Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit [Reprint 2015 ed.] 9783110942637, 9783484630116

Towards the end of the 18th century there was a veritable boom in the production of novels in dialogue form. Whereas, ho

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German Pages 322 [324] Year 1996

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Table of contents :
EINLEITUNG. Kommunikation über den Dialog. Eine einführende Skizze zur Rezeptionsgeschichte
1. »Dieser neue Zwitter von Filosofie und Poesie«. Dialogische Verfahren als Gegenstand der Kritik
2. Epischer oder dramatischer Dialog? Affinitäten und Abgrenzungen
3. »Die reine Unform«: Ausgrenzung aus Literaturgeschichtsschreibung und Gattungspoetik
4. Der Dialog im Kontext. Zum Briefroman
Zur Genealogie des Dialogs
1. Konkurrierende und koexistierende Varianten
2. »mirrour-writing«. Englische Einflüsse
3. »selbst erzehlen«. Die poetologische Diskussion in der Frühaufklärung
4. Täuschende Ähnlichkeit. Zur Poetik des Sehens
Dialog zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit
1. »Jetzt, da das Bedürfnis gedruckter Bücher habituell geworden ...« – Schreiben unter veränderten Kommunikationsbedingungen
2. Schriftlicher Dialog als Simulacrum mündlicher Kommunikation
3. Strategien der Leserlenkung
4. Theoretische Vorgaben. Engels und Blanckenburgs Erzähltheorien
5. »Das Wörterbuch der einfältigen Natur«. Das Problem von Inkommunikabilität
»Buchdramen«: Dialog als szenische Schreibform
1. »Wirrwarr« oder »Mischgedicht« ?
2. Dialog und Drama
3. Wezeis »Verflößung« von Dialog und Erzählung
4. C. G. Cramers Serienhelden
5. »Charaktergemähide«: Grenzen der dialogisierten Biographie
Dialog zwischen Wissensvermittlung und Wissensproduktion
1. Die Kritik an der »Buchgelehrsamkeit«
2. Die ›Selbstdenker‹. Wissensproduktion im Dialog
3. Zur Funktion von Asymmetrien im Gespräch
4. Popularisierung von Wissen: Vereinfachung und Stereotypisierung
5. »lebendiger Vortrag« oder »tote Buchstabenmittheilung«?
Exkurs: ›Philosophie im Boudoir‹: De Sades Erziehungsroman
Symmetrie im Streitgespräch: Dialog als hypothetische Schreibform
1. »Intellektuelle Poesie«. Wielands Doppelpunkte
2. »Kontrast der Denkungsart«. Klingers ›Der Weltmann und der Dichter‹
3. Dialog als »Irrgarten«. Diderots aleatorische Poetik
a) »Poetische Gartenkunst«. Poetologie des Spaziergangs
b) Rameaus Neffe
4. Leserkritik: Rousseau vs. Jean-Jacques
5. Gesprochener Rahmen. Unterhaltungen über Poesie
Nachwort
Literaturverzeichnis
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Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit [Reprint 2015 ed.]
 9783110942637, 9783484630116

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ÇOMMUNICATl(

)

Band 11

Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Gabriele Kalmbach

Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kalmbach,

Gabriele:

Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit / Gabriele Kalmbach. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Communicatio ; Bd. 11) NE: GT ISBN 3-484-63011-6

ISSN 0941-1704

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Memminger Zeitungsverlag, Memmingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

EINLEITUNG

Kommunikation über den Dialog. Eine einführende Skizze zur Rezeptionsgeschichte 1. »Dieser neue Zwitter von Filosofie und Poesie«. Dialogische Verfahren als Gegenstand der Kritik 2. Epischer oder dramatischer Dialog? Affinitäten und Abgrenzungen 3. »Die reine Unform«: Ausgrenzung aus Literaturgeschichtsschreibung und Gattungspoetik 4. Der Dialog im Kontext. Zum Briefroman

1 10 18 31

Zur Genealogie des Dialogs 1. Konkurrierende und koexistierende Varianten 2. »mirrour-writing«. Englische Einflüsse 3. »selbst erzehlen«. Die poetologische Diskussion in der Frühaufklärung 4. Täuschende Ähnlichkeit. Zur Poetik des Sehens

35 47 54 60

Dialog zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit 1. »Jetzt, da das Bedürfnis gedruckter Bücher habituell geworden ...« - Schreiben unter veränderten Kommunikationsbedingungen . . . . 2. Schriftlicher Dialog als Simulacrum mündlicher Kommunikation 3. Strategien der Leserlenkung 4. Theoretische Vorgaben. Engels und Blanckenburgs Erzähltheorien 5. »Das Wörterbuch der einfältigen Natur«. Das Problem von Inkommunikabilität

69 78 87 92 99

»Buchdramen«: Dialog als szenische Schreibform 1. »Wirrwarr« oder »Mischgedicht« ? 2. Dialog und Drama

109 114

VI

3. Wezeis »Verflößung« von Dialog und Erzählung 4. C. G. Cramers Serienhelden 5. »Charaktergemähide«: Grenzen der dialogisierten Biographie

...

117 121 126

Dialog zwischen Wissensvermittlung und Wissensproduktion 1. 2. 3. 4. 5.

Die Kritik an der »Buchgelehrsamkeit« Die >SelbstdenkerPhilosophie im Boudoirc De Sades Erziehungsroman

139 151 164 169 172 179

Symmetrie im Streitgespräch: Dialog als hypothetische Schreibform 1. »Intellektuelle Poesie«. Wielands Doppelpunkte 2. »Kontrast der Denkungsart«. Klingers >Der Weltmann und der Dichter< 3. Dialog als »Irrgarten«. Diderots aleatorische Poetik a) »Poetische Gartenkunst«. Poetologie des Spaziergangs b) Rameaus Neffe 4. Leserkritik: Rousseau vs. Jean-Jacques 5. Gesprochener Rahmen. Unterhaltungen über Poesie

201 226 239 245 257 262 271

Nachwort

281

Literaturverzeichnis

285

Einleitung

Es ist das allgemeine und unvermeidliche Schicksal geschriebner Gespräche, daß ihnen die Zunftgelehrten übel mitspielen. (Friedrich Schlegel, Georg Forster)

A n Hinweisen auf eine Konjunktur des Dialogischen im 18. Jahrhundert mangelt es nicht. »Jahrhundert des Dialogs< und ähnliche Apostrophierungen gehören zum als gesichert geltenden Wissen von Literaturgeschichten oder Epochenabrissen. 1 Die Kategorie des »Dialogischen« findet gleichermaßen Anwendung auf die Gesellschaft - w o sie als Synonym für die Herstellung von Öffentlichkeit im Gespräch bzw. die allgemeine Konsensfindung über demokratische Diskussion dient - wie auf Texte, ohne daß diese doch vorschnelle Gleichsetzung problematisch schiene. »Daß der papierne Dialog den lebendigen der Gesellschaft zur Voraussetzung hat«, behauptet bis heute unwidersprochen Rudolf Hirzel, 2 ja mehr als das, schnelle Zustimmung ist ihm sicher. Vom Erscheinungsjahr seiner Untersuchung (1895) zieht sich die Argumentation, Literatur bilde Leben ab, mit bruchloser Kontinuität bis in die jüngste Gegenwart; selbst Hans-Gerhard Winter, der dem Dialogroman eine wegweisende Monographie widmete, bestimmt den Dialog als >Echo der RealitätRealität< - die kaum weniger konstruiert scheint als ihre >Abbildung< - unmittelbare Konsequenzen für die literarische Produktion abzuleiten, ist grundsätzliche Skepsis angebracht. Auch andere neuere Arbeiten stellen monologische Epochen (»einstimmiger Diskurs«) in allzu pauschaler Verallgemeinerung dialogischen Epochen

1

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Meist wird die Ubiquität des Dialogs sogar so vage konstatiert wie von Marga Barthel: »Es gibt Zeiten, in denen das Gespräch gepflegt wird und solche, in denen es verkümmert. Das 18. Jahrhundert ist seiner Entwicklung besonders günstig.« M. B., Das »Gespräch« bei Wieland. Untersuchungen über Wesen und Form seiner Dichtung, Frankfurt/Main 1939, S.9. Rudolf Hirzel, Der Dialog: ein literarhistorischer Versuch, Leipzig 1895, Bd. 2, S.413. Hans-Gerhard Winter, Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. Mit einer A n a lyse von J.J. Engels Gesprächstheorie, Darmstadt 1974, S. 30. Die These v o m Zusammenhang von »Dialog in der Literatur« und »Dialog im Leben« führt das Kapitel A . l aus (S. 2 5 - 4 8 ) .

Einleitung

Vili (»Mehrstimmigkeit

des G e s p r ä c h s « ) e n t g e g e n . 4

Der

generelle T e n o r

von

U b e r b l i c k s a r t i k e l n z u m D i a l o g n i m m t d r e i H ö h e p u n k t e in » A u s p r ä g u n g u n d V e r w e n d u n g « an, drei » r e v o l u t i o n ä r e « E p o c h e n : » A n t i k e , R e n a i s s a n c e u n d R e f o r m a t i o n , A u f k l ä r u n g , S t u r m u n d D r a n g u n d R o m a n t i k « , d . h . als d r i t t e n H ö h e p u n k t eben jene E p o c h e um 1800.5 D i e s e so einhellige P o s i t i o n bleibt relativ vage, w a s d e n Z e i t r a u m wie die K o n k r e t i o n des G e l t u n g s b e r e i c h s b e t r i f f t , g e h ö r t a b e r z u j e n e n K u r z s c h l ü s s e n , die d e n u n a b d i n g b a r e n Z u s a m m e n h a n g zwischen k o m m u n i k a t i v e m Bedürfnis und Dialogkultur unterstellen.6

Die

k o n s t i t u t i v e , fast s y m b i o t i s c h e A f f i n i t ä t d e r T e x t e z u r d i a l o g i s c h e n A u f k l ä r u n g w i r d j e d o c h n u r p o s t u l i e r t , n i c h t b e l e g t . S p ä t e s t e n s a b e r mit B a c h t i n s E r k e n n t n i s , d a ß a u c h >monologische< T e x t e i n n e r e d i a l o g i s c h e S t r u k t u r e n aufw e i s e n , ist j e n e p o s t u l i e r t e B e z i e h u n g f r a g w ü r d i g g e w o r d e n . 7 A l s s t e r e o t y p e F o r m e l d e r L i t e r a t u r g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g w i r d die A u f k l ä -

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So Hans Robert Jauss, Der dialogische und der dialektische »Neveu de Rameau« oder: Wie Diderot Sokrates und Hegel Diderot rezipierte, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Gespräch, München 1984, (Poetik und Hermeneutik Bd. 11), S.393. Die Aufzählung allerdings macht schon deutlich, daß genauso plausibel von sechs Epochen die Rede sein könnte; das Beispiel stammt aus einem Artikel zum Dialog von O t t o F. Best, in: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, (Hg.) Klaus Weissenberger, Tübingen 1985, S. 98; es findet sich identisch etwa bei Rudolf Hirzel, D e r Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, Leipzig 1895, Bd. 2, S. 443. Ein Heidegger-Zitat beendet den Uberblick: » D e r Grund unseres Daseins (ist) ein Gespräch«; Best suggeriert also gerade, das Dialogische sei eine epochenunabhängige universale Konstante. Eine weitere >Blütezeit< sieht Marieluise Blessing um die Wende zum 20.Jahrhundert. In Ubereinstimmung mit der Mehrheit ihrer Kollegen konstatiert sie, »im Verlauf des 19.Jahrhunderts verwaist die Dialogliteratur (...)«. M . B . , D e r philosophische Dialog als literarische Kunstform von Renan bis Valéry, Diss. Tübingen 1965, S. 17. Gleiche Periodisierung bei Rudolf Wildbolz im Artikel »Dialog« des Reallexikons, Berlin 1958, Bd. 1, S. 251-255. Die Geschichte der dialogischen Schreibform scheint von einer eigentümlichen Diskontinuität geprägt, nach Konjunkturphasen verschwindet sie für Jahrhunderte wieder spurlos. Diese Einschätzung gilt es zu korrigieren. Möglicherweise handelt es sich eher um einen Effekt von Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft, um ein Problem der Selektion - vgl. etwa Emil Weller, Dialoge und Gespräche des siebzehnten Jahrhunderts, in: Serapeum 24 (1863), S. 145-155, 1 6 1 - 1 7 0 , 1 7 7 - 1 8 8 , ein Verzeichnis, in dem er über zweihundert Titel aufführt; oder für den an diese Arbeit anschließenden Zeitraum Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, B d . 2 , München 1972, S . 2 8 2 - 2 8 4 , 8 2 5 - 8 2 7 , 1026—1033. Auch für das 19.Jahrhundert sind eine ganze Reihe von dialogischen Prosatexten nachzuweisen, so daß die Formulierung von einer Geschichte ohne Brüche den Sachverhalt präziser treffen würde. Michail M. Bachtin präzisiert: Die spezifische Redevielfalt im Roman sei »immer mehr oder weniger dialogisiert«, jedoch »kein dramatischer, in Repliken gegliederter Dialog, sondern der eigentümliche Romandialog, der sich im Rahmen äußerlich monologischer Konstruktionen verwirklicht«, ja er hält Wechselrede im Roman geradezu für ein Hindernis für die innere Zweistimmigkeit, die auch »den dramatischen und den streng poetischen Gattungen versagt ist«. M. M. B., Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt/Main 1979, S.209.

Einleitung

IX

rung als >dialogische Epoche< festgeschrieben und erfährt als solche eine weitere Aufwertung in der historischen Untersuchung von Jürgen Habermas zum Strukturwandel der Öffentlichkeit,8 in der er das >kritisch räsonierende Publikum* und den symmetrischen herrschaftsfreien Dialog< zum Merkmal der Epoche und zum emphatischen Begriff bürgerlicher Öffentlichkeit erhebt. Die These, die Popularität des literarischen Dialogs hänge mit der Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeit und demokratischer Staatsformen zusammen, die wiederum konnotiert wird mit Konsensbildung, Herrschaftsfreiheit und symmetrischer Interaktion, ist leicht gewagt, weniger leicht jedoch zu beweisen. Auch hier bleibt die Kontinuität der Argumentation zu konstatieren: Hirzel stellt für das 18. Jahrhundert fest, m e h r als sonst herrscht das Bedürfniss gegenseitiger Mittheilung, das sich in Briefen und Gesprächen Luft macht, deren Gegenstand das Eine alle beseelende grosse Interesse bildet in unzählige kleinere Fragen zersplittert und fortgeführt. Ein merkwürdiges S y m p t o m für die Tiefe und Ausdehnung der Bewegung ist, dass auch die Frauen hineingezogen werden. Das Denken, das vordem eine stille Angelegenheit des Einzelnen war, ist ein lautes und gemeinsames Geschäft Vieler geworden, das nur in der Gesellschaft und durch das Zusammenwirken Mehrerer recht zu gedeihen scheint, 9

und piaziert dialogische Schreibweisen im Gefolge dieser Strukturierung des intellektuellen Lebens. Der Begriff >Dialog< trägt deutlich einen interaktionellen Index; wird er aber in dieser Weise mißverstanden als Abbild realer gesellschaftlicher Praxis im 18.Jahrhundert, scheint es leicht, der postulierten Symmetrie gegenläufige Tendenzen - Gewaltverhältnisse, Asymmetrien, MachtWissen-Konstellationen - nachzuweisen und die Kategorie als utopische zu entlarven. Obwohl ideale, d.h. personale, und symmetrische Kommunikationsverhältnisse für das 18.Jahrhundert als zentrale Utopie gelten dürfen, sind diese von sozialgeschichtlicher Realität jedoch weit entfernt. Solche Erklärungsversuche für die Konjunktur des literarischen Dialogs sind ausgesprochen spekulativ und unsystematisch. Allzu häufig muß als Letztbegründung schließlich das Argument einer wesensgegebenen menschlichen, kommunikativen Natur herhalten: Der Dialog wird zum humanen Bedürfnis, das sich in Epochen von Toleranz und Vernunft verstärkt äußere, letzlich also zum Synonym für die kommunikative Funktion von Sprache. Solch anthropologische Argumentation bleibt freilich ein tautologisches Erklärungsmodell: die Neigung zu dialogischer Darbietungsform führe zur Neubelebung des Dialogs. Angesichts der Zirkularität eines solchen Zugriffs scheint der Hinweis von Hans Ulrich Gumbrecht zum Zusammenhang von Dialog

8

9

Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt Neuwied 1962. R u d o l f Hirzel, a. a. O . , S. 419.

Einleitung

χ

und Skepsis noch am plausibelsten. Zum Dialog heißt es da, daß wir »diese spezielle textuelle und situationale Struktur nicht zu allen Zeiten und an allen O r ten finden können. Es ist vielmehr stets zwischen der Problematisierung etablierten Wissens und dem Entwerfen von Grundkategorien je neuen Wissens lokalisiert«. 1 0 D a ß die Aufklärung eine Zeit des Umbruchs, der Krise überlieferter Gewißheiten und tradierter Normen ist, dürfte nicht zweifelhaft sein; >Aufklärung< verstanden als »Prozeß der durch Wissenszirkulation ermöglichten Wissenstransformation« 1 1 nutzt im Dialog das kongeniale Medium. Eine merkwürdige Diskrepanz überlagert jedoch den trotz unterschiedlicher Erklärungsansätze scheinbar so einhelligen Konsens zur dialogischen Aufklärunghoher< und >niedriger< Literatur. Erstens: In Frankreich und England fänden sich Dialogtexte, in Deutschland aber fehle um diese Zeit »klassische« dialogische Prosa - der Dialogartikel im Reallexikon referiert: »Der deutsche Anteil an der europäischen D.literatur ist verhältnismäßig klein. Es gibt nur wenige dt. Dialoge, die an die großen dialog. Gebilde der Weltlit. heranreichen. Es besteht keine wirkliche D.tradition innerhalb der dt. Lit. J e des noch so bescheidene Aufblühen läßt fremde Anregungen sichtbar werden«. 1 2 Zweitens: Woran es der Literatur mangele, besäßen die Disziplinen Philosophie und Pädagogik in Hülle und Fülle; auf der Tradition der Lehrgespräche aufbauende Dialogtexte seien jedoch keine Kunstwerke. Drittens: lediglich die >hohe< Literatur lasse dialogische Prosa vermissen, nicht jedoch das

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Hans Ulrich G u m b r e c h t , Ü b e r die (Wieder-)Geburt der Naturwissenschaften aus dem Geist des Dialogs, in: Siegener Studien 35 ( 1 9 8 3 / 8 4 ) , S. 6 6 - 7 7 , hier S. 70. G u m brechts Position erhebt allerdings eine Variante des Dialogs zu seinem herausragenden Kennzeichen: Dialog als Streit, Diskussion, Disput, Erörterung oder Ideenaustausch, als O r t von Wissensproduktion. Vgl. dazu Kapitel 5 dieser Arbeit. Hans Ulrich G u m b r e c h t , Rolf Reichardt, T h o m a s Schleich, F ü r eine Sozialgeschichte der französischen Aufklärung, in: dies. (Hg.), Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich, München und Wien 1981, Bd. 1, S . 3 8 . Artikel »Dialog« von Rudolf Wildbolz, Reallexikon B d . l , 2. Auflage Berlin 1958, S . 2 5 2 ; vgl. genauso R u d o l f Hirzel, D e r Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, Leipzig 1895, Bd. 2, S . 4 4 3 . Vor allem die Differenz Frankreich/Deutschland steht im Mittelpunkt: »Dialog ist das Schicksal der Franzosen, M o n o l o g das Schicksal der Deutschen« (Rudolf Wildbolz, D e r philosophische Dialog als literarisches Kunstwerk, Bern 1952, S. 12). Inzwischen ist die Wissenschaft zwar von völkerpsychologischen Antithesen der A r t »konversationsliebende Franzosen« gegenüber den »weniger redeverliebten germanischen V ö l k e r n « (Joachim Günther, Erdichtete G e spräche, in: D i e Literatur 38, 1935/36, S. 1 1 1 - 1 1 4 ) abgerückt, die Auseinandersetzung mit deutschsprachigen dialogischen Texten steht jedoch noch immer aus.

Einleitung

XI

p o p u l ä r e S c h r i f t t u m . Selbst R u d o l f H i r z e l , d e r eine d e r u m f a s s e n d s t e n u n d m a t e r i a l r e i c h s t e n A r b e i t e n z u m D i a l o g v o r g e l e g t hat, s c h r ä n k t seine Ü b e r l e g u n g e n z u m 1 8 J a h r h u n d e r t d e r g e s t a l t ein, d a ß ja G o e t h e u n d Schiller s i c h in dieser D o m ä n e n i c h t b e t ä t i g t e n . G o e t h e h a b e seinen d i a l o g i s c h e n D r a n g in B r i e f e n a u s g e l e b t , Schiller sei ein » D i a l o g - M e n s c h « g e w e s e n , n u r h a b e e r nie einen P r o s a d i a l o g v e r ö f f e n t l i c h t . Schiller wäre wohl der M a n n gewesen unserer Literatur einen klassischen Dialog zu schenken. ( . . . ) Das Gespräch über das Schöne, mit dem er sich eine Zeitlang trug, ist nie ausgeführt worden und wir müssen daher wohl, um uns zu trösten zu der kühnen Vergleichung greifen, die in neuerer Zeit zwischen seinen philosophischen Briefen und den platonischen Dialogen angestellt worden ist. 1 3 W e d e r die E i n s c h r ä n k u n g e n n o c h die E r k l ä r u n g s m u s t e r , die die P o s i t i o n , v o n d e r aus sie f o r m u l i e r t w e r d e n , k a u m v e r h ü l l e n , k ö n n e n in d e r P a u s c h a l i t ä t , mit d e r sie v e r k ü n d e t w e r d e n , G e l t u n g b e a n s p r u c h e n ; b e i d e b e d ü r f e n d r i n g e n d d e r K o r e k t u r . In D e u t s c h l a n d e n t s t e h e n z a h l r e i c h e D i a l o g t e x t e , s o g a r in einer k a u m ü b e r s c h a u b a r e n F ü l l e , t y p i s c h e t w a f ü r K i n d e r l i t e r a t u r u n d die R i t t e r u n d R ä u b e r r o m a n e , 1 4 für P o p u l a r p h i l o s o p h i e u n d P o l i t i k . Allein die Q u a n t i tät s c h o n , die g r o ß e Z a h l d i a l o g i s c h e r T e x t e m a c h t d i e s e K o n j u n k t u r e r k l ä rungsbedürftig. S c h o n 1781 w e h r t e sich Friedrich T r a u g o t t H a s e gegen den V o r w u r f d e r E p i g o n a l i t ä t , d e r n u r t h e m a t i s i e r b a r w i r d , w e n n es bereits eine T r a d i t i o n d i a l o g i s c h e r R o m a n e gibt:

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Rudolf Hirzel, a. a. O . , Bd. 2, S. 4 2 5 . Ich denke dabei etwa an J o a c h i m Heinrich Campes R o b i n s o n - C r u s o e - B e a r b e i t u n g für Kinder, die mit über 100 Auflagen zu den erfolgreichsten Büchern der E p o c h e gehört, oder an den Vielschreiber Carl G o t t l o b Cramer, in dessen R o m a n Leben und Meinungen, auch seltsamliche Abenteuer Erasmus Schleichers, eines reisenden Mechanikus ( 1 7 8 9 - 1 7 9 0 ) Dialog, Icherzählung und fiktive Leseranrede als narrative Techniken verknüpft werden. Insgesamt ließen sich ohne weiteres mehrere hundert Titel aufzählen, vgl. drei repräsentative Querschnittanalysen für die Jahre 1780, 1790 und 1800: Eva D . Becker, D e r deutsche R o m a n um 1780, Stuttgart 1964; M i chael Hadley, T h e G e r m a n N o v e l in 1790. A Descriptive A c c o u n t and Critical Bibliograpy, B e r n 1973; Manfred W. Heiderich, T h e G e r m a n Novel of 1800. A study of popular prose fiction, Bern und Frankfurt 1982. Heiderich nennt von 126 untersuchten Texten zwar nur zwei reine Dialogromane, aber umso mehr »mixed narratives«. F ü r Frankreich weist Hartwig Kalverkämper für die Periode von 1 6 5 0 - 1 7 5 0 cirka 95 Titel mit der Bezeichnung »dialogue« und 170 Titel mit der Bezeichnung »entretiens« nach; Hartwig Kalverkämper, Kolloquiale Vermittlung von Fachwissen im frühen 18.Jahrhundert, in: Brigitte Schlieben-Lange (Hg.), Fachgespräche in Aufklärung und Revolution, Tübingen 1989, S . 2 5 . Die so gewonnene Menge kann nicht einmal Vollständigkeit beanspruchen, verweist aber auf ein substantielles Problem der Literaturgeschichtsschreibung, auf Reduktion und Selektion, der bewußten oder unbewußten Ausschließung großer Bereiche des >Geschriebenen< aus dem als Kunst legitimierten Feld. Trotz der wachsenden Zahl von Arbeiten zur Spätaufklärung ist a i e zwischen 1775 und 1810 entstandene Romanliteratur eine terra incognita und von der Forschung nur in Bruchteilen zur Kenntnis genommen.

XII

Einleitung N u n noch ein Wort über das Urtheil das ich voraussehe: daß ich mit auf dem großen Nachahmervieh reite, dessen Riickcn doch von Schriftstellern schon wimmelt, wie v o n einer gewissen Gattung kleiner Ungeziefer; ich meine, daß ich einen dramatischen R o m a n schreibe ( . . . ) · 1 5

D o c h jenseits rein quantitativer Argumente: A u c h und gerade literarische D i a logtexte entstehen, nicht nur popularphilosophische, w o b e i freilich im b e h a n d e l t e n Z e i t r a u m die U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n L i t e r a t u r u n d

Wissenschaft

n o c h nicht voll ausdifferenziert u n d daher w e n i g sinnvoll ist,16 genauso wenig wie die an den N o r m e n m o d e r n e n Kunstverständnisses orientierte D i f f e r e n z v o n H ö h e n k a m m - u n d Trivialliteratur, mit deren (meist u n a u s g e s p r o c h e n e n ) Kriterien der A s t h e t i z i t ä t m a n den T e x t e n k a u m gerecht wird. I n s o f e r n bilden die D i a l o g r o m a n e ein v e r d r ä n g t e s K a p i t e l d e r L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , als b i s h e u t e u n t e r s c h ä t z t e u n d a b g e w e r t e t e A u t o r e n z u g u n s t e n des G o e t h e / S c h i l l e r - K a r tells u n d d e r f r a g w ü r d i g e n T r e n n u n g z w i s c h e n p h i l o s o p h i s c h - p ä d a g o g i s c h e n Traktaten und schöner Literatur vernachlässigt werden.17 D e r Blick der Lit e r a r h i s t o r i e g a l t fast a u s n a h m s l o s d e n >Klassikern< - d e r e n B e z i e h u n g

zur

zeitgenössischen Literaturproduktion blieb weitgehend im D u n k e l n . D i e Wied e r e n t d e c k u n g e i n i g e r fast v e r g e s s e n e r A u f k l ä r e r , w i e sie s i c h i n d e n l e t z t e n J a h r e n a b z u z e i c h n e n scheint (etwa J o h a n n K a r l Wezel, Karl-Philipp M o r i t z o d e r F r i e d r i c h M a x i m i l i a n Klinger, a b e r auch s c h o n die N e u b e w e r t u n g v o n

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Friedrich Traugott Hase, Friedrich Mahler. E i n Beytrag zur Menschenkunde. Ein dramatischer R o m a n , Leipzig 1781. Zitat aus der Vorrede, unpaginiert. A u f die popularphilosophische Verknüpfung heute voneinander isolierter Disziplinen in einer übergreifenden »Wissenschaft v o m Menschen« oder »Philosophie für das Leben« hat Doris Bachmann-Medick hingewiesen, in: Die ästhetische O r d n u n g des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18.Jahrhunderts. Stuttgart 1989. Aus der vordisziplinären Einheit von Moral, Anthropologie, Ästhetik, Psychologie und Literatur lassen sich einzelne Debatten nur herauslösen, wenn a posteriori argumentiert wird, d. h. unter Kenntnis der Weiterentwicklung. Zudem läßt sich etwa Wielands Dialogromanen kaum die Literarizität absprechen. G o e t h e und Schiller haben an ihrer Legende kräftig mitinszeniert, vgl. Wilfried Barner/ Eberhard L ä m m e r t / N o r b e r t Oellers (Hg.), »Unser C o m m e r c i u m « . Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart 1984. Z u m »Goethe-effect« vgl. Avital R o nell, Dictations. O n haunted writing, B l o o m i n g t o n 1986; sowie Jürgen Link, Die mythische Konvergenz Goethe-Schiller als diskurskonstitutives Prinzip deutscher Literaturgeschichtsschreibung im 19.Jahrhundert, in: Bernard Cerquiglini/Hans Ulrich G u m b r e c h t (Hg.), D e r Diskurs der Literatur und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe, Frankfurt/Main 1983, S. 2 2 5 - 2 4 2 . Es ist immer noch erstaunlich, wie unbekümmert die Auffassungen der Weimaraner als Maßstab für die Beurteilung der Literatur dieser E p o c h e übernommen werden. Zur Rolle der Poetiken und der Literaturgeschichtsschreibung bei der Marginalisierung der Dialogprosa vgl. Kapitel 1 dieser Arbeit; daneben zur Literaturgeschichtsschreibung im 19.Jahrhundert umfassend Jürgen F o h r m a n n : Das P r o j e k t der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989.

Einleitung

XIII

Friedrich Traugott Hase),' 8 vermindern das Unbehagen gegenüber der wissenschaftlichen Vernachlässigung ganzer Teilbereiche der Literatur, dennoch bleibt der Forschung zum 18.Jahrhundert noch viel aufgegeben. Es scheint jedenfalls ratsam, den Literaturbegriff nicht enger zu fassen, als dies das Zeitalter selbst tat. Eingedenk der ungesicherten Grenzen des ästhetischen Bereichs in diesem Zeitraum scheint gerade die Gegenüberstellung kanonisierter und nichtkanonisierter Texte produktiv zu sein, werden doch um die Literaturgrenzen erbitterte Debatten geführt, wird eingegrenzt, ausgeweitet. Diese Auseinandersetzungen um die Grenzen scheinen mir nach generationenlanger literaturhistorischer Beschäftigung mit den Klassikern allemal wissenschaftlich ergiebiger als die bloße Setzung eines Zentrums, das von Studium und Lektüre suspendiert. Die Aufmerksamkeit von der kleinen Zahl >klassischer< Texte auf die Vielzahl der Massenliteratur zu lenken, Texte nicht nach literarischem Wert< vorzusortieren, baut einen Unsicherheitsfaktor ein, der zu erneuter Lektüre zwingt - der aber angesichts der offensichtlichen Aporien der Diskussion um die Literarizität von Texten produktiv zu machen ist als Beitrag zur Historisierung des Literaturbegriffs. Die Gründe für Erfolg oder Mißerfolg in der Konkurrenz von Texten und Schreibweisen mit alternativen Möglichkeiten in der Institution Literatur bilden die Leitfrage dieser Arbeit. 1 9 Alle oben zitierten Einschränkungen sind unangebracht, ja irreführend, als sie diskriminierende Vorentscheidungen bezüglich des Textkorpus nahelegen, die der Situation um 1800 nicht entsprechen und das Ergebnis vorbestimmen. Kriterium der Textauswahl für die vorliegende Arbeit ist daher ein rein materiales: die typographische Anordnung im Druck. Die Bedeutungen eines Textes - und das wurde von einer Literaturwissenschaft übersehen, die lange einem Konstrukt, dem >reinen Texts ihre Aufmerksamkeit schenkte - erschließen sich nicht allein über die verwendeten Wörter, sondern auch über deren Anordnung, den Schrifttyp, die Buchstabengröße, den Satzspiegel und nicht zuletzt durch Uberschriften, Absätze, Titel, Unterstreichungen, Fettdruck

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In der überarbeiteten Ausgabe des Kindler Literaturlexikons hält der Verfasser H . H . H . ( H a n s - H o r s t Heuschen) Friedrich Traugott Hases Dialogroman Gustav Aldermann für ein Werk »von Bedeutung, als es die Krise, die der moderne R o m a n zu Beginn des 20.Jahrhunderts zu überwinden hatte, teilweise vorwegnimmt (...).« (Kindlers Neues Literaturlexikon, H g . Walter Jens, Bd. 7, München 1990, S . 3 5 5 ) . Zu dem Problem von Anschlußfähiekeit bzw. Annehmen und Ablehnen von Selektionen vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, F f m 1984, Kapitel 4, S. 191 ff; ders., D i e Wissenschaft der Gesellschaft, F f m 1990, S. 392ff; zum Institutionsbegriff vgl. H . Schelsky (Hg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970; Peter U w e H o hendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1 8 3 0 - 1 8 7 0 , M ü n c h e n 1985.

XIV

Einleitung

oder Kursivsatz bis hin zur Wahl des Papiers und des Formats. 20 Ausgangspunkt der Arbeit bilden Dialogromane, also Romane in konsequent durchgängiger Dialogform 21 ohne kommentierende Zwischenglieder unter Auslassung des verbum dicendi. Wie in den schriftlichen Fassungen von Theaterstücken werden typographisch (durch Anführungszeichen, vorangesetzte Sprecherbezeichnungen, unterschiedliche Schrifttypen oder Versale) Sprecherrollen, Regieanweisungen und Dialogwechsel gekennzeichnet, ohne auf Inquitformeln oder indirektes, dargestelltes Gespräch zurückzugreifen. Im Roman darf dies als innovative Form der Dialogverwendung gelten; in anderen Gattungen wie Fabeln oder Totengesprächen konnten Aufklärer auf bis in die Antike reichende Traditionen zurückgreifen. Von diesem Textkorpus aus richtet sich die Fragestellung auf Genese und Funktion des Dialogs in Prosatexten im allgemeinen. Im Mittelpunkt stehen deutsche und französische Texte, denen englische als konterkarierende oder erhellende Vergleichsmöglichkeiten in Einzelfällen kontrastiert werden. Damit umfaßt die Textauswahl unabhängig von einer Vorsortierung nach Disziplin oder Kanon all jene Texte in dialogischer Form, die nicht für die Aufführung gedacht sind. 22 Der zeitliche Schwerpunkt der Arbeit zwischen 1770 und 1800 wird um die Vorgeschichte seit der Frühaufklärung und um einen Ausblick aüf das beginnende 19.Jahrhundert erweitert, um ausschnittweise Entwicklungslinien deutlich werden zu lassen. Historische Wissenschaften und besonders die Beschäftigung mit literarischen Texten der Vergangenheit haben den Vorzug, daß ihre Arbeit nie abschließbar ist, sondern unter neuen Perspektiven immmer wieder neu zu be-

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Vgl. Gérard Genette, Paratexte: das Buch v o m Beiwerk des Buches, Frankfurt/ Main, N e w York, Paris 1989. Genette hat in dieser Arbeit eindrücklich die Rolle der Präsentationsformen von Texten betont, von Umschlag, Titel, Autorname, Motto bis hin zu den Anmerkungen; bezeichnenderweise widmet er jedoch der drucktechnischen, typographischen und materialen Präsentation nur geringe Aufmerksamkeit, im Vordergrund steht das »geschriebene« Beiwerk des Buches. Ein Teil der Arbeit wird daher deskriptiv sein, um das weitgehend unbekannte Material zu präsentieren. Als Textkorpus sind die meisten Romane bisher kaum erschlossen, die Literaturgeschichte hat sich bislang wenig dafür interessiert. Eingeschränkt wurde aie Textauswahl auf Prosa-Dialoge außerhalb des Dramas und der Lyrik. Hinweise auf die »gattungsprägende, konstitutive Funktion« des Dialogs im Drama sind in jedem Lexikonartikel zu finden, die Kombination gilt geradezu als so selbstverständlich und epochenübergreifend, daß der historische Index ebenso fehlt wie Zweifel an dieser Selbstverständlichkeit. Etwa Benno von Wiese, Gedanken zum Drama als Gespräch und Handlung, in: D U 2 (1952), S . 2 8 46; lapidar und ahistorisch verallgemeinernd heißt es dort: »Das Wesen des Dramas ist Gespräch« (S.28). Doch auch im Drama wäre der Dialog zu historisieren; eine der wenigen Arbeiten mit diachronem Zuschnitt stammt von Reinhold Zimmer: Dramatischer Dialog und außersprachlicher Kontext. Dialogformen in deutschen Dramen des 17. bis 20.Jahrhunderts. Göttingen 1982. Zur Lyrik vgl. August Langens Arbeit zum Wechselgesang: Dialogisches Spiel. Formen und Wandlungen des Wechselgesangs in der deutschen Dichtung 1600 bis 1900, Heidelberg 1966.

Einleitung

XV

denken ist. Die Forschung zur Geschichte und Funktion von Schrift, D r u c k und Lektüre gibt einer ganzen Reihe von bereits vielfach ausgelegten Texten durch einen Wechsel des Blickwinkels ganz neues Gewicht. Projekt der Arbeit ist eine historische Bestimmung des Dialogs als literarischer Technik vor dem Hintergrund der Entwicklung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. 2 3 Dabei ist zunächst zu untersuchen, wie der Dialog im 18. Jahrhundert theoretisch bestimmt wird, und in welcher Funktion er an der Verschriftlichung der Gesells c h a f t bei gleichzeitiger Re-Oralisierung weiter Bereiche teilhat. Der Aspekt schriftlicher Sprachverwendung wurde bisher eher vernachlässigt, unter anderem weil die Literaturwissenschaft sich lange Zeit nicht gezwungen sah, über scheinbar Selbstverständliches Zweifel zu entwickeln. Zugang zu Geschichte und Tradition war immer nur über Texte, über Geschriebenes möglich - das erzeugte jene >blindnessGehaltSinn< zu kondensieren suchte. Selbst Literatur der mündlichen Tradition haben Philologen der schriftlichen Uberlieferung überantwortet, für die Inszenierung gedachte Theaterstücke als Lesetexte behandelt. Diese Lücke im Selbstverständnis der Literaturwissenschaft ist inzwischen entdeckt worden und führte zu einer Verlagerung der philologischen Forschungsinteressen. Institutionen und Medien, kulturelle Praktiken, Geselligkeitsformen und Kommunikationsverhältnisse - bislang vernachlässigte Felder - avancierten zu Forschungsinteressen vor Autoren und Werken. Und da ja Wissen nie voraussetzungsunabhängig ist, sondern nur als immer wieder neu zu aktualisierende Prüfoperation zu denken ist, ermöglichen heute interdisziplinär erarbeitete Forschungen zum Bereich von Schriftgeschichte und Oralität 2 4 einen gänzlich neuen Blick auf dialogische Texte. Zu

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Siegfried J. Schmidt kritisiert, daß »Literaturwissenschaft sich vorwiegend als eine Wissenschaft von O b j e k t e n (eben Texten) und nicht von Problemen ( . . . ) verstehe«; in: S . J . S . , Literaturwissenschaft als argumentierende Wissenschaft, München 1975, S . 4 . D a die vorliegende Arbeit an Hand von Dialogformen die Frage nach der Spezifität einer historischen Kommunikationssituation behandelt, werden auch n i c h t dialogische Texte herangezogen, die zur Beantwortung beitragen können. Z u r Vorgeschichte vgl. Rainer Rosenberg, Die Sublimierung der Literaturgeschichte oder: ihre Reinigung von den Materialitäten der Kommunikation, in: Hans Ulrich G u m b r e c h t / K . Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der K o m m u n i k a t i o n , Frankfurt/Main 1988, S. 1 0 7 - 1 2 0 . N a c h der auf Textsemantik fixierten Interpretationspraxis gerieten zunächst ökonomische Aspekte, etwa Produktionsbedingungen und Verbreitungsformen in den Blick, später soziale Bildungsinstitutionçn, Lektürepraxis und Lesergeschichte, Leihbibliothek und Lesegesellschaften, Zensur und Presse, das Problem geistigen Eigentums, die Situation des Autors und E n t wicklung des Buchmarkts bis hin zu technischen Momenten wie der Funktion von Schreibgeräten, fast läßt sich von einem wissenschaftsgeschichtlichen Einschnitt oder Paradigmenwechsel sprechen (Zitierte Literatur wird jeweils im Kontext in

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wenig Aufmerksamkeit fanden bislang mündliche Traditionen in literarischen Werken einer bereits entwickelten Schriftkultur. Entlang der Leitdifferenz s c h r i f t l i c h / mündlich< ist zu beschreiben, welche literarischen Verfahren, literaturtheoretischen Argumente und Strategien verwendet werden: in Poetiken, Vorworten, F u ß n o t e n , Rezensionen und Enzyklopädien. Jacques Derrida hat auf den Phonozentrismus der Epoche zwischen 1770 und 1830 verwiesen, in der Schfift als Supplement des Sprechens aufgefaßt wird und die das gesprochene Wort privilegiert. 25 Es gilt freilich, einem MißVerständnis vorzubeugen: D r u c k gibt es um 1800 seit Jahrhunderten, Schrift seit Jahrtausenden. Selbstverständlich bezieht sich die These der Verschriftlichung der Gesellschaft auf einen Prozeß, der nur durch graduelle Unterscheidungen in einem Kontinuum, nicht durch eine prinzipielle Dichotomie zu bestimmen ist. N a c h der E i n f ü h r u n g von Schrift entsteht ein Rekombinationszwang, so ist zu präzisieren, kein Verzichtzwang, wie ihn die O p p o s i t i o n literate/illiterate Gesellschaften zu suggerieren scheint. Eine detaillierte Rekonstruktion der Integrationsverfahren ist notwendig. Niklas L u h m a n n hat mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß Veränderungen »von bloßer Lautlichkeit über Bilderschriften zu phonetischen Schriften und schließlich z u m Buchdruck zugleich Schwellen im Prozeß gesellschaftlicher Evolution markieren (...) (und) immense Komplexitätsschübe auslösen«. 26 Gerade der Zeitraum um 1800 wird f ü r Kommunikationsgeschichte von entscheidender Bedeutung. Die Jahrhundertwende gilt als »Sattelpunkt«, als historische Schwelle am Beginn der Moderne. In allen Arbeiten zum grundlegenden Wandel der Gesellschaft, ob Forschungen von Koselleck zur semantischen Evolution bestimmter Begriffe, Luhmanns Untersuchungen zur Ablösung von stratifikatorischer zu funktionsdifferenzierter Gesellschaft oder Foucaults Überlegungen zum U m b a u von Diskursformationen, herrscht Einigkeit, daß zu diesem Zeitpunkt entscheidende Veränderungen im Begriff oder bereits vollzogen sind. Auch die Literaturwissenschaft widmete dem Zeitraum nach einigen Jahren der Abstinenz erneute Aufmerksamkeit und dies mit einem methodischen Gewinn: beeinflußt durch in der Zwischenzeit untern o m m e n e historische Forschungen konnte auf die traditionellen Epochendenominationen u n d Grenzziehungen verzichtet werden. Die Dichotomisierung von Klassik und Aufklärung einerseits, Klassik und R o m a n t i k andererseits mag

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den entsprechenden Kapiteln genannt). Trotz der E r w e i t e r u n g der Kenntnisse der »Institution Literatur«, der Medien und Techniken v o n K o m m u n i k a t i o n , trotz u n terschiedlicher Frageraster und der H e r a n z i e h u n g v o n externen Faktoren bleiben f ü r die E p o c h e u m 1800 noch immer viele Fragen zu stellen. Jacques Derrida, Grammatologie, F r a n k f u r t / M a i n 1974. Niklas L u h m a n n , Ist Bewußtsein an K o m m u n i k a t i o n beteiligt?, in: H a n s Ulrich G u m b r e c h t / K . L u d w i g Pfeiffer (Hg.), Materialität der K o m m u n i k a t i o n , F r a n k f u r t / Main 1988, S.889.

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XVII

zwar von rezeptionsgeschichtlicher Relevanz sein, wäre für die Textauswahl einer Untersuchung zum Dialogroman jedoch eine erkenntnisbehindernde Vorentscheidung. Insofern ist das tradierte Abfolgeschema Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik und Romantik zu verabschieden, bietet es doch kein angemessenes Ordnungsmodell für dialogische Texte. Zum einen suggeriert diese literaturgeschichtliche Aufspaltung ein Nacheinander, wo doch historisch Gleichzeitigkeit herrscht. Zum zweiten verbirgt sich hinter diesem Schema allzu häufig implizit die problematische Auffassung einer ästhetischen Höherentwicklung literarischer Produktion. Zudem erweist es sich gerade unter gesamteuropäischem Blickwinkel als sinnvoll, bei der Ansetzung von Epochen Vorsicht walten zu lassen, da weder die französische noch die englische Literaturwissenschaft die Dichotomien teilen. Der Verzicht auf Epochenbegriffe und -Zäsuren bedeutet freilich nicht den Verzicht auf die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität. Der historische Zeitablauf ist ja immer Kontinuum und ständige Veränderung zugleich. Viel wird also davon abhängen, welchen Begriff von historischem Wandel man an den Zeitraum heranträgt. 27 Die Frage, welche Wissenschaft für den Dialog als Gegenstand zuständig ist, bereitet unerwartete Schwierigkeiten. Das skizzierte Programm kann daher nur mit einem Ansatz »disziplinierter Disziplinlosigkeit bewältigt werden, der sich aus dem quer zu Disziplinengrenzen stehenden Forschungsfeld ergibt. Die Verbindung von Linguistik und Geschichtswissenschaft, Kommunikationsforschung und Medientheorie, Soziologie und Literaturwissenschaft ermöglicht produktive Grenzüberschreitungen. Uber eine rein literaturwissenschaftliche Analyse allein ließen sich zentrale Aspekte des Dialogs nicht angemessen erfassen. Weiterhin erweist es sich als fruchtbar, tradierte literaturwissenschaftliche Arbeitsbegriffe zu überdenken, besonders etwa den Gattungsbegriff. 28 Der

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D e r retrospektive Blick, der über die Ergebnisse die relevanten Ereignisse immer schon kennt, geriet als teleologische Geschichtsschreibung in Verruf. Andere Vordenker kultivierten den B r u c h — zum Beispiel T h o m a s S. Kuhn, D i e Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1967, aus dem A m . 1962, und der von ihm eingeführte Begriff des »Paradigmenwechsels«. Probleme des Anfangs und Endes oder von Zäsuren scheinen dann weniger wichtig, wenn man Diskontinuität als eine F o r m von Kontinuität versteht. Zu den Paradoxien der Ubersetzung von Einmaligem (der Apokalypse) in Wiederholungsstrukturen vgl. Jacques Derrida, N o Apocalypse, not now, in: ders., Apokalypse, (Hg.) Peter Engelmann, Graz, Wien 1985, S . 9 1 - 1 3 2 . D e r Gattungsbegriff wird für den Gegenstandsbereich in der Weise in Anspruch genommen, wie es Jürgen F o h r m a n n (Remarks towards a theory of literary genres, in: Poetics 17 (1988), S. 2 7 3 - 2 8 5 ) vorschlägt: Gattungen nicht stets als internen Zusammenhang zu begreifen, sondern die Möglichkeitsbedingungen zu untersuchen, d.h. jene Ebene, die die Formation der Werke begründet. Vgl. Kapitel 1 und grundsätzlich die Beiträge des Bandes von Christian Wagenknecht (Hg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des I X . Germanistischen Symposions der D F G Würzburg 1986, Stuttgart 1988.

XVIII

Einleitung

Versuch, Dialogromane als Gattung zu etablieren, erweist sich als mühevoll und ineffektiv. Die Frage nach der Art der Beziehung der Texte untereinander soll nicht im voraus schon mit dem Gattungsbegriff beantwortet werden. Im Vordergrund des Interesses stehen die den Texten vorausl.iegenden Bedingungen ihrer Existenz. Die hermeneutische Sinnsuche wird ersetzt durch die Frage nach dem kulturellen Kontext, in dem die Texte entstehen bzw. überhaupt erst möglich werden - Ziel ist die Rekonstruktion der Kommunikations- und Interaktionssituation, auf die sie verweisen. Für den Kommunikationsbegriff lassen sich die Überlegungen von Niklas Luhmann nutzen, der kein dualistisches Schema, sondern eine komplexe und notwendigerweise dreistellige Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen annimmt. 29 Dies ermöglicht die begriffliche Trennung der drei Aspekte und lenkt den Blick auf die zentrale Rolle von Verbreitungstechniken (bei Luhmann »Verständigungsmedien«) wie Schrift und Druck. 30 Ein Vorteil angesichts der Fülle möglicher Definitionen von Kommunikationen 31 ist gerade die Allgemeinheit des Luhmannschen Terminus', der den Aspekt der Informationsübertragung ebenso wie den Rekurs auf Verständigung und Interaktion umfaßt. Daneben beziehe ich mich auf Hinweise Luhmanns zum Sonderfall der »face-to-face-Kommunikation«, zur »interaktionsfreien Kommunikation« 32 und deren Folgelasten bei Situationsentbindung unter Bedingungen von Schrift. Darüber hinaus konstituieren die systemtheoretischen Annahmen zur Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft den Rahmen der Arbeit, 33 in deren Folge eine ganze Reihe weiterer begrifflicher Instrumentarien entwikkelt wurde, die wahrzunehmen sich lohnen könnte. Die Unscharfe der Synonyme Gespräch und Dialog und der Begriffsverwirrung durch die vortheoretische Verbreitung des Kommunikationsbegriffs und der verwandten Begriffe Diskussion, Debatte, Erörterung, Konversation, Streit, Unterredung, Unterhaltung bis hin zum Inventar institutionalisierter Dialoge wie Beichte, Interview, Vorlesung, Lehrgespräch und Streitgespräch machen den Gegenstandsbereich bibliographisch nahezu unüberschaubar. Der inflationäre Gebrauch der Termini hat eine präzise Begriffsbildung gegen den

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Niklas L u h m a n n , Soziale Systeme. G r u n d r i ß einer allgemeinen Theorie, F r a n k f u r t / Main 1984, S. 191-241. D e r verbreiteten A n n a h m e , die K o m m u n i k a t i o n s b e d i n g u n g e n gegen E n d e des 18.Jahrhunderts unterschieden sich nicht wesentlich von denen der Gegenwart, ist unter anderem von Friedrich Kittler w i d e r s p r o c h e n w o r d e n ; Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, M ü n c h e n 1985. Klaus Merten, Kommunikation. Eine Begriffs- u n d Prozeßanalyse, O p l a d e n 1977, notiert im A n h a n g 106 Definitionen; v g l auch F r a n k E . X . Dance (Hg.), H u m a n C o m m u n i c a t i o n Theory. Original Essays, N e w York 1967. Niklas L u h m a n n , Einfache Sozialsysteme, in: N . L., Soziologische A u f k l ä r u n g 2, S.21-38. Niklas L u h m a n n , Soziale Systeme, 1984, besonders S. 193ff.

Einleitung

XIX

D u k t u s der Alltagssprache bislang erschwert, weist f ü r die vorliegende Arbeit aber n u r wenig s t ö r e n d e Folgen auf, da d e r Gegenstandsbereich materialiter fest umrissen ist. Auf f ü r das 18.Jahrhundert spezifische Semantik, etwa als Dialog b e n a n n t e pädagogische Praktiken o d e r Lektüreverfahren, w i r d i m Kapitel 5 näher eingegangen. G r u n d s ä t z l i c h gilt z u r Literaturlage bzw. z u m F o r schungsstand: D i e Literatur z u m D i a l o g r o m a n ist wenig umfangreich, dagegen ist die Zahl der A r b e i t e n z u m Dialog im weiten Sinne e n o r m angewachsen. A n älteren A r b e i t e n wäre die zweibändige, i m m e r n o c h u n e n t b e h r l i c h e M o n o graphie v o n Rudolf H i r z e l zu n e n n e n , die epochal nicht begrenzt ist u n d Dialoge von der A n t i k e bis z u m E n d e des 19.Jahrhunderts mit S c h w e r p u n k t auf der A n t i k e behandelt. Claudia Schmölders U b e r b l i c k über die K u n s t des Gesprächs sammelt u n d k o m m e n t i e r t Material z u r Geschichte d e r Konversation; erst die in Band 11 v o n Poetik u n d H e r m e n e u t i k versammelten Einzelbeiträge piazierten das Forschungsfeld in der neueren literaturwissenschaftlichen Diskussion u n d e r ö f f n e t e n die ästhetischen, soziologischen, historischen u n d philosophischen D i m e n s i o n e n der Kategorie Dialog u n d Gespräch. N a c h der M o n o g r a p h i e v o n H a n s - G e r h a r d Winter z u m D i a l o g r o m a n u n d d e m von Brigitte Schlieben-Lange herausgegebenen Band zu Fachgesprächen d e r A u f k l ä r u n g ist mit d e m Band v o n J ü r g e n Wertheimer z u r Krise des Dialogs zwischen A u f k l ä r u n g u n d R o m a n t i k eine wichtige Studie vorgelegt w o r d e n , die an den in der vorliegenden Arbeit behandelten Z e i t r a u m der D i a l o g - K o n j u n k t u r anschließt, nach d e m diese F o r m der E r k e n n t n i s v e r m i t t l u n g u n d Wahrheitsfind u n g nicht m e h r als ideales D i s k u r s m o d e l l begriffen w i r d ; M a r k u s Fausers Interesse gilt, anders als das hier formulierte, nicht d e m Dialog als Schreibverfahren u n d seiner Theorie, s o n d e r n d e m Gespräch als Vorgang u n d seiner Theorie unter d e m Begriff v o n Geselligkeit, ist gerade aus diesen G e s i c h t s p u n k t e n aber k o m p l e m e n t ä r z u r vorliegenden Arbeit u n d überdies Indiz f ü r die Relevanz k o m m u n i k a t i v e r A s p e k t e in diesem Zeitraum; T h o m a s Fries behandelt in seiner U n t e r s u c h u n g z u m Dialog der A u f k l ä r u n g v o r n e h m l i c h Shaftesbury, Rousseau u n d Solger; weitere relevante Einzelbeiträge u n d A u f s ä t z e sind im Text nachgewiesen. 3 4

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Rudolf Hirzel, Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, 2 Bde., Leipzig 1895; Claudia Schmölders (Hg.), Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 1979; Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Gespräch, München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11); HansGerhard Winter, Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. Mit einer Analyse von J.J.Engels Gesprächstheorie, Darmstadt 1974; Brigitte Schlieben-Lange (Hg.), Fachgespräche in Aufklärung und Revolution, Tübingen 1989; Jürgen Wertheimer, »Der Güter Gefährlichstes, die Sprache«. Zur Krise aes Dialogs zwischen Aufklärung und Romantik, München 1990; Markus Fauser, Das Gespräch im 1 S.Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991; Thomas Fries, Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rousseau, Solger, Tübingen, Basel 1993.

Kommunikation über den Dialog. Eine einführende Skizze zur Rezeptionsgeschichte

1. »Dieser neue Zwitter von Filosofie und Poesie«. Dialogische Verfahren als Gegenstand der Kritik D i e G e s c h i c h t e der Literatur ist e b e n s o schwierig zu beschreiben wie die N a t u r g e s c h i c h t e . D o r t wie hier hält m a n sich an die b e s o n d e r s hervortretenden E r s c h e i n u n g e n . ( . . . ) D i e meisten Literaturhistoriker geben u n s wirklich eine Literaturgeschichte wie eine w o h l g e o r d n e t e Menagerie, u n d immer b e s o n d e r s abgesperrt, zeigen sie u n s epische S ä u g e d i c h ter, lyrische Luftdichter, d r a m a t i s c h e Wasserdichter, p r o s a i sche A m p h i b i e n , die s o w o h l L a n d - wie S e e r o m a n e schreiben, h u m o r i s t i s c h e M o l l u s k e n usw. (Heinrich H e i n e , R o m a n t i s c h e Schule)

Nicht selten stehen eine Theorie oder eine historische Untersuchung in einer uneingestandenen Abhängigkeit von ihren begrifflichen Voraussetzungen. Mißtrauen gegenüber dem Gattungsbegriff scheint angebracht: Dialoge und speziell Dialogromane werden hier nicht generell und a priori unter den Gattungsbegriff subsumiert. Dialogische Prosa bildet im Universum der Texte sicherlich eine Gruppe und insofern das Material der Arbeit. Ob aber die Texte eine homogene oder heterogene Gruppe ergeben, bleibt zu untersuchen, keinesfalls sollen sie vorschnell als Gattung im Sinne eines typologischen Grundbegriffs identifiziert werden. Zwar wird die Frage gestellt, was diese Texte verbindet, welches der diachrone und synchrone Zusammenhang der Dialogform(en) sei, in welchen literarischen Werken sie Aufnahme findet, doch es kann hier nicht darum gehen, das Gattungsrepertoire um eine neue Kategorie zu erweitern, um den bislang vernachlässigten Typ des >Dialogromans< zu etablieren, indem ein Prototyp entdeckt, weitere Exemplare identifiziert und analysiert werden, um dann erst Epigonalität und später Verfall oder Tod der Gattung' festzustellen. Zum einen stellt gerade das Fehlen eines Prototyps im Sinne eines >klassischen< Musters, wie es in Goethes Wilhelm Meister für die

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Z u r K r i t i k der durch diese der P f l a n z e n w e l t entlehnten T e r m i n o l o g i e von Wachstum, B l ü t e , Verfall o d e r T o d einer G a t t u n g implizierten b i o l o g i s c h e n A n a l o g i e vgl. A l a s t a i r Fowler, T h e L i f e a n d D e a t h of L i t e r a r y F o r m s , in: R a l p h C o h e n ( H g . ) , N e w D i r e c t i o n s in L i t e r a r y H i s t o r y , B a l t i m o r e 1974, S. 7 7 - 9 4 .

Kommunikation

2 Geschichte des Bildungsromans

auszumachen ist, einen

über den Dialog entscheidenden

Aspekt für die sich anschließende Rezeption dar. Zum anderen erweist sich die begriffliche Grundentscheidung gegen den Gattungsbegriff als richtig, da sie es erlaubt, Identisches und Distinktes zu profilieren und eine detaillierte R e k o n struktion der im Gegenstand zu beobachtenden Komplexität vorzunehmen. Dennoch ist jenseits des Gattungsbegriffs eine Reihenbildung anvisiert. Keinesfalls soll hier dem Vorschlag Benedetto Croces in seiner 1902 veröffentlichten Ästhetik folgend auf den Gattungsbegriff ganz verzichtet und nur Einzelanalysen aneinandergereiht werden. 2 Die Nützlichkeit und Notwendigkeit des Gattungsbegriffs als Ordnungskategorie ist sicherlich nicht abzustreiten; als wissenschaftliche Definition bleibt er fragwürdig. Die Frage nach der gattungstheoretischen Einordnung wird daher ersetzt durch die Frage nach den historischen Voraussetzungen, Konstruktionen und Konventionen, die eine Beschreibung ermöglichen. Im Vordergrund steht Gattung daher nicht als >interner< Zusammenhang, sondern als Funktionsbegriff. 3 Gattung wird hier verstanden als das, was sich als Gattung durchsetzt, d.h. was in der literarischen Rezeption als Gattung beschrieben wird (in Lektüre, Rezensionen, Literaturgeschichtsschreibung). 4 N u r die Zurechnung auf Gattung qualifiziert einen Korpus von Texten als Gattung. Wenig sinnvoll ist es, die Reihenbildung ex post zu forcieren und so einen neuen Begriff ins (literaturwissenschaftliche) Spiel zu bringen. Es ist daher nur folgerichtig, die Rezeptionsgeschichte an den Anfang zu stellen und angesichts der Dominanz anderer Gattungen die Randexistenz der Dialogprosa im Gattungssystem zum Gegenstand der Forschung zu machen. Briefromane als formales Äquivalent zu Dialogromanen demonstrieren mit ihrer ganz anderen Rezeption die je unterschiedliche Entwicklung (vgl. Kapitel 1.4). Für Uberblicksartikel etwa ist die Einschätzung zur Romanproduktion im 18.Jahrhundert symptomatisch: »Es ist eine der großen Lei-

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Benedetto C r o c e , Ästhetik als Wissenschaft v o m Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft. T h e o r i e und Geschichte (1902), in: B. C . , Gesammelte philosophische Schriften, ( H g . ) Hans Feist, Bd. 1.1, Tübingen 1930, S. 3 8 - 4 2 . Die Ablehnung jeglicher Gattungstheorie handelt sich andere Probleme ein. Auch die additive Aneinanderreihung wirft die Frage nach der Art der Beziehung auf, d.h. dem Problem weicht man mit Einzelanalysen nicht aus. Und zumindest in die Vergangenheit läßt sich die literarische Reihenbildung endlos verlängern, für jedes literarische Werk eine V o r f o r m finden, für diese eine weitere Vorform, bis schließlich die Einführung der Schrift dem ein Ende setzt und sich über orale Vorläufer nur noch Vermutungen anstellen lassen. Vgl. Wilhelm Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie, in: Walter H i n c k , Textsortenlehre - Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 2 7 - 4 4 . Jürgen F o h r m a n n , Towards a T h e o r y of Literary Genres, in: Poetics 17 (1988), S. 2 7 3 - 2 8 5 .

Dialogische

Verfahren

als Gegenstand

der

Kritik

s t u n g e n des 18.Jahrhunderts, m i t d e m B r i e f r o m a n eine ganz

3 eigenständige

F o r m des anspruchsvollen R o m a n s geschaffen zu haben«.5 Diese Prämisse schließt drei F r a g e n nicht aus: Z u m einen, o b D i a l o g r o m a n e i n d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n D i s k u s s i o n als G a t t u n g v e r s t a n d e n u n d b e s c h r i e b e n w e r d e n , eine Frage »die die G e s c h i c h t l i c h k e i t literarischer G a t t u n g e n ernst n i m m t u n d sie als h i s t o r i s c h v e r m i t t e l t e K o m m u n i k a t i o n s - u n d V e r m i t t l u n g s f o r m e n (...) beschreibt«.6 In diesem u n d im folgenden Kapitel wird daher z u n ä c h s t d i e F r a g e n a c h d e m s y s t e m a t i s c h e n O r t f ü r P r o s a d i a l o g e in d e n G a t t u n g s p o e t i k e n des 1 8 . J a h r h u n d e r t s gestellt; P o e t i k e n u n d Ä s t h e t i k , P o p u l a r p h i l o s o p h i e u n d L e x i k a , V o r r e d e n u n d R e z e n s i o n e n w e r d e n auf D e f i n i t i o n s v e r s u c h e f ü r d e n D i a l o g hin u n t e r s u c h t . 7 Z w e i t e n s ergibt sich die Frage, o b die D i a l o g f o r m p ä d a g o g i s c h e , p h i l o s o p h i s c h e u n d l i t e r a r i s c h e T e x t e e i n t o d e r je u n t e r s c h i e d l i c h e F u n k t i o n e n erfüllt, eine T r e n n u n g , die z u n ä c h s t n u r h e u r i s t i s c h e n W e r t b e s i t z t , a b e r auf d e n t e x t u e l l e n u n d h i s t o r i s c h - s o z i a l e n K o n t e x t z i e l t . A n d i e s e r Stelle sei n u r f e s t g e h a l t e n , d a ß es a n g e s i c h t s d e s h e t e r o g e n e n Bündels von Texten schwerfällt, nur a u f g r u n d der Dialogform v o n einer G a t t u n g zu sprechen.8 D r i t t e n s m u ß e r g ä n z e n d gefragt w e r d e n , wie die A u t o r e n d e r E p o c h e d e n R o m a n d e f i n i e r e n u n d w i e sie s e i n e G r e n z e n z u m D r a m a v e r -

5

Rolf Allerdissen, D e r empfindsame R o m a n des 18.Jahrhunderts, in: H a n d b u c h des deutschen Romans, (Hg.) H e l m u t K o o p m a n n , Düsseldorf 1983, S. 184-203, 6 1 4 616, hier S. 188. So der Tenor der meisten Artikel, mit wenigen A u s n a h m e n (etwa Rolf G r i m m i n g e r im Artikel »Roman«, in: R . G . (Hg.), Deutsche A u f k l ä r u n g bis z u r Französischen Revolution 1680-1789, M ü n c h e n , Wien 1980, Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 3, S. 635-715, 906-917; das Metzler LiteraturLexikon, (Hg.) G ü n t h e r u n d Irmgard Schweikle, Stuttgart 1984 hat einen Eintrag »Dialogroman« a u f g e n o m m e n , S.94) wird der Dialogroman trotz H . - G . Winters Arbeit von 1974 nient erwähnt. Die literaturwissenschaftliche Verdrängung ganzer Textreihen gilt ähnlich f ü r Gelegenheitspoesie, didaktische Literatur u.a. Für eine andere in den offiziellen Poetiken nicht v o r h a n d e n e G a t t u n g hat Fritz Nies modellhaft in einer Verlaufskurve von 1760 bis 1960 vorgeführt, welche Bedeutung Bezeichnung und Textmerkmale innerhalb der genannten 200 Jahre aufwiesen; F. N . , Das Ärgernis »Historiette«. F ü r eine Semiotik der literarischen Gattungen, in: Zeitschrift f ü r romanische Philologie 89 (1973), S. 421-439; f ü r die A u f n a h m e der >Gattung< Lyrik in die Gattungseinteilung vgl. Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst. Vornehmlich v o m 16. bis 19. Jh. Studien z u r Geschichte der poetischen Gattungen, Halle a.d. Saale 1940.

6

Wilhelm Voßkamp, a.a.O., S.27. D a m i t wird ein Vorschlag Erich Köhlers a u f g e n o m m e n , auf normativ gesetzte o d e r apriorisch postulierte Gattungsbegriffe zugunsten einer »Betrachtungsweise (zu verzichten), die stets das funktionale Verhältnis dieser einen G a t t u n g zu allen anderen zeitgenössischen im Auge behält« u n d sie als historisch bedingte K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n im sich unablässig neu konstituierenden Spektrum der Möglichkeiten beschreibt statt als feste G r ö ß e n in einem überzeitlich gültigen Gattungssystem. Erich Köhler, Gattungssystem und Gesellschaftssystem, in: Romanistische Zeitschrift f ü r Literaturgeschichte (1977), S.7-22, hier S.7. Als Klassifikationsgrundlage bietet sich u n t e r anderem die Differenz von S y m m e trie/Asymmetrie an; vgl. Kapitel 4 bis 6 der Arbeit.

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8

4

Kommunikation

über den Dialog

stehen, bzw. wie die Theorie sich zu Grenzen von Gattungen und Künsten äußert. D e r >Dialogroman< wird in der poetologischen Diskussion vor 1800 kaum abgehandelt - das teilt er mit dem Roman überhaupt, der Dichtungsart, die »am meisten verachtet und am meisten gelesen« wird, so J. K . Wezel im Vorwort zu dem 1780 erschienenen Roman Herrmann

und Ulrike,9

Überdies ist

seine Beschreibung von der Beziehung der Dichtarten zueinander präfiguriert. Als Grenzphänomen zwischen dramatischer und epischer Dichtung ist der Dialog im Problemfeld der Entstehung dieser Kategorien situiert. Eine Kritik an Arbeiten zum Dialogroman muß zunächst an dieser Strukturierung des Forschungsfeldes a priori, über unreflektierte Begriffe, ansetzen: die G e schichtlichkeit literaturwissenschaftlicher Begriffe wird übersehen. Erst wenn die Dialogform aus dem Kontext des Selbstverständlichen isoliert wird, lassen sich Schematisierungen vermeiden, deren Ergebnis unter der Prämisse der >reinen< Gattungen zwangsläufig eine Theorie der Gattungsmischung ergibt. Daß >Gattungsreinheit< eine zweifelhafte Kategorie ist, hat Friedrich Sengle betont. 1 0 Die vermeintliche Mischform 1 1 Dialog entpuppt sich als Ergebnis einer unausgesprochenen, dem Literaturwissenschaftler selbstverständlich scheinenden Prämisse: dem triadischen Schema episch - lyrisch - dramatisch, der Einteilung aller Dichtung in drei Hauptgattungen. Die kaum in Zweifel gezogene Dreizahl ist jedoch längst nicht so naturwüchsig wie es scheint, sondern eine Errungenschaft der klassischen Ästhetik, die Autoren, Texte und Schreibweisen verdrängte oder marginalisierte, indem sie sie als zweit- oder drittrangig stigmatisierte. Deren längst fällige Rehabilitierung gegenüber einer Literaturgeschichtsschreibung und Literaturtheorie, für die generationenlang nur Kanonautoren ausschlaggebend waren, ist bislang nur ansatzweise er-

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J . K. Wezel, Herrmann und Ulrike. Ein komischer R o m a n , Reprint Stuttgart 1971, Bd. 1, Vorrede S. I. Mangels Vorbildern aus der griechischen oder römischen Literatur entzieht sich der R o m a n allen normativen Definitionen der klassizistischen Poetiken und noch 1795/96 nennt Schiller in seiner Abhandlung » U b e r naive und sentimentalische Dichtung« in einer vielzitierten Stelle den Romanschreiber den » H a l b bruder« des Dichters; N A , Bd. 20, S . 4 6 2 . Friedrich Sengle, Vorschläge zur R e f o r m der literarischen Formenlehre, Stuttgart 2. Auflage 1969, S . 2 5 . Vgl. Hans R o b e r t Jauss, T h e o r i e der Gattungen und Literatur des Mittelalters, in: H . R . Jauss/Erich Köhler, Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Heidelberg 1972, Bd. 1, S. 112: D a der Rede von Gattungsmischung immer ein negativer Beiklang gegenüber den reinen Gattungen eigne, schlägt Jauss unter Einführung des Begriffs »systemprägende Dominante« und unter Bezug auf Tynjanov vor, zwischen gattungshafter Struktur in konstitutiver oder unselbständiger Funktion zu unterscheiden. D i e Abhängigkeit von Begründungskonstruktionen erweist nicht zuletzt, daß auch das Epos häufig als Mischform betrachtet worden ist (als >genus mixtum< der antiken Poetik, Mischung aus Figurenrede und Rede des Dichters). Vgl. etwa Käte Hamburger, Z u m Strukturproblem der epischen und dramatischen Dichtung, in: D V j s 25 (1951), S.2.

Dialogische

Verfahren

als Gegenstand

der

Kritik

5

folgt. 1 2 Die Geschichte des literarischen K a n o n s ist nicht n u r als die eines variierenden Sets v o n W e r k e n u n d A u t o r e n zu schreiben, s o n d e r n auch als »revaluation or devaluation of the genres«. 1 3 Es sollte nicht u n t e r s c h ä t z t w e r d e n , wie einflußreiche Implikationen der Status eines m e h r oder weniger k a n o n i schen Texttypus auf die B e w e r t u n g einzelner i h m z u g e o r d n e t e r W e r k e hat. O h n e Zweifel w i r d eine U b e r p r ü f u n g literaturwissenschaftlicher K o n v e n t i o n e n f ü r den D i a l o g r o m a n zu ähnlichen Ergebnissen k o m m e n - auch der Dialog r o m a n ist >Opfer< dieser >LiteraturpolitikKunstperiode< u n d ihre >klassische Doktrin< hatte folgerichtig K o n s e q u e n z e n auch f ü r typologische Einteilungsprinzipien. Zwangsläufig drängte sich d e m Literarhistoriker der E i n d r u c k auf, ewig-gültige O r d n u n g s s c h e m a t a a u f z u f i n d e n u n d verstellte ihm den Blick dafür, daß die Dreiteilung im 18.Jahrhundert

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Etwa für Autoren wie Johann Karl Wezel oder Karl Philipp Moritz, von meist als Popularphilosophen deklassierten Theoretikern wie Johann Jakob Engel oder Christian Garve, am seltensten für weniger bekannte und vernachlässigte Texttypen wie Räuberromane oder Ritterdramen. Alastair Fowler, Genre and the Literary Canon, in: New Literary History 11 (1979), S. 98. Vgl. Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oellers (Hg.), »Unser Commercium«. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart 1984. Zur Beobachtung von Beobachtung vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1990, S.68ff. G.E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, LM, Bd. 9, S.390.

Kommunikation

6

über den

Dialog

eine Ausnahme war. Der spezifische historische Hintergrund verschwand in der Literaturgeschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, in der Goethe und Schiller zu den zentralen Autoritäten des Kanons geworden waren und die ihren Begriff von Klassik allein auf die >Dioskuren< gründete.17 Entscheidend ist dabei, daß mit der Goethe-Lektüre nicht nur Goethes Werke traditionsbildend sind (vgl. den Einfluß des >BildungsromanVorläuferEpigonen< und >Außenseiter01ympier< kann sich kaum eine Alternative behaupten. Die Urteile der Klassiker wurden mit nur geringfügigen Änderungen auf andere Epochen übertragen und gerieten der akademischen Philologie im Verlauf ihrer Geschichte unversehens zu unhistorischen und normativen Instrumenten. Zwar impliziert jede Kanonisierung eine Trennung gegenüber dem Marginalisierten oder Tabuisierten,18 Aufmerksamkeit für die Ausgrenzungsverfahren scheint mir jedoch angebracht. Am Anfang dieser so folgenreichen Verengung des Gattungsrepertoires stehen >zeitlose< Typologien wie Goethes Naturformen der Dichtung. Dort heißt es: »Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama.« Bezeichnenderweise lautet der nächste Satz, die klare Trennung wieder einschränkend: »Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken«. 19 Goethe räumt ein, es sei »deshalb auch so schwer eine Ord17

18 19

Zum »Namenseffekt« und zur »Auratisierung der Dichterpersönlichkeit« bzw. zur »impossibility of forgetting Goethe« vgl. Christa Bürger, Literarischer Markt und Öffentlichkeit am Ausgang des 18.Jahrhunderts in Deutschland, in: Aufklärung und Öffentlichkeit, (Hg.) Christa Bürger, Peter Bürger, Jochen Schulte-Sasse, Frankfurt am Main 1980. Vgl. auch Avitall Ronell, Dictations. On haunted Writing, Bloomington 1986. Ronell hat auch auf das Phänomen hingewiesen, daß Goethe einerseits sich als maßgebliche Autorität in Literaturfragen etablierte, andererseits sich in seinen Schriften um Gattungsfragen nicht im geringsten bekümmerte, ob es sich nun um Grenzüberschreitungen in Naturwissenschaft und Philosophie handelte oder um die geringgeschätzte Form des Romans. Zur Zurechnung auf Personen und den Effekten von >Reputation< vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1990, S.244-251, 352-354, sowie zur Literaturgeschichtsschreibung, die seit den 1830er Jahren alle Belege auf die Klassik als Gipfelpunkt bzw. in personalisierter Zuspitzung auf Goethe hin ausdeutet, vgl. Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 132 und 152ff. Zur Kanonisierung: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Kanon und Zensur, München 1987, besonders S. 7-27. Johann Wolfgang Goethe, Naturformen der Dichtung, Noten und Abhandlungen

Dialogische

Verfahren als Gegenstand der Kritik

7

nung zu finden, wornach man sie neben oder nach einander aufstellen könnte«. Die Rede von Naturformen weist aber bereits auf den Anspruch auf universale Geltung. Die schroffe Ablehnung der dialogisierten Romane entwickelt Goethe in einem anderen Kontext, in seinen Äußerungen über epische und dramatische Dichtung in Wilhelm Meisters Lehrjahren und der anschließenden Diskussion im Briefwechsel mit Schiller wie auch in dem daraus hervorgehenden Aufsatz. 20 Im >Wilhelm Meisten nimmt eine Diskussion in der Schauspieltruppe ihren Ausgangspunkt in der Frage, »ob der Roman oder das Drama den Vorzug verdiene?« Serlo betont, »in den Gränzen ihrer Gattung« seien beide gleichwertig; er bedauert, daß »leider viele Dramen nur dialogirte Romane« seien und hält sogar ein Drama in Briefen für möglich. Die Diskussion führt zu der hinlänglich bekannten antithetischen Unterscheidung: im Roman sollen Gesinnungen und Begebenheiten vorgestellt werden, es herrscht vollkommene Vergangenheit, im Drama geht es um Charaktere und Taten, um vollkommene Gegenwärtigkeit.21 Unversehens wird unter den gesetzten Bedingungen Shakespeares >Hamlet< zum Problem, sprich Roman - ein Indiz für die erst noch zu konstruierende Rivalität und das noch Undefinierte Nebeneinander von Roman und Schauspiel. Auch Schiller modifiziert die zunächst behauptete strenge Trennung, indem er anführt, die Dichtkunst nötige »auch den Epischen Dichter das Geschehene zu vergegenwärtigen«.22 Er gibt damit der Überzeugung Ausdruck, daß >Gegenwärtigkeit< in der Literatur von grundsätzlicher Bedeutung sei, eine Auffassung, die Goethe zwar durchaus teilt, aber nur in der Form des Briefromans akzeptiert. Was dagegen Dialoge betrifft, ist Goethes Verdikt genauso knapp wie deutlich: »..erzählende Romane mit Dialogen untermischt würden dagegen zu tadeln sein«.23 Einerseits hat sich Goethe stets entschieden gegen Gattungsmischung erklärt, wie er erneut in dem zitierten Brief betont, andererseits, so sein Argument diesbezüglich, wirkten Gespräche im Roman retar-

20

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22 23

zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans, W A I, Bd. 7, S. 118/119. (Hvhg. von G . K . ) 1 797, erschienen erst 1827 (WA I, Bd. 41,2; S. 2 2 0 - 2 2 4 ) unter dem Titel Ü b e r epische und dramatische Dichtung. A m 17. August 1795 kündigt G o e t h e in einem Brief an Schiller den Plan eines Aufsatzes über »Drama und R o m a n « für die Hören an ( W A IV, Bd. 10, S. 2 8 4 - 2 8 6 ) . Vgl. Schiller an Körner am 2. J u n i 1795 (F. Schiller, N A , B d . 27, S. 1 8 8 - 1 8 9 ) . Vgl. W. v. H u m b o l d t an G o e t h e am 15. Juni 1795, Briefe an G o e the, (Hg.) Karl R o b e r t Mandelkow, H a m b u r g 1965, Bd. 1, S. 199. G o e t h e W A I, Bd. 22, S. 1 7 7 - 1 7 9 , im Buch V, Kapitel 7 der >LehrjahreGattung< Dialog geleugnet wird. Mit der romantischen Kunsttheorie und Hegels Ästhetik wird die Trias episch-dramatischlyrisch zum »Trinitätsdogma« 28 der deutschen Literaturwissenschaft, von dem abzusehen schwerfällt - eine der folgenreichsten Neuerungen in der Geschichte der Gattungspoetik bis ins 20.Jahrhundert. Seit es eine Reflexion über die Dichtung gibt, gibt es den Versuch, die Mannigfaltigkeit der Werke zu ordnen, d.h. Gattungen zu unterscheiden, verbunden mit der normativen Tendenz, die Dichter zur Respektierung der durch die Gattung (vorgeblich)

24 25 2h

27 28

Goethe an Schiller am 17. Dezember 1795; WA IV, Bd. 10, S.350. Goethe an Schiller am 23. Dezember 1797, WA IV, Bd. 12, S. 381/382. Schiller an Goethe am 20. Juni 1799, NA, Bd.30, S.62. Daß dieser Dialog heute nicht zu Goethes Romanen gezählt wird, unterstreicht noch die These der Wirkungsmächtigkeit des triadischen Schemas. Schiller an Goethe am 26. Dezember 1797; NA, Bd. 29, S. 177. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, Bd.2, München 1972, S. 1.

Dialogische

Verfahren

als Gegenstand

der

Kritik

9

gesetzten G r e n z e n oder gar zu der N a c h f o l g e der f ü r die G a t t u n g als exemplarisch a n e r k a n n t e n Dichter der Vergangenheit anzuhalten. Versteht man aber unter G a t tungspoetik etwas Spezifischeres, nämlich die Lehre von den drei G a t t u n g e n oder Dichtungsarten - Epik, Lyrik, D r a m a t i k - , o d e r genauer noch: die Lehre von der Einteilung der D i c h t u n g in diese drei G a t t u n g e n , die Lehre von ihrer Einteilbarkeit in sie - und in diesem Sinn soll der A u s d r u c k hier verstanden werden - , dann h ö r t die G o e t h e z e i t auf, eine unter vielen E p o c h e n in der Geschichte der Gattungsästhetik zu sein. Ihre Ästhetik wird zu dem R a h m e n , in d e m sich die so verstandene Theorie der poetischen G a t t u n g e n allererst ausgebildet hat, überhaupt erst hat ausbilden k ö n -

S o b e g i n n t P e t e r S z o n d i s e i n e V o r l e s u n g ü b e r d e n W a n d e l Von der zur

spekulativen

Gattungspoetik

- spekulativ wegen der

normativen

»philosophischen

H ö h e « , z u d e r s i c h d i e T h e o r i e e r h e b t u n d s o d u r c h s e t z u n g s f ä h i g , s o sei h i n z u g e f ü g t , w e g e n d e r Simplizität dieser »so einfachen, leicht lehrbaren u n d liebgew o r d e n e n Lehre«.30 Mit W i l h e l m V o ß k a m p k a n n m a n diese » R e d u k t i o n des G a t t u n g s s y s t e m s « 3 1 als d i e e n t s c h e i d e n d e V e r e i n f a c h u n g s l e i s t u n g d e r P o e t i k v e r s t e h e n g e g e n ü b e r einer n u r s c h w e r systematisch e i n z u o r d n e n d e n Vielfalt v o n n e u e n G e n r e s . D i e » t o t g e s a g t e T r i n i t ä t « 3 2 s p u k t in u n s r e n K ö p f e n , a u c h in d e n e n historisch gebildeter Literaturwissenschaftler. Die distanzlose

Über-

n a h m e der dichtungstypologischen Grundbegriffe episch/lyrisch/dramatisch v e r h i n d e r t n i c h t n u r e i n e n g e s c h ä r f t e n B l i c k auf a l t e r n a t i v e , k l a s s i f i k a t o r i s c h e E i n t e i l u n g s p r i n z i p i e n v i e l e r P o e t i k e n b i s 18 5 0, 3 3 d i e m o d e r n e S y s t e m a t i k d e r drei G r u n d a r t e n schließt unterschwellig auch eine Vielzahl poetischer F o r m e n v o n literaturwissenschaftlicher F o r s c h u n g aus. D i e Historisierung der G a t t u n g s p o e t i k darf aber gerade an scheinbar universal gültigen

Einteilungen

nicht haltmachen. Es macht wenig Sinn, mit einer Dreiteilung zu arbeiten, die a l l z u d e u t l i c h d a s E r b e e i n e r E p o c h e u n d i h r e r Ä s t h e t i k ist. G e r a d e G r e n z p h ä -

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Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie II, F r a n k f u r t / M a i n 1974, S. 9 - 1 0 . F. Sengle, Vorschläge ..., S.21 Wilhelm V o ß k a m p , Historisierung u n d Systematisierung. Thesen zur deutschen G a t t u n g s p o e t i k im 18.Jahrhundert, in: E b e r h a r d Lämmert/Dietrich Scheunemann ( H g ) , Regelkram und Grenzgänge. Von poetischen Gattungen, M ü n c h e n 1988, S. 3 8 - 4 8 . Wie Voßkamp weiter a u s f ü h r t , setzt gerade der R o m a n unter Historisier u n g s d r u c k u n d Systematisierungszwang. Die mögliche E i n o r d n u n g des R o m a n s zwischen Epos, D r a m a u n d Historie bildet einen Irritationsfaktor im G a t t u n g s system. Wolfgang L o c k e m a n n , Lyrik Epik D r a m a t i k oder die totgesagte Trinität, Meisenh e i m am Glan 1973. F. Sengle, Vorschläge.. ; er beklagt dort die A u s g r e n z u n g von »Zweckformen« wie Biographie, Autobiographie, Dialog, Rede, Brief, Essay, A p h o r i s m u s , Tagebuch u n d Publizistik. Fast alle kleineren G a t t u n g e n sind in den Poetiken nach 1800 v o n wechselnder Positionierung betroffen. Das Darstellungsinteresse an der Differenziertheit der P h ä n o m e n e widerstrebt d e m Einordnungsversuch unter die drei H a u p t k l a s s e n der triadischen Gliederung - zwischen diesen Polen m u ß der Literarhistoriker wählen.

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Kommunikation

über den Dialog

nomene wie der Dialogroman werden auf Grund der übergeordneten Einteilung aus dem Kanon eliminiert. Kennzeichnend ist ja gerade der ideelle Charakter der Trinität - die Ordnung stützt sich nicht aufs Material, sondern auf die Idee. Im Gegenteil, die Prozeduren der Ausgrenzung dienen dazu, das Material zu bändigen, zu seligieren, zu kontrollieren, es zum reinen Beleg zu degradieren.

2. Epischer oder dramatischer Dialog? Affinitäten und Abgrenzungen Niemand klassifizieret so gern als der Mensch, besonders der deutsche. (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik)

Was liegt also vor der Durchsetzung der Dreiteilung? Zunächst sei kurz der Stand der poetologischen Diskussion rekapituliert: Bevor die universell verstandene >Klassik< und ihre Ästhetik sich als Leitdiskurs und normative Bezugspunkte durchsetzen, sind die Grenzen zwischen epischer und dramatischer Dichtung noch fließend, und kaum eine der Poetiken des 1 S.Jahrhunderts klassifiziert überhaupt nach dem Dreierschema. 34 In den konkurrierenden Einteilungen ist die Dreizahl nicht verbindlich, häufig wird sie um eine didaktische Gattung erweitert auf vier, 35 manchmal existieren fünf und bis zu acht Gattungen oder auch nur zwei. Das Dreierschema bleibt vor der Klassik eher die Ausnahme unter den konkurrierenden Varianten. Für die Zeitgenossen ist noch keineswegs evident, daß die Trias anschlußfähig sein wird. Einige weniger bekannte Theoretiker verstehen epische und dramatische Dichtung als eine Gattung, etwa Friedrich Josef Wilhelm Schröder in Lyrische, Elegische und Epische Poesien nebst einer kritischen Abhandlung einiger Anmerkungen über das Natürliche in der Dichtkunst und die Natur des Menschen?1' Schröder faßt dort »theatralische und epische Poesie« als »mimische« zusammen. Neben Gottsched, der den Dialog in seiner Critischen Dichtkunst nicht aufführt, gibt es jedoch eine Reihe anderer Theoretiker, die einige >genera minora< in ihrem System unterbringen und somit eher der literarischen Praxis entsprechen. Die überlieferte normative Gattungseinteilung wird damit zugunsten der Beschreibung aufgegeben: das Ergebnis ist klassifikatorisch, nicht

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Vgl. zur Entwicklung der Gattungssystematik Klaus Scherpe, Gattungspoetik im 18.Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968. Die Vierteilung beruht vor allem auf Batteux< Beaux Arts réduits à un même principe bzw. auf seinen Ubersetzern und Bearbeitern K.W. Ramler und J . A . Schlegel und wird auch von Sulzer übernommen. F.J.W. Schröder, Lyrische, Elegische ...., Halle 1759.

Epischer oder dramatischer

Dialog?

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systematisch, eine A u f r e i h u n g d e r Vielfalt der v o r h a n d e n e n G a t t u n g e n nach inhaltlichen u n d formalen G e s i c h t s p u n k t e n . G o t t s c h e d hat jedoch seiner A u s gabe u n d U b e r s e t z u n g der Dialoge Fontenelles eine A b h a n d l u n g vorangestellt, in der er n e b e n d e r historischen E i n f ü h r u n g zugleich eine Poetik des literarischen Gesprächs liefert. J o h a n n Adolf Schlegel b e m e r k t in der Abhandlung über die Eintheilung der Schönen Künste: » D o c h die R o m a n e sind nicht etwan die einzige prosaische Poesie. Gespräche, Briefe, Satyren k ö n n e n darinnen so w o h l , als in der a n d e r n Prosa ihre Stelle finden«; er n e n n t u. a. »Lucians G ö t t e r gespräche u n d Todtengespräche, Fontenelles Todtengespräche« u n d betont, »diese hier angezeigten Schriften sind insgesammt N a c h a h m u n g e n der N a t u r , W e r k e der Schönen Kunst, u n d in ihrer A r t Poesien«. 3 7 In d e n G o t t s c h e d u n d Batteux nachschreibenden Systematiken, die meist u n t e r d e m Titel »Theorie der Schönen K ü n s t e u n d Wissenschaften« firmieren u n d die die b e k a n n t e n Schemata f ü r L e h r z w e c k e verwalten, so sei hier summarisch z u s a m m e n g e f a ß t , ist d e r Dialog meist wie der Brief der >natürlichen S c h r e i b a r t s u b s u m i e r t u n d v o n weiteren Regeln u n d Vorschriften dispensiert. U m 1780 hat sich das geändert, einige Poetiken haben d e m Dialog w e n n auch nebensächlichen Platz eingeräumt. Sulzer behauptet, »Gespräche machen eine besondere G a t t u n g der W e r k e redender Künste, die eine nähere Beleuchtung der Critik verdienet«, 3 8 die er im auf diese Einleitung folgenden, sehr ausführlichen Artikel >Gespräch< d e n n auch liefert. A m grundsätzlichsten w e n d e t sich J o h a n n J a k o b Engel gegen d e n Versuch G o t t s c h e d s , den R o m a n (als »Milesische Fabeln«) an das H e l d e n e p o s a n z u n ä hern. 3 9 Engel unterscheidet in seiner A b h a n d l u n g Über Handlung, Gespräch und Erzählung (1774) z w a r nach der Einteilung lyrisch, episch, dramatisch u n d didaktisch, insistiert aber darauf, d a ß »diese F o r m e n sich mischen, fast in jedem etwas g r ö ß e r e n Werke, auf sehr mannichfaltige Art«. 4 0 In seinen Anfangsgründen einer Theorie der Dichtungsarten (1783) faßt Engel E p o s u n d D r a m a als »pragmatische« D i c h t a r t z u s a m m e n . 4 1 A n d e r e Prämissen ergeben 37

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J. A. Schlegel, Eintheilung der Schönen Künste, in: Herrn Abbt Batteux Einschränkung der Schönen Künste, Bd.2., S. 182/183. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, 1. Teil 1771, Artikel >GesprächVon der HandlungSchreibart< zur philosophischen Erörterung oder zur vergegenwärtigenden Charakterdarstellung genutzt werden kann. Wilhelm Friedrich Hezel übernimmt in expliziter Anlehnung an Eschenburg dessen zweigeteiltes Schema, verzichtet aber auf den rhetorischen Teil. 4 5 Die unterschiedlichsten Einteilungsversuche begleiten die von Goethe und Schiller geführte Diskussion und sind deutliche Indizien für die Umbruchsstimmung und die Kritik an bestehenden Ordnungsschemata. Die intensive Wechselwirkung zwischen literarischer Experimentierfreude und poetologischer Diskussion erweist sich in den um 1780 erscheinenden Publikationen am deutlichsten. Neben den Texten Eschenburgs und Engels erscheint ebenfalls 1783 J o h . Aug. Eberhards Theorie, 1771/74 bis 1792/99 Sulzers Theorie, alle in mehreren Auflagen. 46 Diese Standardwerke der Spätaufklärung räumen der Dialog- bzw., in der von ihnen gewählten Begrifflichkeit, der Gesprächspoetik größeren Raum ein, als dies jemals vorher oder nachher wieder getan worden ist. Die variablen Systementwürfe der Spätaufklärung, die je anders gruppieren, ausschließen und begründen, wirken zum Teil durchaus überzeugend, durch ihre Flexibilität und Gegensätzlichkeit indes auch wieder zufällig. Alle diese Arbeiten, so divergierend sie auch sind, geben sich überdies mehr oder weniger explizit als vorläufig aus und zeugen nicht weniger von methodischen Anstrengungen als von Ratlosigkeit. Das Alphabet impliziert am deutlichsten den Verzicht auf hierarchisch organisierte Systematik. Sulzer wählt die alphabetische Präsentationsform, in der ein Artikel >Gespräch< selbstverständlich aufgenommen

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Wilhelm Friedrich Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks, für alle Gattungen der Poesie, Hildburghausen 1791. Ebenfalls in Anlehnung an Eschenburg: G e org Friedrich Dinter, Grundriß der Aesthetik, Karlsruhe 1809. Vgl. B r u n o Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik, Bd. 2, 2. Auflage Berlin 1970, S. 5 5 2 - 5 6 1 .

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Kommunikation über den Dialog

w i r d , d e r O r t aber nichts mehr ü b e r d e n Stellenwert im G e f ü g e der G a t t u n g s p o e t i k aussagt - eine Einteilung, die Sulzer o h n e h i n f ü r überflüssig hält: Man hat verschiedentlich versucht, die mancherley Gattungen und Arten der Gedichte in ihre Klassen und Abtheilungen zu bringen, sich aber bis dahin noch nicht über den Grundsatz vereinigen können, der die Abzeichen jeder Art bestimmen soll. Von großer Wichtigkeit möchte auch die beste Eintheilung der Dichtungsarten nicht seyn, wiewohl man ihr auch ihren Nutzen nicht ganz absprechen kann. (...) Es verlohnt sich vielleicht der Mühe nicht, dergleichen Eintheilung zu suchen. 47 U m 1800 ä n d e r t sich die Situation. Die spätaufklärerischen Systematisierungsversuche h a b e n sich nicht durchsetzen k ö n n e n . D i e T h e o r e t i k e r w i d m e n sich verstärkt d e r Gattungseinteilung, n u r die p o p u l ä r e n L e h r b ü c h e r f ü r d e n U n terricht an Schulen u n d Universitäten ü b e r n e h m e n die aufklärerische Systematik. M a n w i r d diese B e f u n d e k a u m als Belege f ü r >richtigereGedichttriadischen< Gattungspoetik, in: Dieter Borchmeyer (Hg.), Poetik und Geschichte: V i k t o r Zmegac zum 60. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 3 1 7 - 3 3 7 . F. W.J. v. Schelling, Philosophie der Kunst (1859 aus dem Nachlaß), Reprint D a r m stadt 1990, S . 3 1 8 . A.a.O., S.62; vgl. auch S. 8/9. Zu den methodologischen Prämissen dieser » D e d u c tion der verschiedenen Kunstgattungen a priori« vgl. Peter Szondi, Schellings Gattungspoetik, in: P.S., Poetik und Geschichtsphilosophie II, Frankfurt/Main 1974, S. 1 8 5 - 3 0 7 .

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Kommunikation über den Dialog

Kategorien unterscheiden und letztere fordern: »bis so weit ist die Kunst mehr beschrieben, als definirt; ihr Wesen mehr empirisch erläutert als philosophisch entwickelt worden. Eine wahre Definition m u ß sich, wenn sie nicht willkührlich scheinen soll, auf eine Ableitung aus Begriffen gründen«. 5 4 Damit wird einem Vorgang Ausdruck gegeben, der als Ubergang von einer klassifikatorischen zu einer definierenden Poetik, z u m System beschrieben worden ist. Diese (heute willkürlich erscheinende) p h i l o s o p h i s c h e D e f i n i t i o n und A b l e i tung aus Begriffen^ die den Gegenstand erst konstruieren, nehmen H u m boldts Zeitgenossen in Angriff. Lessing war einer der Vorläufer dieser theoretischen Bemühungen u m Sonderung v o n Epos und Drama gewesen, dessen Protest gegen die zeitgenössischen Definitionen zu diesem Zeitpunkt noch folgenlos blieb. 1756 schreibt er an Moses Mendelssohn, er halte es für »elend, wenn diese beyden Dichtungsarten keinen wesentlichen Unterschied, als den beständigen oder durch die Erzählung des Dichters unterbrochnen Dialog, oder als A u f z u g und Bücher haben sollten«. 55 August Wilhelm Schlegel wendet sich kritisch gegen »neuere Theoristen«, die epische und dramatische Dichtung f ü r einerlei halten und sie unter den Begriff des Pragmatischen subsumieren. Damit meint er natürlich Engel. 56 D o c h noch ist die genaue Bestimmung dessen, was die »ewigen Gränzen« der Dichtarten sind, Desiderat. G ä b e es eine gültige Theorie der Poesie, (...) so w ü r d e n wir auch über das Wesen der epischen G a t t u n g im Klaren sein, u n d der Kunstrichter hätte n u r die schon bekannte Lehre auf einen vorliegenden Fall a n z u w e n d e n . Bis eine solche Wissenschaft zu Stande gebracht sein wird, muß m a n zufrieden sein, sich über Sätze, die m a n u n m i t telbar zu einer Kunstbeurtheilung braucht, mit dem Leser n o t h d ü r f t i g verständigt z u haben. 5 7

Zunächst, so empfiehlt Schlegel, müsse man alle ü b e r k o m m e n e n Begriffe und Lehrbücher über Bord werfen und sich vor allem v o n solchen Theorien verabschieden, »wo denn auch der Unterschied zwischen der lyrischen Einheit, der epischen und der dramatischen, gänzlich verlorengeht«. 5 8 Epos und Drama werden einander nun radikaler entgegengesetzt als je zuvor. Selbst der sonst so oft bemühte Aristoteles wird kritisiert, weil er im 23. Kapitel der Poetik dem Epos die Gesetze der Tragödie vorschreiben wolle. Aristoteles, so zeigt sich, kann als Autorität f ü r die unterschiedlichsten Einteilungen dienen: das >genus mixtum< und die Unterteilung nach der Redeweise (Rede des Dichters, Rede

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56 57 58

W. v. H u m b o l d t , a.a.O., S. 137/138. G . E . Lessing, Brief an Moses Mendelssohn am 18. D e z e m b e r 1756, L M , Bd. 17, S.87. A.W. Schlegel, Ueber Goethes » H e r m a n n und Dorothea« ( 1798), SW, Bd. 11, S. 189. A.W. Schlegel, SW, Bd. 11, S. 184. A.W. Schlegel, SW, Bd. 11, S. 186.

Epischer oder dramatischer

Dialog?

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der Personen) haben oft genug Verwirrung gestiftet und wurden von Kommentatoren je unterschiedlich interpretiert. Das redende Auftreten von Personen wurde nicht ausschließlich dem Drama, sondern ausdrücklich auch dem Epos zugewiesen. Friedrich Schlegel wendet sich eben aus diesem Grund entschieden gegen Aristoteles, der »auf Jahrtausende der unerschöpfliche Quell aller der grundstürzenden Mißverständnisse geworden, welche aus der Verwechslung der tragischen und der epischen Dichtart entspringen.«59 Beide Schlegels stellen die Frage »nach den Bedingungen der Möglichkeit poetischer Gattungsbegriffe und gattungspoetischer Systematik«,60 geben jedoch unterschiedliche Antworten. Die charakteristische Uneindeutigkeit möglicher Abgrenzungen der Gattungen in den aufklärerischen Poetiken findet in Friedrich Schlegel ihren Theoretiker, der diese mit programmatischer Entschiedenheit gerade zum Kennzeichen moderner Literatur erhebt und im Roman die vollendete Ausprägung sieht. Auf dem Hintergrund seiner Überlegungen zu Nachahmung und Studium der Antike verwirft Schlegel letztendlich die Einteilung in Dichtarten, um das Postulat der einen modernen Gattung aufzustellen, seine Theorie des Romans als progressiver Universalpoesie< und Vermischung aller Gattungen: »Alle klassischen Dichtarten in ihrer strengen Reinheit sind jetzt lächerlich«.61 »Der romantische Imperativ fordert die Mischung aller Dichtarten«. 62 Am deutlichsten entwickelt Schlegel seine Romantheorie im Gespräch über die Poesie, in dem er die Verwandtschaft mit der erzählenden oder epischen Gattung zurückweist gegenüber dem Drama, das »die wahre Grundlage des Romans ist«, bis auf den einzig wichtigen Gegensatz, daß das Schauspiel bestimmt sei, angeschaut zu werden, der Roman für die Lektüre. Der Roman vereinigt nicht nur eine Vielzahl poetischer Formen und sprengt damit das Schema von Epos, Lyrik und Dramatik, sondern ist als »Mischgedicht«63 auch die Verbindung von Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Doch Friedrich Schlegels (und schon Herders) 64 Uberwindung der >reinen< Gattun-

59 60 61 62 63

64

F. Schlegel, U e b e r die Homerische Poesie (1796), K A , Bd. 1, S. 131. Peter Szondi, Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik, a . a . O . , S. 115. F. Schlegel, Kritische Fragmente Nr. 60, K A , Bd. 2, S. 154. F. Schlegel, L N , Nr. 582, S. 76. F. Schlegel, L N , N r . 4 , S . 2 3 . Vgl. Peter Kapitza, D i e frühromantische T h e o r i e der Mischung. U b e r den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie, München 1968. D i e zum locus classicus gewordene Definition: »Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der R o m a n ; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig: denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen unef Arten - in Prose. ( . . . ) Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu: denn sie ist Poesie in Prose.« J . G . Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (1797), SW, Bd. 18, S. 109/110.

18

Kommunikation

über den

Dialog

gen im R o m a n 6 5 blieb einzelstehend u n d folgenlos. D i e T h e o r i e v o n der spezif i s c h e n E i g e n a r t i g k e i t u n d E i g e n g e s e t z l i c h k e i t der G a t t u n g e n s o w i e ihrer u n verletzlichen G r e n z e n fand wortmächtigere Verteidiger.66

3. Die »reine U n f o r m « : Ausgrenzung aus Literaturgeschichtsschreibung und Gattungspoetik Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt. (Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie)

A n l a ß f ü r A u g u s t W i l h e l m Schlegels R e f l e x i o n e n ü b e r d i e G r e n z e z w i s c h e n e p i s c h e r u n d d r a m a t i s c h e r D i c h t u n g ist g e n a u j e n e e i n g a n g s e r w ä h n t e P a s s a g e a u s d e m Wilhelm

Meister.

Ein w e n i g g e n a u e r n o c h als G o e t h e m ö c h t e er d i e

Differenz bestimmen: Der Unterschied der epischen und dramatischen Dichtart, welche neuere Theoristen unter dem N a m e n der pragmatischen dem Wesen nach für einerlei erklärt haben, möchte also doch, wenigstens wenn wir dabei stehenbleiben, was E p o s und Tragödie bei den Alten wirklich war, etwas tiefer liegen als in der äußeren Form, als darin, >daß die Personen in dem einen sprechen und daß in dem andern gewöhnlich von ihnen erzählt wirdSymptom< der >Barbarei< und ihre >Absonderung< als Beginn der >wahren Bildung< betrachten«); vgl. Gottfried Willems, D a s Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers, Tübingen 1981, S. 193-242, hier S.199. A.W. Schlegel, SW, Bd. 11, S. 189.

Ausgrenzung

aus Literaturgeschichtsschreibung

und Gattungspoetik

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J e n e n Status einer G a t t u n g , den A. W. Schlegel d e m Dialog hier abspricht, versucht Wieland ihm zuzuweisen; er ist der Ansicht, daß ein Dialog »in R ü c k sicht auf E r f i n d u n g , A n o r d n u n g , N a c h a h m u n g d e r N a t u r u.s.f. in seiner A r t ebensogut ein dichterisches K u n s t w e r k ist u n d sein soll als eine Tragödie o d e r K o m ö d i e « , 6 8 eine b e m e r k e n s w e r t e u n d einleuchtende Ü b e r l e g u n g , die keine R e s o n a n z findet, weil die D i s k u s s i o n z u diesem Z e i t p u n k t bereits auf die triadische Gattungseinteilung fokussiert ist. Wieland hatte scharfsinnig p r o p h e zeit, daß die »zweydeutige Gestalt« des Dialogs »durch ihre Unregelmässigkeit das Auge der Kunstrichter beleidigen w i r d ; er war w e d e r eine E r z ä h l u n g n o c h ein D r a m a u n d m u ß t e des nachtheiligen Vorurtheils gewärtig sein, das m a n v o n allen Sachen zu hegen pflegt, die keinen N a h m e n haben«. 6 9 D a s P r o blem des fehlenden Etiketts, der fehlenden Kategorie hat Wieland mit Weitblick e r k a n n t u n d d a h e r m e h r f a c h versucht, der F o r m >Dialog< u n t e r H i n w e i s auf ihren K u n s t c h a r a k t e r m e h r A n e r k e n n u n g z u verschaffen. Ü b e r Galianis Dialogues sur le commerce des blés heißt es: sie verdienten sowol wegen des Inhalts als der Form eine der ehrenvollsten Stellen unter den classischen Werken, welche als solche allen Nationen und Zeiten angehören. (...) Aber auch ohne den Werth der abgehandelten Sachen in Anschlag zu bringen, und in bloßer Rücksicht auf die Composition dieser Gespräche, zähle ich sie unter die vorzüglichsten Meisterstücke und Muster der (noch viel zu wenig unter uns gekannten) Kunst des Dialogs und weiß ihnen (wenigstens unter den Neuern) außer den Moralists des Grafen von Shaftesbury kein anderes Werk des Genie's in diesem Fache an die Seite zu setzen. 70 Wieland hegt keinen Zweifel daran, daß es eine »verdienstliche U n t e r n e h m u n g « wäre, die deutsche Literatur mit einer guten Ü b e r s e t z u n g Galianis zu k o n f r o n t i e r e n , u m M u s t e r f ü r Klassizität bereitzustellen; auch X e n o p h o n s Gastmahl hielt Wieland f ü r die A u f n a h m e in einen » K a n o n der ästhetischen Schönheit eines Dialogs geeigenschaftet«. 7 1 J o h a n n J a k o b Engel bezieht in sein e r A b h a n d l u n g Uber Handlung, Gespräch und Erzählung eine weitgehend identische Position, w e n n er mit einer Kritik an d e n v o r h a n d e n e n Poetiken beginnt, deren Einteilung n u r darin bestünde, die D i c h t u n g s a r t e n a u f z u f ü h r e n , »für die sie N a m e n findet«. 7 2 Sein Versuch u n t e r n i m m t es, d e m D i a l o g ( r o m a n )

68 69

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C.M. Wieland, Aristipp, S.674/675. C.M. Wieland, Araspes und Panthea. Eine moralische Geschichte in einer Reyhe von Unterredungen (1760), A I. Abt., Bd. 3, S. 1. Wielands eigener Dialogroman sei denn auch, so die These Karl Raabs, wegen der »wenig anziehende(n) Einkleidung« als Totengespräch so enttäuschend aufgenommen worden; K. R., Studien zu Wielands Roman >Peregrinus ProteusMischungen< überhaupt erst zu leisten. Diesem theoretischen Anspruch kann es natürlich nicht darum gehen, fraglos vorgegebene G r ö ß e n zu übernehmen u n d zu charakterisieren, die Anordnung der Gattungen zu erläutern, sondern n u r darum, sie zu reformulieren, nach >inneren Gesetzen' zu begründen und zu korrelieren. Für die Gattungstheorie hat das zur Folge, daß die Aneinanderrei-

73 74

F. Schlegel, G e o r g Forster, KA, Bd. 2, S.97. A.W. Schlegel, Vorlesungen ü b e r dramatische Kunst u n d Literatur (1808), SW, Bd. 5, S. 38.

Ausgrenzung

aus Literaturgeschichtsschreibung

und

Gattungspoetik

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hung von Gattungs- und Stilbegriffen »in eine festgefügte Begriffshierarchie überführt wird«. 75 Als unterscheidende Bezeichnungen werden die Begriffe willkürlich eingeführt; daß sich die Verwendung ihrer Definition durchsetzt, kann nur ein Beobachter zweiter Ordnung als arbiträr bezeichnen - für die Beobachter erster Ordnung ergibt die Aufteilung ein der Sache durchaus angemessenes Beschreibungssystem. Zweifellos halten sich konkurrierende Literaturgeschichten und Poetiken bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, und manche von ihnen sprechen vom Dialog und von dialogischen Romanen. Jean Paul widmet in seiner Vorschule der Aesthetik dem dramatischen Roman noch einen eigenen Abschnitt, er hält »diese schärfere Form« sogar gegenüber dem epischen Roman »für die bessere, da ohnehin die Losgebundenheit der Prose dem Romane eine gewissen Strengigkeit der Form nötig und heilsam macht«. 76 Dennoch äußert sich Jean Paul nachteilig über den poetischen Wert des Romans: D e r R o m a n verliert an reiner Bildung unendlich durch die Weite seiner F o r m , in welcher fast alle F o r m e n liegen und klappern können. Ursprünglich ist er episch; aber zuweilen erzählt statt des Autors der Held, zuweilen alle Mitspieler. D e r R o man in Briefen, welche nur entweder längere M o n o l o g e n oder längere Dialogen sind, grenzet in die dramatische F o r m hinein, ja, wie in Werthers Leiden, in die lyrische«. 7 7

Letztendlich teilt er die klassische Mißbilligung gegenüber der >Formlosigkeit< des Romans; in der zweiten Auflage von 1813 übernimmt Jean Paul die klassische Dreiteilung, nachdem er vorher nur zwei Dichtarten unterschieden hatte. Kaum ist der Roman in die Reihe akzeptierter Formen aufgenommen, drohen neue Regeln seine poetologische Freiheit einzuschränken. Den dramatischen Roman sieht Jean Paul dem Verschwinden anheim gegeben: »Aber die Neuern wollen wieder vergessen, daß der Roman ebensowohl eine romantisch-dramatische Form annehmen könne und angenommen habe«. 78 Mit Jean Pauls Einschränkung, >ursprünglich< sei der Roman episch, deutet sich jene Wende an, mit der das >poetische Gespräch< von der selbständigen Gattung zum Verfahren mutiert. 1815 unterscheidet Friedrich Bouterwek, der Sengle zufolge als Vertreter der offiziellen akademischen Meinung gelten kann, 79 in seiner Aesthetik Poesie und Prosa deutlich und behauptet, letztere könne »der Poesie auf eine besonders interessante Art näher gerückt werden durch die dialogische Form«. Seine Begründung: »Der Dialog ist für die Prose eine rhetorische

75 76 77 78 79

Gottfried Willems, Das K o n z e p t der literarischen Gattung, Tübingen 1981, S. 110. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, I. Abt., Bd. 5, S . 2 5 2 . Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, I. Abt., Bd. 5, S. 248/249. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, I. Abt., B d . 5 , S . 2 5 2 . Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1 8 1 5 - 1 8 4 8 , B d . 2 , München 1972, S . 8 .

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Kommunikation

über den Dialog

Figur, die wie alle solche Figuren auch der Poesie angehört«. 80 Ein merkwürdiges Argument, das sich genauer zu betrachten lohnt. Einerseits darf hier der Dialog noch dem Feld der Kunst zugerechnet werden, ist aber als rhetorische Figur bereits >technéBegriffe, Gefühle oder Begebenheiten» darstellen, wobei man sich von »vorhandenen Zwittergeburten« (Bd. 2, S.9) nicht irre machen lassen solle. A.a.O., S. 137. Möglicherweise mehr, mir sind nicht alle weiteren genannten Titel bekannt; a.a.O., S. 141. Die Aufzählung deutet darauf hin, daß bei anderer Gattungseinteilung sich auch durchaus ein anderer Kanon ausgebildet hätte, indem die Selektion aus der Gesamtproduktion unter anderen Kriterien vorgenommen worden wäre.

Kommunikation

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über den Dialog

stungen«: 8 8 Zum Horizont der Möglichkeiten, aus dem jeweils ausgewählt wird, gehört nicht nur das Ausgewählte, sondern auch das Nichtausgewählte. Poetologischer und ästhetischer Diskurs verweisen den Dialog dauerhaft auf das Areal des >StilsEinkleidung< und wird vornehmlich in den Handbüchern zur Stilistik weitertransportiert, die sich nur mit Prosa befassen und Techniken und Stilmittel abhandeln. 9 0 Ansonsten wird der Dialog nicht mehr als eigenständige Kunstform abgehandelt. Nur Theodor Mündt erkennt die Bedeutungslosigkeit der Trias angesichts einer sich auf Lektüre umstrukturierenden Literatur und unterzieht die Ordnungskategorien einer - modern gesagt - >medialen< Kritik: Das Epos, das D r a m a und das lyrische Gedicht erscheinen in der neueren Poesie oft ohne alle Ansprüche, gehört, geschaut oder gesungen zu werden. Daher ist es denn auch gekommen, daß sich diese Gattungen in ihren eigentlichen Charakterformen so sehr verwischt haben und oft in zerronnener Allgemeinheit ineinander übergegangen sind. ( . . . ) Wo die Bedeutung der Öffentlichkeit für das Kunstwerk beschränkt oder gar nicht vorhanden ist, und die Wirkungen hauptsächlich auf die Leetüre be-

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Niklas Luhmann, Einfache Sozialsysteme, in: Manfred Auwärter, Edit Kirsch, Manfred Schröter (Hg.), Seminar: Kommunikation, Interaktion, Identität, F r a n k furt/Main 1976, S. 12. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, I. Abt., Bd. 5, S. 4 8 5 - 4 8 7 . Heusinger argumentiert bereits in ähnlicher Richtung, wenn er >wesentliche< F o r men, die durch den Inhalt bestimmt werden, und >zufällige< unterscheidet, bei denen der K o n n e x von F o r m und Inhalt fehlt, und letzteren den Dialog zuordnet. J . H . G . Heusinger, a . a . O . , Bd.2, S. 12/13.

Ausgrenzung nus Literaturgeschichtsschreibung

und Gattungspoetik

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rechnet werden, verlieren auch die Gattungsverschiedenheiten ihren eigensten E f fekt ( , . . ) « . 9 1

Es sei daher bedenklich, sich über Grenzen und Rangfolge der Dichtungsarten zu äußern. D e r poetische Dialog erhält fürderhin seine Bestimmung erst durch die Dichtart, in die er eingebaut wird. Der Dialogroman wird nach wenigen Jahren der Konjunktur zur >Mode< deklariert; der »Gattung ohne Erwartungshorizont< (Jauss) intoniert A.W. Schlegel den Abgesang im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte. Jährlich würden weit mehr Romane als Schauspiele publiziert, konstatiert Schlegel und vermutet boshaft, daß den Schriftstellern für ein Schauspiel das Geschick der Anordnung fehlt. »Sie lieben sich die reine Unform; daher auch die weitschweifigen dialogierten Romane, die einmal Mode waren, welches nur auseinandergefloßne Dramen sind«. 92 Allenfalls in einer Ubergangsphase, zwischen Gottsched und Goethe, hatte der Dialog die historische Chance, eine eigene Tradition auszubilden. D o c h in der Abfolge der literarischen Realisierungen hatte sich kein anerkanntes Gattungsmodell ausgebildet. Nach wenigen erfolgreichen Jahrzehnten bereits wird die Innovation obsolet - und verweist damit auf die Rezeption spätaufklärerischer Prosa überhaupt, die dem Verdikt verfällt, nur trivial oder zu didaktisch zu sein zwei Bereiche, die ebenfalls aus einer Literaturgeschichtsschreibung

ver-

schwinden, die anstelle der Einheit von >Litteratur< nun die dichotome Aufspaltung in Literatur und Geschriebenes setzt. Der Dialog wird nicht zur Nachahmung empfohlen, gilt den Rezensenten als (qualvoll zu lesende) Technik des Seitenschindens. D i e gefährlichste Klippe, an der sonst ohne Ausnahme alle Versuche gescheitert sind, ist die Weitläuftigkeit. D e r Dichter wird nur gar zu leicht verführt, zu ganzen Seiten leeren Dialogs auszuspinnen, was in der Erzählung ein paar Zeilen eingenommen hätte, und auch nicht mehr verdiente. D a ß diese gemächliche Art, den Bogen zu füllen, bey den Romanfabrikanten so großen Beyfall gefunden, begreift sich leicht; desto weniger hingegen, w o das Publikum Geduld hernimmt, solche voluminöse und in gleichem Grade auch langweilige R o m a n e zu lesen. 9 3

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T h e o d o r Mündt, Aesthetik. Die Idee der Schönheit und des Kunstwerks im Lichte unserer Zeit, Berlin 1845, S. 320/321, Reprint Göttingen 1966, (Hg.) Hans Düvel, Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 19.Jahrhunderts. A. W. Schlegel, Allgemeine Ubersicht des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Literatur (1802), in: A . W . S . , Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, ( H g . ) J a c o b Minor, Heilbronn 1884, Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. J h s . , B d . 18, S. Vgl. auch A. W. Schlegel, M o d e - R o m a n e . Lafontaine, in: Sämtliche Werke, ( H g ) E. B ö c k i n g , 12. Bd, Leipzig 1847; Karl August Ragotzky, Uber M o d e - E p o k e n in der Teutschen Lektüre, in: Journal der Moden 7 (1792), Nachdruck in: Walther Killy (Hg.), D i e deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse, Bd. 4: 18.Jahrhundert, München 1983, Teilband 2, S. 9 8 0 - 9 8 5 . A d B 111 (1792), S. 124; Rezension zu »Die Familie Eboli; dramatisch bearbeitet vom Verfasser der Lauretta Pisana«, Dresden und Leipzig 1 7 9 1 - 9 2 .

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Kommunikation

über den Dialog

Die zeitgenössische Satire greift diese Art der Dialogfabrikation auf. Ein »elender Scribent«, der einen erfolgreichen R o m a n (hier einen Räuberroman) schreiben will, hat sich genau die Strategie überlegt, den Dialog als Hilfsmittel einzusetzen, um das Buch an Umfang anschwellen zu lassen. E r ahmt ungeniert die modische Manier nach: I c h machte mich sogleich an die Arbeit. Es gieng mir rasch aus den Fingern. Ich bediente mich häufig der F o r m des Dialogs. Diese F o r m schien mir sehr bequem, den Faden meiner Geschichte recht weitläuftig auszuspinnen. Ich bekam viele Worte, und sehr viele Absätze. Denn einige hundertmal legte ich meinen Helden und H e l dinnen auf einsilbige Fragen nur die einsilbigen J a und N e i n in den Mund. Dadurch bekam ich auf die bequemste Weise der Welt viele Zeilen, viele Zeilen geben viele B o gen, und viele Bogen bringen viel H o n o r a r . 9 4

>Lohnschriftstellerei< wird von den Zeitgenossen argwöhnisch registriert. Viel schlechtes Zeug werde geschrieben, viel Schreiberlinge ohne Talent füllten B ü cher, an der Form werde nicht mehr gefeilt, sondern nur möglichst viele Bögen gefüllt, um ein höheres Honorar einzustreichen. Die »Büchermacher um's Geld«, »die Modeschriftstellerund das Belletristen=Heer« 9 5 richteten sich nur nach dem herrschenden Geschmack, es sei ihnen gleichgültig, worüber sie schrieben. Das Verdikt über diese Lohnschriftsteller ist apodiktisch: »Wer ums Geld schreibt, der kann schwerlich um Unsterblichkeit schreiben«. 9 6 Bedenkt man die nicht unerhebliche zusätzliche Komplikation, daß die meisten Dialogromane der literarischen Massenware zugerechnet werden (etwa Meißner, Cramer, Hase und Thilo werden im Abschnitt »Unterhaltungsliteratur« behandelt, wenn sie überhaupt auftauchen, ihre Romane gelten denn auch nur »eine F o r m dialogisierter Halbromane«), 9 7 so sind damit denkbar ungünstige Voraussetzungen für die Rezeptionsgeschichte gegeben. Es ist oft bemerkt worden, daß sich in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende jene »Zweiteilung der Literatur und Kultur« 9 8 zwischen kanonisierter Litera-

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Peter Philipp Wolf, Magister Scriblerus. Ein komischer Roman, Leipzig 1803, S. 68f. F ü r diesen Hinweis danke ich Holger Dainat. Ausführlich das Kapitel »Unsre Geldautoren« in J o h a n n Georg Heinzmann, A p pell an meine Nation, Bern 1795, S. 1 4 8 - 1 6 9 , hier S. 148 und 158. A d o l p h Freiherr von Kniggc, U e b e r den B ü c h e r = N a c h d r u c k , Hamburg 1792, in: Reinhard Wittmann (Hg.), Quellen zur Geschichte des Buchwesens, B d . 8: D e r N a c h d r u c k in der publizistischen Diskussion pro und contra, München 1981, S.415. Hans Heinrich Borcherdt, Der R o m a n der Goethezeit, Urach und Stuttgart 1949, S.252. H e r m a n n Bausinger, D i e Mühen der Einfachheit. Zur Modellierung des Populären in der Literatur um 1800, in: J b . Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1985, S. 20. Ubereinstimmend datieren Forschungen zur Trivialliteratur deren E n t stehung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts; der Begriff gehört seit den sechziger J a h r e n des 20.Jahrhunderts zum gängigen Repertoire der Literaturwissenschaft. D a ß die Dichotomie von hoher und niedriger Literatur nicht als vorgege-

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aus Literaturgeschichtsschreibung

und Gattungspoetik

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t u r u n d Trivialliteratur, U - u n d Ε-Bereich, U n t e r h a l t u n g s k u n s t f ü r das breite P u b l i k u m u n d E l i t e k u n s t f ü r die w e n i g e n G e b i l d e t e n h e r a u s b i l d e t , die f ü r u n s h e u t e s o s e l b s t v e r s t ä n d l i c h ist. D i e ä s t h e t i s c h e D i s k r i m i n i e r u n g v o n T e i l e n d e r L i t e r a t u r h a t t e z u r F o l g e , d a ß sich d i e L i t e r a t u r g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g d a m i t b e gnügte, einer ganzen Reihe von Texten - quantitativ der großen M e h r h e i t der L i t e r a t u r p r o d u k t i o n - m e h r oder m i n d e r u n d i f f e r e n z i e r t ihre Trivialität z u att e s t i e r e n u n d sie d a m i t ad a c t a z u l e g e n . " M i t d e r B e s c h r ä n k u n g auf k a n o n i sierte M e i s t e r w e r k e u n d g r o ß e A u t o r e n »wird die Geschichtlichkeit der Liter a t u r offensichtlich u m ihre spezifischen D i m e n s i o n e n v e r k ü r z t . D e n n ein bed e u t e n d e s W e r k , d a s i m l i t e r a r i s c h e n P r o z e ß e i n e n e u e R i c h t u n g a n z e i g t , ist v o n einer nicht ü b e r s e h b a r e n P r o d u k t i o n v o n W e r k e n u m g e b e n , die traditionellen E r w a r t u n g e n o d e r Vorstellungen ü b e r die Wirklichkeit e n t s p r e c h e n , in i h r e m g e s e l l s c h a f t l i c h e n I n d e x a l s o n i c h t g e r i n g e r z u v e r a n s c h l a g e n s i n d als d i e einsame, o f t erst s p ä t e r b e g r i f f e n e N e u h e i t des g r o ß e n W e r k e s « . 1 0 0 D i e D i a l o g f o r m ist a l l e r d i n g s s c h w i e r i g e r z u h a n d h a b e n als g e m e i n h i n z u g e s t a n d e n w i r d . E i n » n a c h g e a h m t e s o d e r s c h r i f t l i c h e s G e s p r ä c h « sei v o n h o h e m W e r t , w e n n es g u t sei, » i s t a b e r a u c h n i c h t s o l e i c h t , als m a n v i e l l e i c h t d e n k e n s o l l t e . D a h e r r ü h r t es d e n n a u c h , d a ß w i r u n s e b e n n i c h t ü b e r U e b e r f l u ß a n g u t e n P r o d u c t e n dieser A r t z u b e s c h w e r e n haben«.101 Es h a n d e l t sich o f f e n -

benc u n d unveränderliche Tatsache, sondern als historisches P h ä n o m e n zu betrachten ist, hat die neuere Forschung betont. Vgl. dazu Hans-Joachim Althof, Trivialliteratur. Ein Beitrag z u r Geschichte des Begriffs und seines Umfelds, in: Archiv f ü r Begriffsgeschichte 22 (1978), S. 175-201; Christa Bürger/Peter Bürger/Jochen Schulte-Sasse (Hg.), Zur Dichotomisierung von hoher u n d niederer Literatur, F r a n k f u r t / M a i n 1982; Jochen Schulte-Sasse, Die Kritik an der Trivialliteratur seit der Aufklärung. Studien z u r Geschichte des m o d e r n e n Kitschbegriffs, M ü n c h e n 1971. Zahlreiche Definitionsversuche haben den Begriff nicht schärfer gefaßt, sondern n u r erweitert. F ü r den hier behandelten Zeitraum wird daher auf das Etikett »trivial« verzichtet. In der literarischen Kritik des 18.Jahrhunderts beginnt sich diese Unterscheidung gerade erst zu konstituieren, bleibt aber nicht o h n e K o n s e q u e n z e n für die Rezeption der als >Unterhaltung< verworfenen R o m a n e . Zu A u t o ren, Literaturverhältnissen u n d P u b l i k u m dieser Epoche vgl. H a r t m u t Weidemeier, Heinrich August Kerndörffer. U n t e r s u c h u n g e n z u m Trivialroman der Goethezeit, Diss. B o n n 1967, besonders S. 8 - 5 0 . Allen Arbeiten zur Unterhaltungsliteratur u m 1800 gemeinsam ist allerdings, daß sie meist stofflich-inhaltlich Reihen bilden u n d der F o r m wenig oder keine A u f m e r k s a m k e i t w i d m e n . 99

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Die F o r d e r u n g nach einer intensiveren E r f o r s c h u n g w u r d e in den letzten J a h r e n teilweise eingelöst, vgl. etwa H o l g e r Dainat, Abaellino, Rinaldini u n d K o n s o r t e n . Z u r Geschichte der R ä u b e r r o m a n e in Deutschland, Diss. Bielefeld 1989; M a r k u s Krause, Das Trivialdrama der Goethezeit 1780-1805. P r o d u k t i o n u n d Rezeption, B o n n 1982. H a n s Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: H . R . J . , Literaturgeschichte als Provokation, F r a n k f u r t / M a i n 1970, S. 158/159. J o h a n n C h r i s t o p h Adelung, Ü b e r den deutschen Styl, 3 Theile in 1 Band, Berlin 1785, Reprint Hildesheim N e w York 1974, Theil 2, S.324. Z u den internen Schwierigkeiten der Dialogform vgl. Kapitel 4 sowie Maurice Roelens, Le dialogue philosophique, genre impossible?, in: Cahiers de l'association internationale des études françaises 24 (1972), S. 43-58.

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Kommunikation

über den Dialog

sichtlich um den Versuch einer Aufwertung. Gerade aber die Schwierigkeiten der Schreibweise führten dazu, daß die Dialogform wenig >klassische< Exemplare aufzuweisen hat, mit fatalen Konsequenzen für die Rezeptionsgeschichte - insofern möglicherweise eine strukturell unhintergehbare Voraussetzung für den Erfolg einer >GattungTrivialliteratur< motivisch gelang (Räuberromane und Ritterdramen über Goethes Götz und Schillers Geisterseher), verknüpfte man die Dialogform symbiotisch mit dem Urteil über die Massenliteratur. Die Etikettierung als Unterhaltungs- oder didaktische Literatur bescheinigt implizit literarische Minderwertigkeit und forciert noch die Sanktionierung, die das Dreierschema verantwortet. Der Dialog gilt also einerseits als Überschreitung der der epischen und der dramatischen Gattung gezogenen Grenzen sowie als Uberschreitung des engeren Bereichs von >DichtungKrise< des Dialogromans ist nur unzulänglich zu datieren und abhängig davon, wie das Ende einer Gattung definiert wird: Wenn die Texte nicht mehr gelesen werden? Wenn sie nur noch mit Kommentar verständlich sind? Wenn sie nicht mehr produziert werden, die Form kein Interesse mehr erweckt? Wenn nicht einmal mehr im literaturgeschichtlichen Diskurs von ihnen die Rede ist? Bereits die zeitgenössischen Rezensionen konstatieren die Flut dialogischer Texte, erreichen aber auch mit ihrer seriellen Kritik, daß auch gelungene Exemplare kaum mehr Nachahmer finden. Fast gleichzeitig mit dem Auftreten der neuen Romanform entfaltet sich der sie aus dem als legitim akzeptierten Bereich verweisende Diskurs. Aber ebensowenig wie ein ersichtlicher Anfang ist ein definitives Ende auszumachen. Die Verbindlichkeit von Gattungsregeln läßt die Poetik im Laufe des 18.Jahrhunderts zwar hinter sich, aber neue Grenzen werden formuliert: die Differenz episch - dramatisch oder die zwischen Poesie und Nicht-Poesie, somit Unterscheidungen, die den Dialog letztlich als Grenzphänomen eliminieren. Noch immer ist auch der Roman vor grundsätzlicher Infragestellung nicht gefeit. Die negative Bestimmung im System der literarischen Gattungen findet sich etwa bei Gervinus (»Zwittergattung«) 105 oder Eichendorff (»Unform«). 1 0 6 Die Position des Romans hat sich inzwischen jedoch so weit gefestigt, daß ihm in der Regel ein angemessener Platz in Ästhetiken oder Literaturgeschichten eingeräumt werden muß. Doch seine Einordnung unter die Gattungen wechselt. Daß für die erste Jahrhunderthälfte die Hegeische Ableitung des Romans aus der epischen Tradition noch keineswegs verbindlich ist, sondern genauso die Beziehung zum Drama ausschlaggebend sein kann, hat F. Sengle betont er zitiert Hermann Margraff mit einer Äußerung von 1844: »Wie man behauptet, der Roman sei das in Prosa aufgelöste Epos, so könnte man auch füglich

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möglicherweise aber ebenso zirkulären Schlußfolgerungen geführt hätte. C . V.McD., T h e Dialogue o f Writing. Essays in Eighteenth-Century French Literature, Waterloo 1984 (Kanada), S. xii. Grundsätzlich trägt die Rede von >Zwittern< oder hybriden Gattungen in ihrer vereinfachenden Ambivalenz wenig zum Verständnis der formalen Eigentümlichkeiten des Dialogs bei. G . G . Gervinus, Geschichte der Deutschen Dichtung, 4. Auflage Leipzig 1853, Bd. 5, S. 145. J o s e p h von Eichendorff, D e r deutsche R o m a n des achtzehnten Jahrhunderts in seinem Verhältnis zum Christentum, in: J.v.E., Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte, (Hg.) Hartwig Schultz, Frankfurt/Main 1990, ( = Werke in 6 Bänden, Bd. 6), S . 3 9 4 .

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Kommunikation

über den Dialog

behaupten, er sei eine Auflösung aus dem Drama«. 1 0 7 Durch normbildende, episch erzählende Werke und komplementäre Erwartungen beim Lesepublikum ist die Ausgrenzung aus dem Bereich der Kunst aber längst vollzogen, die Rede über den Dialog verstummt unter den Prämissen der klassischen Ästhetik. Die nachträglich scheinbar notwendige Entwicklung schließt den Dialogroman aus dem Spektrum gebilligter Romantypen aus, gesteht ihm nicht einmal eine Nebengeschichte in der allgemeinen Romanhistorie zu. Um das triadische Schema und den eingeengten Literaturbegriff zu stabilisieren, werden ganze Teilbereiche der Literatur ausgegrenzt: Nachdem die Kunstphilosophie von Klassik und Romantik kanonisch geworden ist, gerät der »Zwitt e r zum Kuriosum, erst das 20.Jahrhundert wird den Dialog wiederentdekken. Die Rezeptionsgeschichte der Dialogprosa wurde an den Anfang gestellt, folgerichtig, als Erweis eines von Negation dominierten Defizits, das erst die Frage aufwirft, was der Dialog jenseits von Gattungsfragen sei. Nachzulesen war, wie sich das Gattungssystem in den Literaturgeschichten des 1 ^ J a h r h u n derts ausprägte und die Klassifikation und Analyse historisch zurückliegender Texte bis heute vorstrukturierte - in Franz Stanzeis Formulierung gipfelnd: »Dialoge der Charaktere ohne Inquitformeln und ohne auktoriale, die Sprechsituation charakterisierende Regieanweisungen sind nicht-narrative Textteile, eigentlich also ein dramatisches >corpus alienum< in einer Erzählung« 1 0 8 ; in ihr drückt sich die Ratlosigkeit gegenüber der Gattungszuordnung von dramatisierten Erzählungen aus - der Herausforderung zur Uberprüfung der eigenen Schemata wird mit Ausschluß begegnet. »Wenn die drei Gattungen ( . . . ) nicht auf diese Weise den unendlichen Formenreichtum der >Dichtung< doch in Ordnung hielten, (...) würden wir vor einem undurchdringlichen Dschungel stehen«, 1 0 9 lautet Lockemanns fast hilflos wirkende Hoffnung auf die ordnende Macht der Trias gegenüber »Gattungsungeheuern«. Mit welcher Selbstgewißheit Dialogromanen der erzählerische Charakter, ja fast ihre Existenz abgesprochen wird, scheint angesichts der Fülle der vorhandenen Texte ein Beweis mehr für die rein »spekulative« Methode der Literaturwissenschaft und die Unangemessenheit ihrer Gattungskategorien für die Bestimmung einer literarischen Form wie des Dialogs. Ausgangspunkt für die folgenden Untersuchungen kann deshalb nicht der literaturgeschichtliche Diskurs sein, sondern

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Friedrich Sengle, D e r Romanbegriff in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, in: Wolfdietrich Rasch (Hg.), Festschrift für Franz R o l f Schröder, Heidelberg 1959, S.224. Vgl. auch F. S., Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld von Restauration und Revolution 1 8 1 5 - 1 8 4 8 , Bd. 2, München 1972, S. 8 2 5 - 8 2 7 . Franz Stanzel, T h e o r i e des Erzählens, Göttingen 1979, S. 192. Wolfgang L o c k e m a n n , Epik Lyrik Dramatik oder die totgesagte Trinität, Meisenheim am Glan 1973, S . 3 5 6 (im Kapitel: Dramatisierte Erzählung und dramatische Erzählung!).

Der Dialog im Kontext. Zum

Briefroman

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die Frage, wie der Dialog in der zeitgenössischen Diskussion definiert und unter Rekurs auf welche Tradition er legitimiert wurde. Die Vorzüge einer solchen Bestimmung jenseits des Gattungsbegriffs liegen darin, daß nicht normativ sondern historisch Kontinuität beschrieben werden kann. Nach der Nachgeschichte und dem folgenden Exkurs nun also zur Vorgeschichte des Dialogromans.

4. Der Dialog im Kontext. Zum Briefroman Ein Roman in Briefen besteht aus lauter lyrischen Theilen, die sich - im Ganzen - in dramatische verwandeln. (Schelling, Philosophie der Kunst)

Der Dialogroman scheint das prägnanteste Äquivalent zum Briefroman zu sein, insofern als beide im Gegensatz zu den meisten anderen Gattungsbegriffen der Romantheorie durch keine inhaltliche Komponente bestimmt sind. Beide weisen keinerlei genre-link mit einem bestimmten Motivkomplex auf, sondern eine rein formale Definition. Die Nähe von Briefwechsel und Dialog scheint überdies offensichtlich: Rudolf Hirzel nennt den Brief »die Täuschung eines Gesprächs« bzw. einen »halbirten Dialog«. 1 1 0 Bereits im 18.Jahrhundert werden beide Formen nicht selten gleichgesetzt. Eschenburg formuliert in seinem Lehrbuch in einem Abschnitt zur »Theorie der poetischen Epistel«: »Da ein Brief nichts anders ist, als die schriftliche Unterredung abwesender Personen, welche die Stelle der mündlichen Unterhaltung vertritt, so wird auch selbst in dem poetischen Briefe dieser Hauptcharakter bleiben«. 111 Das V e r schwinden des AutorsVergegenwärtigung< erörtert worden. 1 1 2 Die Figuren konstituieren sich durch eigene Rede, nicht durch Beobachtung anderer bzw. aus dem Blickwinkel eines Erzählers. Der archimedische Punkt ist der gleiche: Illusion von Gegenwart. » . . . so sieht man auch im Gang der Poesie, daß alles zum Drama, zur Darstellung des vollkommen Gegenwärtigen sich

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Rudolf Hirzel, Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, Leipzig 1895, Bd.I, S.305. Johann Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bey Vorlesungen, Berlin und Stettin 1783, Reprint Hildesheim 1976, S.99. Vgl. Wilhelm Voßkamp, Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18.Jahrhundert, in: DVis 45 (1971), S. 8 0 - 1 1 7 . Der formale Zusammenhang zwischen Briefroman und Dialogroman liegt darüber hinaus im Aspekt polyperspektivischer Darstellung: die Erzählperspektive kann auf mehrere Romanfiguren verteilt werden, Erzähler und Kommentator sind entbehrlich oder nur Arrangeure der Facettierung in subjektive Figurenperspektiven.

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Kommunikation

über den Dialog

hindrängt. So sind Romane in Briefen völlig dramatisch.«" 3 Diese Definition ist allerdings nicht strikt auszulegen, aber die Poetik favorisiert eine Zeitsemantik von Gleichzeitigkeit. Zunächst hatte das Programm der Vergegenwärtigung (als Versuch, Effekte der Mündlichkeit in das Medium Schrift zu übertragen) gleichermaßen Dialog- wie Brief(roman) erfüllen sollen. Vornehmlich Geliert verspricht sich vom Brief eine Annihilation von Schrift. Seine Briefsteller (1742, 1751) sind richtungsweisend f ü r die neue, >natürliche< Erzähltheorie. In seiner Poetik des Briefs fordert er Unmittelbarkeit, mit den Mitteln der Sprache erzeugte Gegenwart, ein Anspruch, in dem sich die Frage nach den wirksamsten Mitteln f ü r die Verkürzung des Erzählabstands manifestiert. Der Brieftheoretiker setzt auf die Imitatation von Mündlichkeit: D a s erste, was uns bei einem Briefe einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines G e sprächs vertritt. (...) er vertritt doch die Stelle einer mündlichen Rede, u n d deswegen m u ß er sich der Art zu denken u n d zu reden, die in Gesprächen herrscht, m e h r nähern, als einer sorgfältigen und geputzten Schreibart. Er ist eine freie N a c h a h m u n g des guten Gesprächs. 1 1 4

Das Problem der differenten Medialität stellt sich Geliert jedoch schon explizit. Ein Brief formuliere auf dem Blatt nichts anderes als man jemand mündlich im Gespräch mitteilen würde, wenn man könnte. »Wodurch wird also ein Schreiben von so einer Rede unterschieden?« 115 Die Antwort ist zunächst negativ, es gäbe keine Unterschiede. Gleichwohl empfiehlt Geliert wenig später Dialogisierung der Briefe, obwohl doch zunächst der Eindruck hervorgerufen wurde, der Brief an sich sei als Medium für Vergegenwärtigung wie geschaffen. Ebenso gesteht Goethe (im Kontext der oben zitierten Passage) dem Briefroman das Recht zu, Dialoge einzuschalten, wogegen er Dialogromane heftig ablehnt. Das mutet tautologisch an - was soll das Gespräch im Gespräch? Man m u ß diese Frage betonen, weil man in der Forschung immer wieder dazu neigt, Brief und Gespräch gleichzusetzen, ohne dem Dialog im Brief nachzugehen. Trotz der reklamierten Simulation von Gleichzeitigkeit weisen Vorgang und Niederschrift eine zeitliche Distanz auf. Damit war der Eindruck größter Unmittelbarkeit für den Leser in Frage gestellt. Schon die minimale zu beobachtende zeitliche Differenz des Briefschreibens im Sinne eines Vorher/Nachher erfüllt nicht mehr die Bedingung von Gleichzeitigkeit. Trotz des unermüdlichen Schreibeifers bis an den Rand der Katastrophe, die etwa in der Formel

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G o e t h e an Schiller vom 23. 12. 1797 anläßlich des Aufsatzes Ü b e r epische u n d dramatische D i c h t u n g , W A IV, Bd. 12, S. 382. Christian Fürchtegott Geliert, Praktische A b h a n d l u n g von d e m guten Geschmacke in Briefen, in: Werke Bd.2, (Hg.) G o t t f r i e d Honnefelder, S. 137. C.F. Geliert, G e d a n k e n von einem guten deutschen Briefe, in: Werke Bd. 2, (Hg.) G o t t f r i e d Honnefelder, F r a n k f u r t / M a i n 1979, S. 130. Vgl. auch S. 177 zur Dialogisierung von Briefen.

Der Dialog im Kontext.

Zum

Briefroman

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»fällt mir die Feder aus der H a n d « z u m Ausdruck kommt, erkennen denn auch schon die Zeitgenossen die Binsenweisheit, daß Schreiben und H a n d e l n nicht zugleich stattfinden kann. Im Brief, auch wenn der zeitliche Abstand so minimiert wird, daß er fast einem simultanen Erlebnisprotokoll gleicht, ist gleichzeitige Berichterstattung faktisch unmöglich. Die Personen sind stets C h r o n i sten ihrer eigenen Sache, nie gegenwärtig handelnd. D a r u m hatte schon Geliert in seiner Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen empfohlen, Briefe zu dialogisieren: Wir wollen noch etwas Weniges sagen von den Briefen, deren Inhalt aus bloßen E r zählungen besteht. (...) Wir wollen nicht b l o ß wissen, was vorgegangen ist, s o n d e r n oft auch, wie es erfolgt ist. (...) So erzählen, daß m a n die Sache nicht allein versteht, sondern daß man glaubt, sie selbst zu sehen, u n d ein Zeuge davon zu sein, das heißt lebhaft erzählen. Dieses geschieht d u r c h die kleinen Gemälde, die man im Erzählen von den U m s t ä n d e n , oder Personen, entwirft, insonderheit w e n n man die Personen zuweilen selbst reden läßt (. ,.). 1 1 6

Da die Simultaneität von Erleben u n d Briefschreiben zwar angestrebt wird, aber schlechthin unmöglich ist, hat Blanckenburg das Programm f ü r Briefromane unmißverständlich verabschiedet. E r entdeckt ihre Schwäche in eben diesem Umstand, daß der Schreibende zu unmittelbarer Vergegenwärtigung nicht fähig sei. Trotz der Anerkennung Richardsons wird der Brief dem Vorwurf des in diesem Zeitraum so verpönten >bloßen Erzählens< ausgesetzt. H a n d l u n g sei nur im Gespräch möglich, der einzelne Brief habe immer einen Erzähler. Die Nachtheile, die die Einkleidung der Geschichte in Briefe hat, ist bereits bemerkt w o r d e n . - Ich setze noch hinzu, daß ich, so ein dramatisches Ansehen sie auch immer haben mögen, in ihnen doch immer nur E r z ä h l u n g höre, weil ich n u r immer vergangene Begebenheiten hören k a n n . 1 1 7

Blanckenburgs Einwand gegen Briefe erklärt diese zu Monologen, die Personen seien Geschichtsschreiber ihrer selbst. Der zwar geringe, aber dennoch vorhandene zeitliche Abstand gefährdet bereits die erhoffte Unmittelbarkeit. Auch in die Briefe werden daher Dialoge eingelegt, auf unübersehbare Weise etwa in Christian Gotthilf Salzmanns Carl von Carlsberg oder Uber das menschliche

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Elend

(1783-84).'18

C . F. Geliert, Briefe, nebst einer praktischen A b h a n d l u n g vom guten G e s c h m a c k e in Briefen (1751), in: Werke Bd. 2, S. 176/177. F. Blanckenburg, Versuch über den R o m a n , a.a.O., S.520-521. Christian Gotthilf Salzmann, Carl von Carlsberg o d e r ü b e r das menschliche Elend, 6 Thle, Leipzig 1783-84. Von Band z u Band w e r d e n die Dialoge in den Briefen länger, z.B. Bd. 6: in einem 16seitigen Brief wird über 13 Seiten ein Dialog wiedergegeben.

Kommunikation über den Dialog

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Eine Beobachtung, die sich sofort aufdrängt, daß in dieser scharfen K o n frontation zweier korrespondierender Romanformen der wesentliche Unterschied nur einer der Rezeption ist - während der Briefroman zum Begriff wurde und als wichtigste Ausprägung des 18.Jahrhunderts gilt, blieb der Dialogroman dem Vergessen überantwortet und hat als Gattungsbegriff keine eigenständige Karriere begründen können. Die Weitschweifigkeit und der gänzliche Mangel an Formbewußtsein, die den Dialogromanen - in gewisser Weise durchaus zutreffend - angelastet werden, kennzeichnen die Briefromane nicht minder; Exemplare von 1600 Seiten, Briefe von über 100 Seiten sind keine Seltenheit. D e r Briefroman verfügt jedoch über die vielleicht wichtigste Erfolgsbedingung, >klassische< Exemplare und bedeutende Namen (die Reputation von Autoren wie Goethe, Richardson, Laclos, Montesquieu oder Rousseau steigert noch diesen Effekt, da auch das literarhistorische Gedächtnis vorwiegend über Namen organisiert wird) aufweisen zu können wie auch den, mit dem Medium Brief dem klassifikatorischen Ordnungsinteresse nicht hinderlich im Wege zu stehen, was die Integration in das triadische Schema erheblich befördert haben d ü r f t e . " 9

'"

Auch wenn das in Einzelfällen anders ist; vgl. etwa Schelling, der den B r i e f als (das triadische Schema störendes) lyrisches Element begreift. Vgl. das M o t t o dieses A b schnitts; F. W . J . Schelling, Philosophie der Kunst, Darmstadt 1990, Nachdruck der Ausgabe von 1859, S.319.

Z u r Genealogie des Dialogs

1. Konkurrierende und koexistierende Varianten La postérité, disait M. de Β., n'est pas autre chose qu'un public qui succède à un autre: or, vous voyez ce que c'est que le public d'à présent. (Sebastien-Roch Nicolas Chamfort, Charactères et Anecdotes) »I H A V E f o r m e r l y w o n d e r ' d indeed w h y a Manner, w h i c h was familiarly us'd in Treatises u p o n m o s t Subjects, w i t h so m u c h Success a m o n g t h e Antients, s h o u ' d be so insipid and of little esteem w i t h us Moderns«. 1 E r habe sich f r ü h e r s c h o n gefragt, w a r u m eine Manier, v o n d e r die Alten so erfolgreich allgemeinen G e b r a u c h machten, u n t e r d e n N e u e r e n als so abgeschmackt u n d w e n i g geachtet gelte, fragt sich Shaftesbury, b e v o r er die Vorteile der »Dialogue-Writings« 2 eingehend erläutert u n d p o p u l ä r zu machen sucht. »Die K u n s t G e s p r ä che z u schreiben, ist z u m wenigsten so alt, als das B u c h H i o b s « , weiß auch G o t t s c h e d in der Vorrede zu seiner U b e r s e t z u n g der Dialoge Fontenelles, 3 d o c h in seiner Poetik spart er diese G a t t u n g aus. U m Fontenelle (1657-1757) zu situieren, verlängert G o t t s c h e d die Traditionslinie v o n » U n t e r r e d u n g e n H i o b s mit seinen F r e u n d e n u n d mit G o t t selber« über die Ilias u n d die O d y s -

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Anthony Earl of Shaftesbury, Soliloquy: or Advice to an Author (1710), Abhandlung III der Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, 2. korrigierte Auflage London 1714, Reprint, S. 198/199. Der Soliloquy wird bereits 1738 von Georg Venzky unter dem Titel Unterredung Antons, Grafens von Shaftesbury, mit sich selbst, oder Unterricht für Schriftsteller ins Deutsche übersetzt. Es folgen 1745 Obersetzungen der Moralists (Die Sittenlehrer oder Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen) und 1747 des Inquiry Concerning Virtue and Merit von 1699 (Untersuchung über die Tugend) von Johann Joachim Spalding; weitere Übersetzungen durch Oetinger, Hölty und Benzler erscheinen 1753 und 1776-1779. In Frankreich beginnt etwa zur gleichen Zeit Diderot seine schriftstellerische Laufbahn mit der sehr freien Übertragung des Essai sur le mérite et la vertu, der wiederum aus dem Französischen 1780 ins Deutsche übertragen wird. A. Shaftesbury, a.a.O., S. 198. Johann Christoph Gottsched, Diseurs des Übersetzers von Gesprächen überhaupt (Vorrede zu Gespräche Der Todten Und Plutons Urtheil über dieselben von Bernard de Fontenelle), 1727. in: J.C. Gottsched, Ausgewählte Werke Bd. 10,1: Kleinere Schriften, hg. von P. M. Mitchell, Berlin und New York 1980, S.3.

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Zur Genealogie des Dialogs

see und eröffnet damit die Linie berühmter Beispiele, die über Äsops Fabeln, Piaton, Xenophon, Lukian, Plautus, Terenz, Seneca und Cicero bis hin zu Erasmus von Rotterdam in die frühe Neuzeit führt. Damit ist genau die Referenzliste an »well-practis'd Dialogists« 4 aufgezählt, auf die im 18.Jahrhundert rekurriert werden kann und über die der Dialog Anspruch auf die Nobilitierung durch eine ununterbrochene Tradition erheben könnte. 5 »In neuern Zeiten wüste ich nicht, wer sich in dieser Schreibart sonderlich hervor gethan hätte«, beendet Gottsched seine Herleitung und bemüht den schon zitierten Shaftesbury als Gewährsmann, um den Dialog erneut populär zu machen. Auf die Frage, warum niemand mehr Gespräche schreibe, gibt Gottsched selbst die Antwort: Da Gespräche gleichsam Abbildungen realer Unterhaltungen seien, könnten die seiner Zeit durch »ausschweifende Complimentirsucht«, »unnütze Höflichkeiten«, »verstellte Freundschaffts=Bezeugungen« nur Satiren sein - »ein Bogen Papier würde kaum zulangen, bloß die Anfangs=Ceremonien und häufigen Schmeicheleyen zu fassen, die man bey Bewillkommungen nach den Regeln der Galanterie einander saget: des Abschiedes nicht zu gedenken.« 6 Während im ersten Kapitel das Gattungssystem diskutiert wurde, das gleichsam die Vorgabe liefert, wie über Dialoge kommuniziert werden kann, steht im Vordergrund dieses Kapitels die Ebene der Formierung, die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen für die Konjunktur der Dialogform in der Epoche um 1800. Es ist dem Schriftsteller nicht möglich, aus einem zeitlosen Arsenal auszuwählen; historische Situation und überlieferte Tradition präfigurieren seine Wahl wie die Grenzen seiner Wahlmöglichkeiten. Der literarische Kanon, auf den Autoren um 1780 potentiell Zugriff haben, unterscheidet sich signifikant von dem anderer Jahrhunderte. 7 Für die Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen fragen wir daher nach dem akkumulierten Vorwissen für die so weit verbreitete Form des Dialogs, nach Vorläufern und Beziehungsmustern. Dialogromane entstehen nicht traditionslos aus dem Nichts, im Ge-

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A. Shaftesbury, Soliloquy, a.a.O., S. 196. D e r Artikel »Dialogue« der Encyclopédie nennt ebenfalls Lukian, Plato, Cicero, Erasmus, n u r für die Modernen lautet das Ergebnis anders als bei Gottsched: außer Fénelon, »parmi les modernes, personne ne s'est tant distingué en ce genre que M. de Fontenelle, d o n t t o u t le monde connoît les dialogues des morts.« (Bd.4, S. 936) J . C . G o t t s c h e d , a . a . O . , S. 16/17; diese A n t w o r t , die er von Shaftesbury (vgl. d o r t S.204) ü b e r n i m m t , stellt ihn nicht zufrieden; er gibt eine weitere, weit originellere: die Systematik (vgl. Kapitel 5) habe der dialogischen Darstellungsform den Rang abgelaufen. Z u r Kritik der Komplimentierkunst vgl. M a r k u s Fauser, Das Gespräch im 18.Jahrhundert. Rhetorik u n d Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991, S. 241-256; K a r l - H e i n z Göttert, Legitimationen für das Kompliment. Zu den A u f gaben einer historischen Kommunikationsbetrachtung, in: D V j s 2 (1987), S. 1 8 9 205. Vgl. Alastair Fowler, Genre and the Literary C a n o n , in: N e w Literary H i s t o r y 11 (1979), S. 97-119.

Konkurrierende

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Varianten

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genteil, so muß betont werden, der Dialog hat niemals mit der Tradition gebrochen. Seine Geschichte ist die eines Verlaufs ohne Brüche, denn, wie Fr. von Raumer in einem Brief an K.W.F. Solger formuliert: »Uberhaupt sind wir Neuern zwar nicht recht im Dialoge seßhaft, aber diese so ansprechende Form ist niemals ganz außer der Zeit«. 8 Aufzuweisen ist dabei, daß nicht ein konkreter Ursprung zu definieren ist, sondern eher das Gegenteil, die Vielzahl der möglichen intertextuellen Bezüge. Roland Barthes hat in seinen Überlegungen zu einer »Geschichte der Schreibweisen« deutlich gemacht, daß im aktuellen Gebrauch immer der frühere bewahrt bleibt, ein »hartnäckiger Nachklang< aus der Vergangenheit. 9 Zunächst also, bevor in den achtziger Jahren die Dialogromane auftauchen, ein Blick auf die Dialogrezeption, auf das von vorausgegangenen Epochen gestellte Inventar an Dialogprosa, auf das der Zugriff von Autoren, Kritikern, Lesern oder Poetologen möglich war. Die bis dato entwikkelten literarischen Verfahren und Gattungen ebenso wie die in der Poetik erlaubten oder tabuisierten Schreibweisen geben den Spielraum für literarische Nachahmung wie für Innovation vor. Sie bilden den Rahmen, die Bedingung der Möglichkeit für den künftigen Dialogroman. Neben der Aneignung der Texttraditionen müssen möglicherweise auch institutionalisierte Gesprächsformen wie Beichte, Verhör oder Katechetik einbezogen werden. Insofern gehört jedes literarische Werk einer >Reihe< mit »vorkonstituiertem Erwartungshorizont« 1 0 an. Mit Hans-Robert Jauss soll Dialog hier eben nicht definiert, sondern historisch beschrieben werden. Die Tradition als selektive Kanonisierung der Uberlieferung konstituiert den Horizont des Erwartbaren, der sich für Autoren wie Leser aus den ihm bekannten Werken ergibt. Die Beschreibung sei nicht verstanden als »Entstehungsforschung« im Sinne jenes Irrtums, »eine Abhängigkeit mit einer Erklärung zu verwechseln«, vor dem Marc Bloch w a r n t . " Die literarisch institutio-

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Friedrich von Raumer an Karl Wilhelm Ferdinand Solger, 29. Mai 1815, in: K . W.F. Solger, Nachgelassene Schriften, (Hg.) Ludwig T i e c k und Fr. von Raumer, 1826, R e print Heidelberg 1973, (Hg.) Herbert A n t o n , Bd. 1, S . 3 5 3 . Für den Hinweis auf den Briefwechsel danke ich Georg Stanitzek. Roland Barthes, A m Nullpunkt der Literatur, Frankfurt/Main 1982, S . 2 3 . Vgl. auch die in den letzten Jahren sehr umfangreich gewordene Forschungsliteratur zu Intertextualität; als Hinweis seien nur Ulrich B r o i c h / M a n f r e d Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985 und Manfred Geier, D i e Schrift und die Tradition. Studien zur Intertextualität, München 1985 und die dort verzeichneten bibliographischen Hinweise genannt. Hans R o b e r t Jauss, Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, in: Hans R o b e r t Jauss/Erich K ö h l e r (Hg.), Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 1, Heidelberg 1972, S. 110. Marc B l o c h , Apologie der Geschichte oder D e r B e r u f des Historikers (1949), M ü n chen 1985, S. 30; zu den Grenzen und der Beobachterabhängigkeit von Kausalerklärungen vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1990, S. 59.

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7.UY Genealogie

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Dialogs

nalisierten Gesprächsformen wie Totengespräch, 12 Streitgespräch oder Gesprächsspiel blieben dem Publikum präsent und bilden zwar relativ stabile Erwartungen aus, was Funktion, Teilnehmer, Struktur, Verlauf angeht, doch mit einem emphatischen Begriff von »Dialog« ( = Symmetrie) wie er im 18 J a h r hundert ausgebildet wird, haben sie nichts gemein. Zumindest aber erweist ihre Präsenz, daß die Komödie keineswegs das alleinige Vorbild für Dialogromane bildete und widerlegt die These, dialogische Erzählverfahren seien primär am szenischen Darstellungsmodus des Theaters orientiert. Die divergierende Vielfalt von Prosadialogen wird durch solche >Einflußforschung< nur verdeckt. Im Dialogartikel der Encyclopédie wird das von Marmontel betont: »Quoique tout espèce de dialogue soit une scene, il ne s'ensuit pas que tout dialogue soit dramatique«.13 Bereits bevor Dramentheorie und Theaterpraxis auf den Roman wirkten, wurden sämtliche aus der Antike überlieferten Verfahren aktualisiert, ob Totengespräche, Streitgespräche oder Lehrgespräche. Eine erste, nur skizzierte Beschreibung der Uberlieferung scheint an dieser Stelle sinnvoll. Zwei Traditionsstränge führen aus der Antike ins 18.Jahrhundert: Bekannt waren neben Fabeln zuvörderst die Sokratischen Dialoge Piatons, 14 die maieutisch (als Hebammenkunst) den Gesprächspartner zur Wahrheit führen sollen. Rémond de Saint Mard erläutert in seinem Discours sur la nature du dialogue, die Dialogform sei noch weit älter, aber Piatons Reputation habe ihr zu neuer Anerkennung verholfen. »(...) on peut juger qu'il mit le Dialogue fort à la mode, & en effet presque tous les Philosophes de son tems écrivirent en Dialogue«. 15 Zu den Vorbildern aus der Antike zählen weiterhin

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Z u r Geschichte der Totengespräche vgl. informativ und detailliert H a n s j ö r g Schelle, Artikel >Totengesprächconversatione civileIntertextualität< u n d es scheint k a u m n o t w e n d i g , bei A u t o r e n wie Wieland o d e r D i d e r o t auf die Vertrautheit mit d e n antiken A u t o r e n , besonders Lukian u n d Piaton, auf ihre Beschäftigung mit Shaftesburys ästhetischer T h e o r i e o d e r mit m o d e r n e n A u t o r e n wie Fontenelle hinzuweisen. A u c h die Kritiker m i ß l u n g e n e r Dialoge

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Jonathan Swift, Polite Conversation (1738), (Hg.) Herbert Davis, Reprint Oxford 1964, S. 112/113. Im entsprechenden Band gibt es nur einen Artikel »Gespräch des Herzens mit Gott« (= Gebet), Bd. 10 (1735). J . H . Zedier, Universal-Lexikon, Graz 1961-64, Nachdruck der Ausgabe 1734; Artikel >ConuersatioDialogussokratischer Gespräche< muß wissen, was sein Gegenstand von ihm fordert, und was für Vorgänger er gehabt, mit welchen man ihn nothwendig vergleichen muß«. 4 7 Die Vorstellung muß aufgegeben werden, die Geschichte der Dialogform sei als Geschichte dreier Konjunkturen (Antike, Reformation, Aufklärung) zu schreiben, die durch Jahrhunderte fehlender Texte und scharf markierte Diskontinuität unterbrochen seien. Die genannten Autoren bilden nur die Oberfläche einer Flut weiterer Dialoge, deren Verfasser häufig genug gar nicht bekannt sind. Früher bereits genutzte Dialogformen gewinnen im 18.Jahrhundert neue Funktionen. In der rückgreifenden Beobachtung vorausgegangener Formen ist ihr abweichendes Profil zu bestimmen. Offensichtlich verführt die Form immer wieder Autoren, sich an ihr zu versuchen, selbst der vornehmlich als Lyriker bekannte Klopstock verfaßt Grammatische Gespräche (1794), 4 8 in denen sich die Grammatik, das Urteil, die Einbildungskraft und die Empfindung unterhalten. Nicht zuletzt muß ein durch vorausgehende Lektüre konstituierter »Erwartungshorizont« auch für die Rezeption vorausgesetzt werden. »Der neue Text evoziert für den Leser (Hörer) den aus früheren Texten vertrauten Horizont von Erwartungen und Spielregeln, die alsdann variiert, korrigiert, abgeändert oder auch nur reproduziert werden«. 49 In diachroner Hinsicht markiert der >erste< Dialogroman nicht einen Beginn, sondern die Zäsur einer Formtradition, einen Wendepunkt, mit der die Verfügbarmachung dieser der Antike entlehnten literarischen Form für das neue Genre >Roman< beginnt. Dessen gattungspoetologische Zuordnung und Abgrenzung bereitet den Theoretikern erhebliche Schwierigkeiten. Die Orientierung an verschiedenen Gattungen, mal am Epos oder an der Geschichtsschreibung und auch am Drama, verweist auf das komplizierte Gattungssystem, das der Roman aus der Balance bringt. Selbst vom Dialog wird der Roman hergeleitet: Im 99. Brief der Briefe zur Beförderung der Humanität bezeichnet J. G. Herder Xenophons Cyropädie und sein Symposion, Piatos Gespräche und Lukians Reisen als Romane, 5 0 Friedrich Schlegel nennt als »Werke die mit (dem) Roman verwandt sind: philos(ophische) Dialogen« 51 an erster Stelle, außerdem neben anderen Genres wie Biographie und Reisebeschreibung »alle Conversationsdarstellung« - eine interessante Uneindeutigkeit, die

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M . Mendelssohn, Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 117. Brief, Gesammelte Schriften, Bd. 4.2, S. 116. Zur Dialogform der >Wortgefechte< über Worte und Sprachgebrauch vgl. Ludwig M . Eichinger, Von der Heldensprache zur Bürgersprache. Wandel der Sprechweisen über Sprache im 18.Jahrhundert, in: Wirkendes Wort 40 (1990), Heft 1, S . 7 4 - 9 4 . Hans R o b e r t J a u ß , Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: H . R . J . , Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/Main 1970, S. 175. J . G . Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität. Achte Sammlung (1796), SW, Bd. 18, S. 110. F. Schlegel, L N , N r . 5 8 1 , S.75.

»Mirrour-Writing«.

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Einflüsse

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Alternativen markiert. R o m a n u n d E r z ä h l p r o s a bedienen sich u n b e k ü m m e r t aus d e m F u n d u s der Tradition. Z u n ä c h s t also z u r R e k o n s t r u k t i o n der poetologischen D i s k u s s i o n v o r der K o n j u n k t u r d e r Dialogromane: W e d e r die antike D i c h t u n g s t h e o r i e n o c h die R h e t o r i k hatten Anleitungen f ü r Gespräche geliefert, wie bereits C i c e r o in ein e m vielzitierten Passus kritisiert hatte, möglicherweise auch G r u n d dafür, daß die D i a l o g f o r s c h u n g lange über R e f o r m u l i e r u n g e n k a n o n i s c h e r A u t o r e n , vornehmlich Piatons, nicht hinauskam. Eigentliches Gebiet der R h e t o r i k w a r die Rede; d e m P r o z e ß v o n Frage u n d A n t w o r t , F ü r u n d Wider, R e d e u n d G e g e n rede waren n u r verstreute, o f t abgelegene Passagen in den W e r k e n der T h e o r e tiker gewidmet. Das hatte j a h r h u n d e r t e l a n g auch wenig gestört. Die Frage w i r d uns im folgenden daher nicht verlassen, welche D i a l o g f o r m dieser so u m fangreichen Tradition jeweils b e m ü h t wird, wie erweitert, variiert, umgebildet wird, wie Texte miteinander in Beziehung treten, auf welche K o n t e x t e sie bezogen w e r d e n . U m der pauschalen These v o n d e r A n l e h n u n g an das T h e a t e r entgegenzutreten, sei v o r w e g n e h m e n d bereits daraufhingewiesen, d a ß die deutschen Dialogtheoretiker fast ausschließlich mindestens »zwey H a u p t g a t tungen« unterscheiden: »den belehrenden Dialog« u n d »den schildernden Dialog«, denn die Verfasser hätten » e n t w e d e r die Absicht, eine gewisse Wahrheit ins Licht zu setzen; oder die Sinnes- u n d G e d e n k u n g s a r t gewisser M e n s c h e n d a d u r c h sichtbar zu machen«. 5 2 D a g e g e n w e r d e n im französischen Bereich mit d e n drei Begriffen c o n v e r s a t i o n s >dialogue< u n d >entretien< gesellige U n t e r h a l tung, literarisches Verfahren u n d sachbezogenes G e s p r ä c h deutlich u n t e r schieden.

2. »Mirrour-Writing«: 53 Englische Einflüsse N o w whether the Writer be Poet, Philosopher, or of whatever kind; he is in truth no other than a Copist after NATURE. (Shaftesbury, Soliloquy) U m 1700 n i m m t eine Reflexion auf jene R h e t o r i k ihren A n f a n g , die bis dato u n w i d e r s p r o c h e n e Gültigkeit gehabt hatte. I m K o n t e x t n e u e r A n f o r d e r u n g e n an K o m m u n i k a t i o n rückt das G e s p r ä c h in den M i t t e l p u n k t . R h e t o r i k gilt als die K u n s t der Ü b e r r e d u n g ; Dialog als k o m m u n i k a t i o n s t e c h n o l o g i s c h e Strate-

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Deutsche Encyclopédie oder Allgemeines Real=Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, Artikel »Dialog«, Bd. 7, Frankfurt/ Main 1783, S. 177. So differenzieren auch Engel, Eschenburg, Hezel u.v.a. Anthony Earl of Shaftesbury, Soliloquy: or Advice to an Author (1709), in: A.S., Characteristicks, S. 199.

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7,ur Genealogie des Dialogs

gie 54 soll Rhetorik ersetzen. Mißtrauen äußert sich gegenüber einer nur auf Wirkung abzielenden Rhetorik. Rhetorik wird (miß)verstanden als reine Persuasivtechnik, der es Authentizität und Aufrichtigkeit, so kunstlos als möglich, entgegenzusetzen gilt. Man will einerseits überzeugen, belehren, aufklären, doch will man weder >künstliche< Überredungstechniken nutzen, noch will man offen belehren in moralischen Sätzen. In ihrer ursprünglichen Form in der griechischen Antike war die Rhetorik die Formulierung einer >Kunst des Sprechensoratiooratorische Diskurs* regiert weiterhin sämtliche Formen der Textproduktion, die Gesprächssituation als dominantes Kommunikationsmodell bleibt über Jahrhunderte noch unangezweifelt, auch als aus der Rederhetorik de facto längst eine Schreibrhetorik geworden ist. 55 »Solange Bücher Reden sind, ist auch der Druck diskursiv«, 56 sind auch Leser nur Zuhörer und Schriftsteller Redner. Erst mit wachsender Verschriftlichung stellt sich das Problem der unendlichen Entfernung des Redners/Autors vom Publikum, bestimmt der Gegensatz von Sprechen und Schreiben den Umgang mit Literatur. Rhetorik war von der zur Mündlichkeit analogen Redesituation eines homogenen, dem Schreiber bekannten Publikums ausgegangen, wie sie in Gelehrtenkreisen auch prinzipiell vorhanden war. Aus der Veränderung der Kommunikationsverhältnisse, daß Texte niemals Rede werden und als Texte ein unbekanntes Publikum erreichen können, entstanden prinzipielle Probleme, die mit den Effekten der Rhetorik nicht zu lösen schienen. Man korreliert Schreiben daher in dem Moment mit der dialogischen Situation, in dem sie nicht mehr selbstverständlich gegeben ist. Das Gespräch als Leitfaden zum Schreiben von Texten entwickelt sich dabei zum Rhetorikersatz. Im 18.Jahrhundert unternimmt man eine Umformulierung und Adaption für Schrift. Ebenso geschickt wie hilflos verschränkt man das rhetorische Interesse, verstanden im weiten Sinn der Einflußnahme, mit dem als Gegenkonzept formulierten Naturbegriff. Mit diesem kann Rhetorik wirkungsvoll kritisiert werden, denn Rhetorik als System von lehr- und

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Vgl U w e Japp, Hermeneutik. D e r theoretische Diskurs, die Literatur und die K o n struktion ihres Zusammenhangs in den philologischen Wissenschaften, München 1977, S . 4 0 . Vgl. Hellmut Geißncr, Gesprächsrhetorik, in: L I L I 4 2 / 4 3 (1982), S . 6 8 ; Walter J . Ong, Oralität und Literalität. D i e Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 17. Z u m Versuch, auch das Gcspräch der Zuständigkeit der Rhetorik zu unterstellen, vgl. Markus Fauser, Das Gespräch im 18.Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991, S. 1 9 4 - 2 2 1 . Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. U b e r die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn, München, Wien, Zürich 1981, S.20.

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lernbaren Regeln f ü r poetische P r o d u k t i o n steht einem K o n z e p t , das n a t ü r l i che Zeichen< sucht, an >Natur< orientiert ist, diametral gegenüber. >Natur< ist w e d e r lehr- n o c h lernbar. D i e ars oratoria w i r d als unlautere Ü b e r r e d u n g denunziert, ist a n t o n y m zu Transparenz: »Die K u n s t z u überreden, d.i. d u r c h den s c h ö n e n Schein zu hintergehen«, »die K u n s t , sich der Schwächen der M e n schen zu seinen Absichten zu bedienen«, sei gar keiner A c h t u n g würdig, bringt K a n t ein allgemein geteiltes Verdikt z u r Sprache. 5 7 Als F o r m e n d e r >Uneigentlichkeit< verfielen R h e t o r i k wie Schrift d e r Kritik. A u c h das z u r Zeit h e r r schende G e s p r ä c h s m o d e l l wird aus dieser Perspektive verurteilt: K o n v e r s a t i o n ist >TechnikUnnatürlichkeit< schlechthin. 5 8 Alle v e r f ü g b a r e n K o m m u n i k a t i o n s c o d e s - R h e t o r i k , Konversation, P o l i t i s c h e Klugheit< u n d Schrift - w e r d e n der U n w a h r h a f t i g k e i t verdächtigt. Verstanden w e r d e n m ö c h t e n aber auch die G e g n e r der R h e t o r i k . Was aber bleibt, w e n n >Kunst< b e w u ß t v e r b o r g e n , w e n n nicht überredet w e r d e n soll? Ein K o n z e p t , zu dessen Platzhalter der Begriff >Natur< wird - die K u n s t der Kunstlosigkeit, o d e r wie Geliert f o r m u l i e r t : »Die Kunst, mit P o p e n zu reden, ist die N a t u r in eine M e t h o d e gebracht«. 5 9 Eine wichtige Scharnierstelle m a r kiert Shaftesbury, der zu d e n einflußreichsten englischen P h i l o s o p h e n n e b e n L o c k e zählt u n d dessen Schriften bald ins D e u t s c h e übersetzt w u r d e n . Shaftesb u r y s Lehren w a r e n derartig verbreitet u n d b e k a n n t , w e n n auch nicht u n b e dingt jeweils aus eigener Lektüre, daß es k a u m sinnvoll scheint, seinen n a c h haltigen E i n f l u ß n u r p u n k t u e l l an einzelnen A u t o r e n zu belegen. 6 0 1710 verfaßte L o r d Ashley C o o p e r , Earl of S h a f t e s b u r y (dessen H a u s a r z t Locke 1667 w u r d e ; er war zugleich mit d e m U n t e r r i c h t des Enkels betraut), mit d e m ber ü h m t g e w o r d e n e n Soliloquy: or Advice to an Author, der ein Jahr später in die Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times eingegliedert w u r d e , einen der D i a l o g k u n s t gewidmeten Dialog, d e r deutliche Zeichen der skizzierten Si-

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I. Kant, Kritik der Urteilskraft, WA, Bd. 10, S.266. Zum Ende der Konversationsepoche vgl. Henning Scheffers, Höfische Konvention und die Aufklärung. Wandlungen des Honnête- homme-Ideals im 17. und 1 S.Jahrhundert, Bonn 1980; Niklas Luhmann, Interaktion in Oberschichten. Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18.Jahrhundert, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik 1, Frankfurt/Main 1980, S. 72-161. Vgl. auch satirische Texte wie Swifts Polite Conversations (1738). Christian Fürchtegott Geliert, Wie weit sich der Nutzen der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie erstrecke, in: ders., Sammlung vermischter Schriften, Zweyter Theil, 1756, S. 273-284. Oskar F. Walzel, Shaftesbury und das deutsche Geistesleben des 18.Jahrhunderts, in: GRM 1 (1909), S.419.

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7.UY Genealogie des Dialogs

tuation trägt. Shaftesbury hat vor allem wichtige Denkanstöße zum Problemkreis von Künstler/Au tor - Werk - Betrachter/Leser geliefert und mit seiner Formulierung vom Dichter als Prometheus, als einem zweiten Schöpfer, dem Geniebegriff und seiner Anwendung in Kunst- und Literaturtheorie den Boden bereitet, daneben das künstlerisch-aristokratische Idealbild des >virtuoso< formuliert. Weniger auffällig, aber nicht minder wirksam waren Shaftesburys Theorie von Dialog und Selbstgespräch. Trotz der bunten Fülle an Dialogliteratur um 1700 scheint Shaftesbury offensichtlich zu glauben, daß ein wenig Werbung gemacht werden müsse, um die platonische Tradition neu zu beleben. 61 Shaftesbury steht für eine frühe Position der Abkehr von allem Künstlichen, dessen Überlegungen zum Dialog auch in Deutschland von großem Einfluß waren: etwa seine explizite Kritik des Konversationsmodells in The Moralists.62 Es ist Shaftesbury, der von Gottsched herangezogen wurde, der in Wielands Werk auffällige Spuren hinterlassen hat, den Diderot zum Lehrer wählte. In den Miscellaneous Reflections praktiziert Shaftesbury die in den vorangegangenen Schriften erarbeitete Schreibart und begleitet sie mit einem kritischen Kommentar. Der Soliloquy gibt ein Beispiel der dialogischen Schreibart ab, die er zugleich befürwortet. 6 3 Autoren, so heißt es, müssen den Anschein erwecken, als wollten sie nicht belehren, sondern nur unterhalten. In Wirklichkeit wollen sie natürlich beides: »whilst they profess only to please, they secretly advise, and give Instruction«. 64 Die Formulierung ist vielsagend - eine Momentaufnahme aus dem wenig beachteten Umbauprozeß der Rhetorik unter den Bedingungen von Schrift. Rhetorik, so Shaftesbury, sei »Froth and Scum«, leeres Gerede und Schaumschlägerei. 65 »Persuasion« kann dem Redner nur in der Öffentlichkeit helfen, »to charm the Publick Ear, and to incline the Heart«, 6 6 auf dem Papier aber fehlen ihm die körperlich-gestisch-persuasiven Vorteile der Situation, der Anwesenheit. Verschriftlichung ist nur Schaum-

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Von Zeitgenossen werden die Dialoge Shaftesburys platonisch genannt, etwa Herder nennt ihn den »liebenswürdigen Plato Europens« und bczcicnnct ihn als Schüler Piatos und Lehrer Diderots. (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), SW, Bd. 5, S.490. Der vollständige Titel lautet: The Moralists, Philosophical Rhapsody. Being a Recital of certain Conversations on Natural and Moral Subjects (1709). Die Schrift ist ebenfalls in Gesprächsform angelegt und thematisiert Offenheit als grundlegende Voraussetzung für Kommunikation. Der Dialog zwischen Philokles und Palemón wird zur Konversationskritik ausgebaut. Heinrich Küntzel, Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen deutschen Prosa im 18.Jahrhundert, München 1969, S.148; zu Shaftesburys Einfluß S. 119-153. Zur Funktion des Selbstgesprächs bei Shaftesbury als propädeutischer Therapie vgl. Thomas Fries, Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rousseau, Solger, Tübingen, Basel 1993, S. 49-97. A. Shaftesbury, Soliloquy: or Advice to an Author (1710), in: A. S., Characteristicks, S. 155. A. Shaftesbury, a.a.O., S. 163. A. Shaftesbury, a.a.O., S.237.

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Schlägerei minus der Vorteile der Person des Redners. Es fehlt die mitreißende Kraft mündlicher Vortragsweise. Shaftesbury führt über »great Talkers« aus: But when they carry their Attempts beyond ordinary Discourse, and w o u ' d rise to the Capacity of Authors, the Case grows worse with 'em. Their Page can carry none of the Advantages of their Person. T h e y can no-way bring into Paper those Airs they give themselves in Discourse. T h e Turns of Voice and Action, with which they help out many a lame T h o u g h t and incoherent Sentence, must here be laid aside (...). 'Tis the hardest thing in the world to be a good Thinker, without being a strong Self-Examiner, and thorow-pac'd Dialogist, in this solitary way. 6 7

Es ist nun nicht mehr unerheblich, ob Äußerungen schriftlich oder mündlich verbreitet werden. Das Papier könne keinen der Vorteile der Person mit sich führen: ihm fehlt die Stimme. D e r Wechsel in Tonfall und Gebärde, mit denen sie manchem lahmen Gedanken und zusammenhanglosen Satz aufhelfen, müsse hier wegfallen. » ( . . . ) dem Sprechenden helfen Geberden und der Ton der Stimme, den wahren Verstand bestimmen, da hingegen alles dies im Buche wegfällt«. 68 Gefordert wird vom Autor statt der zu ersetzenden Mündlichkeit eine andere Art der Vereindeutigung: »Windows to his Breast«. 6 9 Die bietet wen erstaunt es noch - der Dialog als »a kind of vocal Looking-Glass (to) draw Sound out of our Breast«. 7 0 In dieser Metapher amalgamieren sich Spiegelfunktion, Akustik, Mündlichkeit und die Vergrößerung durch eine Lupe zu einem Bild dafür, daß ein Spiegel uns erlaubt, »visuelle Reize auch dort wahrzunehmen, wo unsere Augen nicht hingelangen (...), und zwar mit der gleichen Stärke und Evidenz wie beim direkten Sehen«. 7 1 Für die Vergrößerung der Reichweite des Gesichtssinns ist nebensächlich, ob die zeitgenössische Begrifflichkeit den Bereich Seele, Herz, Inneres oder Brust nennt. Die Spiegelmetaphorik für den Dialog übernimmt später auch Engel: »Es ist unglaublich, wie sehr sich die Seele den Worten einzudrücken, wie sie die Rede gleichsam zu ihrem Spiegel zu machen weiß, worin sich ihre jedesmalige Gestalt bis auf die feinsten und zartesten Züge darstellt«. 72 In Anlehnung an die sprichwörtliche

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A. Shaftesbury, a . a . O . , S. 167/168. J . G . Herder, U e b e r die neuere deutsche Litteratur. Fragmente (Erste Sammlung), SW, B d . l , S . 2 3 4 . A. Shaftesbury, a . a . O . , S. 160. A.a.O., S. 171; daß mit derselben Metapher in der Epistolartheorie argumentiert wurde, die den Brief seit der Antike als Abbild oder Spiegel der Seele des Schreibers und literarisches Äquivalent für Anwesenheit beschrieb und ihn genau hinsichtlich dieser Eigenschaft in die N ä h e des Dialogs rückte, hat Wolfgang G . Müller in einem Aufsatz Delegt: D e r Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der E p i stolartheorie von der Antike bis zu Samuel Richardson, in: Antike und Abendland 26 (1980), S. 1 3 8 - 1 5 7 . U m b e r t o E c o , Ü b e r Spiegel, in: U . E . , U b e r Spiegel und andere Phänomene, M ü n chen 1990, S. 2 6 - 6 1 , hier S . 3 5 . J o h a n n J a c o b Engel, Ü b e r Handlung . . . Schriften, Bd. 4., S. 2 2 4 / 2 2 5 .

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Tur Genealogie des Dialogs

Eigenschaft von Spiegeln, unverhüllt und unbestechlich die Wahrheit zu sagen, sei die dialogische Darstellung von Charakteren geeigneter als die erzählende. Spiegel, so suggeriert die Metapher, reflektieren Bilder deckungsgleich, absolut kongruent und wahrheitsgetreu, 73 sie können nicht täuschen, nicht lügen. A b bild und Urbild sind eins. Natürlich wird hier nur alte Rhetorik zugunsten einer neuen ausgetauscht. Zu realisieren ist der Mythos vom >natürlichen< Gespräch nur über die Hilfskonstruktion personaler Beziehungen 7 4 im Kreis vertrauter Freunde und in intimer Atmosphäre. Die wachsende Komplexität gesellschaftlicher Beziehungen ist nur über anachronistische Strategien aufzufangen. Für die Entwicklung eines neuen Gesprächsideals wird die Technik gewechselt, das Unmittelbarkeitsideal eingebaut - aber noch die auf Natur setzenden Programme sind in der Sprache der Rhetorik verfaßt. 75 Unterscheidungen werden immer willkürlich eingeführt und benutzt. Die Frage ist nicht, was hier unterschieden wird, das ist eher kontingent, sondern wie hier unterschieden wird. Die Unterscheidung Kunst und Natur deutet auf ein Problem, das Shaftesbury mit dem Begriff >Papier< hypostasiert. Rhetorik als Wissenschaft für Texte wird dieser Selbstverständlichkeit beraubt und auf die Wirkungsfähigkeit gesprochener Sprache und der Person des Orators zurückgeführt, um von da aus ein neues, dialogisches Textverfahren zu explizieren. Als Problem einer dem Medium Schrift überantworteten Rhetorik erweist sich das Fehlen einer face-to-face Kommunikationssituation. Papier kann Personen nicht ersetzen. Als literarische Produktionshilfe empfiehlt Shaftesbury das seinem Essay den Titel gebende Selbstgespräch. Ein Autor, den Shaftesbury in der Pluralform meist »our modern Pen-Men« nennt, als wolle er noch betonen, daß er Probleme des Mediums diskutiert, teile sich selbst in zwei, lautet seine Aufforderung. Durch diese Selbstzerlegung (Self-Dissection) gelinge es, sich selbst zu beobachten, sich selbst zu verstehen, indem man sich selbst ins Gesicht sieht. »Das Selbstgespräch oder überhaupt das innere Gespräch ist die natürliche Form des menschlichen Denkens«, 7 6 verallgemeinert Friedrich Schlegel Shaftesburys Empfehlung. Die Selbsterkenntnis im Gespräch mit sich selbst befähigt erst zum Gespräch mit anderen, als Bedingung der Selbsterfahrung und als Raum ungestörten Zwiegesprächs dient die Technik des inneren Dialogs zur Artikulierung und Elaborierung der Innensphäre. 77 Solchermaßen

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A n deformierende Zerrspiegel ist in der Metapher nicht gedacht, auch nicht an die seitenverkehrte Symmetrie des Abbildes, das >SpiegelverkehrteWiderspiegelung von Wirklichkeit näher an Natur sei. Nicht nur, daß Dialoge »pointed out real Caracters and Manners«,84 mehr noch, »they exhibited 'em alive« - der Dialog ist literarisches Äquivalent für Anwesenheit. Angenommen wird ja nicht, der Autor sei der Erzähler und Schöpfer des Dialogs, er ist nur der treue >Copist< dessen, was er abgelauscht hat: »The Poet, instead of giving himself those dictating and masterly Airs of Wisdom, makes hardly any Figure at all, and is scarce discoverable in his Poem. This is being truly a Master«.85 Der Dialogist habe es nicht nötig, zu erklären, wer seine Figuren seien oder was er mit ihnen intendiere. »He wants no other help of Art, to personate his Heroes, and make 'em living«.86 Shaftesbury formuliert damit eine der wichtigsten Thesen für die Dialogpoetik des 1 S.Jahr-

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bürgerlicher Gesprächskultur in England, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Gespräch, München 1984, (Poetik und Hermeneutik 11), S. 3 6 1 - 3 7 6 . A . Shaftesbury, Soliloquy, a . a . O . , S. 166. D . Diderot, D e la poésie dramatique, AT, Bd. 7, S. 320 und 321. A. Shaftesbury, a . a . O . , S. 188. A. Shaftesbury, a . a . O . , S. 192. A. Shaftesbury, a . a . O . , S. 199. A . Shaftesbury, a . a . O . , S. 193. A. Shaftesbury, a . a . O . , S. 194. A. Shaftesbury, a . a . O . , S. 197. A . Shaftesbury, a . a . O . , S. 197.

7.UY Genealogie des Dialogs

54

hunderts, die vielfach aufgenommen wird, und faßt diese unter dem Begriff von Spiegelschrift - Mirrour-Writing. 8 7 Quand j e fais parler mes personnages, tout l'art que j ' y emploie est d'être présent à leur entretiens, et d'écrire ce que j e crois entendre. En général, la plus naive imitation de la nature, dans les moeurs et le langage est ce que j'ai recherché dans ces c o n t e s . 8 8

Leser und Autor belauschen unbemerkt die redenden Personen. Der Dialog ist die idealste Darstellungsform, weil die Person des Verfassers verschwindet, (»the Author is annihilated«), und mit ihm jede Rhetorik, nur die Sache selbst kommt zur Sprache. »The Scene presents it-self, as by chance, and undesign'd«. 8 9 Der Stil der »magical Glasses« 9 0 ist >Stillosigkeitnatürlichen< Stilideals zum Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit allerdings nur an. A . W . Schlegel, Goethes Herrmann und Dorothea, SW, Bd. 11, S. 190.

Poetologische Diskussion in der

55

Frühaufklärung

ken, ergibt sich ein anderes Bild. D e m kulturellen Gedächtnis waren eine ganze Anzahl von antiken und neueren Dialogen präsent. Erklärungsbedürftig bleibt aber das Faktum, daß in den deutschen Poetiken der ersten Jahrhunderthälfte für die Bestimmung des Dialogs weder Shaftesbury noch die antiken Autoren Widerhall finden, so sehr sonst betont wird, jeder Poet habe den Regeln der Alten zu folgen und sich die Exempel großer Dichter als Vorbilder zu wählen. Exemplarisch und in aller Kürze sei das im folgenden bei Gottsched vorgeführt, da dessen Versuch einer Critischen

Dichtkunst

zwischen 1730 und 1765

Referenzpunkt der gesamten poetologischen Diskussion bleibt, ob nun negativ oder positiv auf ihn Bezug genommen wird. Aus der antiken Uberlieferung standen mehrere Einteilungsschemata zur Verfügung, nach sozialem Rang der dargestellten Personen, nach Stillage oder Darbietungsform. Wo wird dem Dialog in der normativen Poetik ein O r t geboten - noch vor der folgenreichen typologischen Trennung der Dichtungsarten? Eine Leerstelle, so läßt sich vermuten, und das Inhaltsverzeichnis verschafft schnell Klarheit darüber, daß dem Dialog kein eigenes Kapitel gewidmet ist. D o c h etwas genauer soll gefragt werden, welche Anschlüsse, welche Diskussion wird in Gang gesetzt? Bekanntlich stellt auch nach der »Querelle des Anciens et des Modernes< der Gedanke der Vorbildlichkeit der antiken Dichtung den Ausgangspunkt für die poetologische Theoriebildung dar. Neben den Kanon exemplarischer Werke tritt ein Kanon exemplarischer Gattungen, der Roman etwa gehört nicht zu ihnen. Dennoch bleibt in Gottscheds Poetik der Dialog ausgespart. Als kanonische Gattung ist er nicht existent, obwohl es an Beispielen aus dem Altertum ja nicht mangelt und der Rekurs auf Tradition Autorität evoziert. »Le dialogue est la plus ancienne façon d'écrire, & c'est celle que les premiers auteurs ont employée dans la plûpart de leurs traités. (...) Le saint Esprit même n'a pas dédaigné de nous enseigner par des dialogues«. 93 D e r Anciennitätsnachweis scheint jedoch für den Dialog außer Kraft gesetzt. In der vierten erweiterten Auflage seiner Critischen

Dichtkunst

von 1751

erörtert Gottsched im ersten Teil Geschmacksfragen, Stilkategorien, rhetorische Figuren, Metaphorik, also Fragen der Schreibweise. Den zweiten Teil widmet er den einzelnen, ihm bekannten bzw. wichtigen Gattungen; diese wiederum unterteilt er in bereits aus der Antike stammende Gattungen »von den Alten« und solche, »die in neuern Zeiten erfunden worden«, zu denen er etwa Oper und Schäferspiele rechnet. Die später so wichtigen Fragen der Grenzziehung werden nicht thematisiert. Die triadische Trennung Epik, Lyrik, Dramatik 9 4 spielt bei diesem Schema ebensowenig eine Rolle wie die zwischen Kunst

93 94

Encyclopédie, Artikel »Dialogues Bd. 4, S.936. Vgl. Kapitel 1 sowie zur Rhetorikabhängigkeit des frühaufklärerischen Literaturverstänanisses U w e Möller, Rhetorische Uberlieferung und Dichtungstheorie im

Zur Genealogie des Dialogs

56

und Gebrauchskunst, selbst Briefe und Grabschriften finden ihren O r t , die ja nicht weniger als Dialoge den Ruch des Minderwertigen, Sekundären mit sich schleppen. U m s o erstaunlicher, daß dialogische Erzählformen in dieser Produktionsanweisung für Schreibende nicht auftauchen, einer Systematik also, »dadurch Anfänger in den Stand gesetzt werden, sie (Komödien, Satiren etc G . Κ.) auf untadeliche Art zu verfertigen, Liebhaber hingegen, dieselben richtig zu beurtheilen«. 9 5 Die antike Theorie zählte den sokratischen Dialog zur Dichtung (Aristoteles) oder bezeichnete ihn als Mischform zwischen Poesie und Prosa. Aber trotz der Orientierung an der Antike und an Autoritäten und so sehr auch die klassizistische Regelpoetik ihren Gegenstand - die »Litteratur« - in kleinste Untergruppen zersplitterte, wird hier ein Kanon installiert, in dem der Dialog als selbständige Gattung nicht figuriert. Weder im erst in die vierte Auflage aufgenommenen Kapitel »Von Milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen« noch im Abschnitt »Von Äsopischen und Sybaritischen Fabeln, imgleichen von Erzählungen« widmet Gottsched der Form seine Aufmerksamkeit. Inhaltliche Fragen stehen im Vordergrund, für die Tierfabeln, einer traditionell dialogischen Gattung, ob sprechende Tiere »wunderbar« oder »wahrscheinlich« seien; der Roman wird als verwickelte Liebesgeschichte definiert. Selbst der Typus des Totengesprächs, der seit dem Humanismus in der europäischen Literatur mannigfach erneuert und abgewandelt wurde, wird mit Stillschweigen übergangen. Einzelnen Gattungen wird der Figurendialog allerdings durchaus empfohlen, den Idyllen und Schäfergedichten 9 6 ebenso wie den >Heldengedichtenzwischen den Zeilen Bedeutung< zu lesen, postuliert das Programm, sondern die Zeilen selbst sollen inexistent sein. Dem Ideal vollkommener Illusion, der »ununterbrochenen TäuschungBild< bloß innere Vorstellung, sondern eine außerhalb des Lesers wahrgenomme Größe, Äquivalent für real Vorhandenes, der Punkt, an dem Literatur aufhört, bloß bedrucktes Papier zu sein - ein illusionistisches Kunststück mithin. So bei Eschenburg: Poesie hat »Täuschung zur Absicht, vermöge welcher man die abwesenden Gegenstände so lebhaft wie vorhandne empfindet, sie für wirklich nimmt, und seinen gegenwärtigen äussern Zustand dabey vergißt«. 132 So bei Wieland, der eine Passage der Epistulae des Horaz übersetzt, in der die Aufmerksamkeit auf die Vorzüge der visuellen gegenüber der oralen Rezeption gerichtet wird: »Die Handlung

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132

Walter J. O n g , Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, O p l a d e n 1987, S. 119. Michael Titzmann, Bemerkungen zu Wissen u n d Sprache in der Goethezeit ( 1 7 7 0 1830). Mit d e m Beispiel der optischen K o d i e r u n g von Erkenntnisprozessen, in: J ü r gen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Bewegung u n d Stillstand in Metaphern u n d M y t h e n . Fallstudien z u m Verhältnis von elementarem Wissen u n d Literatur im 1 S.Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 112. Die M e t a p h o r i k des Sehens im Z u s a m m e n h a n g theoretischer E r k e n n t n i s weist auf die Verschiebung des privilegierten Sinns v o m O h r auf das Auge in der Leitdifferenz. »Alle m o d e r n e n Medientheorien (...) haben diese kulturelle Generaldiffercnz von Oralität und Visualität - die gesteuert und beherrscht werden von den dominierenden Kommunikationstechnologien - als Macht der Wandlung, die mit politischen u n d ö k o n o m i s c h e n und sozialen Transformationen einhergeht, definiert«; M a n f r e d Schneider, Luther mit M c L u h a n , in: M e dien. Diskursanalysen 1, (Hg.) Friedrich Kittler, O p l a d e n 1987, S. 14. D e r Wandel der p r i m ä r e n Verbreitungsmedien von Oralität über Schrift zu D r u c k verlegt die K o d i e r u n g von Geräuschen in visuelle Signale. D r u c k maximiert diese E n t w i c k lung; vgl. auch Walter J. Ong, Oralität u n d Literalität. Die Technologisierung des Wortes, O p l a d e n 1987, S. 121. D e r literarischen W a h r n e h m u n g dieser Ubergangsepoche zwischen H ö r s i n n und optischer Begrifflichkeit geht nach: Peter U t z , Das Auge u n d das O h r im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, M ü n c h e n 1990. G o t t f r i e d Willems, Anschaulichkeit. Zu T h e o r i e und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen u n d des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 298. J.J. Eschenburg, Entwurf einer Theorie, a.a.O., S.37.

Täuschende Ähnlichkeit. Zur Poesie des Sehens

65

wird entweder vor den Augen der Gegenwärt'gen abgehandelt, oder bloß erzählt. Hier sehe sich der Dichter vor! Was durch die Ohren in die Seele geht, rührt immer schwächer, langsamer, als was die Augen sehen, deren Zeugniß uns ganz anders überzeugt, als fremder Mund«. 1 3 3 So bei Adelung, der drei Grade von Täuschung unterscheidet: ( . . . ) der schwächste ist, wenn wir bey dem sinnlichen Bilde uns noch unserer selbst und der Gegenstände um uns her bewußt sind; der folgende, wenn das Bild die Seele so beschäftigt, daß sie zwar die Empfindung ihrer selbst behält, aber die Gegenstände um sich her darüber aus dem Gesichte verliehret; der höchste endlich, wenn sie auch sich ihrer selbst nicht mehr bewußt ist, sondern gleichsam ganz in das sinnliche Bild übergehet« 1 3 4 ;

dieser Zustand grenze allerdings an Wahnsinn. Offensichtlich ist den Schriftstellern daran gelegen, genau diese Art von Entrücktheit hervorzurufen. Herder kann folgerichtig fordern: »Eine Theorie des Gesichts; eine ästhetische Optik und Phänomenologie ist also die erste Hauptpforte zu einem künftigen Gebäude der Philosophie des Schönen«. 1 3 5 All diese Äußerungen gelten dem Schreiben generell, der Roman ist in der zeitgenössischen Diskussion noch nicht recht präsent. Sobald er aber zum Thema erhoben wird, wird die Illusionstheorie sofort übertragen. » O f t hab' ich gedacht, daß es eine Geschichte geben könne (ob einen Roman, weiß ich nicht), wo man nicht höre, sondern sehe, durch und durch sehe, wo nicht Erzählung, sondern Handlung wäre, wo man alles, oder wenigstens mehr sehe, als höre.« 1 3 6 Die Handlung sichtbar werden zu lassen vermag der Dialog. »Ein ununterbrochener Vortrag kommt mit der Beschreibung überein, welche uns die Sache zwar ziemlich lebhaft, aber doch nicht leicht so darstellt, als wenn wir die Sachen selbst vor uns sehen, und diesen letztern Vortheil gewährt uns gleichsam der Dialog«. 1 3 7 Kennzeichen für die eher konservative als vordenkerische Position Sulzers ist das Fehlen eines Artikels zum Roman, im Artikel >Täuschung< spricht er vornehmlich vom Schauspiel. Mit der Hinwendung zur Darstellung psychologischer Zusammenhänge, des Innern der Menschen gewinnt die Frage nach der wirkungsvollsten Darstellungsart noch an Interesse. Henry Homes aus dessen Elements of Criticism

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137

C . M. Wieland, A, II. Abt. (Übersetzungen), Bd. 4, D e r Brief an die Pisonen, S. 358. J . Ch. Adelung, U b e r den deutschen Styl, 3 Theile in 1 Band, Berlin 1785, Reprint Hildesheim N e w Y o r k 1974, S. 3 0 7 / 3 0 8 . J . G . Herder, Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen, SW, B d . 4, S . 4 6 . T h . G . von Hippel, Lebensläufe nach aufsteigender Linie nebst Beylagen A, B , C , 3 Teile ( 1 7 7 8 - 8 1 ) ; in: ders. Sämmtliche Werke, B d . 2 , Berlin 1828 (Reprint Berlin, N e w York 1978), S. 1/2. Wilhelm Friedrich Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks, für alle Gattungen der Poesie, Hildburghausen 1791, B d . 2 , S . 4 .

66

Zar Genealogie des Dialogs

(1762) übernommene Ansicht, »Scribenten von Genie, welche Wissen, daß das Auge der beste Zugang zum Herzen ist, stellen jedes Ding so vor, als ob es vor unsern Augen vorgienge, und verwandeln uns gleichsam aus Lesern oder Zuhörern in Zuschauer«, wie seine Zuordnung des Dialogs zum Ausdruck der Empfindungen und der Erzählung zur Entwicklung der Begebenheiten findet in Deutschland große Resonanz bis über die Jahrhundertwende hinaus. Blankkenburg faßt 1774 in seinem fast 500 Seiten starken Versuch über den Roman, dessen Poetik sich an der Differenz von »bloße(m) Hörensagen« und »Sehen können« 138 orientiert, diese Gedanken und Argumente zusammen; die Romantheorie nähert sich damit der Praxis (20 Jahre später wird der Verfasser sich zudem bemühen, das Sulzersche Werk zu ergänzen; zur zweiten Auflage liefert Blanckenburg drei Bände Literarische Zusätze). Auf dieses Vermögen der Einbildungskraft setzt der Dialogschreiber. Adelung hatte in seiner bereits zitierten Stillehre zu den »Figuren der Einbildungskraft« »gewisse Formen des Gesprächs=Styles« und die »Nachahmung des Hörbaren« neben einigen anderen Verfahren zur Steigerung der Lebhaftigkeit an erster Stelle genannt. 139 Man darf nun nicht vergessen, daß die Verfechter der Illusionsästhetik von einer anderen Debatte überholt werden, von der Diskussion um den Status von Fiktion. 140 Zwei konkurrierende Literaturauffassungen, die aufklärerisch-wirkungsbezogene und die Lehre von der Autonomie der Kunst, bestimmen die Auseinandersetzungen. 141 Die erst spät gegen Ende des 18.Jahrhunderts im Umkreis der Weimarer Klassik und der Frühromantik entwickelte Theorie beurteilt die Literaturproduktion nach genuin ästhetischen Kriterien. Kunst als Kunst könne nur schätzen, wer sie nicht mit Wirklichkeit verwechsele. Zum einen, so muß man im Prinzip registrieren, scheitert die Illusionsästhetik faktisch am eigenen Programm, die Täuschung gelingt nicht einmal auf der Bühne. Die poetologischen Programme hatten nur die Bedingungen angegeben, unter

138

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F. v. Blanckenburg, Versuch über den R o m a n , (Hg.) Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, S.259. Vgl. dazu Kapitel 3.5. J. Ch. Adelung, a.a.O., S.310. Zur A b l e h n u n g des mimetischen Bezugs auf N a t u r u n d der Emanzipation des Fiktionalen vgl. Aleida Assmann, Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation, M ü n c h e n 1980; H a n s Robert Jauss, N a c h a h m u n g s p r i n z i p und Wirklichkeitsbegriff in der Theorie des R o m a n s von D i derot bis Stendhal, in: H . R. Jauss, N a c h a h m u n g und Illusion, M ü n c h e n 1964, Poetik und H e r m e n e u t i k Bd. 1, S. 157-178. Z u r A u t o n o m i s i e r u n g der Kunst vgl. Niklas L u h m a n n , D a s K u n s t w e r k und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Delfin 3 (1984), S. 51-69; sowie zur Emanzipation des Ästhetischen u n d z u r Begründung der Autonomieästhetik H a r t m u t Scheitle, Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter, Bern und M ü n c h e n 1984; Klaus Disselbeck, Geschmack u n d Kunst: eine systemtheoretische U n t e r s u c h u n g zu Schillers Briefen » Ü b e r die ästhetische Erziehung des Menschen«, O p l a d e n 1987, S. 142-172, 183-186. Vgl. G o t t f r i e d Willems, Anschaulichkeit. Z u r Theorie u n d Geschichte der WortBild-Beziehungen u n d des literarischen Darstellungsstils, T ü b i n g e n 1989, S.282292.

Täuschende Ähnlichkeit.

Zur Poesie des Sehens

67

denen vollständige Illusion möglich zu sein schien. Mit ihren Annahmen ist keine Erfolgsgarantie verbunden: »Auf einen Augenblick, wo man getäuscht wird, folgt eine weit längere Zeit, wo man wieder sich und die Schauspieler für das erkennt, was sie sind«. 142 Die Forderung nach vollständiger Illusion im Theater hat Goethe in seinem fiktiven Gespräch mit der bekannten Formulierung in Abrede gestellt, daß »alle theatralischen Darstellungen keineswegs wahr scheinen, daß sie vielmehr nur einen Schein des Wahren haben«. 143 Die neue Ästhetik setzt gegen das >Naturwahre< als die Wahrheit des Dargestellten das >Kunstwahregemeine Liebhaber< die >wahren Liebhaber< setzt, denen es auf Ubereinstimmung von äußerer Wirklichkeit und Literatur nicht ankommt, die begreifen, daß sie »sich zum Künstler erheben« müssen und die die Fähigkeit kongenialer hermeneutischer Aneignung auszeichnet, sowie die Karriere einer neuen Textauffassung, die diese als stets neu auszulegende mehrdeutige Kompositionen begreift, denen veränderte Lesetechniken entsprechen.' 4 5 Den Anspruch der Dialogpoetik, bloße Kopie zu sein, reformulieren die Vertreter der neuen Kunsttheorie als Vorwurf, bloße Kopie zu sein: »(...) die Nachahmung der Natur ist noch keine Dichtkunst, weil die Kopie nicht mehr enthalten kann als das Urbild«, 1 4 6 nichts widerstrebt ihnen mehr als der »platte Gesichtspunkt der sogenannten Natürlichkeit«. 1 4 7 Mit dem historisch wechselnden Verständnis literarischer Repräsentation wird dem Mimesisprinzip aufgekündigt, setzt sich Kunst explizit von N a t u r ab, gewinnt Literatur ihre Autonomie als gesellschaftliches Funktionssystem. Zum anderen erkennen die Schriftsteller in der Phantasie der Leser das weit größere Imaginationspotential. Hatte noch Lessing 1749 über dramatische Dichtung gesagt: »Sie reizet,

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Christian Garve, Einige G e d a n k e n ü b e r das Interessircnde, in: ders., Popularphilosophische Schriften, Bd. 1, S. 172. J. W. Goethe, Ü b e r Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke (1798), W A I, Bd.47, S.258. J o h a n n August Eberhard, H a n d b u c h der Aesthetik f ü r gebildete Leser aus allen Ständen in Briefen, Bd. 1, S. 182-193 (30. Brief: Kunstwahrheit. N a t u r w a h r h e i t ) . Das ist vor 1800 noch keineswegs selbstverständlich, vgl. Kapitel 3. Zu H e r m e n e u tik, neuhumanistischer U n t e r r i c h t s m e t h o d i k und d e n Textzubereitungen auf vielen Ebenen (Kommentar, Anthologien u.a.), die diesen P r o z e ß in G a n g setzen u n d u n terstützen vgl. Jürgen F o h r m a n n , Das P r o j e k t der deutschen Literaturgeschichte. E n t s t e h u n g u n d Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen H u m a n i s m u s u n d D e u t s c h e m Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 127; Klaus Weimar, Interpretationsweisen bis 1850, in: D V j s 61 (1987), Sonderheft, S. 152-173. Jean Paul, Ü b e r die natürliche Magie der Einbildungskraft, Leben des Q u i n t u s Fixlein, Werke, I. Abt., Bd. 4, S.202. F. Schlegel, A t h e n ä u m s - F r a g m e n t e Nr.444, K A , Bd.2, S.254.

68

7,ur Genealogie des Dialogs

wenn man sie lieset, allein sie reizet ungleich mehr, wenn man sie hört und sieht« und daraus gefolgert, »daß die Vorstellung ein nothwendiges Theil der dramatischen Poesie sey«,148 behauptet nun Jean Paul: »Die einzige WasserProbe des dramatischen Dichters ist daher die Leseprobe«. 149 Es scheint a b e r diese einleitende Überlegung abschließend - daß gerade im Makel ihrer mimetisch-illusionistischen Abbildlichkeit die Bedeutung der Dialogformen liegt, indem sie eine Epoche markieren, in der automatisiertes Lesen noch nicht selbstverständlich ist. Daraus ergibt sich eine neuartige Ausgangslage, die Theorieentscheidungen erfordert, die eher in der historischen Kommunikationsforschung als in der Gattungstheorie ihre Bezugspunkte suchen.

148 149

G.E. Lessing, Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, LM, Bd.4, S.54. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, I. Abt., Bd. 5, S.238. (NeuesKapitel)

Dialog zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit

bald Leser von v e r d o r b n e m Geschmack, bald solchc, die nicht zu lesen wissen (Herder, Fragmente) Leser, die nicht lesen können, weil sie weder empfinden, noch verstehen, noch unterscheiden k ö n n e n (Wieland, U n t e r r e d u n g e n mit dem Pfarrer von *"'*) Sie lesen; viel u n d vieles: aber wie u n d was? (Friedrich Schlegel, Georg Forster)

1. »Jetzt, da das Bedürfnis gedruckter Bücher habituell geworden ...«' - Schreiben unter veränderten Kommunikationsbedingungen Wenn man fragt, was eigentlich das bestimmende M o m e n t dieser erneuten Dialogkonjunktur nach 1775 ist, so ist eine naheliegende und vermutlich richtige Antwort: die Evolution der Kommunikationsverhältnisse. Wir hatten eine Konstellation beschrieben, in der die zeitgenössische Poetik den Dialog trotz eines enormen Fundus an Texten als Gattung ignoriert, die Figurenrede aber jedem Schriftsteller zwecks >Täuschung< des Lesers empfiehlt. Vieles spricht dafür, Dialogtexte im Kontext moderner Medien- und Kommunikationstheorie entlang der Differenz schriftlich/mündlich zu analysieren. Medium, u m Mißverständnisse auszuschließen, sei hier mit Niklas L u h m a n n verstanden als Technizität des >Mediums< Sprache - gemeint sind die »Verständigungsmedien«: im 18.Jahrhundert sind das Schrift und Druck. 2 Medientheoretische

1

2

A.W. Schlegel, Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes der deutschen Literatur (1802), D L D , Bd. 18, S.83. Medium wird von L u h m a n n bestimmt als »eine große Menge von lose gekoppelten Elementen, die sich durch rigide gekoppelte Strukturen f o r m e n lassen. In aiesem Sinne kann man z u m Beispiel Sprache als ein Medium ansehen, das eine Riesenmenge v o n möglichen Aussagen ermöglicht, aber als M e d i u m noch nicht festlegt, welche Sätze wirklich gesprochen u n d im M e d i u m registriert u n d erinnert werden. (...) Sprache ist ein M e d i u m nur, soweit sie benutzt wird, u m etwas (mehr oder w e niger Bestimmtes) zu sagen. (...) Bei Sprache versteht sich das Bereithalten einer Vielzahl v o n ungekoppelten Möglichkeiten d u r c h d e n Wortschatz u n d durch Ver-

70

Dialog

zwischen

Schriftlichkeit

und

Mündlichkeit

F o r s c h u n g e n der letzten J a h r e h a b e n d e n B l i c k für diese technische Seite v o n K o m m u n i k a t i o n geschärft. Friedrich Kittler etwa beschreibt für die G e g e n w a r t d i e K o n s e q u e n z e n t e c h n o l o g i s c h e n W a n d e l s f ü r S c h r i f t u n d T e x t e aus d e r P e r s p e k t i v e des E n d e s d e s S c h r i f t m o n o p o l s , w e n n n e u e t e c h n i s c h e M ö g l i c h keiten der Speicherung entstehen, im Zeitalter einer »sekundären

Oralität«3

von Fernsehen und Radio, G r a m m o p h o n und Telephon. Andere, archäologische« F o r s c h u n g e n r i c h t e t e n d e n B l i c k a u f v e r g a n g e n e E p o c h e n . D i e D i a l o g f o r s c h u n g hat v o n d i e s e n A r b e i t e n b i s l a n g w e n i g p r o f i t i e r t . Sie ist g e g e n w ä r t i g n o c h zu sehr v o n den Debatten u m Intertextualität (Kristeva, Genette) und Dialogizität (Bakhtin, Lachmann) sowie der sozialphilosophischen

Kommu-

n i k a t i o n s t h e o r i e v o n H a b e r m a s b e s t i m m t , als d a ß d e r in d e n l e t z t e n J a h r e n b e d e u t e n d v o r a n g e s c h r i t t e n e D i s k u s s i o n s s t a n d u m das S p a n n u n g s f e l d S c h r i f t lichkeit/Mündlichkeit

trotz offensichtlicher Nähe

a u f die

literaturwissen-

schaftliche Dialogforschung hätte E i n f l u ß n e h m e n können. D i e Frage nach d e m h i s t o r i s c h e n K o n t e x t , den m e d i a l e n R a h m e n b e d i n g u n g e n f ü r D i a l o g e u m 1 7 8 0 , d. h. i n d e m Z e i t r a u m , in d e m s i c h d e r V e r s c h r i f t l i c h u n g s g r a d d e r G e s e l l s c h a f t e x t r e m a u s w e i t e t , 4 k o m m t e n t s c h i e d e n z u k u r z u n d soll a n d i e s e r S t e l l e g e s t e l l t w e r d e n . D e r D i a l o g w i r d i m 18. J a h r h u n d e r t i n b e s o n d e r e r W e i s e r e l e -

3

4

fügung über beschränkte Verknüpfungsregeln von selbst. Auch werden die gesprochenen Worte nicht durch das Sprechen verbraucht. Das Medium existiert in Festlegungen, aber nicht durch sie.« (Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1990, S. 182/183). >Medien< sind dann wiederum die Techniken, die der Extension von Kommunikation auf Nichtanwesende dienen. Walter J . O n g unterscheidet eine »primäre« Oralität ohne Kontakt zur Schrift, eine mit Schrift koexistierende Oralität (Schrift ohne konkurrierende Speichermedien) und eine mechanisch vermittelte »sekundäre« Oralität; vgl. W.J. O . , Oralität und Literalität. D i e Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S . 9 / 1 0 und 18. R o g e r Chartier hat darauf hingewiesen, daß die Geschichte von Schrift und D r u c k eine der »longue durée< ist, eine Geschichte ohne Brüche, in der etwa die Erfindung der Buchdruckerkunst kaum als radikaler Einschnitt zu werten ist, sondern nur langfristig Veränderungen zeitigt. Vgl. R o g e r Chartier, Lesewelten. Buch und L e k türe in der frühen Neuzeit, Frankfurt/Main, N e w York, Paris 1990, S. 3 3 - 4 2 . Auch Derrida hat in seiner Kritik an L o g o - und Phonozentrismus dem 18.Jahrhundert eine zentrale Rolle zugedacht und Rousseaus Texten exemplarischen Wert beigemessen; Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/Main 1974, S. 1 7 3 - 1 7 7 . Die Drucktechnologie hat sich von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18.Jahrhunderts nur unwesentlich verändert. Z u r frühneuzeitlichen >Medienrevolution< zwischen skriptographischer und typographischer Kultur vgl. Michael Giesecke, D e r B u c h d r u c k i n d e r frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/Main 1991; Elizabeth Eisenstein, T h e Printing Press as an Agent of Change. Communications and Cultural Transformations in Early Modern Europe, 2 Bde, N e w York 1979. Vgl. für den Zeitraum bis 1780 auch R o g e r Chartier/Henri-Jean Martin (Hg.), Histoire de l'édition française, Bd. 2: Le livre triomphant 1 6 6 0 - 1 8 3 0 , Paris 1990, S. 1 3 - 2 1 3 . Z u r Schriftgeschichte der Antike vgl. vor allem die zahlreichen Arbeiten von Eric A. Havelock (u. a. E . A. H . / J a c k s o n P. Hershbell, Communication Arts in the ancient world, N e w Y o r k 1978) sowie Wolfgang Kullmann/Michael Reichel (Hg.), D e r Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen, Tübingen 1990.

Schreiben

unter veränderten

Kommunikationsbedingungen

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vant: Er thematisiert Schrift als Medium. Obwohl es in der Epoche um 1800 den Begriff >Medium< noch nicht gab, wird das Problem als solches verhandelt. Der Dialog ist im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit zu verorten und dient deren Zusammenspiel sowohl wie deren Abgrenzung. Schrift und Druck sind selbstverständlich älter, aber »zur Goethezeit (wird) das homogene Medium Schrift auch sozialstatistisch homogen« 5 und beschleunigt soziale Veränderungen. Christian Garve konstatiert, »daß es bey uns noch nicht so gar lange her ist, daß noch andre Personen lesen, als die aus dem Lesen und Studiren ihr Hauptgeschäfte machen«.6 Literalität und Analphabetentum können durchaus über lange Zeiträume hinweg koexistiren; »Schriftkultur setzt keine Massenalphabetisierung voraus«.7 Erst die Dissoziation von Lesen und Schreiben schafft jene Nur-Leser, die die Schreiber irritieren, erzwingt es, die >Differenz zwischen dem Text als Objekt des Lesers und dem Text als Produkt des SchreibersRoman< der E n c y clopédie schließt mit der Konstatierung, »toute (sic) le m o n d e est capable de lire les r o m a n s , presque t o u t le m o n d e les lit«. 20 W e n n dies auch keineswegs tatsächlich die G e s a m t h e i t aller M e n s c h e n meint, so existiert z u m ersten Mal d e r Eindruck, es k ö n n t e n d u r c h a u s alle M e n s c h e n potentielle Leser sein. Diese Ä u ß e r u n g e n sollten nicht z u d e m u n z u t r e f f e n d e n E i n d r u c k verleiten, d a ß sich die E n t s t e h u n g einer alle gesellschaftlichen Schichten k e n n z e i c h n e n d e n Lesek u l t u r beobachten lasse. D e n n o c h w e r d e n in dieser E p o c h e die Weichen f ü r die E n t w i c k l u n g gestellt, mit der die K u l t u r t e c h n i k e n Lesen u n d Schreiben zu Elementarfähigkeiten w e r d e n u n d sich die Einstellungen zu Bildung u n d Lekt ü r e wandeln; in der wissenschaftlichen Literatur ist m a n sogar z u m Teil der U b e r z e u g u n g , die deutsche »Leserevolution« sei in ihrer historischen B e d e u t u n g f ü r sozialen Wandel d u r c h a u s gleichzusetzen mit der Industriellen R e v o lution in England, d e n Freiheitskriegen in A m e r i k a u n d der F r a n z ö s i s c h e n Revolution. 2 1 Von den Zeitgenossen ist das Revolutionäre der neue Leserschichten erschließenden E n t w i c k l u n g d u r c h a u s beobachtet u n d differenziert k o m mentiert w o r d e n . Es ist d a v o n auszugehen, daß all diese Vorgänge Einfluß n e h m e n auf das, was als K o m m u n i k a t i o n wie u n d in welcher F o r m möglich ist, u n d die E n t w i c k l u n g der Verbreitungsmedien perspektivieren. In diesem R a h m e n sind die Literaturverhältnisse u m 1800 zu sehen: D e r U m g a n g mit G e s c h r i e b e n e m verä n d e r t sich, b e s o n d e r s die - allerdings schwer f a ß b a r e n - Aneignungsweisen, die Lektürevarianten. Wie u n e r w a r t e t die D e m o k r a t i s i e r u n g des Lesens die gelehrte Ö f f e n t l i c h k e i t trifft, zeigt die H e f t i g k e i t d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n u m »Lesewuth« u n d Lesesucht. Die b e k a n n t e n O p p o s i t i o n e n f ü r L e k t ü r e p r a k t i ken, o b lautes o d e r leises, identifikatorisches oder reflexives, statarisches oder

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Encyclopédie, Artikel »Roman«, Bd. 14, S.342. John A. McCarthy, The Art of Reading and the Goals of German Enlightenment, in: Lessing-Yearbook 16 (1984), S.79. Vgl. die Äußerung von Johann Georg Heinzmann: »So lange die Welt stehet, sind keine Erscheinungen so merkwürdig gewesen als in Deutschland die Romanenleserey, und in Frankreich die Revolution. Diese zwey Extreme sind ziemlich zugleich miteinander großgewachsen«, in: ders., Appell an meine Nation über Aurklärung und Aufklärer; über Gelehrsamkeit und Schriftsteller; über Büchermanufakturisten, Rezensenten, Buchhändler, über moderne Philosophen und Menschenerzieher; auch über mancherley anders, was Menschenfreyheit und Menschenrechte betrifft, Bern 1795, Reprint Hildesheim 1977 (Texte zum literarischen Leben um 1800 Bd. 1), S. 139. Zur Rolle der Verbreitungstechniken der Kommunikation (Rede, Schrift, Druck) als Abgrenzungsereignissen für Sequenzierung vgl. Niklas Luhmann, Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, in: Hans-Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/Main 1985, S. 11-33.

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Dialog zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit

cursorisches Lesen, 22 oder der Übergang von intensiver zu extensiver Lektüre wie von privater Beschäftigung mit dem Text oder öffentlichem Verlesen, all diese in grundlegenden Untersuchungen beschriebenen Differenzqualitäten belegen den entscheidenden Wandel. Ein historisch nicht differenziertes Verständnis des Phänomens, ermuntert durch die scheinbare Gewißheit, daß seit Einführung der Verbreitungsmedien >Schrift< und >Druck< bis in die jüngste Gegenwart immer gelesen wurde, muß zu irreführenden Annahmen auch im Bereich der Literaturproduktion führen. Es gibt immer noch viele Leser, die gezwungen sind, zu vermündlichen, also laut zu lesen, um zu verstehen; andere wiederum, die Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort entziffern müssen, wodurch ihnen das >Ganze< aus dem Blick gerät. Man sollte sich ordentlich kunstmäßig üben, eben sowohl äußerst langsam mit steter Zergliederung des Einzelnen, als auch schneller und in einem Zuge zur Ubersicht des Ganzen lesen zu können. Wer nicht beides kann, und jedes anwendet, w o es hingehört, der weiß eigentlich noch gar nicht zu lesen«. 2 3

Selbst heute weiß man trotz aller neurophysiologischer Forschungen nur wenig darüber, wie beim Lesen durch Worte Imagination angeregt wird, ohne daß bei jedem Wort nur ein Bild erzeugt wird. Bei den Autoren des 1 S.Jahrhunderts führt das unsichere Wissen über Lektürevorgänge zur paradoxen (in den Motti zitierten) Vorstellung von >Lesern, die nicht zu lesen wissen«. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir den Literaturbegriff mit der Situation heute - uneingeschränkte Reproduzierbarkeit durch Medien in einer literaten Schriftkultur - koppeln, verzerrt den Blick auf Texte in anderen Kapiteln der Geschichte der Verbreitungsmedien. »Die Verbreitungsmedien seligieren durch ihre eigene Technik, sie schaffen eigene Erhaltungs-, Vergleichs- und Verbesserungsmöglichkeiten, die aber jeweils nur auf Grund von Standardisierungen benutzt werden können. Dadurch wird, verglichen mit mündlicher, interaktions- und gedächtnisgebundener Uberlieferung, immens ausgeweitet und zugleich eingeschränkt, welche Kommunikation als Grundlage für weitere Kommunikation dienen kann«. 24 Die Perfektionierung und Ausbreitung von Schriftlichkeit ruft mehr als nur technologischen Wandel hervor, der Gebrauch von Schrift beschleunigt auch den sozialen Wandel. Nicht nur die Institution Literatur wandelt sich - auch die Leser und ihre Leseweisen verändern

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23 24

Vgl. Detlev Kopp/Nikolaus Wegmann, Das Lesetempo als Bildungsfaktor? Ein Kapitel aus der Geschichte des Topos »Lesen bildet«, in: D e r Deutschunterricht 40 (1988), Heft 4, S. 4 5 - 5 8 . Die Begrifflichkeit folgt K. H . L. Pölitz, Practisches Handbuch zur statarischen und kursorischen Leetüre der teutschen Klassiker, Leipzig 1804-1806. Friedrich Schlegel, G e o r g Forster, in: K A , Bd. 2, S. 84. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/ Main 1984, S . 2 2 1 .

Schreiben unter veränderten Kommunikationsbedingungen

77

sich von der Buchstabierarbeit zur heutigen Selbstverständlichkeit des Lesevorgangs. Wie verhält sich die Literatur dazu? Eigentümlicherweise wurde in all diesen kommunikationsgeschichtlichen Untersuchungen nur selten gefragt, welche internen Konsequenzen ausgelöst werden, in einem Literatursystem, das ja schon immer geschriebene Texte produzierte. 25 Die Evidenz des Faktums schien die Frage nach dem daraus resultierenden Wandel grundsätzlich außer Kraft zu setzen; das Medium Buch wird als selbstverständlich gesetzt. Aufgrund der Konzentration auf Texte übersah die Literaturwissenschaft in selbstauferlegter Beschränkung, daß die technischen Entwicklungen von Schrift unvermeidlich auch in der spezifischen Organisation von Texten einschneidende Veränderungen zeitigten. Man braucht nur an den C o n t r a s t zu denken, der sich im Nachrichtenwesen zeigt: der fahrende Sänger, der Spielmann, welcher im Mittelalter die Rolle des Journalisten spielt - und die Zeitungen von heute. Es hat sich auch die Production dadurch vielfach verändert: denn die Factoren der Vermittlung zwischen P r o d u c e n t und C o n s u ment, d.h. zwischen D i c h t e r u n d Publikum, sind außerordentlich complicirt geworden; u n d diese haben einen gewissen Einfluß auf die P r o d u c t i o n . 2 6

Die These von Schrift, Buchdruck und Alphabetisierung als den Auslösern tiefgreifender kultureller Veränderungen ist also so neu nicht. Scherer konstatiert, die Vermittlung zwischen Autor und Leser sei außerordentlich kompliziert geworden - ein Eindruck, der bereits von den Schriftstellern um 1800 immer wieder betont wird. Es scheint ratsam zu sein, jede Darstellung eines Teils oder einer Gattung innerhalb des Untersuchungszeitraums sinnvollerweise an eine Beleuchtung der Kommunikationssituation zu koppeln - vornehmlich dann, wenn die Variation formaler Darstellungsmodi im Mittelpunkt steht. Der Zusammenhang von Aufklärung, Bücherwelt und Lesen wird so über die rein sozialgeschichtliche Fragestellung hinaus an literarische Schreibverfahren angebunden.

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Die Frage wird stattdessen meist auf andere Wissenssysteme bezogen, etwa Recht (dem kommunikationsgeschichtlichen Z u s a m m e n h a n g von technischer R e p r o d u zierbarkeit u n d geistigem Eigentum ist Heinrich Bosse nachgegangen; H . B., A u t o r schaft ist Werkherrschaft. U b e r die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, P a d e r b o r n , München, Wien, Zürich 1981); oder man thematisierte die Beziehung von Schrift und Gedächtnis o d e r Fragen der A u f z e i c h n u n g »oraler« Literatur. Wilhelm Scherer, Poetik (1888 posthum), (Hg.) G u n t e r Reiss, Tübingen 1977, S.85; vgl. besonders auch S. 134/135. Das literaturtheoretisch interessante K o n z e p t von Scherers Poetik, in der der Beziehung zwischen Dichter und Publikum fast die Hälfte des U m f a n g s gewidmet ist, hat jedoch wenig W i r k u n g auf die Literaturwissenschaft ausgeübt.

Dialog zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit

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2. Schriftlicher Dialog als Simulacrum mündlicher Kommunikation Die These wird im folgenden wesentlich die sein, daß Dialogtexte sich nach den Texten vorausliegenden Strukturen regeln, die nur partiell explizit thematisiert werden, die den literarischen wie den theoretischen Texten aber dennoch gemeinsam sind. Vor diesem Hintergrund betrachtet manifestiert sich ein Problemkomplex, in dem es um Kommunikation geht, um die K o m pensation des Verlustes von Unmittelbarkeit als Folge von Schriftkultur. Solange allerdings Kommunikation auf ein simples Vermittlungsmodell reduziert wird, bleibt die Frage nach dem Schriftcharakter unmaßgeblich. Die Theorie funktional ausdifferenzierter Gesellschaften, wie sie von Niklas Luhmann entwickelt wurde, ist eine soziologische Theorie, in deren Rahmen auch ein begriffliches Instrumentarium entwickelt wurde, mit dem für unseren Zusammenhang präzise Unterscheidungen getroffen werden können: das ist, neben Medien- und Evolutionstheorie, vornehmlich die Unterscheidung von Interaktion und Kommunikation. Luhmann folgend verstehe ich K o m munikation als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen. Schrift erzwingt die Erfahrung dieser Differenz: In mündlicher Kommunikation dagegen gilt Synchronität der drei Aspekte. Die Erfindung von Schrift und Druck löst die Zeiteinheit auf und kompliziert gesellschaftliche Interaktion: Kommunikation wird situationsunabhängig und auch unter Abwesenden möglich, ist nicht mehr an direkte Begegnung, an körperliche Präsenz und räumliche Nähe, nicht mehr an Interaktion gebunden. Die schriftliche F o r m umschließt eine zwar nur potentielle, dafür aber unbegrenzte Öffentlichkeit. Für den Schriftsteller heißt das konkret, daß er sein Publikum nicht mehr aus eigener Anschauung kennt, sondern zunehmend als unkalkulierbare G r ö ß e erfährt; er besitzt wenig Möglichkeiten, über Zahl oder Reaktionen seiner realen Leserschaft etwas in Erfahrung zu bringen. Die Illusion, ein homogenes Publikum ansprechen zu können, löst sich zusehends auf, die Vorstellung von Verständigung zwischen Autor und Leser wird skeptisch beurteilt. Die Einsicht in die begrenzte Kompetenz der neuen Leserschichten, diesen »Ewig-Unmündigen« (Herder), kommt erschwerend hinzu. Die fortschreitende Aufspaltung in einen gebildeten und einen ungebildeten Teil der lesenden Öffentlichkeit macht es immer schwieriger, für beide zu schreiben. Auf den Leser wirkt die vervielfältigte Masse und Anonymität von Autoren nicht weniger irritierend: E i n noch größeres Publicum hat uns die Buchdruckerei verschaffet; es ist sehr gemischt und fast unübersehlich. Welche Mühe kostete es in altern Zeiten, Bücher zu haben, mehrere zu vergleichen und über einen Inbegriff von Wissenschaft zu urtheilen! J e t z t überschwemmen sie uns; eine Fluth Bücher und Schriften, aus allen für alle

Schriftlicher Dialog als Simulacrum mündlicher Kommunikation

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Nationen geschrieben. Ihre Blätter rauschen so stark und leise um unser Ohr, daß manches zarte Gehör schon jugendlich übertäubt wurde. In Büchern spricht Alles zu Allem; niemand weiß zu Wem? O f t wissen wir auch nicht, Wer spreche? denn die Anonymie ist die große Göttin des Marktes. Von einem solchen Publicum wußte weder R o m noch Griechenland; Guttenberg und seine Gehülfen haben es für die ganze Welt gestiftet. ( . . . ) Das Publicum der Schriftsteller ist also von eigner Art; unsichtbar und allgegenwärtig, oft taub, oft stumm, und nach Jahren, nach Jahrhunderten vielleicht sehr laut und regsam. 2 7

M i t d e r Einheitlichkeit der L e s e r s c h a f t w a r einerseits die M ö g l i c h k e i t ihrer kontrollierenden

Beobachtung

verlorengegangen.

Andererseits

findet

die

A s y m m e t r i s i e r u n g z w i s c h e n A u t o r e n u n d L e s e r n ihren A u s d r u c k in der G e n i e - K o n z e p t i o n : J e d e r k a n n ein L e s e r sein, aber nicht jeder k a n n z u m A u t o r a v a n c i e r e n . 2 8 E n d e des 1 8 . J a h r h u n d e r t s h a b e n sich L e s e n u n d Schreiben v o n einander dissoziiert. In der S y s t e m t h e o r i e wird

Kommunikation

als u n w a h r s c h e i n l i c h

be-

s t i m m t . 2 9 D a s heißt, K o m m u n i k a t i o n k a n n i m m e r neben Z u s t i m m u n g a u c h auf A b l e h n u n g stoßen. D i e E n t w i c k l u n g neuer K o m m u n i k a t i o n s m ö g l i c h k e i ten ist mit der n e u e r K o m m u n i k a t i o n s r i s i k e n v e r b u n d e n . D e r A u t o r m u ß dam i t rechnen, obenhin, unverständig, ohne Geschmack, ohne Gefühl, mit Vorurteilen, oder gar mit Schalksaugen und bösem Willen gelesen zu werden - oder, wie die meisten Leser, die nur zum Zeitvertreib in ein Buch gucken - oder zur Unzeit, wenn der Leser übel geschlafen, übel verdaut, oder unglücklich gespielt, oder sonst Mangel an Lebensgeistern hat - oder gelesen zu werden, wenn gerade dieses Buch, diese Art von Leetüre unter allen möglichen sich am wenigsten für ihn schickt (...). Unter hundert Lesern kann man sicher rechnen von achtzig so gelesen zu werden (..

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J. G . Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, Bd. 17, SW, S. 304/305 und 306. Ganz deutlich wird bei Herder die Asymmetrisierung im Literatursystem und die Ausbildung von Komplementärrollen: Literaturproduzent und Literaturleser. Indikatoren dieser mit früheren historischen Situationen nicht zu vergleichenden Relation sind u.a. die beginnende Professionalisierung des Schriftstellerberufs (freier Schriftsteller) sowie die signifikante Zunahme ihrer Zahl, die Selbstreflexion unter dem Begriff >GenieUmgang< erworbener >Menschenkenntniß< und der Einsamkeit v e r d a n k t e m u n d schriftvermitteltem >Bücherfleiß< lesen. Christian Garve, Verschiedenheiten in den Werken der ältesten u n d neuern Schriftsteller, in: C . G . , Popularphilosophische Schriften, Bd. 1, S. 31/32 u n d S. 37. Im Rahm e n dieser sozialhistorischen Veränderung kann auch die enorme Bedeutung des Briefs als Typ personaler Beziehung gesehen werden. D e r Briefwechsel trägt einerseits z u r Bildung einer überregionalen Öffentlichkeit bei, vermittelt aber den A n -

Schriftlicher Dialog als Simulacrum mündlicher Kommunikation

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>Ideale Gegenwart wird zum semantischen Korrelat für den Funktionsverlust von interaktioneller Kommunikation, zum zeitgenössischen Begriff, unter dem das Problem verhandelt wird. Dahinter steht die Uberzeugung: »Der Ton und die Geberde gelangen unmittelbar, und ohne einigen Umschweif, zu dem Herzen«. 3 4 Die Anpassung an die neue Situation erfolgt unter Rückgriff auf vorhandene Mittel und Formen, die diversifiziert, abgewandelt und ausgetestet werden, bis sich Neues stabilisiert und die Traditionsanschlüsse entbehrlich werden. Mit dem, was die »Ubergangssemantik« dieses Transformationsprozesses >Vergegenwärtigung< nennt, 3 5 wird in dieser verkürzten F o r m eine Opposition formuliert, die im Grunde das mediale Problem pointiert markiert. Vor dem Hintergrund der Differenz Schriftlichkeit/Mündlichkeit bzw. ihrer diskursiven Begrenzung von Texten interessiert an Dialogen vor allem das Phänomen, »jenen gesamten situationalen Rahmen (direkter) Interaktion, auf den die Kommunikation über das Medium des gedruckten Buchs verzichten konnte, in die Welt des Textes hineinzunehmen«. 3 6 D e r Anspruch, Gegenwärtigkeit zu vermitteln, formuliert genau das, was das Buch faktisch nicht zu leisten vermag, und führt die Autoren in eine Paradoxie, die es genauer zu untersuchen gilt. Mit welchen Argumenten, mit welcher Selbstzurechnung und mit welchen Strategien suggeriert eine Reihe von Texten Mündlichkeit unter technisch veränderten Kommunikationsbedingungen? Wie funktioniert der explizite Rekurs auf mündliche Kommunikation im Medium Schrift? Auf welche Art reklamieren gerade Romane Oralität? Ist doch der Roman wegweisend für private, individuelle und stille Rezeption. Das Drama dagegen verlangt Aufführung, Lyrik Deklamation, das Epos den Erzähler und didaktische Literatur den Vortrag. Dort halten sich mündliche Rezeptionsresiduen weitaus länger. Unser heutiger Literaturbegriff rechnet unausgesprochen mit der Einsamkeit des Lesers im Vollzug der Lektüre, doch vor 1800 muß auch bei Romanen durchaus noch mit der Annahme kollektiver Rezeptionsweisen als koexistenten Varian-

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schein engen persönlichen Kontakts und knüpfte so ein weites N e t z w e r k personaler Verbindungen auf vertraulicher Basis. Vgl. Wolfgang Ruppert, Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur im 1 S.Jahrhundert, Frankfurt/Main und N e w Y o r k 1981, S. 9 6 - 1 4 8 . Charles Batteux, Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit verschiednen eignen damit verwandten Abhandlungen begleitet von J o h a n n Adolf Schlegel, Dritte von neuem verbesserte und vermehrte Auflage Leipzig 1770, 2 Bde., Reprint Hildesheim, N e w Y o r k 1976. Forthin zitiert als J . A. Schlegel, Herrn A b b t Batteux Einschränkung.., a. a. O . , S. 392. Niklas Luhmann, Interaktion in Oberschichten, in: N . L., Gesellschaftsstruktur und Semantik 1, Frankfurt/Main 1980, S.83. Hans Ulrich Gumbrecht, Beginn von >Literaturoral performance* der Regelfall. Lektüre ist kein universeller Akt ohne historische Varianten; das tatsächliche Leseverhalten läßt sich jedoch heute nicht mehr nachweisen und angesichts der Fremdheit früher üblicher Praktiken auch nicht intuitiv erschließen. Doch lassen Aussagen von Lesern in Autobiographien, Briefe, Tagebucheintragungen und Romane einige Rückschlüsse auf die Veränderung der Lektüregewohnheiten zu. 37 Bedeutung für diese Epoche haben vornehmlich Formen der »Semi-Oralität«; 3 8 häufig genug konnte nur eine Person pro Haushalt oder gar Dorf lesen. Angesichts des immer noch beschränkten Zugangs zu Lesestoffen und literarischer Kultur wurde in geselliger Runde oder im Familienkreis vorgelesen. Wenn der Vortragende den Text mimisch und gestisch, durch Tonfall und Akzentuierung zu verlebendigen vermag, lauscht das Auditorium der »wahren und wundersamen Historia des kecken und mannhaften Ritters Siegfried« gebannt: »Die Nasenlöcher der Bauern erweiterten sich, die Kinder schmiegten sich aneinander, die Wirtin vergaß des Spinnens, rückte zitternd ihren Brettschemel näher an den Tisch und sah von Zeit zu Zeit hinter sich, ob ihr auch etwa ein Drache in die Arrieregarde falle«. 39 Für den Erfolg populärer Lesestoffe war ein bedeutsames Kriterium demnach, daß sie sich zum Vorlesen eigneten; bei dialogischen Formen scheint die Vermutung plausibel, daß mit verteilten Rollen gelesen wurde. In Glücksfällen ist auch eine einzelne Vorleserin so begabt, daß sie »vermittelst einer seltnen Biegsamkeit der Stimme jeder redenden Person einen besondern, von ihrer eigenen verschiedenen Ton zu geben wußte, und sie da-

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Vgl. die Materialsammlung: Dichter lesen. Von Geliert bis Liliencron, Marbach am N e c k a r 1984; zur Historizität der Lektürepraktiken vgl. Roger Chartier, Pratiques de la lecture; Roger Chartier (Hg.), Les usages de l'imprimé, Paris 1987; R o g e r Chartier/Daniel R o c h e , Les pratiques urbaines de l'imprimé, in: Roger Chartier/ Henri-Jean Martin (Hg.), Histoire de l'édition française, Bd. 2: L e livre triomphant 1 6 6 0 - 1 8 3 0 , Paris 1990, S . 5 2 1 - 5 5 8 ; Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1 7 7 0 - 1 9 1 0 , Frankfurt/Main 1970; R o l f Engelsing, D e r Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1 5 0 0 - 1 8 0 0 , Stuttgart 1974, ders., Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973; Erich Schön, D e r Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987; sowie die Beiträge in LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985) mit dem Schwerpunkt »Lesen- historisch«; Albert Ward, B o o k Production, Fiction and the G e r m a n Reading Public ( 1 7 4 0 - 1 8 0 0 ) , O x f o r d 1974, S. 1 1 4 - 1 6 2 , 1 8 7 - 1 9 8 .

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Fritz N i e s , (Diskussionsprotokoll), in: L I L I 41 (1981), S. 125. Vgl. dagegen den B e griff »semi-literacy« bei Eric A. Havelock (Preface to Plato, O x f o r d 1963, S. 40), mit dem jene eingangs genannte, auf Wenige beschränkte Lese- und Schreibfähigkeit in einer Kultur gemeint ist. J . G . Müller, Siegfried von Lindenberg. Ein komischer R o m a n (1779), Leipzig und Weimar 1984 nach der 5. Auflage von 1790, (Hg.) Friedemann Berger, S. 4 3 / 4 4 ; ein R o m a n , in dem immer wieder die Literaturverhältnisse der Zeit satirisch in die R o manhandlung eingeflochten werden.

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Schriftlicher

Dialog als Simulacrum

mündlicher

Kommunikation

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durch so fest und richtig bezeichnete, daß sie, um die Personen anzugeben, keinen Nahmen zu nennen brauchte«. 4 0 Die aus der Literatur gewählten Beispiele unterstreicht der Artikel »Lecture« der Encyclopédie, der die Aspekte der Lesetechniken auf die Differenz laut/leise, sehen/hören, schriftlich/mündlich fokussiert: » L E C T U R E , f.f. (Arts) c'est l'action de lire, opération que l'on apprend par le secours de l'art. Cette opération une fois apprise, on la fait des yeux, ou à haute voix.« Mündliche Deklamation präsentiere kein Bild, sondern das Objekt selbst. » L a lecture est toute dénuée de ce qui frappe les sens; elle n'emprunte rien d'eux qui puisse ébranler l'esprit, elle manque d'ame & de vie. (...) O r l'ouvrage qu'on entend réciter, qu'on entend lire agréablement, séduit plus que l'ouvrage qu'on lit soi-même &C de sens froid dans son cabinet«. 41 Ebenso wie »der dramatische Dichter sowohl als der Volksredner« der »Aufmerksamkeit (der Zuhörer) gleichsam körperlich gebieten«, 42 dient auch das laute Lesen als Technik zur Steigerung des Erlebens und macht den Körper zum Medium der Texterfahrung. Eben auf Grund dieser verlebendigenden Eigenschaft seien philosophische Schriften nicht laut zu lesen, »weil uns das Vernehmen der Töne an dem Uiberschauen des Ganzen hindert. Wir vergessen, was wir gelesen haben, und denken immer nur an das, was gegenwärtig ist. Wir können daher weder die Folgerichtigkeit, noch die Wahrheit der behaupteten Säzze prüfen«. 4 3 Man kann sich an diesen Äußerungen vergegenwärtigen, daß noch primär das laute Lesen, das Vermündlichen, die Lektürepraktiken strukturierte und dies Phänomen auch bei der Textproduktion einkalkuliert wurde. »Durch das laute und muntre Vorlesen aber erregen sich die Geister« 4 4 - ein Verfahren, das Autoren für das Schreiben empfohlen wurde, um bereits bei der Ausarbeitung von Texten von den Effekten lauter Lektüre profitieren zu können. Man habe sich der Erkenntnis zu beugen, so behauptet der Aufzeichner eines philosophischen Gesprächs, daß ein Teil der Uberzeugungskraft durch

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C . M . Wieland, Hexameron von Rosenhain, SW, Bd. 38, S.40. Vgl. Johann Adam Bergks Bemerkung im Zusammenhang seiner Ausführungen zum lauten Lesen: »Die schwerste Probe des Lautlesens ist die Lektüre von Schauspielen«, da man so unterschiedliche Stimmen und Affekte wiedergeben müsse; in: J . A . B . , Die Kunst, Bücher zu lesen. N e b s t Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, Reprint München, Berlin 1971, S.71. Encyclopédie, Artikel >LectureVoces Paginarumc Beiträge zur Geschichte des lauten Lesens und Schreibens, in: Philologus 82 (1927), S. 84-109, 202-240. Balogh weist auf den Zusammenhang von Diktieren und Schreiben bzw. bringt zahlreiche Belege aus der Antike für >lautes Schreiben«: Beim Abschreiben las man sich laut aus der Vorlage vor (Selbstdiktat). Sprechen und Schreiben sind untrennbar verbunden.

Dialog zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit

84

die Feder verlorenginge: »Je ne doute point qu'en passant par ma plume, les choses n'aient beaucoup perdu de l'énergie et de la vivacité qu'elles avaient dans sa bouche«. 4 5 In der Französischen Revolution werden kollektive Lektüren von Anschlagzetteln und Flugblättern noch einmal besonders bedeutungsvoll, weil das Geschriebene den Illiteraten vorgetragen wird, die es nicht entziffern können, 4 6 aber >Ohrenzeugen< der Lektüre werden. Insofern besagen Statistiken über den Grad der Alphabetisierung einer Gesellschaft wenig über die tatsächliche Frequenz und die Qualität des Kontakts mit Geschriebenem. Langfristig gesehen beginnt im 18.Jahrhundert allerdings die Verlagerung in die Privatsphäre des Einzelnen. Wie auch immer Lektürepraktiken im einzelnen Mündlichkeit zu restituieren suchten, sollte man doch den entscheidenden Sachverhalt registrieren, daß Schrift situationsgebundene institutionalisierte Formen der Zusammenkunft potentiell überflüssig macht. »Es war Bücherzeit, Zeit des todten Buchstabens geworden«, 47 heißt es in Ernst Brandes' Rückblick auf die letzten zwei Jahrzehnte des 18.Jahrhunderts. Aus dieser Einsicht entspringen all jene Programme und Institutionen, durch welche personale Interaktion und Mündlichkeit restauriert werden sollen. Neue Formen geselliger Kultur wie Lesekabinette und Lesegesellschaften entstehen, doch ließen auch sie sich zweifellos als durch verwandte Problemstellung bestimmt analysieren: als Versuch, dem Vordringen des Buches personal organisierte Formen der Leseöffentlichkeit entgegenzusetzen. 48 Lektüre wird durch den mündlichen Austausch darüber ergänzt, durch die im Verein institutionalisierte Gesprächsrunde. Die Suche nach authentischer Mündlichkeit nimmt die unterschiedlichsten

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D. Diderot, Promenade du sceptique, E H , Bd. 2, S. 77. Vgl. Hans U l r i c h Gumbrecht, Skizze einer Literaturgeschichte der Französischen Revolution, in: Jürgen von Stackelberg (Hg.), Europäische Aufklärung III, Wiesbaden 1980, S. 280; Françoise Parent, D e nouvelles pratiques de lecture, in: Roger Chartier/Henri-Jean Martin (Hg.), Histoire de l'édition française, Bd. 2: Le livre triomphant 1 6 6 0 - 1 8 3 0 , Paris 1990, S. 8 0 1 - 8 1 9 . Ernst Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten D e cennien des vorigen Jahrhunderts, Hannover 1808, S. 167. Das Vereinsgründungsphänomen beschränkte sich nicht auf die (zahlenmäßig größte Gruppe der) Lesegesellschaften, sondern widmete sich gemeinnützigen, landwirtschaftlichen, kulturellen und politischen Absichten. Zu dieser neuen S o zialform vgl. T h o m a s Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: T. N., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 1 7 4 - 2 0 5 ; O t t o Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984; Irene Jentsch, Zur Geschichte des Zeitungslesens in Deutschland am Ende des 18.Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung der geselligen F o r m e n des Zeitunglesens, Diss. phil. Frankfurt 1937. Vgl. auch Erich Schön, D e r Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987, S . 2 2 4 : »Keineswegs war einsame Lektüre als Tendenz im Leseverhalten für die Mentalitätsentwicklung im Verlauf der >Sattelzeit< bedeutsamer als die gemeinsame, speziell als die im geselligen Rahmen«.

Schriftlicher

Dialog

als Simulacrum,

mündlicher

Kommunikation

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F o r m e n an - häufig paradoxe, denn der Schein mündlicher Unmittelbarkeit verdankt sich den Effekten des Schreibens. Fast gleichzeitig zum Versuch der Restituierung mündlicher Kommunikationsverhältnisse beginnt ein archivarisches Interesse mit der Inventarisierung mündlicher Literatur: O r a l tradierte Märchen, Sagen, Lieder, Volkspoesie werden in schriftlich fixierte Texte verwandelt. Das rettet die Zeugnisse, verleiht ihnen Permanenz, entzieht sie zugleich damit der mündlichen Uberlieferung und legt sie als abgeschlossene Vergangenheit zu den A k t e n - ein Indiz für den fortschreitenden Verschriftlichungsprozess und das Wissen um die zunehmende Marginalisierung von mündlichen Traditionen. D i e Differenz impliziert mehr als ein wie auch immer geartetes Ubersetzungs-

oder Abbildungsverfahren

von Mündlichem

in

Schrift, sondern ein Nebeneinander und Miteinander. Es entstehen Modalitäten, wie Schriftlichkeit/Mündlichkeit in Bezug gesetzt werden, vom Leser konnotiert werden sollen: Sprechen im D u k t u s des Schriftlichen, Schreiben im D u k t u s des Mündlichen - zwischen beiden Kommunikationsarten gibt es zahlreiche Überschneidungen. Schrift integriert mündliche Traditionen und literarisiert sie. 4 9 D i e strenge Trennung in Analphabeten und Alphabetisierte verdeckt die unterschiedlich gearteten Zugänge zu Geschriebenem; der E p o c h e verursacht mehr noch der große Unterschied zwischen gebildeten und ungebildeten L e sern Kopfzerbrechen. Die zentrale Rolle von Vermittlung und Unmittelbarkeit, Distanz und N ä h e in den epochenbeherrschenden Diskussionen u m Schrift, B u c h und D r u c k weist darüber hinaus auf den U m b a u von einer stratifikatorischen zu einer funktionsorientierten

Gesellschaft. D e r

historische

Strukturwandel ließ Beziehungen zu unpersönlichen werden, die vorher personal organisiert waren. Macht etwa war nicht mehr, wie im Feudalwesen, als personifizierte Herrschaft im Lehnsherren erlebbar, sondern nur als nicht an Personen gebundene F o r m des >Staates< - ähnliche Entwicklungen gelten für alle Bereiche. Aus der Umstellung resultieren neue Probleme - die Debatte um B u c h und D r u c k hat nur den Charakter eines S y m p t o m s für die zunehmende Ersetzung von Interaktions- durch Kommunikationsbeziehungen. 5 0 D e r P r o zeß zunehmender Komplexitätssteigerung gestaltet sich für den Einzelnen als

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»Die Popularisierung der Literatur (...) ist begleitet von einer Literarisierung der populären Kultur«; Hermann Bausinger, Die Mühen der Einfachheit. Zur Modellierung des Populären in der Literatur um 1800, in: Jb. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1985, S. 24/25. Vgl. auch Brigitte Schlieben-Lange, die mit den Begriffen »Dialogisierung« und »Literarisierung« ebenfalls das Spannungsfeld zwischen Ausbreitung der Schriftkultur und Idealisierung von Mündlichkeit zur Zeit der Französischen Revolution zu beschreiben sucht, B. S.-L., Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1983, S. 64-83. Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1984, S. 191-241.

Dialog zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit

86

Erfahrung einer zur Anonymität tendierenden Öffentlichkeit: Den Alltag prägen nicht mehr identifizierbare, invisibilisierte Bindungen. Die Utopieentwürfe der Zeit versuchen denn auch häufig Idealmodelle aus der Restitution einer auf Interaktion basierenden Gesellschaft zu entwerfen. Im Protest gegen funktionale Differenzierung und ihre Effekte fungiert das Buch als Zeichen für Entpersonalisierungsprozesse. Die Anfänge von Reflexion über Schrift datieren bis in die Antike zurück; im Altertum bereits hatte Plato das Medium in seinem Phaidros-Dialog scharf kritisiert. Seine Einwände sind bekannt und werden im 18.Jahrhundert erneut aufgegriffen und vorangetrieben. Aus der Platorezeption datiert die Uberzeugung, »der geschriebene Dialog weise die Mängel anderer Verschriftlichungen nicht auf. Er sei ein Buch, das seinen Charakter als Buch überwinde.« 5 1 Schrift galt als nur sekundäres, abgeleitetes Repräsentationssystem, wohingegen die gesprochene Sprache die ursprüngliche und universelle Manifestationsform sei. Das geschriebene Wort war nur Zeichen für ein Zeichen, nur Supplement, das Primat kam der Rede zu. In der Geschichte des abendländischen Denkens ist dies ein Gedanke mit bruchloser Tradition von der Antike bis in die Gegenwart, dem erst von Derrida widersprochen worden ist. Mündlichkeit, so sei darüber hinaus betont, heißt im Diskurs der Aufklärung nicht nur Hörbarkeit, sondern steht auch als Chiffre für Anwesenheit, für optische Präsenz. Literatur in ihrer Schriftqualität sah sich mit dem Problem der Abwesenheit des Autors/ Erzählers, der Situationsentbindung konfrontiert. Sie kann Verstehenssicherung beim Publikum nicht über akustische oder mimische Steuerungstechniken, die ja an Anwesenheit gebunden sind, erreichen. Daraus entsteht die Befürchtung der Autoren, der ferne Leser werde den intendierten Sinn, die Moral nicht realisieren. L U I ( . . . ) Et puis j'ai un peu lu. M O I Q u ' a v e z vous lu? L U I J'ai lu et j e lis et relis sans cesse Théophraste, La Bruyère et Molière. M O I C e sont d'excellents livres. L U I Ils sont meilleurs qu'on ne pense; mais qui est-ce qui sait les lire? M O I Tout le monde, selon la mesure de son esprit. L U I Presque personne. 5 2

Die Einschränkung »nach dem Maß seines Geistes« macht aus dem »jedermann« als Buchleser, der auch zu lesen weiß, »fast niemand«. D i e vom Autor

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T h o m a s Alexander Szlezak, Gespräche unter Ungleichen. Z u r Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge, in: Gottfried Gabriel/Christiane Schildknecht (Hg.), Literarische F o r m e n der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 51; durch Schleiermacher als Erklärung in der Einleitung zu seiner Platon-Übersetzung von 1804 prominent gemacht, j e a o c h ein Gedanke, der weit vorher kursiert. Vgl. auch Wolfgang Wieland, Piaton und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. D . Diderot, Le Neveu de Rameau, AT, Bd. 5, S . 4 4 2 .

Strategien

der

Leserlenkung

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verschlüsselte I n f o r m a t i o n k o m m t n u r bei d e m Leser an, der z u r D e k o d i e r u n g bereit ist u n d fähig ist. D a m i t erhält die L e k t ü r e ein M o m e n t v o n Unsicherheit u n d Zufälligkeit, die d e n A u t o r d e m Leser ausliefert. Kulturelle Vermittlung kann n u r d a n n f u n k t i o n i e r e n , w e n n sie sich auf d e n H o r i z o n t des P u b l i k u m s einstellt, auf dessen »outillage mental«. 5 3 D i e Schriftsteller selbst »halten es ü b e r h a u p t f ü r weit leichter u n d gemächlicher, f ü r gebildete Leute, u n d f ü r K ö p f e , die jedem Schriftsteller folgen k ö n n e n , zu schreiben, als w e n n man d e n N u t z e n des bei weiten größeren am Geiste armen H a u f e n s mit in seinen Plan zieht«. 5 4 D a s wird einerseits ü b e r die D i a l o g f o r m bzw. »fingierte M ü n d l i c h keit« versucht; daneben ist das 18. J a h r h u n d e r t eine Zeit voller B e m ü h u n g e n , das P u b l i k u m zu besserem G e s c h m a c k u n d Kunstverständnis zu erziehen. D e r Vorgang der S i n n k o n s t r u k t i o n bei der L e k t ü r e ist eine historischen Veränder u n g e n u n t e r w o r f e n e Fähigkeit. Lesen gehört als K u l t u r t e c h n i k zu jenen menschlichen Fähigkeiten, die sich ü b e r Z e i t r ä u m e der >longue durée< e n t w i k keln. D i e V e r m u t u n g scheint plausibel, daß >neue H e r m e n e u t i k u n d Lektüre< sich nicht quasi naturgegeben durchsetzen, s o n d e r n daß es G e g e n e n t w ü r f e u n d Z w i s c h e n f o r m e n , E i n ü b u n g s p h a s e n u n d Spielräume gab. Ein Text v o n Wieland verdeutlicht das v o r h a n d e n e P r o b l e m b e w u ß t s e i n auf Seiten der A u t o ren (in ähnlicher K o n s t r u k t i o n vgl. Rousseau, Kapitel 6.4). Wieland stellt sich in den Unterredungen mit dem Pfarrer von einem fiktiven Leser, der seine komischen u n d erotischen E r z ä h l u n g e n f ü r unmoralisch hält. N a c h langen G e s p r ä c h e n hat er z w a r d e n Pfarrer n o c h nicht ganz überzeugt, aber sie sind zu F r e u n d e n g e w o r d e n u n d der ehemals d e m A u t o r u n b e k a n n t e Leser r u f t n u n aus: »Es ist d o c h eine herrliche Sache u m G e g e n w a r t , u m s Sehen v o n Angesicht zu Angesicht!« 5 5

3. Strategien der Leserlenkung Es d ü r f t e bereits aufgefallen sein, daß eine Reihe von Texten angesichts der Universalisierung der k o m m u n i k a t i v e n Teilnahme d u r c h Schrift auf M ü n d lichkeit setzen u n d dies s o w o h l auf der E b e n e der T e x t s t r u k t u r ( D i a l o g f o r m als k o m m u n i k a t i o n s t e c h n o l o g i s c h e Strategie) wie des A n e i g n u n g s m o d u s (Vorles e n / L e k t ü r e mit verteilten Rollen). M a n k a n n v e r m u t e n , daß die unterschiedlichen Strategien in einer wesentlichen H i n s i c h t konvergieren: F ü r eine Phase des U b e r g a n g s zu D r u c k als p r i m ä r e m V e r b r e i t u n g s m e d i u m läßt sich eine

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Ein von Lucien Febvre geprägter Begriff; vgl. Rolf Reichardt, Histoire des mentalités, in: IASL 3 (1978), S. 130-166. J. G. Müller, Siegfried von Lindenberg. Ein komischer Roman (1779), Leipzig und Weimar 1984 nach der 5. Auflage 1790, (Hg.) Friedemann Berger, S.258. C. M. Wieland, Unterredungen mit dem Pfarrer von SW, Bd. 30, S. 528.

Dialog zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit

88

Neuorientierung in den Schreibweisen beobachten, die das Verhältnis von Leser und Buch thematisieren und ein Defizit an Kontrolle ersetzen wollen. 5 6 Erzähltechniken werden daher unter dem Gesichtspunkt diskutiert, wie weit sie den Leser zur Annahme der vom Autor proponierten N o r m e n und Tugenden verführen. Schrift macht das Wort beliebig verfügbar für Situationen und K o n texte, Menschen und Intentionen, die nicht überprüfbar sind. >Mündlichkeit< als Gegenmodell beherrscht daher das Argumentationsmuster, selbst bei je unterschiedlichen

Erzählformen.

Ein

Zusammenhang

zwischen

narrativen

Strukturen und Rezeptionslenkung sei anzunehmen, so argumentieren die Dialog-Autoren vor der Wende zum 19.Jahrhundert: Lesen als F o r m der Interaktion mit dem Text werde durch die Wahl der Erzählweise vorausbestimmt. Dialogromane versuchen Visualität und Oralität ohne Ubersetzungsverfahren zu speichern und differenzieren damit einen Texttyp aus, der die Möglichkeiten des Sprechens zu Zwecken des Schreibens verwaltet. 57 Als Ergebnis beschwören die Apologeten der Dialogform Simultaneität der Rezeption statt Nachzeitigkeit, statt Nachvollzug in der Lektüre - und suggerieren, diese mache Verstehensbemühungen überflüssig. Als Poetik entwerfen sie ein Programm, dessen Ziel die Suggestion der Augenzeugenschaft, die Simulation eines optischen Eindrucks bildet, gleichsam als ob die Situation selbst vor Augen stünde. Die Simultaneität muß jedoch anders als in der Theateraufführung durch rein schriftliche Strategien den Leser zum Aufbau einer bildhaften Vorstellung veranlassen (und auch die Theatersituation verändert sich der neuen Illusionstheorie folgend, das Theatererlebnis wird auf Identifikation hin umstrukturiert). 58 Auch andere zeitgenössische Techniken rekurrieren qua Schrift

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Die Komplexität der Situation, im Luhmannschen Sinne das Ensemble der M ö g lichkeiten, zwingt zu Selektion. O b w o h l Selektionen hochgradig gesteuert sind, könnnen sie doch ihr Ziel verfehlen. Kontingenz heißt praktisch Enttäuschungsgefahr und Notwendigkeit, sich auf Risiken einzulassen; J . Habermas/N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 32. Einige Möglichkeiten k ö n nen zeitweilig aktiviert werden, um später wieder verworfen zu werden. Als Lesekontrollverfahren verstehe ich auch Selektion der Texte ( K a n o n ) aus dem Vorrat von Werken, Selektion der Information (Nutzen), quantitative Begrenzung ( A b wehr von Vielleserei) und Dekodierung (Sinn-Hermeneutik) vgl. G e o r g Stanitzek, »O/1 «, »einmal/zweimal« - der K a n o n in der Kommunikation, in: Bernhard D o t z ler (Hg.), Technopathologien, M ü n c h e n 1992.

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F ü r den französischen Bereich hat Sterling gezeigt, daß die Diskussion narrativer Techniken weniger bestimmte F o r m e n bevorzugte als einige fundamentale Prinzipien, etwa in der Unterscheidung von Berichten und Darstellen, von Narration und Dramatisierung die letzteren präferierte, wobei sowohl Brief- wie Dialogroman oder andere Verfahren den Forderungen entsprechen konnten. Elwyn F. Sterling, An Overview of French Theories of Narrative Technique: 1 6 3 0 - 1 8 3 0 , in: Mosaic 4 (1970), S. 6 3 - 7 7 . Vor allem Beleuchtung, Deklamationspraxis, Schminke und Kostüme, Logenanordnung; vgl. Wolfgang Orlich, »Realismus der Illusion - Illusion des Realismus«. Bemerkungen zur Theaterpraxis und Dramentheorie in der Mitte des 1 S.Jahrhunderts, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1984), S . 4 3 1 - 4 4 7 .

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Strategien der

Leserlenkung

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auf Mündlichkeit. Die beiden dialogischen Erzählverfahren, auf der einen Seite die Einführung eines fiktiven Lesers und/oder eines fiktiven Erzählers, die den Wahrheitsanspruch der erzählten Geschichte diskutieren und dem Leser Angebote für die Rezeption des Textes machen (Wielands Agathon, Diderots Jacques le Fataliste),59 auf der anderen Seite die Figurenrede unter Verzicht auf den Erzähler als vermittelnde Instanz - eine »neutrale Erzählsituation«110 (eine Dialogform, die in der Perspektivierung den Anspruch auf Authentizität in die Figuren verlegt) - sind als Differenz zweier alternativer Möglichkeiten zu begreifen, beide Symptome desselben Phänomens, daß nämlich das Erzählen mit Wahrheitsanspruch in Mißkredit geraten ist. Bevor Fiktionalität ganz anders den Anspruch auf Wahrheit beerben kann, versucht man, verlorene Verbindlichkeit zu restituieren. Faktisch geht es darum, einen bestimmten Interaktionstypus mit dem Leser zu inaugieren, eine Poetik, die von Goethe unter dem Vorzeichen von Fiktionalität heftig kritisiert wurde: Sie werden hundertmal gehört haben, daß man nach Lesung eines guten Romans gewünscht hat, den Gegenstand auf dem Theater zu sehen, und wieviel schlechte Dramen sind daher entstanden. Ebenso wollen die Menschen jede interessante Situation gleich in Kupfer gestochen sehen, damit nur ja ihrer Imagination keine Tätigkeit übrigbleibe, so soll alles sinnlich wahr, vollkommen gegenwärtig, dramatisch sein, und das Dramatische selbst soll sich dem wirklich wahren völlig an die Seite stellen. Diesen eigentlich kindischen, barbarischen, abgeschmackten Tendenzen sollte nun der Künstler aus allen Kräften widerstehn. 6 1

Ein anderer Ort, Kommunikation zwischen Leser und Autor herzustellen, ist die Romanvorrede, die jedoch im 18. Jahrhundert zunehmend durch in die Romanhandlung integrierte Reflexionen ersetzt wird. 62 Daneben wird eine neue Theorie des Lesens entworfen, das hermeneutische Lesen, das die Rückbindung der Rezeption an die Autorintention gewährleisten soll. »Das Feuer der

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Auch der dramatische Dialog wird, statt sich ans Publikum zu richten, nun zu einem Austausch der fiktiven Personen umgestaltet, die der Zuschauer nur belauscht, die sich aber nicht mehr direkt an ihn wenden; vgl. Gottfried Willems, Anschaulichkeit. Zu T h e o r i e und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 310. Paul Goetsch, Leserfieuren in der Erzählkunst, in: G R M , N F 33, B d . 6 4 (1983), S. 1 9 9 - 2 1 5 , sowie die dort aufgeführte Literatur. Vgl. Ulrich Broich, Gibt es eine »neutrale Erzählsituation«?, in: G R M N F 33, B d . 6 4 (1983), S. 1 2 9 - 1 4 5 ; er tritt der herrschenden Ansicht entgegen, daß diese E r zählform in R o m a n e n , d.h. über längere Strecken, nicht durchgehalten werden könne. Goethe an Schiller am 23. D e z e m b e r 1797, W A IV, Bd. 12, S . 3 8 2 . Vgl. Ernst Weber, Die poetologische Selbstreflexion im deutschen R o m a n des 18.Jahrhunderts. Z u r Theorie und Praxis von » R o m a n « , »Historie« und pragmatischem R o m a n , Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1974. Shaftesbury hatte diese F o r m des selbstdarstellerischen Beiwerks zum Buch bezeichnenderweise ebenfalls als E r satz für die im Medium Schrift nicht mögliche Anwesenheit des Autors interpretiert; »whose Epistles Dedicatory, Prefaces, and Addresses to the Reader, are so

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Dialog zwischen Schriftlichkeit und

Mündlichkeit

Phantasie ( . . . ) glüht jeden Leser an, der es versteht, ein Buch in eine Person und tote Buchstaben in Sprache zu verwandeln; alsdenn hört man und denkt und fühlt mit dem Autor. Kannst du aber, lieber Leser! nichts als lesen, nicht die Lücken, die dir überlassen wurden, in Gedanken selbst ausfüllen, nicht weiterdenken« 63 - dann muß der Autor stärkere Mittel auffahren. N o c h längst sei nicht jeder Leser geschult genug; durch Unmittelbarkeit des Erzählens und Verlebendigung soll daher eine der dem Sichtbaren analoge Gegenwärtigkeit des schriftlich Fixierten geschaffen werden. Also wählt der Schriftsteller die Dialogform, von der er annimmt, sie sei in besonderer Weise geeignet, die Rezeption zu regulieren und nicht der frei wirkenden Leserphantasie zu überlassen. Im übrigen liegt der sachlogische Zusammenhang zu den Leserfiguren, als im Text ausdrücklich gekennzeichneter Leserlenkung, als Alternative der Lektürekontrolle auf der Hand. In beiden Fällen ist der Problembezug derselbe, schließlich erhoffen sich die Autoren Leser, »die mich gerade so lesen, wie ichs wünsche«. 6 4 Indem Leserreaktionen durch einen fiktiven Leser vorweggenommen werden, versucht der Erzähler, der den Einwürfen Rechnung zu tragen scheint, den realen Leser zu steuern. Schematisch umrissen ist damit eine projektierte Reihenbildung von Texten, die (immer gelesen vor der Leitdifferenz schriftlich/mündlich) in einer bestimmten historischen Situation je unterschiedliche narrative Strategien wählen. Durch die scheinbare Ausschaltung eines Autors bei Dialogromanen wie bei Briefromanen schafft der literarische Zugriff den Eindruck einer nicht deformierten, unberührten Abbildung von Wirklichkeit. Als authentisch deklarierte, vorgeblich nicht durch die subjektive Bearbeitung eines Autors entstellte >Natur< ist dies Literaturprogramm also Bedingung und Hoffnung des Projekts. Das ersehnte unmittelbare Verständnis soll vom Theater erborgt werden: Die Szenen erscheinen nicht als Vergangenes, sondern als unmittelbar vor dem Leser Gegenwärtiges. Dialoge konstituieren den Versuch, die Vorteile mündlicher mit der schriftlicher K o m munikation zu kombinieren und so ihre spezifischen Nachteile auszuschalten. 6 5 Dialogtexte seien hier als alternatives Konzept verstanden, das in auffallender Weise der oben beschriebenen Umbausituation korrespondiert, d.h.

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many affected Graces, design'd to draw the Attention from the Subject towards Himself; and make it be generally observ'd, not so much what he says, as what he appears, or is, and what figure he already makes, or hopes to make in the fashionable World«. A. Shaftesbury, Soliloquy, a . a . O . , S . 2 0 0 . J . G . Herder, Fragmente, Eine Beilage zu den Briefen, die neueste Literatur betreffend, Erste Sammlung ( 1 7 6 6 - 6 7 ) , SW, Bd. 1, S . 2 2 2 . Vgl. zur Geschichte hermeneutischer Lektüretechnik (»Verstehen als wiederholende, vom Text ausgehende und in eigener Verantwortung den Sinn erarbeitende Rekonstruktion des Schreibens«) im Gegensatz zum Verstehen als einer genauen Umkehrung des Schreibens vgl. Klaus Weimar, Interpretationsweisen bis 1850, in: D V j s 61 (1987), S. 1 5 2 - 1 7 3 . C . M . Wieland, Unterredungen mit dem Pfarrer von SW, Bd. 30, S . 4 4 3 . So paradox sich diese Dialogtheorie aus der heutigen Perspektive auch anhören mag, so ist sie durchaus nicht auf das 18.Jahrhundert beschränkt. D e r Überzeugung,

Strategien der

Leserlenkung

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eine Schreibweise entwirft, die sich, mangels Erfolg, als die >Verlierervariante< entpuppt, doch als Indiz für die Reflexion auf Kommunikationszusammenhänge zu werten ist. Die Konjunktur der Dialogform ist in engem Zusammenhang der Illusionierungsstrategien des Theaters, der Kritik am falschen Leseverhalten und Erziehung zur >richtigen< Rezeption erzählerischer Fiktion zu sehen. Neue, literarisch unerfahrene Lesergruppen verwechseln Literatur und Leben und lesen Romane mit distanzloser Identifikation. Für den Erfolg literarischer Kommunikation sucht der Romanschriftsteller daher, sich verständige Leser zu bilden. Ein Teil der Autoren favorisiert den Dialog als Kommunikationssicherung. Sie glauben, dem Leser die rechte Imaginationskraft so lange zu ersetzen, bis seine Erziehung zum >selbstthätigen Lesen< abgeschlossen ist. D i e Genese einer F o r m aus kommunikationstechnologischen

Überle-

gungen sollte nachgezeichnet werden. Als Medienstrategie wird sie mit der Autonomieästhetik und dem neuen Status von Fiktion obsolet, ist damit aber als ästhetische Möglichkeit im Repertoire von literarischer Formensprache freigesetzt, ohne nun mehr an Interessen zur Reduzierung der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation gebunden zu sein. Diese Überlegungen zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich Ende des 18.Jahrhunderts zwei gegenläufige Tendenzen beobachten lassen: der Versuch der Restituierung von Mündlichkeit und die Ausbreitung der Schriftkultur. Beide zeichnen für die Konjunktur des Dialogs verantwortlich. Gerade unter Zuhilfenahme von Elementen oraler Tradition wird die Literarisierung neuer Bevölkerungsschichten in Angriff genommen. Es erstaunt nicht, daß der Begriff bald auch zum Gegenstand theoretischer Betrachtungen wurde. Äußerungen aus dem 1 S.Jahrhundert selbst dokumentieren nicht nur das wachsende Interesse am Dialog als poetischer Form, sie haben vielmehr den Charakter eines Symptoms für zunehmende Aufmerksamkeit auf die Materialitäten von Kommunikation. Gegenstand der hier vorliegenden Arbeit ist eine detaillierte Typologie der um 1800 entworfenen Strategien auf der Folie Schriftlichkeit/Mündlichkeit und zugleich die Frage nach der Reflexivität des Prozesses. Dialogromane basieren zwar auf Schrift, sind aber ein Beleg dafür, daß Ende des 18. Jahrhunderts noch verschiedene Praktiken von Schrift, Schriftfixierung und -Übermittlung existieren. Daß die Texte mit ihrem Anspruch auf Mündlichkeit eine unausweichlich paradoxe Situation schaffen (Schrift soll Schrift überflüssig machen, Infor-

»der natürlichen Rede entspricht am meisten die Prosa und innerhalb der Prosa das Gespräch« (Rudolf Hirzel, Der Dialog, Bd. 2, S. 3 8 7 ) ist erst von der linguistischen Gesprächsforschung entgegengetreten worden. Das Gegenmodell zu diesem Versuch, Mündlichkeit in den Bereich von Schrift zu übertragen, bilden Texte, die genuin schriftliche Strategien (z.B. Überschriften, Textgliederung, Kapiteleinteilung, Anführungszeichen, Majuskeln und Minuskeln, Typographie u.a.) wählen bzw. auf das Medium Schrift aufmerksam machen, wie etwa Laurence Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy.

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Dialog zwischen Schriftlichkeit

und

Mündlichkeit

mation und Verstehen ohne Mitteilung funktionieren) ist einer der Gründe für ihren Mißerfolg. Ihr Programm erweist sich als unaufhebbare Paradoxie, doch der Dialog bleibt und wird zum Stil. 66

4. Theoretische Vorgaben. Engels und Blanckenburgs Erzähltheorien Das oben beschriebene Frageraster (theoretisches Programm/Selbstzuschreibung und Verwendung des Dialogs in den einzelnen Texten) soll im folgenden an exemplarischen Texten mehrsträngig rekonstruiert werden. O h n e trennscharfe Grenzen zu postulieren, lassen sich doch unterschiedliche Motive für die Verwendung der Dialogform annehmen, deren Hintergrund aber stets eine Art Metakommunikation bildet, nämlich der Anspruch, veränderten K o m m u nikations- und Interaktionsverhältnissen durch mündliche Strategien zu begegnen. Die Frage nach dem Zusammenhang zu Schriftkritik wird uns im folgenden nicht verlassen. Die extrem divergierende Variationsbreite dieser literarischen Form wird in Einzelanalysen vorgeführt, die wiederum zu G r u n d m u stern gruppiert werden können. Der Durchgang durch verschiedene Kontexte kann dabei als eine Geschichte der Reflexion auf Schrift gelesen werden. Zunächst konturiert sich der >Dialog< vor dem Hintergrund »bloßer Erzehlung«. Die Dialogform sei prädestiniert, dem Leser die >Halluzinierung< anders zu ermöglichen als >reine Erzählung< dies vermöchte - so das Programm. Durch spezielle textuelle Verfahren soll »ideale Gegenwart« erzeugt, der Leser einer optischen Sinnesreizen analogen Wirkung ausgesetzt werden. Friedrich v. Blanckenburg, aus dessen 1774 erschienenem Versuch über den Roman die Begriffe stammen, entwirft das poetologische Programm; als eigentlicher Theoretiker gilt J. J. Engel. Beide sind gleichermaßen von der Wichtigkeit der >Vergegenwärtigung< überzeugt. Einigkeit herrscht, daß unmittelbare der mittelbaren Erzählweise überlegen sei. Das wirkungsästhetische Interesse ist >Rührungchose imitée< und >chose qui imite< hinfällig werden lassen, nach Kongruenz von tatsächlicher Wirklichkeit und fiktionaler Wiedergabe, wird in der Spiegelmetapher deutlich, die Shaftesbury eingeführt, aber auch entscheidend erweitert hatte: Er habe erkannt, daß neben der Schwierigkeit der Manier selbst und jenem Spiegelcharakter, den sie in bezug auf uns selbst besäße, sie auch notwendig für das Zeitalter eine Art von Spiegel sei. 9 5 Shaftesburys Formulierung sollte jedoch anders aufgenommen werden, als er selbst dies anvisierte: Die Dialogform ist vornehmlich Spiegel eines Problemkomplexes. Wie dieser Uberblick über den theoretischen Diskurs der sechziger und siebziger Jahre ergab, charakterisiert den Dialog die starke Anbindung an Fragen der Vermittlung und der Kommunikation. Die Effekte, die man im Blick hat, verdanken sich einer Schriftkritik, die dem abgelehnten Medium mündliche Vergegenwärtigung entgegensetzt.

5. »Das Wörterbuch der einfältigen Natur«: 96 Das Problem der Inkommunikabilität in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so stumm und verlegen! O d e r wenn sie Worte findet, so verwirrt und unvernünftig und sich selber zur Scham! (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

>Naives Sprechen< und Transparenz zwischen Innenleben und äußerem Verhalten stehen nicht nur auf dem Programm der Dialogschreiber, sondern finden sich als in bestimmten Diskursen wiederkehrender, zumindest prospektiv angestrebter Imperativ: Empfindsame Kommunikation oder der weibliche Geschlechtscharakter wurden über den Begriff der Aufrichtigkeit auf Identität von Innen und Außen verpflichtet. 9 7 Die Dialogisten entwickeln das erzähl94

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Fr. T. Hase, Vorrede zu Gustav Aldermann (1779), unpaginiert, (Hg.) Eva Becker, Nachdruck Stuttgart 1964. A. Shaftesbury, Soliloquy, a . a . O . , S. 199. J . Α. Schlegel, Herrn A b b t Batteux Einschränkung.., a . a . O . , S . 3 9 2 . Z u m Diskurs über >Weiblichkeit< bzw. zum Deutungsmuster Geschlechterdifferenz vgl. Karin Hausen, D i e Polarisierung der Geschlechtscharaktere, in: H . R o s e n b a u m (Hg.), Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt/Main 1978, S. 1 6 1 - 1 9 1 ; Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, F r a n k -

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Dialog zwischen

Schriftlichkeit

und

Mündlichkeit

theoretische Programm dazu: Literarische Physiognomik könnte man es nennen oder Rückkehr zur analogen Kommunikation, 9 8 in der Dinge nicht mehr durch Begriffe bezeichnet werden, sondern durch Ähnlichkeiten, durch Analogien. Uber die Annäherung an die »analogischen Reproduktionen der Wirklichkeit« - Zeichnungen, Gemälde, Theater sucht der Dialog Anschluß, an das, was er für »Botschaften ohne Code« h ä l t . " Die besondere Nähe der nachahmenden Künste Theater und Malerei zu den abgebildeten Gegenständen wird von der Poetik des 18.Jahrhunderts unter der Chiffre >Natur< zum entscheidenden Merkmal erhoben. Die Zurechnung auf Natur ist selbstverständlich ein Artefakt, eine Konstruktion. Daß Texte aber nicht nur Natur darstellen, sondern auch >Natur< sein wollen, läßt sich an den Dialogtexten belegen. So kann das höchste Lob für einen Dialogschreiber dann auch nur heißen: »il dialogue comme la nature«. 100 Rede als »des Hertzes und der Gedanken treue Dollmetscherin« (Harsdörffer) ist ein Topos mit langer Tradition, der in der Empfindsamkeit als Forderung nach Natürlichkeit zu neuer Konjunktur gelangt. Im Rückgriff auf solche Topoi bleibt die Dialogpoetik einer Sprachauffassung, die von einer repräsentativen Rolle der Sprache für das Denken ausgeht, verhaftet und noch optimistisch, was die Deckungsgleichheit von >res et verba< angeht. Andernorts wird der Zweifel am Verstehen über die Möglichkeit zur Lüge, die die Sprache bietet, bereits thematisiert: Die ersten Menschen haben bey ihren Reden keinen anderen Zwek haben können, als einander ihre Gedanken bekannt zu machen, und wenn sie und ihre Kinder die angeschafne Unschuld bewahret hätten, so wäre ihre Rede nach ihrer wahren B e stimmung ein offenherziges Bild dessen, was in eines jeden Herzen vorgegangen wäre ( . . . ) . Jedermann weiß, daß die Sprache von den izigen Menschen meistentheils gebraucht wird, andern zu sagen, was sie nicht denken noch empfinden, so daß die Rede demnach sehr selten ein Zeichen ihrer Gedanken ist.' 0 1

An die Stelle älterer Darstellungen, ausgehend von einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem, tritt die willkürliche Zuord-

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furt/Main 1979; Claudia Honegger, D i e Ordnung der Geschlechter. D i e Wissenschaften vom Menschen und aas Weib 1 7 5 0 - 1 8 5 0 , Frankfurt/Main, N e w York 1991. Vgl. Andreas Käuser, Physiognomik und R o m a n im 18.Jahrhundert, Frankfurt/ Main, Bern, N e w York, Paris 1989; zum Begriff der analogen Kommunikation vgl. Paul Watzlawick/Janet H . Beavin/Donald D . Jackson, Menschliche K o m m u n i k a tion. F o r m e n , Störungen, Paradoxien, B e r n , Stuttgart, Wien 1985, S. 6 1 - 6 8 . Roland Barthes, D i e Fotografie als Botschaft, S. 13, in: R. B., D e r entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main 1990. Das auch diese >Kopien< nicht ohne Code als bloße Denotation arbeiten, hat Barthes im zitierten Essai an der Fotografie vorgeführt. Encyclopédie, Artikel »Dialogue«, B d . 4 , S . 9 3 7 . C . M . Wieland, Abhandlung vom Naiven (1755), A I, Bd. 4, S. 15/16. Vgl. Harald Weinrich, Linguistik der Lüge, Heidelberg 1970.

Das Problem

der

Inkommunikabilität

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nung, damit wird Sprache als Mittel der Verständigung zum Problem. »Das Paradoxon der neuen Kommunikationssituation besteht in der Verbindung von grenzenloser Mitteilsamkeit einerseits und unüberbrückbarer Verständigungslosigkeit andererseits«. 102 Kommunikation wird im 18.Jahrhundert zur zwiespältigen Erfahrung. Zum einen wird sie die wichtigste Dimension sozialen Lebens, doch gleichzeitig geht sie mit der Entdeckung von Inkommunikabilität einher, etwa der Schwierigkeit, überzeugend die Aufrichtigkeit zu beteuern. 103 Man entdeckt die Problematik von Kommunikation, die Möglichkeit von Nichtverstehen, das prekäre Verhältnis von >Schein< und >SeinPantomime< der E n c y c l o p é die behauptet, durch Gesten könne nicht nur der »sens propre« von Worten, sondern auch der »sens figuré« dargestellt werden. (Bd. 11, S. 828) So etwa J . H . Eberhard, Handbuch der Aesthetik für gebildete Leser aus allen Ständen in Briefen, Bd. 3, Halle 1804, S.7. Vgl. zum Einsatz von »Pantomime« auch Kapitel 6.3. J . A . Schlegel, Herrn A b b t Batteux Einschränkung . . . , a . a . O . , S . 3 9 1 / 3 9 2 .

Das Problem der

Inkommunikabilität

105

keine Wörtersprache übersetzen lassen«.119 D i e M i m i k dagegen vermag Leidenschaft

in a l l e n S c h a t t i e r u n g e n

Ausdruck

zu

geben. Voller

Bewegung

schweigt Clairant. D e r Souffleur sagte leise, dann lauter weiter vor. Clairant hörte nichts. E r bedeckte mit der Hand das Auge, das voll Tränen hing, Clara sah ihn an. Sein Ton war ihr durch die Seele gegangen. Sie sank auf seine Schulter. Ihre Tränen vermischten sich. E s entstand eine Pause, in der dem Souffleur der Angstschweiß ausbrach und die keiner der Zuschauer bemerkte. Die glaubten die schönsten Verse zu hören und hörten nichts als Seufzer der Liebe. Die Natur ist der beste Dichter. Clara besann sich zuerst wieder. D e r Dialog hob wieder a n . 1 2 0

D a s P u b l i k u m bedarf der Vermittlung d u r c h R e d e nicht, B e d e u t u n g m u ß ihm n i c h t >souffliert< w e r d e n . O b w o h l n i c h t m e h r g e s p r o c h e n w i r d , l ä u f t d e r D i a l o g w e i t e r , d i e Z u s c h a u e r e r l i e g e n d e r T ä u s c h u n g d u r c h d i e » B e r e d s a m k e i t des K ö r p e r s « 1 2 1 s o s e h r , d a ß sie W o r t e z u h ö r e n v e r m e i n e n . D e r A r t i k u l i e r u n g des N i c h t a r t i k u l i e r b a r e n vermag n o n v e r b a l e K o m m u n i k a t i o n A u s d r u c k z u geben.122 D i e K r i t i k k o n z e n t r i e r t e s i c h a l s o z u n ä c h s t a u f die d e r H e r m e n e u t i k b e d ü r f t i g e , s u b j e k t i v e r I n t e r p r e t a t i o n a n h e i m g e g e b e n e >willkürliche< S p r a c h e bis hin z u r Stereotypisierung dieser Klage. D e m artifiziellen

Kommunikations-

m e d i u m d i s k u r s i v e r R e d e w i r d das >natürliche< d e r G e s t e n g e g e n ü b e r g e s t e l l t . D o c h s c h n e l l stellt m a n fest, d a ß a u c h a n s c h e i n e n d u n w i l l k ü r l i c h e G e b ä r d e n täuschen: Livia. U n d das sagst du mir ohne roth zu werden, Faustina? Faustina erröthend. Ich? Worüber sollte ich roth werden? Livia. Die Frage ist sonderbar genug ( . . . ) . Warum wurdest du denn jetzt roth? Faustina. Das ist meine Art so, Julia: ich erröthe immer, wenn man will, daß ich erröthen soll. 1 2 3

119 120

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123

C . M. Wieland, Geschichte des weisen Danischmend, SW, Bd. 8, S. 85. A . H . J . Lafontaine, a.a.O., S . 6 6 . Vgl. Dietrich Naumann, Das Werk August L a f o n taines und das Problem der Trivialität, in: H e i n z O t t o Burger (Hg.), Studien zur Trivialliteratur, Frankfurt/Main 2. Auflage 1976, S. 8 2 - 1 0 0 . G . E . Lessing, Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, L M , B d . 4 , S. 54. Vgl. zur Unterscheidung einer »langue du geste« von einer »langue de la voix« und ihrer gegenseitigen Beziehung auch das erste Kapitel (Des divers moyens de c o m muniquer nos pensées) von Diderots Essai sur l'origine des langues; zu Diderot und Rousseau vgl. Peter Eugen Stähli, Gestus und Wort. Sprachtheorie und literarische Praxis bei Diderot, Diss. Zürich 1986. Zu Rousseaus in der Nouvelle Héloise formulierten Wunsch, sich unmittelbar zu verständigen, ohne von K ö r p e r und Sinnen abhängig zu sein, der das hier skizzierte Phänomen noch einmal überschreitet, vgl. J e a n Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, München, Wien 1988, S. 2 0 7 - 2 4 7 . C . M . Wieland, Göttergespräche, SW, Bd. 2 5 , S. 18.

106

Dialog zwischen Schriftlichkeit

und

Mündlichkeit

und daß sie soziale und nationale Unterschiede aufweisen. »Der gemeinste und der am besten erzogene Mensch reden einerley Sprache, (...) aber wie erstaunlich verschieden sind ihre Pantomimen und ihre Gesticulationen«, 124 daher trifft auch auf sie zu, daß sie dem Verdacht verfallen, mißverständlich oder täuschend zu sein. Der Körper kann seine Funktion als Indikator für psychische Vorgänge nicht erfüllen. Die Widerlegung der These von der universalen Verständlichkeit nonverbaler Sprache hat Diderot im Brief über die Taubstummen unternommen, in dem er von seinem Experiment berichtet, Theaterstücke mit verstopften Ohren anzusehen. So seines Hörsinns beraubt und nur auf die visuellen Eindrücke verwiesen, lacht und schluchzt er an Stellen, die sich den Hörenden ganz anders darbieten. Seine Zeitgenossen müssen entdecken, daß Auftreten im Hinblick auf die Wahrnehmung anderer nuancierbar ist, daß verbale Kommunikation falsch interpretiert werden kann, daß Blicke auch nur die Oberfläche beobachtbaren Verhaltens erreichen, »Bewegungen der Hände nicht blos natürliche Zeichen« sind, sondern auch nur »conventioneile Bedeutung« haben. 125 Das Problem des Durchschauens von Verstellung wird eines von Interaktion schlechthin. Der Verdacht, daß Motive nur vorgetäuscht seien, die Menschen anders reden als sie denken, ist universell applizierbar: jede, auch jede nichtsprachliche Äußerung kann Lüge sein. Das Zeitalter träumt daher den Traum von einer universellen Sprache, die von allen Mehrdeutigkeiten und allem Arbiträren gereinigt ist. Charakteristikum utopischer Sprachen ist die fehlende Möglichkeit zur Lüge, der Verzicht auf semantiche Vieldeutigkeit, die Transparenz zwischen Wort und Bedeutung. Da aber ohne diese Eigenschaften keine Sprache denkbar ist, versucht utopische Sprache sich einer Verständigung ohne Worte anzunähern. 126 Jonathan Swift hat schon sehr früh die Absurdität dieses Versuchs vorgeführt. Der Drang weg von der als unzulänglich empfundenen Sprache kulminiert in der sprachlosen Verständigung über analoge Kommunikation, vollends radikalisiert in der »Akademie der Projektemacher« im Land Balnibarbi im Roman Gulliver's Travels. Eines der Projekte der Sprachenabteilung zielt darauf, daß auf die Benutzung von Worten ganz verzichtet werden kann. Die Projektmacher erarbeiten »a Scheme for entirely abolishing all Words whatsoever«. 127 Verständigung funktioniert nur mehr über das Vorzeigen der Dinge statt ihrer Benennung, »since words are only Names for Things«. 128 Eine radikalere Lö124

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Christian Garve, Ueber die Moden (1792), in: C . G . : Popularphilosophische Schriften, Bd. 1, S. 471. G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, L M , Bd. 9, S. 198. Vgl. Michael Winter, Utopische Anthropologie und exotischer Code. Zur Sprache und Erzählstruktur des utopischen Reiseromans im 18. Jh., in: Wolfgang Haubrichs (Hg.), Erzählforschung 3, Göttingen 1978, S. 1 3 5 - 1 7 5 . Jonathan Swift, Gulliver's Travels (1726), (Hg.) Herbert Davis, Oxford 1965, S. 185. Vgl. auch die Sprache der Houynhnms, die kein Wort in ihrer Sprache haben, um Lüge oder Unwahrheit zu bezeichnen.

Das Problem der

Inkommunikabilität

107

sung des Sprachproblems wird man sich ohne weiteres kaum vorstellen können. Aber der »Traum vom reinen Sprechen«' 29 wird zum Kompromiß verurteilt bleiben. »Was geschehen ist, können wir nicht zurücknehmen; die Buchdruckerei ist da«. 130 Der Drang nach Deutlichkeit dagegen wird den Lesern schon viel eher unangenehm: »Unsere witzige Prose hat, nach den meisten Büchern zu rechnen, noch den Ton der alten Wochenschriften, deutlich, und bis zum Gähnen deutlich zu seyn«. 131 Friedrich Schlegel wird ihm in seinem Essay Über die Unverständlichkeit beipflichten und diese ganz im Gegensatz zur aufklärerischen Forderung nach Verständlichkeit positiv bestimmen - mit weitreichenden Konsequenzen für die Literaturtheorie. Erst der erklärungs- und interpretationsbedürftige Text kann Klassizität beanspruchen: »Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können«. 132

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Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Parderborn, München, Wien, Zürich 1981, S.48. J . G . Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, SW, Bd. 17, S.305. J. G. Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente (Erste Sammlung), SW, Bd. 1, S.211. E Schlegel, Über die Unverständlichkeit, KA, Bd. 2, S.371. Die Vermutung drängt sich auf, daß diese Bestimmung des Klassischen mit Verschriftlichung zusammenhängt. N u r auf der Grundlage, daß die »moderne P(oesie) durchaus für Lektüre bestimmt, wie die alte für Schauspiel, Gesang, Rhaps(odie) pp« (F. Schlegel, LN, Nr. 1706, S. 174) kann ja die mehrfach wiederholte Lektüre zum Kriterium für Klassizität avancieren.

»Buchdramen«: Dialog als szenische Schreibform

1. »Wirrwarr« oder »Mischgedicht« ? »Der Dialog erfährt im 18.Jahrhundert eine ganz besondere Pflege. Lessing führt den Prosadialog in seinen Dramen auf die Höhe und wird das Muster, an dem sich die Grössten bilden. Ausserdem beschäftigt man sich eifrig mit Piatos Dialogen und theoretisiert über das Wesen der Gesprächsform. Mit dem Sturm und Drang erwacht das Bestreben, alles zu dramatisieren, mindestens zu dialogisieren. Neben den Erzählungen, Skizzen, Romanen treten als eine selbständige Form die >Dialogen< auf und man schreibt grosse »historischdramatische Gemähldehöherer Absicht* kann im Falle der spätaufklärerischen Romane, die in der Regel nur zu belehren wünschen, nur selten die Rede sein. Die Prosa vor der Jahrhundertwende zeichnet sich durch die Koexistenz konkurrierender Schreibweisen aus, und auch der Dialog als Erzählform verleitet einige Schriftsteller zum Experimentieren. Da der Roman keine kanonisch festgelegte Form, sondern eine in ihren Ausprägungen noch offene Prosagattung ohne feste Richtlinien und Maßstäbe bildet, ist mehr als alles andere seine Wandlungsfähigkeit der gemeinsame Nenner dieser Epoche. Der auktoriale Erzähler ist keineswegs das dominante Erzählverfahren in den Jahrzehnten vor 1800, eingelegt werden Szenen, Dialoge, Briefe, Digressionen, Märchen, Tagebuchein-

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5 6

Vgl. die Titelliste im Exkurs. Zu den österreichischen, mir bis auf wenige A u s n a h men nicht zugänglichen Texten vgl. Lesli Bodi, Tauwetter in Wien. Z u r Prosa der österreichischen A u f k l ä r u n g 1781-1795, F r a n k f u r t / M a i n 1977; Werner M. Bauer, Dichtungstheorie u n d Erscheinungsformen des österreichischen R o m a n s vom 18. z u m 19.Jahrhundert, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Eine D o k u m e n t a t i o n ihrer literarhistorischen Entwicklung, G r a z 1979, S. 623-652. Vgl. z u d e m das Kapitel 2 über den bekannten F u n d u s der Dialogtradition. G. E. Lessing, H a m b u r g i s c h e Dramaturgie, LM, Bd. 9, S. 390.

» Wirrwarr« oder »Mischgedicht«Î

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tragungen, Gedichte, Novellen, Abhandlungen, Predigten, Kommentare, moralische Weisheiten in jeder nur denkbaren Kombination - oft ohne jede Kohärenz. Auf den Begriff bringt das ein Roman wie der anonym erschienene Wilhelm Silberfels der Jüngling, in dem Dialogpassagen mit Briefen, Tagebucheintragungen, Gedichten und Erzählung einander abwechseln und der dies im Untertitel unverhohlen bekennt: »Ein poetischprosaischer, epistolischer, dramatisierter, philosophischpolitischer und theologischer Wirrwarr«. 7 Die wenigsten Romane dieser Zeit sind durchstrukturierte, von einem fiktiven Erzähler vorgetragene Erzählungen, die dem Bildungsroman nacheifern und an ihm gemessen werden können, obwohl sich mit der Blanckenburg-Rezeption ein starkes Interesse an Entwicklungsgeschichten, an Darstellung des »inneren Seyns« gebildet hatte. Ein Großteil der Romanschreiber bedient sich frei im Formenrepertoire. Christoph Friedrich Bretzner hat in seinem Roman Das Lehen eines Lüderlichen. Ein moralisch=satyrisches Gemälde nach Chodowiecki und Hogarth (1787-1788) schon mit seinen Kapitelüberschriften die Heterogenität seines Romans, in dem auch Dialoge eine (wenn auch untergeordnete) Rolle spielen, signalisiert: Bd. 1, Kapitel 5, »Genie=Spuren«, Kapitel 6: »Nöthige Vorbereitung zur praktischen Kenntniß der Welt, nebst einem schönen moralischen Sermon«, Kapitel 7 »Der Held tritt seine Reise nach der Pflanzschule der Gelehrsamkeit an«, Kapitel 15 »Ein Pröbchen weiblicher Neugierde, nebst einigen Fragmenten einer Küchendisputation und moralischen Predigt«, Bd. 2, Kapitel 1 »Folgen weiblicher Neugierde, nebst einer kritischen Sophasszene«, Kapitel 2 »Schöne Vermahnungen eines sterbenden Tugendhaften und recht gute Vorsätze«, Kapitel 3 »Heilige Betheurungen und Schwüre ewiger Liebe; ein Duodrama in einer Immergrünlaube und eine unparteiische Rezension«, Kapitel 15 »Eine mitternächtliche Szene mit Sturm und Drang, Graus und Verzweiflung; hinterher Trost und Freude, und Seegen des Himmels obendrein«, Kapitel 16 »Ein Intermezzo«, Kapitel 17 »Ein Change Vite!«, Bd.3, Kapitel 5 »Herzenserleichterungen; erneuerte Freundschaft, Reu und Leid, Früchte der Buße, nebst angehängtem überflüßigem Raisonnement«, Kapitel 18 »Scene à la Werther«, Kapitel 27 »Finale«.8 Die Erfindungslust neuer Gattungsbezeichnungen kennt keine Grenzen. August Friedrich Ernst Langbein glaubt allerdings seinen Titel Talismane gegen die lange Weile erläutern zu müssen: Talismane sind, bekannter Maßen, Zauberzeichen und Bannsprüche, die von dem Aberglauben, besonders im Morgenlande, auf Metall eingegraben, und als Halsoder Brustgehänge getragen, um sich vor mancherley Plagen zu schützen. Da nun

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anonym, Wilhelm Silberfels der Jüngling. Ein poetischprosaischer, epistolischer, dramatisierter, philosophischpolitischer und theologischer Wirrwarr, Leipzig 1781. Christoph Friedrich Bretzner, Das Leben eines Lüderlichen. Ein moralisch=satyrisches Gemälde nach Chodowiecki und Hogarth, Leipzig 1787-88, 3 Bde.

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•Buchdramen«:

Dialog als szenische

Schreibform

die lange Weile, wie ein schweres Hauskreuz, viele Menschen drückt, so läßt sich hoffentlich, in dieser Betrachtung, die Wahl des vorstehenden Titels vertheidigen«. 9

In Fr. Th. Hases Geschichte eines Genies, in dem die Hauptfigur zum Genie erzogen wird und deshalb die Namen von sieben römischen Kaisern erhält, aber nur kurz Cäsar genannt wird, will der Protagonist Autor werden und hat auch schon Pläne für Veröffentlichungen: »Reisen eines Genies, Leben und Meinungen eines Genies etc; ebenso wie es jetzt -zig Robinsons oder Klostergeschichten gibt, deren Titel nicht unbedingt etwas mit dem Inhalt zu tun haben müssen; bis das Wort Genie auf so vielen Titeln glänzte, als etwa das Wort empfindsam«. 10 Einige Bezeichnungen kristallisieren sich in diesem Gattungspotpourri als besonders beliebt: »Szenen«, »Unterhaltungen« und »Gemählde«. Insgesamt, so sind sich die drei Verfasser von synchronen Querschnittuntersuchungen einig, läßt sich »a considerable variety of form and narrative techniques« 11 konstatieren, oft in einem Werk. »Mixed narratives«, so Heiderich, sind verbreiteter als reine Formen. Er selbst führt nur zwei Dialogromane auf, daneben aber unzählige weitere Romane, die Dialoge integrieren. Möglicherweise sind Kleinteiligkeit, Varietät und deutliche Unterteilung der häufig so seitenreichen Romane dem Leser willkommene Abwechslung. Rudolf Schenda hat auf die begrenzte Konzentrationsfähigkeit und Ungeübtheit vieler Leser in der Lektüre langer Druckwerke zurückgeführt, daß in kleine Szenen und Kapitel zerlegte Romane, Perodika oder andere >dosierteVerflechtung< narrativer Techniken favorisieren und behaupten, »daß ein Werk um so dichterischer ist, je eine zusammengesetztere Form es hat«. 13 »Form und Einkleidung des Romans sind sehr mannigfaltig; und sehr oft kann selbst ihre Abwechselung in Einem einzigen Ganzen den Werth desselben erhöhen«, 14 resümiert Johann Joachim Eschenburg das experimentier-

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August Friedrich Ernst Langbein, Talismane gegen die lange Weile, Erste Sammlung, Berlin 1801, Vorrede. Fr. T h . Hase, Geschichte eines Genies, Leipzig 1780, S. 209. Manfred W. Heiderich, T h e German Novel of 1800. A study of Popular Prose Fiction, Bern und Frankfurt/Main 1982, S.20; vgl. Eva Becker, D e r deutsche R o m a n um 1780, Stuttgart 1964 und Michael Hadley, T h e G e r m a n Novel in 1790. A descriptive A c c o u n t and Critical Bibliography, B e r n 1973. R u d o l f Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte populärer Lesestoffe 1 7 7 0 - 1 9 1 0 , Frankfurt/Main 1970, S . 4 7 6 . J . J . Engel, Anfangsgründe .., Schriften, Bd. 11, S . 5 6 1 . J . J . Eschenburg, Entwurf einer T h e o r i e und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage b e y Vorlesungen (1783), Berlin und Stettin, Reprint Hildesheim 1976, S . 2 6 7 .

»Wirrwarr« oder

»Mischgedicht«?

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freudige Klima und die fortgeschrittene Differenzierung der erzählerischen Mittel dieser Epoche. Die Kontinuität von aufklärerischer und romantischer Romantheorie offenbart sich an diesem Punkt, denn Friedrich Schlegel hat in seinen Fragmenten dieser These beigepflichtet. Erst die »Verflechtung heterogener Bestandteile« unterscheide den Roman als typisch romantische Dichtungsform von allen strengen Formen: »Das Wesentliche im Roman ist die chaotische Form«. 15 Im Gegensatz zu seiner sonst selten widerspruchsfreien Begrifflichkeit bleibt Schlegel in seiner Theorie des Romans als »Mischgedicht« 16 in Fragmenten wie in poetologischen Texten oder Notizheften eindeutig. »Ja ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und andern Formen«, hatte Schlegel im Gespräch über die Poesie angedeutet und dies in seiner Geschichte der europäischen Literatur näher ausgeführt. D e r Begriff des Romans ( . . . ) ist der eines romantischen Buches, einer romantischen Komposition, w o alle Formen und Gattungen vermischt und verschlungen sind. Im R o m a n ist die Hauptmasse Prosa, eine mannigfaltigere als je eine Gattung der Alten sie aufstellt. E s gibt hier historische Partien, rhetorische, dialogische, alle diese Stile wechseln und sind auf das sinnreichste und künstlichste miteinander verwebt und verbunden. Poesien jeder Art, lyrische, epische, Romanzen, didaktische, sind durch das Ganze hingestreut und schmücken es in üppiger, bunter Fülle und Mannigfaltigkeit auf das reichste und glänzendste aus. D e r R o m a n ist ein Gedicht von Gedichten, ein ganzes G e w e b e von Gedichten. 1 7

Novalis hat sich in ähnlicher Weise geäußert und notiert: »Nichts ist poetischer, als alle Ubergänge und heterogene Mischungen«. 18 Und wenn man liest: »Aeußerst simpler Styl, aber höchst kühne, Romanzenähnliche, Dramatische Anfänge, Übergänge, Folgen - bald Gespräch - dann Rede - dann Erzählung, dann Reflexion, dann Bild und so fort«, 19 denkt man unwillkürlich an die aufklärerischen Romane, die sicher die Kriterien >simpler Stil·, chaotische Form< und >heterogene Bestandteil erfüllen, auch wenn Schlegel und Novalis diese Gleichsetzung sicher weit von sich gewiesen hätten. 20 Die Texte erfüllen die wirkungsästhetischen Forderungen der aufklärerischen Poetik zu einer Zeit, da längst die Diskussion um die klassische Auto-

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F. Schlegel, L N , Nr. 1804, S. 184. F. Schlegel, L N , Nr. 4, S. 23. Zur Theorie der Mischung vgl. Peter Kapitza, Die frühromantische T h e o r i e der Mischung. U b e r den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie, München 1968; Armand Nivelle, Frühromantische Dichtungstheorie, Berlin 1970, S. 1 5 9 - 1 6 3 . F. Schlegel, Geschichte der europäischen Literatur, Κ Α , II. Abt., Bd. 11, S. 159/160. Novalis, Fragmente Nr. 221, in: Schriften, (Hg.) Paul K l u c k h o h n und Richard Samuel, 2. Auflage, Bd. 3, S . 5 8 7 . Novalis, Fragmente N r . 5 8 0 , a . a . O . , B d . 3 , S . 6 5 4 . D e n n Schlegel interessiert daran das Fragmentarische, während die Aufklärer noch an einem Kontinuum interessiert sind.

114

»Buchdramen«: Dialog als szenische Schreibform

nomieästhetik ihren Anfang genommen hat, mit der dann den >trivialen< Romanen sowohl literarische Qualität wie ihre Gattungsexistenz abgesprochen wird. Die Seltenheit hervorragender Meisterwerke und die Schwierigkeiten der dialogischen Schreibweise einerseits bzw. der Verknüpfung heterogener Textteile beschleunigten die wachsende Abneigung der Literaturkritik. 1798 hatte A.W. Schlegel über Romane verärgert bemerkt, »die gesetzlose Unbestimmtheit, womit diese Gattung nach so unzähligen Versuchen immer noch behandelt wird, bestärkt in dem Glauben, (...) das eigentliche Geheimniß bestehe darin, sich Alles zu erlauben«.21 Dennoch sollte die (kanonische) Tatsache, daß als >romantische< Romane nur F. Schlegels Lucinde, Novalis' Heinrich von Ofterdingen oder Eichendorffs Ahnung und Gegenwart gelesen werden, nicht davon abhalten, die Parallele beobachtend zur Kenntnis zu nehmen.

2. Dialog und Drama weg mit aller Erzehlung! 22

Vom vielfältigen Inventar differierender Schreibweisen profitiert in besonderem Maße der Romanschriftsteller - ihm allein sind alle Mittel verstattet. Der im folgenden interessierende Dialog bildet nicht nur ein Element der im Roman beliebig kombinierbaren kleineren Formen, die seit J.J. Bodmer von Theoretikern immer wieder befürwortete szenische Darstellung wird nun im Roman bis an ihre Grenzen ausgetestet. Um 1780 sind dramatisierte Romane den Rezensenten noch willkommene Neuheit. Ein Kritiker von Hases Gustav Aldermann stellt in seiner Rezension fest: Die Erzählungen von langem Athem aus einem Munde und aus einem Tone, sind seit geraumer Zeit nicht mehr nach dem Geschmack der Leser. Der Briefstyl war, nachdem Richardson die Bahn gebrochen, die Modetracht der Romanen aber die impertinenten Schwätzereyen mancher Correspondenten haben auch diesen den Lesern gar oft verleidet, und den Dialogen Platz gemacht, und so sind Produkte von vermischter Komposition bisher die gewöhnlichsten gewesen. Unser Verfasser hat sich einen neuen Weg gewiesen, und, wie der Titel besagt, seinen ganzen Roman dramatisirt. 23

Die theoretische Untermauerung der >Dramatisierung< von Romanen datiert bereits aus der Mitte des 18.Jahrhunderts: »Ich habe selbst im Schreiben und

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23

A.W. Schlegel, Mode=Romane. Lafontaine (1798), SW, Bd. 12, S. 11. F. Blanckenburg, Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774, (Hg.) Eberhard Lämmert, Nachdruck Stuttgart 1965, S. 98. AdB, Bd.41/2 (1780), S.471f.

Dialog und

Drama

115

im Lesen der R o m a n e gefunden, das die Regeln des Schauspieles einen g r o ß e n N u z e n bei Verfertigung eines R o m a n s haben«, b e h a u p t e t Troeltsch u n d entwickelt dies in d e r Vorrede Von dem Nuzen der Schauspiels-Regeln bei den Romanen zu seinem R o m a n Geschichte einiger Veränderungen des menschlichen Lebens v o n 175 3. 24 D a R o m a n u n d Schauspiel d e n gleichen E n d z w e c k haben, nämlich B e f ö r d e r u n g der Tugend d u r c h Besserung der Sitten, e m p f e h l e n sich gleiche Mittel. D a m i t meint Troeltsch v o r n e h m l i c h die P r o d u k t i o n s r e g e l n der zeitgenössischen Dramentheorie: D i e Einheit d e r H a n d l u n g , Verwicklung u n d A u f l ö s u n g des K n o t e n s u n d v o l l k o m m e n e C h a r a k t e r e , aber auch die Figurenrede, A u f - u n d A b t r e t e n der Personen, szenische Darstellung, Regieanweisungen f ü r M i m i k u n d Gestik will Troeltsch d e m R o m a n s c h r e i b e r zugestehen. D e r D i c h t e r » m u ß d e m Schauspieler alle W o r t e in den M u n d legen, u n d da dieser r ü h r e n soll, so m u ß er sich auch so a u s d r ü k e n , daß dieses erreichet werde. U n d dieses hat gewiß in einem R o m a n seinen g r o ß e n N u z e n . Man lässet d a die Leute gemeiniglich selbst erzehlen, u n d m a n k a n n dabei o f t die lebhaftesten A u s d r ü k e anwenden«. 2 5 Troeltsch unterscheidet tragische u n d k o m i s c h e R o mane, was f ü r ihn gleichbedeutend mit einer Ständedifferenzierung, also wie beim Schauspiel einem h o h e n u n d einem niederen Genre, ist. A b g e l e h n t wird die A b l e i t u n g des R o m a n s v o m H e l d e n e p o s , die N ä h e z u m T h e a t e r dagegen b e t o n t . D a ß »durch die Vorstellung eines Schauspiels ein wichtiger U n t e r schied zwischen ihnen u n d dem R o m a n entstehet«, hält er f ü r vernachlässigenswert. Die Vorteile dramatischen Erzählens sind Illusionskraft, g r ö ß e r e Farbigkeit u n d U n m i t t e l b a r k e i t - sie b e d ü r f e n keineswegs der A u f f ü h r u n g . D e n Vorteil geschicklicher Schauspieler müsse d e r R o m a n s c h r e i b e r d u r c h u m fassendere »Känntniß des menschlichen H e r z e n s « ausgleichen. Weg mit den historischen Erzehlungen und mit dem Erzehler! Er ist ein matter frostiger Lügner. - Allerdings, wenn er sein Handwerk nicht versteht. Er setzt sichs vor,

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Karl Friedrich Troeltsch, Geschichte einiger Veränderungen des menschlichen Lebens, In dem Schiksale des Herren Ma***. Mit einer Vorrede mit dem Titel Von dem Nuzen der Schauspiels-Regeln bei den Romanen, Leipzig 1753, S.3. Auch seinen beiden anderen Romanen (Der fränkische Robinson Oder der Mann nach der Vorschrift der Tugend in den ausserordentlichen Begebenheiten Des Freiherrn von G***, Onolzbach 1751; Geschichte eines Kandidaten oder die Sitten und Schiksale junger Gelehrten in Zween Theilen von T., Frankfurt und Leipzig 1753) stellt er Vorreden zur Poetik des Romans voran; zur Rolle Troeltschs für die Aufklärungspoetik vgl. Lieselotte E. Kurth, Karl Friedrich Tröltsch und der Roman der Aufklärung, in: MLN 85 (1970), S. 663-685. Zur poetologischen Parallelisierung von Roman und Drama vgl. Wilhelm Voßkamp, Romantheorie in Deutschland. Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973, S. 169-176; Rolf Tarot, Drama - Roman - Dramatischer Roman: Bemerkungen zur Darstellung von Unmittelbarkeit und Innerlichkeit in Theorie und Dichtung des 18.Jahrhunderts, in: Linda Dietrick und David G. John (Hg.), Momentum Dramaticum. Festschrift for Eckehard Catholy, Waterloo, Ontario, Canada 1990, S. 241-269. Κ. F. Troeltsch, a. a. O., S. 8/9.

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•Buchdramen«:

Dialog als szenische

Schreibform

euch zu betrügen; er sitzt im Winkel eures Feuerheerds, und hat die strenge Wahrheit zum Gegenstande: Er will, daß man ihm glaube, will interessiren, rühren, hinreissen, erschüttern, die Haut schauern, und Thränen fliessen machen: Wirkungen, die man ohne Beredsamkeit und Poesie nicht hervorbringt. Aber die Beredsamkeit ist eine Art von Lügen, und nichts hindert die Illusion mehr, als die Poesie. Beide vergrößern, erweitern, übertreiben, erwecken Mißtrauen. Wie wird es dieser Erzehler angreifen, euch zu betrügen? 26

f r a g t sich J o h a n n J a k o b Engel in einer R e z e n s i o n d e r Contes Moraux v o n D i d e r o t u n d Gessner. E r selbst verfaßte in d e n neunziger Jahren den D i a l o g r o m a n Herr Lorenz Stark (1801), 27 n a c h d e m er in der erzähl theoretisch b e d e u t samen A b h a n d l u n g Über Handlung, Gespräch und Erzehlung (1774) seine A n t w o r t auf die selbstgestellte Frage weiterentwickelt hatte, einen R o m a n , d e m G o e t h e mit abfälligem U n t e r t o n große Popularität zusprach: Auf eine A r b e i t Knebels sei er sehr neugierig, u n d er zweifle nicht, »daß die beßre G a t t u n g u n s r e r Leser uns d a f ü r d a n k e n w i r d . D e m größeren Theil freilich w e r d e n w i r damit nicht gefallen, das weiss ich vorher: den k a n n m a n n u r d u r c h A u f sätze v o n d e m Schlage, wie L o r e n z Stark ist, gewinnen. Sie glauben nicht, wie allgemein m a n sich an diesem A u f s a t z erlustigt. N o c h v o n keinem ist so viel Redens gewesen«. 2 8 Szenische Schreibweisen rücken d e n Dialog in den K o n t e x t zeitgenössischer D e b a t t e n über das Schauspiel. D a ß aber der R o m a n nicht einfach ein verkleidetes D r a m a sein könne, w a r einigen A u t o r e n b e w u ß t . A u c h daß eine T h e a t e r a u f f ü h r u n g d a n k der U m s e t z u n g s l e i s t u n g der Schauspieler u n d der kollektiven R e z e p t i o n d e m P u b l i k u m ein anderes >Schauspiel< lieferte als die Buchlektüre, anders ihre A u f m e r k s a m k e i t beanspruchte, entging ihnen nicht. D e r Schauspieler mache d u r c h d e n M e n s c h e n , den er in einer Rolle vorstelle, das G e m ä l d e lebendig. »Eine schöne Figur, eine b e z a u b e r n d e Mine, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit W o r t e n a u s d r ü c k e n lassen«. 2 9 »Wer sieht

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J.J. Engel, Rez. von Diderots Contes Moraux, in: Über Handlung ..., S. 141. Dieser ursprünglich als Drama geplante Roman wird hier nicht behandelt; im September 1795 erschienen in den Hören die ersten vierzehn Kapitel, 1796 drei weitere, vollständig erst in der Ausgabe von 1801, vermehrt um achtzehn weitere. Vgl. die ausführliche Behandlung bei Hans-Gerhard Winter, Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. Mit einer Analyse von J.J. Engels Gesprächstheorie, Darmstadt 1974, S. 153-196. Schiller an Goethe am 23. November 1795, NA, Bd.28, S. 109; wobei das Pikantere sicher ist, daß Goethe von manchen Lesern für den Verfasser gehalten wurde; vgl. seinen Brief an Schiller am 7. Dezember 1796, WA IV, Bd. 11, S. 281. G.E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie (1767-69), LM, Bd. 9, S. 183/184 (Ankündigung). Vgl. dagegen Jean Paul, als Vertreter einer nun ganz dem Medium Schrift und der Phantasie der Leser vertrauenden Schriftstellergeneration, der meint, daß »die Schauspieler nur die Lettern, nur die trockenen Tuschen sind, womit der Theaterdichter seine Ideale auf das Theater malet - daher wird jedes Schau-

Wezeis » Verflößung« von Dialog und

Erzählung

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also nicht, daß die Vorstellung ein nothwendiges Theil der dramatischen Poesie sey ?«30 Das Theatererlebnis potenzierte sich für den Einzelnen noch, indem er gleichzeitig zur Aufführung die Ergriffenheit des anwesenden Publikums wahrnahm. Daß in der gemeinsamen Rezeptionsform im Theater die >Rührung< leichter war, als sie mühelos von einem Zuschauer zum anderen übergriff, daß also mit dieser Art kollektiver Phänomene intensivere Wirkung zu erzielen war, schien ebenso einleuchtend wie unzufriedenstellend für den Romanschriftsteller. 31 Dennoch hoffte man, von der konzeptuellen Struktur von Dramentexten profitieren zu können, indem man sie gekonnt in den epischen Erzählzusammenhang integriert. Der Romanschreiber schien vom Schauspieldichter lernen zu können. Gottsched hatte noch umgekehrt argumentiert: »Ein Trauerspiel sowohl, als eine Comödie, ist in gewisser Absicht nichts anders, als ein Zusammenhang verschiedener Gespräche (...). Wer also Theatralische Poesien verfertigen wollte, der muste nothwendig zuerst ein gutes Gespräche schreiben können«; 32 daß er damit für Theaterstücke wie für Romane recht behalten sollte, wird sich erweisen. Uber die Frage, inwiefern denn unter diesen Prämissen der Roman überhaupt dem Drama vorgezogen werden könne, hat Engel Rechenschaft gegeben. Der Vorteil des Romanschreibers vor dem Dramenschreiber sei die Charakterdarstellung »von ihrer ersten Anlage bis zu ihrer letzten völligen Ausbildung«, 33 während die Charaktere auf der Bühne nur in einzelnen Situationen auftreten könnten. Engels eigener Dialogroman trägt denn auch den Untertitel »Charaktergemälde«.

3. Wezeis »Verflößung« von Dialog und Erzählung Doch meine Leser samt und sonders werden hoffentlich es gern zufrieden seyn, wenn ich ihnen nicht diese ganze Scene herdialogire. (A. G. Meißner, Alcibiades)

Ganz explizit an das Lustspiel annähern will Johann Karl Wezel seinen Roman Herrmann und Ulrike. Im Untertitel »ein komischer Roman« genannt, wird die Vorrede expliziter: Die bislang noch unterschätzte Dichtungsart des

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spiel mit größerem Vorteil seines Idealischen im Kopf als auf dem Schauplatz aufgeführt«. Jean Paul, Über die natürliche Magie der Einbildungskraft, SW, Bd. 4, S. 203. G.E. Lessing, Beiträge zur Historie und Aufnahme des Dramas, LM, Bd. 4, S. 54. Zum heute kaum mehr vorstellbaren Ausmaß von Ohnmachtsanfällen, Tränenströmen und Verbrauch an Schnupftüchern vgl. Markus Krause, Das Trivialdrama der Goethezeit 1780-1805. Produktion und Rezeption, Bonn 1982, S.304-310. J. C. Gottsched, Diseurs des Ubersetzers von Gesprächen überhaupt (1727), in: Ausgewählte Werke, Bd. 10,1, S.6/7. J.J. Engel, Briefe über Emilia Galotti (1775), in: Philosoph für die Welt, Schriften Bd. 1, S. 150.

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»Buchdramen«:

Dialog als szenische

Schreibform

Romans könne man dadurch zur Vollkommenheit bringen, »wenn man sie auf der einen Seite der Biographie und auf der andern dem Lustspiel näherte: so würde die wahre bürgerliche Epopee entstehen, was eigentlich der Roman seyn soll«.34 Auch wie diese Partizipation an benachbarten Gattungen aussehen soll, erläutert Wezel in seiner zum romantheoretischen Essay ausgebauten Vorrede. Hauptvorzug des inszenierten Theaterstücks war die Entlastung des Publikums, dem es von den Schauspielern abgenommen wird, sich das Geschehen >vorstellen< zu müssen. Für potentiell analoge Wirkung erblicken die Romanautoren ihre Chance in der dem Drama entlehnten Dialogführung. August Gottlieb Meißner wählt als Untertitel für Bianca Capello die Kennzeichnung: »Halb Dialog, halb Erzählung«. Damit ist der Kompromiß benannt, auf den die Autoren ausweichen, die die narrativen Schwierigkeiten der Dialogform zu umgehen suchen. Meißner erläutert: Es sei einige Jahre her, daß er sich entschlossen habe, »ein Mittelding zwischen D r a m a und R o m a n zu schaffen, ( . . . ) in Dialog zu bringen, was leicht dazu tauglich sey; durch kleine Erdichtungen andre undramatische Scenen dramatisch zu machen, und endlich mittelst kleiner Zwischensätze, geschrieben in erzählendem Ton, Seen' an Scene zu verbinden. ( . . . ) Ich wag es daher, jezt mit meiner Handschrift hervorzutreten, und zu fragen: was man von ihr, und von der F o r m , die ich ihr gegeben, denke? D a ß sie ihre Schwierigkeiten habe, sieht jeder, der da weiß, wie schwer D i a log sey ( . . . ) « 3 5

Die Beurteilung wolle er nun dem Leser überlassen. Anläßlich der Fortsetzung in Band 3 der Skizzen rechnet sich Meißner nun explizit das Verdienst an der >Erfindung< dieser Gattung zu und tadelt seine Nachahmer: »Die mancherley ganz und halb dialogirten Romane, die neuerlich erschienen, und deren einige dem ersten Theile meiner Skizzen wahrscheinlich ihr Daseyn zu danken haben mochten, hatten mir größtentheils eine so peinliche Langeweile im Durchlesen gemacht«,36 daß er schon gewillt gewesen sei, seine eigenen Werke zu vernichten. Um »Einförmigkeit« zu verhindern, erklärt auch Wezel, »vereinigte der Verfasser alle Mittel, die dem Dichter verstattet sind - Erzählung und Dialog, worunter man auch den Brief rechnen muß, der eigentlich ein Dialog unter Abwesenden ist«. 37 Brief, Erzählerbericht und Dialog werden gekonnt und nahtlos verschmolzen. Zentral, so Wezel, sei die »Verflößung« dieser Elemente. 38 Die epische Integration variiert je nach Kunstfertigkeit des Autors vom bloßen Hantieren mit Versatzstücken bis zu formal gelungener Verknüp-

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J . K . Wezel, Herrmann und Ulrike. Ein komischer R o m a n (1780), 4 Bde., Reprint Stuttgart 1971, ( H g . ) Eva Becker, Vorrede, S. I I . A . G . Meißner, Skizzen, 14 Bde., Tübingen 1 7 8 0 - 9 6 , Bd. 1 (1780), S. 77/78. A . G . Meißner, a . a . O . , B d . 3 (1786), S. 105. J . K. Wezel, Herrmann und Ulrike, Vorrede, S. V I . Zur Rolle der Briefe in Wezeis R o m a n vgl. Gottfried Honnefelder, D e r Brief im R o man, B o n n 1975, S. 7 8 - 1 0 5 .

Wezeis »Verßößung«

von Dialog und

Erzählung

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f u n g . D e r lineare Zeitablauf der dialogischen Szenen kann so mit Vorgängen aus anderen Zeitbereichen v e r k n ü p f t w e r d e n . A b e r auch ü b e r Wezeis R o m a n urteilt der Rezensent t r o t z seiner insgesamt positiven Beurteilung des R o m a n s barsch: »Indessen scheint es uns d o c h , d e r Verf. dieses R o m a n s thäte w o h l daran, nicht so gar so viel zu schreiben«. 3 9 D e r österreichische Schriftsteller J o h a n n Friedel testet in seinem 1785 erschienenem R o m a n Heinrich von Walheim oder Weiberliebe und Schwärmerey40 mittels t y p o g r a p h i s c h e r Mittel gar die Technik des Beseitesprechens. I m D r u c k erscheinen dann drei Spalten, deren eine wiedergibt, was F r a u v. Peternell spricht, die andere, was sie sich denkt, die dritte H e i n r i c h s A n t w o r t e n - ein Versuch der Darstellung, in d e r die R e d e n d e dem P u b l i k u m all das mitteilt, was sie ihrem G e s p r ä c h s p a r t n e r gegenüber ungesagt läßt, dabei sich selbst entlarvend. Die Kritiker halten diese E x p e r i m e n t e mit d e r R o m a n f o r m f ü r nichts anderes als v e r k a p p t e Theaterstücke - u n d die soll m a n nicht lesen: »Ein Theaterstück m u ß gesehen, nicht gelesen werden: d e n n w e n n es ist, was es seyn soll, so ist ja eben auf die Vorstellung alles berechnet«. 4 1 D a ß »typographische Entscheidungen die Rolle eines indirekten K o m m e n tars z u m jeweiligen Text« 4 2 spielen k ö n n e n , hat G é r a r d G e n e t t e gezeigt. D i e in D i a l o g r o m a n e n n o t w e n d i g e t y p o g r a p h i s c h e K e n n z e i c h n u n g von Sprechern u n d Sprecherwechsel sowie die Regieanweisungen zu M i m i k , Gestik u n d O r t h a b e n beim blätternden o d e r sich vertiefenden Leser sicher fast automatisch Assoziationen z u m Theater ausgelöst. Bei der L e k t ü r e ergab sich aber auch schnell das m i t u n t e r recht Q u ä l e n d e dieser P r ä s e n t a t i o n s f o r m , die eben der Anschaulichkeit der B ü h n e e n t b e h r e n m u ß t e . W e n n bei stiller L e k t ü r e v o n R o m a n e n das gedruckte W o r t n u r d e n visuellen Sinn in Beschlag n i m m t , d a n n entsprechen der neuen Lesetechnik vermutlich kontinuierlich erzählte Texte effektiver. D e n n so wenig sie dies wollen, dialogische Texte verweisen deutlicher auf ihre Materialität als sie a n n e h m e n . I m m e r wieder klagen R e z e n s e n t e n ü b e r die Mühsal des Lesens. Die illusionszerstörende D i s k o n t i n u i t ä t d e r szenischen Erzählweise u n d die t y p o g r a p h i s c h e G e s t a l t u n g d e r einzelnen Seite b e w i r k e n eine ungewollte E n t a u t o m a t i s i e r u n g d e r Leseabläufe. Dialog soll Identifikation p r o d u z i e r e n , schafft aber D i s t a n z . Dialogische Schwerfälligkeit lenkt u n v e r m e i d b a r A u f m e r k s a m k e i t auf das M e d i u m , das doch möglichst v e r b o r g e n bleiben soll. D i e G r e n z e n der dialogischen F o r m diagnostiziert u n d analysiert v o r n e h m l i c h die zeitgenössische Literaturkritik; bei mißlungenen Dialogen halten die Rezensenten ihre M e i n u n g nicht z u r ü c k :

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Oz., Rez. von Wezeis Herrmann und Ulrike, AdB 43 (1780), S. 149-152, hier S. 152. Johann Friedel, Heinrich von Walheim oder Weiberliebe und Schwärmerey... Kein Roman, eine wahre Geschichte, Frankfurt und Leipzig (d.h. Wien) 1785. J. G. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, SW, Bd. 18, S. 182. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/Main, New York, Paris 1989, S.38.

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»Buchdramen«: Dialog als szenische

Schreibform

Es ist nicht zu leugnen, die dramatische F o r m des R o m a n s hat manche Vorzüge vor der historischen: der Leser wird den Personen und der Geschichte näher gerückt, u n d gleichsam selbst Zuschauer - versteht sich aber, daß der Dichter Meister seiner K u n s t seyn m u ß . U n s e r Verf. aber ist n u r ein sehr schwacher A n f ä n g e r in der Kunst, Scenen anzulegen, Begebenheiten zu motiviren, und die Personen ihrem Character u n d der Situation gemäß sprechen zu lassen. Sein Dialog ist (vorzüglich im Anfange des ersten Theils, denn weiter hinein bessert er sich ziemlich) so gedrechselt u n d geschraubt, so figuren- u n d blumenreich, so aufgedunsen u n d unnatürlich, so voll Meißnerischerischer Eleganzen — daß Recens, einigemale das Buch für Ekel weglegen mußte. 4 3

Werden hier noch grundsätzlich die der Dialogform inhärenten Vorteile anerkannt, weiß der Rezensent doch offensichtlich, wie anspruchsvoll und kompliziert die narrative Strategie in der Praxis ist. In einer Rezension zum zweiten Teil von Heelfried und Selene. Gespräche zweyer Liebenden (1781) heißt es: Endlich haben die b e y d e n Liebenden, vermuthlich zu großer Zufriedenheit der Leser, ihre Gespräche geendigt, u n d sich geheurathet. Bey der Anzeige des ersten Bändchens haben w i r schon unsere Meinung ü b e r die faden langweiligen Dialogen des lieben Paars geäußert. Durch die F o r t s e t z u n g hat die Brochüre nichts g e w o n n e n . I m m e r leichtes G e s c h w ä t z über mancherley Dinge, hauptsächlich über Liebe u n d Empfindsamkeit; aber nichts in einem richtigen Gesichtspunkt gefaßt, o d e r auf eine erträgliche A r t dargestellt. Bey aller Vernünfteley, welche die beyden Liebenden gegeneinander auskramen, sind sie ein paar Zieraffen, die in schlechten Versen u n d elender Prose ihr bischen Belesenheit z u r Schau ausstellen, auch zuweilen sich H i störchen erzählen, und darüber so abgeschmackt räsonnieren, d a ß einem dabey Angst u n d Weh u m s H e r z wird. 4 4

In einer Rezension zu Die Familie Eboli erregt sich der Rezensent über die Unverfrorenheit, mit der der Autor glaubt, als Verfasser eines schlechten Romans (der Lauretta Pisana) für ein zweites Machwerk Werbung machen zu können: Ree (...) erinnert sich nicht mehr viel davon, als daß er ebenso, wie die Familie Eboli, dramatische F o r m hatte. Wir haben schon mehrmals in dieser Bibliothek Veranlassung gefunden, die Unbequemlichkeiten auseinanderzusetzen, die unvermeidlich sind, w e n n m a n einem Roman unvermischt diese F o r m giebt. Die gefährlichste Klippe, an der sonst o h n e Ausnahme alle Versuche gescheitert sind, ist die Weitläufi g k e i t . D e r Dichter wird nur gar zu leicht verführt, zu ganzen Seiten leeren Dialogs auszuspinnen, was in der Erzählung ein paar Zeilen eingenommen hätte, und auch nicht m e h r verdiente. D a ß diese gemächliche A r t , den Bogen zu füllen, b e y den R o manfabrikanten so großen Beyfall gefunden, begreift sich leicht; desto weniger hin-

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Tm., Rezension zu: Lauretta Pisana, Leben einer italienischen Buhlerin. A u s R o u s seaus Schriften u n d Papieren. Dramatisch bearbeitet. Zwei Theile Leipzig 1789, A D B 94 (1790), S. 138-140, hier S. 140. A d B 51 (1782) S.435.

C. G. Cramers

>Serienhelden
Weitläuftigkeit< bringt der Rezensent die Diskussion um den Dialogroman auf ihren Kern. Das Mißverhältnis zwischen Umfang und Thema wird zum stereotypen Kritikpunkt an der Gesprächsführung in Dialogromanen (wie auch des Romans im allgemeinen): »(...) seine Ausdehnung denn der Roman übertrifft alle Kunstwerke an Papier-Größe - hilft ihn verschlimmern«.46

4. C. G. Cramers >Serienhelden< Was veranlaßt Erfolgsschriftsteller, auf diese offensichtlich recht bald ästhetischer Geringschätzung ausgesetzte Form zu setzen? Aus der insgesamt immens angestiegenen Romanproduktion resultiert ein Problem repräsentativer Auswahl von Autoren und Texten. Bibliographien zur Literaturproduktion um 1800 lassen vermuten, daß etwa 6000 neue Titel im letzten Viertel des 18.Jahrhunderts erschienen.47 Stichproben machen schnell deutlich, daß eine sinnvolle Beschränkung auf wenige Beispiele geboten ist. Daß die Literatur der Aufklärung außergewöhnlich dialogreich oder ganz in Dialogen abgefaßt sei, hatte Hans-Gerhard Winter betont und zum Anlaß seiner Arbeit zu Dialogtheorie und Praxis gemacht, in seiner Beschränkung auf Johann Jacob Engels Dialogroman Herr Lorenz Stark aber eine allzu schmale Materialbasis gewählt, mit dem sich zwar Exemplarisches zeigen, nicht jedoch die Konjunktur und Trivialisierung der Dialogform erklären ließ.48 Zunächst eine Fallgeschichte: Carl Gottlob Cramer (1758-1817), einer von jenen beliebten Vielschreibern wie Lafontaine, deren Werke heute kaum mehr bekannt sind, hat knapp siebzig, meist mehrbändige Romane und Erzählungen bis zu seinem Tod 1817 veröffentlicht, darunter Ritter-, Räuber-, Geheimbund- und Geisterromane, also jene Genres, die finanziellen Erfolg verspra45

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Rez.: Die Familie Eboli; dramatisch bearbeitet vom Verfasser der Lauretta Pisana, Dresden und Leipzig 1 7 9 1 - 9 2 ; A d B 111 (1792), S . 1 2 4 . Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, I. Abt., B d . 5, S . 2 4 9 . Vgl. Michael Hadley, Romanverzeichnis: Bibliographie der zwischen 1750 und 1800 erschienenen Erstausgaben, Bern, Frankfurt, Las Vegas 1977, S. V I I . Marion Beaujean geht von 3000 Titeln in diesem Zeitraum aus, a . a . O . , S. 178. Ahnliche Zahlen nennen zeitgenössische Schätzungen; J o h a n n G e o r g Heinzmann vermutet, daß zwischen 3 0 0 und 6 0 0 Romane pro J a h r erscheinen, J . G . H . , Appell an meine N a tion, Bern 1795, S. 141. Hans-Gerhard Winter, Dialog und Dialogroman in der Aufklärung. M i t einer Analyse von J . J . Engels Gesprächstheorie, Darmstadt 1974. Winter liefert als Erklärungszusammenhang nur die These der Abbildlichkeit von Dialog in Literatur und Leben.

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»Buchdramen«: Dialog als szenische

Schreibform

chen. In den gängigen Darstellungen der Literaturgeschichte des 1 S.Jahrhunderts ist kein Platz für diese Texte, die heute der Trivialliteratur der Epoche zugerechnet werden. Nach Auflagenhöhe und Anzahl der Titel war dieser Teil der Literaturproduktion zumindest quantitativ aber der weitaus bedeutendere. Das zahlenmäßige Ubergewicht provoziert die Frage nach den Lesern dieser Unterhaltungsliteratur. In seiner Arbeit zur Ritter-, Räuber- und Schauerromantik muß Appell etwas indigniert feststellen, Cramer erfreue sich »einer ungeheuren schmachtenden Leserheerde«. 49 Cramer selbst trumpft auf: »Meine Romane werden, was auch immer trübsinnige, mürrische Recensenten denken und sagen mögen, nicht gelesen, sondern verschlungen, nachgedruckt und doch viermal aufgelegt und sogar von den stolzen Briten übersetzt«. 50 Seine größten Erfolge waren Hasper a Spada, der Deutsche Alcihiades (1790-91) und Leben und Meinungen, auch seltsamliche Abentheuer Erasmus Schleichers, eines reisenden Mechanikus (1789-91), ein origineller, gesellschaftskritischer Zeitroman und ein Formexperiment, in dem auktorialer Erzähler und Dialoge, Briefe und Lieder 51 sich zu einem heterogenen Text verbinden. Dabei ist es unerheblich, daß der Roman niemals als literarisches Meisterwerk gegolten hat, bei den Zeitgenossen aber durchaus lobende Anerkennung fand, hob der Roman trotz seiner irritierenden Formlosigkeit sich doch aus der Masse ohne Zweifel heraus. In der Rezension des 1789 erschienen ersten Teils in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek heißt es: Kein Roman von gemeinem Schlag aus einer Romanfabrik in Dachstuben, sondern die Arbeit eines sehr guten Kopfes, die sich durch Originalität und richtige Zeichnung der Charaktere, durch eine Gallerie der niedlichsten Gemälde wahrer Lebensscenen, durch das Talent der lebhaftesten Darstellung, durch Funken des reichhaltigsten, oft verschwenderischen Witzes und einer blühenden Einbildungskraft, die oft das Herz treffen, durch einen sententiösen Dialog, und durch die ganze Kunst des Ausdrucks, dem Leser vortheilhaft auszeichnet. 52

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J.W. Appell, Die Ritter-, Räuber- und Schauerromantik, Leipzig 1859, S. 13; zu Cramer S. 13-34. C.G. Cramer, Leben und Meinungen, auch seltsamliche Abentheuer Erasmus Schleichers, eines reisenden Mechanikus (1789-91), 4 Bde., Vorwort; zit. MüllerFraureuth, a.a.O., S.54, Appell, a.a.O., S. 14. Vier Auflagen, Nachdrucke, eine englische und eine russische Übersetzung sind nachweisbar; Carl Müller-Fraureuth, Die Ritter- und Räuberromane. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte des deutschen Volkes, Halle 1894, S. 40; zu Cramer S. 38-54. Vgl. Hans Friedrich Fokin, Karl Gottlob Cramers »Erasmus Schleicher« als Beispiel eines frühen Unterhaltungs- oder Trivialromans, in: (Hg.) Heinz Otto Burger, Studien zur Trivialliteratur, Frankfurt/Main 1968, S. 57-81; trotz Fokins deklassierender Wertung informativ. Tb., Rezension von: Leben und Meynungen auch seltsamliche Abentheuer Erasmus Schleichers, eines reisenden Mechanikus. Erster Theil. Leipzig, bey Fleischer. 1789, in: AdB 96 (1790), S. 141-143. Rezension des 2. Teils: AdB 101 (1791), S. 121-126; Teil3:S. 409-414.

C. G. Cramers >Serienhelden
das VolkMönche< oder >Herolde< namentlich aufgeführt, sie alle sprechen (in einer von Cramer selbsterfundenen altertümlichen und deutschtümelnden Sprache, deren veraltete Redewendungen den Eindruck historischer Treue erwekken sollen) miteinander, um die Handlung voranzubringen; ihre Dialogpassagen werden von ausführlichen Regieanweisungen fast überwuchert. Zwei Theaterinszenierungen (Karl Miedke, Augsburg 1798 und Leopold Huber, Wien 1800) waren erfolgreich, obwohl der Gesamtumfang des Romans wie Anzahl der Figuren deutlich darauf hinweisen, daß er nicht für die Aufführung auf der Bühne gedacht war, und diese Art Stücke einen heute kaum mehr vorstellbaren Aufwand an Garderobe, Dekorationen und Komparsen forderte. Für diesen Roman warben die Herausgeber Friedrich Severin und die Meiß-

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Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke, I. Abt., Bd. 5, S.249. Carl Gottlob Cramer, Adolph der Kühne, Raugraf von Dassel, Hildesheim, N e w York 1979 (Reprint der Ausgaben Weißenfels und Prag 1792, 3 Bde), hg. und mit einem N a c h w o r t versehen von Hans-Friedrich Fokin. Franz Horn, Umrisse zur Geschichte und Kritik der schönen Literatur, Berlin 1819, S. 46. Vgl. Markus Krause, Das Trivialdrama der Goethezeit 1 7 8 0 - 1 8 0 5 . Produktion und Rezeption, Bonn 1982, S. 1 9 4 - 2 2 3 , 3 6 8 - 3 8 5 ; O t t o Brahm, Das deutsche Ritterdrama des 18. Jahrhunderts. Studien über Joseph August von Törring, seine Vorgänger und Nachfolger, Straßburg 1880.

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•Buchdramen«: Dialog als szenische

Schreibform

nersche Buchhandlung, indem sie den Verfasser auf dem Titelbogen nachdrücklich als eben den des Deutschen Alcibiades herausstrichen. Selbst wenn man der Behauptung zustimmt, Cramer habe hier nur eine (mißlungene) Nachahmung geliefert, »die gröbste Verballhornung von Goethes >Götzvielseitige Langweiligkeit zu wetteifern. Cramer kann als sprechendes Beispiel für das Prinzip der Nachahmung des Erfolgreichen begriffen werden. Das schon Bekannte wird wenig verändert, nur neu arrangiert unter Selbstzitation in späteren Werken. Nur so war der steile Anstieg der Produktion möglich, nur so konnte ein Autor fünfzig, hundert oder mehr Romane schreiben, indem mit Versatzstücken gearbeitet wurde, sowohl von der motivisch-stofflichen58 als auch von der formalen Konstruktion her, und überdies befriedigte das Ergebnis augenscheinlich auch die Bedürfnisse der Rezipienten. Bei dem ersten Teile eines jeden originellen Buches begreift niemand, wie ein folgender nur möglich sei; j e öfter aber nun ein folgender k o m m t , desto mehr leuchtet uns die Möglichkeit des Machens und also des Nachahmens ein.

Jean Paul folgert ironisch, er hätte wohl auch besser daran getan, »statt der mäßigen Regimentsbibliothek, die ich drucken lassen, eine alexandrinische gemacht«.59 Möglicherweise - Rolf Engelsing und Rudolf Schenda haben darauf hingewiesen - war bestimmten Leserschichten die Wiederholung der immer gleichen Inhalte und Formen mit von Werk zu Werk nur geringfügig geänderten Akzenten durchaus willkommen: »Der wahrscheinlich überwiegende Teil der Leser suchte auch durch extensive Lektüre ein und denselben Leseeindruck durch neue Produkte zu wiederholen.60 Die Leser suchen primär Be56

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Karl Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, 2. Auflage Dresden 1893, 279/10, B d . 5 , 2 , S.509. F. Schlegel, Lyceums-Fragmente, K A , Bd. 2, S. 156. D a ß diese Wiederverwertung des Erfolgreichen und Anpassung an die Publikumserwartungen mehr noch die Produktion von >Trivialdramen< bestimmt, hat Markus Krause gezeigt; vgl. Markus Krause, Das Trivialdrama der Goethezeit 1 7 8 0 - 1 8 0 5 . Produktion und Rezeption, B o n n 1982, S. 133/134. Jean Paul, Konjektural-Biographie, Werke I. Abt., Bd. 4, S. 1064/1065. R o l f Engelsing, Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit, in: ders., Zur So-

C. G. Cramers >Serienhelden
vernünftigen< Freund auf einen im 18.Jahrhundert populären Interaktionstypus rekurriert. 62 Der Ratgeber übernimmt im Dialog die Funktion der Selbsterkenntnis mit Hilfe fremder Augen und macht diese für den Leser überhaupt erst beobachtbar. An dieses Vorbild lehnt sich Carl Gottlob Cramers Roman Der deutsche Alcibiades (1791) 63 an, auch wenn er dies in der Vorrede abstreitet und als Vorbilder Xenophons Cyropädie und Fénélons Télémaque nennt. Zu diesem Roman erschien wiederum eine Fortsetzung: Hermann von Nordenschild, gen. von Unstern. Ein Nachtrag zum Deutschen Alcibiades.M Beide versetzen den Helden aus der Antike in die Gegenwart. A n o n y m wurde 1800 Alcibiades von Wien. Ein Gegenstück zum deutschen Alcibiades von Cramer publiziert; der Held liest als Auftakt Meißner. Vermutlicherweise ist auch I.A. Feßlers Marc Aurel (1790-92) in diese Reihe einzubeziehen. Diese Erfolgsgeschichte mehrfacher Auflagen, Nachahmungen und >Seitenstücke< widerspricht doch ganz offensichtlich der Einschätzung Marion Beaujeans, daß der Roman »auch den primitivsten Anforderungen an gute Lesbarkeit zu widersprechen scheint«. Sie kritisiert das »magere Handlungsgerüst«, »breite Nebensächlichkeiten und geschwätzige Erörterungen«. 6 5 Auch Eva Becker teilt die Auffassung in ihrem

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zialgeschichte deutscher Mittel- u n d Unterschichten, Göttingen 1973, S. 122; Rudolf Schenda, Volk o h n e Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910, S.473. Zu heutigen Lesegewohnheiten von Trivialliteratur lassen sich offenkundig Parallelen ziehen. August Gottlieb Meißner, Alcibiades, Leipzig 1 7 8 1 - 8 8 , 4 Thle, 2. Auflage 1785-88. Von Meißner, ebenfalls in Dialogform und in mehreren Auflagen erschien Bianca Capello, Berlin 1776, 1778, Leipzig 1785, vierte Auflage 1798; sowie 1800 Laura Montaldi. Ein Seitenstück zur Bianca Capello, sowie mehrere Totengespräche (1782: L o p e di Vega, Leßing und Pastor Richter. Eine A n e k d o t e aus der Unterwelt; 1784: Dialog, wie K. Ludewig XIV. u n d Fenelon ihn gehalten haben könten). Vgl. dazu Eckardt Meyer-Krentler, D e r Bürger als F r e u n d . Ein sozialethisches P r o gramm u n d seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur, M ü n c h e n 1984, S. 202ff. Carl G o t t l o b Cramer, D e r deutsche Alcibiades, Weißenfels 1791,2. Auflage 1792,3. Auflage 1813. 2 Thle, Weißenfels 1791-92, H a m b u r g 1814. Marion Beaujean, D e r Trivialroman in der zweiten H ä l f t e des 18.Jahrhunderts. Die U r s p r ü n g e des m o d e r n e n Unterhaltungsromans, 2. erg. Auflage Bonn 1969, S. 72/ 73. Vgl. Walter Benjamin, Was die Deutschen lasen, w ä h r e n d ihre Klassiker schrieben, in: W. B., Gesammelte Schriftem, Bd.4.2, S.641-670; Martin Greiner, Die Entstehung der m o d e r n e n Unterhaltungsliteratur. Studien z u m Trivialroman des 18.Jahrhunderts, Reinbek 1964.

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Dialog als szenische

Schreibform

Nachwort zum Reprint von Gustav Aldermann von F. Th. Hase: In diesem Roman »wirkte zunächst vermutlich die Dialogform abschreckend auf die Leser«.66 Ganz im Gegenteil, an der Zahl der Nachahmungen und >Seitenstücke< ist doch zumindest das positive Urteil der Zeitgenossen ablesbar. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts sind diese Romane und ihre Autoren allerdings wieder in Vergessenheit geraten.

5. »Charaktergemähide«: Grenzen der dialogisierten Biographie Die epische Natur des Romans untersagt euch lange Gespräche, vollends eure schlechten. (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik)

Immer wieder betonen selbst Verfechter der Dialogform, wie schwierig und kompliziert die Konstruktion sei. »Ueberhaupt aber ist ein meisterhafter Dialog schwer«.67 Jede andere Gattung habe eine gewisse Anzahl Meisterwerke aufzuweisen, in dieser sei die Zahl der gelungenen Werke verschwindend gering. Aus diesem Grund ist die Geschichte dieser Form, so betont auch Maurice Roelens für den französischen Bereich, eine paradoxe: Beispiele aus der Antike, ein Interesse am Gespräch und zugleich das Widerstreben von Autoren und Lesern, die sich der Form verweigern, oder viele zähe, mißlungene, langatmige Texte kennzeichnen die Lage.68 »Es wäre ein Wunder, wenn der Roman, dieser von so vielen angebaute Theil der schönen Litteratur, immer nur eine Gestalt in Deutschland behalten hätte«,69 erklärt der Verfasser der Rezension Ueber den dramatischen Roman sein grundsätzliches Einverständnis mit Formexperimenten. Nur die seit Bodmer immer wieder empfohlene szenische Schreibweise nimmt er von seiner Zustimmung aus. So groß indeß der Werth ist, den ich auf die F o r m des R o m a n s lege, und so genau mit ihr die Vortreflichkeit der pragmatischen Darstellung nach meinem Urtheil zusam-

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Eva Becker, N a c h w o r t , in: Friedrich Traugott Hase, Gustav Aldermann. E i n dramatischer R o m a n , 2 Theile, 1779, Reprint 1964, (Hg.) E v a Becker, S . 8 * . Wilhelm Friedrich H e z e l , Anleitung zur Bildung des Geschmacks, für alle Gattungen der Poesie, Hildburghausen 1791, Bd. 2, S . 9 . Maurice Roelens, Le dialogue philosophique, genre impossible? L ' O p i n i o n des siècles classiques, in: Cahiers de l'Association internationale des études françaises 24 (1972), S. 4 3 - 5 8 . U e b e r den dramatischen Roman, in: N e u e Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, B d . 4 4 , 1. Stück, 1791, S . 3 - 1 8 , zit. Eberhard Lämmert u.a. (Hg.), Romantheorie 1 6 2 0 - 1 8 8 0 . Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland, Frankfurt/Main 1988, S.165.

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Grenzen

der dialogisierten

Biographie

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menhängt, so bekenne ich doch frey, daß gerade diejenige F o r m , die so ganz für die Erreichung des eben genannten Zweckes erfunden zu seyn scheint, ihre Wirkung auf mich stets verfehlt hat. D e r dramatische R o m a n , ein Alcibiades, ein Friedrich mit der gebißnen Wange, ein Marc-Aurel haben ihr Publikum gefunden und finden es noch, und ich wage es, ihren Werth zu bezweifeln. ( . . . ) D a ß ich mich hier übrigens nicht anheischig mache, die Unmöglichkeit dieser poetischen Gattung zu erweisen, brauche ich für Kenner kaum zu erinnern. ( . . . ) Meine Absicht kann daher keine andere seyn, als auf die Ursachen, die die Wirkung des dramatischen Romans hindern, aufmerksam zu machen. 7 0

Hauptnachteil der neuen Schreibweise sei die mangelnde Fähigkeit zu raffen: »Das Ueberhüpfen ist, bekanntlich, so wenig, als das Zusammenfassen mehrerer Zeitpunkte, in seiner Natur.« 71 Die ausführliche Rezension, fast eine Generalabrechnung mit den Vertretern dieser mißliebigen Schreibweise, verweist auf die Grenzen dieser Darstellungsform, soweit sie einseitig verwendet wird bzw. vor allem in ihrer Anwendung auf die Exposition eines Charakters. Auffallend ist die merkwürdige Zweiteilung zeitgenössischer Äußerungen zur Dialogform: enthalten Vorreden und Abhandlungen meist summarische Lobreden, so die Rezensionen fast ausnahmslos erbarmungslose Verrisse, mit der Einschränkung allerdings, daß trotz der Fülle des Quellenmaterials, die Rezensionen zu weiten Teilen nur wenig aussagekräftig sind, als die große Zahl nur den Stoff referiert oder moralisch wertet, formale Gesichtspunkte aber gar nicht oder nur oberflächlich behandelt. Die Differenz zwischen literarischem Projekt und gescheiterter Durchführung manifestiert sich hier gewissermaßen parallel. Die Dualität theoretisch postulierter Vorteile und offensichtlich ganz handfester Nachteile der Schreibpraxis hat dazu geführt, daß Langeweile und Langatmigkeit zum Signum von Dialogtexten avancierten. Die Form erscheint im Lichte dieser vehementen Kritik als mißlungenes Experiment. Die Belegsammlung solcher Rezensentenkritik ließe sich mühelos erweitern, doch sinnvoller scheint es einerseits, die stereotypen Klagen zu systematisieren, andererseits zu fragen, warum es trotz allem zu dieser »serienmäßigen Produktion von Romanen jeweils gleichen Typs« 7 2 kommt. Die meisten dieser Dialogromane sind formal weitgehend anspruchslos. Unter bewußter Hintanstellung im eigentlichen Sinne ästhetischer Fragen will die vorliegende Arbeit einerseits durch Einbeziehen der Rezeption, andererseits durch die Diskussion forminhärenter narrativer Probleme die literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Zusammenhang von Dialog, Roman und Theater aufgreifen und ergänzen. Die im Begriff der >Weitläuftigkeit< zusammengefaßten (recht heterogenen) Phänomene sind mithin Korrelat der gewählten Dialogform. Drei Ge-

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U e b e r den dramatischen R o m a n , a . a . O . , S. 166. U e b e r den dramatischen R o m a n , a . a . O . , S. 169. E v a Becker, D e r deutsche R o m a n um 1780, Stuttgart 1964, S . 4 0 .

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Dialog als szenische

Schreibform

sichtspunkte sind besonders problematisch: die Länge der Texte bzw. ihre Zeitdarstellung, die Raumdarstellung und die Charakterdarstellung. Was macht die Handhabung des Dialogs so schwierig? Hauptkritikpunkt ist die Länge der Texte. Schon Christian Thomasius gab die Gesprächsform seiner Monatsschrift wegen der »Unbequemligkeit bey denen Gesprächen, daß man dieselbigen nicht wohl kurz fassen kann«, auf. Er sei gesonnen gewesen, niemals mehr als fünf Bogen zu verwenden, unter der Hand aber immer mehr gefüllt und oft habe das Geschriebene sogar auf zwei Monate verteilt werden müssen. Trotz des Vorteils der Dialogform, daß sie das »judicium von einem Autore ziemlich verstecken oder doch temperiren kan«, sieht er den entscheidenden Nachteil darin, daß die Verfasser »viel Umbstände fingiren/dem Leser einen appétit zu machen/oder denselben zu erhalten«.73 Die andere Möglichkeit »de rendre le récit plus rapide«, den Marmontel in seinem Dialogartikel der Encyclopédie verfocht, »de supprimer les dit-il et les dit-elle«74 oder die Sprecherangaben wegzulassen, werden erst Autoren des 19. und 20.Jahrhunderts praktizieren. Das erste Erfordernis sei »Natur und Simplicität«,75 bestimmten zeitgenössische Theoretiker >Form und Eigenschaft des poetischen GesprächsNatur< ab und daher Kürzen, Raffung, Zusammenfassung nicht verstattet sei. Die Suggestion der reinen Zeitdeckung entfaltet ihre Wirkung auch auf ihre Urheber. Manch einer beneidet die Romanschreiber, die sich für die erzählende Schreibweise entscheiden, denn »sie brauchen nur gar zu gerne die Flügel, die ihre Form ihnen ansetzt, und rauschen in einem Augenblicke über die dornigsten Gegenden hin, wenn der Dialogist, der immer Schritt vor Schritt auf dem Boden fort geht, sich mit tausend Mühe und Arbeit hindurchwinden muß«. 77 Engel beharrt jedoch auf der Bestimmung, jedes Gespräch müsse ein lückenloses Zeitkontinuum sein; »die Erzehlung hat nicht bloß die Freyheit, eine ganze Reihe von Veränderungen in Einem allgemeinen Zug zu befassen; sie hat auch die Freyheit, bald grö-

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Christian Thomasius, Monatsgespräche, Vorrede zum Januarheft 1689, Bd. 3, R e print Frankfurt 1972, S . 2 6 , 2 4 und 25. Marmontel, Œuvres Complètes, Bd. 2, G e n f 1968, Préface S. iv. Wilhelm Friedrich Hezel, Anleitung zur Bildung des Geschmacks, für alle Gattungen der Poesie, Hildburghausen 1791, B d . 2 , S . 5 . W.F. Hezel, a . a . O . J . J . Engel, U b e r Handlung, Gespräch und Erzählung (1774), Reprint Stuttgart 1964, S.64.

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Grenzen der dialogisierten

Biographie

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ßere, bald kleinere Sprünge zu thun, mehrere Momente, und oft ganze Reihen derselben, Tage, Monate, Jahre zu überhüpfen; (...). Das Gespräch, das die gegenwärtige Handlung selbst enthält, hat diese Freyheit des Uberhüpfens nicht, sondern muß, so lange es fortdauert, Punkt vor Punkt, Moment vor Moment, ununterbrochen durchgehn«.78 Versteht man den Dialog als raffinierteste Stilisierung natürlichen Sprechens,79 zeigt sich die Forderung nach Phonographie, nach Zeitdeckung, zugleich auch als kritischster Punkt der Poetik.80 Nun könnte man einwenden, diese Bestimmung sei falsch - alle Raffungsformen seien auch im Dialog möglich, wie Eberhard Lämmert betont hat; wenn jedoch auf sie verzichtet wird, entsteht Redundanz. »Die Romane sind überfüllt mit geschwätzigen Dialogen«, hatte Robert Riemann in einer Arbeit über Goethes Romantechnik harsch geurteilt, in die er die zeitgenössische Literaturproduktion extensiv einbezogen hatte.81 »Eine der Voraussetzungen der Effizienz der mündlichen Kommunikation ist ihre Redundanz«.82 Weitschweifig und redundant waren die Dialoge dort, wo es ihnen tatsächlich gelang, den langsamen und wiederholenden Gang der gesprochenen Sprache zu kopieren.83 Kein Wunder, daß dialogisierte Biographien wie der Alcihiades von Meißner dann vier Bände zu je 400 Seiten füllen. Allenfalls die Suggestionskraft einer Poetik läßt sich aus ihnen erschließen. Jene so häufig diagnostizierte Langeweile, die zum Gemeinplatz fast jeder Rezension avancierte, war jedoch kein Effekt fehlender Raffungsmittel, nicht nur die Unfähigkeit zu begrenzen: Die Rezensenten vermuteten dahinter absichtsvolle >Lohnschreiberei< - so würden Seiten geschunden. Der Dialogschreiber wählt ebenso wie jeder andere Erzähler aus, er arrangiert das Gespräch, bestimmt Einsätze, schneidet ab und unterbricht, wann es ihm paßt und wie es das Gesamtgefüge der Erzählung erfordert. Vornehmlich macht die szenische Darstellung von der Aussparung von Zeiträumen Gebrauch; die abrupten

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J . J . Engel, Ü b e r Handlung . . . , S.71/72. R o g e r Laufer, Ein Sohn der Philosophie, S . 3 0 . Aber auch die treue Wiedergabe mündlicher Kommunikation im Dialog ist nur Fiktion, vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 7. Auflage 1980, S.200. Lämmert hat Beispiele aus dem 19. J h . gewählt, die im Gegensatz zu den Texten des 18.Jahrhunderts über wenige Seiten Gespräch ganze Stunden vergehen lassen. Inzwischen wurde längst auch diese Forderung in Abrede gestellt. Vgl. G o e t h e s fiktives Gespräch Ü b e r Wahrheit und Wahrscheinlichkeit (1798), sowie Kapitel 3. R o b e r t Riemann, Goethes Romantechnik, Leipzig 1902, S . 2 8 7 . Die Probleme von Zeitstruktur, Raffungsmitteln bzw. Zeitdeckung im Dialog hat ausführlich eine U n tersuchung über Wieland behandelt: Heinrich Vormweg, D i e R o m a n e Chr. M . Wielands. Zeitmorphologische Reihenuntersuchung, Diss B o n n 1956. Florian Coulmas, Ü b e r Schrift, Frankfurt/Main 1981, S . 3 9 ; Walter J . O n g , Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 4 4 - 4 6 . Engel hatte gemeint, ein Gespräch sei nicht in Erzählung umformulierbar, nur unter Verlusten und vor allem unter größerem Seitenaufwand. Vgl. Transkriptionen von Alltagskommunikation aus der linguistischen Forschung (die für nichtprofessionelle Leser kaum lesbar sind).

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Schreibform

Zeitsprünge und Schauplatzwechsel bringen eine »tief zerklüftete Zeitkontur« 84 der Szenenintervalle mit sich, da über die Lücken nicht raffend berichtet* wird. Als weitaus bedeutenderes Problem als das der Zeitdarstellung im Dialog scheint dem Theoretiker die notwendige Linearität der Darstellung. Während der Erzähler Rückblicke einblendet, Nebenhandlungen einfügt, die später wichtig werden, Vorausdeutungen auf die ferne Zukunft oder Reflexionen und Beschreibungen einbaut, sei für den Dialogisten auch diese Freiheit nicht vorhanden, die Zukunft für ihn wirkliche Zukunft, Rückblicke in die Vergangenheit nicht erlaubt. Die sprechenden Personen können ihre Zukunft nicht kennen. Das Problem ist überdies die Handlungsarmut der Texte oder wie Meißner beklagt: »Landschaften, Seetreffen und Belagerungen zu dialogiren wäre noch widersinniger, als eine rauschende Kriegsmusik in Worte übertragen zu wollen«. 85 Für die Biographie wird die Zeitstruktur besonders problematisch, als ja meist Kindheit, Jugend und ein Teil des Erwachsenenalters in Gesprächsform dargestellt werden sollen. Dialogcharakteristikum ist aber gerade narrative Präsenz, eine Lebensgeschichte konnte folglich nur in additiv reihender Abfolge präsentischer >Szenen< oder Augenblicke erzählt werden. A. G. Meißner bittet beim Leser um Nachsicht: Man hoffe keinen zusammenhangenden R o m a n , denn ich habe gleich von Anfang her, nur einzelne Scenen versprochen. U n d man verlange von einzelnen Scenen nicht, was nur bei einem zusammenhangenden R o m a n e möglich ist! Dieser letztere soll freilich kein Warum? unbeantwortet übrig lassen; soll freilich in nie zu hastig eilender und nie zu langsam schleichender Stufenfolge Begebenheiten und Karaktere entwikkeln ( . . . ) . A b e r alle diese Forderungen müssen minder streng an eine Sammlung von Bruchstükken ergehn. 8 6

Die einzelnen Sequenzen mochten in ihrer Weise wohl zum Fortgang einer erzählbaren Geschichte beitragen, nicht unbedingt aber ließen sich Kausalketten entdecken, an denen die zeitgenössische Romanpoetik so sehr interessiert war, es sei denn, diese würden >berichtetEinbildungskraft< des Lesers. Offensichtlich fehlt mit der Raumdarstellung ein Teil des Lebendigkeit gebenden Hintergrundes und der faktischen Details; der Gesprächsschreiber kann ja dem Leser nur so viel mitteilen, wie die sprechenden Personen glaubwürdig davon in ihren Reden untereinander einfließen lassen. Das Spektrum reicht von typisierter Topographie bis hin zu gänzlich fehlenden anschaulichen Angaben zur Lokalität. Auf den zeitgenössischen Leser wirkten Toposallusionen als Aufruf literarischer Reminiszenzen, erinnern ihn an idealische Landschaftsschilderungen der Idyllenund Landlebendichtung, an die bukolische und georgische Bilderwelt der europäischen Literatur. Die Bandbreite erstreckt sich von indirekter Evokation des Fürstenhofes, an dem Klingers Weltmann tätig ist, der irgendwo im Deutschland des 18. Jahrhunderts liegt, aber nicht plastisch anschaulich wird,87 über Engels Herr Lorenz Stark, der (wie die zeitgenössischen Dramen) fast nur in Innenräumen angesiedelt ist, bis hin zur völlig abstrakt bleibenden >reinen Luft< des Elysiums in Wielands Peregrinas Proteus. Im Grunde sind dem Dialog präzisierende Details verwehrt, es sei denn in der gegenseitigen Mitteilung im Gespräch oder in den >Halbromanenfür sich< kennzeichnet. Wie viele Monologe drückt dieser Trick den Versuch aus, die Figuren gelegentlich auch >von innen< zu präsentieren. Carl Christian Ernst Graf zu Benzel-Sternau fügt seinem dreibändigen Opus Gespräche im Labyrinth aus dem Klarfeldischen Archive (1805) ein alphabetisches und extrem umfangreiches Inhaltsverzeichnis bei, das allerdings mit Titeln wie: Absolution, Ach, Alltagskost, Der Altar, Alter Streit, Die Amazonide, Ankömmlinge, Das Ausland (um nur die Rubrik

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J . J . Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783), Reprint Hildesheim 1976, S. 147. U n t e r dem Begriff >Concinnität< verstand man die harmonische Komposition eines Ganzen, wobei offensichtlich Ausgewogenheit im Dialogwechsel efer Entwicklung einer Biographie inkompatibel scheint. J . J . Eschenburg, a . a . O . , S . 2 4 5 . J . F. E. Albrecht, Lauretta Pisana. Leben einer italienischen Buhlerin. Aus Rousseaus Schriften und Papieren. Dramatisch bearbeitet. 3 Theile, Leipzig 1789, Bd. 1, Vorrede, S. X I V . D e n n o c h führt der Bösewicht seine »Bubenstücke beständig auf der Zunge, erzählt sie, w e r Lust hat zu hören, sogar Leuten, denen er sie durchaus zu verbergen suchen mußte« ( A d B 94, 1790, S. 140), wie der Rezensent die Unglaubwürdigkeit dieses Charakters bemängelt, ohne allerdings diese als Problem der Dialogform zu erkennen.

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Schreibform

A aufzuführen) keinerlei Aufschluß über die Handlung des Romans vermittelt. Personen durch ihre Rede zu charakterisieren, hieß, Wortwahl und Sprachduktus differenziert handzuhaben. A. G. Meißner fügt zunächst überleitende Passagen zwischen die wiedergegebenen Gespräche, bremst sich aber bald selbst: »Doch still! Ich wil ja seinen Karakter nicht erzälen; dialogiren wil ich ihn«. Er kündigt dem Leser an, daß »ich von iezt an meine Dialogen, eine Weile hindurch, noch seltner als bisher, durch Erzählung zusammenhefte. Es sind Inseln im Archipelagus, freilich ohne Brüken, aber doch leicht durch jeden Fischerkahn zu erreichen«.98 Bei der in Dialogform konzipierten Biographie konnten die Figuren nur über ihre sprachliche Ausdrucksweise gestaltet und identifiziert werden, eine Technik, die sich im 18.Jahrhundert vorwiegend auf typisierte Rede beschränkte und somit der Komödie annäherte. Heinrich Zschokke hat seinem Roman Coronata oder der Seeräuberkönig den Untertitel »Ein Holzschnitt« beigegeben und damit gleichsam die Figurengestaltung der Dialogromane auf den Begriff gebracht. Zschokke expliziert in der Vorrede: »Holzschnitt? - Nur Holzschnitt; ein Bild mit scharfen Umrissen der Gestalten, ohne Feinheit der Personen und ohne zarte Charaktergesichter, Gruppen ausgestaltet mit grellem Schatten, grellem Lichtblick«. 99 Oft wurden den Nebenfiguren Auskünfte über ihre Funktion im Handlungszusammenhang in den Mund gelegt; »man kennt diese peinlichen >Aufbau-Dialoge< vor allem aus schlecht gemachten Dramenexpositionen und Operettenlibrettos«. 100 Auch der Verfasser der Rezension Ueber den dramatischen Roman hat die Biographie in den Mittelpunkt seiner Kritik gestellt. Die »stufenweise Entfaltung eines Charakters haben wir im dramatischen Roman zu erwarten. Und so entsteht dann die Frage: läßt sich diese Absicht vollkommener in der erzählenden, oder in der dramatischen Form erreichen?«101 Die dialogische Form scheint ihm nicht geeignet, die Mannigfaltigkeit der Einflüsse auf die Entwicklungsgeschichte eines Menschen wiederzugeben. »Wäre es, um das Wie? eines Charakters begreiflich zu machen, schon genug, die Gefühle und Urtheile eines Menschen, von Zeit zu Zeit, in einer Unterredung mit andern darzulegen,

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A. G . Meißner, Alcibiades, 2. Auflage Leipzig 1786, Bd. 1, S. 1 1 6 - 1 1 8 . Heinrich Zschokke, Coronata oder der Seeräuberkönig, 2 Bde., Bayreuth 1796— 1802, Bd. 1, Vorrede, unpaginiert. Auch dieser Dialogroman war offensichtlich erfolgreich, denn 1802 erschien der zweite Band, von dem Zschokke in der Vorrede behauptet hatte, daß er ihn bei Mißerfolg zurückhalten würde. Eberhard Lämmert, a . a . O . , S.226. U e b e r den dramatischen Roman, in: N e u e Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Bd.44, 1. Stück, 1791, S . 3 - 1 8 , zit. Eberhard Lämmert u.a. (Hg.), Romantheorie 1 6 2 0 - 1 8 8 0 . D o k u m e n t a t i o n ihrer Geschichte in Deutschland, Frankfurt/Main 1988, S.167.

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Biographie

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welche Form entspräche dieser Absicht besser als die genannte?«102 Aber eine »noch so mannichfaltige Reihe von dialogischen Szenen« 103 verknüpfe immer nur additiv, es fehle die Verknüpfung, der »innere Zusammenhang«. Um das Problem zu meistern, empfiehlt auch dieser Rezensent als Konklusion, »die Gattungen zu mischen, d.h. die erzählende und die malerische Manier mit der dialogirenden zu verbinden«.104 Ein Meister in dieser Kunst sei Wieland. Außerdem unterschätzten die meisten Autoren die Verknüpfung der Sprechpartner. Reine Juxtaposition - selbst wenn die Personen sich trefflich charakterisieren - ergebe noch keinen Dialog: Diese Kunst des Gesprächs ist in dem Dialoge noch schwerer, als in dem Selbstgespräche. In diesem entwickeln sich doch die Gedanken nur in Einer Person, ohne durch die Einwirkung einer andern Person abgeändert zu werden. In dem Dialoge hingegen sind die innern Veränderungen nicht bloß in einer genauen Verbindung mit sich selbst; sie haben auch ihre Mitursachen in den Reden der übrigen Personen, mit denen sie in jedem Augenblicke in steter Wechselwirkung stehen. 1 0 5

Das Ziel war also folgendes: »Alle Aeusserungen der redenden Personen müssen dahin abzielen, jeden Gedanken der Hauptperson in ein helles Licht zu setzen; hiezu müssen alle Reden der übrigen genau abgepaßt seyn. (...) Es ist bey weitem noch nicht genug, daß man nur die Personen abwechselnd miteinander reden läßt; sondern alle Reden und Gegenreden müssen genau ineinander passen, und einen verhältnißmässigen Einfluß auf das Ganze haben«. 106 Andererseits durften auch die Zeitgenossen des Hauptcharakters nicht zu blaß bleiben, sondern sollten eigenes Profil gewinnen, das aber ebenfalls nur im Dialog darzustellen war. Das war nicht einfach und mit Recht bemängelten die Leser: »Die Nebenpersonen in unsern Romanen erscheinen gewöhnlich blos, damit das Gespräch beginnen könne«. 107 Es liegt auf der Hand, daß das Dilemma glücklicher in Mischformen wie etwa in Wezeis Herrmann und Ulrike (1780-1784) oder in Kerndörffers gesellschaftskritischem Roman Fürst Astolph und sein Freund Orion (1800) 108 102 103 104 105

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U e b e r den dramatischen R o m a n , a . a . O . , S. 167. U e b e r den dramatischen R o m a n , a . a . O . , S. 167. U e b e r den dramatischen R o m a n , a . a . O . , S. 165. J o h a n n August Eberhard, Handbuch der Aesthetik für gebildete Leser aus allen Ständen in Briefen, Halle 1 8 0 3 - 1 8 0 5 , Bd. 4, S. 128/129. Deutsche Encyclopédie oder Allgemeines R e a l = W ö r t e r b u c h aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, Artikel »Dialog«, Bd. 7, Frankfurt/ Main 1783, S. 177. U e b e r den dramatischen R o m a n , a . a . O . , S. 170. E i n R o m a n um Kabale, Intrigen und Verstellungskunst, in dem Dialoge nur punktuell eingesetzt werden, wenn Aufrichtigkeit den angerichteten Schaden beheben soll. Kerndörffer hat auch erbaulich-weltanschauliche Traktakte verfaßt; von diesem Duktus sind auch noch seine Dialoge bestimmt. Stets belehrt ein Wissender einen Unwissenden, im genannten etwa O r i o n den Fürsten Astolph, der nur durch Zwischenfragen oder Äußerungen mangelnden Verständnisses unterbricht, oder

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bewältigt wird, in denen in den narrativen Passagen vieles abgekürzt und gerafft werden kann. Gerade die Integration des Dialogs in einen narrativen Kontext erlaubt nuanciertere stilistische Effekte. Das empfehlen auch Zeitgenossen - in einer Besprechung eines weiteren dialogisierten Romans des Vielschreibers J. F. E. Albrecht: »Ree. hält die Romane, so viel die Form betrift, für die vorzüglichsten, in welchen die dramatische Behandlung mit der erzählenden geschickt verbunden ist«.109 Seiner Definition, der Roman »ist entweder bloß historisch oder erzählend,« oder »dramatisch und dialogisch« hatte Eschenburg ebenfalls hinzugefügt: »Beyde Formen können daher, der jedesmaligen Absicht nach, sehr vortheilhaft verbunden werden.« 1,0 Zudem vermag der Erzähler das Gespräch zu >interpretierenVerflößungstechnik< geschuldet. Wezel umgeht insofern auch die — von Rezensenten häufig bemängelte - »fast immer nur flache, Zeichnung der Mitredner«, 112 die nur vorhanden seien, um zur Bekanntschaft der Hauptfigur zu verhelfen. Neben den typischen Kontrastfiguren der Komödie nutzt Wezel in großem Maße die Vorteile direkter Rede zur Charakterisierung der Personen für sein »auf den Ton der wirklichen Welt gestimmtes Buch« 113 und erzielt komische Effekte durch individuell oder sozial gefärbte Redeweise. Die Porträtierung durch das Gesprochene bewährt sich am besten bei Kontrastfiguren, »wo aber eine Person wie die andere spricht, da leidet die Charakteristik Einbusse«." 4 Wezel sucht höfische Geziertheit, Jargon und volkstümliche Bauernsprache wiederzugeben, erfaßt den Duktus mündlicher Rede durch Interjektionen, abgebrochene Sätze. Satzbau, Wortwahl, Diktion, vornehme oder geringe Ausdrucksweise der Rollentexte spiegeln differenziert die Zugehörigkeit zu den Klassen und Schichten der Epoche, es muß aber nicht auf die Möglichkeit verzichtet werden, die Figuren beschreibend einzuführen und zu charakterisieren. Vermutlich könnte man den linguistischen Realismus, den Körner so an Goethes

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stereotype Ausrufe des Entsetzens oder der Überraschung, in den die Intriganten entlarvenden Gesprächen am Ende des R o m a n s . Pd., Rezension von: D e r Ehebruch, eine wahre Geschichte, dramatisch bearbeitet, vom Verfasser der Lauretta Pisana, Leipzig 1790, in: A d B 102 (1791), S. 4 2 0 - 4 2 4 . J . J . Eschenburg, E n t w u r f einer Theorie . . . , a . a . O . , S. 2 6 7 / 2 6 8 . Zahlreiche Beispiele für die vielfältigen Möglichkeiten epischer Integration von Dialogen liefert: R o b e r t Petsch, Der epische Dialog, in: Euphorion 32 (1931), S. 1 8 7 - 2 0 5 ; ders, Wesen und Formen der Erzählkunst, Halle 1934, S. 3 7 4 - 3 5 1 . U e b e r den dramatischen Roman, a.a.O., S. 170. J . K . Wezel, R o b i n s o n Krusoe (1779/80), Vorrede, in: J . K . W . , Kritische Schriften, Bd. 3, S. 18. R o b e r t Riemann, G o e t h e s Romantechnik, Leipzig 1902, S. 319.

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Grenzen der dialogisierten Biographie

W i l h e l m Meister lobt, auch Wezeis individueller A b s t u f u n g der Redeweisen z u s p r e c h e n : » I h r C o n t r a s t ist n i c h t grell, a b e r s t a r k g e n u g , u m d e n D i a l o g z u b e l e b e n , und gleichsam v o r u n s e r n A u g e n entspringt die M e i n u n g aus d e m Charakter«.115 N i c h t z u l e t z t , a b e r d a s gilt f ü r die a u f k l ä r e r i s c h e R o m a n p r o d u k t i o n j e n s e i t s d e r D i a l o g f o r m , v e r f a l l e n die e i n s t v i e l g e l e s e n e n T e x t e d e r V e r g e s s e n h e i t g e r a d e w e g e n i h r e s A n s p r u c h s , W i r k l i c h k e i t in k u n s t l o s e r D e u t l i c h k e i t , o h n e k ü n s t l e r i s c h e B e a r b e i t u n g d u r c h ein a n e i g n e n d e s S u b j e k t ,

wiederzugeben.

>Treue A b b i l d u n g < ist a u s d e r a u t o n o m i e ä s t h e t i s c h e n S i c h t e i n V o r w u r f , k e i n Vorzug.1

H u m b o l d t schreibt an Schiller, E n g e l s D i a l o g r o m a n habe ihm z w a r

g e f a l l e n , » e r ist f r e i l i c h e t w a s a l t m o d i s c h u n d v o n e i n e r G a t t u n g , d e r i c h n i c h t viel a b g e w i n n e n k a n n « . 1 1 7 E s d a u e r t n u r w e n i g e J a h r e , b i s d i e s e r E i n d r u c k allgemeine Z u s t i m m u n g findet. D e m D i a l o g r o m a n war kein langlebiger E r f o l g b e s c h i e d e n . » N a c h d e m sie ein h a l b e s J a h r h u n d e r t u n t e r d e n d e n D e u t s c h e n g e dauert hatte, verlief sich allgemach die dialogische F l u t h w i e d e r « . " 8

Anhang: Kleine Bibliographie zum Dialog (Auswahl) anonym, Auch Weiber tragen H o s e n ! eine dialogisierte Scene, C o n s t a n z 1788 - , Kleomenes, König von Sparta, in Dialogen, Leipzig 1791 - , Walslcben und Helfenstein, oder soll man heiraten. Ein Versuch nach Beispielen in dialogisirter F o r m , Danzig 1799 - , Schein und Wahrheit. Eine dialogisirte Geschichte, Hannover 1799 - , Bourguignon, ein dialogisirter Halbroman, o . O . 1795 - , Natürliche Dinge in einer Sammlung von Erzählungen, Skizzen und Dialogen. Nichts mehr und nichts weniger als ein R o m a n , Leipzig 1793 - , Amalie von Wildenhain, oder die rächenden Furien, eine dramatisirte Geschichte, Danzig 1800 - , Walter oder der deutsche Mann. Eine Geschichte aus den neuesten Zeiten, dramatisch bearbeitet, Stuttgart 1795 - , Zemeniede, ein dialogisirtes Feen-Mährchen, Leipzig 1796 - , Die eiserne Jungfrau. Eine Geistergeschichte, halb Dialog, halb Erzählung, von dem Verfasser der Geisterburg, Prag 1797 - , Die Scheschianische Wittwe, ein R o m a n in dramat. F o r m , aus einer chinesischen Handschrift. Pendant zu den Weisen in Scheschian, Leipzig 1798 - , Gespräch zwischen einer ungarischen und deutschen Hose, T h o r n und Danzig 1790

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Körner an Schiller am 5. N o v e m b e r 1796, N A , Bd. Das hat Christa Bürger an C h . G . Salzmanns 1783 erschienenem »dialogisierten« Briefroman vorgeführt; vgl. C . B., Das menschliche Elend oder D e r Himmel auf E r den? D e r R o m a n zwischen Aufklärung und Kunstautonomie, in: C . B . , Peter B ü r ger, J o c h e n Schulte-Sasse (Hg.), Z u r Dichotomisierung von hoher und niederer L i teratur, Frankfurt/Main 1982, S. 1 7 2 - 2 0 7 . Humboldt an Schiller am 20. N o v e m b e r 1795, N A , Bd. 36,1, S . 2 3 . Rudolf Hirzel, D e r Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, Leipzig. 1895.

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»Buchdramen«: Dialog als szenische Schreibform

J o h . Friedr. Ernst Albrecht, Alexander, der Held Griechenlands, ein historisch-dramatisches Gemälde vom Verfasser der Familie E b o l i , Leipzig 1795 - , D i e Familie von Eboli, dramatisch bearbeitet vom Verfasser der Lauretta Pisana, 4 Bde., Dresden, Leipzig 1791-1802 - , D i e Familie Medicis in ihrer glänzendsten Epoche, ein historisch-dramatisches G e mälde, 3 Thle, Leipzig 1 7 9 5 - 1 8 0 1 - , Lauretta Pisana. Leben einer italienischen Buhlerin. Aus Rousseaus Schriften und Papieren. Dramatisch bearbeitet, 3 Bde., Leipzig 1789, 2. Auflage 1792 J o h . J a k . Brückner, Wilhelm von Abissinien, oder aufgefangene Brieftasche Feliziens v. d. Gülden. Eine dialogische Geschichte vom Verfasser der Kabalen des Schicksals, 2 Thle, Leipzig 1799 J o h . Gabriel Bernhard Büschel, Wild, oder das Kind der Freude, ein dialogisirter R o man, 2 Thle, Berlin 1780 J o h a n n J a k o b Engel, H e r r Lorenz Stark, Berlin 1798 Ignaz Aurelius Feßler, Marc-Aurel, 4 Bde., Breslau 1 7 9 0 - 9 2 J o s e p h Alois Gleich, D e r Geist aus dem Brunnen oder Reinsteins Fall. Eine Sage aus den Gräuelzeiten der Vorwelt, Vom Verfasser Wallrabs von Schreckenshorn, Wien 1800 - , D e r G r a f von Varennes oder der Todtenhügel im Waidenhaine. Ein Familiengemählde, Wien und Prag o.J. Charlotte Eleonore Wilhelmine von Gersdorf, Esther, oder die Proselyten, eine dialogisirte Familiengeschichte v. d. Verf. der Familie Walberg, 2 Thle, Görlitz 1797 Friedrich Treugott Hase, Gustav Aldermann. Ein dramatischer R o m a n , Leipzig 1779 - , Friedrich Mahler. Ein Beitrag zur Menschenkunde, Dramat. R o m a n , Leipzig 1781 J . F . Jahn, Laura Moliso. E i n e dramatisierte Geschichte, Wien 1 7 9 2 - 9 3 J o h . J o s e p h Kausch, Kabale im Civildienst, ein dramatischer R o m a n , Grottkau 1 7 9 0 , 2 . Auflage 1807 Heinrich August Kerndörffer, Matthias Klostermayr, der sogenannte Bayerische Hisel. Eine wahre Geschichte unsrer Zeiten. Dramatisch bearbeitet. Seitenstück zu Rinaldo Rinaldini, 1800 August Klingemann, Die Asseburg. Historisch-dramatisches Gemälde, 2 Thle, Braunschweig, 1 7 9 6 - 9 7 August Gottlieb Meißner, Alcibiades, 4 Bde., Leipzig 1 7 8 1 - 8 8 , 2. Auflage 1 7 8 5 - 8 8 . J o h a n n Pezzi, Faustin oder das philosophische Jahrhundert, Zürich 1783 (2. Auflage 1 7 8 4 , 3 . Auflage 1 7 8 5 , 4 . Auflage 1788; vgl. den Nachdruck Hildesheim 1982 mit E r läuterungen und Dokumenten; zahlreiche Nachdrucke und Fortsetzungen, Ubersetzung ins Französische 1784 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Saladin, Aegyptens Beherrscher am Ende des zwölften Jahrhunderts. Ein romantisches Gemälde des Mittelalters, 1800 J o s e p h Richter, Wienerische Musterkarte, ein Beytrag zur Schilderung Wiens, Wien 1785 Friedrich Schlenkert, Friedrich mit der gebissenen Wange. Eine dialogisierte G e schichte, 4 Bde., Leipzig 1 7 8 7 - 1 7 8 8 Heinrich G o t t l o b Schmiedcr oder Schnieder, Das Erdbeben in Messina, eine dialogisirte Geschichte, Halle 1786 F r a n z J o h a n n Daniel Tank, Mehr als Lukrezia! Eine Begebenheit aus der wirklichen Welt, in dialogirter F o r m erzählt, Erlangen o.J. D i e Titel wurden bibliographisch vornehmlich über die Publikationen von Michael Hadley und Manfred W. Heiderich (vgl. Literaturverzeichnis) und den Katalogen der Universitätsbibliothek K ö l n , der Niedersächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin ermittelt.

Dialog als didaktische Strategie Zwischen Wissensvermittlung und Wissensproduktion

1. Die Kritik an der »Buchgelehrsamkeit« R E C H A N u n , Bücher wird mir wahrlich schwer zu lesen! S I T T A H I m Ernst? R E C H A In ganzem Ernst. Mein Vater liebt die kalte Buchgelehrsamkeit, die sich mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt, zu wenig. S I T T A H Ei, was sagst du! - H a t indes wohl nicht sehr U n recht! - U n d so manches, was du weißt? R E C H A Weiß ich allein aus seinem Munde. U n d k ö n n t e bei dem meisten dir noch sagen, wie? wo? warum? er michs gelehrt. S I T T A H S o hängt sich freilich alles besser an. So lernt mit eins die ganze Seele. (Lessing, Nathan der Weise)

Kein Zeitalter hat mehr an die Bildsamkeit und Erziehbarkeit des Menschen geglaubt als die Aufklärung. Fragen der Pädagogik und Volksbildung haben noch in der Spätaufklärung Konjunktur: Der Titel Philosoph für die Welt, wie ihn Johann Jacob Engel für ein Periodikum wählt, ist kennzeichnend für eine Konzeption, die ein gegenüber den geschlossenen Gelehrtenzirkeln, wie sie für die Frühphase der Aufklärung noch typisch waren, extrem erweitertes Publikum in den Blick faßt. Neben den Anspruch auf Selbstaufklärung treten Programme zur Breitenaufklärung. Viele der unbekannteren, heute fast vergessenen Autoren verschmähen es nicht, für das >Volk< zu schreiben; die radikalsten Vertreter der Aufklärung wollen der gesamten Menschheit Wissen zugänglich machen, es nicht auf Fachleute oder Gebildete begrenzen.1 Auch der Verzicht auf die Differenz von >geheimemLandmann< und zum >Pöbelunvernünftigen< Leseverhaltens herrscht in der Literatur des 18. Jahrhunderts kein Mangel. Der Vorwurf von »Lesewuth« und »Lesesucht« betraf dabei gleichermaßen weibliche Romanlescrinnen und ungebildete Volksschichten wie den professionellen und lektüreerfahrenen Gelehrten, den seine Bücher die Wirklichkeit vergessen lassen: Seine Z i m m e r sind mit den fürchterlichsten Folianten angefüllt. Diese kennt er alle auf das genaueste, nur sich selbst kennt er nicht u n d ist schon seit 16 Jahren beschäftigt, aus zehen Büchern das eilfte zu machen. (...) Mit d e m D e n k e n hat er nichts zu t h u n . E r liest und schreibt. 9

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Vgl. d e n Passus im Phaidros. Piaton selbst k a n n jedoch n u r selektiv f ü r Schriftkritik vereinnahmt werden, da er seine A r g u m e n t a t i o n schriftlich formuliert u n d damit auf das grundlegende Paradox schriftlicher Schriftkritik verweist. Z u m M e m o r i a - K o n z e p t vgl. Aleida u n d J a n A s s m a n n / C . H a r d m e i e r (Hg.), Schrift u n d Gedächtnis. Archäologie der literarischen K o m m u n i k a t i o n I, M ü n c h e n 1983; A . A s s m a n n / D . H a r t h (Hg.), M n e m o s y n e . F o r m e n und Funktionen der kulturellen E r i n n e r u n g , Frankfurt/Main 1991; Frances A. Yates, Gedächtnis u n d Erinnern. M n e m o n i k von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990; Eric A. Havelock, Preface to Plato, C a m b r i d g e 1962, S. 3 6 - 6 0 . J o h a n n G e o r g H e i n z m a n n , Appell an meine N a t i o n , Bern 1795, Reprint Hildesheim 1977, S.46. D e r M e n s c h e n f r e u n d , St. 5, vgl. St I, 24 Discourse der Mahlern. D e r Beleg f ü r die

Die Kritik an der

»Buchgelebrsamkeit«

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Schien bei Frauen u n d Kindern, D o m e s t i k e n u n d Bauern eher die G e f a h r des naiven o d e r evasorischen Lesens gegeben, schienen diese G r u p p e n d e m n a c h M e n s c h e n , die zwischen Fiktion u n d Wirklichkeit nicht unterscheiden k ö n n e n , w u r d e gegenüber den G e l e h r t e n d e r H i a t zwischen Lehre u n d Leben gegen L e k t ü r e geltend gemacht: D e r u n v e r n ü n f t i g e gelehrte U m g a n g m i t B ü c h e r n f ü h r e n u r z u r A n h ä u f u n g n u t z l o s e n Wissens in überflüssigen K o m p i l a t i o n e n ein T o p o s der Gelehrtenkritik, der bis weit ins 1 9 . J a h r h u n d e r t w i r k s a m bleibt u n d in d e r Figur des P e d a n t e n in der Literatur seine Gestaltung findet. Comme il n'y a point d'injure plus offensante que d'être qualifié de pédant, on se garde bien de prendre la peine d'acquérir beaucoup de littérature pour être ensuite exposé au dernier ridicule. 10 D e r P e d a n t w i r d mit Lächerlichkeit u n d Bücherwissen identifiziert, bezeichnenderweise im Artikel >Littérature< der Encyclopédie, einem Begriff, mit d e m E r u d i t i o n u n d K e n n t n i s der >Belles Lettres< gemeint sind, noch nicht Literatur im m o d e r n e n , verengten Sinn eines Objektbegriffs. 1 1 I m 18.Jahrhundert steigt die Kritik am B u c h p r o p o r t i o n a l z u r H ö h e der B u c h p r o d u k t i o n - sie n i m m t ihren A u s g a n g s p u n k t im >Zuvielzu viel Buch, zu wenig WeltBuch< u n d >Welt< d ü r f e n s t r e n g g e n o m m e n nicht getrennt u n d nicht vermischt w e r d e n . F r a u e n u n d K i n d e r vollführen die waagerechte Bewegung: Sie ziehen das Buch in die Welt u n d leben danach, v e r m ö g e n sich nicht zu trennen. D i e G e l e h r t e n machen d e n senkrechten Schnitt, sie k o p p e l n sich ab, u n d verlieren im B u c h s t a b e n die Welt aus den A u g e n . »Unvernünftiges Lesen< gilt m a n c h einem K r i t i k e r der B u c h k u l t u r als tautologische F o r m u l i e r u n g : »die schönen Künste, Schriftstellerey, Gelehrsamkeit enden alle zuletzt - in A u s a r t u n g u n d d e m schrecklichsten M i ß b r a u c h e . « Es scheint ausgemacht, »daß je mehr die vielseitige Wissenschafts=Seuche z u n i m m t , die schönste Tugend - die Bescheidenheit a u f h ö r t , u n d die K r a f t d e r M e n s c h e n sich in m ü ß i g e n Spekulationen verliert«. 1 2

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Kritik der eruditen, weltfremden Abkehr vom Leben steht für zahlreiche vergleichbare Äußerungen. Encyclopédie, Artikel »Littératures Bd. 9, S.594. Das gilt ebenso für den deutschen Sprachraum. Für >Litteratur< als Bezeichnung einer Gruppe von Wissenschaften wie Poesie, Rhetorik, Philologie, Grammatik u.a. und des in ihnen schriftlich niedergelegten Wissens gab es auch dort das Synonym der »Schönen Wissenschaften«. Vgl. Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, München 1989, S. 199-202; Jürgen Fohrmann, Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 11 und 125/126. Johann Georg Heinzmann, Appell an meine Nation, Bern 1795, Reprint Hildesheim 1977, S. 18 und S.39. Sein Argument: »Man kann Verstandes=Aufklärung und

Dialog als didaktische

144

Strategie

D e r bedrohliche Charakter dieser den weitabgewandten Gelehrten von jeher zugeschriebenen Trennung von Lektüre und Lebenspraxis wächst sich mit der zunehmenden Verschriftlichung der Kultur zu einer scheinbar universalen Gefahr aus. »Viele Dinge geschehen täglich vor unsern Augen, oder sind nur wenig Schritte von uns, die wir doch kaum eher bemerken, als bis wir sie in Büchern gefunden haben«. Garve nennt dieses nicht aus Erfahrung erworbene Wissen »präsumptive Kenntnisse durch W ö r t e r und Formeln« und befürchtet: »Erst durch die Kopien werden wir auf die Originale aufmerksam«. 13 Die Frage, wie Wissensgewinn zu ermöglichen sei, beantworten Pädagogen und Popularphilosophen der Spätaufklärung daher mit einer Unterscheidung: nicht durch »todtes« Bücherwissen, sondern durch lebendiges Wissen, durch mündliche Kommunikation. Die französische Sprache des 18.Jahrhunderts hat den Bedeutungsunterschied von Lernen im Umgang oder Studieren von Büchern im Gegensatz zur deutschen kodifiziert. Im Artikel >Apprendre< unterscheidet Diderot semantisch verwandte Begriffe in einer Weise, die sich auch als Differenzbestimmung von Wissenserwerb über Schriftlichkeit oder Mündlichkeit eignet: A P P R E N D R E , Etudier, s'instruire. Etudier, c'est travailler à devenir savant. A p prendre, c'est réussir. ( . . . ) plus on apprend, plus on sait; plus on étudie, plus on se fatigue. Il y a des choses qu'on apprend sans les étudier, & d'autres qu'on étudie sans les apprendre. ( . . . ) on apprend d'un maître; on s'instruit par soi-même. ( . . . ) on apprend en écoutant; on s'instruit en interrogeant. 1 4

Die einsame Lektüre des Gebildeten entfernt ihn von der Gesellschaft - die Umsetzung des Gelesenen in die Praxis bleibt zweifelhaft. Mündigkeit scheint dieser Auffassung zufolge kaum durch Lektüre erwerbbar, scheint fast identisch mit Mündlichkeit zu sein. D e r Artikel >Livre< der Encyclopédie wirft Büchern vor, »qu'ils étouffent nos propres lumières, en nous faisant voir par d'autres que par nous mêmes«. 15 Konsequenterweise werden Bücher von manchen Zeitgenossen in gewisser Weise antropomorphisiert: »Bücher sind lehrreiche

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Sittenverbesserung nicht als Ursachen und Wirkung von einander ansehen.« S . 2 1 . Ein anderes Argument ist, daß es mehr schlechte als gute Bücher gebe. Damit ist ein Vielleser automatisch ebenfalls u n v e r n ü n f t i g e Er könne nicht, meint Shaftesbury, »think it proper to call a Man well-read who read many Authors: since he must of necessity have more ill Models, than good; and be more stuff'd with Bombast, ill F a n c y and W r y Thought; than fill'd with solid Sense, and just Imagination.« (A.Shaftesbury, Soliloquy, a.a.O., S.342/343). C . Garve, Verschiedenheiten in den Werken der ältesten und neuern Schriftsteller: in: ders., Popularphilosophische Schriften, ( H g . ) Kurt Wölfel, Stuttgart 1974, Bd. 1, S.31. Denis Diderot, Artikel » A P P R E N D R E « , E H , B d . 5 , S.417/418. Encyclopédie, Bd. 9, S. 606.

Die Kritik an der

»Buchgelehrsamkeit«

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Gesellschafter (...), sie antworten uns auf alles, was wir zu wissen begehren«. 16 Mit Büchern soll fortan ein Gespräch geführt werden (eine ihnen eigene Kommunikativität wird ihnen zunächst noch abgesprochen). Eine zweite Variante setzt auf Dialogisierung im Text selbst. Um das Buch aus der Welt zu halten, tritt der Mensch ins Buch. Von den Gegnern der neuen Buchkultur sind denn auch harte Worte gegen »Preßfreyheit« und für Zensur als Schutzmaßnahme gegen >gemeinschädliche< Bücher zu vernehmen. Zeitgenössische Utopien neigen ebenfalls dazu, Bücher zu eliminieren - und inszenieren dies in drastischen, >flammenden< Bildern: In Louis-Sébastien Merciers Utopie L'an 2440. Rêve s'il en fut jamais von 1771 sind nur wenige Bücher dem riesigen Autodafé entronnen, in dem frivole, unnütze oder gefährliche Bände verbrannt wurden. Anstelle der unermeßlich großen Büchersäle der königlichen Bibliothek blieb nur noch ein kleines Kabinett. Der Scheiterhaufen »war aus fünf- bis sechshunderttausend Wörterbüchern, hunderttausend Bänden der Jurisprudenz, hunderttausend Gedichten, sechshunderttausend Reiseberichten und einer Milliarde Romanen zusammengesetzt«. 17 Da das Buch häufiger ein Hindernis denn Hilfe für die Suche nach Wahrheit vorstellt, wird äußerst sorgfältig die Auswahl getroffen. Durch Bücher, so Mercier, verlören Menschen ihre »Erfindungsfähigkeit und Originalität«. Nach der Reinigung bleiben nur schmale und wenige Bände, zudem nur als Konzentrat, in Auszügen komprimiert, nachdem sie einer Bearbeitung unterworfen wurden. Das Gegenmodell in seiner Utopie wird die räsonnierende Öffentlichkeit sein. 18 Auch in einem weiteren Roman Klingers ist »Wissenschaft« Quelle von Unzufriedenheit, Hochmut, Feindschaft und Laster. Seine Kritik am Erkenntnistrieb verdichtet sich zur Kulturkritik: Gesellschaft und Böses sind identisch, »Kultur« verschlingt »Unschuld«. 1 9 »Langeweile und Begierde, zu wissen, trieben ihn zu den Büchern seines Vaters«; 20 das kann natürlich nicht gutgehen. Auch hier folgt ein Autodafé - Giafar verbrennt das

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J o h a n n Adam Bergk, Die Kunst, Bücher zu lesen. N e b s t Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, J e n a 1799, Reprint München, Berlin 1971, S.3. Sogar Trost spenden Bücher, sie klagen mit uns, bemitleiden uns und teilen unsre Schmerzen, heißt es weiter (S. 7)1 Louis-Sébastien Mercier, Das J a h r 2440, (Hg.) Herbert Jaumann, Frankfurt/Main 1982, S. 114. E i n Konzept der transparenten N ä h e , in dem alle K o n t a k t e als personal organisierte, als face-to-face Kommunikation beschrieben werden. Vgl. etwa die Kapitel >ThronsaalRegierungsform< (S. 1 5 7 - 1 6 6 ) . Das »zugrundeliegende Ideal ist die Vorstellung einer Gemeinschaft, die - ohne Aufschub - unmittelbar sich selbst gegenwärtig ist, einer Gemeinschaft des gesprochenen Wortes, in der alle Mitglieder in Rufweite miteinander verkehren«; Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/ Main 1974, S . 2 3 7 / 2 3 8 . F . M . Klinger, Reisen vor der Sündfluth (1794), SW, B d . 6 , S . 2 3 / 2 4 . F. M. Klinger, Geschichte Giafars des Barmeciden ( 1 7 9 1 - 9 3 ) , SW, Bd. 5, S. 9/10. Verbrennung der Büchersammlung: a . a . O . , S. 140.

Dialog als didaktische

146

Strategie

K u l t u r s y m b o l B ü c h e r . F a u s t d a g e g e n e r h ä l t die H ö l l e n s t r a f e , in alle E w i g k e i t ü b e r die g l e i c h e n u n l ö s b a r e n P r o b l e m e n a c h d e n k e n z u m ü s s e n . W a s hier i m R o m a n s a t i r i s c h m a s k i e r t ist, stellt die Z e i t g e n o s s e n v o r g r o ß e P r o b l e m e : V o r der Buchdruckerei war es möglich, diese und jene Schrift vor diesen und jenen Augen zu verbergen; kaum ist dieses jetzt mehr möglich. Alles lieset Alles, es möge von ihm verstanden werden oder nicht; nach der verbotnen Speise lüstet man am meisten. 2 1 D a s M o t i v d e r c u r i o s i t a s als S ü n d e t a u c h t a k z e n t u i e r t auf. O f f e n s i c h t l i c h w i r d der Wissenstrieb nur zögerlich positiver bewertet. Gilt Wissen aber grundsätzl i c h als f ö r d e r u n g s w ü r d i g , w e r d e n V e r m i t t l u n g s p r o b l e m e z e n t r a l . M i t d e r b e ginnenden Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften22 u n d ungeachtet der e n z y k l o p ä d i s c h e n B e m ü h u n g e n , n o c h e i n m a l E i n h e i t h e r z u s t e l l e n , tritt d e r Funktionsverlust alteuropäischer Gelehrsamkeit nun offen zutage. Verstärkt r ü c k t die F r a g e in d e n V o r d e r g r u n d , w i e die K l u f t z w i s c h e n spezialisierten F a c h g e l e h r t e n , » j e n e ( n ) lebendigen R e p e r t o r i e n d e r B ü c h e r w e l t « , 2 3 u n d int e r e s s i e r t e n L a i e n z u ü b e r w i n d e n sei. N u r in d e n s e l t e n s t e n F ä l l e n heißt die Antwort:

S t u d i u m , L e k t ü r e v o n B ü c h e r n . 2 4 Selbst d e r A u t o d i d a k t , d e s s e n

W i s s e n n o t w e n d i g u n d d e f i n i t i o n s g e m ä ß n u r aus B ü c h e r n s t a m m e n k a n n , e r liegt d e m D i s k u r s u n d stilisiert in d e r a u t o b i o g r a p h i s c h e n R ü c k s c h a u

den

M a n g e l a n G e s p r ä c h z u m A n t r i e b f ü r das ö f f e n t l i c h e G e s p r ä c h « , das S c h r e i ben, um: I c h war damals ein junger Mensch, der außer den gewöhnlichsten Schulstudien keine gelehrte Erziehung gehabt hatte, und nach Ausbildung begierig, aber keinem M e n schen bekannt war, der dazu hätte beitragen können. ( . . . ) ich mußte alles aus B ü chern und aus mir selbst ziehen. Ich las also mit unermüdetem Eifer, und reflektierte über das Gelesene nach meiner A r t , ohne daß ich mit irgend jemand mich unterreden konnte, welches doch zur E n t w i c k l u n g der Gedanken so vorteilhaft ist. (...) Weil

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J . G. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, SW, Bd. 18, S. 93. Vgl. Rudolf Stichweh, Die Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen, Frankfurt/Main 1984. J o h a n n Gottlieb Fichte, Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in: Ernst Müller (Hg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, S. 116. Z u r Funktion der Spezialisierung von Wissenschaftlern im Prozeß disziplinärer Differenzierung vgl. R u d o l f Stichweh, Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung, in: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Voßkamp (Hg.), Wissenschaft und N a t i o n , S. 9 9 - 1 1 2 . Z u m Zusammenhang von Universität als Lehrorganisation und buchvermittelter Autodidaxie, der seit der Frühmoderne diskutiert wird, vgl. R u d o l f Stichweh, D e r frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion von Politik und Erziehungssystem im Prozeß ihrer Ausdifferenzierung (16.-18.Jahrhundert), Frankfurt/Main 1991, S . 2 8 5 - 2 9 7 .

Die Kritik an der

»Bucbgelehrsamkeit«

147

ich niemand hatte, dem ich meine Gedanken mündlich mitteilen konnte, so mußte ich sie der Feder anvertrauen. 2 5

Anders als es das heutige Verständnis will, wird das der Mündlichkeit verdankte Wissen höher geschätzt als jede der Welt der Schrift geschuldete Unterweisung. Für die Erziehung und Ausbildung von >Amateuren< und >Dilettanten< benötigt man neue Methoden und geeignete Mittler. Parallel zum Anwachsen von Wissens- und Bücherproduktion wird im Wissenschaftssystem der Versuch unternommen, Spezialisierung zu vermitteln, nicht nur für Eingeweihte zu schreiben. Als populärwissenschaftliche Form der Darstellung philosophischer Inhalte und in Opposition gegen den traditionellen Umgang mit Wissen macht vornehmlich der Dialog Ende des 18.Jahrhunderts Karriere. Auch über Alternativen wird nachgedacht, vor allem bietet sich die »freye Betrachtung« als ebenso wenig normative Darstellungsform an - heute würde man sie Essay nennen. 2 6 Eines scheint den Zeitgenossen sicher: weder »jenen magern Paragraphenstyl« mögen sie empfehlen »noch eine aus den Zeughäusern der alten Philosophie entlehnte terminologische Rüstung«. 2 7 Was den Anforderungen pädagogischer Breitenwirkung nicht mehr standzuhalten vermag, ist vor allem das Erbe der Scholastik, ihre fast mathematisch konstruierten, deduktiven Traktate und ihre Vertreter, die als >Pedanten< kritisierten Gelehrten. Man muß bedenken, daß die Ablösung von der Scholastik und ihrem gelehrten Wissen ein Vorgang der >longue durée< ist, ein langwieriger Prozeß, »der sich schon im Mittelalter ankündigte, mit der Renaissance und dem Humanismus virulent ausbrach« 2 8 und hier in eine Schlußphase tritt. 25

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Friedrich Nicolai, Brief an G e o r g Christoph Lichtenberg, 29. 10. 1782, in: F . N . , »Kritik ist überall, zumal in Deutschland, nötig«. Satiren und Schriften zur Literatur, ( H g . ) Wolfgang Albrecht, Leipzig und Weimar 1987, S. 4 3 6 / 4 3 7 . Mit der D i f f e renz des der Einsamkeit verpflichteten Autodidakten, der nur >Bücher zu Gesellschaftern« hat und dem Geselligen, der seine Menschenkenntnis« dem Gespräch verdankt, arbeitet Christian Garve in seiner Abhandlung U b e r Gesellschaft und Einsamkeit, 2 Bde., Breslau 1797. D e r Zusammenhang von Dialog und Essay ist häufig gesehen worden; vgl. Klaus Weissenberger, D e r Essay, in: ders. (Hg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die G a t t u n gen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, Tübingen 1985, S. 1 0 5 - 1 2 4 ; Ludwig Rohner, D e r deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung, Neuwied und Berlin 1966, zu Essay und Dialog besonders S. 464ff. Selbstverständlich gehört zu diesem A b b a u der Standesschranken zwischen Gelehrten und Ungelehrten auch die Umstellung der Wissenschaftssprache von Latein auf D e u t s c h ; vgl. Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum E n d e des neunzehnten Jahrhunderts, München 1989, S. 1 3 - 3 9 . Karl Heinrich Heydenreich, System der Ästhetik, Leipzig 1790 Vorrede, S. XXVIII. Ludwig Rohner, D e r deutsche Essay, Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung, Neuwied und Berlin 1966, S . 6 5 . R o h n e r weist jedoch darauf hin, daß beide Grundtypen, die er methodisches und aphoristisches D e n k e n nennt, immer, in allen E p o c h e n aufzufinden sind.

Dialog als didaktische

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Strategie

D e n Zeitgenossen des 18.Jahrhunderts drängt sich noch immer die Frage auf: »Warum wir so wenig Schriftsteller für Menschen, sondern meistens Schriftsteller für Schriftsteller, Gelehrte für Gelehrte« haben? 2 9 Nicht länger scheint das Wissenswürdige selbstverständlich, nicht länger die tradierte Art und Weise der Vermittlung unproblematisch. Die Suche nach einer anschaulichsinnlichen Unterrichtsmethode jenseits von Bücherwissen beginnt. Mit der Unterscheidung von mündlich oder schriftlich vermitteltem Wissenserwerb wird eine Differenz thematisiert, die als Differenz nicht neu ist, vor und nach dem behandelten Zeitraum aber einseitig und eindeutig zugunsten je einer Seite gewichtet wird. Auch nach Erfindung von Schrift und Buchdruck blieb die Übermittlung von Wissen jahrhundertelang wesentlich auf Oralität verwiesen. Der Lernprozeß verlief weitgehend über an persönliche und mündliche Mitteilung gebundene Lehre. Die Abbildung der kommunikativen F o r m der Lehre im Schreibverfahren liegt in einer zunehmend mit Texten konfrontierten Gesellschaft nahe. Die fundamentale Verschiedenheit des >Gegenübers< beim Umgang mit Texten und beim Umgang mit Menschen scheint in der Dialogform aufgehoben. »Der Leser siehet sich alsdenn als die zweyte der unterredenden Person an, nimmt an der ganzen Unterredung Antheil, und unvermerkt schleichen die Begriffe in seine Seele«. 3 0 Für die Epoche vor 1800 charakteristisch wird die exzessive Nutzung des Dialogs im Medium Schrift, was sie dem retrospektiven Blick als Ubergangsphase zur primär über Schrift vermittelten Kultur des 19. Jahrhunderts erscheinen läßt. Aufschlußreich für diesen Zusammenhang ist ein Fragment von René Descartes, das sich im Nachlaß findet; es trägt den schönen Titel Die Suche nach der Wahrheit

durch das

natür-

liche Licht, das ganz rein ist und ohne Hilfe von Religion oder Philosophie die Meinungen bestimmt, die ein Ehrenmann gegenüber den Dingen haben sollte, die sein Denken

beschäftigen

können.

Descartes stellt dort die Frage nach der

F o r m der Wissensvermittlung und - bezeichnend genug - er stellt sie in einem Dialog. Aus Opposition gegen angelesene Bildung wird das Problem in G e sprächsform präsentiert - der einzige Versuch Descartes, seiner Philosophie eine dialogische Einkleidung zu geben. U n honnête h o m m e n'est pas obligé d'avoir vu tous les livres, ni d'avoir appris soigneusement tout ce qui s'enseigne dans les écoles; et même ce serait une espèce de défaut en son éducation, s'il avait trop employé de temps en l'exercice des lettres, 3 1

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31

J . G . Herder, Ü b e r Thomas Abbts Schriften, SW, Bd. 2, S. 272. Deutsche Encyclopédie oder Allgemeines R e a l = W ö r t e r b u c h aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, Artikel »Dialog«, Bd. 7, Frankfurt/ Main 1783, S. 177; wobei unklar bleibt, wieso der Leser sich mit der >zweiten< Person identifiziert oder welche diese ist. René Descartes, La recherche de la vérité par la lumière naturelle, hg. und übersetzt von Gerhart Schmidt, Würzburg 1989; in der Übersetzung: »Ein kultivierter Mensch muß weder alle Bücher durchgesehen noch sich sorgfältig die ganze Schul-

Die Kritik an der

»Buchgelehrsamkeit«

kündigt Descartes La Recherche fährt wenig später fort:

149

de la Vérité par la lumière naturelle an und

( . . . ) quand bien même toute la science qui se peut désirer, serait comprise dans les livres, si est-ce qu'ils ont de bon est mêlé parmi tant de choses inutiles, et semé confusément dans un tas de si gros volumes, qu'il faudrait plus de temps pour les lire, que nous n'en avons pour demeurer en cette vie, et plus d'esprit pour choisir les choses utiles, que pour les inventer de s o i - m ê m e . 3 2

Die Kritik an angelesenem Wissen ist noch vergleichsweise moderat: >trop de temps«, Lektüre stiehlt Zeit, man dringt nicht schnell genug zum Wesentlichen vor. Daß dies in den Büchern zu finden sei, wird nicht angezweifelt. Die Akzentuierung des >inventer< in der doppelten Bedeutung von erfinden und auffinden des lateinischen Ausdrucks inventio deutet auf die topisch-rhetorische Tradition und die vormoderne Wissenskonzeption. Auch erfindend findet man dieselben Wahrheiten. »Man ließt oft dicke Bände um sich nur einen einzigen wahren vernünftigen Gedanken zu abstrahiren; (...) ja gar nicht selten ließt man sich dumm«.33 Zeit zu sparen, vermag der (angeleitete) Dialog; daher habe er sich bemüht, diesen Weg der Vermittlung zu gehen. »(..) et pour cet effet, je n'ai point trouvé de style plus commode, que celui de ces conversations honnêtes, ou chacun découvre familièrement à ses amis ce qu'il y a de meilleur en sa pensée«.34 Um wirklich exakt verstanden zu werden, habe er auf der Suche nach einer angemessenen Form als effizienteste die Konversation gewählt. Descartes konfrontiert drei gegensätzliche Personen mit sprechenden« Namen: Im Mittelpunkt steht Poliander, der wohlerzogene Mann von Welt, ein »honnête homme«, der wißbegierig, lernwillig und vorurteilsfrei ist, seine Bildung jedoch nur am Hof und im Waffendienst erwarb und nun bedauert, daß seine Eltern ihm das »Studierzimmer« verwehrten - zugleich steht er für das angesprochene Publikum des Dialogs. Zwei Lehrer bemühen sich um ihn, Epistemon ( = der Wissende), die Verkörperung des Schulphilosophen und Buch-

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weisheit angeeignet haben; es "wäre sogar fast ein Fehler auf seinem Bildungsweg, wenn er zuviel Zeit für die gelehrte Bildung verwendet hätte.« S. 26/27. A . a . O . , S . 2 8 / 2 9 ; in der Ubersetzung: »Wenn auch in den Büchern alles Wissenswerte enthalten wäre, so bleibt doch der brauchbare Inhalt mit so viel Nutzlosem vermischt und ist über einen Haufen so dicker Bücher verstreut, daß man mehr als unsere Lebenszeit für die Lektüre aufzuwenden hätte; und man benötigte mehr Geisteskraft, um das Brauchbare herauszusuchen, als um es selbst herauszufinden.« J o h a n n G e o r g Heinzmann, Appell an meine Nation, B e r n 1795, Reprint Hildesheim 1977, S. 75. A . a . O . , S . 3 0 / 3 1 ; in der Ubersetzung: »Dafür fand ich keine passendere literarische F o r m als das kultivierte Gespräch, in dem man vertrauensvoll seinen Freunden die Vorzüge seines Denkens offenlegt.« Zur Rolle des Dialogs in Descartes Werk vgl. Pierre Alain Cahné, U n autre Descartes. L e philosophe et son langage, Paris 1980, besonders S. 5 3 - 6 5 .

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Dialog als didaktische

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gelehrten, der nur der Autorität der Bücher und Lehrmeinungen vertraut, und Eudoxus ( = der Wohlmeinende), der nie eine Universität besucht hat und sein Wissen auf Reisen und im Gespräch erwarb. Mit der Wahl eines Dialogs zwischen drei Personen entscheidet sich Descartes für die im 17. Jahrhundert populärste Figuration; 35 das achtzehnte Jahrhundert wird sich meist für die Zweier-Konstellation entscheiden. Die bloße Zahl der Gesprächsteilnehmer hat eine qualitativ andere Bedeutung als nur eine numerische Erweiterung oder Reduzierung der Beiträge. Die Verhältnisse zwischen zwei oder drei Personen unterscheiden sich fundamentaler voneinander als die quantitative Erweiterung auf vier oder mehr Personen, die die Beziehung keineswegs noch entsprechend modifiziert. Die Differenz von Zweierrelationen zu drei oder mehr Personen erhöht die Komplexität der möglichen gesprächsweisen Verknüpfung der Beteiligten und die Formen der Hierarchiebildungen: Wechsel von Koalitionen, Differenzierung von Konflikt- und Kooperationsmöglichkeiten und Superioritätszuordnungen. 36 Dreistellige Relationen haben unter anderem den Vorteil, daß eine intermediäre Position die Beziehung der beiden anderen Partner gleichsam vermittelt. Möglich als Konfiguration ist auch die ausgewogene Balance dreier Positionen oder die Parteibildung 2:1. Zweistellige Relationen zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen andere Formen der Hierarchiebildung dominieren. Sie können die Antagonisten in eine hierarchische Opposition setzen, d.h. die Superiorität der Gesprächspartner gilt in ungleichartigen Bereichen, in eine vertikale Beziehung zu einander, etwa soziale unten/oben-Plazierungen, oder in ein horizontales Nebeneinander mit entgegengesetzten, aber durchaus gleichwertigen Positionen, in dem es keine Majorität oder Uberordnung gibt. Das 1 S.Jahrhundert favorisiert zwar die zweistellige Relation, hier aber nicht die strikte Symmetrie, wie sie die Literaturgeschichtsschreibung in der Übernahme der Habermasschen These aus Strukturwandel der Öffentlichkeit unterstellt. 37 Die dreistellige Beziehung, wie sie der Dialog von Descartes aufweist, findet dagegen kaum Nachahmer. Der Adressat Poliander ist bereits ein Ergebnis, ein Ergebnis richtiger Lebens-Führung, hat er doch sein Wissen in der Welt, fern von allen Büchern erworben. Dieser Bildungsweg wird nun im Dialog auf die Probe gestellt, indem Poliander auf die beiden divergierenden Lern- und Lehrweisen trifft, auf den Schulphilosophen und den Reisenden. Wie nach der Vorrede zu erwarten steht, erweist sich schnell die Unfähigkeit des »von hundert Vorurteilen be-

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Vgl. Bernard Bray, Le dialogue c o m m e forme littéraire au X V I I e siècle, in: Cahiers de l'Association internationale des études françaises 24 (1972), S. 15/16. Vgl. G e o r g Simmel, Soziologie (1908), Berlin 6. Auflage 1983, S. 3 2 - 1 0 0 . Als Beispiel für hierarchische O p p o s i t i o n vgl. die Kapitel zu Klinger und Diderot, für vertikale Beziehungen dieses Kapitel, für eine symmetrische Relation das Kapitel zu Wieland.

Die >SelbstdenkerLeser< nicht mitreden kann. Festzuhalten ist zunächst, daß das Bildungskonzept progressiv ist: Aufklärung setzt immer mitten in Bildung ein, Spätaufklärung ist Weiterbildung weiter Kreise.38

2. Die >SelbstdenkerTheorie des Lehrstils< (die er ebenso vermißt wie die Theorie der Prosa überhaupt und zum Desiderat erklärt) unterscheidet Karl Heinrich Ludwig Pölitz fünf Möglichkeiten des Zugriffs: Die »systematische« (vollständige, erschöpfende) Art, die »compendiarische« (erschöpfende, aber gedrängte) Art, die »commentirende«, die »populäre« (leichtfaßliche, für ein Publikum ohne gelehrte Vorkenntnisse bestimmte) sowie die »dialektisch-kritisirende« Weise. Der Dialog wird als »katechetische oder sokratische Form« 41 dem popularisierenden Verfahren subsumiert und findet sich in unmittelbarer Nachbarschaft von Sprichwörtern, Loci communes und Sentenzen klassifiziert, offensichtlich

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Galilei, Campanella, Giordano Bruno, Leibniz und Fontenelle greifen trotz ihrer Verschiedenheiten ebenfalls auf den im 17. Jahrhundert als Präsentationsform philosophischer Ideen so prominenten Dialog zurück. Fontenelle denkt bereits an die Frauen. Wissenschaftliche Probleme sollen so spannend und zugleich einfach vorgestellt werden, daß auch weibliche Leser die Lektüre nicht anstrengend finden, sondern unterhaltend und belehrend zugleich. Vgl. Hartwig Kalverkämper, Kolloquiale Vermittlung von Fachwissen im frühen 18.Jahrhundert. Gezeigt an den »Entretiens sur la Pluralité des Mondes« (1686) von Fontenelle, in: Brigitte Schlieben-Lange (Hg.), Fachgespräche in Aufklärung und Revolution, Tübingen 1989, S. 17-80. Vgl. das so betitelte Kapitel bei Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Hildesheim 1964, (Reprint der Ausgabe Tübingen 1945), S.312—341. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Sprache der Teutschen, Leipzig 1820, S.291. K.H.Pölitz, a.a.O., S. 301.

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Dialog als didaktische

Strategie

unter den Formen der Wissensvermittlung, deren Basis Gedächtnis und Auswendiglernen war. Die doppelte Bezeichnung katechetisch oder sokratisch umfaßt aber genau jene Bandbreite von der Gedächtnistechnik bis zur das Denken anregenden dynamischen Form, die wir in den literarisch- philosophischen Dialogen der Spätaufklärung wiederfinden. In den Jahrzehnten vor Pölitz' Bestandsaufnahme gab man einer dieser Möglichkeiten entschieden den Vorzug. Die Absicht zu belehren, ohne aber den Wissensbestand in der Form abstrakter Abhandlungen zu fassen, erblickt im Dialog das optimale Medium, sich von jeder Art Pedanterie zu befreien. Was sollen die sich endlos wiederholenden Lehrbücher. In allen Kenntnissen, die nicht b l o ß e N o m e n k l a t u r sind, muß doch praktische Anleitung das Beste tun (...). J a , auch in der Philosophie hielten die Griechen den mündlichen Unterricht für weit vorzüglicher, und ihre besten Schriften in diesem Fach sind Nachbildungen der Kunstwerke der freien Mitteilung. 4 2

Selbst Kant, gegen dessen spekulative Abstraktionen wie hermetische Terminologie sich die Popularphilosophen43 gerade wenden, empfiehlt den dialogischen Unterricht als Popularisierungsform für das nichtinformierte Publikum. Obwohl Kant Popularität als »geputzte Seichtigkeit«44 verdammt, heißt er doch die >sokratische Methode« in seiner Schrift Uber Pädagogik ausdrücklich gut, auch wenn er den Nutzen für die >hohe< Philosophie nicht anerkennt: Wie mancher lieset und hört etwas, ohne es, wenn er es auch glaubt, zu verstehen. ( . . . ) D i e Gemütskräfte werden am besten dadurch kultiviert, wenn man das alles selbst tut, was man leisten will ( . . . ) . Man lernt das am gründlichsten, und behält das am besten, was man gleichsam aus sich selbst lernet. N u r wenige Menschen indessen sind das im Stande. Man nennt sie Autodidakten. Bei der Ausbildung der Vernunft muß man sokratisch verfahren. Sokrates nämlich, der sich die H e b a m m e der Kenntnisse seiner Z u h ö r e r nannte, gibt in seinen Dialogen, die uns Plato gewissermaßen aufbehalten hat, Beispiele, wie man, selbst bei alten Leuten, manches aus ihrer eigenen Vernunft hervorziehen kann. 4 5

Der Rekurs auf die eigene Vernunft, auf pädagogische Wirkung, für die die populäre Form des Dialogs geeignet scheint, wird auf das Feld aufklärerischer Er-

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A . W . Schlegel, Allgemeine Übersicht des gegenwärtigen Zustandes, D L D , Bd. 18, S.81. Vgl. Christian Garve, der immer wieder dafür plädiert, daß Philosophen verständlich sein müssen. »Ich lerne, wie man für vernünftige Leute schreiben muß, die keine Professions-Gelehrten sind«, schreibt er an Weiße, Brief 1/2. 10.1773, in: Briefe von Christian Garve an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde, 2 Bde, Breslau 1 8 0 3 , 1 , 2 5 ; ein Unternehmen, das ihm scharfe Kritik von Friedrich Schlegel einträgt. Kritische Schriften (Hg.) Wolfdietrich Rasch, S. 531, der gerade seine Unverständlichkeit moniert. Vgl Medick-Bachmann, a . a . O . I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, W A , B d 12, S . 4 2 3 . I. K a n t , Ü b e r Pädagogik, WA, Bd. 12, S. 7 3 6 / 7 3 7 .

Die >Selbstdenker m ü n d l i c h e n U n t e r r i c h t < u n d >freie M i t teilung< u n d K o m p l e m e n t ä r b e g r i f f z u B u c h , B ü c h e r w i s s e n , B u c h l e k t ü r e , s o n d e r n w i e s i c h i n P ö l i t z ' S c h e m a s c h o n a n d e u t e t , als w e i t e r e r G e g e n s a t z f u n g i e r t die den R e g e l n der L o g i k g e h o r c h e n d e , auf Vollständigkeit a b z i e l e n d e S y s t e m a t i k oder, w i e andere A u t o r e n

es d e u t l i c h e r n e n n e n ,

»die

dogmatische

Schreibart«, die sich begnügt, Wissen autoritativ mitzuteilen. D e r Verzicht auf s t a r r e n a r c h i t e k t o n i s c h e n o d e r g e o m e t r i s c h e n A u f b a u ist K e n n z e i c h e n

des

s c h e i n b a r f o r m l o s e n D i a l o g s . J a , g e r a d e d i e s ist » d i e g r ö ß t e K u n s t des D i a l o gendichters, ( . . . ) seinen Plan unter einer anscheinenden Planlosigkeit zu vers t e c k e n « . 4 9 J o h a n n J a c o b E n g e l n i m m t in s e i n e r B e s c h r e i b u n g des p h i l o s o p h i s c h e n D i a l o g s die a r c h i t e k t o n i s c h e M e t a p h e r auf: In der Abhandlung ( . . . ) sehen wir immer schon mehr das vollendete Gebäude; nicht die erste Anlage mit ihren nachherigen Aenderungen und den Ursachen derselben,

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Zu Kants eher widerwilliger Wahl der konventionellen Darstellungsform von als avanciert eingeschätzten Inhalten vgl. Catherine Wilson, Subjektivität und Darstellungsform als Problem von Kants Transzendentaler Methodenlehre, in: Gottfried Gabriel/Christiane Schildknecht (Hg.), Literarische F o r m e n der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 1 3 9 - 1 5 4 . Auch Kant hatte schon gegen die mathematische F o r m bei Descartes, Leibniz, Wolf angeschrieben, doch wollte er sich von den Popularphilosophen absetzen. J . W . G o e t h e , W A I, B d . 3 6 , S . 3 3 9 . J o h a n n G e o r g Heinzmann, Appell an meine Nation, Bern 1795, Reprint Hildesheim 1977, S. 66. Überdies liefert er Zahlenmaterial zum Bücherabsatz: » D e r Absatz der philosophischen Litteratur, ausdrücklich nur Kantisch, - verhält sich gegen andre Zweige, gegen Naturlehre, Mathematik, Philologie wie 6 zu 1, und gegen Polizey, O e k o n o m i e , C h y m i e wie 8 zu 4; gegen R o m a n e , Belletristerey, Reisen, Revolutionen wie 6 zu 40«; S . 2 8 7 . C . M . Wieland, Aristipp, S. 726. Vgl. dazu auch im Diderot-Kapitel die Passagen zur Spaziergang-Metapher.

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Dialog

als didaktische

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nicht die Zurichtung der noch rohen Materialien, nicht das zum Baue nöthige G e r ü ste, nicht die Kunstgriffe bey Handhabung der Werkzeuge, nicht die ganze Art der Zusammensetzung und Aufführung des Baues, 5 0

w i e das i m D i a l o g d e r F a l l sei, d e r d a h e r d e n » G e i s t d e r U n t e r s u c h u n g « e i n f l ö ß e u n d z u m D e n k e n anrege. E i n e b l o ß a u f D e d u k t i o n , n i c h t a u f E r f a h r u n g beruhende Systematik wird zum Komplementärbegriff zu einem induktiv orie n t i e r t e n R a t i o n a l i s m u s , dessen A u s g a n g s p u n k t n i c h t a l l g e m e i n e P r i n z i p i e n , s o n d e r n e m p i r i s c h e E r f a h r u n g ist. D i e s e r a n t i s y s t e m a t i s c h e I m p u l s g e h t m i t S c h r i f t k r i t i k e i n e e n g e B i n d u n g e i n ; d e r D i a l o g s t e h t m i t s e i n e r >Planlosigkeit< und

dem

Offenlegen

d e r >Art s e i n e r Z u s a m m e n s e t z u n g
SelbstdenkerEncyclopédie< stimmen in dieses Diktum ein: »Deux obstacles principaux ont retardé long-tems les progrès de la Philosophie, l'autorité & l'esprit systématique«. 5 3 Aufgabe der Philosophie sei es, nach Begründungen zu suchen, nicht Fakten wiederzugeben; Gelehrsamkeit solle nicht mit Philosophie verwechselt werden. »The most ingenious way of becoming foolish, is by a System«. 5 4 Denn jede Aufklärung sei durch Autoritätsgläubigkeit ebenso gefährdet wie durch eine Systematik, die ihr einmal fixiertes System gegen Entdeckungen und Neuformulierungen absichert. Vorrang vor abstrakter, deduktiver Wissenschaft haben Beobachtung und eigene Erfahrung. D e r aus Büchern erworbene Reichtum fremder Erfahrung heißt Gelehrsamkeit. Eigne Erfahrung ist Weißheit. Das kleinste Kapital von dieser, ist mehr werth, als Millionen von jener. 5 5

Damit stellt der Bibliothekar Lessing, der unter Büchern aufwuchs, allerdings eher seine profunde Belesenheit im Geist der Gelehrsamkeit wie seine Vertrautheit mit zeitgenössischen Bildungstopoi unter Beweis, als seine eigene 51

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Moses Mendelssohn, Briefe die Neueste Litteratur betreffend, 117. Brief, G e s a m melte Schriften, B d . 4 . 2 , S. 115/116. J . J . Engel, Ü b e r Handlung . . . , S . 2 0 7 . Encyclopédie, Bd. 12, S . 5 1 4 . Vgl. etwa die Artikel Philosophie de l'Ecole (Bd. 5, S . 3 0 3 - 3 0 4 ) , Philosophie (Bd. 12, S . 5 1 1 - 5 1 5 ) und Eclectisme ( B d . 5 , S . 2 7 0 - 2 9 3 ) der Encyclopédie. M a n hat die Differenz zwischen esprit systématique und esprit philosophique, dem Anspruch auf Vollständigkeit des Wissens oder Begründung des Wissens, zum grundlegenden Element einer Epochenschwelle zwischen 17. und 18. Jahrhundert überhaupt erheben wollen; die T h e s e diskutiert Jürgen Mittelstraß, N e u z e i t und Aufklärung. Studien zur neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin und N e w York 1970, S. 8 7 - 1 3 2 , besonders S. 118ff. A. Shaftesbury, Soliloquy, in: Characteristics, S. 290. G . E . Lessing, L M , Bd. 16, S . 5 3 5 ( N o t i z aus seinem Nachlaß).

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Meinung; 5 6 die Menge vergleichbarer Belege weist diesen Aspekt für die Epoche jedoch als relevant aus. Manch einer will die Evolution der Kommunikationsverhältnisse am liebsten rückgängig machen: »Wenn wir einst weniger lesen und schreiben werden, so werden wir desto fleißiger beobachten und selbst untersuchen; dann werden wir wieder originelle Köpfe bekommen«. 5 7 D e r Anblick eines Gegenstandes unterrichte stets vollständiger, schneller und effektiver von seiner Beschaffenheit als jede abstrakte Explikation, als jede B e schreibung, es sei denn, man überlasse sich der Dialogform, »da das Gespräch der würklichen Vorzeigung der Sache ähnlich ist, w o jedes Einzelne, darauf es ankommt, mit dem Finger gezeiget wird«. 5 8 Gewinnt hier einerseits der Dialog eine taktile Dimension, nimmt andererseits das Primat kontrollierbarer, h a n d greiflichen Prüfungsverfahren, das Insistieren auf Evidenz der Erfahrung dort paradoxe Züge an, wo sogar Bücher angefaßt und angeschaut werden müssen, wie das Johann J a c o b Engel in seinen Ausführungen zu einer zukünftigen U n i versität in Berlin für notwendig hält: Von den O b j e k t e n des Unterrichts, w o zwar zur N o t der bloße mündliche Vortrag hinreicht, aber der mitverbundene Anblick doch weit besser ist, nenne ich hier b l o ß die Literargeschichte. Ich kann zwar auch zwischen vier nackten Wänden sitzend die N a m e n von Autoren, die Titel von Büchern, die Formate von Ausgaben usw. ins G e dächtnis fassen: aber wie ganz anders ist es doch, wenn in einer großen reichen B ü c h e r sammlung mir der Bibliothekar die Werke selbst vor Augen hinlegt! Welchen Vorzug hat auch hier das oculis subjicere fidelibus vor dem bloßen demittere per aures! 5 9

Mit dieser Auffassung, die wie Engel expliziert, vornehmlich für »Handwerke, Künste, Fabriken« Gültigkeit hat, also besonders artisanale und industrielle Produktion, bildende Kunst, Naturwissenschaften, Architektur und Musik umfaßt, vertritt er eine weit verbreitete und auch durchaus einleuchtende Uberzeugung. Die Debatte um die Einrichtung einer modernen >Lehranstalt< evoziert natürlich erneut Überlegungen zu den vorteilhaftesten Formen der Wissensvermittlung, wobei allerdings die Einigkeit über die Ablehnung des Bücherwissens einhellig ist. Engel jedoch treibt die Kritik zur Paradoxie, indem er auch die von jeher und genuin mit Texten beschäftigte Literaturgeschichte nicht allein den Texten anvertrauen mag. E r bleibt fest:

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Vgl. Paul Raabe, Lessing und die Büchergelehrsamkeit, in: ders., Bücherlust und L e sefreuden: Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im 18. und frühen ^ . J a h r h u n dert, Stuttgart 1984, S. 2 0 9 - 2 2 3 , 3 2 2 - 3 2 3 . J o h a n n G e o r g Heinzmann, Appell an meine N a t i o n , Bern 1795, Reprint Hildesheim 1977, S . 4 6 . J o h a n n G e o r g Sulzer, Artikel >GesprächSelbstdenkerFormat< von Büchern und andere haptische Gedächtnisstützen zu liefern vermag. Programmatisches Ziel der Aufklärung war die Befreiung von Autorität und Vorurteilen, von Meinungen, die nicht Resultat eigenen Denkens sind, war Erziehung zur Selbsterziehung, war Mündigkeit und intellektuelle Emanzipation - eine Diskussion, die unter dem Begriff »Selbstdenken« geführt wurde. Selbstdenken hieß aus eigener Initiative denken, unabhängig denken, das eigene Potential entwickeln. Die sichtbare erzieherische Absicht, der angestrebte Lernerfolg und das grenzenlose Vertrauen in die Macht der Pädagogik paradoxieren das Programm, denn es spiegelt zugleich Beherrschungs- und Disziplinierungsabsichten. Niklas Luhmann hat die Paradoxie dieser Intentionalisierung von Erziehung als »Technologiedefizit« 61 beschrieben, als Programmm, zur Freiheit und zum Selbstdenken zu erziehen, ohne zugleich die angestrebten Effekte quasi gesetzesmäßig bewirken zu können und ohne sie mit hinreichender Zuverlässigkeit kontrollieren zu können. Der Dialog bewegt sich in dieser konträren pädagogischen Semantik zwischen Freiheit/ Selbstdenken und Erziehung/ Kontrolle. Die zeitgenössische Diskussion allerdings sah dies Paradox im Dialog aufgehoben: Ein bereits aufgeklärter Verfasser könne den Leser instruieren, ohne ihn damit zu ermuntern, vorgefaßte Begriffe blindlings zu übernehmen. Wenn Aufklärung wesentlich als Selbstaufklärung gefaßt wird, bildet - als ebenso notwendig begriffene - Fremdaufklärung einen internen Widerspruch, der am glaubwürdigsten hinter der Dialogform versteckt werden kann. D i e Sokratische M e t h o d e ist unter allen diejenige, wobei das Wachstum des Verstandes und der Vernunft am besten gedeiht. Sie läßt sie durch eigne Säfte und Kräfte des Lehrlings hervorgehn, und theilt nur immer so viel Sonnenschein und Regen mit, als zur Befruchtung der vorhandenen Keime nöthig ist. N a c h der gewöhnlichen U e b e r lieferungs=Methode (Tradition), die man auch die Professormethode nennen könnte, schüttet der Lehrer aus seinen vollen Magazinen immer in den leeren K o p f

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J . J . Engel, D e n k s c h r i f t . . . , a . a . O . , S . 7 . Niklas Luhmann, Strukturelle Defizite. Bemerkungen zur systemtheoretischen Analyse des Erziehungswesens, in: Jürgen Oelkers, H e i n z E l m a r Tenorth (Hg.), Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie, Weinheim, Basel 1987, S. 5 7 - 7 5 ; Niklas Luhmann, Karl Eberhard Schorr, D a s Technologiedefizit der E r ziehung und die Pädagogik, in: dies. (Hg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz: Fragen an die Pädagogik, Frankfurt/Main 1982, S. 1 1 - 4 0 .

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des Schülers hinein, unbekümmert, ob die Saat dem Boden angemessen, ob der Samenkörner auch zu viel, ob auch gerade izt die rechte Säezeit sey. (...) Freilich ist wahr, daß sich von Sokrates Methode nicht bei jedem Unterricht Gebrauch machen läßt. Sie hat es eigentlich nur mit der Kultur des gesunden Menschensinnes zu thun. Sie lernt denken nicht wissen. Sie ist also nicht anwendbar auf alles, was bloß Gedächtnißwerk ist. 62 D e r Leser solle k e i n passiver, s o n d e r n ein aktiver P a r t n e r des A u t o r s w e r d e n . D e r spezifische Vorteil d e r D i a l o g f o r m liegt darin, d e m L e s e r genau diese Rolle z u z u s c h r e i b e n , z u suggerieren. J e a n P a u l streicht das d y n a m i s c h e , p r o zessuale M o m e n t h e r a u s : »Das p h i l o s o p h i s c h e G e s p r ä c h will d e m Leser nicht e t w a z e h n o d e r f ü n f z e h n W a h r h e i t e n als Resultate m i t g e b e n (...), s o n d e r n ihn in d e m Streben, sie z u suchen, in der K r a f t , sie zu f i n d e n , ü b e n . « Sie b r a u c h t e n kein Resultat, »es ist g e n u g , w e n n jeder M i t r e d n e r eine a n d e r e Seite d e r W a h r heit spiegelt«. D i e D e u t s c h e n allerdings z ö g e n es vor, w e n n sie »die W a h r h e i t v o m festen Glasspiegel eines Systems gezeigt erblicken, n i c h t v o n d e m b e w e g lichen Wasserspiegel des D r a m a s « . 6 3 I m h o m o g e n i s i e r e n d e n Z u g r i f f s y s t e m a t i scher D a r s t e l l u n g a b e r v e r s c h w i n d e n F r a g e n u n d Z w e i f e l , b l e i b e n d e m selbständigen D e n k e n n u r geringe E n t f a l t u n g s m ö g l i c h k e i t e n . Unsere Nation hat schon immer den Geist des Raisonnirens zu eigen gehabt. Aber bisher ist dieser Geist durch einen andern aufgehalten worden, der jenen - nicht aufhebt, aber in gewisse Schranken bringt, und ihm den Gang vorzeichnet, den er gehen soll; ich meine den Geist des Systems. (...) Die Systeme betrügen uns durch den Schein der Vollständigkeit; sie verbergen ihre Lücken; und hemmen selbst in guten Köpfen die Begierde zu erfinden durch die Einbildung, die sie erwecken, daß alles schon erfunden sey. 64

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Ernst Christian Trapp, Vom Unterricht überhaupt. Zweck und Gegenstände desselben für verschiedene Stände. O b und wiefern man ihn zu erleichtern und angenehm zu machen suchen dürfe? Allgemeine Methoden und Grundsätze, in: Campe, Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens (1785-1792), Bd. 8, S. 189/190. Für diesen Hinweis danke ich Nikolaus Wegmann. Trapp selbst veröffentlichte selbst Kinder- und Jugendliteratur in dialogisierter Form, etwa die Unterredungen mit der Jugend, Hamburg und Kiel 1775. Jean Paul, Rez. von Ferdinand Delbrück, Ein Gastmahl. Reden und Gespräche über die Dichtkunst (1809), Sämmtliche Werke, Bd. 19, S.312/313. C. Garve, Rez. von Herders Fragmenten, 3. Sammlung, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste, 5. Bd., 2. St., Leipzig 1767, S.241f. Zur Antinomie von >Dialogwissen< und dem Zwang systematischer Vollständigkeit von Lehrbuch oder Traktat vgl. Jürgen Mittelstraß, Versuch über den Sokratischen Dialog, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Gespräch, München 1984, Poetik und Hermeneutik Bd. 11, S. 11-27. Mittelstraß vertritt hier eine These, die der Poetik der literarischen Dialogtheorie (vgl. Kapitel 3) entspricht: »Die Dialogform von Texten, insbesondere wenn es sich dabei um >philosophische< Texte handelt, vermag deren Textcharakter teilweise aufzuheben: der Leser wird in den Dialog über Identifikations- und Beurteilungsleistungen >hineingezogen< (...)« (S.23). Bei dieser »Illusionsleistung«, die Mittelstraß der Dialogform zuspricht, scheint es sich weniger um eine tatsächliche, belegbare Textqualität zu handeln als um eine voreilige Übernahme der Apologien ihrer Autoren. Vgl. plausibler Wolfgang Wie-

Die

>SelbstdenkerSelbstdenken< zu aktivieren. Das 18. Jahrhundert nennt dieses Verfahren sokratisch: denn meine Meynung ist, daß man die Wissenschaft nicht in uns hineingießen könne, sondern daß man sie vielmehr auf eine geschickte Art der Seele selbst herauslocken und auswickeln müsse (..). Diese ist die vortreffliche Sokratische Manier zu lehren, welche hundertmal mehr wahren Nutzen schaffen würde, als die Scholastische. 7 0

Sokrates avanciert im pädagogischen Diskurs der Aufklärung zum Vorbild eines Lehrers, der sich gerade dadurch auszeichnet, daß er »niemals in dem aufdringenden Ton eines Lehrers« aufgetreten sei, »sondern als ein Freund, der die Wahrheit selbst erst mit uns suchen will«.71 In seiner Person konzentriert sich all das, was man für reformbedürftig hält: Die Lehrer-Schüler-Hierarchie und die autoritative Methode ersetzt er durch Freundschaft, Memoriertechnik und Stoffzentrierung durch prozeßhaftes Wissen und Bildung des Subjekts in Selbsttätigkeit. Es gab zwar auch die Argumentation, daß jedwede Lektüre, quasi als Teil eines autodidaktischen Prozesses, das Selbstdenken fördere, so etwa Johann Adam Bergk in seinem Buch Die Kunst, Bücher zu lesen (1799)72 oder im Artikel >Livre< der Encyclopédie, in dem das Buch definiert wird als »asyle de la vérité, qui souvent est bannie des conversations; (...) des conseillers toujours prêts à nous instruire chez nous & quand nous voulons, & toujours désintéressés.« Doch mehr Nachteile scheinen dem Verfasser präsent, vornehmlich auch, »qu'ils étouffent nos propres lumières, en nous faisant voir par d'autres que par nous-mêmes«.73 Druckwerken werden damit geradezu erkenntnishindernde Eigenschaften attestiert. »Bücherwürmer - studieren sich

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U n d vielleicht tun sie dies sogar, denn der Verfasser hatte zuvor bereits einen ähnlichen Band veröffentlicht, der sich durch »allgemeine Brauchbarkeit« ausgezeichnet habe. (Vorrede, S. 8) C . M . Wieland, Plan einer Akademie zur Bildung des Herzens und Verstandes junger Leute, A I , Bd. 4, S . 1 7 8 . Moses Mendelssohn, Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in: M . M . , Schriften über Religion und Aufklärung, (Hg.) Martina T h o m , Darmstadt 1989, S. 180/181. J o h a n n Adam Bergk, Die Kunst, Bücher zu lesen. N e b s t Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller, Jena 1799, Reprint München, Berlin 1971, vgl. besonders die Vorrede S. V I I I - X . Encyclopédie, Bd. 9, S. 605.

Die >SelbstdenkerBlosse Vielwisserei< war das Gegenbild zu einer auf Selbstdenken ausgerichteten Erziehungskonzeption und ihrer Polemik gegen angehäuftes Wissen, bloße Gelehrsamkeit und zusammenhangloses Lernen: »(...) ein Mensch, der viel Gedächtnis, aber keine Beurteilungskraft hat. Ein solcher ist ein lebendiges Lexikon«. 7 5 Lesen bildet, sagten diejenigen, die sich der Meinung Bergks anschlossen, stimmten aber mit der Partei Heinzmanns in der Meinung überein, zum Leser müsse man erst bilden: M a n fängt seit einiger Zeit an, auch sogar in kleinen Städten, Bürgerbibliotheken und Lesegesellschaften zu errichten. D e r Eifer ist im Anfange immer groß, aber er kühlt sich bald ab. U n d das wundert mich nicht; die meisten Theilnehmer sind zum Lesen noch nicht gebildet; sie verstehen nicht alles, was gedruckt ist, auch wenn es noch so deutlich ist (...). Was sie vorher gelesen hatten, waren gemeine Volksbücher, eine Hauschronik, eine Postille u.d. ein altes Kräuterbuch und der jährliche Kalender. 7 6

Die Hoffnung, mit der Wissensvermittlung dialogisch konzipiert wurde, zielte darauf, der Schrift ein wenig der Offenheit zu übertragen, die nur gesprochener Sprache eignete. Roland Barthes hat die These formuliert: »Allen Schreibweisen ist eine Geschlossenheit eigen, die die gesprochene Sprache nicht kennt. Eine Schreibweise ist kein kommunikatives Instrument«. Die schriftliche Fixierung schüchtere ein, sei »Anti-Kommunikation«. 7 7 Was als Präsentationsform der Dialog leisten soll, formuliert als übergeordneter Diskurs die neuhumanistische Theorie der Bildung. Die Umstellung auf die nur frei durch »Selbstthätigkeit« zu erwerbende »Bildung« ist in engem Zusammenhang mit der Geschichte bürgerlicher Emanzipation zu sehen. 78 74 75

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J o h a n n G e o r g Heinzmann, Appell an meine N a t i o n , S . 6 5 und 64. I. Kant, U b e r Pädagogik, W A , Bd. 12, S. 731. Lebendige Bibliothek zu werden, war dagegen das erklärte Ziel des Polyhistors gewesen. Grundlage ist die Vorstellung der Vereinigung allen menschlichen Wissens in einem »enzyklopädischen« Kopf, eine Vorstellung, die um 1800 verlorengegangen ist. Vgl. Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, M ü n c h e n 1989, S. 114; Rudolf Stichweh, D e r frühmoderne Staat und die europäische Universität, Frankfurt/Main 1991, S . 2 8 8 . J o h a n n Georg Heinzmann, Folgen aus der heutigen Schriftstellerey, in: J . G. H . , A p pell an meine Nation, Reprint Hildesheim 1977, S . 4 5 7 . Zu den antiaufklärerischen und restaurativen Tendenzen von Heinzmanns Pamphleten gegen das Bücherwesen vgl. das Nachwort von Reinhard Wittmann in der zitierten Ausgabe. Roland Barthes, Am Nullpunkt, Frankfurt/Main 1982, S . 2 6 und 27. D i e >Bürgerlichkeit< des Bildungskonzepts ist ein Topos der sozialhistorisch orientierten Geschichtsschreibung. D e r prekäre Status beider Begriffe wird in der F o r schung neuerdings betont und die Frage nach ihrer Relation wie nach ihrer Aussa-

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Dialog als didaktische

Strategie

Mit der sprichwörtlich gewordenen H e b a m m e n k u n s t verhalf der Lehrer als >Geburtshelfer< ja n u r dem Wissen des Schülers ans Tageslicht - so will es jedenfalls die Rezeptionsgeschichte der Platonischen Dialoge als O r g a n o n des Selbstdenkens. Dialogtexte institutionalisieren die neue Unterrichtsmethode. Die extrem zugespitzte Disjunktion, die sich gegen durch feste Prämissen strukturierte Traktate wendet, in denen abgeschlossen und systematisch geordnete Gedanken vorgetragen werden, macht gegen diese vor allem geltend, daß es f ü r den Leser oder H ö r e r keine Möglichkeit f ü r Einwürfe, Widerspruch oder Unterbrechungen gibt. Der Dialog dagegen sei Ü b u n g und Belehrung zugleich und rege die Eigenaktivität an. Ahnlich heftige Kritik an der längst überholten >Schulphilosophie< u n d >StubengelehrsamkeitSelbstdenkerKunst< als »Regulativ« f ü r den A u f b a u der neuen Universitäten, »für die Bearbeitung aller b e s o n dern Wissenschaften« u n d f ü r die Wissenschaftstheorie, wie Fichte im folgenden ausführt. 8 3 Z w a r sei o h n e Literaturkenntnisse die »Unermeßlichkeit u n sers wissenschaftlichen Stoffes« nicht m e h r zu bewältigen, deshalb müsse der Lehrer d e m Schüler »ein allgemeines Register u n d R e p e r t o r i u m des gesamten Buchwesens in diesem Fache« 8 4 sein, nicht aber u m sein Bücherwissen rezitierend zu wiederholen, s o n d e r n n u r u m bibliographische Anleitung zu geben.

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J. G. Fichte, Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe, in: Ernst Müller (Hg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, S. 59/60. J.G. Fichte, a.a.O., S.61. J. G. Fichte, a. a. O., S. 60 und 65; wobei Fichte besonderes Augenmerk der Reziprozität widmet: das gegenseitige Lehrverhältnis< bedeutet eben, daß Lehrer und Schüler fragen und antworten. Zum Problem der Reziprozität vgl. weiter unten. J.G. Fichte, a.a.O., S.65. A.a.O., S. 84. J.G. Fichte, a.a.O., S.69 und 87.

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Dialog als didaktische

Strategie

3. Zur Funktion von Asymmetrien im Gespräch Die Deutsche Encyclopédie oder Allgemeines Real=Wörterbuch und Wissenschaften vermittelt die einhellige Einschätzung:

aller

Künste

Die Art durch wechselseitige Unterredung zu lehren, hat viel vorzügliches. Wir sind nicht immer im Stand einen langen ununterbrochenen Vortrag anzuhören; auch sind wir nicht immer aufgelegt, eine Reihe von zusammenhängenden Vernunftschlüssen zu übersehen. Durch Unterredung aber kann Gewißheit in die Seele kommen, ohne den schwerfälligen demonstrativischen Gang zu gehen. (...) Das Gespräch soll keine methodische Abhandlung seyn. Wann einer in einer Gesellschaft das Wort allein führen will, gesetzt er trägt noch so gute und nützliche Dinge vor; so wird er die Aufmerksamkeit und Geduld der Anwesenden bald ermüden. (...) Es wäre zu wünschen, daß sich die neuern Weltweisen dieser Lehrart mehr bedienten; sie würden durch die Popularität der Dialogen weit mehr Nutzen schaffen, als durch einen mit vielem Gepräng der Weisheit gezierten philosophischen Vortrag. 8 5

Der Lexikonartikel nennt selbstverständlich Sokrates und Plato als Vorbilder, ist aber durch seine Formulierung wechselseitige Unterredung< in gewisser Weise unpräzise. Tatsächlich würde eine vorschnelle Adaption der Nomenklatur des 18.Jahrhunderts in die Irre führen. Die so stereotype Kennzeichnung der Dialogform als >sokratisch< oder >platonisch< täuscht über weitreichende Unterschiede hinweg. Die Namen Sokrates/Platon dienen einem strategischen Begründungszusammenhang, sollen den Nachweis erbringen, daß Dialog und selbständige Denkarbeit notwendig aneinander gekoppelt seien. Untersucht man aber dialogische Texte unter dem Gesichtspunkt von Symmetrie und Asymmetrie der Sprechrollen, werden signifikante Abweichungen vom antiken Modell deutlich. Waren auch bei Piaton die Sprecher ungleichgewichtig in manchen Dialogen bestehen die Repliken des antwortenden Partners nur aus Zustimmung - und übernahm ein dominanter Gesprächspartner die Führung, 8 6 so konnte man doch mit einiger Berechtigung dennoch vom »dialektischen Dialog« sprechen, stand doch im Zentrum das »Gemeinsam Denken«. 8 7 Marmontels Artikel »Dialogue« in der Encyclopédie verweist als erstes auf den Eintrag »Dialectique«: » D I A L O G U E , f.m. (Belles-lettres) entretien de deux ou plusieurs personnes, soit de vive voix, soit par écrit. Voyez D I A L E C T I Q U E « . 8 8 Gleichrangigkeit herrschte zwar nicht im Vollzug des Gesprächs, die

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Deutsche Encyclopédie oder Allgemeines Real=Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, Artikel »Dialog«, Bd. 7, Frankfurt/ Main 1783, S.177. Vgl. Thomas Szlezak, Gespräche unter Ungleichen, Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge, in: Gottfried Gabriel/Christiane Schildknecht (Hg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 4 0 - 6 1 . Roland Barthes, Die alte Rhetorik, in: R. B., D a s semiologische Abenteuer, Frankfurt/Main 1988, S.22. Encyclopédie, Artikel > D I A L O G U E < , Bd. 4, S.936.

7.UY Funktion von Asymmetrien

im Gespräch

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Verminderung von Unterschieden war aber als Ziel, als Programm vorgegeben. Während die deutsche Unterscheidung Dialog, Unterhaltung, Konversation Fragen der Symmetrie nicht impliziert, ist >entretiendialogue< und »conversations strikt über Hierarchie definiert: »Entretien se dit de supérieur à inférieur; on ne dit point d'un sujet qu'il a eu une conversation avec le Roi, on dit qu'il a eu un entretien«. 89 Andererseits haben fast alle Untersuchungen zum Dialog im 18.Jahrhundert diesen unausgesprochen, aber uneingeschränkt an strikte Symmetrie geknüpft - eine Annahme, die sich nur für wenige Texte aufrechterhalten läßt. Vornehmlich die mit pädagogisch-didaktischen Interessen befrachteten Dialoge arbeiten mit Asymmetrien: zwischen Wissensverteilungen, als Altersgefälle, als Generationendifferenz. Shaftesbury hält wie viele Theoretiker des 18. Jahrhunderts den Dialog als Methode pädagogischer Praxis allem Systematischen für überlegen: T h e Way of F o r m and M E T H O D (...) has so little force towards the w i n n i n g our Attention, that it is apter to tire us, than the Metre of an old Ballad. We no sooner hear the T h e m e p r o p o u n d e d , the Subject divided and subdivided (with first of the first, and so forth, as O r d e r requires) but instantly we begin a Strife with N a t u r e , w h o otherwise might surprize us in the soft Fetters of Sleep. 90

In seinem Essay Soliloquy, einer Apologie des Dialogs als Schreibverfahren, empfiehlt er als vorausgehendes Training das Selbstgespräch: »By virtue of this S O L I L O Q U Y he becomes two distinct Persons. He is Pupil and Preceptor. He teaches, and he learns«.91 Im Selbstgespräch belehrt und bildet der Mensch sich selbst. Was überraschen muß an Shaftesburys Vorschlag ist nicht die Dialogform sondern die implizierte Asymmetrie - in der Selbstverdoppelung steht der Mensch sich selbst nicht von gleich zu gleich gegenüber, sondern in der Hierarchie von Lehrer und Schüler. Bei der »Duplicity of Soul« handelt es sich keineswegs um eine ausgewogene Balance zweier gleicher, sondern um »Subordinacy« zweier verschiedener Teile. O n e of these, as they suppos'd, w o u ' d immediately approve himself a venerable Sage; and with an air of A u t h o r i t y erect himself o u r Counsellor and G o v e r n o r ; whilst the other Party, w h o had nothing in him besides w h a t was base and servile, w o u ' d be contented to follow and obey. (...) O n e of them (...) the Leader and Chief above-mention'd; the o t h e r like that rude, undisciplin'd and headstrong Creature. 9 2

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Encyclopédie, Artikel » C O N V E R S A T I O N , E N T R E T I E N « , Bd. 4, S. 165. A. Shaftesbury, Soliloquy, S. 258; vgl. auch Sensus C o m m u n i s ; an Essay o n the Freed o m of Wit and H u m o u r (1709). A. Shaftesbury, Soliloquy: or Advice to an A u t h o r (1710), in: A.S., Characteristicks, S. 158. A. Shaftesbury, Soliloquy, a.a.O., S. 169 und 195.

Dialog als didaktische

166

Strategie

Sich selbst ins Gespräch zu ziehen, impliziert offensichtlich die Internalisierung eines Gefälles, das für die Lehrdialoge der Platonischen Tradition von jeher konstitutiv war und hier als heuristisches Modell operationalisiert wird. Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, daß diese Asymmetrisierung von Interaktionen und »funktionsspezifisch orientierte kommunikative Beziehungen zwischen verschiedenartigen, aber komplementären Rollen« 9 3 Voraussetzung funktionaler Differenzierung sind. Mit Rudolf Schenda kann man davon ausgehen, daß um 1770 »der ganze Komplex Schule-Erziehung-Buch-Leser in eine neue Phase« tritt. 94 D i e E p o che entdeckt den Dialog zur Belehrung einer neuen Zielgruppe. 95 In den auf Kindern und Ungebildete zugeschnittenen Dialogen verstärkt sich die Asymmetrie zwischen Wissendem und Lernendem noch; dadurch unterscheiden sie sich grundlegend von den Dialogen eines Wieland, Diderot oder Klinger. Die Differenz zwischen Lehr- und Lernrollen wird durch keinen Ubergang überbrückt. Nicht ohne Grund erinnert die Frageweise einige Zeitgenossen an das alte Katechisationsverfahren, in dem es ganz und gar nicht um gemeinsames Denken ging, sondern um das Memorieren leicht faßlicher, meist religiöser Texte. Ein bestimmter Stoff wird logisch oder grammatisch zergliedert, um ihm dem Gedächtnis einzuprägen. »Das Mittel dieser Methode war die zerlegende Unterrichtsfrage. Der einzuprägende Satz wurde mitgeteilt, und dann setzte das zergliedernde Fragen ein, auf jede Frage wurde mit einem Teil des Satzes geantwortet«. 9 6 Das zergliedernde Unterrichtsverfahren der Katechetik mit den im Wortlaut unverändert, ohne Hinzufügungen oder Weglassungen zu übernehmenden Antworten ist reine Mnemotechnik. Den sokratischen Dialog des 18.Jahrhunderts eint mit dem antiken Vorbild nur die Benennung, neben der Asymmetrie zwischen den Gesprächspartnern und dem Wissensvorsprung

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Zu den funktionsbedingten Asymmetrien unter Ausdifferenzierung von K o m p l e mentärrollen (Lehrer-Schüler, Autor-Publikum u.a.) gegenüber rangbedingten Asymmetrien stratifizierter Gesellschaften vgl. Niklas Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der G e sellschaft, in: N . L., Gesellschaftsstruktur und Semantik, B d . l , Frankfurt/Main 1980, S. 167. Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1 7 7 0 - 1 9 1 0 , Frankfurt/Main 1970, S . 3 7 . Zum Beispiel Christian Ernst Wünsch, Cosmologische Unterhaltungen für junge Freunde der Naturerkenntniß, 2 Bde, Leipzig 2. Auflage 1 7 9 1 - 9 4 . In einer U n t e r richtssituation zwischen Amalie, ihrem Bruder Karl und ihrem Lehrer Philateles wird das System der Himmelskörper entwickelt. Fritz Krecher, Die Entstehung der sokratischen Unterrichtsmethode, Diss. Erlangen 1929, S . 3 . Zur eher zögernden Lösung des Unterrichts vom Inhalt und F o r m bestimmenden Katechismus vgl. Joachim Gessinger, Sprache und Bürgertum. Zur Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsformen im Deutschland des 1 S.Jahrhunderts, Stuttgart 1980, S. 3 5 - 4 3 .

Zur Funktion von Asymmetrien

im Gespräch

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des Fragenden haben beide wenig miteinander gemein. 97 Lehrgespräch und philosophischer Dialog, zwei von den Quellen her ganz unterschiedliche Formen, gehen Ende des 18.Jahrhunderts eine eigentümliche Verbindung ein, die - so entsteht der Eindruck - f ü r universal anwendbar gehalten wird: Adelung gliedert sogar den Stoff seiner Enzyklopedie f ü r Schüler in Fragen und knappe Antworten auf; ein anonymer Verfasser gibt einer Gellert-Biographie für Kinder den Rahmen eines Familiengesprächs. 98 Die »Manier zu filosofieren« wird in der aufklärerischen Kinder- und Jugendliteratur genau jene k i n dische Art von BelehrungSocrates< (S. 127), Sokrates avanciert z u m Vertreter der Popularphilosophie, w i r d gleichgesetzt mit Verständlichkeit: »Sehr bezeichnend ist später J. G. Feders A u s d r u c k >Sokratische W i s s e n s c h a f t für die gesamte praktische Philosophie.« (S. 119). Die unterschiedlichsten D e n k e r (wie Kant oder Diderot) w u r d e n mit dem Ehrentitel >Sokrates< belegt - als geeignetes Vorbild kann der N a m e f ü r den esprit philosophique ü b e r h a u p t stehen. Vgl. Benno B ö h m , Sokrates im 18.Jahrhundert. Studien z u m Werdegange des m o d e r n e n Persönlichkeitsbewusstseins, N e u m ü n s t e r 1966. J o h a n n C h r i s t o p h Adelung, U n t e r w e i s u n g in den v o r n e h m s t e n Künsten u n d Wissenschaften z u m N u t z e n der niedern Schulen, F r a n k f u r t und Leipzig 1771; anon., Geliert. Ein Lesebuch für Kinder in Familiengesprächen zur Bildung Edler Seelen, Rostock u n d Leipzig 1785. C . M . Wieland, Aristipp, S. 713. Fritz Nies hat darauf hingewiesen, daß im J a h r z e h n t 1789-1799 auffallend selten auf »bevorzugte Vehikel der Aufklärungsliteratur« wie >Entretien< oder >Dialogue< zurückgegriffen wird, sondern der revolutionäre >Catéchisme< v o n einer rigiden Rollenhierarchie geprägt ist. F. N . , Das System der literarischen G a t t u n g e n . Kontinuitäten, Brüche, S c h w e r p u n k t z o n e n (1789-99), in: Reinhart Koselleck/Rolf Reichardt (Hg.), Die französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, M ü n c h e n 1988, (Ancien régime, A u f k l ä r u n g u n d Revolution Bd. 15), S.243-257.

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Dialog als didaktische

Strategie

gelegentlich von Zwischenfragen unterbrochenen Abhandlungen. Die Wahl der ungleichen Konstellation ist konstitutiv für Belehrung und Erkenntnisvermittlung, das Fragegespräch entstammt der religiös-kirchlichen Tradition, zudem ist der Lehrer alten Typs meist Theologe. Viele Texte beanspruchen zunächst einmal auch gar nicht mehr, als »die große Lücke zwischen Fibel und Bibel auszufüllen«, 101 und knüpfen in der Tat in säkularisierter Form an die Lehrmethode des alten Katechismusunterrichts an. Selbst Mathematik, Naturwissenschaften und Politik sind in sokratischen Dialogen abhandelbar. 102 Die Manir Gespräche zu schreiben ist zwar zur allgemeinen M o d e geworden; allein die Gespräche unsrer heutigen A u t o r n halten sich meistens auf ü b e r der Historie, der Phisic u n d solchen Wissenschafften, die allein das Gedächtniß z u m F u n d a m e n t e haben. 1 0 3

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Friedrich Eberhard von Rochow, D e r Kinderfreund. Ein Lesebuch z u m G e b r a u c h in Landschulen, Brandenburg u n d Leipzig 1776, (Reprint D o r t m u n d 1979), Vorbericht S.6. In dieses Volksschullesebuch hat R o c h o w viele belehrende Texte in Dialogform a u f g e n o m m e n und »Rochow selbst w a r auch Meister in der A u s ü b u n g der Lehrkunst; die seltene Gabe, sich zu den Kindern herabzustimmen, sie z u m Sprechen zu vermögen, ihre Begriffe zu entwikkeln, und in sokratischer Weise ihre G e danken durch Fragen ihnen z u m Bewußtseyn zu bringen, besaß er im h o h e n Grade« (a.a.O., S. 194). Das empfanden offensichtlich auch die Leser: in wenigen Jahren erreichte das Lesebuch eine Auflage von über 100.000 Exemplaren (gängige Auflagenhöhe w a r 500-1000 Stück). J . A . C . Michelsen, Versuch in socratischen Gesprächen über die ebene Geometrie, Berlin 1781; A . C . Möller, Gemeinnützige praktische Arithmetik. Anleitung z u m gründlichen Rechnen in Socratischen Gesprächen, H a m b u r g 1796; J. Chr. F. H e i n zelmann, Socratische Gespräche über die Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, Halle 1796; Oslander, U n t e r r e d u n g e n , M o n o l o g e n , Phantasien eines Weltbürgers über die französischen u n d helvetischen Staatsumwälzungen, Tübingen 1803; Friedrich L u d w i g Georg von Raumer, Sechs Dialogen über Krieg u n d H a n del, Berlin 1806. J.J. B o d m e r u n d J.J. Breitinger, Die Discourse der Mahlern, Bd. 2, Kapitel 12, Z ü rich 1722, N a c h d r u c k Hildesheim 1966.

Popularisierung

von Wissen: Vereinfachung

und

Stereotypisierung

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4. Popularisierung von Wissen: Vereinfachung und Stereotypisierung Bey der schriftlichen Unterweisung, wenn man zum N u t z e n anderer Schriften verfertiget, ist die Methode durch Frage und Antwort, was sehr gewöhnliches, wiewohl dabey mancher Misbrauch fürgehet, Ansehung der Schriften selbst, w o man sie braucht: als der Art und Weise, wie die Fragen eingerichtet sind. D e n n einige meynen, es ließe sich kein Buch schreiben, wenn dies nicht in Frag und Antwort geschähe, und bleiben daher bey dieser Methode in allen ihren Schriften. (J. G . Walch, Philosophisches Lexicon, Artikel >FrageGabe, sich zu den Kindern herabzustimmen< oder »an den Kinderverstand des Volks anzuschmiegen« 1 1 6 ? Zum einen bildet das Gefälle den grundsätzlichen Unterschied zu anderen Dialogformen, noch ist unwichtig, wer die Initiative des Fragens

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R o b e r t Riemann, Johann J a k o b Engels » H e r r L o r e n z Stark«. Ein Beitrag zur G e schichte des deutschen Familienromans, in: Euphorion 7 (1900), S . 4 9 2 . J . C . Gottsched, Diseurs des Ubersetzers von Gesprächen überhaupt, in: J . C . G . , Ausgewählte Werke, Bd. 10,1, S. 17 und 18. Friedrich Schlegel, Georg Forster, in: Krit. Ausgabe, B d . 2, S . 8 1 und 82. Friedrich Schiller, Ü b e r Bürgers G e d i c h t e (1791), N A , B d . 2 2 , S . 2 4 8 .

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Dialog als didaktische

Strategie

ergreift. 1 1 7 In Fontenelles Entretien sur la pluralité des mondes etwa fragt die lernende Partnerin, die Marquise von G***, den Ich-Erzähler regelrecht aus. D e r Lehrende tritt zurück aus seiner d o m i n a n t e n Rolle, der Lernende fragt je nach seinen individuellen Wissenslücken, offenen Problemen, macht Einwürfe, bittet u m weitere Erklärungen und steuert so die ihm zugedachte Belehrung. In anderen Fällen ist die Dialogform nahezu zur Karikatur selbständiger A u f k l ä r u n g umgebildet; die Interventionen des Nichtwissenden erfüllen nur die Funktion, die Argumentation voranzutreiben, bestätigende Stichworte für die Explikation und den Kommentar zu liefern, ohne Einwürfe oder Widerspruch - der Hauptsprecher doziert im G r u n d e nur das wiederholend, was längst feststeht, die Schüler memorieren Auswendiggelerntes.

5. »Lebendiger Vortrag« oder »tote Buchstabenmittheilung«? Wo jemand allein spricht vor Z u h ö r e r n , gibt es keinen Dialog. (Ersch-Gruber, Artikel »Dialog«)

Piaton hatte in seiner Kritik vier Einwände gegen Schrift formuliert - einer lautete, die Wirkungen des durch Lesen erworbenen Wissens seien weniger dauerhaft. Die individuelle Gedächtnisleistung wird aber angesichts der immensen Speichermöglichkeiten des Buches z u n e h m e n d unwichtiger. Mit Niklas Luhmann kann man annehmen, daß nicht nur das positive Vorzeichen f ü r den Wissenstrieb ein Element im Ausdifferenzierungsprozeß der Wissenschaften ist, sondern auch das Offenhalten von Problemen. Von nun an bestimmt der Erw e r b neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse die Arbeit in den Disziplinen. Das bloße Bewahren und Finden des Wissens bedarf, seitdem es Buchdruck gibt, k a u m noch menschlicher Anstrengung. »In einer Kultur ohne oder mit nur begrenzter Verwendung von Schrift war die Aufgabe des Festhaltens des Merkwürdigen von besonderer Bedeutung gewesen. N a c h der Einführung des Buchdrucks tritt diese Funktion zurück, N e u h e i t wird temporalisiert u n d als Selbstwert geschätzt« 118 ; Gedächtnisleistung und Memorierung werden dem-

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Vgl. den Artikel >Frage