umgesetzt«60 – und zwar in episch erzählte Handlung. Wenn er später gegenüber Artus zugibt, Ginover verleumdet und Artus hintergangen zu haben, formuliert Gasoein damit eine klare Absage an das Modell der hohen Minne. Er entsagt dieser Minne, bietet Artus seinen Dienst an und wird in die Artusgesellschaft integriert. Die Hochzeit mit Sgoydamur, die Artus vermittelt (V. 13829–60), zementiert diese Integration: »Der unheimliche ›Winterkönig‹ ist auf gewöhnliches Menschenmaß geschrumpft oder, pointierter formuliert, auf arthurisches Maß.«61 2. Im ›Freiraum‹ des fiktionalen romanhaften Erzählens, der eine Art geschütztes ›Labor‹ als Experimentierfeld für gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungen bereitstellt,62 wird in der Gasoein-Episode der Crône durchgespielt, was passiert, wenn das fiktive Modell des Minnesangs in die ›Realität‹ überführt wird. Die hohe Minne kann als eine Art fiktives gesellschaftliches Spiel verstanden werden, dessen Funktionieren darauf basiert, dass sich Sänger und Publi-

|| 58 Vgl. ebd., 132. 59 Ebd. 133. 60 Cornelia Schu, »Intertextualität und Bedeutung: Zur Frage der Kohärenz der Gasozein-Handlung in der Crône«, ZfdPh 118 (1999), 336–353, hier: 349. Noch unmittelbar vor Gasoeins Bruch mit seinem eigenen Minnesang-Ideal durch die Vergewaltigung Ginovers betont er Ginover gegenüber die Kausalverbindung von (Minne-)Dienst und Lohn (V. 11399–11404). 61 Kaminski (wie Anm. 25), 175. 62 Vgl. dazu Walter Haug, Die Höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin, New York 2004, 35f., 45f. und 52f.

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kum über die Spielregeln im Klaren sind. Ebenso ist deutlich, dass das im Minnesang entworfene Liebesmodell keine Verbindung zur höfischen Realität hat, sondern auf eine weithin akzeptierte gesellschaftliche Fiktion rekurriert.63 Die Minnelyrik als literarische Fiktion zweiter Ordnung ist der Ort, an dem das höfische ›Spiel‹ der hohen Minne als gesellschaftliche Fiktion erster Ordnung vollzogen wird.64 Wenn in der Crône Gasoein als Minnesänger um Ginover wirbt und Ablehnung erfährt, wird mit den folgenden Ereignissen vorgeführt, was passieren kann, wenn die hohe Minne als gesellschaftliche Fiktion verabschiedet wird. Der Anspruch des Minnesängers auf die verheiratete Frau muss mit Waffengewalt geklärt werden; der abgewiesene Minnesänger versucht, sein Begehren der vrouwe gegenüber mit Gewalt einzulösen; nur mit Gewalt ist er davon abzubringen; Kämpfe zwischen dem Herausforderer und arthurischem Personal bleiben unentschieden. Die Konfrontation von jeweils gattungstypischen Versatzstücken mündet in eine Aporie, die sich nur mittels der ›Macht‹ des Erzählers lösen lässt: Gasoein, die »in die Handlung integrierte Personifikation einer anderen Gattung«,65 entsagt als Geschöpf »lyrischen Ursprungs«66 der hohen Minne der Minnelyrik und wird ostentativ in das Liebesmodell des arthurisch-höfischen Romans integriert. Auch in dieser Lesart der Gasoein-Episode dienen die Gattungsinterferenzen zwischen Minnesang und Artusroman der Profilierung des arthurischen MinneModells.67 Zumindest in der Crône findet durch eine gezielte »Überblendung literarischer Traditionen«68 eine explizite Auseinandersetzung mit dem ›anderen‹ Minnekonzept statt, die zugunsten des arthurischen Modells entschieden wird. Das ist angesichts der Gattungszugehörigkeit des Textes, innerhalb dessen das Experiment stattfindet, nicht verwunderlich.

|| 63 Vgl. Jan-Dirk Müller, »Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur«, Poetica 36 (2004), 281–311; ders., »Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs«, in: Albrecht Hausmann (Hrsg.), Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), 47–64; beide Aufsätze wieder in: Jan-Dirk Müller, Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin, New York 2010, 65–81 und 83–108. Vgl. auch Haug (wie Anm. 62), 45–49. 64 Zur Terminologie vgl. die beiden Aufsätze von Jan-Dirk Müller (wie Anm. 63). 65 Meyer (wie Anm. 34), 94. 66 Bleumer (wie Anm. 25), 59. – Zur Gasoein-Figur als Zitation einer literarischen Rolle, nämlich der des Minnesängers, vgl. auch Schu (wie Anm. 60), 339f. 67 Ähnlich auch Meyer (wie Anm. 34), 106. 68 Schu (wie Anm. 60), 352.

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Auf der Ebene der histoire ist dann erst einmal alles gut: Die schneebedingten Irritationen der Artuswelt sind überwunden, zu Pfingsten herrscht wieder maiselige sælde. Dass in der Crône auch darüber reflektiert wird, was auf der Strecke bleiben muss, wenn man die schöne heile Artuswelt bewahren möchte – etwa Ginover und ihre ganz eigene Wirklichkeit, die ja mehr ist als ein Phantasieprodukt des Minneritters Gasoein, der von Ginover gewissermaßen in die erzählte Artuswelt geredet wird –, blendet die hier gewählte Konzentration des analytischen Zugriffs auf Gasoein weitgehend aus. Insgesamt bleibt auf der Diskursebene ein vages Unbehagen bestehen, das der Erzähler, listig, wie er ist, nicht auflöst.69

|| 69 Zur Crône als einem ›Literatenroman‹, der in seiner gewollten Komplexität einen ›Beobachter zweiter Ordnung‹ adressiert, vgl. Vollmann (wie Anm. 25), 10f., sowie das Fazit-Kapitel (ebd., 205–230).

Patrick Lange

Sprechen und singen Transgenerische Personalisierungen des Ich bei Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach Abstract: In modern German literary studies it is regarded as good practice to observe a strict distinction between author and narrator, as well as of the genres. What does that mean for Middle High German literature? Using examples from the lyric and epic works of Hartmann von Aue and Wolfram von Eschenbach, this essay asks whether these two divisions are sustainable; the ›I‹ of the lyric or epic text is examined for instances of self-reference. The goal is to demonstrate a referential continuum within each text that contributes to the personalization of the ›I‹, but also to prove its consistency across different texts and genres. The ›transgeneric personalization‹ of the ›I‹ in the texts is demonstrably tied to the author, but this personalization is not necessarily the biography of the author. In addition, it is important to note that the boundaries between epic and lyric are fluid; the genres have influenced each other in Middle High German literature.

1 Zwischen ›Du‹ und ›Ich‹. Ansätze transgenerischer Personalisierungen bei Hartmann von Aue In der zweiten Aventüren-Reihe (V. 5288–7807) im Erec Hartmanns von Aue verbringen Erec und Enite zwei Wochen auf der Burg Penefrec des (Zwergen-)Königs Guivreiz, wo sich Erec von den vorangegangenen Aventüren erholt (V. 7188– 7263). Als sie die Burg wieder verlassen, erhält Enite einen wunderschönen Zelter von den beiden Schwestern des Königs zum Geschenk (V. 7274–85). Darauf folgt die Beschreibung des wundersamen Pferdes, die in eine descriptio des kunstvoll

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gefertigten Sattels übergeht. Nach nur wenigen Versen über die Herkunft, Herstellung und das Äußere des Sattels wird der Erzähler1 von einem fingierten Zuhörer unterbrochen (V. 7286–7492), der für ihn die Beschreibung des Sattels übernehmen will: ›nû swîc, lieber Hartman: ob ich ez errâte?‹ 2 ich tuon: nû sprechet drâte. (V. 7493–95) 3

›Nun sei still, lieber Hartmann: vielleicht errate ich es?‹ Gut denn: fangt nur an.

Die Anrede des Erzählers durch diesen fiktiven Zuhörer4 erfolgt mit »Hartmann«, wodurch der Autorname mit dem Erzähler verbunden wird. Dieses geschieht vor dem Hintergrund der im Text inszenierten Aufführungssituation.5 Schon etwa 100 Verse vor dem Dialog wird das Publikum in die Art und Weise der Beschreibung

|| 1 Die theoretische Trennung von Erzähl- bzw. Sprechinstanz und Autor stellt die Forschung vor ein praktisches Problem: Häufig werden der Autorname und die textinterne Instanz synonym benutzt, wobei die zuvor postulierte scharfe Trennung der Instanzen Autor und Sprecher-Ich implizit wieder aufgelöst wird. Monika Unzeitig hat schon 2004 auf diesen Umstand hingewiesen. Vgl. Monika Unzeitig, »Von der Schwierigkeit, zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. Eine historisch vergleichende Analyse zu Chrétien und Hartmann«, Wolfram-Studien 18 (2004), 59–81. – Mit dem Autornamen bezeichne ich nur den empirischen bzw. historischen Autor. Für den Minnesang sei entsprechend die Unterscheidung zwischen Dichter und Sänger getroffen, um auch da die Grenzen zwischen den Ebenen trennscharf zu halten. In Anschluss an Gert Hübner wird der Begriff ›Dichter‹ für den Verfasser des dichterischen Werks und ›Sänger‹ für den Vortragenden im performativen Akt des Vortrages verwendet. Vgl. Gert Hübner, »Minnesang als Kunst. Mit einem Interpretationsvorschlag zu Reinmar MF 162, 7«, in: Albrecht Hausmann (Hrsg.), Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, Heidelberg 2004 (Euphorion Beihefte 46), 139–164, hier: 142. 2 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 (ATB 39). 3 Die Übersetzung entstammt hier und im Folgenden der Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Manfred Günther Scholz, übers. von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5/Bibliothek deutscher Klassiker 188). 4 »Daß der Hörer den Erzähler duzt und von diesem geihrzt wird, ist in der mhd. Literatur üblich«, so Scholz (wie Anm. 3), 912. Begründen lässt sich das mit dem sozialen Unterschied zwischen Autor und höfischem Publikum, welches einen höheren sozialen Stand als der Autor gehabt haben dürfte (vgl. ebd.). 5 Vgl. Monika Unzeitig, Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts, Berlin, New York 2010 (MTU 139), 236–238.

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des Pferdes einbezogen,6 was dann in dem potentiellen Einwand7 aus dem Publikum kulminiert und in eine Wahrheitsbeteuerung übergeht: giht ieman: ›er enhât niht wâr‹, dem bescheide ich die rede baz, daz er rehte erkenne daz diu rede wese ungelogen. ez enwas dâ heime niht erzogen (V. 7389–93) Sagt jemand: ›Das stimmt nicht‹, den werde ich eines Besseren belehren, damit er einsieht, daß diese Worte nicht gelogen sind. Das Pferd war nicht im Stall von Penefrec herangewachsen.

Diese Wahrheitsbeteuerung wird durch die Aussage des Erzählers unterstützt, dass das Pferd nicht dem aktuellen Handlungsort Penefrec entstamme; dadurch erklärten sich die wunderbaren Eigenschaften des Zelters. Zu V. 7393 merkt Manfred Günter Scholz an: Und Hartmann will gewiss nicht sagen, das Akzeptieren des Erzählten als wahr sei schwer, da das Pferd hier nicht heimisch gewesen sei. Im Kontext besagt der Vers nicht weniger als: 8 Fiktion ist Wahrheit.

Das fiktive Pferd wird somit als ›wahr‹ dargestellt, obwohl es durch seine offensichtlich übernatürliche Erscheinung nur Fiktion sein kann. Weil der Erzähler diese Wahrheit besonders betont, kann die Vermutung aufkommen, dass das gesamte Gesagte fiktional ist. Denn gerade durch die überpointierte Wahrheitsbeteuerung setzt der Erzähler ein solches Fiktionalitätssignal9 und führt eben diese

|| 6 Beispielhaft dafür ist V. 7286, aber auch die Publikumsansprachen und Wahrheitsbeteuerungen in V. 7277, 7326, 7429–32 und 7450–61 sowie als Einleitung zu der Dialogstelle der Unsagbarkeitstopos V. 7476–92. 7 Vgl. Scholz (wie Anm. 3), 907, Komm. zu V. 7389–92, der »[f]iktive Zweifel des Publikums« sieht. Vgl. auch Rachel Raumann, ›Fictio‹ und ›historia‹ in den Artusromanen Hartmanns von Aue und im ›Prosa-Lancelot‹, Tübingen u. a. 2010 (Bibliotheca Germanica 57), 51. 8 Scholz (wie Anm. 3), 907. 9 Vgl. Christoph Schanze, »Gold, unerlogen. Zum Verständnis von Erec, V. 373«, ZfdA 144 (2015), 141–149, hier: 147–149. Zur Fiktionalität in höfischen Romanen vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2., überarb. und erw. Aufl. Darmstadt 1992, 105–107; Günter Butzer, »Das Gedächtnis des epischen Textes. Mündliches und schriftliches Erzählen in höfischen Romanen des Mittelalters«, Euphorion 89 (1995), 151–188, hier: 173f.; Fritz Peter Knapp, »Subjektivität des Erzählers und Fiktionalität der Erzählung bei Wolfram von Eschenbach und anderen Autoren des 12. und 13. Jahrhunderts«, WolframStudien 17 (2002), 10–29.

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Beteuerung, nämlich die Wahrheit zu sagen, ad absurdum. Die möglichen Zweifel des Publikums an dem Erzählten aufnehmend, spricht der Erzähler sich selbst in der dritten Person an, wobei er vorgibt, dass die Zuhörer ›Einfluss‹ auf die Erzählung nehmen könnten. Doch nicht nur dieses Fiktionalitätssignal, sondern auch der ›Dialog‹ zwischen dem Erzähler und einem Zuhörer demonstriert die Souveränität des Autors über die Erzählung. Der Autor zeigt seinen fiktiven Erzähler im Vorgang des Erzählens und fingiert sich damit als »vortragende[n] Autor«.10 Zusammen mit dem Fiktionalitätssignal veranschaulicht der Autor ›Herrschaft‹ über den Text. Im Minnesang finden sich (allerdings sehr selten) ebenfalls Selbstnennungen, denn für den Minnesang gilt eigentlich das Gebot, Namensnennungen zu unterlassen: Namen würden womöglich den fiktionalen Status des Textes offenbaren.11 Deshalb haben Namen im schwierigen Diskurs des Minnesangs und in seinem pararituellen Status immer eine Rolle gespielt,12 denn wenngleich der Liedinhalt im Minnesang fiktiv ist, so ist der Vortrag nicht fiktional, da durch die Aufrichtigkeitsbeteuerungen die Werbung um eine Dame in der Vortragssituation im Hier und Jetzt stattfindet und als ›real‹ empfunden wird.13 Auch wenn Selbstnennun-

|| 10 Unzeitig (wie Anm. 5), 239. 11 Vgl. Jan-Dirk Müller, »Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik«, IASL 19 (1994), 1–21, hier: 15. Es lassen sich auch nur sehr wenige dieser indirekten Namensnennungen finden, vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 185f. Vgl. dazu auch Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (Beihefte zur ZfdPh 10), z. B. 182f., der davon ausgeht, dass Aufrichtigkeitsbeteuerungen diese Minnesangkonvention bestätigen, denn als »Beteuerungen im Rahmen eines fiktionalen Textes oder eines konventionalisierten Rollenvortrags würden sie [die Autoren] sich das Wasser abgraben, sie blieben von der Vortragssituation als Äußerungssituation abgekoppelt und würden zu Leerformeln, die angesichts all der Findigkeit der Autoren keine rechte Erklärung mehr fänden.« – Bei der Namensnennung beziehe ich mich ausdrücklich auf die Nennung des Autornamens und nicht auf das Tabu, den Namen der besungenen Dame zu offenbaren. 12 Vgl. dazu grundlegend Jan-Dirk Müller, »Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang«, in: Michael Schilling u. a. (Hrsg.), Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik, Heidelberg 1996 (Beihefte zur GRM 13), 43–76. 13 Vgl. zuletzt Katharina Philipowski, »Autodiegetisches Erzählen in mittelhochdeutscher Literatur oder: Warum mittelalterliche Erzähler singen müssen, um von sich erzählen zu können«, ZfdPh 132 (2013), 321–352, sowie Hartmut Bleumer, »Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung. Wandlungen des höfischen Diskurses zwischen Roman und Minnesang«, in: Ruth Florack, Rüdiger Singer (Hrsg.): Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, Berlin, New York 2012 (Frühe Neuzeit 171), 51–92, hier: 78.

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gen von Minnesängern innerhalb ihrer Lieder dementsprechend eher ungewöhnlich sind, gibt es, gleichfalls bei Hartmann, ein Beispiel, in dem wiederum ›dialogisch‹ über ein ›Du‹ der Autorname genannt wird:14 Maniger grüezet mich alsô – der gruoz tuot mich ze mâze vrô –: ›Hartman, gên wir schouwen 15 ritterlîche vrouwen.‹ (MF 216, 29–32) Viele reden mich so an – der Gruß macht mich nicht sonderlich froh –: ›Hartmann, laß uns 16 gehn und edle Damen hofieren.‹

Diese Namensnennung weist große Ähnlichkeit mit der Stelle aus dem Erec auf, denn auch hier erfolgt die Ansprache der textinternen Sprechinstanz mit dem Autornamen in der zweiten Person, also auf der Ebene der Figurenrede. Ohnehin ist im Falle Hartmanns schon länger bekannt, dass die Sängerfigur seiner Lieder und die Erzählerfigur in seinen narrativen Werken eine gewisse Nähe aufweisen.17 Indem das Ich sich ansprechen lässt, zudem noch einen Namen erhält, konstituiert es sich textintern als Figur ›Hartmann‹. In beiden Fällen ist demnach die Rede zwangsläufig eine Figurenrede, dennoch ist aber auch der Unterschied zwischen dem narrativen und dem lyrischen Text deutlich, denn schon die manegen im Lied bleiben als Instanz, so konkret die Anrede an Hartmann ist, merkwürdig unkonkret. Der vorwitzige Kommentator im Erzähltext hat dagegen sofort einen klar bestimmten Figurenstatus. Dieser Unterschied hängt also offensichtlich davon ab, dass im Erec diese Figurenrede dazu genutzt wird, das Wort an das Sprecher-Ich zu richten, wobei diese Ansprache nicht auf der Ebene der Handlung, sondern in deren Rahmen, d. h. im Prozess des Erzählens und des im Text mit

|| 14 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 242f., die darauf hinweist, dass Hartmann nicht als Sänger, sondern als ›Mann‹ angesprochen wird, und dass die Gesprächssituation sowie die Namensnennung die Vertrautheit der beiden Gesprächspartner betonen soll. 15 Zitierte Ausgabe: Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, 38., erneut rev. Aufl., Bd. 1: Texte, Stuttgart 1988. 16 Die Übersetzung entstammt der folgenden Ausgabe: Deutsche Lyrik des Frühen und Hohen Mittelalters, hrsg. von Ingrid Kasten, übers. von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 3/Bibliothek deutscher Klassiker 129), 225. – Eine genauere Übersetzung für mhd. schouwen wäre ›betrachten‹ oder ›anschauen‹. 17 Vgl. Jens Haustein, »Nichterzählte Geschichten. Zur Minnelyrik Hartmanns von Aue«, in: Ralf Plate, Martin Schubert (Hrsg.), Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. FS Kurt Gärtner, Berlin 2011, 83–93, hier: 84f.

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dargestellten Erzählvortrages, stattfindet.18 Dagegen wird der Liedvortrag in MF 216, 29 nicht thematisiert. Der Sänger singt also in der dargestellten Situation des Liedes gerade nicht, während der Erzähler in der dargestellten Situation als Erzähler spricht. Die im Lied angesprochene Figur ist demnach die des Dichters, dem der Sangesvortrag seiner Dichtung, wie die weiteren Strophen mit einer Art Vorgeschichte andeuten, bislang bei den Damen wenig Anerkennung gebracht hat. Der Autor-Erzähler-Unterscheidung steht hier nicht nur eine Dichter-SängerUnterscheidung gegenüber, die Unterscheidungen verhalten sich in Epik und Lyrik Hartmanns auch gegenläufig zueinander. Doch welche Schlüsse lassen sich aus diesen beiden Namensnennungen ziehen? Im Prozess des Erzählens können der Vortragsrahmen und die erzählte Geschichte parallel zueinander dargestellt werden, histoire und discours bilden sich als Ebenen aus. Im Lied dagegen ist der discours die Handlung. Die Ansprache der Hartmannfigur macht schon die histoire-Ebene aus, und der aktuelle Gesangsvortrag und die zurückliegende, offenbar weniger erfolgreiche Dichtung bzw. Werbung liegen auf einer Ebene des Geschehens. Erst vor dieser Unterscheidung lassen sich nähere Schlüsse über den Status der Namensnennungen ziehen. Was hat es also mit dem ›Du‹ im Minnesang auf sich? Sowohl in der Epik als auch in der Lyrik konstituiert sich die IchErfahrung über das ›Du‹ und ist besonders für die Artusromane und Lyrik bekannt.19 Diese Struktur lässt sich besonders gut im Minnesang beobachten. Denn normalerweise wird mit dem ›Du‹ in Minneliedern die Dame angesprochen. Als klassisches und elementares Beispiel dafür kann die folgende Strophe dienen, die in der Tegernseer Briefsammlung das Ende eines fingierten, über Briefe geführten Liebesdialoges bildet, die aber nach dem Lyrikverständnis der Herausgeber von Des Minnesangs Frühling als ein scheinbar autonomes lyrisches Gebilde isoliert wurde: Dû bist mîn, ich bin dîn. des solt dû gewis sîn. dû bist beslozzen in mînem herzen, verlorn ist daz sluzzelîn: 20 dû muost ouch immêr darinne sîn. (MF 3, 1–6)

|| 18 Vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin, Boston 2014, 142–146. 19 Vgl. Haug (wie Anm. 9), 97; zum psychologischen Effekt vgl. Hartmut Bleumer, »Titurel. Figurationen der Zeit zwischen Narrativik und Lyrik«, Poetica 43 (2011), 227–265. 20 Dem Komm. zu MF zufolge werden diese Verse einer Frau zugeschrieben. Vgl. Des Minnesangs Frühling, Bd. 3: Kommentare, Teil 2: Anmerkungen, nach Karl Lachmann, Moritz Haupt und Friedrich Vogt neu bearb. von Carl von Kraus, Zürich 301950, durch Register erschlossen und um

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Du bist mein, ich bin dein, dessen sollst du sicher sein. Du bist verschlossen in meinem 21 Herzen, verloren ist der Schlüssel fein – du mußt für immer drinnen sein.

Hier gibt es einerseits eine klare Ich-Du-Beziehung,22 die über die pronominalen Ersetzungen zu erschließen ist. Das ›Ich‹ des Sprechers konstituiert sich im Verhältnis zu dem ›Du‹.23 Andererseits wird diese differenzierende Klarheit aber auch durch die Possessivpronomina ›mein‹ und ›dein‹ in einen Chiasmus überführt24 und schließlich im Ort des Herzens aufgehoben. Die Personaldeiktika verweisen auf ein textinternes Ich und Du. Mit diesem ›Du‹ wird zum einen im Überlieferungskontext der Tegernseer Briefsammlung eine (unbekannte) Person in einer konkreten, fiktiven Minnebeziehung adressiert, zum anderen kann sich je nach

|| einen Literaturschlüssel ergänzt, hrsg. von Helmut Tervooren und Hugo Moser, Stuttgart 1981, 317f. Friedrich Ohly, »Du bist mein, ich bin dein, du in mir, ich in dir, ich du, du ich«, in: ErnstJoachim Schmidt (Hrsg.), Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. FS Werner Schröder, Berlin 1974, 371–415, hier: 373, weist darauf hin, dass die Strophe nicht der Briefautorin zugeschrieben, sondern als Zitat gewertet werden sollte. Vgl. dazu zuletzt Annette Gerok-Reiter, »Dû bist mîn, ich bin dîn (MF 3, 1) – ein Skandalon? Zur Provokationskraft der volkssprachigen Stimme im Kontext europäischer Liebesdiskurse«, in: Udo Friedrich, Manfred Eikelmann (Hrsg.), Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos, Berlin 2013, 75–97 (kontrovers zu Ohly, vgl. ebd., 83). 21 Die Übersetzung folgt Kasten (wie Anm. 16). 22 Grundlegend zu Ich-Du-Beziehungen in der Lyrik Oskar Walzel, »Schicksale der lyrischen Ichs«, in: ders., Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung, Heidelberg 1968 (zuerst 1926), 260–277. Jan-Dirk Müller, »Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs«, in: Albrecht Hausmann (Hrsg.), Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), 47–64, lehnt diese Vorstellung für den Minnesang ab: »In deutlicher Abgrenzung von späterer Liebeslyrik zeichnet sich Minnesang in den weit überwiegenden Fällen dadurch aus, daß immer das Verhältnis von Ich, der Geliebten und den anderen – der höfischen Gesellschaft – thematisiert wird, und eben nicht nur das Verhältnis von Ich und Du« (62). 23 Albrecht Hausmann, »Verlust und Wiedergewinnung der Dame. Zur inhaltlichen Funktion von Narrativierung und Entnarrativierung im Minnesang«, in: Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 157–180, hier: 158 und 160f., argumentiert dagegen, dass nur im frühen Minnesang diese Ich-Du-Beziehung durch Frauenstrophen aus der dadurch erwachsenden Situationsspaltung entstehe. Die oben angeführte Strophe MF 3, 1–6 scheint mir das zu widerlegen, denn die Ich-Du-Beziehung in diesem Lied bezieht sich auf ein Sprecher-Ich und ein angesprochenes ›Du‹ und nicht auf eine externe und interne Situation wie in einem Wechsel. Hier gibt es nur eine interne Situation, die Hausmann als »lyrische Option« (Zitat: 158) bezeichnet. Das passt auch zu den Präsenzeffekten im Hohen Minnesang, die v. a. durch die Verlagerung des ›Minnegeschehens‹ in das Hier und Jetzt der Aufführungssituation erzeugt werden. 24 Vgl. Gerok-Reiter (wie Anm. 20), 83.

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Rezeptionssituation – Lektüre oder Vortrag – auch der Rezipient angesprochen fühlen. Genau diese Konstellation führt zu einem ›lyrischen Präsenzeffekt‹: Im lyrischen Ich kulminiert diese Präsenzfigur insofern, als hier paradoxerweise gerade durch die Subjektivität des lyrischen Ausdrucks eine Objektivitätserfahrung erreicht wird; das Ich der Lyrik ist in seiner vollständigen Vereinzelung zugleich verallgemeinerbar, es 25 spricht unmittelbar für alle.

Betrachtet man nun alle angeführten Textbeispiele im Vergleich, zeigt sich eine zunehmende Kontextfreiheit. Wie oben schon gesehen, gibt es auch in den beiden Beispielen bei Hartmann ein ›Du‹ und ein ›Ich‹. Jedoch wird dieses ›Du‹ jeweils in wörtlicher Rede angesprochen und ist ein rein textinternes Du, das sich durch den Konkretisierungsgrad der Textumgebung jeweils mehr oder weniger klar situieren lässt. Die Anrede mit ›Du‹ führt dazu, dass das Sprecher-Ich mit dem Namen, welcher in der wörtlichen Rede genannt wird, verbunden wird. Im Rahmen des narrativen Textes (Erec) konstituiert sich so namentlich der Erzähler, im Rahmen des lyrischen Textes konstituiert sich so namentlich das Sprecher-Ich. Gleichwohl gilt in allen drei Fällen: Das ›Ich‹ entsteht hier ebenfalls nur über das ›Du‹. Diese Ich-Du-Beziehung bei Hartmann funktioniert aber anders als im Beispiel Dû bist mîn, da das ›Du‹ sich in einer expliziten Dialogbeziehung direkt auf das Sprecher-Ich bezieht, während das kleine lyrische Gebilde einen Monolog bildet, der sprachlogisch eine implizite Dialogbeziehung darstellt. Beide Konstruktionen verlaufen indes im Kreis, denn im Chiasmus der metaphorischen Herzenseinheit spricht das Ich paradoxerweise zu einem Du im Innenraum seines Herzens, d. h. im Du spricht es metaphorisch zu sich selbst. Das ›Du‹ in der wörtlichen Rede der Dialoge ist ebenso eine Selbstadressierung im Raum der Rede oder im Raum des Erzählens. Genau um diesen Bezug des ›Du‹ auf das ›Ich‹ geht es mir mit dem Beispiel Hartmanns, genauer: um die Frage, was die Identifikation mit dem Namen Hartmann im Übergang von narrativer und lyrischer Sprechweise eigentlich leistet. Meine These dazu lautet: Die Parallelität der Namensnennungen in den beiden Stellen legt m. E. eine Gleichsetzung der beiden Du-Instanzen in der wörtli-

|| 25 Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius, »Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik«, in: dies. (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 1–39, hier: 17. – Zum Begriff des lyrischen Ich sei noch angemerkt, dass es sich dabei um keine Sprechinstanz handelt, sondern dass es das imaginäre Zentrum dieses Präsenzeffektes ist. Vgl. auch Walzel (wie Anm. 22).

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chen Rede, die an die jeweilige Ich-Instanz rückgekoppelt sind, nahe. Dieser Umstand weist auf ein ›transgenerisches Ich‹ und eine Personalisierung des Ichs zwischen den Gattungen hin. Damit ergibt sich für mich – jedenfalls vorläufig und für diesen Fall – die weitergehende Vermutung, dass das Erzähler-Ich im Erec das gleiche ›Ich‹ ist, welches in dem Lied Maniger grüezet singt.26 Im Gegensatz zu dem kontextfrei schwebenden Beispiel MF 3, 1, mit dem die ältere Forschung ihre lyrische Idealvorstellung geradezu modellhaft selbst als historischen Fall fingiert hat, zielt das angesprochene ›Du‹ in der ersten Strophe von Hartmanns Lied MF 216, 29 nicht auf eine Einheit, sondern auf eine Spaltung. Sie ermöglicht freilich etwas Doppeltes: Die Gleichzeitigkeit von Sänger und Dichter bzw. Autor und Erzähler. Hartmann entwirft sich über dieses ›Du‹ geradezu als Figur in seinen Texten. Bisher gibt es keine Untersuchungen zu den transgenerischen Bezügen der Sprecherinstanzen in mittelhochdeutscher Epik und Lyrik: Welches ›Ich‹ singt z. B. in einem Minnelied von Hartmann von Aue und welches ›Ich‹ spricht,27 wenn sich der Erzähler im Erec zu Wort meldet? In diesem konkreten Fall beziehe ich den Begriff ›Lyrik‹ auf den Minnesang und den Begriff ›Roman‹ auf die höfische Epik. Die gattungstheoretische Erörterung von Roman und Lyrik und die literatur- und medientheoretische Verbindung von Narratologie und Lyriktheorie werden dabei nicht noch einmal eigens gerechtfertigt, sondern zugunsten der praktischen Diskussion ausgespart.28 Anhand zweier Autoren, Hartmanns von Aue und Wolframs von Eschenbach, lassen sich diese Thesen überprüfen. Am Beispiel Hartmanns kann für einen Autor, der in beiden Gattungen Werke verfasst hat, untersucht werden, inwieweit das Sprecher-Ich und das Erzähler-

|| 26 Haustein (wie Anm. 17), 90, merkt zur ersten Strophe des Liedes an, dass sie in der »Gegenwart des Erzählers Hartmann beginnt«. Gleiches lässt sich auch für die Stelle aus dem Erec festhalten, wo das viermalige nû (V. 7493, 7495, 7497 und 7499) auf das Jetzt des Dialogs verweist. 27 Mit dem Titel des Aufsatzes beziehe ich mich auf Monika Unzeitig, die in ihrer Habilitationsschrift herausgestellt hat, dass die Abfassung sowie auch der Vortrag von Wolframs von Eschenbach epischem Werk mit dem Verb sprechen verbunden wird, ähnlich wie singen im Minnesang immer gleichzeitig die Textproduktion und den Vortrag meint. Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 184– 191; vgl. auch Thomas Bein, ›Mit fremden Pegasusen pflügen‹. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 150), 134–154. 28 Vgl. Jörg Schönert, »Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich«, in: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, 289–294; Hartmut Bleumer, »Gottfrieds Tristan und die generische Paradoxie«, PBB 130 (2008), 22–61; Eva Müller-Zettelmann, »Lyrik und Narratologie«, in: Vera Nünning u. a. (Hrsg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), 129–154; zusammenfassend Bleumer/Emmelius (wie Anm. 25).

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Ich durch ein ›transgenerisches referentielles Kontinuum‹ ein ›transgenerisches Œuvre-Ich‹ bilden. Dabei geht es um die Frage, wie es sich mit den Gattungsgrenzen hinsichtlich der Sprechinstanz verhält: Gibt es Ich-Formationen, die in (verschiedenen) Liedern, aber auch in Romanen auftauchen und sich indirekt (aber auch explizit) aufeinander beziehen? In ähnlicher Weise ergibt sich ein referentielles Kontinuum im epischen Werk Wolframs, ein Œuvre-Ich, dessen Genese ich anhand des Parzival und des Willehalm nachzeichnen möchte. Im Parzival ist insofern ein ›transgenerisches Ich‹ am Werk, als das Erzähler-Ich eine Verbindung zwischen dem Erzählen und dem Minnesang herstellt. Aus Platzgründen muss ich hier leider darauf verzichten, auch für Wolfram ein ›transgenerisches Œuvre-Ich‹ aufzuzeigen.

2 Vom ›referentiellen Kontinuum‹ zum transgenerischen Œuvre-Ich. Autorschaft zwischen Lied und Roman Die Forschungsdiskussion um das Thema ›Autorschaft‹29 kann anhand der beiden Gattungen Lyrik und Epik nachvollzogen werden. Autornamen sind aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht als Ordnungsmöglichkeit der Manuskripte zu sehen, d. h. den Liedern in den Handschriften sind Autornamen zugeordnet.30 Ein wesentlicher Aspekt der frühen Autorschaftsdiskussion im Minnesang war die philologische Unterscheidung zwischen Dichter und Sprecher-Ich, denn diese Trennung wurde in der älteren mediävistischen Forschung zunächst noch nicht durchgeführt, wodurch der Liedinhalt immer wieder biographisch auf den Dichter bezogen wurde.31 Für die narratologische Lyrikinterpretation ist der hier || 29 Zu Autor und Autorschaft vgl. Christel Meier, »Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt«, in: Peter von Moos (Hrsg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln u. a. 2004, 207–266; dies., »Autorstile im Hochmittelalter«, in: dies., Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, Berlin 2011, 69–91; Hartmut Bleumer, »Autor und Metapher. Zum Begriffsproblem in der germanistischen Mediävistik – am Beispiel von Wolframs Parzival«, in: Susanne Friede, Michael Schwarze (Hrsg.), Autorschaft und Autorität in den romanischen Literaturen des Mittelalters, Berlin, New York (Beihefte zur ZrPh 390) [im Druck]. 30 Zur Überlieferung vgl. Bein (wie Anm. 27), 32–44; Albrecht Hausmann, Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40); Unzeitig (wie Anm. 5). 31 Ausgenommen sind davon natürlich z. B. Frauenstrophen oder Mädchenlieder.

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vollzogene methodische Kurzschluss interessant, denn er führte zu der Annahme, anhand der Lieder könne man eine »Liebesbiographie der Dichter«32 nachvollziehen. Diese Sicht hat also den Minnesang stillschweigend mit Blick auf eine Lebens- und Liebesgeschichte der Dichter narrativiert. Demgegenüber hat sich der Blick auf den Minnesang in der neueren und neuesten Forschung gewandelt: Es herrscht Konsens darüber, daß das Ich in einem literarischen Text nicht eo ipso gleichzusetzen ist mit dem Ich des Dichters, sondern daß es sich in den meisten Fällen um ein Rollen-Ich handelt und daß zwischen Autor-Ich, Sänger-Ich, interner Sprecher- und exter33 ner Sängerrolle zu differenzieren ist.

Damit verschwand auch die narrative Implikation aus der Forschung. Zugleich wurde der Autor als »historisches Subjekt« bei der Analyse von Minnesang nun eine Zeit lang komplett ignoriert und »jede Form des Ich als Rollen-Ich gedeutet«. Diese beiden (extremen) Positionen werden in der jüngsten Forschung mit Blick auf die »Pragmatik mittelalterlicher Literaturpraxis« und die Frage nach dem »Rollenträger«34 miteinander verbunden. Sowohl die biographische Sicht auf den Minnesang als auch die reine Interpretation von Minnesang als ›Rollendichtung‹ sind gegensätzliche Pole, die zusammengeführt werden. Vor dem Hintergrund der analytischen Differenzierung ist indes nicht zu übersehen, dass die Lieder nicht nur einer solchen Differenzierung, sondern zugleich auch einer Amalgamierung zuarbeiten. Für das Publikum verschwimmen die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Ich-Instanzen – dem Dichter, dem Sänger und dem Sprecher-Ich – in der Aufführungssituation. Mit Blick auf die von der Forschung geforderte Trennung dieser Instanzen wirkt gerade die Erwähnung des Autornamens genau dieser angestrebten Trennschärfe entgegen – die drei Ich-Formationen schieben sich übereinander und sind scheinbar untrennbar.35 Dieser Effekt innerhalb der Performanzsituation36 führt also dazu, dass Sprecher-Ich, Sänger und Dichter vom Publikum als identisch wahrgenommen

|| 32 Vgl. dazu Bein (wie Anm. 27), 154f. (Zitat: 154). Als Beispiel kann dienen: Karl Kurt Klein, Zur Spruchdichtung und Heimatfrage Walthers von der Vogelweide. Beiträge zur Waltherforschung, Innsbruck 1952 (Schlern-Schriften 90). 33 Bein (wie Anm. 27), 155. 34 Alle Zitate ebd. 35 Vgl. Müller (wie Anm. 11), 21. Die Selbstnennungen des Autors im Minnesang verweisen laut Müller (wie Anm. 11), 10 und 15f., auf den »fiktionalen Status« des Texts, der im Minnesang eigentlich zu verschleiern versucht wird. 36 Vgl. dazu grundlegend Manfred Günther Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980, sowie Haiko Wandhoff, Der

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werden. In eine ähnliche Richtung tendiert auch Monika Unzeitig, die in den seltenen Selbstnennungen der Autoren im Frühen und Hohen Minnesang keine Nennung des ›Autornamens‹ oder die Thematisierung von ›Autorkompetenz‹, sondern die Verbindung des Autornamens mit der »Rolle des Sängers als Liebende[m]«37 sieht. Das funktioniert natürlich nur, wenn der Autor den Liedvortrag selbst vornimmt. Das Ich, welches das Lied singt, ist dann das gleiche Ich, welches das Lied verfasst hat: Das ›ich singe‹ und das ›ich minne‹ werden miteinander verknüpft, und der Minnediskurs wie auch die poetologische Auseinandersetzung mit dem Minnesang vereinen sich im Sänger- und Autor-Ich. Denn »singen bezeichnet Autorschaft und Liedvortrag. [...] Verfassen und Vortragen werden im Minnesang nicht weiter terminologisch ausdifferenziert«.38 Das bedeutet nun aber eigentlich, dass ein Dreischritt vollzogen wird: Ich dichte, ich minne und ich singe, wobei dieses tihten im Minnesang nicht ausdrücklich verbalisiert wird. Genau daraus folgt dann für Unzeitig, dass »[t]extintern [...] die Ich-Aussage im Minnesang allerdings ohne Referenzsystem [bleibt], die eine Differenzierung von Autor und Sänger zuließe«.39 Diese textinterne Ich-Instanz steht in einer besonderen Beziehung zur Vorstellung bzw. Emergenz des ›lyrischen Ich‹, ist aber nicht mit jener gleichzusetzen. Denn der Begriff des lyrischen Ich wird häufig missverständlich verwendet: Nicht die textinterne Ich-Instanz, sondern der Präsenzeffekt im lyrischen Text ist damit gemeint, d. h. die spezifische Medialität von Lyrik zwischen Schriftlichkeit und mündlichem Vortrag schafft diesen Präsenzeffekt. Dabei hängt dieser Präsenzeffekt nicht von einem textlichen ›Ich‹ ab; auch ein ›lyrisches Bewusstsein‹ kann die Stelle des lyrischen Ich einnehmen.40 Für das oben genannte Beispiel Ich bin dîn bedeutet das, dass im Chiasmus zwischen Ich und Du das lyrische Ich

|| epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur, Berlin 1996 (Philologische Studien und Quellen 141). 37 Vgl. dazu Unzeitig (wie Anm. 5), 185–191 (Zitat: 186). 38 Ebd., 188. 39 Ebd., 191. 40 Vgl. dazu überblicksartig Jan Borkowski, Simone Winko, »Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff lyrisches Ich und seinen Ersetzungsvorschlägen«, in: Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York 2011 (TMP 16), 43–78; vgl. auch Rüdiger Zymner, Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn 2009, oder – unter speziell mediävistischen Aspekten – Matthias Meyer, »›Objektivierung als Subjektivierung‹. Zum Sänger im späten Minnesang«, in: Elizabeth A. Andersen u. a. (Hrsg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter, Tübingen 1998, 185–199, hier: 194–198, sowie Bleumer/Emmelius (wie Anm. 25), 15–23.

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entsteht. Im Anschluss daran sind für den Minnesang Autor und lyrisches Ich nicht voneinander zu trennen, da sich singen, minnen und tihten vereinen. Die literaturtheoretische Trennung von Autor und Erzähler eines Textes wurde anhand von schriftlich verfasster und zum Lesen bestimmter neuzeitlicher Literatur entwickelt.41 Im Unterschied zur neuzeitlichen Literatur gilt für mittelalterliche Literatur, dass es sich um mündliche oder wenigstens für den mündlichen Vortrag bestimmte Literatur handelt. Im Vortrag gilt für die verschiedenen Erzählinstanzen, dass der Vortragende nicht der Erzähler ist, jedoch der Autor auch der Vortragende sein kann. Da der reale Autor als Verfasser des Werkes natürlich nicht im Text enthalten sein kann, sondern nur eine vom Autor gestaltete narrative Instanz,42 wurde, um die ›Autorpräsenz‹ im Text zu erklären, eine weitere narratologische Instanz eingeführt: der ›implizite Autor‹.43 Der implizite Autor kann als Repräsentanz des realen Autors im Text verstanden werden, der zwischen dem (impliziten) Rezipienten und dem realen Autor vermittelt.44 || 41 Die rezente mediävistische Forschung hat sich dieser Position größtenteils angeschlossen, vgl. z. B. Timo Reuvekamp-Felber, »Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz von Erzählerstilisierung, Stoff und Gattung in der Epik des 12. und 13. Jahrhunderts«, ZfdPh 120 (2001), 1–23, hier: 4. Unzeitig (wie Anm. 5), 204, hingegen weist darauf hin, dass eine »kategoriale Trennung von Autor und Erzähler [...] also genau die Funktionen trennen [würde], die in mittelalterlichen Texten zur Repräsentation von Autorschaft genutzt werden können, nämlich die des Verfassens und die des Vortragens.« 42 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 1), 59. Vgl. dazu auch Butzer (wie Anm. 9), 161f. 43 Der ›implizite Autor‹ entscheidet wissent- oder unwissentlich, was der Leser zu lesen bekommt. Damit übernimmt er also eine Mittlerstellung zwischen dem Erzähler, den Figuren der Handlung, dem Leser und dem empirischen Autor. Vgl. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, London 21991, 74f. und 157–159. – Zur Diskussion um den impliziten Autor vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Vorwort hrsg. von Jürgen Vogt, München 1994, 283–295; Ansgar Nünning, »Renaissance eines anthropomorphisierten Passepartouts oder Nachruf auf ein literaturkritisches Phantom? Überlegungen und Alternativen zum Konzept des implied author«, DVjs 67 (1993), 1–25; Tom Kindt, Hans-Harald Müller, »Der implizite Autor. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs«, in: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, 273–288; Wolf Schmid, Art. »Implied Author«, in: Peter Hühn u. a. (Hrsg.), The Living Handbook of Narratology, online unter: http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/implied-author-revisedversion-uploaded-26-january-2013 [letzter Zugriff: 17. November 2015]. 44 Zur Kritik am Konzept des impliziten Autors und dessen Autorrepräsentanz im Text aus mediävistischer Sicht: Laut Unzeitig würde der implizite Autor nicht ausreichen, um das komplizierte Verhältnis zwischen empirischem Autor, Erzähler und Autorvorstellungen im Text für mittelalterliche Literatur zu verdeutlichen. Sie geht davon aus, dass es sich um »explizit gemachte Autorvorstellungen« handele, welche den empirischen Autor repräsentieren und seine Autorschaft im Text manifestieren würden – v. a. da sie mit dem Namen des Autors verbunden werden. Wird diese Instanz, also der Erzähler, darüber hinaus noch stark personalisiert und konturiert,

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Der implizite Autor hat in einem narrativen Text eine ähnliche Funktion wie das lyrische Ich in einem lyrischen.45 Genauso wie das lyrische Ich einen Präsenzeffekt erzeugt, bedingt der implizite Autor einen Präsenzeffekt über das ErzählerIch, welches zudem noch mit seinem Namen verbunden wird. Die Autorschaftsdiskussion in Bezug auf epische Texte kreist um die Selbstnennungen von Autoren. Diese Selbstnennungen sind zumeist in den angelagerten Peritexten – also den Prologen und/oder Epilogen – zu finden und stehen für gewöhnlich in der dritten Person. Da der Prolog des Erec verschollen ist, möchte ich hier als Beispiel die entsprechenden Verse aus dem Iwein heranziehen: »er was genant Hartman / und was ein Ouwære« (V. 28f.).46 Nach diesem Muster nennt Hartmann seinen Namen auch in den Prologen seiner anderen erzählenden Texte. Dadurch scheint die Unterscheidung von Autor und Erzähler leicht vorzunehmen zu sein: In den Prologen gibt es jeweils eine Selbstnennung des Autors, jedoch spricht er immer in der dritten Person von sich.47 Im späteren Verlauf all dieser Werke gibt es aber ein Erzähler-Ich, welches die Handlung darbietet, kommentiert und exkursiv begleitet.48 Diesen Erzähler hat Hartmann aus seiner jeweiligen Vorlage ›übernommen‹ – auf jeden Fall für die Romane Erec und Iwein (hier von Chrétien de Troyes).49 Selbstnennungen innerhalb der Texte kommen auch vor, sind aber auf digressiones beschränkt, in denen der

|| wäre die Unterscheidung zwischen Erzähler und implizitem Autor schwierig durchzuhalten. Jedoch können auch Versuche wie »der Erzähler in der Maske des Autors« oder »der Erzähler in der Autorrolle« die explizit gemachten Autorvorstellungen nicht erklären, da sie nur auf die Instanz des Erzählers abzielen und damit die dahinter liegende Autorvorstellung außer Acht lassen würden. Der empirische Autor aber verknüpfe seinen Namen mit der Erzählinstanz, um sich als Autor zu nennen, und nicht, um dem Erzähler einen Namen zu geben. Vgl. dazu Unzeitig (wie Anm. 1), 60f. (alle Zitate: 61). Diese Ansicht wiederholt und vertieft Unzeitig (wie Anm. 5), 202–205. 45 Vgl. Meyer (wie Anm. 40), Schönert (wie Anm. 28), Bleumer/Emmelius (wie Anm. 25) und Borkowski/Winko (wie Anm. 40). 46 Zitierte Ausgabe: Hartmann von Aue, Iwein, Text der siebenten Ausgabe von Georg Friedrich Benecke, Karl Lachmann und Ludwig Wolff, Übers. und Nachwort von Thomas Cramer, 4., überarb. Aufl., Berlin, New York 2001. 47 Vgl. grundlegend zum Erzähler in mittelhochdeutschen Romanen Uwe Pörksen, Der Erzähler im mittelhochdeutschen Epos. Formen seines Hervortretens bei Lamprecht, Konrad, Hartmann, in Wolframs ›Willehalm‹ und in den ›Spielmannsepen‹, Berlin 1971 (Philologische Studien und Quellen 58), sowie Paul Herbert Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue. Formen und Funktionen seines Hervortretens und seine Äußerungen, Göppingen 1980 (GAG 299). Arndt, 159–162, weist darauf hin, dass es in den Prologen kein Erzähler-Ich gebe, und geht deshalb davon aus, dass in den Prologen der Autor sprechen müsse, der von sich in der dritten Person spreche. 48 Vgl. z. B. Bein (wie Anm. 27), 134–154; Reuvekamp-Felber (wie Anm. 41). 49 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 242. – Nur sieht Hartmanns Umsetzung anders aus.

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Autor [...] sich in unterschiedlicher Weise als Autor ›ins Spiel‹ bringen [kann], zum Teil tatsächlich in ›spielerischer‹ Form, in dem [sic!] er Erzählerrolle, Autorrolle und gar Hand50 lungsträgerrolle zeitweilig in eins fallen läßt.

Für epische Texte scheinen in diesen Fällen dann Autor und Erzähler untrennbar zu sein. Ähnliches gilt auch schon für den Dichter, Sänger und das Sprecher-Ich im Minnesang. Zentral für meine Überlegungen sind die umstrittenen Thesen von Harald Haferland zur Rollenhaftigkeit des Minnesangs.51 Haferland sieht den Minnesänger nicht in einer Rolle,52 sondern nimmt für das ›Ich‹ einen Selbstbezug des Sängers an. Das scheint in der Argumentation Haferlands zunächst eine historische Referenz zu sein, läuft aber letztlich nicht auf eine Rückkehr zum Biographismus hinaus,53 sondern ist ein Insistieren auf dem offenbar lyrikspezifischen Präsenzeffekt. Beim Spielen einer Rolle führte die Werbung nämlich zu einer Doppelung des Sängers: Der Sänger spielte einen Sänger, der so tut, als ob er um eine Dame werben würde. Damit würde die Werbung aber als reine Fiktion entlarvt werden und die Aufrichtigkeitsbeteuerungen des Sängers ergäben keinen Sinn, denn in einer Rolle müssten ja auch die Zweifel des Publikums nicht ausgeräumt werden. Die Aufrichtigkeitsbeteuerungen wären also dazu da, um zu zeigen, dass der Sänger mit seinem Minnesang tatsächlich um die Dame wirbt, obwohl es – und das ist entscheidend – diese Dame tatsächlich nicht gibt.

|| 50 Bein (wie Anm. 27), 138. – Es gibt aber auch die Position, dass der Autor überhaupt nicht als Erzählinstanz im Text vorhanden sei, sondern diese an den Erzähler delegiere, der aber auch als Autor auftreten könne. Der Erzähler trüge dann zwar den Namen des Autors, aber nur in einer Rolle. Vgl. Reuvekamp-Felber (wie Anm. 41), 4f. 51 Vgl. Harald Haferland, »Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen der Minnesänger für das Verständnis des Minnesangs?«, in: Thomas Cramer, Ingrid Kasten (Hrsg.), Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik, Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), 232–252; ders. (wie Anm. 11); ders., »Minnesang als Posenrhetorik«, in: Albrecht Hausmann (Hrsg.), Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), 65–105. – Zur Kritik an den Thesen Haferlands vgl. z. B. Jan-Dirk Müller (wie Anm. 22) sowie Hausmann (wie Anm. 23). 52 Die Werbung um eine verheiratete Dame ist keine Rolle im Sinne einer Theaterrolle, sondern eine soziale Rolle, die die Werbung in Ehrerbietung verwandelt. Außerdem dient der Minnesang neben seinem Unterhaltungsaspekt für die höfische Gesellschaft der Erziehung und der Vermittlung von Werten. 53 Grundlegend sei aber festgestellt, dass als Voraussetzung bei Haferland gilt, dass der Sänger gleichzeitig auch der Dichter ist. Zum Zweifel an der Position, dass Sänger und Autor im Minnesang identisch sind, vgl. Frank Willaert, »Minnesänger, Festgänger?«, ZfdPh 118 (1999), 321–335.

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Auf die Rezeptionssituation wird in den Liedern oft Bezug genommen – dabei wird das Publikum angesprochen, und das Hier und Jetzt des Vortrags wird thematisiert. Im Minnesang finden sich selten Fiktionalitätssignale, sondern eher Bezugnahmen auf reale Begebenheiten, wozu auch die Selbstnennungen von Sängern gezählt werden können. Zu diesem Komplex gehören die Erwähnung von Konkurrenten und intertextuelle Bezüge – auch zwischen verschiedenen Minnesängern. Für Haferland gibt es neben einem Strophen- und Lied-Ich auch noch ein ›Œuvre-Ich‹,54 welches ein »referentielles Kontinuum«55 bildet. Durch Verweise zwischen mehreren Strophen werde aus dem Strophen-Ich ein Lied-Ich; genauso entwickele sich aus Verbindungen zwischen unterschiedlichen Liedern eines Sängers das Œuvre-Ich. Das ist das referentielle Kontinuum. Dieses Kontinuum wird durch Verweise auf Publikumsreaktionen, vergangene Handlungen der Dame oder auch außerliterarische Ereignisse, Orte und Personen geprägt. Dadurch kommt es zu einer Biographisierung bzw. Personalisierung des Sängers – was aber nicht mit einer Autobiographie des Autors verwechselt werden darf, denn der Sänger, der dem Publikum bekannt gewesen sein dürfte, kann dann mit biographischen Elementen spielen: Wichtig dabei ist, dass die Selbstaussagen des Autors und die Beteuerungen, die Wahrheit zu sagen, nicht als offensichtliche Fiktion durch das Publikum entlarvt werden können. ›Kleine Lügen‹ dürften daher möglich gewesen, aber zu große Abweichungen in den Selbstaussagen werden eher vermieden worden sein, denn sonst würden z. B. Aufrichtigkeitsbeteuerungen als fiktional erkannt werden. Zudem ist die Pose des Minnenden auch immer an den Körper des Sängers gebunden, womit er einen direkten Bezug des Liedes auf sich selbst herstellt – soweit der Ansatz von Haferland. Die meisten dieser Annahmen lassen sich auch auf den Erzähler in der Epik übertragen. Bei einer anzunehmenden Performanzsituation,56 die der des Minnesangs ähnlich ist, übernehmen die Wahrheitsbeteuerungen und Quellenberufungen des Erzählers die Funktion der Aufrichtigkeitsbeteuerungen des Sängers. Hier gilt – wie für die Aufrichtigkeitsbeteuerungen im Minnesang –, dass eine

|| 54 Bei Haferland steht das Œuvre-Ich nur für das minnesängerische Werk eines Dichters. Die Epik wird dabei außenvorgelassen. 55 Haferland, Posenrhetorik (wie Anm. 51), 73 und 94. 56 Ich gehe an dieser Stelle von einer modellhaften Vorstellung aus. Mit einem Vorleser, der nicht der Autor ist, würde zwar der Vorleser in einer Rolle sein, jedoch wäre die Rückkoppelung vom Erzähler an den Autor auch gegeben. Bei einem überzeugenden Vortrag des Rezitators würde dieser Effekt ähnlich wirken: Der Vorleser würde mit dem Erzähler und womöglich darüber hinausgehend mit dem Autor identifiziert werden.

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Trennung von Autor und Erzählinstanz, z. B. in einer Rolle, als Fiktionalitätssignal durch das Publikum gewertet werden würde, denn hier entstünde in einer Rolle eine Doppelung: Der vortragende Autor träte in der Rolle eines Erzählers in der Autorrolle auf. Das erscheint mir als etwas verwirrend für den Zuhörer, v. a. da Autoren sich häufig selbst nennen und den Erzähler mit ihrem Namen belegen. Diese Selbstnennungen der Autoren, durch die das Erzähler-Ich mit dem Autor verklammert wird, funktionieren zu großen Teilen ähnlich wie im Minnesang – die dort zugegebenermaßen selten vorkommen. Es gibt z. B. im Werk Wolframs von Eschenbach ebenfalls mehr oder weniger stark ausgeprägte Tendenzen zur Biographisierung bzw. Personalisierung des Erzählers (im Anschluss an den impliziten Autor).57 Diese Biographisierung bzw. Personalisierung führt zu einem referentiellen Kontinuum innerhalb eines Werkes, aber durch die Anbindung des Autornamens an den Erzähler auch zur Etablierung eines Œuvre-Ichs zwischen verschiedenen Texten desselben Autors; dazu zählen nicht nur der namentlich verbundene Erzähler, sondern z. B. auch Bezugnahmen auf das eigene Werk. Es wäre also zu zeigen, dass es eine Art ›Stellen-Ich‹, ein Text-Ich, welches dem Erzähler eines Werkes entspricht, und ein Œuvre-Ich, welches mit dem Erzähler in den unterschiedlichen epischen Texten eines Autors übereinstimmt, gibt. Darüber hinaus gibt es auch ein ›transgenerisches Œuvre-Ich‹, das z. B. lyrische und epische Texte eines Autors durch das referentielle Kontinuum verbindet, also zwischen den Gattungen existiert. Dafür benutze ich den Ausdruck ›transgenerisches referentielles Kontinuum‹. Auch die Pose des vortragenden Autor-Erzählers, die auf den Körper des Vortragenden und damit auf den Autor verweist, lässt sich für den Erzähler feststellen.58 Die (fingierten) Publikumsäußerungen und die Reaktionen des Erzählers darauf stellen eine Verbindung zur Performanzsituation her, genauso wie außerliterarische Anspielungen wie die Erwähnung von Konkurrenten oder Bezugnahmen auf reale Orte, Personen oder Ereignisse. Dass die Verweise außerliterarisch sind und ein referentielles Kontinuum bilden, sagt nichts über den ontologischen

|| 57 Vgl. Ulrich Ernst, »Formen analytischen Erzählens im Parzival Wolframs von Eschenbach. Marginalien zu einem narrativen System des Hohen Mittelalters«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999 [SIA 4], 165–198, hier: 192. Ernst spekuliert an dieser Stelle auch, dass »wenn man sich vorstellt, daß der Autor sein Werk selbst vor der höfischen Gesellschaft vorgetragen hat, die in der Situation der körperlichen Präsenz des Dichters und der face-to-face-Kommunikation leicht Erzähleraussagen als Autoraussagen auffassen konnte, wenn diese nicht, was allerdings zu vermuten ist, mit ironischer Distanz vorgetragen sein sollten.« 58 Als Beispiel dafür kann die Pose des Parzival-Erzählers in der Badewanne dienen (116, 1–4).

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Status der Rede aus. Das referentielle Kontinuum ist als Diskursprodukt aus realen und fiktionalen Verweisen zwischen Realität und Fiktionalität zu sehen. Dazu gehört, dass die Aufführungssituation und damit auch der Faktor ›Mündlichkeit‹ dem Text inhärent ist. Zu diesem Komplex zählen auch z. B. die direkten Ansprachen des Erzählers an das Publikum. Das Hier und Jetzt des Erzählens wird durch die im Text inszenierte Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption unterstützt.59 Auch wenn nicht viele der von Haferland aufgestellten Kriterien bei der Betrachtung der drei Strophen von Hartmanns Maniger grüezet zu finden sind60 – man darf wohl konstatieren, dass es eine ›gefühlte Gegenwart‹ in der ersten Strophe61 und eine direkte Ansprache des Publikums in der dritten Strophe62 gibt –, lässt sich für das Lied festhalten, dass der Name ›Hartmann‹ mit einer textinternen Ich-Instanz verknüpft wird. Wegen dieses Effektes, der auch einen außerliterarischen Bezug zum Autor darstellt, habe ich das Beispiel gewählt. Thomas Bein schreibt zu dem Lied: Das sonst fast immer anonyme Rollen-Ich des sprechenden Mannes wird hier über den Namen des Dichters individualisiert. Autor(rolle), Erzähler(rolle) und die Rolle des ›lyrischen Ich‹ fallen zusammen, und je nachdem, welche der drei Komponenten man bei der Lektüre des Liedes vorrangig im Auge hat, verschiebt sich der ›Sinn‹ des Textes, ja nicht nur d i e s e s Textes, sondern auch der anderen Lieder Hartmanns, wenn man sie denn als e i n 63 Textensemble mit intertextueller Verweisstruktur lesen darf.

Im letzten Satz scheint bereits so etwas Ähnliches wie Haferlands Œuvre-Ich auf – warum sollte man also nicht auch für die vergleichbaren Stellen in der Epik ein Œuvre-Ich annehmen? Wie bereits oben angedeutet, lassen sich in der Erzähler-digressio in Hartmanns Erec, in der Enites Pferd beschrieben wird (V. 7286–7766),64 viele der || 59 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5). 60 Haferland führt dieses Lied, soweit ich sehe, nirgendwo als Beispiel an. 61 Vgl. Haustein (wie Anm. 17), 90f. Die komplette Strophe lautet: »Maniger grüezet mich alsô / – der gruoz tuot mich ze mâze vrô –: / ›Hartman, gên wir schouwen / ritterlîche vrouwen.‹ / mac er mich mit gemache lân / und île er zuo den vrowen gân! / bî vrowen triuwe ich niht vervân, / wan daz ich müede vor in stân« (MF 216, 29–36). 62 Der Vers lautet: »des wil ich, des sî iu bejehen«. 63 Bein (wie Anm. 27), 143 (Hervorhebungen im Original). 64 Aus Platzgründen betrachte ich hier diesen Exkurs nur bis zum Ende des Dialogs mit dem Zuhörer (V. 7525). Ich denke, dass sich die wichtigsten Phänomene auch daran zeigen lassen. – Franz Josef Worstbrock, »Dilatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue«, Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), 1–30, hier: 20, sieht in der Beschreibung geradezu »ein wahres Gedicht im Gedicht«.

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Merkmale, die Haferland für den Minnesang beschrieben hat, auch an einem epischen Text aufzeigen: vrâget iemen mære ob ez schœner wære dan daz si unz her geriten hât? (V. 7286–88) Will jetzt jemand wissen, ob es schöner sei als ihr voriges Pferd?

Die Frage, die der Erzähler hier stellt, wird dem fingierten Publikum in den Mund gelegt und ist eine von vielen Publikumsansprachen in Vorbereitung auf den Dialog mit dem Zuhörer. Nur einige weitere Publikumsadressen seien hier beispielhaft genannt: »als ir ê wol hôrtet sagen« (V. 7268), »als ich iu wil sagen« (V. 7277), »dâ von wirt iu niht mê gezalt« (V. 7429) oder »waz sol iu mê dâ von gezalt?« (V. 7461). Diese direkten Ansprachen an das Publikum rufen die Performanzsituation auf, in der der Erzähler vor dem Publikum sein Werk vorträgt; dabei wird er von den fingierten Zuhörern unterbrochen und geht auf mögliche Einwände ein. Auch Wahrheitsbeteuerungen gibt es im Rahmen der Beschreibung von Pferd und Sattel.65 Im Text finden sich kleine Einwürfe, wie z. B. »daz ist wâr« (V. 7326), »zewâre sage ich iu daz« (V. 7447) oder »daz ich iu rehte seite« (V. 7476). Außerdem gehört zu diesen Wahrheitsbeteuerungen auch die anfangs erwähnte Stelle mit dem potentiellen Einwand »giht ieman: ›er enhât niht wâr‹« (V. 7389). An allen diesen Stellen will der Erzähler glauben machen, dass er nur ›Tatsachen‹ berichtet. Eine weitere Wahrheitsbeteuerung mit einer brevitas-Formel findet sich in der Einleitung zu dem fiktiven Dialog mit dem Zuhörer (V. 7476–92).66 Dabei wird die angekündigte Kürze ironisch gebrochen, da diese Stelle doch recht umfangreich ausfällt. Ähnlich verfährt der Erzähler bereits an zwei weiteren Stellen zuvor (V. 7429–32 und 7450–55), ohne die eigene Forderung nach Kürze einzuhalten.67 Uwe Pörksen schreibt dazu:

|| 65 Vgl. Pörksen (wie Anm. 47), 79f. 66 Die Stelle lautet: »daz ich iu rehte seite / von diseme gereite, / wie daz erziuget wære, / daz würde ze swære / einem alsô tumben knehte: / und ob ichz aber rehte / iu nû gesagen kunde, / sô wærez mit einem munde / iu ze sagenne al ze lanc. / ouch tuot daz mînem sinne kranc, / daz ich den satel nie gesach: / wan als mir dâ von bejach / von dem ich die rede hân, / sô wil ich iuch wizzen lân / ein teil wie er geprüevet was, / als ich an sînem buoche las, / sô ich kurzlîchest kan.« 67 Vgl. Pörksen (wie Anm. 47), 48f. V. 7429–32 lautet: »dâ von wirt iu niht mê gezalt, / daz ich die rede iht lenge, / wan ez was doch ze enge / einem gewahsen man«; V. 7450–55 lautet: »wan daz ez niht rehte kæme / und ein teil missezæme / von einem pherde alsô vil / ze sprechen, des ichz lâzen wil, / sô möhte ich wunder von im sagen: / sus wil ich lobes mê gedagen.«

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Der Erzähler simuliert Anerkennung der Forderungen der Rhetorik und behält die mögliche Langeweile des Publikums ständig im Auge. Demutsformel, Unsagbarkeitstopos und Quellen68 berufung treten in den Dienst ausführlicher Ankündigung, ›so kurz wie‹ möglich zu sein [...].

Neben den Wahrheitsbeteuerungen gibt es in der Erzähler-digressio drei Quellenberufungen: »des hôrte ich im den meister jehen« (V. 7299), »als uns der meister seite« (V. 7462) und, direkt vor dem Dialog, »als ich an sînem buoche las, / sô ich kurzlîchest kan« (V. 7491f.). Zwei dieser drei Quellenberufungen bedienen sich einer der Formeln der mündlichen Tradition, nur die dritte gehört in die schriftliche Tradition und verweist auf das buoch.69 Direkt auf die dritte Quellenberufung folgt dann der Dialog mit dem Zuhörer, der allerdings eine Unterbrechung des Erzählervortrags darstellt.70 Auffällig an den Versen vor dem Dialog (V. 7485– 92)71 ist, dass die Demutsformel, der Unsagbarkeitstopos und die brevitas-Formel »sô ich kurzlîchest kan« (V. 7492) in den Dialog münden, in dem der Zuhörer zu erraten versuchen soll, wie der Sattel beschaffen sei, und der Erzähler die Ankündigung der Kürze nicht einhält, sondern die digressio immer weiter in die Länge zieht. Diese Tatsache, nämlich dass sich der Erzähler selbst widerspricht und die geforderte Kürze nicht erfüllt, und auch die Art, wie der Erzähler im Dialog das Tempo forciert, indem er dem Zuhörer auf dessen erste beiden Einwürfe jeweils mit »nû sprechet drâte« (V. 7495) und »nû vil drâte« (V. 7497) antwortet, entbehrt nicht einer gewissen Komik.72 Darüber hinaus erhöht sich die zeitliche Intensität, was gerade durch den Präsenzeffekt entsteht, der durch das gesteigerte Tempo im Dialog und den schnellen Wechsel der Rede erzeugt wird. Den Vorwürfen des fiktiven Publikums, zu langatmig zu erzählen, begegnet der Erzähler, indem er selbst ungeduldig reagiert und langatmig seine Kürze betont. Paul Herbert Arndt sieht »durch Zurückweisung der ungeduldigen Zwischenfrage des fiktiven Publikums [die Möglichkeit,] eine ähnliche ungeduldige Reaktion des realen Publikums von vornherein [zu] desavouieren.«73 Das zeigt, dass der Text auf die Aufführungssituation hin konzipiert wurde und Rezeption sowie Produktion fiktiv zusammenfallen.

|| 68 Pörksen (wie Anm. 47), 49. 69 Vgl. Pörksen (wie Anm. 47), 69f. Pörksen weist hier darauf hin, dass im Erec nur zwei Quellenberufungen auf das buoch (V. 7491 und 8698) als Quelle zu finden sind; an allen anderen Stellen beruft Hartmann sich auf Formeln der mündlichen Überlieferung: den meister (V. 7299, 7462 und 8201), die âventiure (V. 185, 281, 743, 2239 und 2897) und das mære (V. 2094). 70 Vgl. Arndt (wie Anm. 47), 147. 71 Siehe den in Anm. 66 zitierten Text. 72 Vgl. Pörksen (wie Anm. 47), 38, 49 und 186f. 73 Arndt (wie Anm. 47), 151.

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Der Dialog und die häufigen Erzählerbemerkungen dienen also gewiss dazu, die Handlungsarmut der Pferde- und Sattelbeschreibung interessanter zu gestalten und somit die Aufmerksamkeit des (realen) Publikums aufrechtzuerhalten.74 Dabei ist zu beachten, dass zum einen der Dialog in den Text integriert ist und keine »situative Rückkoppelung«,75 d. h. keine spontane Reaktion des Erzählers auf eine tatsächliche Äußerung des Publikums, ist. Zum anderen wird durch den Vers »jâ stât dir spotlîch der munt« (V. 7514) suggeriert, dass reale Face-to-FaceKommunikation stattfindet, die natürlich auch nur fiktiv, da textlich fixiert, ist. Damit wird v. a., so Arndt, der Erzähler zu einer »handelnden (einen Dialog führenden) Figur«,76 welche darüber hinaus auch noch mit dem Namen des Autors verbunden werde und daher in einer ›Autorrolle‹ auftrete. Die Verbindung von Autornamen und Erzähler stellt sodann eine Beziehung zu den in den Prologen genannten Autornamen oder auch zu den anderen Dialogen in Hartmanns Werk her, wie etwa zu dem Dialog mit Frau Minne im Iwein (V. 2971–3028), denn die dortige Nennung Hartmanns funktioniert wie im Beispiel des Dialogs mit dem Zuhörer.77 In einer Performanzsituation mit dem Autor als Vortragendem – aber auch wenn er nicht der Vortragende ist – kommt es für das (reale) Publikum doch zu einer direkten Identifikation des Erzählers mit dem Autor. In dem Fall, dass der Autor nicht der Vortragende ist, käme noch hinzu, dass der Autor-Erzähler mit dem Vortragenden gleichgesetzt werden könnte. Das liegt schon daran, dass auch dem impliziten Autor ein Präsenzeffekt innewohnt. Im Kontrast zu dem erwähnten buoch als schriftlicher Quelle betont der Dialog die im Text inszenierte Mündlichkeit, auch indem sich einige Bezugnahmen auf das Jetzt des Vortrages finden lassen: Allein in den ersten sieben Versen der Erec-Passage finden sich vier nû (V. 7493–99). Dreimal wird dieses nû vom Erzähler geäußert und nur einmal vom Gesprächspartner (V. 7493). An einer anderen Stelle innerhalb des Dialogs verweist der Erzähler auf hiute (V. 7519). Insgesamt ist die digressio dadurch im Jetzt des Vortrages angesiedelt. Die Publikumsansprachen, die Verweise auf hœren, sagen und zalen sowie die Anspielungen auf überwiegend mündliche Quellen im ganzen Erec – wovon zwei in dieser digressio zu finden sind – unterstreichen diesen Charakter.78 Diese sekundäre Mündlichkeit betont den präsentischen Charakter des Erzählerexkurses.

|| 74 Vgl. ebd., 150. 75 Arndt (wie Anm. 47), 148. 76 Vgl. ebd., 148f. (Zitat: 149). 77 Die Iwein-Stelle lautet »dune hâst niht wâr, Hartman« (V. 2982). 78 Hier die Verse zu den jeweiligen Verben: zu hœren: »des hôrte ich im den meister jehen« (V. 7299); zu sagen: »als uns der meister seite« (V. 7462), »saget diu âventiure wâr« (V. 185),

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Zusammenfassend ergibt sich für das Lied Maniger grüezet (MF 216, 29) und den hier untersuchten Teil der digressio im Erec (V. 7286–7525) demnach, dass ein transgenerisches referentielles Kontinuum mit einem transgenerischen Œuvre-Ich vorhanden ist, das z. B. durch außerliterarische Bezüge entsteht. In beiden Texten lässt sich eine Verbindung von Autornamen, textinternem Ich und damit auch vortragendem Autor aufzeigen. Da das textinterne Ich in beiden Texten auch noch mit dem Namen des Autors bezeichnet wird, kann es sich nur um dasselbe Ich handeln. Dadurch ergibt sich eine außerliterarische Bezugnahme auf den Namen des Autors. Als Indizien dafür können die Performanzsituation im Hier und Jetzt, die Publikumsansprachen und die Dialoge gesehen werden. Im Erec finden sich darüber hinaus Wahrheitsbeteuerungen und Quellenberufungen. Gerade über die Komik und Ungeduld in der Dialogstelle wird der Erzähler personalisiert. Insgesamt bietet der ganze Komplex der Verknüpfung des Vortragenden, des Erzählers und des Autors zu einer Person dem Publikum die Möglichkeit, diese drei Entitäten als eine zu identifizieren. Die digressiones sind außerhalb der erzählten Handlung angesiedelt und befinden sich, wenn auch nicht im außerliterarischen Bereich, so zumindest auf einer Ebene, die einen Rahmen um die Handlung bildet. Auch der durch das lyrische Ich und den impliziten Autor hervorgerufene Präsenzeffekt trägt zu der Verbindung von Autor und Erzähler bzw. Dichter, Sänger und Sprecher-Ich bei.

3 Vom Text-Ich zum Œuvre-Ich. Neusituierung des referentiellen Kontinuums in Wolframs Parzival und Willehalm Die Selbstnennungen bei Wolfram von Eschenbach weisen eine andere Struktur auf als die bei Hartmann. Wolframs Namensnennungen im Parzival79 finden sich nicht im Prolog, sondern vielmehr im Epilog (827, 13) und an zwei Stellen, an denen eigentlich keine Namensnennungen zu erwarten wären: eine (114, 2) innerhalb einer Erzähler-digressio, der sogenannten ›Selbstverteidigung‹ (114, 5–

|| »nâch der âventiure sage« (V. 2239 und 2897), »uns saget das wâre mære« (V. 2094); zu zalen: »nâch der âventiure zal« (V. 281), »als uns diu âventiure zalt« (V. 743). 79 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 22003.

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116, 4),80 die andere in 185, 7. Damit folgt Wolfram nicht seiner Vorlage Chrétien.81 Auch stehen die Selbstnennungen nicht in der zweiten oder dritten Person, sondern selbstbewusst in der ersten Person: »ich bin Wolfram von Eschenbach« (114, 12), »ich Wolfram von Eschenbach« (827, 13) und »mir Wolfram von Eschenbach« (185, 7). Im Prolog des Parzival nennt Wolfram sich nicht, jedoch im Prolog des Willehalm. Dafür nutzt er die aus dem Epilog des Parzival bekannte Formel »ich, Wolfram von Eschenbach« (Willehalm, 4, 19)82 und spricht im Anschluss dann auch seine Autorschaft des Parzival an. Auf der einen Seite folgt Wolfram mit den Nennungen in Pro- oder Epilog der Konvention.83 Auf der anderen Seite verstößt er ganz offensichtlich gegen die (lyrischen und epischen) Konventionen, indem er sich selbst in der ersten Person nennt und in Pro- oder Epilog nicht die übliche Terminologie – wie tihten, nennen oder heizen – benutzt.84 Das steht im Gegensatz zu den Selbstnennungen bei Hartmann in den Prologen, die alle in der dritten Person stehen. Im Prolog des Willehalm heißt es dann vollständig: ich, Wolfram von Eschenbach, swaz ich von Parzivâl gesprach, des sîn âventiure mich wîste, etslîch man daz prîste – ir was ouch vil, die’z smaehten unde baz ir rede waehten. (4, 19–24) 85

Ich, Wolfram von Eschenbach, was ich von Parzival erzählte, wie es die Quelle mir befahl, manch 86 einer hat’s gelobt – es gab auch viele, die es schmähten und ihre Dichtung schöner putzten.

|| 80 Ziel dieser Betrachtungen ist keine erschöpfende und neuartige Interpretation der Selbstverteidigung. Ich möchte nur Punkte herausarbeiten, die meine Thesen unterstützen. 81 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 244. 82 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Willehalm, nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen, mittelhochdeutscher Text, Übers., Komm., hrsg. von Joachim Heinzle, mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9/Bibliothek deutscher Klassiker 69). 83 Vgl. Eberhard Nellmann, Wolframs Erzähltechnik. Untersuchungen zur Funktion des Erzählers, Wiesbaden 1973, 30. An dieser Stelle verweist Nellmann auch auf die Erec-Stelle, den Dialog mit dem Zuhörer (V. 7493). Außerdem hebt er hervor, dass sich Wolfram zu den Selbstnennungen im Text von Hartmann hat inspirieren lassen können. Trotzdem unterscheiden sie sich im Ergebnis doch. 84 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 246. 85 Die wörtliche Übersetzung für âventiure fällt sehr unterschiedlich aus: »begebenheit, bes. eine wunderbare; wagnis, zufälliges, bes. glückliches (aber auch unglückliches) ereignis; schicksal; ein gedicht davon […]; die quelle höfischer dichter, personificiert die muse«; Lexer, Bd. 1, 105. 86 Die Übersetzung folgt Heinzle (wie Anm. 82).

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Unzeitig weist darauf hin, dass Wolfram im Willehalm explizit den Ausdruck sprechen (4, 20) für seine Autorschaft des Parzival wählt.87 Als Indiz für Mündlichkeit kann »rede« (4, 24) gesehen werden, womit Wolfram das Werk anderer Dichter bezeichnet. Damit gibt es an dieser Stelle zwei Hinweise auf Mündlichkeit. Die positive und negative Kritik, die der Erzähler in 4, 22–24 anspricht, stellt einen außerliterarischen Bezug her. Bei aller Bekanntheit der Stelle lohnt es sich kurz auf die Thematik hinzuweisen: In der Selbstverteidigung, der ersten Stelle im Parzival, an der Wolfram seinen Namen nennt, geschieht nämlich Ungewöhnliches – es werden Erzählen und Gesang miteinander verbunden. Der Erzähler stellt sich hier als Minnesänger vor: ich bin Wolfram von Eschenbach, unt kan ein teil mit sange, unt bin eine habendiu zange mînen zorn gein einem wîbe (114, 12–15). Ich bin Wolfram aus Eschenbach und verstehe was vom Liederdichten. Und ich bin eine 88 89 Zange und lasse meinen Haß auf jene Frau nicht los.

Schon in den vorausgegangenen Versen (114, 5–13) verdeutlicht der Erzähler, dass er Minnesangkenner sei und auch selbst Erfahrung mit Lyrik habe – dies geschieht in der sprachlichen Form eines recht harschen Absageliedes.90 Gleich im Anschluss an die Namensnennung betont er, dass er zudem Liederdichter sei. Er verbindet diese Selbstaussage mit einer scharfen Kritik an einer ungenannten

|| 87 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 262f. 88 Eigentlich »eine«. 89 Die Übersetzung hier und im Folgenden nach Knecht (wie Anm. 79). 90 Die Stelle lautet: »Swer nu wîben sprichet baz, / deiswâr daz lâz ich âne haz: / ich vriesche gerne ir freude breit. / wan einer bin ich unbereit / dienstlîcher triuwe: / mîn zorn ist immer niuwe / gein ir, sît ich se an wanke sach. / ich bin Wolfram von Eschenbach, / unt kan ein teil mit sange«. – Laut Eberhard Nellmann erinnert die »Polemik […] z. T. an Drohungen der Dienstaufkündigung im Minnesang, geht aber weit über das dort Übliche hinaus. […] mit sange ] Muß sich auf Wolframs Lyrik beziehen.« Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und komm. von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8/Bibliothek deutscher Klassiker 110), Bd. 2, 515.

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Dame (114, 14–18).91 Zu Beginn der Selbstverteidigung bringt der Erzähler die Minnethematik ein und geht dann über zu dem Angriff auf die unbekannte Dame,92 der ihm den Hass aller anderen Frauen eingebracht habe (114, 19–25). Es folgt eine Kritik an Reinmar, der allen »frouwen sprichet mat / durch sîn eines frouwen« (115, 6f.), wobei er sich auf die Reinmar-Walther-Fehde bezieht (115, 5–7) und damit intertextuelle sowie außerliterarische, die realen Autoren betreffende Bezüge herstellt.93 Durch die Minnesprache und die Minnesangsituation nimmt Wolfram Aspekte der Lyrik in seinen Roman auf. Im Anschluss daran setzt der Erzähler dann noch den Ritterdienst (115, 11 und 115, 15–20) gegen den Minnedienst und kommt zu dem Ergebnis: »swelhiu mich minnet umbe sanc, / sô dunket mich ir witze kranc« (115, 13f.). Der Ritterdienst, sei er auch mit dem Risiko verbunden, nicht an das Ziel zu gelangen, die Dame zu erringen, wird von ihm höher geschätzt als der Minnedienst. Dafür kritisiert er zum einen die Damen, die sich von Minnesängern betören ließen, zum anderen stellt er die Minnesänger als nicht ritterlich dar, da sie nicht durch Ritterdienst, sondern durch Gesang die Damen erringen wollten. Seinen poetologischen Ansatz legt Wolfram in der Selbstverteidigung dar, indem er sich gegen die Buchgelehrsamkeit anderer Autoren stellt.94 Die Textstelle

|| 91 Vgl. Nellmann (wie Anm. 83), 19, der an dieser Stelle meint, dass der »Autor [...] sich dabei übrigens nicht als Verfasser vor[stellt]«. Dem würde ich insofern widersprechen, als Autorname und Erzähler miteinander verknüpft sind, auch wenn im Umfeld der Namensnennung die Minne und der Minnesang das dominierende Thema sind. Später jedoch legt Wolfram seine ›Poetologie‹ im Zusammenhang mit dem Erzählen als Frauendienst dar (115, 23–116, 4). 92 Die bis hierhin inszenierte Minnesangsituation kippt, denn ganz unkonventionell wird das Fehlverhalten der Dame angeprangert und nicht – wie üblich – durch ein Absagelied der Minnedienst aufgekündigt. Vgl. Cornelia Schu, Vom erzählten Abenteuer zum ›Abenteuer des Erzählens‹. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs ›Parzival‹, Frankfurt a. M. 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 2), 146f., sowie Michael Curschmann, »Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs Parzival«, DVjs 45 (1971), 627– 667, hier: 652. 93 Vgl. ebd., 656, und Nellmann (wie Anm. 83), 20. Zur Reinmar-Walther-Fehde vgl. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hrsg. von Carl von Kraus, Bd. 2: Kommentar, besorgt von Hugo Kuhn, Tübingen 1978, 669–682; Peter Wapnewski, Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition, Kommentar, Interpretation, München 1972, 184–194; Ricarda Bauschke, Die ›Reinmar-Lieder‹ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung, Heidelberg 1999 (Beihefte zur GRM 15). 94 Wohl aber nicht unbedingt nur gegen Hartmann, denn der erwähnt zwar seine ›Buchgelehrsamkeit‹ in den Prologen, aber im Erzählen finden sich mehr Verweise auf Mündlichkeit als auf Schriftlichkeit. Vgl. Pörksen (wie Anm. 47), 69f. Walter Haug (wie Anm. 9), 177, geht davon aus, dass Wolfram sich von »buchgelehrten Dichter[n] vom Schlage Hartmanns« absetzen möchte. Der ›ungelehrte‹ Erzähler des Parzival steht so in Opposition zu dem miles litteratus Hartmanns,

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beginnt mit einer Ansprache an die Frauen (115, 21–24).95 Die meisten Verse (115, 23–116, 4)96 verwendet Wolfram aber darauf, sein poetologisches Programm auszuführen.97 Wolfram insistiert, dass seine Dichtung nicht als Buch verstanden werden solle, da er überhaupt nicht lesen könne (115, 27);98 zudem hebt er hervor, dass »disiu âventiure / vert âne der buoche stiure« (115, 29f.) – also dass er ohne schriftliche Quellen auskomme. Darüber hinaus behauptet der Erzähler, dass er auch kein Manuskript erstellt habe. Er beruft sich an dieser Stelle somit vollständig auf die mündliche Tradition,99 jedoch ist sein komplexer Erzähl- und Kompositionsstil weit vom mündlichen Erzählen entfernt: Der Parzival kann nur schriftlich konzipiert worden sein.100 Hinweise auf die mündliche Tradition liefert die Textstelle aber en masse: »mære« (115, 23), zweimal »âventiure« (115, 24 und 29) – einmal im Zusammenhang mit sprechen (115, 24), das andere Mal erzählt sich die »âventiure« ohne Buchstaben von selbst (115, 29) –, dazu kommen die Negierung des Buches als Quelle sowie die Ablehnung, seine Erzählung als Buch anzusehen. Gerade durch die Ablehnung des ›Buches‹ stellt Wolfram seine Buchgelehrsamkeit ironisch in den Vordergrund. Die Ansprache an die Frauenwelt (115, 21–24) kann hier als Umdeutung von Erzählen in Minnedienst gesehen werden. Dazu schreibt bereits Michael Curschmann in seiner klassischen Interpretationsskizze: Die scheinbare Sprunghaftigkeit des Gedankens und das damit verbundene terminologische Hin und Her zwischen Minnesänger und Minnedame, Epos und Lied, Minneherrin und Publikum, buoch und Dichter, – in der Aufführung fügt es sich zur Einheit eines gezielten Arguments: Propagierung der Gattung Epos, insbesondere des vorliegenden Beitrags dazu [der Selbstverteidigung], als vollgültige Leistung künstlerischen Frauendienstes, als gesta 101 dominarum per auctorem.

|| wobei Wolfram seinen Erzähler auch als Ritter stilisiert, aber als miles illitteratus. Vgl. Butzer (wie Anm. 9), 175f. 95 Vgl. Nellmann (wie Anm. 83), 27; Unzeitig (wie Anm. 5), 247. 96 Die ganze Stelle lautet: »hetens wîp niht für ein smeichen, / ich solt iu fürbaz reichen / an disem mære unkundiu wort, / ich spræche iu d’âventiure vort. / swer des von mir geruoche, / dern zels ze keinem buoche. / ine kan decheinen buochstap. / dâ nement genuoge ir urhap: / disiu âventiure / vert âne der buoche stiure. / ê man si hete für ein buoch, / ich wære ê nacket âne tuoch, / sô ich in dem bade sæze, / ob ichs questen niht vergæze.« 97 An dieser Stelle verweist Wolfram auch auf seinen Körper in der Badewanne. 98 Hierbei handelt es sich um ein Spiel mit den Begriffen litteratus und illitteratus. Dieses Spiel ist nur für lateinisch Gebildete zu verstehen. 99 Vgl. Butzer (wie Anm. 9), 169. 100 Vgl. Nellmann (wie Anm. 83), 27f. 101 Curschmann (wie Anm. 92), 661.

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Diese Umwidmung des Minnedienstes in Erzählen zeigt auch der Epilog. In den letzten beiden Versen des Parzival heißt es: »ist daz durh ein wîp geschehn, / diu muoz mir süezer worte jehn« (827, 29f.). In den Versen davor spricht Wolfram ein letztes Mal die Frauen an (827, 25–28), indem er sagt, dass er für die guten Frauen die Geschichte zu Ende erzählt habe, nur um dann im minnesängerischen Stil die eine unbekannte Dame anzusprechen und die Erzählung ihr zu widmen.102 Vor dem Hintergrund dieses referentiellen Kontinuums ist das terminologische ›Wirrwarr‹, das Curschmann anspricht, auch als generische Transgression zu sehen, die zu einer Vermischung von Minnesang und Roman führt. In der Selbstverteidigung stellt Wolfram sich als Autor-Erzähler par excellence dar, indem er seinen Namen entgegen der Tradition mit einem ›Ich‹ einführt.103 Dadurch wird die Unterscheidung der beiden ›Funktionsstellen‹ Autor und Erzähler aus heutiger Sicht erschwert, denn der Erzähler stellt sich als Wolfram vor, und das in Form der (bis dahin) ungewöhnlichen Selbstnennung in der ersten Person:104 Für Wolframs Publikum brauchen wir solche Schwierigkeiten nicht anzunehmen: Die Zuhörer kannten Wolfram, waren also nicht (wie wir) ausschließlich auf den Text angewiesen 105 und hatten es insofern leichter, Autorwirklichkeit und Erzählerrolle auseinanderzuhalten.

›Autorfigur‹ und ›Erzählerfigur‹ sind also in der Erzählinstanz bei Wolfram untrennbar miteinander verbunden. Diese Erzählinstanz ist im Akt des Erzählens auch mit beiden Funktionen, der des Erzählers und der des Autors, versehen. Dabei ist es gleichgültig, welche inhaltliche Pose oder Rolle diesen Funktionen im Roman zugewiesen werden, denn sie bleiben an ein und dieselbe Erzählinstanz geknüpft.106 Es kommt zu einer Amalgamierung von Autor und Erzähler. Eine weitere Stelle, die auf Intertextualität und außerliterarische Bezugnahme hinweist, ist die sogenannte ›Hartmann-Apostrophe‹ im Parzival. Wolfram spricht hier Hartmann direkt an: »mîn hêr Hartman von Ouwe« (143, 21). Hartmann wird gebeten, dafür Sorge zu tragen, dass Parzival gut am Artushof aufgenommen werde, denn sonst werde Wolfram Enite – Hartmanns Figur – verspotten (143, 21–144, 4). Hartmann wird in dieser Szene zu einer epischen Figur

|| 102 Vgl. Schu (wie Anm. 92), 141. 103 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 1), 80. 104 Vgl. Nellmann (wie Anm. 83), 30f. 105 Ebd., 31, Anm. 98. 106 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 244–246.

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am Artushof; die Handlung und der Erzählerrahmen fallen hier in eins, und Wolfram nutzt Hartmanns »Technik der Vergegenwärtigung«, um Hartmann der Lächerlichkeit preiszugeben.107 Wolfram nennt seinen Namen erneut im Zusammenhang mit der Belagerung in Pelrapeire (179–223). In die Beschreibung der damit einhergehenden Hungersnot in der Stadt (184, 7–26) hinein spricht der Erzähler von den ärmlichen Zuständen bei sich zu Hause: alze dicke daz geschiht mir Wolfram von Eschenbach, daz ich dulte alsolch gemach. (185, 6–8) Allzu oft geht es mir so, mir, Wolfram aus Eschenbach, daß ich solche Aufwartung hinnehmen muß.

Die eigene Armut wird hier parallel zur Handlung beschrieben108 und bietet den Zuhörern – unabhängig von den vermeintlich realen Zuständen in Wolframs Haus – die Möglichkeit der Identifikation mit sozial schlechter Gestellten und ihren Problemen oder auch des Lachens über diese.109 Diese Selbstnennung im Zusammenhang mit der häuslichen Armut trägt zur Personalisierung des Erzählers bei und erschwert die Trennung von Autor und Erzähler.110 Die dritte Selbstnennung nimmt Wolfram im Epilog vor. Sie folgt auf eine längere Quellenberufung (827, 1–11), die auch den einzigen Verweis auf Chrètien de Troyes im Parzival liefert (827, 1).111 Das ist – neben der Funktion als Quellenangabe – auch ein außerliterarischer intertextueller Bezug: niht mêr dâ von nu sprechen wil ich Wolfram von Eschenbach, wan als dort der meister sprach. (827, 12–14)

|| 107 Vgl. Nellmann (wie Anm. 83), 157f. (Zitat: 158). 108 Vgl. ebd., 136f.; Klaus Ridder, »Autorbilder und Werkbewußtsein im Parzival Wolframs von Eschenbach«, Wolfram-Studien 15 (1998), 168–194, hier: 173f. 109 Vgl. Karl Bertau, »V. Versuch über Wolfram«, in: ders., Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte, München 1983, 145–165, hier: 156. 110 Vgl. Curschmann (wie Anm. 92), 633; Ridder (wie Anm. 108), 172f. Natürlich kann durch diese Aussage kein autobiographisches Sprechen angenommen werden. Nellmann (wie Anm. 83), 31, bemerkt dazu: »Zwar mögen einige dieser Äußerungen a u c h für den Autor gelten« (Hervorhebung im Original). Die nicht mehr zu klärende Frage ist, inwieweit sich die Selbstaussagen von dem realen Wolfram unterscheiden oder inwieweit sie mit ihm übereinstimmen. 111 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 258. – Chrètien wird hier allerdings für seine Umsetzung der mære kritisiert (827, 1–4).

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112

Ich, Wolfram von Eschenbach, will jetzt nichts dazudichten , sondern bloß sagen, was dort jener Meister sprach.

Der Erzählakt wird beendet, und Wolfram betont seine Autorschaft.113 Zwar wird der Begriff sprechen gewählt, doch damit ist nur ein allgemein verständlicher, aber nicht kontextuell und konventionell festgelegter oder belasteter Terminus gewählt. Er passt idealerweise zur Inszenierung des neuen, perfor114 manzbestimmten Autortyps.

Das sprechen wird zu einer Art Leitmotiv Wolframs, der damit natürlich an die Mündlichkeit (des Vortrags) anknüpft. Zudem ist zu dieser Stelle anzumerken, dass die Quellenberufung gleichzeitig auch zur Wahrheitsbeteuerung wird, denn Wolfram will nicht mehr sagen, als die Quelle gesprochen hat, und impliziert damit, dass er jetzt auch nicht damit beginnen möchte, etwas hinzuzudichten. Auch die Erwähnung einer Quelle verweist auf Mündlichkeit, da diese ebenfalls »sprach« (827, 14). Gleichzeitig findet diese Äußerung im Hier und Jetzt der Aufführung statt, was durch ein »nu« (827, 12) angezeigt wird. Für die hier untersuchten Stellen aus Wolframs epischem Werk lässt sich demnach festhalten, dass in einem transgenerischen referentiellen Kontinuum ein stark personalisiertes Œuvre-Ich vorliegt. Schon durch die Selbstnennungen im Parzival und Willehalm – und auch durch die direkte Referenz im Willehalm auf den Parzival in Verbindung mit der Autorschaft desselben – wird das TextIch des Parzival zum Œuvre-Ich in beiden Werken.115 Gerade die unkonventionellen Selbstnennungen Wolframs in der ersten Person tragen dazu bei, dass der Erzähler nicht vom Autor geschieden werden kann. Die Transgression ergibt sich aus der Minneterminologie, die sich nicht nur in der Selbstverteidigung finden lässt, sondern auch in der Umdeutung von Erzählen zu Frauendienst, die sich als eine Art Referenz auf den Minnesang durch den Parzival zieht und das referentielle Kontinuum mit herstellt.

|| 112 Eine genauere Übersetzung für mhd. sprechen wäre ›sprechen‹, ›sagen‹ oder ›reden‹. 113 Vgl. Unzeitig (wie Anm. 5), 258. 114 Ebd., 260. 115 Das transgenerische Œuvre-Ich, welches ich bei Hartmann nachzuweisen versucht habe, ließe sich auch bei Wolfram zeigen, dafür hätte z. B. eine Analyse des Wolfram-Liedes Ein wîp mac wol (MF 5, 16) genügt. Leider ist der Platz an dieser Stelle zu knapp. Zur Beziehung zwischen Selbstverteidigung und dem Lied vgl. Kraus (wie Anm. 93), 669–682; Wapnewski (wie Anm. 93), 184–194.

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Die komplexen intertextuellen Beziehungen – zur eigenen Epik und Lyrik, aber auch zum Werk von Konkurrenten – und die außerliterarischen Bezugnahmen tragen zu einer Personalisierung des Erzählers bei und sind Teil des referentiellen Kontinuums. Auch lassen sich alle anderen Punkte nachweisen, die auf ein Referenzsystem hindeuten: Wahrheitsbeteuerungen und Quellenberufungen, das Hier und Jetzt des Vortrags sowie die Biographisierung des Erzählers. Die Terminologie des mündlichen Erzählens ist durchgehend im Text präsent und unterstützt Wolframs Ablehnung von Buchgelehrsamkeit, was auch für die indirekte Auseinandersetzung mit Konkurrenten, z. B. mit Hartmann oder auch Gottfried von Straßburg, steht. Die Fiktion des mündlichen Erzählens führt zu einer Unmittelbarkeit der Erzählerpassagen, da dadurch die Illusion entsteht, dass das Erzählte im Moment des Erzählens geschaffen werde. Des Weiteren trägt die im Text inszenierte Vortragssituation zu diesem Effekt bei. Gerade auch die Mündlichkeit und der konsequente Gebrauch des Verbes sprechen für Wolframs Erzählen legen es nahe, nochmals Monika Unzeitig mit der prägnanten Formel »sprechen wird zum Frauendienst«116 zu zitieren. Nicht zuletzt: Da Wolfram auch Lyriker ist – in der Selbstverteidigung kennzeichnet er sich ja zunächst als Minnesänger – wird man für den Parzival von einem transgenerischen Ich als Textphänomen ausgehen können. Der Minnesänger Wolfram wird zum ›Minneerzähler‹ Wolfram.

4 Resümee Durch den Begriff des ›referentiellen Kontinuums‹ lässt sich zeigen, dass sich für Hartmann ein transgenerisches Œuvre-Ich und für Wolfram ein Œuvre-Ich ansetzen lässt und dass in weiteren Untersuchungen ein transgenerisches Œuvre-Ich auch für Wolfram nachgewiesen werden müsste. Dass Autor bzw. Dichter, Sänger und Erzähler bzw. Sprecher-Ich eins sind – und auch so im Text und in der Aufführungssituation wahrgenommen werden –, liegt zum einen daran, dass Produktion und Vortrag durch die Verben singen und sprechen in das Hier und Jetzt des Vortrags geholt und damit als gleichzeitig stattfindend empfunden werden. Zum anderen ist das Publikum im Text vorhanden und wird direkt angesprochen, z. B. durch epische Quellenberufungen und Wahrheitsbeteuerungen, aber auch lyrische Aufrichtigkeitsbeteuerungen. Unmittelbarkeit wird im Text durch Wörter wie ›zeigen‹ und ›sehen‹ erzeugt, da sie sofort die Vortragssituation aufrufen.

|| 116 Unzeitig (wie Anm. 5), 262.

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Diese Unmittelbarkeit und die Vortragssituation führen dann (auch) in epischen Texten zu einem ›Präsenzeffekt‹. Ähnliches führen Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius zum Präsenzeffekt aus, womit sie das lyrische Ich als die Protofiguration des Ich-Erzählers einstufen:117 In der weltlichen deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts ist die Lyrik der Ort der Ich-Rede schlechthin, während es in den epischen Texten zunächst keinen Ich-Erzähler gibt. Hinzu kommt, dass die lyrische Ich-Rede eine ästhetische Erfahrung ermöglicht, deren Intensität die Frage der Fiktionalität der Textinhalte unterläuft. Es dürfte die eigentümliche Intensität des lyrischen Ichs sein, die das narrative Experiment des ersten Erzähler-Ichs der mittelhochdeutschen Literatur bei Wolfram von Eschenbach begründet: Das Erzähler-Ich wäre demnach in historischer Hinsicht nicht nur ein narratives Phänomen, es wäre womöglich auch ein transgenerisch begründeter Effekt. [...] Umgekehrt kommt durch die spielerische Distanzierung von der Rolle des Minnelyrikers bereits der Erzähler Wolframs zu As118 pekten einer fiktiven Biographie.

Durch den Effekt, den das lyrische Ich, aber auch der implizite Autor entfaltet, entsteht in beiden Gattungen Präsenz. Dadurch kann der Präsenzeffekt generisch transgressiv beobachtbar gemacht werden. Diese fiktive Biographie des Erzählers bei Wolfram führt zu einer Personalisierung des Erzählers, v. a. durch die Namensgleichheit von Autor und Erzähler. Dadurch kommt es zu einer Verbindung der beiden Instanzen, die untrennbar ist. Besonders die Personalisierung bei Wolfram ist – trotz der Widersprüche und der offenkundigen Komik – sehr prägnant. Hartmann und auch Wolfram werden als Erzähler zu personalisierten Figuren in ihren eigenen Texten. Das führt so weit, dass noch etwa fünfzig Jahre nach Wolframs Tod Albrecht von Scharfenberg im Jüngeren Titurel das Titurel-Fragment Wolframs ›vollendet‹ und dabei dem Erzähler die Züge des Erzählers aus dem Parzival verleiht.119 Gerade durch die Selbstnennungen scheint die strikte Trennung von Autor und textinterner Ich-Instanz aufgehoben zu werden, da genau diese beiden Instanzen ästhetisch in nicht mehr differenzierbarer Weise miteinander verbunden werden. Eine weitere Trennung, die nicht aufrechterhalten werden kann, ist die der Gattungen. Hartmann und Wolfram waren beide Lyriker und Epiker, wobei

|| 117 Vgl. dazu auch Philipowski (wie Anm. 13), 341f. 118 Bleumer/Emmelius (wie Anm. 25), 9f. 119 Vgl. Linda Bryant Parshall, The Art of Narration in Wolframʼs ›Parzival‹ and Albrechtʼs ›Jüngerer Titurel‹, Cambridge 1981 (Anglica Germanica Series 2), 194–220.

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auch beide ›kleinepische‹ Texte, nämlich Kreuz- oder Tagelieder,120 verfasst haben. Dieser Umstand ist ein Indiz für graduelle Unterschiede, aber nicht für klare Grenzen. Das zeigt nicht zuletzt, dass Epiker gleichzeitig Lyriker sind: Lyrische Formen werden in der Epik aufgegriffen und vice versa. V. a. aber ist Wolfram im Parzival sowohl als Erzähler als auch als Minnesänger präsent. Dieses transgenerische Ich im Text entsteht durch das Aufrufen einer Minnesangsituation in der Selbstverteidigung, aber auch die Umwidmung von Erzählen in Frauendienst im Allgemeinen und im konkreten Fall die – im Sinne des referentiellen Kontinuums – mehrfache Erwähnung einer Dame, deren Gunst er mit dem Parzival erlangen möchte. Das referentielle Kontinuum bewegt sich bei Verweisen – selbst in dem außerliterarischen Bereich – zwischen Fiktionalem und Faktualem. Dieser Diskurseffekt der Verweise hält das referentielle Kontinuum in der Schwebe und lässt die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Auch die Grenzen zwischen den Gattungen Epik und Lyrik erodieren im generisch transgressiven Präsenzeffekt des lyrischen Ich und des Erzählers sowie dem referentiellen Kontinuum des transgenerischen Œuvre-Ich. Denn der Erzähler bzw. das Sprecher-Ich und der Autor bzw. der Dichter werden durch den skizzierten Präsenzeffekt amalgamiert. Die innerliterarische Genese des Ich über das Du lässt sich gattungsübergreifend beobachten, was zu einer Verbindung von Sprechinstanz und Autornamen führt. Insgesamt heben sich für die beiden Gattungen die Gegensätze auf und die Grenzen werden durchlässig.

|| 120 Vgl. Volker Mertens, »Erzählerische Kleinstformen: Die genres objectifs im deutschen Minnesang: ›Fragmente eines Diskurses über die Liebe‹«, in: Klaus Grubmüller (Hrsg.), Kleinere Erzählformen des Mittelalters (Paderborner Colloquium 1987), Paderborn 1989, 49–65; Bleumer/ Emmelius (wie Anm. 25), 7f.; Manuel Braun, »Epische Lyrik, lyrische Epik. Wolframs von Eschenbach Werk in transgenerischer Perspektive«, in: Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius (Hrsg.), Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur, Berlin, New York. 2011 (TMP 16), 271–308.

Elisabeth Martschini

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt Überlegungen zu Wolframs von Eschenbach Titurel Abstract: Throughout the last century and especially in its last decades, various interpretations of Wolfram von Eschenbach’s Titurel have been proposed. This essay takes three – those of Christian Kiening/Susanne Köbele, Matthias Meyer and Elisabeth Martschini – and reflects upon the steps which researchers must take to in order to respect the fragmentary form of this enigmatic work in their interpretations. Subsequently, the essay asks whether it is actually possible to interpret a work which is so far from completeness and consistency. A somewhat new approach to Wolfram’s Titurel is offered: what if Wolfram were trying to create a wholly new romance, one which was not a translation or adaptation of the Old French and which needed no influential sources outside of his own Parzival? And why was Wolfram, who failed, so much more successful than his successor Albrecht, who integrated the Titurel fragments into his Jüngerer Titurel?

Wer sein Augenmerk auf dieses Werk richtet, [...] wird nicht die Hoffnung haben und haben dürfen, ein entscheidendes, lösendes Wort oder gar das entscheidende, abschließende Wort sprechen zu können. Er wird, wenn er überhaupt Neues in den Blick bekommt, dies vorsichtig als Möglichkeit hinstellen, als Entwurf, als Vorschlag zum Überdenken oder bes1 tenfalls zum Weiterdenken.

Diese Aussage Helmut Brackerts über den Text, der uns als der Titurel bzw. die Titurel-Fragmente des Wolfram von Eschenbach bekannt ist, kann quasi als Fazit der Titurel-Forschung gelten, die von sehr unterschiedlichen Möglichkeiten, Entwürfen und Vorschlägen zur Interpretation dieses Werks geprägt ist. Da ein Fazit für gewöhnlich jedoch erst am Ende eines Textes steht, will ich auf den folgenden Seiten einige Interpretationsmöglichkeiten ›nachliefern‹, bevor ich mit einem neuen Vorschlag hinsichtlich der – in erster Linie formalen und literaturgeschichtlichen – Einschätzung des Titurel den Bogen zurück zu Brackert schlage. Dabei geht es mir nicht in erster Linie um die Ergebnisse der einzelnen Analysen, || 1 Helmut Brackert, »Sinnspuren. Die Brackenseilinschrift in Wolframs von Eschenbach Titurel«, in: Harald Haferland, Michael Mecklenburg (Hrsg.), Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 19), 155–175, hier: 155f.

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sondern um die Prämissen, unter denen diese vorgenommen werden. Angesichts der Vielzahl von Titurel-Interpretationen bin ich zu einer rigiden Auswahl gezwungen, zumal es mir um keine auch noch so kurze Forschungsgeschichte zu tun ist. Exemplarisch werde ich drei für mich maßgebliche Arbeiten zu Wolframs Titurel genauer unter die Lupe nehmen, um an ihnen zu demonstrieren, welcher Möglichkeiten der Herangehensweise an diesen Text sich die Forscher der vergangenen zwei Dekaden bedient haben und welche Auswirkungen diese auf die Ergebnisse hatten. Basierend auf ihnen entwickle ich schließlich meine eigene These, die manche früheren Zugänge und Ergebnisse radikal in Frage stellt. Dass man, nach Brackerts Meinung, der ich mich hier kritiklos anschließe, nichts Entscheidendes und Abschließendes über Wolframs Titurel sagen kann, bedeutet nicht, dass jeder Interpretationsversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Zum Glück, möchte ich hinzufügen, denn sonst hätten sämtliche Titurel-Forscher – man kann mit Fug und Recht schon von Forschergenerationen sprechen – mit ihren Vorschlägen und Entwürfen zur Interpretation des Werks nur Zeit und Papier vergeudet. Die eine Argumentation mag stichhaltiger als die andere sein, doch sie alle zeigen Wege auf, wie man sich diesem bald achthundert Jahre alten Text nähern kann. Der Grund dafür, dass die Interpretationswege so unterschiedlich und zum Teil verschlungen sind, aber auch die Rechtfertigung dafür, dass sie dennoch unternommen wurden und werden, liegt wohl in der Tatsache, dass Wolframs Text, wie Christian Kiening und Susanne Köbele2 erklären, »zu den rätselhaftesten Produkten der mittelhochdeutschen Epik«3 gehört. Rätselhaft ist der Text in vielerlei Hinsicht, wiewohl mir erst die Summe der vielen kleinen ›Rätselhaftigkeiten‹ das große ›Rätsel Titurel‹ auszumachen scheint. Da wäre einmal der – beabsichtigte4 oder unbeabsichtigte, tatsächliche oder nur als solcher empfundene5 – Fragmentstatus. Seinetwegen wissen wir zwar nicht, wie Wolfram die Geschichte weitergedacht hat und vielleicht weitergedichtet hätte. Auch können wir nur spekulieren, warum Wolfram die Geschichte nicht weiterschrieb. Der Fragmentstatus allein reicht allerdings nicht

|| 2 Das Kapitel »Metapher und Erzählwelt« in Christian Kienings Monographie Zwischen Körper und Schrift (247–275) stellt die überarbeitete Version des von Kiening gemeinsam mit Susanne Köbele verfassten Aufsatzes »Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs Titurel«, PBB 120 (1998), 234–265, dar. Vgl. zu diesem Zusammenhang der beiden Texte Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, 383. 3 Ebd., 248. 4 Vgl. v. a. das Kapitel »Einmal Schriftkritik – und zurück?«, in: Elisabeth Martschini, Schrift und Schriftlichkeit in höfischen Erzähltexten des 13. Jahrhunderts, Kiel 2014, 475–501. 5 Vgl. Kiening (wie Anm. 2), 250f.

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dafür aus, den Titurel als rätselhaft zu bezeichnen – ein Attribut, das dem ebenfalls Fragment gebliebenen Willehalm z. B. nicht zugeschrieben wird. Fragmente an sich sind in der mittelalterlichen Literatur häufig anzutreffen, mag dies im Einzelfall nun den Arbeitsbedingungen, der prekären Überlieferung oder anderen Aspekten geschuldet sein. Von Wolframs epischen Werken liegt lediglich der Parzival vollständig vor, der wiederum auf einem Werk basiert, das von Chrétien de Troyes fragmentarisch hinterlassen wurde. Im Titurel erzählt Wolfram zum Teil die Vorgeschichte des Parzival. Auch das ist an sich noch nichts Ungewöhnliches oder wird es zumindest unter Wolframs Nachfolgern nicht sein: Ulrich von dem Türlin verfasste vor 1278, dem Tod des Widmungsträgers Ottokar II. von Böhmen, den von Werner Schröder so genannten Roman Arabel, in dem er die Vorgeschichte zu Wolframs Willehalm erzählt.6 Übrigens blieb Ulrichs Werk selbst Fragment. Bereits vor ihm dichtete Ulrich von Türheim eine unter dem Titel Rennewart bekannte Fortsetzung des Willehalm, mit der er unmittelbar an das allzu offene Ende von »Wolframs Torso«7 anschließt. Die Liste der Beispiele ließe sich fortführen. Ungewöhnlich ist allerdings, wie Kiening anmerkt, dass »die ›Ergänzung‹ vom selben Autor stammt wie der Basistext und dass sie mehr bietet, als nur eine stoffliche Vervollständigung.«8 Für einen höfischen Roman ungewöhnlich ist weiters die strophische Form, in der Wolfram seinen Titurel dichtete. Wie in einem früheren Aufsatz ausgeführt,9 schafft diese für den Rezipienten wohl auch eine Verbindung zu den Genres Minnesang und Heldenepik, indem es sich gerade nicht oder doch nicht nur um eine schlicht epische Strophe handelt. Die Strophik des Titurel ist zugleich Gattungsreferenz, indem sie sowohl eine formale als auch eine inhaltliche10 Verbindung des Textes etwa zum Nibelungenlied oder dem Falkenlied des Kürenbergers schafft. Die Titurel-Fragmente sind demnach auch gattungsmäßig schwer einzuordnen, zumal sich ihr Verfasser sowohl als Epiker wie auch als Lyriker einen Namen machte. Irritierend ist nicht zuletzt die Tatsache, dass das im zweiten Erzählblock des Titurel anerzählte Geschehen im Parzival bereits angedeutet, wenn nicht sogar

|| 6 Vgl. Werner Schröder, Art. »Ulrich von dem Türlin«, in: 2VL, Bd. 10, 39–50, hier: 39–41. 7 Peter Strohschneider, Art. »Ulrich von Türheim«, in: 2VL, Bd. 10, 28–39, hier: 35. 8 Kiening (wie Anm. 2), 249. 9 Vgl. Elisabeth Martschini, »Strophik im höfischen Roman. Bedeutung der Form für Wolframs Titurel, Albrechts Jüngeren Titurel und Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst«, Zeitschrift der Germanisten Rumäniens 39/40 (2011), 125–146, v. a. 128–135. 10 Inhaltliche Parallelen zum Minnesang weisen v. a. die Titurel-Strophen 122–126 auf, wobei gerade diese Textpassagen (Stichwort Falkentraum) auch die Assoziation mit dem Nibelungenlied nahelegen. Vgl. ebd., 132–134.

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angelegt ist: das Brackenseil als Ursache für Schionatulanders »pîn« (Parzival, 141, 16),11 ebenso die tragische Liebesgeschichte zwischen Ilinot und Florie (Parzival, 585, 29–586, 11).12 Schließlich ist Wolframs Titurel auch noch uneinheitlich überliefert – nämlich in zwei voneinander abweichenden Handschriften sowie kleineren Fragmenten13 und, in bearbeiteter Form, in Albrechts Jüngerem Titurel. Doch auch dieses Schicksal teilt der Titurel mit zahlreichen anderen mittelalterlichen Texten, nicht zuletzt mit dem Nibelungenlied, dessen Überlieferungslage noch weit komplizierter ist. Dennoch, dies alles führt zu Schwierigkeiten der Interpretation, die Kiening wie folgt auf den Punkt bringt: Uneinheitlich überliefert und von ungewisser Autonomie, sprachlich und formal komplex, ja am Rande des Hermetischen, geben die beiden Titurel-Stücke jedem Versuch einer Inter14 pretation den Zweifel an deren Möglichkeit mit auf den Weg.

Kiening selbst lässt den Fragmentstatus des Titurel beiseite und untersucht stattdessen am geschaffenen und tradierten Detail die Neuartigkeit von Wolframs Erzählen. Der mittelalterliche Autor biete »eine textuelle Neukonfiguration in poetologisch hochkomplexen Zeichenanordnungen«. Dabei begreift Kiening die überlieferten Textstücke »als Effekt einer Neubesetzung der textuellen Räume, in denen das Erzählen von höfischer Liebe sich abspielt.«15 Er zeigt, wie das zweite Titurel-Stück das im ersten Teil metaphorisch von den Figuren Verhandelte aufgreift und konkretisiert, wobei explizite Signale für den Zusammenhang der beiden Teile fehlten und Kontinuität nur durch die beiden Protagonisten gegeben sei.16 Als Thema des Titurel begreifen Kiening und Köbele die Liebe, wie es für Wolfram, den Dichter von Parzival und Willehalm sowie minnelyrischer Texte, nicht verwunderlich, für den höfischen Roman aber generell vorherrschend ist. Die Problematik speziell dieser Geschichte entwickelt sich nach Kiening aus der

|| 11 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Übers. von Peter Knecht, mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin, New York 22003. 12 Vgl. etwa Kiening (wie Anm. 2), 249f. 13 Vgl. etwa Joachim Bumke, Art. »Wolfram von Eschenbach«, in: 2VL, Bd. 10, 1376–1418, v. a. 1407f. 14 Kiening (wie Anm. 2), 248. 15 Beide Zitate ebd., 252. 16 Vgl. ebd., 270.

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Koppelung der Figurenhandlungen an – unsichere – Zeichen sowie aus der – ebenfalls unfesten – Zeichenhaftigkeit des Titurel selbst.17 Als den wahrscheinlich rätselhaftesten Text der klassischen mittelhochdeutschen Literatur bezeichnet den Titurel auch Matthias Meyer.18 Ebenso spielen Metaphern für ihn eine große Rolle, insofern er die beschriftete Hundeleine, das berühmte Brackenseil, als Metapher für das höfische Buch auffasst.19 In der Folge interpretiert er den Titurel zunächst als Parabel vom Ende des höfischen Romans, ja des höfischen Buchs überhaupt,20 relativiert diese Hypothese am Schluss jedoch dahingehend, dass Wolfram mit dem Titurel den unreflektierten Umgang mit höfischer Lektüre kritisieren und mit dem Irrglauben habe aufräumen wollen, Literatur verhelfe zu einem erfüllten Leben. Anlass hätten ihm dazu die Reaktionen der Rezipienten auf den Parzival gegeben, dem der Dichter mit dem Titurel eine Einleitung – man könnte auch sagen: eine Gebrauchsanleitung bzw. eine Anleitung gegen den falschen Gebrauch von Literatur – vorangestellt habe, wobei beide Texte zusammen formal dem Tristan Gottfrieds von Straßburg entsprächen, indem der Prolog strophisch, der Haupttext aber in Reimpaarversen verfasst ist: In more than one sense, Titurel is a prologue to Parzival, and since Wolfram obviously draws heavy on Gottfried here, he also followed the Tristan by making the prologue, Titurel, stan21 zaic, and by composing the main text, Parzival, in epic verse.

Während Kiening und Köbele den Fragmentstatus des Titurel zunächst beiseitelassen und erst gegen Ende ihrer Untersuchung über den Befund einer fragmentarischen Erzählweise zur Frage nach der äußeren Form des Titurel zurückfinden, bezieht Meyer die spezifische Form des Textes in seine Interpretation mit ein. Er tut dies nicht nur, wenn er die Titurel-Parzival-Kombination mit Gottfrieds Tristan vergleicht, sondern bereits bei der Interpretation der Liebesgeschichte zwischen Sigune und Schionatulander, wenn er eine Verbindung zwischen Figu-

|| 17 Vgl. Kiening (wie Anm. 2), 271. 18 Vgl. Matthias Meyer, »The End of the ›Courtly Book‹ in Wolfram’s Titurel«, in: Keith Busby, Christopher Kleinhenz (Hrsg.), Courtly Arts and the Art of Courtliness, Cambridge 2006, 465–475. – Ausdrücklich nennt Meyer den Titurel »probably the most enigmatic text of classical Middle High German literature« (465). 19 Vgl. ebd., 469f. 20 Vgl. ebd., 465. 21 Ebd., 474.

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ren- und Rezipientenebene schafft, indem er Sigunes Lektüre mit jener der Rezipienten des Titurel vergleicht: »So, what Sigune gets is what we, the audience, get, too: two fragmented love stories«.22 Was Meyer hier vielleicht suggeriert, wenngleich er es nicht ausspricht, vertrete ich in einem Kapitel meiner jüngst publizierten Doktorarbeit über Schrift und Schriftlichkeit in höfischen Erzähltexten des 13. Jh. mit großer Vehemenz: dass Wolfram seinen Titurel so und nicht anders habe schreiben wollen und dass die fragmentarische Form daher quasi Programm sei. Ausgehend von der letzten Strophe, der in der Ausgabe von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie23 175., die mir den gesamten Text zusammenzufassen schien, komme ich zu der Annahme, dass Wolfram mit seinem Titurel den unreflektierten Umgang seiner Zeitgenossen nicht nur mit höfischen, aus heutiger Sicht belletristischen, also fiktionalen Texten moniert, sondern ihren Umgang mit Schriftprodukten an sich. Wolfram kritisiere in seinem bewusst fragmentarischen Text den unhinterfragten Glauben an die Relevanz schriftlicher Inhalte. Hinweis darauf wären nicht zuletzt die bereits von Meyer24 aufgezeigten Grenzüberschreitungen zwischen den einzelnen Erzähl- bzw. Fiktionsebenen, die nach der Parzival-Handlung auch den Rezipienten des Titurel in das Geschehen einbinden würden.25 Der Titurel zwingt offenbar dazu, bei der Interpretation auf seine besondere, fragmentarische Form Rücksicht zu nehmen. Sei es, dass sich Kiening und Köbele zunächst ausdrücklich auf die erhaltenen Textstellen konzentrieren, um aus ihnen auf die Narratologie des Ganzen zu schließen, sei es, dass Meyer den Fragmentstatus wesentlich für seine Argumentation nützt, sei es, dass ich selbst diesen Fragmentstatus als nur vermeintlich, als gewollt und geplant bezeichne und damit zu Wolframs poetologischem Programm erhebe. Inzwischen bin ich mir meiner voller Überzeugung vertretenen Ansicht nicht mehr so sicher. Denn – sind all diese Herangehensweisen nicht nur Notbehelfe? Machen wir bei der Mit-Interpretation der fragmentarischen Form nicht aus der Not eine Tugend, weil wir uns nicht eingestehen wollen, dass wir an der Gesamtinterpretation eines Teils eines fehlenden Ganzen scheitern müssten? Wie sähe beispielsweise eine Deutung von Augustinus’ Confessiones aus, wenn uns nur der

|| 22 Meyer (wie Anm. 18), 473. 23 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Titurel, hrsg., übers. und mit einem Komm. sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert und Stephan Fuchs-Jolie, Berlin, New York 2003. 24 Vgl. Meyer (wie Anm. 18), 472. 25 Vgl. Martschini (wie Anm. 4), 475–501.

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Beginn überliefert wäre, an dem der Autor sich mit unverkennbarer Lust am Detail an die in seiner Jugend begangenen Sünden erinnert? Oder, um auch den formalen wie inhaltlichen Gattungsinterferenzen des Titurel Rechnung zu tragen: Was wäre, wenn uns von Antonia S. Byatts Roman Possession nur ein paar lyrische Einschübe des fiktiven Dichters Randolph Henry Ash bekannt wären, womöglich gar ohne einen sicheren Hinweis darauf, dass dieser Dichter außerhalb von Byatts Geist niemals existiert hat? Was dächten wir schließlich über die Odyssee, wenn uns lediglich ein oder zwei Abenteuer des Odysseus bekannt wären, wir aber weder vom trojanischen Krieg noch von der Heimkehr zu Penelope wüssten noch vom hochkomplexen Aufbau des Werks, das nicht chronologisch, sondern über weite Strecken zumeist im Rückblick und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird? – Die Kette der Beispiele ließe sich nahezu unendlich fortsetzen. Ein letztes noch: Wir glauben, aus dem Parzival zu wissen, zu welchem Ende die Geschichte um Sigune und Schionatulander führen, wie sie »geletzet« (Titurel, 175, 2) werden wird. Aber – was, wenn uns aus dem Nibelungenlied lediglich Siegfrieds hoffnungsvolle Ankunft am Hof der Burgunden überliefert, der weitere Gang der Handlung aber nur durch die Klage sowie andere Werke, die Elemente der Nibelungensage aufgreifen, bekannt wäre? Wobei, Detail am Rande, auch das Verhältnis von strophischer Vorgeschichte zu Haupttext in Reimpaarversen eingehalten würde. Andererseits – wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Dieses Sprichwort, das ich auch als Titel meines Essays gewählt habe, fordert Literaturwissenschaftler wie Dichter dazu auf, Neues zu probieren, zu experimentieren, um daraus vielleicht ungeahnte Erkenntnisse zu gewinnen; oder auch etwas vollkommen Neuartiges, etwas Originäres zu schaffen. Den ersten deutschen Originalroman z. B., das heißt, einen Roman, der keine wie auch immer geartete Bearbeitung oder Übersetzung einer eigen- oder fremdsprachigen Vorlage ist, sondern zur Gänze der Fantasie des Dichters entspringt – oder, mit Blick auf die Form, den ersten strophischen Roman, gilt der Titurel doch als »das erste höfische Epos in Strophen«,26 wobei die Form der Nibelungenstrophe ähnelt, der Inhalt aber nicht unbedingt auf ein Heldenepos, sondern – in Anlehnung an die Parzival-Handlung, aus der die Mehrheit der Figuren übernommen wurde – in erster Linie auf einen höfischen Roman schließen lässt?

|| 26 Bumke (wie Anm. 13), 1409.

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Beides, so meine Überlegung, könnte Wolfram im Falle seines Titurel versucht haben: einen eigenständigen höfischen Roman ohne fremde Vorlage27 und zugleich einen strophischen höfischen Roman zu dichten, nachdem er mit dem Willehalm bereits ein Heldenepos bzw., weil nach französischem Vorbild, eine Chanson de geste, das bzw. die traditionell in Strophen abgefasst wurde, in höfischen Reimpaarversen vorgelegt hatte. Freilich finden sich inhaltlich eher mit der Heldenepik assoziierte Elemente wie z. B. breit erzählte Kampfschilderungen auch im höfischen Parzival, genauso wie tendenziell höfische Elemente wie etwa die angedeutete Psychologisierung der Figuren auch im heldenepischen Willehalm ihren Platz haben. Dass Wolfram in seinem Titurel, wenn er ihn denn zu Ende gedichtet hätte, einen ähnlich freizügigen Umgang mit Gattungsmerkmalen, nicht zuletzt mit jenen des Artus- sowie des Gralsromans bzw. des ArtusGrals-Romans, an den Tag gelegt hätte, kann nur vermutet werden. Ansätze dazu finden sich, wie oben erwähnt, jedenfalls auch über die strophische Form hinaus.28 Der Titurel könnte damit vielleicht als der Versuch eines außerordentlichen Dichters des Hochmittelalters gesehen werden, etwas ebenso Außerordentliches zu schaffen: den ersten deutschen, zudem strophischen, Originalroman, auch wenn bezweifelt werden darf, dass Wolfram in diesen begrifflichen Kategorien dachte. Ein Versuch freilich, den man unter dieser Annahme als gescheitert bezeichnen muss, liegen doch lediglich die beiden Bruchstücke des Textes vor und gibt es meines Wissens keine Anzeichen dafür, dass Wolfram mehr als diese zu Pergament gebracht hätte. Interessant erscheint mir in dieser Hinsicht, dass dieses Scheitern, das hier ja nicht zum ersten Mal behauptet wird, in keiner Weise an Wolframs Integrität als Autor kratzt. Neben Gottfried von Straßburg und Hartmann von Aue ist Wolfram d e r große Epiker der klassischen mittelhochdeutschen Literatur, obwohl von seinen drei uns bekannten erzählenden Werken lediglich eines fertiggestellt

|| 27 Dass außer dem Parzival keine Quelle für Wolframs Titurel bzw. die beiden Textfragmente bekannt ist, heißt selbstverständlich nicht, dass es vor Titurel und Jüngerem Titurel keinen Älteren Titurel – z. B. in französischer Sprache – gegeben haben kann. Obgleich ich die Wahrscheinlichkeit, dass Wolfram bei der Abfassung seiner 175 Strophen auf ein bestimmtes, uns nur leider unbekanntes Werk zurückgriff, nach heutigem Erkenntnisstand für sehr gering halte, tauchen doch kaum noch neue alte Werke oder auch nur Spuren ihrer Rezeption auf, gestaltet sich der Nachweis der Nichtexistenz einer Titurel-Quelle dennoch annähernd so problematisch wie der der Nichtexistenz Gottes, weshalb ein auf Nichtwissen gründender Irrtum der Forschung nicht ausgeschlossen werden kann. 28 Vgl. dazu auch Martschini (wie Anm. 9).

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wurde. Anders Albrecht, den man lange für den von Scharfenberg hielt29 und der in seinem ab ca. 126030 geschaffenen Jüngeren Titurel über weite Strecken vorgibt, Wolfram zu sein. Er griff Wolframs Titurel-Bruchstücke auf und schuf um sie herum31 einen – auf Sprache und Umfang bezogen – monströsen höfischen Roman in strophischer Form, die zudem noch die metrische Komplexität der Wolfram’schen Strophen steigert. In mehr als 6300 Strophen führte Albrecht zu Ende, was Wolfram mit seinen im Vergleich dazu lächerlich anmutenden 175 TiturelStrophen begonnen hatte. Er erzählt die Geschichte des Gralsgeschlechts, wie sie möglicherweise von Wolfram für den Titurel geplant war, bezieht aber auch die Parzival-Handlung in das Geschehen mit ein, während gerade die Schilderung heidnischer Heere an den Willehalm erinnert. Er greift selbstverständlich auch die Geschichte rund um das Brackenseil auf, sodass der Rezipient des Jüngeren Titurel endlich den Inhalt der auf die Hundeleine genieteten Geschichte erfährt.32 Albrecht schafft ein gigantisches Werk, das sämtliche epischen Texte Wolframs vereint. Dennoch ist Albrechts Jüngerer Titurel so ungefähr das Gegenteil von Wolframs Titurel, indem Albrecht nämlich kaum etwas selbst erfindet, seinen Stoff vielmehr aus anderen Werken bezieht und, in hochkomplexer strophischer Form, wiedererzählt. Dietrich Huschenbett erklärt: »Generell kann heute festgehalten werden, daß A[lbrecht] weniger, als früher angenommen wurde, ›erfunden‹, vielmehr fast durchwegs auf Quellen zurückgegriffen hat.«33 Die Hauptquelle für den Jüngeren Titurel ist mit Sicherheit in Wolframs Parzival zu suchen. So übernimmt Albrecht von Wolfram die Grundzüge der Handlung in Bezug auf die Liebesgeschichten zwischen Sigune und Tschinotulander/Schionatulander, zwischen Ga(h)muret und seinen Frauen sowie zwischen Ilinot und Florie; er übernimmt, quasi als Hintergrundgeschichte, Parzivals Gralssuche, dazu die von Wolfram bereits im Parzival angedeutete Genealogie des Gralsgeschlechts sowie die Klin-

|| 29 Vgl. die Textausgaben von Werner Wolf: Albrecht von Scharfenberg, Jüngerer Titurel, Bd. I– II/2, hrsg. von Werner Wolf, Berlin 1955–68 (DTM 45, 55, 61). 30 Vgl. Dietrich Huschenbett, Art. »Albrecht, Dichter des Jüngeren Titurel«, in: 2VL Bd. 1, 158– 173, hier: 161. 31 Die Titurel-Fragmente als Grundlage von Albrechts Arbeit zu sehen, rechtfertigt meiner Meinung nach, dass Albrecht sich für die spezifische strophische Form entschied und – damit zusammenhängend – Wolframs Titurel als einziges Werk so gut wie wörtlich in den Jüngeren Titurel integriert wurde, der darum auch Jüngerer Titurel und nicht etwa Jüngerer Parzival genannt wird. 32 Dazu, dass Albrechts Brackenseil unmöglich dieselbe Geschichte erzählen kann, die auf Wolframs Brackenseil angedeutet ist, vgl. Martschini (wie Anm. 4), 517–519. 33 Huschenbett (wie Anm. 30), 166.

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schor-Passagen etc.; nicht zu vergessen das mit Edelsteinen beschriftete Brackenseil.34 Andere Quellen als Wolframs Texte zweifelsfrei auszumachen, falle allerdings schwer, wie Huschenbett zugibt.35 Fest steht dennoch, dass Albrecht, obwohl er die von Wolfram übernommenen Handlungsstränge und Motive noch vielfältig ausschmückte, miteinander in Beziehung setzte und um eine schier unermessliche Zahl an Detailinformationen bereicherte, weder tatsächlich die Form noch den Inhalt des Jüngeren Titurel erfunden hat, womit Wolframs in diesem Essay immerhin für möglich gehaltenes Projekt, den ersten deutschen Originalroman in Strophen zu schreiben, zwar zu Ende geführt wurde, Albrecht das Ziel aber zugleich nicht erreicht hat, weil er ja gerade auf Vorlagen zurückgegriffen hat. Und weil der in der zweiten Hälfte des 13. Jh. gedichtete Jüngere Titurel auch nicht mehr der erste höfische Roman in strophischer Form ist, geht ihm doch z. B. Ulrichs von Lichtenstein bereits um die Mitte des Jh. entstandener und – nebenbei bemerkt – gattungsmäßig ähnlich schwer wie Wolframs Titurel einzuordnender36 Frauendienst voran, dessen Haupthandlung rund um die lyrischen Einschübe ebenfalls in Strophen verfasst ist.37 Angesichts dessen erscheint es beinahe paradox, dass Albrechts Jüngerem Titurel im Mittelalter ein weit größerer Erfolg als Wolframs Titurel zuteil wurde, indem das Werk des jüngeren lange Zeit als Schöpfung des älteren Dichters galt,38 der Dichter Wolfram also für seinen Titurel gelobt wurde, damit aber der Jüngere Titurel des sonst wenig bekannten Dichters Albrecht gemeint war. Erst Jahrhunderte später erkannte der Romantiker August Wilhelm Schlegel das Verhältnis von Wolframs und eines anderen Dichters Leistung39 oder machte dieses Verhältnis jedenfalls publik, während die Autorfiktion bis dahin möglicherweise zwar

|| 34 Detailliert mit der Thematik auseinandergesetzt hat sich Conrad Borchling, Der ›jüngere Titurel‹ und sein Verhältnis zu Wolfram von Eschenbach, Göttingen 1897. 35 Vgl. Huschenbett (wie Anm. 30), 166. 36 Vgl. dazu etwa Martschini (wie Anm. 4), 419–422. 37 Vgl. etwa Franz Viktor Spechtler, »Einleitung«, in: Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst, 2., durchges. und verb. Aufl., hrsg. von Franz Viktor Spechtler, Göppingen 2003 (GAG 485), III– XVII, hier: III–V. 38 Vgl. etwa Reinfrid von Braunschweig, hrsg. von Karl Bartsch, Tübingen 1871 (BLV 109), V. 10421 und V. 16584–86, oder »Der Ehrenbrief des Jakob Püterich von Reichertshausen an die Erzherzogin Mechthild«, in: Arthur Goette, Der Ehrenbrief des Jakob Püterich von Reichertshausen an die Erzherzogin Mechthild, Diss. Strassburg 1899, 45–76, hier: Str. 100. – Püterich nennt den Titurel »das haubt ab teutschen puechen« (100, 2), was sich wohl kaum auf Wolframs fragmentarischen Titurel beziehen kann. 39 Vgl. Thomas Neukirchen, Die ganze ›aventiure‹ und ihre ›lere‹. Der ›Jüngere Titurel‹ Albrechts als Kritik und Vervollkommnung des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Heidelberg 2006 (Beihefte zum Euphorion 52), 10. Vgl. Andrea Lorenz, Der ›Jüngere Titurel‹ als Wolfram-Fortsetzung.

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erkannt, aber für gut befunden worden war. Das änderte sich mit dem im Sturm und Drang aufgekommenen und bis dato anhaltenden Geniekult. In weiterer Folge sah die ältere Forschung in Autorfiktion und Imitation von Wolframs Stil einen »Beweis für die künstlerische Unselbständigkeit des Dichters«,40 dessen Stil als »sklavische Nachahmung Wolframs mit abgeschmackten Eigenleistungen«41 galt; die neuere Forschung, die sehr anschaulich bei Andrea Lorenz und Thomas Neukirchen referiert wird,42 erkennt den Jüngeren Titurel immerhin als ein »Kunstwerk von eigenem Rang«43 an. Verglichen mit Wolframs Titurel-Fragmenten wird ihm jedoch ein deutlich untergeordnetes Interesse zuteil. Das Verhältnis zwischen Wolframs Titurel und Albrechts Jüngerem Titurel hat sich aus Sicht der Rezipienten also quasi umgedreht, sodass im Endeffekt dem misslungenen Versuch mehr Erfolg zuteilwurde als dem vollendeten Werk in seinen beinahe gigantischen Ausmaßen. Das entscheidende, abschließende Wort zu Wolframs Titurel wurde natürlich auch hier nicht gesprochen. Jedoch hoffe ich, dass ich in Helmut Brackerts Sinn einen Vorschlag zum Überdenken und Weiterdenken geliefert habe. Denn: Warum Wolfram wagte, scheiterte und gewann, Albrecht aber wagte, gewann und scheiterte, ist m. E. nach einer der rätselhaftesten Umstände der mittelhochdeutschen epischen Literatur. Möglich, dass Albrecht, indem er grundsätzlich Bekanntes aufgriff und in manieristischem Stil erzählte, den Zeitgeschmack besser traf als sein Vorgänger, dessen fragmentarischem Titurel erst der seit dem späten 18. Jh. herrschende Geniekult Reputation verschaffte, weshalb der vorläufige Gesamtsieger aus heutiger Sicht doch wieder Wolfram heißt. Wie sich die Einschätzung der beiden Dichter und ihrer Werke im beiderseitigen Vergleich in Zukunft darstellt, wird sich zeigen.

|| Eine Reise zum Mittelpunkt des Werks, Bern u. a. 2002 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 36), 55f. 40 Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 52004 (Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter 2), 227. 41 Huschenbett (wie Anm. 30), 168, unter Berufung auf Borchling (wie Anm. 34). 42 Vgl. Lorenz (wie Anm. 39), 53–64, und Neukirchen (wie Anm. 36), 12–35. Zur älteren Forschung vgl. v. a. Werner Wolf, »Einleitung«, in: Albrecht von Scharfenberg, Jüngerer Titurel (wie Anm. 29), Bd. 1 (Str. 1–1957), IX–CXXXVII, hier: IX–XLIV. 43 Bumke (wie Anm. 40), 227.

Friedrich Wolfzettel

Forschungsinterferenzen Chrétien de Troyes und der Artusroman Abstract: In literary history we are accustomed to treat interference as a problem of genre. But interference between genres is far from being restricted to literature as such, and may also be found in concomitant research criticism. Chrétien de Troyesstudies seem to be a case in point. From the very beginning, Chrétien de Troyes was considered as the ›father‹ and inventor of a specific model of Arthurian narrative; recent Arthurian scholarship, however, has tended to show that this fundamental aspect plays a minor, almost negligible role. The initial critical approach of Arthurian scholarship has increasingly been overshadowed, and ultimately supplanted, by new critical tendencies. With regard to the bulk of Arthurian verse romance it is possible to talk of an ongoing process of autonomisation within Chrétien studies, in which even the author’s ›classical‹ romances are often a playground for experimental approaches interfering with traditional aspects of genre.

Chrétien de Troyes et la tradition du roman arthurien en vers lautet der Titel eines neuen Sammelbandes von 2013,1 der die Rolle Chrétiens nicht nur als »l’inventeur d’un genre«, sondern auch als »maître«2 festschreiben möchte. In dem großen Projektband The Legacy of Chrétien de Troyes von 1987 heißt es noch vorsichtig: »comparatevely few studies have taken Chrétien texts as obligatory models for later romance«.3 Im eingangs genannten Band beschreibt Richard Trachsler einleitend die Forschungsgeschichte dieser Konzeption seit Gaston Paris, Gustav Gröber und Wendelin Foerster.4 Er schlägt vor, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chrétien und dem Cycle de la Table Ronde im Gegensatz zu dem unspezifi-

|| 1 Annie Combes u. a. (Hrsg.), Chrétien de Troyes et la tradition du roman arthurien en vers, Paris 2013 (Rencontres 50, Série Civilisation médiévale 6). 2 Richard Trachsler, »Chrétien de Troyes, Créateur. De l’linventeur d’un genre au statut de maître«, in: Annie Combes u. a. (Hrsg.), Chrétien de Troyes et la tradition du roman arthurien en vers, Paris 2013 (Rencontres 50, Série Civilisation médiévale 6), 13–25, hier: 21 und 23. 3 Norris J. Lacy u. a. (Hrsg.), The Legacy of Chrétien de Troyes, 2 Bde., Amsterdam 1987 (Faux Titre 31), »Préface«, 1. 4 Vgl. Trachsler (wie Anm. 2).

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schen Terminus ›Intertextualität‹ als »interdiscursivité« zu bezeichnen. Die formale Tradition wurde bekanntlich in der glänzenden, inzwischen auch ins Englische übersetzten Studie von Beate Schmolke-Hasselmann aus dem Jahr 1980 festgeschrieben,5 die – mit Keith Busby – »was to become a landmark in the study of French Arthurian romance«6 und die Vorstellung eines fest umrissenen Textkorpus mit allen damit verbundenen Problemen von der ›réécriture‹ bis hin zur Parodie zementierte. Die Beiträge des neuen Sammelbandes sollen freilich auch die Fruchtbarkeit des kaum mehr in Frage gestellten Abhängigkeitsverhältnisses beweisen, insofern – wie Arianna Punzi schreibt – »la strada aperta da Chrétien condurrà a soluzioni fino ad allora inesplorate, come mostrano i tanti autori certamente influenzati dalla lezione del maestro«.7 Beeinflusst ja, geprägt vielleicht weniger. Ohnehin steht die Zahl und Bedeutung der Chrétien gewidmeten Arbeiten in keinem Verhältnis zu der Forschung zum späteren Artusroman. Ein Blick auf den knappen Forschungsüberblick von Keith Busby bestätigt diesen Befund.8 Letzterer wurde zudem gerade in den vergangenen beiden Jahrzehnten offensichtlich von einer Tendenz durchkreuzt, die man vielleicht mit dem Terminus ›Forschungsinterferenz‹ charakterisieren könnte. Sie impliziert eine zunehmende Autonomisierung des immer komplexer wahrgenommenen Chrétien’schen Werkes von der nachfolgenden arthurischen Verstradition, deren Abhängigkeit von ihrem Vorbild zwar nie in Frage gestellt wird, doch durch den wachsenden Abstand zwischen gleichsam genormter Epigonalität und unerreichter Originalität des Vorbilds immer stärker relativiert erscheint. Das beginnt z. B. mit den lange Zeit wenig diskutierten Continuations de ›Perceval‹, die seit Mary Williams’ kritischer Ausgabe der beiden ersten Bände von Gerbert de Montreuil in den 1920er Jahren9 und der fünfbändigen Gesamtausgabe durch William Roach10 ihre

|| 5 Beate Schmolke-Hasselmann, Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart. Zur Geschichte einer Gattung, Tübingen 1980 (Beihefte zur ZrPh 177). 6 Keith Busby, »In principio erat verbum Beatae. The Study of Post-Chrétien Verse Romance since 1980«, in: Annie Combes u. a. (Hrsg.), Chrétien de Troyes et la tradition du roman arthurien en vers, Paris 2013 (Rencontres 50, Série Civilisation médiévale 6), 35–48, hier: 35. 7 Arianna Punzi, »Ripensando a Chrétien de Troyes. Il caso del Bel Inconnu di Renaut de Beaujeu«, in: Annie Combes u. a. (Hrsg.), Chrétien de Troyes et la tradition du roman arthurien en vers, Paris 2013 (Rencontres 50, Série Civilisation médiévale 6), 107–128, hier: 113. 8 Vgl. Busby (wie Anm. 6). Zum Vergleich: Allein Douglas Kelly, Chrétien de Troyes. Supplement 1: An Analytic Bibliography, Woodbridge, Rochester/NY 2002, umfasst 582 Seiten. 9 Gerbert de Montreuil, La Continuation de ›Perceval‹, 3 Bde., Paris 1920–75, Bd. 1 und 2 hrsg. von Mary Williams, 1922–25 (CFMA 20, 50), Bd. 3 hrsg. von Marguerite Oswald, Paris 1975 (CFMA 101). 10 The Continuation of Old French ›Perceval‹ of Chrétien de Troyes, hrsg. von William Roach, 5 Bde., Philadelphia 1949–83.

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randständige Position verloren haben und zu einem wesentlichen ergänzenden Forschungsbereich geworden sind. Thomas Hinton spricht 2012 nicht nur von einem wichtigen Bereich arthurischer Überlieferung; er postuliert darüber hinaus auch, »that Chrétien de Troyes’s romances became models for later authors, partly because of the success of the Conte du Graal Cycle«.11 Der klassische Artusroman und die Continuations bezeichnen so letztlich zwei getrennte Rezeptionslinien des Chrétien’schen Romans. Man wird einem solchen Urteil nur bedingt zustimmen können. Intertextuelle Anregungen begründen noch keinen gattungsspezifischen Einfluss; eher wäre wohl mit Blick auf den Prosaroman ein Seitenzweig der Entwicklung geltend zu machen, der den sogenannten ›klassischen‹ Artusroman hinter sich lässt. Immerhin hat Leah Tether kürzlich eine Theorie der Continuation entwickelt, die selbst Züge einer eigenen Gattungstheorie annimmt.12 Die Forschung der Nachkriegszeit war durch die Vorstellung der Kontinuität zwischen Chrétien und den nachfolgenden nationalen Traditionen geprägt. Die von Roger Sherman Loomis herausgegebene »collaborative history« Arthurian Literature in the Middle Ages von 1959 ist das Monument dieser auf Ausgleich angelegten Forschungsgeschichte.13 Kurz zuvor, 1956, war die epochale Monographie Erich Köhlers14 erschienen, die durch ein versöhnlich utopisches Bild des Chrétien’schen Romans geprägt ist und – Wilhelm Kellermann folgend – auch die formalen Vorgaben herausarbeitet, durch die die Folgeentwicklung des Artusromans anschließbar wird. Die in sich gerundete, gleichsam selbstgenügsame Form des Artusromans, die das Enfances-Modell in der Dialektik von Desintegration und Reintegration, Herausforderung, Krise und Versöhnung zu einem neuen Gattungsmodell für das aufstiegswillige Rittertum macht, kann so in immer neuen Variationen und unter den unterschiedlichen historisch-dynastischen Bedingungen, die v. a. Beate Schmolke-Hasselmann untersucht hat,15 immer wieder erprobt werden. Was aber, wenn sich der Archetyp selbst als krisenhaft bzw. inkompatibel erweist? In seiner Monographie über Erec et Enide hat der englische

|| 11 Thomas Hinton, The ›Conte du Graal‹ Cycle: Chrétien de Troyes’ ›Perceval‹, the Continuations, and French Arthurian Romance, Cambridge 2012, 165. 12 Leah Tether, The Continuations of Chrétien’s ›Perceval‹. Content and Construction, Extension and Ending, Cambridge 2012 (Arthurian Studies 79). 13 Roger Sherman Loomis (Hrsg.), Arthurian Literature in the Middle Ages. A Collaborative History, Oxford, New York 1959. 14 Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artusund Graldichtung, Tübingen 1956 (Beihefte zur ZrPh 97). 15 Vgl. Schmolke-Hasselmann (wie Anm. 5).

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Forscher James R. Simpson 200716 für eine Umwertung des bislang als gattungskonstitutiv geltenden frühen Romans geworben. Unter dem Einfluss Jacques Lacans und seines Interpreten Slavoy Žižek geht der Glasgower Gelehrte den Ambiguitäten und dem verdrängten Unbewussten des scheinbar harmonischen Textes nach, »the idealized visions of a young aristocrat«,17 der sich in Wahrheit seit dem Eingangsszenario, der mit der coutume begründeten Jagd auf den weißen Hirsch, am Rande einer sozialen Katastrophe bewegt. Simpson betont die Widersprüchlichkeit des Romans, dem er gleichsam die hermeneutische Unschuld raubt. Er sieht Artus »as a cynical artist of spin playing fast and loose with the foundation of aristocratic legitimacy«18 und interpretiert die eigentliche Apotheose eines dialektischen Ausgleichs, die Joie de la Cort, als einen romantypischen Versuch der Verdrängung des Unheimlichen und Unstimmigen vor dem Hintergrund des immer präsenten, doch nie eingestandenen »future doom«.19 Da verrät Erecs verspätetes Auftauchen »a rippling undercurrent of desire«,20 was auf Guenièvres begehrlichen Blick auf den fremden Ritter vorausweist;21 da erinnert Arthurs Recht, Enide zu küssen, an das feudale ius primae noctis,22 während die Hochzeitsnacht des Paares als kaum verhüllte Form der Vergewaltigung erscheint; da ist die Gefühlsarmut Erecs beim Tod des Vaters oder seine Falschaussage über eine gar nicht geplante quête am Hof von Laluth; da vergibt der Held merkwürdig rasch dem verbrecherischen Maboagrain, seinem umgekehrten Spiegelbild; da wird Enide, der Erec seine Rettung verdankt, bei den Krönungsfeierlichkeiten schlicht vergessen – die Beispielreihe wäre leicht fortzusetzen. Solche kaum zufällige Unstimmigkeiten vertragen sich schlecht mit der postulierten Vorbildfunktion für den späteren Artusroman. Die angesprochene apokalyptische Dimension ist denn auch aus dem Korpus des Artusromans nach Chrétien zugunsten handlungsinterner Geschlossenheit gestrichen worden. Von der Problematisierung des vorgeblichen Modells führt keine Verbindung zu der späteren, in sich ruhenden Gattungstradition. Donald

|| 16 James R. Simpson, Troubling Arthurian Histories. Court, Culture, Performance and Scandal in Chrétien de Troyes’s ›Erec et Enide‹, Oxford u. a. 2007 (Medieval and Early Modern French Studies 5). Vgl. dazu die Rezension von Friedrich Wolfzettel, ZrPh 126 (2010), 368–371. 17 Simpson (wie Anm. 16), 19. 18 Ebd., 464. 19 Ebd., 46. 20 Ebd., 132. 21 Ebd., 133. 22 Ebd., 234.

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Maddox hat dieses Paradox schon 1991 angedeutet und dabei v. a. die hegelianische Lesart Köhlers in Frage gestellt.23 Mit Blick auf das Anfangsszenario von Erec et Enide, in dem sich Artus auf die coutume seines Vaters Uterpendragon beruft und damit die Grundlagen seines Table Ronde-Ideals gefährdet, interpretiert Maddox das Chrétien’sche Werk insgesamt »as a powerful vehicle of medieval legal fictions«24 in steter Auseinandersetzung mit der coutume: »The Arthurian world gradually ermerges in Chrétien’s romances as a dimension beset by conflicts which the legal models of that earlier era are no longer capable of resolving.«25 Es geht mithin gerade nicht um »an idealized feudal community«, um »the attainment of courtly chivalric perfection« oder gar um »an eschatological mission for chivalry«;26 der frühe Artusroman ist nach Maddox vielmehr »a literary medium for exploring the legal roots of social instability«, er demonstriert »the fragility and the vulnerability of a fragmenting feudal world«.27 Als Spiegel einer substantiellen Krise hat diese Form des Romans nur noch wenig mit dem späteren Artusroman gemeinsam, der das Krisenmotiv zum willkommenen Motor einer entproblematisierten Handlung macht. Das facettenreiche und widersprüchliche Artusbild der Folgezeit läge aber in der problematischen Vorgabe der Chrétien’schen Romane begründet. Besonders spannungsreich scheint die Filiation Chrétien-Artusroman, wo sich die postulierte Kohärenz der Modellgattung in verschiedene Tendenzen aufsplittert. In ihrer 2012 erschienenen Münchener Habilitationsschrift, der ersten deutschen Chrétien-Monographie seit Stefan Hofer und Erich Köhler, akzeptiert Xuan Jing zwar kursorisch die herkömmlichen Gliederungskriterien, weist den Romanen Chrétiens aber jeweils verschiedene Teloi und eine je eigene Zeitauffassung zu: die noch in die Zukunft weisende, teleologische Zeit im Erec, die zyklische Zeit im Yvain und endlich die Parusie im Lancelot; der Conte du Graal wird nicht mehr eigens thematisiert.28 Im Zentrum aller Romane steht nicht das Modell des Artushofs und der Table Ronde, sondern der Übergang vom feudalen Staat (den die Verfasserin im Rolandslied verortet) zum Motiv der Herrschaftsgewinnung. Was Erec et Enide betrifft, so schließt das eine kritische Relativierung im

|| 23 Donald Maddox, The Arthurian Romances of Chrétien de Troyes. Once and Future Fictions, Cambridge u. a. 1991 (Cambridge Studies in Medieval Literature 12). Vgl. dazu die Rezension von Friedrich Wolfzettel, ZrPh 110 (1993), 522–525. 24 Maddox (wie Anm. 23), 119. 25 Ebd., 139. 26 Alle Zitate ebd., 13. 27 Beide Zitate ebd., 140. 28 Xuan Jing, Subjekt der Herrschaft und christliche Zeit. Die Ritterromane Chrestiens de Troyes, München 2012. Vgl. dazu die Rezension von Friedrich Wolfzettel, PBB 136 (2014), 290–295.

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Sinne Simpsons (der nicht genannt wird) aus. Der »Königsweg des Ritters«29 meint hier vielmehr einen Weg der »Selbstverwirklichung« vermittels der »Beherrschung des Anderen«30 und der »Selbstüberwindung des narzisstischen Imaginären«.31 In der postulierten »mimetischen Krise«32 des Rittertums und an einem entscheidenden Punkt des Institutionswandels kreiert Chrétien der Verfasserin zufolge eine von Zahlensymbolik, Erlösungssemantik und antiken epischen Reminiszenzen gerahmte »allegorische Figur«,33 die mit späteren Artushelden nur noch wenig gemein hat. Krisenhafter erscheint in der Konstruktion Xuan Jings Yvain, der Chevalier au lion, als »eine Machtfigur, welche die Ordnung von Innen zusammenhalten muss«;34 er gewinnt Frau und Land durch Rechtsbruch und verliert sie wieder. Auch trägt er im Vergleich mit Erec als »Anti-Aeneas«35 ohne Gründungsauftrag und als Tiermensch fast komische Züge. Noch vor dem Siegeszug der Artusliteratur ist der maßgebliche Vorbildritter mithin nach der Verfasserin durch die ›Melancholie des Erwachsenseins‹ (im Sinne von Georg Lukács) geprägt. Die zyklische Struktur des Romans stützt das »Verlierer-Narrativ«.36 Wäre Letzteres vielleicht doch an spätere Artushelden anschließbar, so konterkariert der etwas aufgesetzt wirkende Schluss, der Yvain zum ›Aufhalter‹ und ›Katechon des Endes‹ sowie zum Vorläufer der apokalyptischen Grundierung des Lancelot-Romans macht, dann gerade solche Kontinuitätsvorstellungen. Als heilsgeschichtlich grundierter Roman teilt der Chevalier au lion nur die »christologische Modellierung«37 mit Erec et Enide. Die hier lediglich angedeutete institutionsgeschichtliche Problematik weitet sich endlich nach der These der Verfasserin in der Charrette zur Vorausdeutung auf die mondäne Monarchie, insofern die Krise des Königs ihr Gegengewicht in der Königin als »Dame-Souverän«38 habe. Lancelot selbst erscheint als »eschatologisch kodierte Übergangsfigur«, als »Moses-Christus« und »Endzeitritter«, der die »eschatologische Lähmung«39 des Artusreichs nurmehr verwaltet.

|| 29 Jing (wie Anm. 28), 25. 30 Beide Zitate ebd., 78. 31 Ebd., 100. 32 Ebd., 15. 33 Ebd., 118. 34 Ebd., 166. 35 Ebd., 164. 36 Ebd., 163. 37 Ebd., 211. 38 Ebd., 181. 39 Ebd., 214, 224, 208 und 225.

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Folgt man Xuan Jing, so wäre nach dieser Lesart das Sinnpotential des Artusromans bereits an dieser Stelle erschöpft, ohne dass die für den Conte du Graal und den späteren Prosaroman entscheidende Funktion der genannten eschatologischen Dimension in den Blick rückte. Als Vorstufe des als Tragödie interpretierten Conte du Graal hatte schon Victoria Guerin in ihrer Monographie von 1995 den Chevalier de la Charrette begriffen.40 Auf jeden Fall wird der Conte du Graal so noch weiter vom Mainstream der Artusliteratur abgehoben. Ich habe diese schon früh einsetzende methodologische Entwicklung in der Chrétien-Philologie in meinem Beitrag »Der lange Weg zu einem anderen Chrétien« beschrieben41 und hier von einem »änigmatischen Roman des Fragens«42 gesprochen, der die traditionelle Handlungsstruktur im Wortsinn als fremd und ›frag-würdig‹ erscheinen lässt. In diesem Kontext sei daran erinnert, dass Francis Dubost, der sein Konzept des Unheimlichen als »l’art de se faire signe« auf den Conte du Graal überträgt, eine gebrochene Ästhetik der Verrätselung geltend macht.43 Die Neigung, den letzten Roman Chrétiens, wenn nicht auch, wie Victoria Guerin, den Lancelot, aus dem Korpus herauszulösen, ist also nicht neu. Der Cligés spielt in den strukturkritischen Ansätzen der Forschung ohnehin keine Rolle. In seiner großen kulturvergleichenden Monographie hatte Pierre Gallais den Conte du Graal schon 1972 als ersten neuzeitlichen Roman tendenziell von der arthurischen Gattungsgeschichte entlastet.44 Orientalische ›correspondances‹ und tiefenpsychologisch-anthropologische Einsichten machen diesen Roman zu einem mythenschöpfenden Gründungswerk der Moderne, während gleichzeitig die bislang für die Artusliteratur konstitutive Frage nach dem keltischen Substrat zunehmend an Bedeutung verliert. Und während Brigitte Cazelles 1996 noch den erbaulichen Roman mit Blick auf eine verdrängte feudalepische Dimension der vengeance quest dekonstruiert hatte,45 geht Laurent Guyénot 2010

|| 40 Victoria Guerin, The Fall of Kings and Princes. Structures and Destruction in Arthurian Tragedy, Stanford 1995. Vgl. dazu die Rezension von Friedrich Wolfzettel, Mediaevistik 19 (1997), 454–458. 41 Friedrich Wolfzettel, »Der lange Weg zu einem ›anderen‹ Chrétien. Zur Nachkriegsforschung über den Conte du Graal«, in: Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters, Tübingen 2002, 871–892. 42 Ebd., 889. 43 Francis Dubost, ›Le Conte du Graal‹ ou l’art de se faire signe, Paris 1998, v. a. 97f. 44 Pierre Gallais, Perceval et l’iniation. Essai sur le dernier roman de Chrétien de Troyes, ses correspondances ›orientales‹ et sa signification anthropologique, Paris 1972. Vgl. dazu die Rezension von Friedrich Wolfzettel, GRM 25 (1975), 119–121. 45 Brigitte Cazelles, The Unholy Grail. A Social Reading of Chrétien de Troyes’ ›Conte du Graal‹, Stanford 1996.

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von eben der ›Differenz‹ des Chrétien’schen Romans zu seinem gattungsgeschichtlichen Umfeld aus: »Chrétien de Troyes a pour ainsi dire, ›dénoyauté‹ cette histoire, pour en faire le point de départ d’un roman totalement différent«.46 Gestützt auf Parallelen in mittelalterlichen Jenseitsvisionen, darunter auch Les Merveilles de Rigomer oder Amadas et Ydoine, untersucht der Verfasser die Implikate einer Totenfolklore, die gerade nach seiner These dem standesspezifisch heterodoxen Glauben des Adels an eine »solidarité des morts et des vivants«47 entsprechen. Die der Forschung geläufige Anderwelt-These der Charrette wird auf den Conte du Graal ausgedehnt. Die parallelen Lebenswege Percevals und Gauvains gipfeln beide in der Begegnung mit den Toten, wobei der unspelling quest Percevals anders als bei Lancelot, dem »libérateur des prisonniers de l’Autre Monde«,48 von Anfang an misslingt. Die getrennten Wege der beiden komplementären Helden bezeichnen aber, diametral anders als in der bisherigen Forschung seit eineinhalb Jahrhunderten, gleichwertige, wenngleich getrennte Heilswege, »la conversion à une vie pieuse« im Falle Percevals und »la mort au service du Christ«49 im Falle Gauvains. Denn im Gegensatz zu der These Cazelles steht hier die Begegnung mit dem toten Vater – der Fischerkönig erscheint als »le double vivant du père mort de Perceval«50 – nicht für die Verdrängung, sondern für die Überwindung des Rachemotivs und für »la conversion du fils à la non-violence«.51 Die blutende Lanze verweist auf Opfer, nicht auf Rache: eine mythischerbauliche, geistesgeschichtliche komplexe Lesart, die den Conte du Graal einmal mehr in die Nähe von Robert de Boron und des Prosaromans52 rückt, während das Band, das den Roman mit dem roman arthurien en vers verbindet, eher noch schwächer geworden zu sein scheint. Der im Titel angezeigte Hypertext verweist jedenfalls nicht in Richtung Versroman. Wenn, wie der Verfasser meint, »le Conte du Graal n’est pas si inachevé qu’on l’a cru«,53 sondern zwei offene Heilswege beschreibt, die kein konventionelles Romanende verlangen, dann ist der Abstand im Gegenteil nicht nur inhaltlich, sondern auch formal fast unüberwindbar. Das

|| 46 Laurent Guyénot, La Lance qui saigne. Métatextes et hypertextes du ›Conte du Graal‹ de Chrétien de Troyes, Paris 2010 (Essais sur le Moyen Âge 44), hier: 75. Vgl. dazu die Rezension von Friedrich Wolfzettel, ZrPh 130 (2014), 847–850. 47 Guyénot (wie Anm. 49), 90. 48 Ebd., 46. 49 Beide Zitate ebd., 235. 50 Ebd., 88. 51 Ebd., 138. 52 Vgl. ebd., Kap. 10. 53 Ebd., 319.

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Neue des Conte du Graal liegt dann nicht mehr nur, wie von Emmanuèle Baumgartner postuliert, darin, »de montrer comment s’acquiert et s’intériorise ce code [courtois], qui donne toute sa noblesse à l’ordre de chevalerie«,54 sondern darin, die angedeutete Identitätssuche zugleich als Suche nach dem Heil auszuweisen; dann lassen die Offenlegung des Verdrängten und die Überwindung der »communication interrompue«55 nicht wie bei Baumgartner Raum für die »continuateurs de Chrétien«.56 Der Conte du Graal wird, wie es Baumgartner in ihrer Forschungskritik im Klappentext andeutet, zum Gefangenen des ›mystischen‹ Intertexts der Kritik. Abgesehen von dem originellen Motiv der Begegnung mit den Toten und dem Bestreben, Perceval und Gauvain gleichberechtigt nebeneinander zu sehen, situiert sich Guyénot in einer langen Tradition des christlich erbaulichen Initiationsund Thesenromans (z. B. Myrrha Lot-Borodine, Paul Imbs, Leo Pollmann, Martín de Riquer, Jacques Ribard, Pierre Gallais usw.), der nur wenig mit der postulierten autonomen Fiktionalität der Gattungsgeschichte gemein hat. Keith Busby hatte diesem Ansatz mit seinem »critical guide« zum Conte du Graal – die englische Monographie erschien 199357 parallel zu der édition critique bei Niemeyer58 ‒ einen wichtigen Anstoß gegeben, indem er den Weg Percevals in moralischen Kategorien als einen Weg der Bekehrung von verblendeter Ichzentriertheit zu einem altruistischen Verstehen des Anderen deutete. Die amerikanische Forscherin Barbara N. Sargent-Baur, die bereits durch zahlreiche Vorarbeiten zu Chrétien hervorgetreten war, folgte ihm in ihrer programmatischen Studie aus dem Jahr 2000.59 Entsprechend dem im Prolog zitierten Bibelspruch, wonach die Linke nicht wissen soll, was die Rechte tut, begreift sie die Romanhandlung als den Weg des Helden zu sich selbst, als einen Prozess des Reifens und der Heilung von ursprünglicher Blindheit.60 Der Verfasserin zufolge schildert Chrétien bewusst einen defizitären Helden, der ähnlich wie bei Leslie Topsfield »cannot grieve because he has not loved.«61 Die Unreife Percevals, der »tel un gros bébé [...] se tient

|| 54 Emmanuèle Baumgartner, Chrétien de Troyes, ›Le Conte du Graal›, Paris 1999, 64. 55 Ebd., 100. 56 Ebd., 101. 57 Keith Busby, Chrétien de Troyes: ›Perceval‹ (›Le Conte du Graal‹), London 1993. 58 Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou le ›Conte du Graal‹, hrsg. von Keith Busby, Tübingen 1993. 59 Barbara Sargent-Baur, La Destre et la Senestre: Etude sur le ›Conte du Graal‹ de Chrétien de Troyes, Amsterdam, Atlanta/GA 2000 (Faux Titre 185). Vgl. dazu die Rezension von Friedrich Wolfzettel, ZrPh 118 (2002), 249–251. 60 Vgl. Sargent-Baur (wie Anm. 62), Kap. IX: »L’Aveugle«. 61 Leslie T. Topsfield, Chrétien de Troyes: A Study of the Arthurian Romance, Cambridge 1981, 264.

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pour le centre de l’univers«,62 verhindert einen dem Erec oder Yvain vergleichbaren Reifungsprozess. Vergleichbar der 9. Symphonie Beethovens erscheint der Conte du Graal in dieser Beleuchtung als ein christlich philosophisches Alterswerk, in welchem Chrétien kritisch von seinem früheren Werk abweicht und ein neues, nurmehr äußerlich arthurisches Romankonzept erprobt. Gerade die genuin arthurischen Elemente werden von der Verfasserin heruntergespielt und den Leitgedanken des Sehenlernens und des rechten Weges untergeordnet. So spielt auch der ›arthurische‹ Held Gauvain in dieser Sicht kaum eine Rolle. Als Reflexion über Sünde und Gnade, richtiges und falsches Handeln stellt der Conte du Graal nach Sargent-Baur die arthurische, höfisch-ritterliche Wertewelt in Frage: »Chrétien de Troyes [...] donne à entendre que le monde chevaleresque et courtois, sans être foncièrement mauvais et tout en étant supérieur à la sauvagerie, est insuffisant dans 63 l’échelle de valeurs qui sous-tend le Conte du Graal.«

Der fehlende Schluss sollte danach einen »Perceval toujours chevalier, mais ayant enfin appris la charité et se conduisant en chevalier chrétien«64 zeigen – der Perceval als ›Antiroman‹, nicht als Modell einer neuen Tradition des Erzählens bis zu Froissart. Unter dem Stichwort einer christlichen »paradoxicality« hatte Rupert T. Pickens übrigens in seiner originellen Monographie von 197765 bereits einen vergleichbaren Weg vorgezeichnet.

|| 62 Sargent-Baur (wie Anm. 62), 46. 63 Ebd., 188. 64 Ebd., 206. 65 Rupert Pickens, The Welsh Knight: Paradoxicality in Chrétien’s ›Conte du Graal‹, Lexington 1977.