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German Pages 290 [292] Year 2007
RHETORIK-FORSCHUNGEN Herausgegeben von Joachim Dyck, Walter Jens und Gert Ueding Band 17
Björn Hambsch
>... ganz andre Beredsamkeit Transformationen antiker und moderner Rhetorik bei Johann Gottfried Herder
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-68017-3
ISSN 0939-6462
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren
Vorwort
Die vorliegende Arbeit hat 2006 der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation vorgelegen. Das Manuskript wurde 2004 fertiggestellt, danach erschienene Literatur konnte nur noch in Ausnahmefallen berücksichtigt werden. Ich danke Prof. Gert Ueding für die Betreuung des Projekts, Prof. Jürgen Brummack für erste Hinweise, Prof. Georg Braungart für die Erstellung des Zweitgutachtens und Prof. Hans-Georg Kemper für konstruktive Kritik. Die Arbeit wurde zeitweilig mit Mitteln des Landes Baden-Württemberg gefördert. Meiner Mutter Irmgard Hambsch danke ich fur die Übernahme der Druckkosten. Großen Dank schulde ich den Mitarbeitern zahlreicher Bibliotheken und Archive, vor allem im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, dem Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar, dem Stadtarchiv Weimar, dem Goethe- und SchillerArchiv und der Herzogin Anna Amalia-Bibliothek in Weimar, der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. Ein besonderer Dank geht an Ute Lampe (Landeskirchenarchiv Eisenach), Mare Rand (Universitätsbibliothek Tartu), Peter Wörster (Herder-Institut Marburg) und Rene Specht (Stadtbibliothek Schaffhausen). Der wärmste Dank, wie könnte es anders sein, geht an meine Frau Christiane und meine Töchter Kathi, Judith und Lena. Sie haben mich in der manchmal mehr als üblich schwierigen Zeit der Abfassung stets unterstützt. Jüchen, Februar 2007
Björn Hambsch
Inhalt
1.
Einleitung
1
1.1. Herder als Überwinder der Rhetorik
1
1. 2. Begriff und Geschichte der Rhetorik im Umfeld Herders
5
Offener und emphatischer Rhetorikbegriff Zur Geschichtlichkeit des Rhetorikbegriffs Ende - Weiterleben - Transformation von Rhetorik im 18. Jahrhundert Zur Interpretation der rhetorikkritischen Diskussion des 18. Jahrhunderts Rhetorikgeschichtliche statt literaturgeschichtliche Problemperspektive 1.3. Herders Auseinandersetzung mit Rhetorik Das prorhetorische Moment bei Herder Esoterische Rhetorikaneignung - Exoterische Rhetorikkritik Thematisierung versus strukturelle Bedeutung von Rhetorik Rhetorische Theorie-und Praxisfelder bei Herder
5 7 8 10 11 12 12 13 14 15
2.
17
Rhetorische Pädagogik - „Elende Oratorie" oder „Ausbildung der Rede"?
2.1. Schul-und Universitätsrhetorik in Herders Bildungsweg Rhetorische Pädagogik des hallischen Pietismus Die Mohrunger Stadtschule Rhetorik an der Königsberger Universität 2. 2. Herder als Sprach- und Stillehrer Herders Lehrtätigkeit am Collegium Fridericianum Herders Schulreden für das Collegium Fridericianum Herder als Collaborator in Riga 2. 3. Rhetorikkritik und alternative Konzepte in Riga und im Reisejournal Der zweite Teil des Torso: Periodologie als pädagogisches Problem Die zweite Fassung: Von der Periodologie zur Lesemethode Die dritte Fassung: Periodologie als philologisches Problem Kritik und Neuentwurf von Rhetorik im Reisejournal Von der lateinischen Rhetorik zur muttersprachlichen Redebildung Von der rhetorica universa zur Allgemeinen Rhetorik Worte und Sachen Antike und moderne Rhetorik
18 18 21 24 27 27 33 35 40 41 43 46 49 50 52 53 56
VII
2. 4. Rhetorik in der Reform des Weimarischen Gymnasiums Rhetorik am Weimarischen Gymnasium Rhetorik in Herders Lehrplanreform 2. 5. Rhetorische Pädagogik - Redebildung in den Weimarer Schulreden Programmatik und Paränese in den Schulreden Humanitätsbildung als rhetorische Bildung Rhetorik als Hermeneutik Die normative Geltung der Antike Bildung als rhetorischer Wettbewerb Der Lehrer als Redner Theorie und Praxis als rhetorische Komplemente
57 59 65 68 69 70 71 73 75 75 76
3.
79
Homiletik - „Bettlerin in der Fremde" oder „Herrin im eigenen Haus"?
3. 1. Homiletik und Predigtpraxis in Herders Bildungsweg Die Diskussion von Rhetorik und Homiletik im Pietismus Homiletik an der Königsberger Universität Ausbildung und Selbstbildung zum Prediger 3. 2. Homiletik als Thematisierung des Predigtamtes Herders kirchliche Ämter als Predigtämter Die homiletische Diskussion als Thematisierung des Predigtamtes Der Redner Gottes: homiletische Selbstvergewisserung am Ideal des Predigers Der 2. Teil des Torso: Predigt als Medium der Volksbildung Die Auseinandersetzung mit Spalding in den Provinzialblättern: Grenzen rationalistischer Homiletik als theologische Identitätsfrage 3.3. Kritik moderner Kanzelrhetorik und homiletische Alternativen „Nicht-zunftmäßige" Homiletik in den Fragmenten: Die Homiletik erfodert eine ganz andre Beredsamkeit Pädagogische Homiletik: Briefe, das Studium der Theologie betreffend 3.4. Entwicklung praktischer Alternativen in der Predigerausbildung Herder als Predigerausbilder Der Plan einer Gymnasialselekta für angehende Theologen von 1797 Der Plan eines Predigerseminars von 1797 Herders Gutachten zu Johann Gottlob Marezolls Jenaer Predigerseminar 3. 5. Homiletische Vermittlung von Homiletik: Selbstdeutung und Thematisierung des Predigtamtes in Predigten Herders
VIII
82 83 84 87 90 90 91 92 95 97 101 101 108 112 112 113 115 116 120
4.
Philosophie und Rhetorik - Vom „ewigen Streit" zur Symbiose
127
4. 1. Rhetorik und Philosophie zwischen Symbiose und Konflikt 4. 2. Humanistische Integration der Rhetorik Philosophie als doctrina humanitatis 4. 3. Sprachtheorie und Rhetorik Sprachtheorie und rhetorische Sprachnormen Sensualistische Sprachpsychologie Rhetorik und Psychologie des Körperausdrucks 4. 4. Rhetorik und Ästhetik - „Schwester, nicht Mutter" Ästhetische Rhetorikkritik Sprachästhetik als Rhetorik der Sprachenergie Rhetorische Ästhetikkritik Die Nebenordnung von Rhetorik und Ästhetik im anthropologischen Kontext 4.5. Die Auseinandersetzung mit Kant Rhetorik in Herders Kantnachschriften Psychologie der Rhetorik in Kants Anthropologievorlesungen Rhetorik der Wissenschaft im Streit um Kants Rezension der Ideen Kants Rhetorikkritik in der Kritik der Urteilskraft Herders Replik in der Kalligone
127 132 132 135 137 139 140 142 142 143 146 147 148 150 152 156 156 160
5.
165
Rhetorik als struktureller Kontext - Politik und Poetik
5.1. Politische Rhetorik - „Schöner Roman" oder Realität? Politikbegriff und Rhetorik Politische Beredsamkeit als freiheitliche Rede Rhetorik als Volksrede: Von der Demagogie zur Demopädie Reformbedürftige Sprache der Herrschaft: Kanzleirhetorik Das unausgeschöpfte Potential: Konversationsrhetorik 5. 2. Die „Rednerin ans Herz" - Rhetorik, Poetik, Literatur Rhetorik und Literaturbegriff Rhetorik und Literaturbetrieb Rhetorik und Poetik als anthropologische Komplemente Strategische Rhetorikkritik Rhetorische Komponenten der Poetik von der frühen Odentheorie bis zum Volksliedprojekt Diskussion rhetorischer Poetik: die Fabeltheorie Imitatio und aemulatio als Komponenten des Nachahmungsbegriffs
165 165 166 170 177 181 183 184 185 189 193 196 198 199
IX
6.
Transformationen rhetorischer Theorie und Praxis im Horizont Herders
203
6. 1. Prorhetorische Antirhetorik - Rhetorik und das 'Rhetorische' bei Herder Herders Rhetorikkonzept Herders Schreibpraxis als rhetorische Praxis Herders Redepraxis 6. 2. Rhetorikgeschichte im Horizont Herders Herders Stellung in der Rhetorikgeschichte Herders Rhetorikkritik und ihre literaturgeschichtliche Bedeutung 6. 3. Rhetorische Transformationen - Transformation von Rhetorik Geltungsverlust versus Praxisverlust System versus Rezeption Hermeneutisierung Pädagogisierung Philologisierung Historisierung Partikularisierung Politisierung
203 203 206 213 214 214 219 222 223 224 226 226 227 228 229 229
Anhang: Texte und Dokumente
231
1 2. 3. 4.
231 257 260 265
Zwei Handschriften zum zweiten Teil des Torso (2. Stück) Mohrunger Schülernachschrift Rigaer Schülernachschrift Zwei Eingaben Johann Gottlob Marezolls
Abkürzungen
268
Quellen- und Literaturverzeichnis
269
X
... es bleibt aber immer die Frage, wie Sprachen und Poesie, Rhetorik und Geschichte getrieben werden, sonst können auch sie häßliche, unnütze Wissenschaften bleiben. Der Sinn der Menschheit (Sensus humanitatis) macht sie zu dem, was sie sind, oder sein sollen, und alsdenn ist auch die Philosophie ihnen nicht fremd oder widrig, vielmehr müssen sie alle mit einer Art Philosophie getrieben, und durch sie zur Humanität belebt werden, und die Philosophie ist sodenn gewiß doctrina humanitatis. Es ist unleugbar, daß die alten Theoristen, Aristoteles und Quintilian diesen Sinn der Menschheit bei ihrem Unterricht mehr hatten, als die meisten neuern Theoristen. Über den Einfluss der schönen in die höhern
Wissenschaften
Der echten Beredsamkeit bleibt ihr Weg, wie ihr Ziel unangetatstet. Dies ruft sie auf, jedes Ding (seis Sache oder Begriff, Geschäft oder Rat) mit dem Nachdruck zu nennen und auszudrücken, der ihm gebühret. So vernunftlos es wäre, auf dem Fischmarkt zu demosthenisieren, so wenig ziemt ein langweilig-schleichender Vortrag dem Ohr einer Versammlung, in der Alle beschäftigt, erleuchtet, geweckt sein wollen; sie hangen an den Lippen des Redners. Und Er selbst weiß, wie weit seine Rede Platz greift, wie tief und weit sie die Aufmerksamkeit erfasset und fest hält. Festhalten muß er diese; oder sein Atem ist verloren. Kein „Spiel" ist dieser Kampf mit der Trägheit, der Unbesonnenheit, der Gedankenlosigkeit, noch minder mit Vorurteilen, Neigungen, Leidenschaften vieler und vielartiger Menschen; sondern ein Kampf; ein Kampf für Vernunft, Sittlichkeit, Wahrheit. Kalligone
1. Einleitung
1.1. Herder als Überwinder der Rhetorik Eine rhetorikgeschichtliche Untersuchung zu Johann Gottfried Herder scheint auf den ersten Blick kaum lohnend, ja überflüssig. Denn Herder steht vor allem im literaturgeschichtlichen Bewußtsein für den endgültigen und radikalen Bruch des Sturm und Drang mit der Rhetorik. Der diesbezügliche locus classicus findet sich in Wilfried Barners „Barockrhetorik". Er zitiert dort Herders Klage aus dem Journal meiner Reise im Jahre 1769 über „Sachenlose Pedanten, gekräuselte Periodisten, elende Schulrhetoren, alberne Briefsteller, von denen Deutschland voll ist".1 Seine Äußerungen veranschaulichen nach Barner den „Konflikt zwischen der traditionellen humanistischen Verbalbildung und einer neuen, die Zukunft bestimmenden Sprach- und Dichtungsauffassung", und erscheinen folgerichtig als „Symbol fur die tiefgehende Entfremdung der neuen Gefühls- und Geschmackskultur von der traditionellen rhetorisch-imitatorischen Gelehrtenschulpraxis".2 Bis heute erscheint Herder in der Regel als die Figur eines endgültigen Bruchs mit dem rhetorisch-gelehrten Dichtungsparadigma, das in exemplarischer Weise durch Herders Volkslied-Programmatik abgelöst wird. Praktisch alle Merkmale, die mit dem literarischen Paradigmenwechsel verbunden werden, lassen sich bei Herder, rhetorikkritisch gewendet, wiederfinden: Gunter E. Grimm hat Herders Kritik gelehrter „Letternkultur" beschrieben, bei Gerhard Kaiser, Rüdiger Campe und Dieter Bosse wird der Zusammenhang zwischen neuer Dichtungsauffassung und der Abkehr vom „Rhetorischen" beschworen.3 Für den Zusammenhang zwischen der Entwicklung einer nationalsprachlichen Kultur und dem Ende der Rhetorik lassen sich Äußerungen Herders in den „Fragmenten" (das dortige imitatio-Verbot), dem Reisejournal (Kritik des Lateinunterrichts) und der Winckelmann-Denkschrift (Ablehnung des französischen Elogen-Betriebs) anführen. Auf den zweiten Blick kommen allerdings Zweifel an diesem Befund auf. Wenn man sich eingehender mit Herder selbst und der Forschungslage beschäftigt, steht der Gewißheit, mit der das Bild von Herder als dem Überwinder „der" Rhetorik regelmäßig vertreten wird, eine überraschend vorläufige und widersprüchliche Forschungslage gegenüber. Sie
2 3
Wilfried Bamer: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, 320. Ebd. 320f. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, 5ff., 547ff. und Ders.: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998, 307ff.; die Plazierung Herders am Ende der Gleichsetzung von gelehrter und rhetorischer Bildung ist bereits bei Barner angedacht, vgl. Bamer, Barockrhetorik 222 Anm. 8 u.ö.; vgl. Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine, 1. Teil, Frankfurt/Main 1988, 41ff., 73 u.ö., besonders das von Rüdiger Campe verfaßte Kapitel „Aufhebung der Rhetorik" (188ff.). Ausführliche Wiederaufnahme in Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990, 515ff.; zum (vermeintlichen) Funktionsverlust der Schulrhetorik Heinrich Bosse: Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 10 (1978) 80-125 und zur (vermeinlichen) Rolle Herders Ders.: Herder (1744-1803). In: Horst Turk (Hg.): Klassiker der Literaturtheorie. München 1979, 78-91.
1
spiegelt in vielem die Kontroverse um die Bedeutung der Rhetorik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Während der sprichwörtlich gewordene „rhetorische Grundzug" der Barockliteratur4 eine Fülle von Untersuchungen angeregt hat, in denen die grundlegende Bedeutung der Rhetorik für das Verständnis der barocken Poetik und Dichtungspraxis nachgewiesen wurde, ist man mit entsprechenden Untersuchungen für das 18. Jahrhundert bis auf Ausnahmen5 nicht wesentlich über die Frühaufklärung und das Literatursystem Gottscheds hinausgekommen.6 Die Bedeutung der Rhetorik für die Entwicklungen der zweiten Jahrhunderthälfte ist dabei eigentümlich kontrovers geblieben. Einerseits ist das Ende der Rhetorik als Disziplin und Themenbereich immer noch ein Leitgesichtspunkt für die Beschreibung der Epochenwende um 1770, andererseits fehlt es nicht an Argumenten für eine unverminderte Bedeutung der Rhetorik in der Entwicklung des literarischen Bewußtseins. Die bisherige Berücksichtigung der Rhetorik in der Herderforschung hat nur wenig zur Klärung des Problems beigetragen. Obwohl dort gerade in den letzten Jahren Rhetorik als thematischer und methodischer Bezugspunkt stärker als zuvor beachtet worden ist und zu Herders Homiletik inzwischen umfassendere Untersuchungen vorliegen, steht eine eingehendere Erforschung der Rhetorik als Gesamtkomplex in Herders Werk bis heute aus.
5
6
2
Belege zur diesbezüglichen Topik seit Günther Müller bei Barner, Barockrhetorik, 27ff. Vgl. Gert Ueding: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen 1971, Jürgen Schröder: Sprache und Rhetorik. In: Ders.: Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama. München 1972, 106ff., Helmut Schanze: Romantik und Rhetorik. Rhetorische Komponenten der Literaturprogrammatik um 1800. In: Ders. (Hg.): Rhetorik. Frankfurt/Main 1974, 126-144, Ders.: Unendliche Rhetorik. In: Ders.: Romantik und Aufklärung. Nürnberg 2 1976, 94—106, Elke Haas: Die Rhetorik in Bürgers ästhetischen Anschauungen. In: Rhetorik 3 (1983) 97-109, Wolfgang Bender: „Eloquentia corporis". Rhetorische Tradition und Aufklärung bei Lessing. In: Lessing Yearbook 21 (1989) 45-53, Reinhard Tschapke: Anmutige Vernunft. Christoph Martin Wieland und die Rhetorik. Stuttgart 1990, Helmut Schanze: Goethes Rhetorik. In: Gert Ueding (Hg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Tübingen 1991, 139-148, Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992; grundlegende Orientierung zur Epoche bietet Gert Ueding: Art. „Aufklärung". In: Ders. (Hg.): HWRh Bd. 1 (1992), Sp. 1188ff.; für den philosophiegeschichtlichen Kontext vgl. Tobia Bezzola: Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte der Rhetorik. Tübingen 1993 und Peter L. Oesterreich: Das gelehrte Absolute. Metaphysik und Rhetorik bei Kant, Fichte und Schelling. Darmstadt 1997, zum pädagogikgeschichtlichen Kontext Ingrid Lohmann: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. Zur pädagogischen Transformation der Rhetorik zwischen 1750 und 1850. Münster, New York 1993. Vgl. dazu z.B. Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980, Wolfgang Bender: Rhetorische Tradition und Ästhetik im 18. Jahrhundert. Baumgarten, Meier und Breitinger. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99 (1980) 80-125, Uwe Möller: Rhetorische Oberlieferung und Dichtungstheorie im frühen 18. Jh. Studien zu Gottsched, Breitinger und G.F. Meier. München 1981, Hans-Jürgen Gabler: Geschmack und Gesellschaft. Rhetorische und sozialgeschichtliche Aspekte der frühaufklärerischen Geschmackskategorie. Frankfürt/Main 1982, Gunter E. Grimm: Von der 'politischen' Oratorie zur 'philosophischen' Redekunst. Wandlungen der deutschen Rhetorik in der Frühaufklärung. In: Rhetorik 3 (1983) 65-96; Hermann Stauffer: Rhetorik im Zeichen der Frühaufklärung bei Gottsched und seinen Zeitgenossen. Frankfurt/Main 1997; für die Desiderate der Rhetorik- und Ästhetikforschung im Bereich der Frühaufklärung vgl. Theodor Verweyen in Ders. (Hg.): Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 1995, XXIV; wichtig Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, der zum gesamten Wandlungsprozess rhetorischer Theoriebildung - allerdings unter Vernachlässigung der lateinischsprachigen Rhetorik der Neuhumanisten - ein erstes Gesamtbild zum 18. Jh. bietet; seine Arbeit erschien erst nach Abschluß des Manuskripts und kann deshalb nur noch summarisch berücksichtigt werden.
Insgesamt ist Herders Verhältnis zur Rhetorik in der Herderforschung und in der historischen Rhetorikforschung ein Randthema.7 An wichtigen Hinweisen hat es nie gefehlt, wohl aber an einem Gesamtbild. Schon Dietrich Harth bemerkt: „Bei allen Unterschieden scheinen mir insbesondere seine späteren Sprach- und Bildungsvorstellungen auf eine Erneuerung der von der klassischen Beredsamkeit (Rhetorik) intendierten Psychagogik hinauszulaufen".8 Hans Dietrich Irmscher hat auf „die bisher kaum beachtete Nachwirkung der Rhetorik in Herders Denken" hingewiesen und vor dem Hintergrund seines eigenen Beitrags gleichzeitig angemahnt, „sie einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen".9 Wilhelm-Ludwig Federlin hat Herders Konzeption des Predigtamtes untersucht und sich mit der Beziehung von Rhetorik und Homiletik in Herders Schriften auseinandergesetzt.10 Sein Interesse beschränkt sich allerdings auf theologisch-homiletische Fragen, auf die Thematisierung von Rhetorik in literaturtheoretischen, sprach- oder geschichtsphilosophischen Zusammenhängen geht er nicht ein. In verschiedenen Arbeiten zu Herder ist Rhetorik als Kontext zwar in die Interpretation einbezogen worden, doch ohne dabei seine eigenen Aussagen zu diesem Thema wirklich auszuschöpfen: Heidi Owren hat versucht, die humanistische Tradition des rhetorischen Bildungsideals ciceronianischer Prägung in ihre Darstellung des Herderschen Bildungsdenkens einzubeziehen." Ulrich Gaier hat die gleiche Traditionslinie im Anschluß an KarlOtto Apel unter dem Stichwort „Sprachhumanismus" für seine Interpretation der Sprachphilosophie Herders herangezogen.12 Ralph Häfner hat im Zusammenhang mit seiner Untersuchung des Herderschen Geschichtsdenkens Rhetorik als methodologisch relevanten
7
Vgl. Walter Jens: Von deutscher Rede. In: Ders.: Von deutscher Rede. München 1969, 16-45. Er zitiert ohne eingehendere Interpretation verschiedene Äußerungen Herders zur politischen Beredsamkeit, schreibt allerdings eine Äußerung Abbts, die Herder in den Fragmenten zitiert, falschlich Herder zu (ebd. 26); zur allgemeinen Einordnung Herders in die Rhetorikgeschichte vgl. auch Walter Jens: Art. „Rhetorik". In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Auflage. Hg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Bd. 3, Berlin 1977, 4 3 2 ^ 5 6 ; Walter Hinderer (Kurze Geschichte der deutschen Rede. In: Ders.: Über deutsche Literatur und Rede. Historische Interpretationen. München 1981, 212-254) geht zwar auf die Verbindungen zwischen Literaturentwicklung und Predigtkultur ein, geht aber nicht über Jens hinaus; Klaus Petrus (Genese und Analyse. Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin/New York 1997) thematisiert Herder nur im Zusammenhang mit der Hermeneutik (ebd. 194ff.).
8
Dietrich Harth: Ästhetik der ganzen Seele. Versuch über Herders Konzept der literarischen Bildung. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1971. Bückeburg 1973 ,121, Anm. 5. Hans Dietrich Irmscher: Herder über das Verhältnis des Autors zum Publikum. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder. Hg. von Johann Gottfried Maltusch. Rinteln 1976, 101. Vgl. Wilhelm-Ludwig Federlin: Vom Nutzen des Geistlichen Amtes. Ein Beitrag zur Interpretation und Rezeption Johann Gottfried Herders. Göttingen 1982; Predigt und Volksbildung. Marginalien zu J.G. Herders Predigtverständnis. In: Ders.: Kirchliche Volksbildung und bürgerliche Gesellschaft. Studien zu Thomas Abbt, Alexander Gottlieb Baumgarten, Johann David Heilmann, Johann Gottfried Herder, Johann Georg und Johannes von Müller. Frankfurt/Main 1993, 1-17; „Die Homiletik erfodert eine ganz andre Beredsamkeit". Kritik und Bedeutung der Rhetorik in Lessings und Herders Homiletik. In: Ders. (Hg.): Sein ist im Werden. Essays zur Wirklichkeitskultur bei Johann Gottfried Herder anlässlich seines 250. Geburtstages. Frankfurt/Main 1995, 59-82. Heidi Owren: Das römische 'instituto oratoria' [sie!] und der 'vir bonus'; Scholastische Verfremdung. In: Dies.: Herders Bildungsprogramm und seine Auswirkungen im 18. und 19. Jahrhundert. Heidelberg 1985, 20ff Ulrich Gaier: Sprachhumanismus. In: Ders.: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, 28ff.; vgl. Karl-Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. Bonn 1963.
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Aspekt gewürdigt.13 Ingeborg Nerling-Pietsch hat sich in ihrer Untersuchung der Gedenkschriften Herders auch kurz mit der Kritik Herders am Elogen-Betrieb der französischen Akademie in der Winkelmann-Lobschrift und der dahinterstehenden rhetorischen Gattungstradition auseinandergesetzt.14 In der historischen Rhetorikforschung ist immer wieder auf die besondere geschichtliche Stellung Herders hingewiesen worden, ohne allerdings seine Einstellung zur Rhetorik umfassender aufzuarbeiten: Klaus Dockhorn hat an verschiedenen Beispielen aufgewiesen, daß seine Terminologie auch gerade da, wo programmatische Innovationen entwickelt werden, den traditionellen rhetorischen Bezugsrahmen produktiv macht.15 Im selben Kontext hat er auch nachdrücklich auf die rhetorische Genieästhetik hingewiesen, wie sie sich bei Quintilian findet und der neuen Ästhetik im Zeichen des Genies die Kategorien an die Hand gibt.16 Joachim Dyck hat die paradoxe Stellung Herders in der Geschichte der literarischen und rhetorischen Theorie genau umrissen, wenn er feststellt: „gerade an dieser Stelle muß betont werden, daß Herders Ästhetik sich gleichwohl als neue im Schöße der alten Rhetorik entwickelt, deren Prinzipien sie reaktualisiert. Damit muß auch gleichzeitig das vorher gegebene Urteil etwas eingeschränkt werden, in dem Herders grundsätzliche Abwendung von der traditionellen Rhetorik und Poetik beschworen wurde."17 Jochen Schmidt hat auf die präzeptorale Stellung Herders hingewiesen, der im Zeichen einer „neuen Rhetorik" letztlich wieder bis in den Satzbau hinein Anweisungspoetik für GeniePoeten betreibe. Die Entwicklung dieser neuen Rhetorik ist fur ihn „ein für die Geniezeit kaum zu überschätzender Vorgang."18 Anna Carrdus hat im Zusammenhang mit ihrer Untersuchung der Bürgerschen Ästhetik und Dichtungspraxis auch Herders Aneignung der Rhetorik im Rahmen seiner Sturm und Drang-Schriften thematisiert. Sie stellt heraus, wie die Rhetorik gerade da noch wirkt, wo sie nach der herrschenden Auffassung endgültig ihren Einfluß verliert.19 Sie hat den Standpunkt von Kaiser und Campe nachdrücklich 13
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Vgl. Ralph Häfher: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995, 102ff. u.ö.; vgl. dazu auch Daniel Fulda: Rhetorik, Ästhetik, Geschichtsphilosophie und Sprachreflexion. In: Ders.: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen Geschichtsschreibung 1760-1860. Berlin, New York 1996, 145ff. Ingeborg Nerling-Pietsch: Das literarische Denkmal in seinem Verhältnis zur Rhetoriktradition. In: Dies.: Herders literarische Denkmale. Formen der Charakteristik vor Friedrich Schlegel. Münster 1997, 40ff. Vgl. zu den Fragmenten Klaus Dockhorn: Der neue Geist im Frühwerk Herders. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 18 (1968) 91 und zum Shakespeare-Aufsatz Ders. Macht und Wirkung der Rhetorik. Bad Homburg v.d.H. 1968, 18f. u.ö. Ebd. 117ff. Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, 109; interessant, aber von einem reduktionistischen Rhetorikbegriff geprägt (vgl. unten) der Ansatz bei Chenxi Tang: Rhetorik mit Akzent: Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Rhetorik der Kulturbeschreibung bei Herder. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart 2004, 42(Mt43; dort wird im Feld der Kulturbeschreibung ebenfalls das paradoxe Ineinander von (impliziter) Rhetorikkritik und (allerdings rein praktisch verstandener) „Neuer Rhetorik" bei Herder aufgewiesen. Jochen Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750— 1945, 2. Aufl. Darmstadt 1988, Bd. 1, 59. Anna Carrdus: Classical Rhetoric and the German Poet 1620 to the Present. A Study of Opitz, Bürger and Eichendorff. Oxford 1996, 235; zur rhetorischen Grundierung der „antirhetorischen" Erlebnislyrik vgl. Dies.: 'Und mir's vom Aug' durchs Herz hindurch in'n Griffel schmachtete-' Rhetoric in Goethes 'Erlebnislyrik'. In: Publications of the English Goethe Society N.S. 62 (1993) 35-58.
kritisiert und vor einer Überschätzung des Prinzips ,Erlebnislyrik' und der damit regelmäßig einhergehenden Unterschätzung der Rhetorik gewarnt.20
1. 2. Begriff und Geschichte der Rhetorik im Umfeld Herders
Offener und emphatischer Rhetorikbegriff Eines der Grundhindernisse für eine sinnvolle rhetorikgeschichtliche Bestimmung der Position Herders sind weniger die problematischen prorhetorischen und antirhetorischen Wertungen, die für das 18. Jahrhundert typisch sind und bis heute die Diskussion der Forschung geprägt haben, sondern der Rhetorikbegriff selbst. Der übliche emphatische und oftmals unreflektierte Gebrauch des Rhetorikbegriffs trifft in der Regel nur einzelne - oftmals disparate - Aspekte dessen, was in den Kontext einer Geschichte der Rhetorik gehört. Rhetorik wird z.B. als normatives Regelsystem verstanden und figuriert dann als Inbegriff vormoderner Ästhetik. Im disziplinaren Gegensatz zur Philosophie wird sie z.B. bei Geitnei21 als das „Andere" aufklärerischer Vernunft verstanden. Sozialgeschichtlich wird sie mit höfischer (Günther Müller) oder gelehrter Dichtung (Grimm) identifiziert, wobei besonders der Aspekt des Höfischen häufig mit dem Gesichtspunkt Überfremdung in Verbindung gebracht wird. Regelmäßig wird sie auf die Gestalt des Schulfachs reduziert.22 Hier wird in der Regel mit dem Begriff der „Schulrhetorik" gearbeitet, der vor allem in der älteren Forschung negativ konnotiert ist. Aufschlußreich für die Problematik sind die gelegentlich anzutreffenden entgegengesetzten Bewertungen. „Rhetorik" konnte beispielsweise in der Barockforschung gleichzeitig mit normativem Klassizismus23 und antiklassizistischem Barockmanierismus identifiziert werden.24 Ideengeschichtlich wird sie bei Klaus Dockhorn mit „Irrationalismus" gleichgesetzt, bei Paetzold und Niehues-Pröbsting hingegen mit Rationalismus.25 Neben dem - mehr oder weniger - disziplingeschichtlich wahrgenommenen Rhetorik-Begriff taucht vor allem in den einschlägigen Werken zur Lyrik und ihrer Theorie
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Carrdus, Classical Rhetoric and the German Poet, 88f. Vgl. Ursula Geitner: Die „Beredsamkeit des Leibes". Zur Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation im 18. Jh. In: Das achtzehnte Jahrhundert 14 (1990) H. 2, 181. Vgl. Manfred Fuhrmann: Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert. Konstanz 1983, 15 u.ö., insbesondere die dortige Kritik an Dieter Breuer: Schulrhetorik im 19. Jahrhundert. In: Helmut Schanze (Hg.): Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1974, 145-179. Zur geläufigen Gleichsetzung von Klassizismus und Rhetorik vgl. Björn Hambsch: Art. „Klassik/Klassizismus" (Deutschland). In: HWRh Bd. 4 (1998) Sp. 103Iff. Barner, Barockrhetorik, 33ff, 56ff. u.ö. Vgl. Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik, passim und Heinz Paetzold: Rhetorik-Kritik und Theorie der Künste in der philosophischen Ästhetik von Baumgarten bis Kant. In: Von der Rhetorik zur Ästhetik. Studien zur Entstehung der modernen Ästhetik im 18. Jh. Hg. von Gerard Raulet. Rennes 1992, 7 - 3 7 und Heinrich Niehues-Pröbsting: Rhetorische und idealistische Kategorien der Ästhetik. In: Willi Oelmüller (Hg.): Kolloquium Kunst und Philosophie. Bd. 1. München u.a. 1981, 102ff.
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der Begriff des „Rhetorischen" auf. Er dient vor allem als Negativfolie der Erlebnislyrik26 und wird mit dem dort durchbrechenden „Natürlichen" kontrastiert. Dieses so bestimmte meist negativ definierte - „Rhetorische" ist in bildungs- und rezeptionsgeschichtlicher Perspektive noch vager als der gängige Rhetorik-Begriff und ist deshalb noch weniger geeignet, die historische Entwicklung aufzuhellen. Insgesamt ist festzuhalten, daß Wilfried Barners ausfuhrlichem und differenzierten Versuch, dem Rhetorikbegriff in historischer Perspektive eine tragfahige sachliche Basis zurückzugeben, für das 18. Jahrhundert nur geringer Erfolg beschieden war.27 Neben die häufige Verallgemeinerung von Einzelaspekten historischer Rhetorikformen tritt die Einebnung der UngleichfÖrmigkeit des klassischen rhetorischen Kanons. Der z.B. von Barner und Fuhrmann28 postulierte Ganzheitscharakter der Rhetorik muß unter rezeptionsgeschichtlicher Perspektive relativiert werden. Entgegen dem häufigen Verweis auf den „consensus"29 der antiken und späteren Rhetoriktheorien ist von einer synchronen und diachronen Pluralität verschiedener Rhetorik-Konzepte und -rezeptionen auszugehen.30 Dies gilt für das Verhältnis von Rhetorik und literarischer Theorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insgesamt und insbesondere für Herder. Schon der antike Rhetorik-Kanon ist ausgesprochen heterogen, was Umfang, theoretischen Anspruch, Aufbau und thematische Breite der einzelnen Schriften angeht. Der Fokus kann praktisch-politisch, pädagogisch, geschichtlich, kritisch oder philosophisch-methodologisch sein. „Rhetorik" ist praktische Anweisung und Modellvorstellung zur Textherstellung, normative Stilistik, praktisch-juristisch orientierte Argumentationstheorie, methodologisches „Gegenstück" (Aristoteles) zur Dialektik und damit kommunikatives Rationalitätsmodell, hermeneutisches bzw. textanalytisches Instrumentarium, forensisches Kommunikationsmodell oder humanistische Sprachanthropologie. Es ist symptomatisch, daß Lausberg und Dockhorn von Quintilian bzw. Cicero als Inkarnation des consensus ausgehen, weil beide unter pädagogischer bzw. philosophischer Perspektive weitgehende Integrationsleistungen vollbracht haben, die für spätere Epochen als Modell einer integrativen RhetorikKonzeption dienen konnten. Die Frage ist allerdings, ob man einfach unterstellen darf, daß beide Integrationsleistungen selbst innerhalb der Rhetorik-Geschichte paradigmatisch geblieben sind.31 Es ist davon auszugehen, daß die antiken Äußerungen und Lehrbücher zum Gesamtkomplex „Rhetorik" immer nur selektiv reaktualisiert wurden. Idealtypisch
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Vgl. Kaiser, Campe und die Kritik bei Carrdus a.a.O. Vgl. Bamer, Barockrhetorik 3ff. und insbes. 70ff. Manfred Fuhrmann: Rhetorik von 1500 bis 2000. Kontinuität und Wandel. In: Gert Ueding/Thomas Vogel (Hg.): Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit. Tübingen 1998, 27. So ausdrücklich bei Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik, 12f. u.ö. Vgl. z.B. schon zur antiken Rhetorik die Übersichtsdarstellung bei Manfred Fuhrmann: Die antike Rhetorik. München, Zürich 3 1990, 33, 75ff. u.ö., in der bei den einschlägigen Lehrbüchern die Unterschiede in Methodik, Aufbau, Praxisbezug und theoretischem Anspruch deutlich werden; auch für spätere Epochen ist vorauszusetzen, daß Rhetorik als Disziplin in verschiedenen Kontexten verschiedenes bedeutet und (u.a. in der literarischen Theorie) dementsprechend unterschiedlich funktionalisiert wird. In der deutschen Literaturwissenschaft ist dem bisher nur für das 17. Jh. ausfuhrlich nachgegangen worden: vgl. Georg Braungart: Hofberedsamkeit. Tübingen 1988, 58f. u.ö. und Ders.: „Praxis" und „poiesis": Zwei konkurrierende Textmodelle im 17. Jahrhundert. In: Gert Ueding (Hg.): Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Tübingen 1992, 87-98. Schon in der Renaissance lassen sich analoge Vorgänge in der Ciceronianismus-Kritik des Erasmus von Rotterdam und der Quintilian-Kritik bei Ramus und Vives beobachten.
gesehen ist jede spätere Rhetorikrezeption eine Verkürzung von antiker Rhetorik, allerdings keineswegs „der" antiken Rhetorik, weil es „die" antike Rhetorik nicht gibt, wenn man systematische oder auch nur thematische Geschlossenheit zur Bedingung macht. Die erste Konsequenz aus der Vieldeutigkeit historischer Rhetorikkonzepte in der Forschung muß daher sein, „die" Rhetorik als historisch und systematisch unqualifizierten disziplinaren Begriff fallenzulassen. Stattdessen sollte man von spezifischen „Rhetoriken" sprechen, die historisch und systematisch genau zu verorten sind und sich sowohl auf die Disziplin als theoretische Formation als auch auf deren pragmatische und gesellschaftliche Situiertheit in der praktischen Umsetzung beziehen. „Die" Rhetorik des 18. Jahrhunderts gibt es nicht, wohl aber pietistische oder neuhumanistische Rhetorik, die philosophische Oratorie der Frühaufklärung oder personal zu spezifizierende Rhetorikauffassungen wie die von Sulzer, Herder oder Kant. Auch theoretische oder praktische Präferenzen wie die Betonung von pronuntiatio und actio im elocutionary movement, die Basierung der Rhetorik auf die Chrienmethode bei Weise, auf die Periodologie bei Freyer oder die Wiederentdeckung der compositio bei Gesner und Ernesti lassen sich präzise benennen. Rezeptionsgeschichtlich fußen alle diese Ansätze mehr oder minder auf der antiken Rhetorik, stellen aber immer besondere Ausprägungen dar, keine davon ist verbindliche Gestalt „der" Rhetorik.
Zur Geschichtlichkeit des Rhetorikbegriffs Jeder Versuch, historische Rhetorik vom jetzigen Theorieverständnis aus systematisch zu definieren, muß berücksichtigen, daß „Rhetorik" als Frageinteresse bzw. Themenbereich zahlreicher Disziplinen von Interesse ist und diese Multiplizität disziplinarer Frageinteressen eine entsprechende Vielzahl konkurrierender systematischer Rhetorikbegriffe hervorgebracht hat. 32 Dabei ist es für eine historisch orientierte Rhetorikforschung keine Erleichterung, daß die alte Rhetorik als Disziplin „unwiederbringlich .historisch" 93 geworden ist und sich die Frage stellt, inwiefern der vormoderne Rhetorikbegriff überhaupt anschlußfahig geblieben ist. Daß gerade der begriffliche Anschluß moderner Rhetorikkonzeptionen an die traditionelle Disziplin unter dem vielzitierten Stichwort einer „Renaissance der Rhetorik" problematisch ist und auch für den Blick auf die Geschichte der Rhetorik Folgen hat, hat Kopperschmidt im Blick auf die moderne Vielfalt rhetorischer Frageinteressen nachdrücklich formuliert: Die lange Geschichte der Rhetorik hält ja genug Varianten ihrer theoretischen Formation bereit, an die disziplinare Interessen jeweils anschließen können, so daß sich die interesseabhängigen Konstrukte von Rhetorik wie Rekonstruktionen der Rhetorik lesen lassen, wenn es auch so etwas aufgrund der prinzipiellen Historizität
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Vgl. die Darstellung bei Josef Kopperschmidt: Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik. Einleitende Anmerkungen zum heutigen Interesse an Rhetorik. In: Ders. (Hg.): Rhetorik. Bd. 1: Rhetorik als Texttheorie. Darmstadt 1990, 3ff. Helmut Schanze: Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800. In: Rhetorik 12 (1993) 60.
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ihrer verschiedenen Formationen schlechterdings nicht geben kann. Es macht schon einen erheblichen Unterschied, ob man sein Verständnis von Rhetorik aus Texten eines Piaton oder eines Aristoteles, eines Cicero oder einer deutschen Frühaufklärung, eines italienischen Humanismus oder eines Nietzsche gewinnt. 3 4
Problematisch wird es, wenn moderne systematisch interessierte Rhetorikkonzeptionen auf die Untersuchung historischer Rhetorikdiskussionen projiziert werden, weil dabei die Historizität der Rhetorik in der Regel verschwindet: die historische Diskussion und der jeweils unterlegte systematische Rhetorikbegriff sind nicht mehr zur Deckung zu bringen. Das hat zur Folge, daß von einer ganzen Anzahl von Rhetorikforschern35 geschichtliche Veränderungen des theoretischen Systems und der praktischen Relevanz „der" Rhetorik schlichtweg nicht akzeptiert wird. Entweder läßt sich spätere Rhetorik mit dem - wo und wie auch immer aufgefundenen - Wesenskern antiker Rhetorik identifizieren, oder es handelt sich einfach nicht mehr um Rhetorik. Es ist eine Frage fur sich, warum dieses Denken in der historischen Rhetorikforschung nicht nur akzeptiert werden konnte, sondern die historische Wahrnehmung nachhaltig strukturieren konnte. Wollte man so in der Geschichte anderer Wissenschaften argumentieren, würde sich jeder Versuch einer geschichtlichen Behandlung erübrigen: Philosophie wäre nach Kant keine Philosophie mehr, weil ja zum Wesen der alten Philosophie die klassische Metaphysik gehörte, Naturwissenschaft ist keine Naturwissenschaft mehr, weil ihr bis zum 17. Jh. mathematische Modelle und experimentelle Überprüfung fremd waren usw. Nur Rhetorik muß immerzu bleiben, was sie angeblich schon immer war, jede Wandlung, schöpferische Neuaneignung oder Neuformulierung von Rhetorik muß das Ende „der" Rhetorik sein. Als Konsequenz ist bei der Frage, was Rhetorik im 18. Jahrhundert ist, zunächst einmal beim Verständnishorizont der Epoche anzusetzen, und nicht bei dem, was der Rhetorikhistoriker unter Rhetorik verstehen möchte. Selbstverständlich läßt sich dieses Verständnis struktural bzw. kommunikationstheoretisch beschreiben. Zunächst muß allerdings an den Quellen erhoben werden, worauf der Rhetorikbegriff bei Herder und in seinem Umfeld sachlich zielt.
Ende - Weiterleben - Transformation von Rhetorik im 18. Jahrhundert Zum widersprüchlichen Nebeneinander der verschiedenen historischen Rhetorikbegriffe gesellt sich ein Nebeneinander verschiedener Modellvorstellungen zur historischen Entwicklung „der" Rhetorik. Plakative Stichworte wie „Ende", „Tod", „Tilgung" und „Weiterleben" der Rhetorik, „Verfall der Beredsamkeit" und der rhetorik- bzw. literaturgeschichtliche Paradigmenwechsel bestimmen nach wie vor das Gesamtbild. Problembewußtere Alternatiworstellungen wie rhetorische „Transformationen"36 (Vorgeschlagen von Schanze, weiterentwickelt von Lohmann, aufgegriffen von Krause, wesentlich vertieft von Till), paradoxale Vorstellungen (Dyck, Bornscheuer), die Ansetzung einer Paradigmenkonkur34 35
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Kopperschmidt, Rhetorik nach dem Ende der Rhetorik, 8. So besonders Lothar Bornscheuer: Rhetorische Paradoxien im anthropologischen Paradigmenwechsel. In: Rhetorik 8 (1989) 13^12, Geitner, Die Kunst der Verstellung und Erich Meuthen: Selbstüberredung. Freiburg i.Br. 1994, 11 ff. Vgl. Schanze, Transformationen der Rhetorik, 60-72 und in expliziter Anlehnung an Schanzes Begrifflichkeit Lohmann, Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit.
renz statt des vielberufenen Paradigmenwechsels (Adler contra Grimm/Bornscheuer; vgl. von dort aus auch Campe und Meuthen/Geitner), ein bewußt angesprochenes Nebeneinander von Kontinuität und Diskontinuität37, der eine „zerfledderte Rhetorikgeschichte"38 zu entsprechen hätte, sind nach wie vor die Ausnahme. Das 18. Jahrhundert ist zwischen der wohl unbestrittenen Herrschaft der Rhetorik im Barock und dem im späten 19. Jahrhundert anzusiedelnden disziplinaren Untergang der Rhetorik eine Übergangsphase. Dies wirft nicht zu unterschätzende methodologische Probleme auf. Das „Ende" oder „Weiterleben" der Rhetorik ist weitgehend eine Frage der Perspektive. Man muß unterscheiden, ob mit dem „Ende" eine - allgemeine oder nur in bestimmten Richtungen anzutreffende - wissenschaftstheoretische Geringschätzung der Disziplin als solcher gemeint ist oder das Ende der Lehrbuchproduktion, die Absetzung des Schulfachs oder das Eingehen der universitären Lehrstühle. Ist in Bezug auf die literarische Theorie eine bloße Geltungseinbuße, oder das Ende der Rhetorik-Rezeption schlechthin vorauszusetzen? Wie muß man den offensichtlichen Geltungsverlust der Rhetorik von einem Theorie- und vor allem Praxisverlust der Rhetorik unterscheiden? Erstaunlich häufig wird das rhetorikkritische Epochenbewußtsein diszplingeschichtlich interpretiert. Der institutionelle „Verfall" der Rhetorik, das heißt das Verschwinden der universitären Lehrstühle und die Reduktion des Schulfachs, der sich erst im 19. Jahrhundert belegen läßt, wird aufgrund von Verfallsklagen oder rhetorikkritischen Äußerungen des 18. Jahrhunderts dorthin zurückprojiziert. Überprüfbar ist eine solche Parallelisierung nur, wenn programmatische Äußerungen und institutionengeschichtliche Quellen verglichen werden. Während fur die Barockzeit das Ineinanderwirken von Schulrhetorik und Literaturtheorie detailliert nachgewiesen ist, stellt der bildungsgeschichtliche Bedeutungsverlust der Rhetorik im 18. Jh. weitestgehend eine reine Behauptung dar.39 Die Frage, inwieweit die bis zum Ende des 18. Jh. weitergeführte und erneuerte Schultradition für die literarische Theoriebildung von Bedeutung gewesen ist, läßt sich nicht klären, wenn man lediglich rezeptions- oder ideengeschichtlich die literarische Theorie auf rhetorische Einschlüsse hin untersucht und den institutionellen Kontext unberücksichtigt läßt. Denn Charakteristikum des 18. Jahrhunderts ist eine Diskrepanz zwischen mentalitätsgeschichtlichem Wandel und institutionengeschichtlichem Beharrungsvermögen, die sich auch bei Herder belegen läßt. Die vorliegende Untersuchung liefert deshalb weder für das „Ende" noch für das „Weiterleben" „der" Rhetorik Argumente, sondern lediglich dafür, daß dies die falsche Alternative ist. Der hier skizzierte Übergangsprozeß ist von beiden Seiten beschreibbar. Man kann den Geltungsverlust bestimmter Rhetorikformen, wie sie auch bei Herder greifbar sind, als „Ende" der Rhetorik beschreiben. Aus dieser Sicht zerstört sich die Rhetorik durch den Rekurs auf ihre selbstkritischen Elemente, ins Grundsätzliche gewendet, selbst. Oder sie kommt durch die Befreiung von Funktionalisierung, Methodisierung und Mechanisierung im Medium eines vertieften und an das Konzept der 37
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So explizit bei Axel Weishoff: Wider den Purismus der Vernunft. J. G. Hamanns sakral-rhetorischer Ansatz zu einer Metakritik des Kantischen Kritizismus. Opladen 1998, 3ff. Vgl. die Kritik an einem emphatisch-unspezifischen historischen Rhetorikbegriff bei Peter D. Krause, Vorwort zu Rhetorik 20 (2002) X. Vgl. Joachim Dyck/Jutta Sandstede: Rhetorik im 18. Jahrhundert. In: Dies.: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, IX-XXVIII.
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Humanität gebundenen historischen und kommunikativen Verständnisses überhaupt erst zu sich selbst. Der gleiche geschichtliche Vorgang ist mit guten Gründen als Tod oder Wiedergeburt „der" Rhetorik beschreibbar. Die in der Forschung vorherrschende Dichotomie von „Ende" und „Weiterleben" der Rhetorik ist zu ungenau und zu sehr auf rhetorikgeschichtliche Einzelaspekte ausgerichtet, um die Wechselwirkungen von rhetorischer und literarischer Theorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angemessen beschreiben zu können. Ausgangspunkt der Untersuchung ist deshalb die Annahme eines komplexen Transformationsprozesses von Rhetorik und literarischer Theorie, den Herder mit angestoßen, begleitet und aufgenommen hat.40
Zur Interpretation der rhetorikkritischen Diskussion des 18. Jahrhunderts Zu den paradoxen Voraussetzungen für eine Analyse der Rhetorikkritik des 18. Jahrhunderts gehört die Beobachtung, daß Rhetorikritik in den allermeisten Fällen keine Kritik an „der" Rhetorik bedeuetet. Schon die unterschiedlichen Diskurse der Epoche, innerhalb derer der Rhetorikbegriff zusammen mit den unterschiedlichen dahinterstehenden Rhetorikrezeptionen verhandelt wird, sind ausgesprochen divergent, was die jeweilige Füllung des Begriffs angeht. Oftmals erfahrt die Rhetorik schon im gleichen Zusammenhang ambivalente Bewertungen. Dies fuhrt in der Forschung regelmäßig zu verschiedenen Perspektiven, die aus der Analyse jeweils verschiedener Diskurse gewonnen sind, aber nicht als solche benannt und miteinander vermittelt werden. In der Regel wird dann eine Einzelperspektive zu einem historisch oder gar systematisch als allgemeingültig ausgegebenen Rhetorikbegriff verallgemeinert. Ein instruktives Beispiel sind die „two histories" bzw. „languages" der Rhetorikdiskussion im Frankreich des 18. Jh., auf die Marylin Sides aufmerksam gemacht hat.41 Hier ist zwischen einer wissenschaftstheoretischen Anfrage an Rhetorik und der weiterhin ungebrochenen kommuikativen Applikabilität der Disziplin zu unterscheiden. 42 Ein weiteres Beispiel für einen reduktiven Gebrauch des Rhetorikbegriffs ist der topische Gegensatz von „rhetorisch" und „natürlich". In der Regel werden Belege zur Kritik bestimmter Stilformen noch immer als Kritik an „der" Rhetorik verstanden. 43 Dabei
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Vgl. Möller, Rhetorische Überlieferung und Dichtungstheorie, 102, der dort die „grundsätzliche Alternative zwischen einem rhetorisch-formalen und einem von der neuzeitlich-aufklärerischen Erkenntnisphilosophie beeinflußten Dichtungsbegriff' als „nicht stichhaltig" beurteilt. Marylin Sides: Rhetoric on the brink of banishment: d'Alembert on rhetoric in the Encyclopedic. In: Rhetorik 3 (1983) U l f ; vgl. den Hinweis auf die analoge Problematik im deutschen Bereich bei Campe, Affekt und Ausdruck, 489ff.; zu den Ambivalenzen der Rhetorik-Diskussion des 18. Jahrhunderts auch Björn Hambsch: Verfall der Beredsamkeit. Untersuchungen zur Topik der rhetorischen Diskussion vom Ende der Ära Gottsched bis Adam Müller. Magisterarbeit Tübingen 1994, 13ff. und 95f. Zur Topik der einschlägigen Diskussion vgl. die Übersicht in Kap. 4.1. Diese Gleichsetzung ist üblich seit Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stuttgart 1966, der auch den Topos von der Rhetorikfeindschaft „der" Pietisten im Anschluß an Langen und Schmitt in die zweite Hälfte des 20. Jh. gerettet hat; vgl. trotz der differenzierten Kritik bei Barner: Barockrhetorik 72ff. die unkritische Wiederaufnahme dieser Perspektive bei Renate von Heydebrand/Simone Winko: Wertung im Zeichen poetologischer Konzepte zwischen ,Heteronomie' und .Autonomie' - am Beispiel der Epoche des
wird nicht beachtet, daß in unterschiedlichen Epochen unterschiedliche Stile „natürlich" wirken und damit auch das „Rhetorische" unterschiedlich besetzt ist.44 Was z.B. in Windfuhrs „Barocker Bildlichkeit" als „Rhetorik" figuriert, ist eine ganz konkrete Stilhaltung, nicht etwa die Theorie oder Disziplin als solche. Die dort vorgeführte angebliche Rhetorikkritik ist immer Stilkritik, nicht Infragestellung der Disziplin. Die Selektivität moderner Rhetorikrezeption bedeutet auch, daß „Rhetorik"-Kritik in der Regel Kritik an jeweils charakteristischen Verengungen antiker Rhetorik in der gerade herrschenden Rhetorik-Rezeption bedeutet. Es gibt ja nicht nur Rhetorik als Paradigma, das mit anderen, z.B. philosophischen oder theologischen Paradigmen konkurriert, sondern auch Paradigmenkonkurrenz innerhalb der Rhetorik. Bereits bei Cicero findet sich eine umfangreiche Topik innerrhetorischer Rhetorikkritik. 45 Sie bildet eine nicht zu unterschätzende Motivation auch der Herderschen Kritik und stellt die Disziplin und ihre Grundsätze keineswegs in Frage. Eine weitere innerrhetorische Paradigmenkonkurrenz ist die rezeptionsgeschichtliche Spannung zwischen artes und auctores.46 Rhetorik ist immer zugleich Rezeption der klassischen antiken Rhetorik-Autoren und rezeptionsunabhängige, „sachorientierte" Disiziplin, die praktisch orientierte Handreichungen, die artes-Literatur, hervorbringt. Damit sind auch zwei gegensätzliche Perspektiven für „Niedergang" oder „Aufstieg" der Rhetorik gegeben: Die Aufwertung der Rezeption fuhrt meist zur Abwertung aktualisierender Applikation und umgekehrt. Für die Interpretation rhetorikkritischer Diskussionen ist die Kenntnis innerrhetorischer Paradigmenkonkurrenzen von grundlegender Bedeutung. Nur so wird sichtbar, daß vorgebliche Gegner „der" Schulrhetorik in der Regel Gegner einer konkreten Rhetorikschule sind. Auch bei Herder ist dies zu beachten.
Rhetorikgeschichtliche statt literaturgeschichtliche Problemperspektive „Rhetorik" wird in der Literaturgeschichte und oft genug auch in der Rhetorikforschung als „literarische Rhetorik" gesehen. Rhetorikgeschichte wird damit eingeengt auf eine Mentalitätsgeschichte des Stils. Sowohl der Begriff einer literarischen Rhetorik als auch die damit verbundene Sichtweise sind dem 18. Jahrhundert fremd. Sie spart einen wesentlichen Kontext aus, der Rhetorik als Disziplin auch im 18. Jahrhundert so funktionsmächtig gemacht hat. Rhetorik war eine im Bildungssystem fest verankerte Vermittlung aktiver Sprach- und Textkompetenz für den beruflichen Bedarf und das „gemeine Leben". Theorie und Praxis,
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,Barock' und seiner Stilrichtungen. In: Dies.: Einführung in die Wertung von Literatur. München, Wien 1996, 134fr. Die Standardopposition von „natürlich" und „rhetorisch" stammt selbst aus der klassischen Rhetoriktheorie; vgl. Freyr Roland Varwig: Der rhetorische Naturbegriff bei Quintilian. Heidelberg 1976; als literaturgeschichtlicher Topos für das Überlebte z.B. bei vgl. Hans-Georg Kemper: Gottesebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung, Bd. 2, Tübingen 1981, 216-218 u.ö., Gerhard Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. München '1979, Stichwortverzeichnis und Campe a.a.O. Vgl. dazu Stefan Bittner: Ciceros Konzeption des 'idealen Redners' und Kritik der 'Schulrhetorik'. In: Ders.: Ciceros Rhetorik - eine Bildungstheorie. Frechen 1999, 102ff. Diese Unterscheidung wurde von Kristeller für die Rhetorik des Renaissancehumanismus entwickelt; vgl. Paul Oskar Kristeller: Humanismus und Renaissance. Bd. 1. München o.J., 14f. u.ö.
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Aneignung und Kritik, „Weiterleben" und „Ende" von Rhetorik spielen sich im 18. Jahrhundert in unterschiedlichen Bereichen ab, von denen „Literatur" nur einer, vielleicht nicht einmal der wichtigste ist. Wenn man für die Theoriebildung die Diskurse von Pädagogik, Theologie, Philosophie und Literatur und fur die Praxis Kanzel, Katheder, Kanzlei und Konversation als Forum der Rhetorik ins Auge faßt, wird schnell klar, daß ein historisches Verständnis „literarischer" Rhetorik im 18. Jahrhundert nicht möglich ist, wenn man das außerliterarische Feld der eigentlich „rhetorischen" Rhetorik nicht berücksichtigt. In der vorliegenden Untersuchung hat deshalb die disziplinare Rhetorik, mit der Herder sich in Schule, Universität und auf der Kanzel auseinandersetzt, den Vorrang vor der strukturellen Aufnahme rhetorischen Wissens in seiner Literaturtheorie. Sie ist ein interdisziplinär angelegter Versuch, eine im Wesentlichen literaturgeschichtlich motivierte Frage in erster Linie rhetorikgeschichtlich zu beantworten.
1.3. Herders Auseinandersetzung mit RJietorik
Das prorhetorische Moment bei Herder Schon ein vorläufiger Blick auf Leben und Werk Herders zeigt, daß Herder trotz oder gerade wegen seiner Rhetorikkritik eine der geeignetsten Persönlichkeiten ist, um die Bedeutung der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert zu untersuchen. Schon Barner hat in seiner Herder-Darstellung genau unterschieden und darauf hingewiesen, daß dieser dem überlebten Bildungsbetrieb ein „prinzipiell neues rhetorisches Bildungsziel" entgegensetzt.47 Herder ist nicht nur eine herausgehobene Persönlichkeit, die mit ihrer Programmatik, Kritik und Theorie für einen „antirhetorischen" Paradigmenwechsel steht. Er hat sich in seinem Gesamtwerk vielfaltig und differenziert zur Rhetorik als Diszplin, literaturtheoretische Bezugsgröße und zu rhetorischen Einzelfragen geäußert. Die dezidiert positive Bewertung historischer und zeitgenössischer Rhetorik, die bei Herder in weitaus stärkerem Maße als die bekannte Rhetorikkritik zu finden ist, wird in der Regel in der Forschung nicht wahrgenommen. Z.B. ist er gerade Kant gegenüber zum Verteidiger antiker und moderner disziplinarer Rhetorik geworden, doch ist dies nur vereinzelt in der Philosophiegeschichte und in der Deutschdidaktik berücksichtigt worden, in der Literaturgeschichte wird Herders Einspruch bis heute ignoriert.48 Doch nicht nur vom Werk her ergeben sich zahlreiche aufschlußreiche Rhetorikbezüge. Herder hat auch beruflich mit den eigentlichen rhetorischen Theorie- und Praxisfeldern, nämlich Predigt, Homiletik und Schulrhetorik, zu tun gehabt. Seine eigene rhetorische Erziehung und seine Tätigkeit als Rhetoriklehrer im Bildungswesen seiner Zeit ist gut dokumentiert. Herders praktische Tätigkeit im Schulwesen und in der Predigerausbildung erlaubt einen Vergleich der Programmatik mit ihren institutionellen Konsequenzen, zu
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Barner, Barockrhetorik 320. Hervorhebung von mir. Vgl. Eberhard Ockel: Rhetorik im Deutschunterricht. Göppingen 1974, 24 und Niehues-Pröbsting, Rhetorische und idealistische Kategorien der Ästhetik, 102f.
seiner schriftstellerischen Tätigkeit kommt eine umfangreiche Redetätigkeit. Außerdem ist der zeitliche und räumliche Einzugsbereich seiner Rhetorik-Rezeption sehr weit, in seinen Schriften und Aufzeichnungen tauchen praktisch alle wichtigen rhetorischen Paradigmen des Jahrhunderts auf.
Esoterische Rhetorikaneignung - Exoterische Rhetorikkritik Eine erste Schwierigkeit ergibt sich dadurch, daß das von der Forschung auf Herder angewandte antirhetorische Deutungsmuster von Herder selbst stammt. Zu dessen neuer Interpretationsweise, wie sie schon in den „Fragmenten" greifbar ist und in den Sturm und Drang-Schriften noch zugespitzt wird, gehört sein hermeneutisches „Rhetorikverbot": Dichtung soll nicht mehr nach den eingefahrenen Kategorien herkömmlicher Rhetorik und Poetik bewertet werden. Die germanistische Forschung hat sich diesen Ansatz nicht nur im Umgang mit Dichtung zu eigen gemacht, sondern auch auf ihre Herderinterpretation im Ganzen übertragen: die Tatsache, daß Herder auf vielfaltige Weise Rhetorik thematisiert und adaptiert hat, ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Ein weiteres Problem bedeutet der Zuschnitt des etablierten Herderkanons. Das bis heute übliche germanistische Sturm und Drang-Korpus Herderscher Texte betont seine Rhetorikkritik und verstellt den Blick auf Herders affirmative Rezeption und Verteidigung von Rhetorik. Allgemein besteht noch immer die Neigung, den frühen und späten Herder zu vernachlässigen und ihn auf seine Sturm und Drang-Programmatik zu verkürzen.49 Die Spannung zwischen den bekannten rhetorikkritischen Äußerungen (etwa im Reisejournal, dem Ossian-Briefwechsel, dem Shakespeare-Aufsatz, den Volkslieder-Vorreden oder im „Denkmal Johann Winkelmanns") und den weitaus weniger bekannten affirmativen Texten (z.B. die brieflichen Nachfragen nach Rhetoriken, die Homiletik der Theologiebriefe, die apologetischen Stellen der Preisschrift über die schönen und höheren Wissenschaften und der Kalligone) wird so gar nicht erst sichtbar. Zwar fehlen in praktisch keinem der Hauptwerke rhetorische Bezüge, doch ausführlichere Einlassungen zu rhetorischen Fragen finden sich zumeist in weniger beachteten Einzelschriften wie z.B. die Abhandlung über Publikum und Vaterland oder Gattungen wie Preisschrift, Schulrede oder Predigt, die vom Forschungsinteresse her im Schatten der Hauptwerke stehen. Gerade die interessantesten und deutlichsten Ausführungen Herders zu rhetorischen Fragen finden sich in Schriften, die als Einzeltexte zwar Werkcharakter haben, von Herder aber nie veröffentlicht wurden (z.B. das für die Fragmente bestimmte Stück Die Homiletik erfodert eine ganz andre Beredsamkeit, die Skizze Der Redner Gottes oder der für das nie publizierte zweite Stück des Torso bestimmte Aufsatz Über die Prose des guten Verstandes). Dazu kommt eine Anzahl aufschlußreicher Materialien und Aufzeichnungen aus dem handschriftlichen Nachlaß, die zum größten Teil erst seit der Veröffentlichung des Nachlaßkataloges von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler für die Forschung genutzt werden können: Insgesamt spielt sich Herders Auseinandersetzung mit 49
Vgl. die Kritik bei Proß: „Ein Autor vom Gewicht eines Lessing, Rousseau oder Kant, der die Grundlagen fur die „klassische" Epoche wesentlich mitgeschaffen hat, wird - meist durch pure Unkenntnis seiner Schriften auf die nebulöse Rolle des Anregers einer kurzlebigen Bewegung, des Sturm und Drang, eingeschränkt" Wolfgang Proß: Zu diesem Band. In: Ders. (Hg.): Johann Gottfried Herder. Werke Bd. 1. München, Wien 1984, 932.
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der Rhetorik zu großen Teilen in seiner „Werkstatt" ab und ist damit bewußt den Blicken der zeitgenössischen Öffentlichkeit entzogen. Neben der programmatisch nach außen vertretenen exoterischen Rhetorikkritik steht scheinbar unvermittelt eine umfängliche esoterische Rhetorikaneignung, die entweder gar nicht oder nur im Rahmen lokaler Öffentlichkeit wie z.B. der Schulreden publik gemacht wird. Konsequenz dieser Problemlage ist die Öffnung des üblichen germanistischen Sturmund Drang-Korpus auf andere Wissenschafts- und Themenbereiche hin. Angestrebt wird ein rhetoriktheoretischer Querschnitt durch das Gesamtwerk. Nicht nur programmatische und kritische Texte zur Literaturtheorie, sondern auch Texte und Materialen zu Schule, Predigt, Philosophie usw. aus Herders täglicher Praxis als Aufklärer werden als Grundlage der Untersuchung berücksichtigt.
Thematisierung versus strukturelle Bedeutung von Rhetorik Die Diskussion der Rhetorik spielt sich bei Herder im wesentlichen außerhalb rhetoriktheoretischer Texte ab. Er ist als Rhetoriker im strengen Sinne nicht in Erscheinung getreten und seine rhetoriktheoretischen Texte sind nur bedingt in das gängige Spektrum rhetorischer Theoriebildung einzuordnen. 50 In interpretatorischer und editorischer Hinsicht ist der Redner Herder gegenüber dem Schriftsteller noch immer unterrepräsentiert, die Schulreden werden in der Literaturwissenschaft nur wenig beachtet, der allergrößte Teil der erhaltenen Predigten ist bis heute ungedruckt. 51 Herder ist thematisch und medial als rhetorische Persönlichkeit weitgehend unsichtbar geworden. Grundlegend fur die Untersuchung ist deshalb die Frage, innerhalb welcher Diskurse Rhetorik thematisch wird und welche inhaltliche Beziehung dort jeweils zur Rhetorik besteht. Es zeigt sich dabei, daß die vorherrschende literaturgeschichtliche Perspektive, die bei Herder Rhetorik und Literatur konfrontiert, zu eng ist, um Herders Auseinandersetzung mit Rhetorik wirklich erfassen zu können. Vergleicht man bei den Herdertexten, in denen Rhetorik thematisch wird, Qualität und Quantität der einschlägigen Äußerungen, erscheint die Rhetorikkritik der literarischen Programmtexte eher marginal. Von substantieller Bedeutung sind dagegen seine Äußerungen zur rhetorischen Schulbildung und zur homiletischen und philosophischen Einschätzung der Rhetorik als Disziplin. Die übliche literaturwissenschaftliche Perspektive unterschlägt außerdem neben dem theoretischen gerade das für die Rhetorik konstitutive praktische Interesse Herders. Herders Reflexion der Rhetorik spiegelt sein unmittelbar lebenspraktisches und berufsspezifisches Interesse genauso oder vielleicht noch mehr, als sein Interesse an grundsätzlichen Begründungszusammenhängen. Gerade Herders Beschäftigung mit der Rhetorik fuhrt von den kommunikativen Grundsatzfragen direkt zu deren lebensweltlicher Bedeutung, mithin zu Herders täglicher Arbeit als Aufklärer. Im Rahmen der Rhetorik reicht die Spanne deshalb 50
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Vgl. den Befund bei Dyck/Sandstede, wo - völlig zu Recht - nur die „Briefe, das Studium der Theologie" betreffend, wegen ihres homiletischen Teils, verbucht werden. Die übrige Diskussion um Rhetorik und „Rhetorisches" im Werk Herders ist aus dieser Perspektive unsichtbar. Vgl. Wilhelm-Ludwig Federlin: Anmerkungen Herders zu einem Predigtentwurf Johann Georg Müllers zu Johannes 6, Iff. Pilotstudie fur eine neue Herderpredigtenedition. In: Brigitte Poschmann (Hg.): Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988, 32Iff.
von banal wirkenden Problemen wie der richtigen schulischen Lesemethode oder der Aussprachebildung für angehende Prediger bis zum humanistischen Apriori der Sprache, in dem die Rhetorik als Sprachmodell eines der zentralen metakritischen Argumente gegen Kant darstellt. „Rhetorik" ist im Sinne dieser Spanne für Herders ureigenstes Unternehmen der Humantiätsbildung weder marginal noch zentral, sondern dessen Vehikel: die Frage nach der Rhetorik ist bei Herder immer auch die Frage danach, wie man Menschen zu Menschen bildet, ob sie nun Schüler, Theologiestudenten, Philosophen, Schriftstellerkollegen, gelehrte Dichter oder schlichtweg Männer und Frauen aus dem „gemeinen Leben" sind. Charakteristisch für Herder, aber auch für sein Umfeld sind die vielfachen disziplinaren Überschneidungen. Wenn man Klarheit über Herders Rhetorikverständnis gewinnen möchte, kann man den philosophischen Pädagogen, den pädagogischen Homiletiker, den humanistischen Philosophen und den avantgardistischen Programmatiker und Ästhetiker nicht auseinanderdividieren.
Rhetorische Theorie- und Praxisfelder bei Herder Herders berufliche Tätigkeit und die Themengruppen seines Werks ergeben fünf Theorieund Praxisfelder, die Herder Anlaß zur Thematisierung von Rhetorik bieten. Dies sind die von der Praxis her reflektierten Kontexte Pädagogik und Homiletik und die programmatisch und theoretisch unterschiedlich bedeutsamen Kontexte Philosophie und Literatur. Dazu kommt die politische Rhetorik, die in den ersten vier Theorie- und Praxisfeldern auf unterschiedliche Weise präsent ist und zusammen mit der Rhetorik einen übergreifenden Kontext bildet. In all diesen Zusammenhängen ist Herder tätig gewesen, hat die hergebrachten rhetorischen Handreichungen für die jeweiligen Bereiche kritisch reflektiert und theoretische und praktische Alternativen entwickelt. 52 Hier läßt sich der jeweils unterschiedliche mentalitäts- und institutionengeschichtliche Wandel konkret vergleichen, und vor allem bei Pädagogik und Homiletik die theoretische Gestalt der Lehrbücher mit den herrschenden Mustern und gängigen Übungsformen in Beziehung setzen. Wo Herder die „politische" Rhetorik thematisiert, setzt er sich mit der antiken Rhetorik sowohl als Modell von Öffentlichkeit als auch als Medium politischer Kommunikation auseinander. In den Kontexten Philosophie und Literatur thematisiert Herder die methodologische Bedeutung von Rhetorik im Zusammenhang mit der philosophischen Erkenntnistheorie und Ästhetik, verwertet Rhetorik produktiv in seiner Literaturkritik und -theorie und stellt programmatisch nachdrücklich ihre zeittypischen Verengungen in Frage - keineswegs jedoch „die" Rhetorik.
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Zum gesamten theoretischen und praktischen Spektrum von „Rhetorik" im 18. Jahrhundert vgl. Joachim Dyck in Dyck/Sandstede Bd. 1, IXff.; Herder hat sich in praktisch allen diesen Bereichen betätigt; eine der wenigen Lücken bilden Vorlesungen und Universitätsreden, da Herder nie ein universitäres Lehramt innehatte; die ebenfalls bei Herder nachweisbaren Logenreden (vgl. SBBPK. NL Herder, XXVIII 2, 97r, 104\ 107v, 108' (knappe Dispositionen,· die durch Thematik und Symbole deutlich als Entwürfe zu Logenreden erkennbar sind; eine Rede wurde anläßlich Herders Ernennung zum „Bruder Redner" der Loge gehalten) und die Rede Über die Heiligkeit und Bedeutung der Ehe von 1801 (SWS 31, 657ff.)), werden hier wegen der schlechten Dokumentationslage nicht näher behandelt.
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Die folgenden Kapitel folgen den hier skizzierten Theorie- und Praxisfeldern. Dabei hat der jeweils darzustellende Diskussionszusammenhang und die Chronologie den Vorrang vor dem Zusammenhang der Einzeltexte. Die verschiedenen thematischen Facetten des gleichen Textes werden deshalb des öfteren in verschiedenen Kapiteln behandelt. Da Herder sich in der Regel nur passagenweise zum Thema Rhetorik äußert, wäre eine exemplarische Analyse von Einzeltexten keine Alternative gewesen. Die thematische und begriffliche Breite der Herderschen Rhetorik-Rezeption ließe sich so nicht angemessen darstellen, eine Behandlung der sachlogischen Zusammenhänge wäre unnötig erschwert worden. So wird außerdem deutlich, daß Herder in fast jedem Text mehrere Diskursebenen gleichzeitig bearbeitet und eine starre Zuordnung zu einem einzigen Themenbereich weder möglich noch sinnvoll wäre. Trotzdem werden Struktur und Gehalt der jeweiligen Gesamttexte so weit wie möglich berücksichtigt. Im letzten Kapitel wird Herders Rhetorikkonzept zusammenfassend dargestellt, in Beziehung zu seiner Schreib- und Redepraxis gesetzt und abschließend Stellung und Bedeutung Herders im geschichtlichen Wandlungsprozeß von Rhetorik im 18. Jahrhundert umrissen.
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2. Rhetorische Pädagogik „Elende Oratorie" oder „Ausbildung der Rede"?
Rhetorik ist im 18. Jahrhundert immer auch die in der Literaturwissenschaft so abfallig behandelte „Schulrhetorik". Die „Schulmänner" sind die eigentlichen Experten fur die kanonische rhetorische Fachliteratur und in der Regel deren Produzenten. Wer als Rezensent, „Kunstrichter" oder als Philologe, d.h. als eigentlicher Fachwissenschaftler Rhetorik thematisiert, hat eine der üblichen Formen rhetorischer Unterweisung an Schule und Universität durchlaufen und reflektiert diese - implizit oder explizit - mit, auch wenn es um „schönwissenschaftliche" Fragen und keinen eigentlich pädagogischen Kontext geht. Es ist symptomatisch, daß Herder sich in seiner Rolle als sprachphilosophischer Literaturtheoretiker regelmäßig dafür entschuldigt, von rhetorischen Fragen wie z.B. der compositio als „Schulmaterie"1 zu handeln, denn der pädagogische Kontext ist bei der Behandlung sprachästhetischer Fragen immer präsent. Der Lateinbetrieb des hallischen Pietismus, die moderne Realienpädagogik des Philanthropismus und der Neuhumanismus Johann Matthias Gesners und Johann August Ernestis sind die pädagogischen Paradigmen, mit denen Herder sich kritisch und produktiv auseinandersetzt. Sie alle haben jeweils spezifische Ausprägungen rhetorischer Theorie und Unterweisung hervorgebracht. Im Spannungsverhältnis von „Alt"- und „Neu"-Humanismus einerseits und zwischen Humanismus und Realismus andererseits werden als Grundfragen der Stellenwert der Antikerezeption im Gegensatz zu den modernen „Realien" und der emphatische Übergang von einer Nützlichkeits- zu einer Bildungspädagogik verhandelt. Sie bestimmen auch Theorie und Praxis des Rhetorikunterrichts und dessen Wandlungen im 18. Jahrhundert. Hier läßt sich die Einleitungsfrage nach Herders eigener rhetorischer Bildung stellen und von dort aus ein entscheidender Teil Herderscher Rhetorikrezeption darstellen. Zweitens läßt sich anhand der Thematisierung und Kritik von Rhetorik und ihrer praktischen Umsetzung in Herders eigener Schulreform die Diskrepanz zwischen mentalitätsgeschichtlichem Wandel und institutionellem Beharrungsvermögen zeigen. Es wird allerdings auch deutlich, daß dieser mentalitätsgeschichtliche Neueinsatz nicht zu einer Verabschiedung, sondern zur pädagogischen Neuorientierung von Rhetorik fuhrt. Diese Neuorientierung bezieht ihre Inspiration wesentlich aus der Rhetorikauffassung bei Gesner und Ernesti. Dies zeigt sich in der Thematisierung der Differenz zwischen deutscher Muttersprache und gelehrtem Latein und implizit in der selbstverständlichen Bedeutung, die lateinischsprachige Rhetoriken und Programmschriften als einschlägige Spezialliteratur für Herders Rhetorikauffassung besitzen. Dies ist insofern bemerkenswert, als in der historischen Rhetorikforschung zum 18. Jahrhundert fast ausschließlich deutschsprachige Rhetoriken berücksichtigt werden, diese aber keineswegs immer die Paradigmen der Diskussion darstellen. Wer im 18. Jahrhundert an Rhetorik denkt, denkt in der Regel an lateinische 1
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Rhetorik. Die Transformation der Rhetorik, die im pädagogischen Kontext greifbar wird und von Herder mit vorangetrieben wird, läßt sich mit dem von Lohmann geprägten Stichwort einer Pädagogisierung der Rhetorik bezeichnen, stellt rezeptionsgeschichtlich und praktisch allerdings auch eine Rhetorisierung der Pädagogik dar.2 Spezifikum der pädagogischen Äußerungen Herders ist sein Verfahren, nie im abstrakten Sinne zu theoretisieren, 3 sondern aufgrund der eigenen praktischen Erfahrungen als Lehrer und Schulorganisator pädagogische Themen von der konkret gegebenen Problematik her, stets aber mit dem Blick auf das Grundsätzliche zu reflektieren. Herder hat schon als Schüler seinen Vater als Mädchenschulhalter vertreten und Katechisationen abgehalten, sich sein Studium in Königsberg unter anderem als Inspizient und Informator am Friedrichskolleg verdient. Sein erstes Amt war die Stelle des Collaborators an der Domschule in Riga, wo ihm seine ersten Veröffentlichungen einen Ruf auf das Rektorat der Petrischule in Petersburg einbrachten. Zu seinen kirchlichen Ämtern in Bückeburg und Weimar gehörte auch die Aufsicht über das gesamte Schulwesen des Landes. Besonders intensiv war er mit dem herzoglichen Landesgymnasium in Weimar als Ephorus verbunden. Während er in seinen frühen Schulämtern lediglich den im Lehrplan vorgeschriebenen Sprachunterricht durchführen konnte, bot die Schulaufsicht reale Umsetzungsmöglichkeiten für seine eigene Rhetorikauffassung. Hier zeigen sich die Grenzen seiner Rhetorikritik. Wenn Herder tatsächlich eine Abschaffung des Rhetorikunterrichts beabsichtigt hätte, hier wäre die Gelegenheit gewesen. Ein weiteres Spezifikum seiner pädagogischen Texte ist die Behandlung rhetorischer Sachfragen in den Schulreden. Rhetorik wird hier im Rahmen schulischer Redeöffentlichkeit thematisiert. Hier läßt sich in einem ersten Schritt die Frage nach der Bedeutung des „Rhetorischen" bei Herder stellen.
2. 1. Schul- und Universitätsrhetorik in Herders Bildungsweg
Rhetorische Pädagogik des hallischen Pietismus In Herders Schulzeit war Ostpreußen als Bildungslandschaft wesentlich von der Pädagogik des hallischen Pietismus geprägt. 4 Das Königsberger Collegium Fridericianum, das in der preußischen Schulordnung von 1735 ausdrücklich als Vorbild aller Schulen des Landes hervorgehoben wird, war gewissermaßen eine hallische Tochtergründung, die in Lehrplan und Organisation bis in Einzelheiten dem Vorbild des Königlichen Pädagogiums in Halle
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Vgl. Ingrid Lohmann: Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. Zur pädagogischen Transformation der Rhetorik zwischen 1750 und 1850. Münster, New York 1993, Iff. Vgl. den entsprechenden Hinweis bei Harro Müller-Michaels: Literatur und Abitur. Über die Zusammenhänge zwischen Literaturtheorie und Bildungspraxis in Herders Schulreden. In: Kurt Mueller-Vollmer (Hg.): Herder today. Berlin, New York 1990, 230. Zur theologie- und geistesgeschichtlichen Einordnung des hallischen Pietismus vgl. Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: Ders. (Hg.): Geschichte des Pietismus Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993, 440-539.
verpflichtet war und deren Direktoren und Inspektoren enge Beziehungen zu Halle unterhielten.5 Da in der Literaturwissenschaft noch immer das Bild von der Rhetorikfeindlichkeit „der" Pietisten vorherrscht,6 ist hier festzuhalten, daß Herders eigene rhetorikkritische Einstellung nicht durch ein rhetorikfeindliches Klima seines pietistischen Umfeldes bedingt war. Das Gegenteil ist der Fall. Seine Kritik der „Schuloratorie" entzündet sich am ausgedehnten Rhetorikbetrieb der hallischen Pädagogik. Die Rhetorik gehörte dort zu den grundlegenden Bildungszielen. Die Stellung der Rhetorik im pädagogischen Betrieb des Pädagogiums läßt sich den Programmschriften entnehmen, in denen Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts dargestellt werden. August Hermann Francke formulierte 1702 in seiner „Ordnung und Lehrart, wie selbige in dem Pädagogio zu Glaucha an Halle eingefuhret ist" als wesentliche Ziele der dortigen Erziehungsarbeit, daß „1. in der wahren Gottseligkeit, 2. in nötigen Wissenschaften, 3. zu einer geschickten Beredsamkeit, und zum 4. in äußerlichen wohlanständigen Sitten" ein guter Grund gelegt werden sollte.7 Rhetorik ist damit integraler Bestandteil des Bildungskonzeptes, wie es im hallischen Pietismus propagiert wurde.8 Dies zeigt sich auch in der Gestaltung des Unterrichts, der in der „Ordnung" bis in die Einzelheiten geregelt ist, und in den verwendeten Lehrbüchern. Bei den lateinischen Lektionen wird neben der Autorenlektüre (u.a. Cicerobriefe und -reden) und den gängigen Sprachübungen auch ein wöchentliches „Exercitium oratorium und epistolicum" verlangt. Die jeweiligen Reden wurden nicht nur schriftlich ausgearbeitet,
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Einzelheiten zur pietistischen Prägung des schulischen und universitären Betriebs in Königsberg und Ostpreußen bei Hans Langel: Die Entwicklung des Schulwesens in Preussen unter Franz Albrecht Schultz ( 1 7 3 3 1763). Halle/Saale 1909; ND Hildesheim u.a. 1985, Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten von Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, Bd. 1 , 3 . erweiterte Auflage Leipzig 1919; ND Berlin 1960, 567 und 579, Hartwig Notbohm: Das evangelische Kirchen- und Schulwesen in Ostpreussen während der Regierung Friedrich des Grossen. Heidelberg 1959 und Heiner F. Klemme: Die Schule Immanuel Kants. Mit dem Text von Christian Schiffert über das Königsberger Collegium Fridericianum. Hamburg 1994, 9 und 26.
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Vgl. u.a. Hans Sperber: Der Einfluß des Pietismus auf die Sprache des 18. Jahrhunderts. In: DVjs 8 (1930) 500ff., Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der 'Künste'. Diss. Köln 1958 und Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stuttgart 1966, 440ff. Windfuhr fußt im Wesentlichen auf Sperber und Schmitt, der aufgrund eines eng begrenzten Quellencorpus und im Anschluß an die ältere Literatur zu dem Ergebnis kommt: „Die allumfassende Sprachkunst aber, die Rhetorik mit allen ihren Untergattungen von der Homiletik bis zur Kunst, Briefe zu schreiben oder galant zu konvertieren, wurde vom Pietismus abgelehnt" (32). Doch genau diese „allumfassende Sprachkunst" wurde im hallischen Pädagogium gelehrt; vgl. die Kritik bei Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik. Zu Hieronymus Freyers Oratoria. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 9 (1984), 26 und Reinhard Breymayer: Art. „Pietismus". In: HWRh Bd. 6 (2003) 1195. Befremdlich ist allerdings das unverhohlene Staunen, mit dem Martens die Verankerung der Rhetorik in der hallischen Pädagogik vermerkt, auf die im Anschluß an Paulsen schon Barner (Barockrhetorik. Tübingen 1970, 72f.) verwiesen hat; Reinhard Breymayer hat gezeigt, daß pietistische Rhetorik in traditionellen rhetorischen Kategorien beschreibbar ist und zahlreiche Pietisten Rhetoriklehrbücher verfaßt haben; vgl. dazu: Pietistische Rhetorik als eloquentia nov-antiqua. Mit besonderer Berücksichtigung Gottfried Polykarp Müllers (1684-1747). In: Bernd Jaspert/Rudolf Mohr (Hg.): Traditio - Krisis - Renovatio aus theologischer Sicht. FS Winfried Zeller zum 65. Geburtstag. Marburg 1976, 258-272 und Ders.:, Art. Pietismus, 1199ff.
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August Hermann Francke: Pädagogische Schriften. Hg. von G. Kramer. Langensalza 1885, 221. Zur Rhetorik in der Pädagogik des halleschen Pietismus vgl. Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts, Bd. 1, 567ff., Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik, Breymayer: Art. Pietismus, 1199f.
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sondern auch vor der Schülerschaft vorgetragen.9 Als Anweisung wurde zunächst „des Herrn M. Crasselii Tabelle"10 verwendet, später verfaßte der Inspektor des Pädagogiums Hieronymus Freyer ein eigenes Lehrbuch." Der „deutschen Oratoria" ist ein eigener Abschnitt gewidmet und ihr Stellenwert deutlich betont: „Weil so viel daran gelegen, daß man einen feinen deutschen Stylum lerne schreiben, so werden auch einige in demselben durch Anleitung zur deutschen Oratorie geübet." Die ganze Vielfalt damals gängiger Übungsformen wird praktiziert: Den Gebrauch aber zeiget man ihnen, wenn sie in einem Periodo das Subjectum und Praedicatum zierlich erweitern sollen; wenn sie in Chrien, Briefen, Orationen Argumenta probanda und amplificantia (die beweisenden und erweiternden Gründe) vonnöten haben; wenn man ihnen einen Casum vorgiebet und sie dabei selbst ein Thema Epistolae oder Orationis erfinden lasset. 12
Auch in der „Specification der Lectionum", die den gesamten Lehrplan beschließt, taucht Rhetorik als Lehrgegenstand an prominenter Stelle auf. An erster Stelle steht eine „Gründliche Anweisung zum wahren Christentum", an zweiter Stelle folgt „Die Lateinische Sprache, dabei 3. Rhetorica und Logica", an sechster Stelle folgt „Die deutsche Oratoria." 1721 haben Francke und Freyer den Lehrplan des Pädagogiums in überarbeiteter Form neu herausgegeben. Dort haben sich zwar Einzelheiten geändert und es wird von vornherein Freyers Rhetoriklehrbuch zugrundegelegt, doch an der festen Verankerung der Rhetorik im Erziehungsplan dieser Anstalt hat sich nichts geändert. Der Kontrast zwischen der Rhetorikkritik „der" Pietisten und der deutlichen Integration von Rhetorik in die Bildungspraxis des hallischen Pietismus verdeutlicht einen grundlegenden Aspekt zur Bewertung der zeitgenössischen Rhetorikdiskussion, der auch für Herders spätere Kritik der „Schuloratorie" und seine Lehrplanreform in Weimar von Bedeutung ist. Die kritische Diskussion von Rhetorik ist nur die eine Seite. Entscheidende Frage ist, worauf diese Kritik konkret zielt und welche praktische Konsequenzen daraus tatsächlich gezogen werden. Kritik an bestimmten (Stil-)Formen von „Rhetorik" ist in aller Regel keine Kritik der Rhetorik an sich und zielt zunächst einmal auf die Anpassung rhetorischer Unterrichtsformen an neue moralische, theologische oder geschmackliche Prämissen, nicht aber auf eine Beseitigung „der" Rhetorik. Wichtig ist auch die Tatsache, daß es bei der Rhetorikkritik der Pietisten im Wesentlichen um die Kritik eines bestimmten gelehrten Predigtstils geht, nicht um Rhetorik als Schulfach.13 An der Ausbildung frommer Theologen hatte man bei den Pietisten natürlich ein starkes Interesse, der Bildungsbedarf künftiger Prediger erforderte selbstverständlich auch rhetorische Unterweisung.
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Francke, Pädagogische Schriften, 262f. Ebd. 263. Hieronymus Freyer: Oratoria in tabvlas compendiarias redacta [...] Halle 1711 u.ö., dieses verbreitete Lehrbuch wurde mehrere Male, unter anderem durch eine deutschsprachige Rhetorik, erweitert und hat insgesamt neun Auflagen erlebt. Francke, Pädagogische Schriften, 271. Vgl. dazu Kap. 3.
Die Mohrunger Stadtschule Der Unterricht an Herders Lateinschule zeigt, daß die hallische Pädagogik sich in Ostpreußen in entsprechend vereinfachter Form14 auch auf den Betrieb der kleineren Lateinschulen auswirkte. Aufgrund der Quellenlage ist zwar keine detaillierte Darstellung, aber wenigstens ein Umriß der dortigen Praxis möglich. Die Mohrunger Stadtschule war, wie wohl die meisten der kleineren Lateinschulen Ostpreußens15, zu Herders Schulzeit mit zwei Lehrern besetzt, dem Rektor Christian Grimm und dem Kantor Christian Obler.16 Über Qualifikation und Persönlichkeit Oblers ist kaum etwas bekannt, da er in den Berichten zu Herders Jugendzeit nicht erwähnt wird. Eine Konduitenliste von 1756 bescheinigt ihm: „führet einen guten Wandel, ist hypochondrisch, thut aber das Seinige nach Vermögen".17 Er wird nach dem herrschenden Brauch in den unteren Klassen Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und die Anfangsgründe des Lateinischen unterrichtet haben. Von Rektor Grimm wird lediglich berichtet: „Lebet eingezogen, Ist ein fleissiger und geschickter aber auch strenger Schulmann".18 Dessen eigentlich pädagogische Qualifikation hat der Mohrunger Diakonus Trescho nicht sonderlich hoch eingeschätzt: Latein und etwas Griechisch, Geschichte und Erdbeschreibung, der Jugend freilich mehr dem Gedächntiß nach, als nach einer Methode, die Verstand und Urtheil zugleich beschäftigte, beizubringen, das war ihm durch langjährige Uebung gegeben. Lateinsprechen lehren konnte Grimm seine Schüler; die Autoren, die er durchging, waren aber nur die gemeinen, in kleineren Schulen gewöhnlichen. Kein Livius, kein Tacitus, kein römischer Philosoph, wie Seneka, waren ihm bekannt, wenigstens ließ es sein im hellen Denken beschränkter Geist nicht zu, Herdem und andre gute Köpfe damit bekannt zu machen. (LB 1,1; 37f.)
Genauere Angaben zu Lehrbüchern und Lehrinhalten und eine etwas günstigere Einschätzung des Lehrangebots enthält eine späte Äußerung Herders, die Karl August Böttiger überliefert hat: Auf der Schule war das neue Testament, und höchstens einige Gesänge des Homers gewaltig durchanalysiert worden. Baumeisters Compendium der Wolfischen Logik und ein handvestes Compendium der Theologie waren wacker getrieben worden. Daher auch Herder versicherte: alle seine Theologie und seine Syllogismenfer-
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An einer gewöhnlichen Schule, die im günstigsten Falle mit vier bis sechs, häufig auch nur mit zwei Lehrern besetzt war, konnte weder die Breite des Fächerangebotes noch das Fachklassensystem im vollen Umfang übernommen werden. Vgl. die Angaben bei Langel, Entwicklung des Schulwesens in Preußen, 53. Die Stellenzahl ergibt sich aus den Konduitenlisten (GStAPK HA I., Rep. 7 70 1756-1763 fol. 212v, fol. 463" ' (dort die folgenden Zitate) u.ö., die Daten zur Person nach den dortigen Angaben) und einem Antrag von 1785, eine dritte Lehrerstelle einzurichten (GStAPK HA. XX, EM 96 e 2 Nr. 27). GStAPK HA I., Rep. 7 70 1756-1763 fol. 4 6 3 " ; geb. 12. März 1722 in Preußisch-Holland, wurde im SS 1741 an der Königsberger Universität als Iurist inskribiert (vgl. Georg Erler: Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i.Pr. Bd. 2, Leipzig 1911/12, 390). Nach GStAPK HA I., Rep. 7 70 1756-1763 fol. 4 6 3 " geb. 20. Jan. 1697 in Löwenhagen; inskribiert in Königsberg als Jurist im WS 1714/15 (Erler, Die Matrikel der Albertus-Universität. Bd. 2, 285). Grimm war bis 1736 Informator am Königsberger Waisenhaus, danach Konrektor und Rektor der Provinzialschule in Saalfeld, aus unbekannten Gründen gab er 1751 diese Stelle auf; (vgl. GStAPK HA XX, EM 117, 2 e 2 Nr. 97), und ist spätestens 1755 als Rektor in Mohrungen nachweisbar.
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tigkeit schreibe sich bloß noch von jener Schule her. Die Alterthümer lernte er nach Moldenhauers aus Schutz gezogenem Compendium. 1 9
Die hier genannten Lehrbücher und die 'Alterthümer' als selbständiger Lehrgegenstand verweisen deutlich auf den Lehrplan des Königsberger Collegium Fridericianum.20 Ein von Herder aufgezeichnetes Diktat zeigt, daß auch die Rhetorik an der Mohrunger Stadtschule nach diesem Vorbild unterrichtet wurde.21 Es bietet in Form kurzer Definitionen zur „Oratorie" und einer deutschsprachigen Periodologie die damals üblichen Anfangsgründe der Redekunst. Sachliche Grundlage des Diktats ist Hieronymus Freyers Oratoria, das Rhetoriklehrbuch am hallischen Pädagogium und am Collegium Fridericianum.22 Freyers Lehrbuch wurde eigens für den Bedarf des Königlichen Pädagogiums in Halle geschrieben und verwirklicht exakt die Vorgaben, die Francke im ersten Lehrplan des Pädagogiums von 1702 macht. Den Beginn bildet nicht etwa eine Definition der Rhetorik und ihrer Aufgaben (eine kurze schematische Definition ist im conspectvs oratoriae generalis eingefugt), sondern die Periodenlehre, die den ersten Einstieg in die Rhetorik bieten soll. Der gesamte Lehrstoff ist eingeteilt in rhetorische Propädeutik (Periodenlehre), rhetorische Dogmatik (mit den vier klassischen Teilen inventio, dispositio, elocutio und actio) und praktische Rhetorik (mit den Sparten Schulrhetorik, politische Rhetorik, kirchliche Rhetorik und dem usus eloquentiae communis). Da es erklärte Absicht der hallischen Rhetorik-Pädagogik ist, eher durch Nachahmung und Beispiele zu bilden als durch praecepta, sind späteren Auflagen auf mehr als hundert Seiten Beispiele und Dispositionen für eigene Ausarbeitungen beigefugt, auch ein kurzer Teil zur deutschen Rhetorik wurde später angefügt. Die Chrienlehre mit dem dazu nötigen logischen Rüstzeug wird im Abschnitt zur dispositio abgehandelt, die Einteilungsschemata der antiken Rhetorik werden erst am Schluß des Abschnittes erwähnt. Der ganze Aufbau ist durch das Übergewicht von Periodenlehre und Chrienmethodik geprägt, die beide logisch bzw. logischgrammatisch stukturiert sind. Dies entspricht der programmatischen Koppelung von Rhetorik und Logik, wie sie in Franckes „Lehrart" von 1702 bereits ausgesprochen ist. Die 19
Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Hg. von Klaus Gerlach und Rene Sternke. Berlin, Weimar 1997, 124. Bei Friedrich Christian Baumeisters Kompendium handelt es sich um dessen Institutiones philosophiae rationalis methodo Wolfii conscriptae. Wittenberg 1735. Als Theologiekompendium käme Daniel Salthenius: Introductio in omnes libros sacros tam veteris quam novi Testamenti, ad usum studiosae iuventutis. Königsberg: Härtung 1736. (2. von Moldenhauer überarbeitete Auflage 1744) in Frage, es wurde am Collegium Fridericianum als Theologielehrbuch benutzt. Bei dem Lehrbuch der 'Antiquitäten' handelt es sich um: Einleitung in die Alterthümer der Egyptier, Jüden, Griechen u. Römer, entworfen von Joh. Heinrich Daniel Moldenhawer. Königsberg und Leipzig 1754; „Schutz" ist Verschreibung Böttigers, der Autorname lautet richtig Schatz.
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Vgl. unten 2.2.: Herders Lehrtätigkeit am Collegium Fridericianum. SBBPK NL Herder XXVI 5, d - f , i; zu Datierung und Umfang der Niederschrift vgl. die Angaben im Anhang, wo auch der vollständige Text wiedergegeben ist. Vgl. Hieronymus Freyer: Oratoria in tabvlas compendiarias redacta et ad vsvm iwentvtis scholasticae accomodata. 6. Auflage Halle 1736, dieser Auflage liegen die folgenden Angaben zugrunde; zu Inhalt und Bedeutung vgl. Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik; weitere Beispiele deutsch-lateinischer Periodologie bieten Johann Hübner: Kurtze Fragen aus der Oratoria, Zu Erleichterung der Information abgefasset, Und mit einem Anhange von dem Gebrauche dieser Fragen vermehret. 5. Aufl. Leipzig 1709. und Friedrich Christian Baumeister: Anfangsgründe der Redekunst in kurtzen Sätzen abgefaßt. Leipzig und Görlitz 1754. Auch diese Lehrbücher sind in der Pädagogik des Pietismus rezipiert worden, auf Hübner wird in Freyers Oratoria explizit verwiesen.
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praktischen Beispiele sind überwiegend Briefe, die nach der Chrienmethodik disponiert sind, Reden im klassischen Sinne kommen nur am Rande vor. Hier ist die Tendenz der hallischen Pädagogik zu spüren, aus theologisch-moralischen Gründen den Kontakt zur Antike nur in vermittelter Form zu gestatten. Das Mohrunger Diktat ist deutlich an die Freyersche Oratoria und das dortige pädagogische Rhetorikkonzept angelehnt. Die einleitenden Definitionen betonen die Wirkungsabsicht und die klassischen virtutes der Rede: „Die Oratorie ist eine Wissenschaft, welche Unterricht gibt, von einer jeden anständigen Sache seine Gedanken, gründlich, deutlich ordentlich, und mit solcher Klugheit vorzutragen, daß der vorgesetzte Zweck dadurch erhalten werde"23 , „Der Zweck der Oratorie ist die Ueberzeugung, nach welcher man den Leser oder Zuhörer dahin zu bringen sich bemüht, daß er das thue, oder lasse, was wir begehren."24 Die Topik des gemeinen Nutzens und die berufliche Funktionalisierbarkeit tauchen auch im Diktat selbstverständlich auf: „Ihr „Nutzen ist allgemein, indem ein jeder Stand sich daher besondere Vortheile versprechen kan. Doch thut sie einem Theologo und Juristen die grösten Dienste."25 Nach den drei einleitenden Definitionen schließt sich der Hauptteil „Von den Periodis" an. Wichtig - und charakteristisch für den Ansatz der Freyerschen Oratorie - ist die Konzentration auf die Periodologie als Grundlage der gesamten Rhetorik. Sie wird unmißverständlich als Fundament des Ganzen bezeichnet: „Alles, was in einem Briefe, einer Chrie und vollständigen Rede vorkommt, beziehet sich auf einen Periodum, welcher zu jenem so nöthig ist, als zu einer Kette viele Glieder."26 Im Gegensatz zur Periodenlehre der klassischen compositio ist diese Periodologie streng logisch-grammatisch strukturiert: „Der Grund eines Periodi ist ein /ogzscher Satz, oder ein kurzer Ausspruch, der aus einem Subiecto und Praedicato bestehet."27 bzw. „Ein Periodus ist ein Theil der Rede, darinnen ein Satz, oder mehrere Sätze geschickt erweitert werden, bis sie einen vollkommenen Verstand erlangen, und am Ende ein [sie] Punct haben können".28 Charakteristisch für das Diktat wie für das Freyersche Lehrbuch ist auch die Parallelität von deutscher und lateinischer Rhetorik: die Hauptbegriffe und die Partikel, mit deren Hilfe Perioden gebildet werden sollen, werden auf deutsch und lateinisch angegeben, die zugrundeliegende syntaktische Struktur wird als identisch vorausgesetzt. Herder hat damit als Schüler eine für die Franckesche Generation „moderne", an Logik und Grammatik orientierte Rhetorik kennengelernt. Systematik und Gehalt der antiken Rhetorik gibt sie allerdings nur am Rande wieder. Der deutschsprachige Rhetorikunterricht hat gegenüber dem Lateinunterricht keine eigene Identität, er ist nach wie vor Nebenprodukt des Lateinbetriebs. An diesem Mißverhältnis wird später Herders Kritik der „Schuloratorie" anknüpfen.
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SBBPK NL Herder XXVI 5, d, § 1. Ebd. §2. Ebd. §3. Ebd. d, § 1. Ebd. e, §3. Ebd. d § 2 .
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Rhetorik an der Königsberger Universität Rhetorik war in Herders Königsberger Studienzeit in vielfaltiger Weise im Vorlesungsangebot der Universität präsent. Im theologischen Fachstudium wurde sie direkt in den Homiletik· Vorlesungen Daniel Friedrich Arnoidts29 vermittelt, daneben auch indirekt als methodologische Bezugsgröße in den Hermeneutik-Vorlesungen Theodor Christoph Lilienthals. Im philosophischen Grundstudium, das zum Theologiestudium gehörte, hat Herder in Kants Logik- und Metaphysik-Vorlesungen Rhetorik als disziplinär-methodisches Problem kennengelernt.30 Aufzeichnungen Herders zeigen, daß auch die Poetik-Vorlesungen traditionelle rhetorisierte Poetik vermittelten.31 Hier soll es zunächst um die Rhetorikveranstaltungen im engeren Sinne gehen, wie sie im Rahmen des traditionellen Fächerangebots innerhalb der philosophischen Fakultät vom Inhaber des Rhetorik-Lehrstuhls angeboten wurden. Ordinarius war Jakob Friedrich Werner,32 Extraordinarius Johann Bernhard Hahn.33 Der Extraordinarius der Eloquenz mußte antizyklisch zum Ordinarius lesen, um Doppelungen im Lehrangebot zu vermeiden. Wenn beispielsweise der eine über Stil las, mußte der andere über Geschichte lesen.34 Art und Umfang der Lehrveranstaltungen waren durch die Statuten der Universität genau reglementiert: Der Prof. der Beredsamkeit und Geschichte aber hat im Winter den Stilum, und zwar also zu lehren, daß er in zwey Stunden einen Auctorem exponiren laße, in der dritten die Anfangsgründe der Redekunst vortrage, und in der vierten die von den Zuhörern verfertigte Sachen, theils in lateinischer theils in deutscher Sprache öffentlich durchgehe. Des Sommers aber hat er die Universalhistorie, und zwar einmal die Geschichte vor, und einmal die Historie nach Christi Geburt vorzutragen. 35
Der nach den Statuten vorgesehene Rhetorikunterricht bietet damit genau den tradierten Dreischritt von praecepta bzw. doctrina - exempla und exercitatiolimitatio, der für die schulische und universitäre Unterrichtspraxis noch im 18. Jahrhundert selbstverständlich war. Rhetorikunterricht war niemals reiner Theorieunterricht, sondern vollzog sich immer im Zusammenhang mit kanonischen Mustertexten und praktischen Übungen.36 Die gedruckten Vorlesungsankündigungen und die Listen, mit denen der Lehrkörper dem Etatsministerium gegenüber belegen mußte, daß die angekündigten Veranstaltungen tatsächlich
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Vgl. dazu die Darstellung in Kap. 3. Vgl. dazu Kap. 4.5. Vgl. dazu Kap. 5.2. Geb. 1732 in Königsberg, Studium seit 1744 in Königsberg; seit 1755 Professor der Beredsamkeit und Geschichte, ab 1756 Direktor der freien Gesellschaft, Bibliothekar der Wallenrodtschen Bibliothek; Reden von ihm sind abgedruckt in den Schriften der freien Gesellschaft, (vgl. ApB, Bd. 2, 791) Geb. Königsberg 1725, Studium in Königsberg, Magister der Philosophie 1744 in Königsberg, 1749 außerordentlicher Professor der Beredsamkeit und Geschichte, Subinspektor der königlichen Alumnen und des königlichen Konviktoriums.; veröffentlichte eine Anzahl lateinischer Universitätsprogramme, vgl. Johann Georg Meusel: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Leipzig 1802ff.; Hildesheim 1967, Bd. 5 , 6 4 . Daniel Heinrich Amoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergschen Universität. 2. Teil. Königsberg 1746; N D Aalen 1994, Bd. B, 348. Ebd. 347. Zur grundlegenden Bedeutung der Kopplung von Theorie, Mustern und Übungen vgl. Bamer, Barockrhetorik, 59 u. 243, der auch kritisiert, daß Rhetorikgeschichte meistens auf die Analyse der Lehrbücher reduziert wird. Dies ist fur das 18. Jahrhundert noch immer die Regel.
durchgeführt wurden, ergeben für Herders Studienzeit37 folgende Rhetorikvorlesungen: Im Wintersemester 1762/63 las Werner über drei Kapitel aus den Fundamenta stili cultioris des „berühmten" Heineccius, erklärte Plinius' Panegyricus und verbesserte studentische Ausarbeitungen.38 Im Sommersemester 1763 las Werner den Statuten gemäß Geschichte, Johann Bernhard Hahn bot private Vorlesungen über „stili Latini ac Teutonici elementa" und Disputationsübungen an.39 Im Wintersemester 1763/64 las Werner über Pliniusbriefe, behandelte „artis Oratoriae praecepta" und bot wieder die Verbesserung studentischer Ausarbeitungen an. Hahn bot Privatvorlesungen u.a. zu den praecepta an, die zur Eleganz des Stils vonnöten wären.40 Werners Wahl des Lehrbuchs dokumentiert den obligatorischen Königsberger Blick nach Halle. Der für seinen lateinischen Stil berühmte Johann Gottlieb Heinecke hatte dort Jura gelehrt.41 Jedem, der in Ostpreußen Rhetorik nach Freyers Oratoria gelernt hatte, war der Heineccius zumindest dem Namen nach geläufig, denn dort wird regelmäßig zur Vertiefung - neben den antiken und barocken Autoritäten Aristoteles und Vossius - auf den „berühmten" Heineccius als modernes Standardwerk verwiesen. Neben dem Blick nach Halle wird allerdings auch der wesentlich zukunftsträchtigere Blick nach Göttingen deutlich, denn in Herders Zeit benutzte man Heineckes Lehrbuch wegen Johann Matthias Gesners Anmerkungen. Gesner legte den Heinecke als Lehrbuch seinen Göttinger Rhetorikvorlesungen zugrunde-2 und hat ihn mehrfach neu herausgegeben, jeweils mit umfänglichen verbessernden und erweiternden Anmerkungen und Exkursen, die aus dem schmalen Lehrbuch eine umfassende rhetorische Enzyklopädie von mehr als 500 Seiten Umfang gemacht haben. Das Heineckesche Lehrbuch in der Bearbeitung Gesners war nicht nur die erste Wahl des Ordinarius Werner. Die privat lehrenden Magister Schlegel und Pisanski haben für das Wintersemester 1764/65 beide Vorlesungen über den lateinischen Stil nach
37
Sie ist nicht identisch mit seinem Aufenthalt in Königsberg. Herder hat nach den vorhandenen Studentenverzeichnissen (GStAPK HA. XX, EM 139 b Nr. 25 Bd. 3, fol. 5r und fol. 40 r ) nur vom WS 62/63 bis zum WS 63/64 ordentlich studiert. Bereits im SS 64 wird Herder zu den Studenten gezählt „die sich ihre Lectiones bey der Facultaet [...] nicht ordnen lassen und noch auf der Academie sind" (fol. 711), was nach den damaligen Gepflogenheiten den Studienabschluß voraussetzt. Dafür spricht auch die Tatsache, daß Herder bereits im März 1764 die Erlaubnis zu predigen gehabt haben muß (vgl. dazu Kap. 3).
38
Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg (1720-1804). Hg. von Michael Oberhausen und Riccardo Pozzo. Bd. 1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, 260:„I11. Heineccii fiindamentorum stili cultioris P. II. Capp. tria priora explicabit, Plinii Panegyricum interpretatibur [sie!] & Commilitonum Honoratissimorum elaborationes emendabit"; vgl. zur Durchführung GStAPK HA. XX, EM 139 b Nr. 25 Bd. 3, fol. 2 7 . Bei dem verwendeten Lehrbuch handelt es sich um Johann Gottlieb Heinecke (Heineccius): Fvndamenta Stili cvltioris. Nvnc demvm omnibvs Io. Matthiae Gesneri Animadversionibvs, emendationibvs, additamentis, et praefatione locvpletata. Accuravit, digessit, svas qvoqve observationes adiecit Nicolavs Niclas. Leipzig 1761.
39
Vorlesungsverzeichnisse der Universität Königsberg, Bd. 1, 263; vgl. GStAPK HA. XX, EM 139 b Nr. 25 Bd. 3, fol. 44'. Ebd., 266; vgl. GStAPK HA. XX, EM 139 b Nr. 25 Bd. 3, fol. 55r. Zu Heinecke als Philologe vgl. Conrad Bursian: Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart. München, Leipzig 1893, 372f. und Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts Bd. 1, 547, der Heinecke nur erwähnt, um das damalige Damiederliegen der klassischen Studien in Halle zu illustrieren.
40 41
42
Ulrich Schindel: Johann Matthias Gesner, Professor der Poesie und Beredsamkeit 1734-1761. In: Carl Joachim Classen (Hg.): Die klassische Altertumswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Göttingen 1989,21.
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Heineccius angekündigt. 43 Das ebenso berühmte wie eigentlich veraltete neulateinische Lehrbuch Heineckes, das bestens zu den „spätbarocken" Verhältnissen im Königsberger Lehrangebot paßte, ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden in drei Kapiteln die grammatischen, rhetorischen und philosophischen Grundlagen des Stils behandelt. Der zweite Teil besteht aus fünf Kapiteln über die rhetorischen Einzelgattungen Brief, Rede, Panegyricus, Dialog und Inschrift. Werner hat im Wintersemester 1762/63 über die ersten drei Kapitel des zweiten Teils gelesen, d.h. über Brief, Rede und Panegyricus, wozu er als passende Autorenlektüre und Muster den Panegyricus des Plinius behandelte. Der dritte Teil ist den grundlegenden rhetorischen Übungsformen Autorenlektüre, Nachahmung und verschiedenen Stilübungen gewidmet. Als Anhang hat Gesner vier Exkurse beigefügt, in denen er Ergänzungen und Verbesserungen zu Heineckes Text bietet. Sie behandeln die Perioden und ihren Gebrauch, den Chiasmus, den erhabenen Stil und die verschiedenen Teile, die zu den Grundlinien der Redekunst gehören. Gesner ist hier nicht nur als kundiger und kritischer Herausgeber Heineckes interessant, sondern vor allem als paradigmatische Persönlichkeit des Neuhumanismus. 44 Er war in Rhetorik und Pädagogik wegweisend für eine sprachantropologisch vertiefte Auffassung. Als Herausgeber eines eigentlich veralteten Stillehrbuchs aus der pädagogischen Moderne um 1700, die vom Aufkommen der „galanten" und realistischen Disziplinen geprägt war, steht er für die paradigmatische Wende von der artes-Literatur zu den antiken auctores.45 Der neulateinischen Theorie Heineckes, die den Bezug zur antiken Literatur weitgehend ausgeblendet hat, folgt die intensive Hinwendung zu den antiken Stilvorbildern und zur antiken Theorie. Gesner hat selbst nach seiner Quintilianausgabe von 1738 den Ansatz seines modernistischen, d.h. antikekritisch eingestellten Rhetoriklehrbuchs von 1735 in der isagoge explizit korrigiert und die Exegese der antiken Theorie und Praxis zum Fundament jeglicher moderner philogischer Rhetoriktheorie gemacht.46 Daß Herder sich in seiner Studienzeit mit Gesner und Heineccius beschäftigt hat, zeigen Einträge in einem der Königsberger Studienbücher. In unmittelbarer Nachbarschaft zu einem der raren datierten Einträge zum Beginn einer Kant-Vorlesung hat Herder eine Liste mit abgekürzten Buchtiteln angelegt, die ein späterer Herderforscher als „Studienmittel" identifiziert hat.47 Hier wird sowohl Heineccius als auch zweimal „Geßner" genannt.48 Wie
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Vgl. GStAPK HA XX, EM 139 b Nr. 25 Bd. 3 fol. 164-167 v . 1691 geb. im ansbachischen Roth, Studium in Jena, 1715-29 Konrektor in Weimar, 1729-30 Rektor in Ansbach, 1730-34 Rektor der Thomasschule in Leipzig, 1734-1761 Professor der Poesie und Beredsamkeit an der Georg-August-Unversität in Göttingen, dort Leiter des philologischen Seminars, Vorstand der Bibliothek und Aufseher der hannoverschen Landesschulen; wichtige rhetorische und pädagogische Veröffentlichungen: 1715 Institutiones rei scholasticae, 1717 Chrestomathia Ciceroniana, 1731 Chrestomathia graeca, 1735 Primae Lineae Artis Oratoriae, 1738 Kurbraunschweigisch-Lüneburgische Schulordnung, Quintilianausgabe, 1756 Kleine deutsche Schriften, 1757 Primae lineae isagoges in eruditionem universalem (vgl. Bursian, Geschichte der classischen Philologie, 387f.). Die instruktivste Würdigung der pädagogischen und philologischen Bedeutung Gesners bietet nach wie vor Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts Bd. 2, 16ff.; vgl. Schindel: Johann Matthias Gesner, 9-26 und Ulrich Muhlack: Klassische Philologie zwischen Humanismus und Neuhumanismus. In: Rudolf Vierhaus (Hg.): Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung. Göttingen 1985, 108f. Vgl. den paradigmatischen Gegensatz bei Kristeller und die Einleitung, Anm. 46. Vgl. Johann Matthias Gesner: Primae lineae isagoges in eruditionem universalem, Bd. 1, Leipzig 1774, § 329. Vgl. SBBPK NL Herder XXVI 5, 123 und 135, vgl. Irmscher/Adler 231.
Herder das Lehrbuch Heineckes und vor allem den Kommentar Gesners gelesen hat, zeigt ein Exzerpt, das sich allerdings nicht sicher datieren läßt.49 Es handelt sich um einen ausfuhrlichen Auszug mit zahlreichen Definitionen und Begriffen zur Rhetorik. Dabei fallt zunächst ins Auge, wie Herder zunächst von Gesners Anmerkungen so absorbiert ist, daß er fast ein Kapitel braucht, um überhaupt einmal aus dem eigentlichen Text von Heinecke zu zitieren. Offenbar haben ihn im Wesentlichen nur Gesners Anmerkungen interessiert. Inhaltliche Schwerpunkte sind die Einordnung der Rhetorik in das aktuelle Fächersystem, die Thematisierung des Lateinischen als fuhrende Sprache der Gelehrten, im Zusammenhang mit der Erörterung des humanistischen elegantia-Ideals die Kritik an barbarischer und scholastischer Sprache, die von Gesner berücksichtigten Neuentwicklungen in der Poetik, Kunsttheorie und Ästhetik, die deutlich akzentuierte Behandlung der Rhetorik als Teil der humaniora und ihre Kontrastierung mit den französischen belies lettres. Alle diese Themen hat Herder später im Zusammenhang mit der Rhetorik wiederaufgegriffen. Die umfänglichen Verweise auf aktuelle und ältere Spezialliteratur hat er dankbar in den Fragmenten benutzt. Auf Gesners Entfaltung der Rhetorik als besonderer Zugang zur Philosophie, insofern sie doctrina humanitatis ist, wird er in seiner Preisschrift über das Verhältnis der „schönen" zu den „höhern" Wissenschaften und in den betreffenden Schulreden zurückkommen.
2. 2. Herder als Sprach- und Stillehrer
Herders Lehrtätigkeit am Collegium Fridericianum Herder hat den Unterricht, der Vorbild für seine eigene Unterweisung an der Mohrunger Stadtschule war und den Kontext des Mohrunger Diktats bildet, während seiner Studienzeit in allen Einzelheiten kennengelernt. Um sein Studium finanzieren zu können, gab er unter anderem Unterricht als Privatinformator im „Styl" und am Collegium Fridericianum.50 Hier wie in Halle ist Rhetorik selbstverständlicher Teil des Lehrbetriebs. Die Schulbibliothek enthielt zahlreiche Rhetorica51 und der zu Herders Zeit immer noch gültige 48
49
50
51
Da Herder in der Liste nur die Autornamen notiert, muß offenbleiben, welche Titel Gesners er hier zur Lektüre vorgesehen hatte. Für die Rigaer Zeit läßt sich im Zusammenhang mit den „Fragmenten" und dem Reisejournal die Rezeption der „Kleinen deutschen Schriften" und der Isagoge belegen. Die wenigen datierten Einträge im Königsberger Studienbuch Beiträge fiirs Gedächtniß legen bei den Eintragungen zu Heineccius und Gesner Herders Studienzeit nahe, das Heineccius-Exzerpt aus dem Studienbuch C (SBBPK NL Herder XXIX 1, 38' 40', bei Irmscher/Adler 271 auf ca. 1767 datiert) dürfte nach den umgebenden Einträgen aus späterer Zeit stammen. Die Vermutung liegt nahe, daß Herder bei der Arbeit an den 'Fragmenten' oder am zweiten Teil des 'Torso' nochmals den Heineccius konsultiert hat und dabei das Exzerpt angefertigt hat. Herder an Johann Georg Hamann, nach dem 10. August 1764, DA 9 Nr. 4 (Bd. 1), S. 27; eingehende Darstellung des Schulbetriebs, des sozial- und geistesgeschichtlichen Kontextes und Neudruck des SchiffertLehrplans bei Klemme, Die Schule Immanuel Kants. Zu den in der Schulbibliothek vorhandenen Titeln vgl. Gustav Sommerfeldt: Die Übertragung des Pietismus von Halle a.S. nach Löbenicht-Königsberg. III. Teil: Die pietistische Bibliothek zu Königsberg. In: Zeitschrift fur Kirchengeschichte 37 (1918) 443-463.
27
Lehrplan,52 der 1742 vom damaligen Inspektor Christian Schiffert in einem Tätigkeitsbericht ausfuhrlich dokumentiert wurde, enthält eine ausfuhrliche Darstellung des dort praktizierten Rhetorikunterrichts. Aus der Zusammenschau von Lehrplan und den Daten zu Art und Umfang von Herders Lehrtätigkeit läßt sich ein genaues Bild ermitteln, nach welcher Methode und in welchem Ausmaß Herder Rhetorik zu unterrichten hatte und welche Rolle Rhetorik im Gesamtbild des dortigen Unterrichts spielte. Am Collegium Friedericianum wurde nach dem Vorbild des halleschen Pädagogiums das Franckesche Fachklassensystem praktiziert. Es gab fur jedes Fach eigene Klassen von Quinta bis Prima, jede Klasse wurde von einem eigenen Lehrer unterrichtet und jeder Schüler wurde nicht von Altersstufe zu Altersstufe, sondern nach seinen Fortschritten innerhalb der Fachklassen versetzt.53 Dieses aufwendige Unterrichtssystem konnte hier wie in Halle nur durch die enge personelle Verbindung zur Universität durchgeführt werden. Die meisten Lehrer waren Studenten, die sich durch den Unterricht für ihre spätere Tätigkeit vorbereiteten und ihren Unterhalt aufbesserten. Das vorgesehene Fächerspektrum war fur die damaligen Verhältnisse weitgespannt: In Schifferts Übersicht zu Unterrichtsinhalten und -zielen werden grundsätzlich Theologie bzw. Frömmigkeit, Sprachen (v.a. Latein) und die übrigen Wissenschaften und Fähigkeiten unterschieden. Zu diesen Fächern wird angemerkt: In Künsten und Wissenschaften, auch in den Studiis humanioribus, werden sie angefuhret, daß sie a) in der Mathematic die ersten Gründe der Arithmetic, Geometrie und Trigonometrie durchtractiren; und es auch b) in der Weltweisheit, c) in der Dichtkunst, so wohl der lateinischen als deutschen, d) in der Erd-Beschreibung, e) in den Geschichten, f) in der Redekunst, g) in der netten Schreibart [= Kalligraphie] u.s.f. so weit bringen, als man es immer von Schulen verlangen kan. 54
Den Tagesbeginn bildete gewöhnlich die Theologiestunde mit Gebet und Bibellektüre, den Abschluß das Abendgebet. Dem pietistischen Profil der Anstalt folgend waren gemeinsames Gebet, Bibellektüre und die sonntäglichen Katechisationen Angelpunkte des schulischen Alltags.55 Das quantitative Schwergewicht des Schulplans lag allerdings weder in der religiösen Unterweisung noch in den „modernen", von Francke in Halle und später von Schultz und Schiffert in den Königsberger Lehrplan übernommenen Realfachern wie Geschichte, Geographie oder Mathematik, sondern auf dem Lateinunterricht. Latein wurde in den unteren drei Klassen mit 18 Wochenstunden, in den drei oberen Klassen mit 16 Wochenstunden unterrichtet. Die anderen Sprachen wurden mit wesentlich weniger Wochenstunden unterrichtet. Das explizit im Lehrplan als zweitrangig behandelte Griechisch mußte mit fünf Wochenstunden in drei oder vier Klassen auskommen, Hebräisch mit vier Wochenstunden, Französisch mit zwei Wochenstunden in drei außerordentlichen Klassen, Polnisch wurde auf Verlangen der Eltern in einer Klasse mit vier Wochenstunden unterrich-
52
Christian Schiffert: Nachricht von den jetzigen Anstalten des Collegii Fridericiani. In: Erleutertes Preußen oder Auserlesene Anmerckungen über verschiedene, zur Preußischen Kirchen- Civil- und Gelehrten Historie gehörige besondere Dinge [...] 5. Teil, 8. Stück, Königsberg 1741, 487-572. ND in: Klemme: Die Schule Immanuel Kants, 61-114; die Änderungen im Lehrangebot, die sich danach in der Regel durch die Einführung neuer (meist eigens für das Friedrichskolleg geschriebener) Lehrbücher ergaben, dokumentiert Gustav Zippel: Geschichte des Königlichen Friedrichs-Kollegiums zu Königsberg Pr. Königsberg 1898.
53
Vgl. Klemme, Die Schule Immanuel Kants, 67, §§ 1-2. Ebd. 94f. Vgl. ebd. 70ff„ Τ. II, § 1.
54 55
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tet.56 Die übrigen Fächer wie Geschichte, Geographie, und Philosophie (d.h. Logik und Metaphysik) wurden auf die insgesamt fünf Wochenstunden von 1 bis 2 Uhr nachmittags verteilt, Mathematik auf die Stunden von 2 bis 3, gegebenenfalls abzüglich der Stunden, die für den Hebräischunterricht abgezweigt wurden. Die Stundenzahlen zeigen deutlich, daß es sich im Wesentlichen noch um den alten, wenn auch methodisch modernisierten Lateinbetrieb handelt. Die Realienfacher werden zwar im Lehrplan in ihrem Eigenwert und Nutzen betont, bekommen aber nur wenige Stunden eingeräumt. Herder hat im gesamten Spektrum des dortigen Lehrbetriebs mitgewirkt: Er gab zunächst im Wintersemester 1762/63 Rechenunterricht in der Deutschen Sekunda, bekam Ostern 1763 die griechische, hebräische, französische und mathematische Tertia, ab Herbst 1763 dann die lateinische Untersekunda und in Geschichte und Philosophie die erste Klasse. Außerdem spielte er in der Kirche des Friedrichkollegs die Orgel und hielt Sonntagskatechisationen ab.57 Wie der Lehrplan zeigt, hatte Herder in der lateinischen Untersekunda Rhetorik in Theorie und Praxis zu vermitteln. Die Anweisung zur „Oratorie" war integraler Bestandteil des Lateinunterrichts und wurde nur teilweise in eigens dafür angesetzten Stunden vermittelt. Gewöhnlich bildete die Grammatik den Schwerpunkt des Lateinunterrichts in den unteren Klassen,58 die Rhetorik war Schwerpunkt in den oberen Klassen. Der Deutschunterricht wurde zeitlich und inhaltlich-methodisch vom Lateinunterricht abgezweigt. Obwohl der Rhetorikunterricht und in wesentlich stärkerem Maße der Deutschunterricht organisatorisch vom Lateinunterricht abhängig waren, ist der Rhetorik in Schifferts Lehrplan ein eigener Abschnitt gewidmet, um die grundsätzliche Bedeutung des Faches zu unterstreichen: Mit der Oratorie so wohl der Lateinischen als Deutschen, wird Herrn Freyers Oratoria in tabulas compendiarias redacta zum Grunde geleget. Aus derselben werden nicht allein die Sätze den Schülern deutlich erkläret und mit Exempeln erläutert, sondern auch hauptsächlich so wohl deutsche als lateinische Themata zur Uebung vorgegeben, die Elaborationes verbessert, und zuweilen des Lehrers bessere Elaboration vorgeleget. 59
Danach werden die geeignetsten exempla für den Unterricht behandelt: Und da zwar gute Regeln und Vorschriften desfals das ihrige allerdings zu solchem Zwecke beytragen; jedoch die Erfahrung lehret, daß dadurch allein das wenigste zu erhalten stehet, fals man nicht jungen Leuten gute Muster in die Hand giebet, welche sie sich zur Nachahmung vorsetzen, und wodurch sie sich zur reinen und deutlichen Schreibart gewöhnen können: so unterlasset man nicht, ihnen so wohl als ihren Präceptoribus, die besten Schriftsteller dieser Art in die Hände zu geben, und sie anzuhalten dieselben fleißig zu lesen und nachzuahmen. Und da unter andern die aus dem Französischen ins Deutsche übersetzte Schrifften des so geschickten, als berühmten Rollin disfals bekannt sind: so unterlasset man um so viel weniger solche in dieser Absicht fleißig zu gebrauchen, nachdem ausser der Schreibart, selbige auch ihres Inhalts wegen so vieles nützliche für junge Leute in sich enthalten, und so wohl in Betrachtung der Historie, als ihrer Anwendung in unzählbaren Vorfallen des menschlichen Lebens und vielen andern schönen Wissenschaften so viel nützliches und nöthiges an die Hand geben. Wonächst man auch nicht verabsäumet, andere zu diesem Zweck dienliche, und mit allgemeinem Beyfall aufgenommene in deutscher Sprache geschriebene Bücher dabey zu gebrauchen, so viel als
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Ebd. 79, 81f. Die zuverlässigsten Angaben bietet Zippel, Geschichte des Königlichen Friedrichs-Kollegiums, 121 f. Zum Grammatikpensum der Lateinklassen vgl. Klemme, Die Schule Immanuel Kants 73ff. Ebd. 82.
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man zu obigem Zwecke nöthig und dienlich befindet. Damit aber hierinn das Nöthige in der deutschen so wohl, als lateinischen Sprache viel besser erhalten werde: so wird desfalls die Oratorie in dreyen Classen gelehret. 60
Auch die eigentlichen rhetorischen Übungen werden eingehend erläutert: Der Lehrer giebt den Schülern entweder eine Disposition; oder bisweilen nur das Thema, welches sie selbst disponiren müssen, sonderlich in der ersten Classe. Wenn die Dispositiones und Orationes verbessert sind, wird ein kleiner Actus oratorius gehalten, wozu einige Schüler das Programma verfertigen. Mit dergleichen Uebungen und freyen Reden wird auch bereits ein kleiner Anfang in der fünften Classe gemacht: indem die Profectiores die exponierten Colloquia auswendig lernen, und sie des Mittwochs gegen einander hersagen, wie oben erwehnet worden. 61
Typisch für den Rhetorikunterricht des Friedrichskollegs ist die Koppelung von Rhetorik, Epistolographie und Orthographie. Vor allem die deutsche Rhetorik wird als Brieflehre vermittelt, wobei rhetorisch gesehen die Periodologie, grammatisch die Orthographie im Mittelpunkt steht: Zur Oratorie gehöret auch die Anweisung zu deutschen Briefen, wodurch den Schülern nicht nur Anlaß gegeben wird, sich in der deutschen Orthographie zu üben; sondern sie auch bey Zeiten angewöhnet werden, einem jeden nach seinem Stande im Schreiben zu begegnen. Der Docens bedienet sich dabey des Neukirchs, und anderer der besten Briefsteller Anleitung, giebt den Schülern entweder nur ein Thema; oder nur eine Disposition, und thut bisweilen seine eigene Elaboration hinzu. 62
Der erste Schritt zum Rhetorikunterricht wurde in der lateinischen Quarta getan. Samstags wurde dort „Vorbereitung zum teutschen Briefschreiben gegeben, und dabey auf die Orthographie sorgfaltig gesehen."63 In der Tertia wurde mit lateinischer Poesie begonnen, in den Stunden von 8 bis 10 Imitationen angefertigt, mittwochs wurde ein exercitium extraordinarium geschrieben. Daneben wurde zweimal pro Woche die „Uebung im Briefschreiben" fortgesetzt 64 In der Untersekunda, die Herder zu unterrichten hatte, wurde der Nepos ganz durchgegangen und auswendiggelernt, zwei Wochenstunden waren für Ciceros Briefe ad familiares vorgesehen. In den Stunden von 8 bis 10 gab es Mittwochs Oratorie, daraus sie sich in der Lehre von den Perioden und leichten Chrien mehr, und gründlicher als bisher geschehen können, üben, aus dem Capitel per antecedens & consequens den Grund Briefe zu schreiben besser fassen, und endlich sich die Theorie de tropis & figuris bekandt machen 6 5
Freitags wurde aus Freyers fasciculus66 exponiert, am Samstag wurden „Antiquitäten" behandelt, in Schifferts Lehrplan noch nach Cellarius, zu Herders Zeit aus dem eigens für das Collegium geschriebenen Lehrbuch Moldenhauers.67 In den Stunden von 3 bis 4 waren Montags und Donnerstags eine Imitation oder ein exercitium subitaneum angesetzt, Diens60 61 62 63 64 65 66
67
30
Ebd. 82f. Ebd. 83. Ebd. 84f. Ebd. 74. Ebd. 75f. Ebd. 76f. Hieronymus Freyer: Fasciculus poematum latinorum. Halle 1713 oder Ders.: Fasciculus poematum graecorum. Halle 1715. Zum Titel vgl. oben Anm. 19.
tags das exercitium ordinarium der drei oberen Klassen. Freitags wurde Poesie unterrichtet. Für den Samstag war auch die Abgabe von Briefen vorgesehen, die außerhalb der Schulstunden vom Lehrer korrigiert werden mußten.68 Das Bild weicht in den obersten beiden Klassen nur in Details ab, außerdem werden die exempla-Autoren anspruchsvoller. In der Obersekunda werden weiterhin Cicero-Briefe gelesen, Nepos wird durch Cäsar ersetzt; zur Imitation wird ein Brief diktiert; wöchentlich wird ein Samstags abzugebender Brief ausgearbeitet, der Lehrer gibt den Hauptsatz oder die Disposition vor, und beurteilt die Ausarbeitungen bei Abgabe oder später. Perioden und Chrien werden wie in der Untersekunda gehandhabt.69 In der Prima sind Reden von Cicero, Muretus und Curtius als Lektüre vorgesehen. Die Imitation von Perioden soll fortgesetzt werden, gelegentlich können auch Briefe von Plinius und Stücke aus Ciceros Officia genommen werden, um die Kürze des Stils zu trainieren. Weiter sind verschiedene Exerzitien vorgesehen, darunter einmal im Monat ein exercitium exploratorium in Gegenwart des Lehrers, das dem Inspektor zugeht. Der samstägliche Unterricht in Antiquitäten wird fortgesetzt und als exercitium extemporale aufbereitet. Für die Prima wird die Wichtigkeit des Lateinsprechens betont, Fragen und Antworten sollen ausschließlich auf Lateinisch erfolgen.70 Herders Königsberger Studienbücher, deren „explosive Unordnung"71 in genialischer Weise allen Anweisungen spottet, die er später über das geordnete Führen von Kollektaneenbüchern gegeben hat, geben nicht nur Einblick in Vorlesungen und Lektürehorizont des jungen Studenten. Sie enthalten auch zahlreiche praktische Beispiele des von ihm erteilten Sprach- und Rhetorikunterrichts. Sie spiegeln präzise die Vorgaben, die am Collegium Fridericianum galten, die tägliche rhetorische Routine für Schüler und Lehrer und die Stärken und Schwächen dieses Unterrichts. Die dort versammelten Chrienund Briefentwürfe, Übersetzungsübungen, Erzählungen, Kurzdialoge etc. zeigen die virtuose und fleißige Einübung des rhetorischen Exerzierreglements nach Freyerschem Muster. So finden sich hier Belege, welchen Briefsteller Herder für den Epistolographieunterricht verwendet hat. Auf zwei Seiten hat Herder Übersetzungsübungen nach Gellerts Briefsammlung von 1751 notiert.72 Daneben gibt es noch weitere deutsche Briefentwürfe.73 Neben Zensurenübersichten74 und Vokabellisten75 finden sich zahlreiche lateinische Übungstexte,76 teilweise direkt mit passender Disposition und Periodologie77, verschiedene Elaborationen nach Cicero,78 kurze lateinische Chrienentwürfe,79 ein lateinischer Dialog
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72
73 74 75 76 77 78
Klemme, Die Schule Immanuel Kants, 76f. Ebd. 77f. Ebd. 78f. Margot Westlinning: Der junge Herder in Königsberg. In: Heinz Ischreyt (Hg.): Zentren der Aufklärung. Bd. 2: Königsberg und Riga. Tübingen 1995, 76. SBBPK NL Herder XX 188, 90-91; nach Christian Fürchtegott Geliert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751; N D in: Ders.: Die epistolographischen Schriften. Faksimiledruck nach den Ausgaben von 1742 und 1751. Stuttgart 1971, 49f. Z.B. SBBPK NL Herder XX 188, 105-104 [sie], SBBPK NL Herder XXX 1, 137" und 138 v -140 v . Z.B. ebd. 123'" „Graecismi [aus] dem Plutarch". Ebd. 75v, 76' und 76", 7 7 - 7 8 ' , 78", 79 r , 7 9 \ Ebd. 8 Γ - 8 Γ , z u 8 0 ' - 8 0 v . Ebd. 82'bis 86'.
31
zwischen Cicero und Cato,80 auch Notizen zur obligatorischen Abgabe von Elaborationen der Schüler fehlen nicht.81 Um einen Entwurf der Königsberger Schulrede über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen herum findet sich eine Anzahl deutscher und lateinischer Chrienentwürfe, deren penible Gliederungsmethode genau der Methode Freyers und den Vorgaben des Schiffert-Lehrplans entspricht. Keine Chrie gelangt an ihr Ziel, bevor nicht der moralische Satz des „Perioden" nach „Exempel", „Ursache", „Gegenteil", „Erläuterung" und „Pflicht" erwogen wurde.82 Eine „Disposition] zu einer Chrie"83 ist z.B. untergliedert durch: Thema, Zergliederung, Bestimmung, Gründe, Betrachtung, Beispiele, Beispiel, Folge, Beispiel, Bestimmung, Gründe, Bemerkung, Gleichnis, Beispiele, Gegenteil, Betrachtung, Schlußfolge. Die lateinischen Chrienentwürfe sind ähnlich aufgeschlüsselt.84 Die „Haupt-Sätze" der Chrien sind Sentenzen zur moralischen und religiösen Lebensführung wie z.B. ,,M[an] soll s[eine] Thaten jeden Abend sorgsam untersuchen"85 oder es wird dem pietistischen Profil des Collegium Fridericianum entsprechend in einer Chrie „Der Vorzug der Gottseligkeit vor den leiblichen Uebungen" ausführlich behandelt.86 Es ist bezeichnend, daß der historische Stellenwert des antiken Rhetorikmodells nicht im streng praktisch orientierten Rhetorikunterricht, sondern in der Repetition der „Antiquitäten" auftaucht, die Herder samstags durchzufuhren hatte. Für diese Stunden hat Herder in katechetischer Form ein Repetitorium zur römischen Kulturgeschichte mit Fragen und Antworten notiert. Einige dieser Fragen verorten die römische Beredsamkeit in Kultur und Gesellschaft der römischen Antike: 16. Wozu konnten sie z.E. die Mathematik brauch[en] [Antwort] z. Kriege 17. Die Beredsamkeit? [Antwort] Vor Gericht 27) Der Römische größte Redner, Cicero, an wen reicht der nicht [Antwort] an den Griechischen Demosthen. [...] 45) Auf welche schönen Wißenschaften legt[en] s[ich] d[ie] Röm[er] vorzüglich? [Antwort] Auf Beredsamkeit und Dichtkunst! [...] 46) Warum so sehr auf die Beredsamkeit? weil diese recht fur ihren Staat zu Kriegs u[nd] Friedenszeit[en] gemacht war! 47) wie so zu Kriegszeiten? d[er] General hing sehr v[on] d[en] Soldatfen] ab: d[ie] er also d[urch] Beredsamkeit] gewinnen muste 48) U[nd] im Staatsfache? die Cnndidaton d Staatsämter, die Vorklagte Gerichte hingfen] sehr v[om] Volk ab: daher sich und Verklagte dieselbe zu Freunden macht[en], 49) U[nd] wenn sie auch zu gemeinen [sie] Umgang [nicht] Beredsamkeit brauchten]: worauf le[gten] sie sich doch? - [Antwort] Auf Wohlredenheit, daher a[uch] alle ihre Schriften so einnehmend geschrieben sind 87
Herders Fragen und Antworten basieren auf dem Kapitel „Von denen Wissenschaften, Künsten und Schulen der Römer" aus dem Lehrbuch Moldenhauers.88 Dort werden ausführ79 80 81 82 83 84 85 86 87
32
Ebd. 123"-124'und Ebd. 130 r -130 v . Ebd. \4(f,period: SBBPK NL Herder Ebd. 3 M r . Ebd. 4 V -6 V , 8 r -9 r . Ebd. 3r. Ebd. l'-2 r . SBBPK NL Herder
127 v . abgeholt". XXV 163, 3V.
XXX 1, 3V—4V; zur Auszeichnung der Transskription vgl. den Anhang.
lieh Kultur, Religion, Rechtssystem und Wissenschaften der Römer erläutert, Herder hat den umfänglichen Stoff zusammengefaßt und fur die Repetitionen aufbereitet.
Herders Schulreden für das Collegium Fridericianum Am Collegium Fridericianum waren wie in Halle zum Examen Reden der Dimittenden und anderer Schüler vorgesehen.89 Hier wie dort wurden in der Regel die Reden von Schülern vorgetragen, aber von den Lehrern verfaßt. Auch Herder hat 1764 zwei solcher Reden zum oratorischen Betrieb des Collegiums beigtragen, die lateinische Rede Ineuntem hominis aetatem maximis commodis ac periculis obnoxiam90 und die deutsche Rede Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen.91 Die lateinische Rede ist in erster Linie als rhetorisches Praxiszeugnis interessant, weil es sich um eine typische Schuldeklamation handelt, die Herder von einem Schüler hat halten lassen. Sie ist deutlich erkennbar in der überlieferten Chrienform in einem eher Freyerischen als klassischen Latein verfaßt und spiegelt damit anschaulich die formalen Zwänge des Redebetriebs am Collegium Fridericianum.92 Auch die zweite Rede ist in Form einer Schulchrie disponiert93, „rhetorisch" im Sinne der Schuloratorie ist auch der sehr ausführliche Eingang noch vor der Aufstellung des Themas (FA 1, 22f.), die „antirhetorische" Bescheidenheitstopik in der captatio benevolentiae (23) und die deutlich markierte peroratio (28f.) Herder geht hier in der Rolle des vortragenden Schülers und unter Rekurs auf die pädagogischen Grundsätze des Friedrichskollegs bereits eigene Wege, die auch die Praxis des dortigen Rhetorikunterrichts indirekt in Frage stellen. Herder thematisiert - vorsichtig und indirekt - das Problem der Redebildung über das damals vieldiskutierte Problem des Verhältnisses von fremdsprachlichem und muttersprachlichem Unterricht. Vordergründig greift er lediglich die Topik auf, mit der in der Hallischen Pädagogik das langsame Vordringen eines selbständigen Deutschunterrichts in den Betrieb der Lateinschulen begründet wurde. In Schifferts Lehrplan wird auf die Wichtigkeit des Deutschen ausdrücklich hingewiesen: Da inzwischen die deutsche Sprache diejenige ist, in welcher wir das meiste, so wohl im Schreiben als mündlichen Vortrage abzuhandeln haben; und man dahero um derselbigen vor andern Sprachen mächtig zu werden den meisten Fleiß anzuwenden hat: so richtet man auch seine Haupt-Sorge mit darauf, daß es hierin den jungen Leuten an nöthiger Unterweisung und Uebung nicht fehlen möge. 9 4
Herder stellt in seiner Schulrede implizit die beiden Grundsatzfragen, die seine spätere Kritik der Königsberger Schuloratorie bestimmen werden. Erstens wird die pädagogische Bedeutung der Muttersprache mit ihren Implikationen für jede Form von Sprach- und Rede88 89 90 91
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Moldenhauer, Einleitung in die Alterthümer der Egyptier, Jüden, Griechen u. Römer, 622ff. Klemme 93f. FA 9,2; 131-137. FA 1, 22-29, wo die Rede 870 falschlich in die Rigaer Zeit datiert wird und FA 9, 2: 138ff. In der Forschung wird uneinheitlich beurteilt, ob die Rede tatsächlich gehalten wurde (vgl. FA 9, 2; 1006), Hayms Vermutung, Herder habe die Rede selbst gehalten (Haym 1, 38) ist unwahrscheinlich. Die Tatsache, daß fur die Druckfassung die redespezifischen Anreden etc. beseitigt werden mußten, spricht dafilr, daß der Text zunächst für einen Schulakt ausgearbeitet wurde. Direkte Belege für den Vortrag der Rede fehlen allerdings. Vgl. die Einschätzung bei Haym 1, 38f. Vgl. die Wiedergabe der Disposition in FA 9, 2; 140-144. Klemme, 82; vgl. den analogen Passus bei Francke, Pädagogische Schriften, 271.
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bildung im scharfen Kontrast zu einer in erster Linie fremdsprachlichen Bildung erwogen. Zweitens wird die damit eng verknüpfte Methodenfrage gestellt: Welche Übungsformen sind der Grundentscheidung für oder gegen die Muttersprache angemessen? Auch die wichtigsten Grundargumente, die er später wesentlich vertieft und differenziert in seiner Kritik der schulischen Redebildung verwenden wird, werden bereits ins Feld geführt: Herder belegt seine Position mit der (Sprach-) Geschichte der großen Kulturnationen und mit der Psychologie des Spracherwerbs. Seine Konsequenz läuft letztlich auf das Gegenteil der Unterrichtspraxis am Collegium Fridericianum hinaus: Während im dortigen Lehrplan die Wichtigkeit des Deutschen betont wird, fur einen eigenen Deutschunterricht aber keine eigene Stunden oder Klassen angesetzt werden und die Methodik ohne Änderungen aus dem Lateinunterricht übernommen wird, handelt Herder entgegen dem Titel vom Vorrang der Muttersprache vor der Bildung in den gelehrten Sprachen. Wenn er davon spricht, wie sich die „Homere, die Demosthenes, die Ciceronen" in ihrer Muttersprache gebildet hätten,95 und den möglichen Einwand ausräumt, die deutsche Sprache eigne sich nicht zur Beredsamkeit,96 macht er klar, daß er die Gewichte umgekehrt verteilt. Primär für die Sprach- und Redebildung ist die Muttersprache, sekundär die Fremdsprachen, gleichgültig ob alte oder moderne. Der Umverteilung der Gewichte entspricht die Änderung der Methodik. Muttersprachliche Bildung kann nicht in den Formen des etablierten Lateinbetriebs erfolgen, eine lebende Sprache wie eine tote gelernt werden. Damit wird bereits hier Herders Distanz zum rhetorischen Schulbetrieb und seinen pädagogischen und sprachphilosophischen Prämissen deutlich. In aller Offenheit und Schärfe wird er diese Distanz allerdings erst in Riga im Zusammenhang mit dem Betrieb der Domschule aussprechen. Schon Haym hat darauf hingewiesen, daß Herders publizistische Anfänge auch einen Beginn als Redner darstellen.97 Seine Schulrede über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen hat er später in den 'Gelehrten Beyträgen zu den Rigischen Anzeigen aufs Jahr 1764' veröffentlicht, ein typischer Übergang von der „Schulmaterie"98 zum 'wissenschaftlichen' Beitrag. Ein rhetorisch strukturierter Text fur eine lokale schulische Öffentlichkeit wird - ohne strukturelle Änderungen - in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht. Herder hat diesen Schritt von einer rhetorischen zur publizistischen Öffentlichkeit in seiner ersten Zeit als Schriftsteller öfters getan.99 Später hat er zwar auf die Veröffentlichung von Reden und Predigten bewußt verzichtet, aber die Übergängigkeit gerade der Schulreden zu den für Herder jeweils aktuellen „schönwissenschaftlichen" Preisschriften und philosophischen Projekten ist vor allem in der Weimarer Zeit auffalliges Merkmal der Reden.
95 96 97 98 99
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FA 1,27. Ebd. 28. Vgl. dazu Haym 1, 78. Herder an Lindner 16. 10. 1764, DA 1, Nr. 7, S. 33. Zu Herders ersten namentlichen Veröffentlichungen gehört seine erste Kasualpredigt (vgl. dazu Kap. 3) und die Rigaer Rede über 'Publicum und Vaterland'.
Herder als Collaborator in Riga Herder konnte seine Königsberger Schulreden nicht nur für seine ersten publizistischen Versuche nutzen, er hat sie auch erfolgreich als specimina für die Bewerbung auf sein erstes Schulamt verwendet. Produkte der Schulrhetorik waren durchaus als pädagogische Karriereinstrumente tauglich. Herder weiß allerdings, warum er in seinem Begleitbrief an Lindner darum bittet, ihn daraus zu beurteilen, aber nicht daran zu messen.'00 In seiner Zeit an der Rigaer Domschule hat er zwei Rektorate erlebt, die letzte Zeit von Johann Gotthilf Lindner und die ersten Jahre Gottlieb Schlegels. Johann Gotthilf Lindner war 1729 im pommerschen Schmolsin/Stolpe geboren, hatte in Königsberg studiert und dort 1750 den Magistergrad erworben. Er hielt als magister legens Vorlesungen über französische Sprache, Geschichte, Rede- und Dichtkunst, Philosophie und Mathematik.101 Zusammen mit Hamann hatte er die Wochenschrift „Daphne" herausgegeben, höchstwahrscheinlich hat Hamann auch den jungen Königsberger Studenten seinem langjährigen Freund empfohlen. Noch als magister legens hat Lindner eine „Anweisung zur guten Schreibart überhaupt, und zur Beredsamkeit insonderheit" verfaßt. Der junge Herder hat sich wahrscheinlich bereits in Mohrungen Auszüge daraus in eines seiner frühesten Studienbücher notiert.102 Lindner meldete mit diesem Rhetoriklehrbuch seinen Anspruch auf den vakanten Königsberger Rhetoriklehrstuhl an, der dann allerdings mit Werner neu besetzt wurde. Seine „Anweisung" wurde aber auch als ein Akt antigottschedischer Opposition innerhalb der Königlichen Deutschen Gesellschaft wahrgenommen,103 deren Senior er war. Als seine Rhetorik 1755 erschien, war er bereits zum Rektor der Rigaer Domschule berufen worden. Lindners Verhältnis zur Rhetorik in Riga äußert sich zunächst in der Förderung repräsentativer rednerischer Öffentlichkeit. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt führte er die Redeakte wieder ein, die seit dem Eingehen der Domschule als akademisches Gymnasium in Vergessenheit geraten waren.104 Der Ausweitung der Praxis entsprach im Lehrplan die Beschränkung der Theorie: die „Oratorie" wurde von 4 auf 3 Stunden in der Woche gesetzt, um eine zusätzliche Geschichtsstunde zu gewinnen.105 1758 wurde unter Lindners Rektorat auch Herders spätere Stelle, das Amt des Kollaborators geschaffen. Wie der neuentworfene Lehrplan zeigt, zählte zu dessen Pflichten auch ein Teil des Rhetorikunterrichts an der Domschule:
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Herder an Lindner, 16. 10. 1764, DA 1, Nr. 7, S. 33. Vgl. Bernhard Hollander: Geschichte der Domschule, des späteren Stadtgymnasiums zu Riga. Hg. von Clara Redlich. (1934) Hannover-Döhren 1980, 59. „Von Gedanken aus des M. Lindners Rhetorik" SBBPK NL Herder XXVI 5, 92f.; das Exzerpt gehört zu den wenigen Einträgen, die Herder unmittelbar nach Anlage des Studienbuchs 1761 noch der ursprünglich vorgesehenen Fächereinteilung folgend in der Sparte „Oratorisches Fach" eingetragen hat. Vgl. C.C. Flottwell an Gottsched 4. Nov. 1754; abgedruckt bei Gottlieb Krause: Gottsched und Flottwell, die Begründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Leipzig 1893, 125. Hollander: Geschichte der Domschule 60f; zur Institution der oratorischen Akte vgl. Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts Bd. 1, 331f., 600f. und Freyr Roland Varwig: Art. „Actus". In: HWRh Bd. 1 (1992) Sp. 75-83; symptomatisch die dortige Durchführung der historischen Darstellung nur bis ins 17. Jh.; die geschichtliche Entwicklung der Redeakte im 18. Jh. ist noch weitgehend unerforscht. Gotthard Schweder: Die alte Domschule und das daraus hervorgegangene Stadt-Gymnasium zu Riga. Riga, Moskau 1910, 35.
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Von 11-12 lateinische Orthographie und Syntax am Montag und Donnerstag mit den Primanern, am Dienstag und Freitag mit den Sekundanern. Von 1 - 2 deutsche Orthographie und Epistologie am Montag und Donnerstag mit dessen bedürftigen Primanern und Sekundanern, am Dienstag und Freitag mit Tertianern und Ober-Quartanern. Von 4 - 5 am Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag Histor. natur., Repet. Geogr. specialis, Historia spec, et repetitio universalis cum Primanis et Secundanis. Am Mittwoch und Sonnabend von 11-12 und 2 - 3 Französisch fakultativ. An denselben Tagen 3-4 Elementa Arithm. et Geom. fakultativ. 1 0 6
Im Schulprogramm von 1760 „Gedanken über Schulsachen" hat Lindner das Sprachproblem aufgegriffen, das Herder später beschäftigte. Er erörtert dort die Frage, ob das Latein in der Schule abgeschafft werden könnte. Die Abschaffung zieht er zwar nicht in Erwägung, schlägt aber eine Lösung vor, die Gesner propagiert hatte und Herder später aufgegriffen hat. Das Latein sollte mit Kindern, die später studieren sollen, anders behandelt werden als mit Kindern, die später in bürgerliche Berufe gehen. Auch das übliche Lateinlernen aus der Grammatik, das schon Gesner heftig getadelt hatte, soll eingeschränkt werden.107 Lindner nutzte die oratorischen Akte und das Schultheater geschickt zur Selbstdarstellung von Schule und Schülern, die im schulischen Leben der Stadt das wohlhabende Bürgertum repräsentierten und mit dem Lyceum konkurrierten, das die höhere Schule der livländischen Ritterschaft war. Er ließ dazu nicht nur wie üblich seine Einladungsschriften publizieren, sondern veranstaltete Sammlungen, in denen die Programme des Rektors und die bei den Redeakten gehaltenen Schülerreden zusammen abgedruckt waren.108 Damit konnten die Schüler Ehre einlegen, die die Reden vorgetragen hatten, und die Lehrer, die sie in der Regel verfaßt hatten. Da solche Redeakte nicht nur bei Ereignissen wie Examen und Valediktion der zur Universität abgehenden Schüler, sondern vor allem auch zu festlichen Gelegenheiten wie dem Geburtstag der russischen Kaiserin, ihrem Besuch in der Stadt im Jahre 1764, der Einweihung des neuen Rathauses etc. abgehalten wurden und von entsprechenden Publikationen begleitet waren, nahm die Domschule auf ihre Weise einen prominenten Platz in der lokalen Öffentlichkeit der prosperierenden kaiserlich russischen Hansestadt Riga ein.109 Auch in Riga ist Herder zunächst als Schulredner hervorgetreten. Am 27. Juni 1765 wurde er gemeinsam mit Schlegel in sein Amt eingeführt. Schlegel sprach „von dem Rühmlichen in der Beschäftigung der Auferziehung"110, Herder Von der Grazie in der SchuleAuf dem Schulaktus, der am 11. Oktober 1765 zur Einweihung des neuen Rathauses gehalten wurde, hielt er seine Rede über „Publikum und Vaterland", die auf Verlangen des Magistrats später als Einzeldruck erschien.112 Wie schon in Königsberg geht er hier das Problem der Redebildung nicht direkt an, spricht aber bereits Probleme an, die später in der Thematisierung von Rhetorik und Rhetorikunterricht eine zentrale Rolle spielen. Seine Rede über die „Gratie" stellt den ersten Ansatz zu einer umfassenden 106 107 108 109
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Schweder: Die alte Domschule, 37. Vgl. Hollander: Geschichte der Domschule, 65; zu Gesners Kritik s.u. Zur Thematik von Programmen und Reden Hollander: Geschichte der Domschule 61ff. Zu den wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Domschule vgl. Hollander, Geschichte der Domschule, 58. Riga 1765. F A 9 , 2: 147ff. Schweder, Die alte Domschule 38.
ästhetischen Humanitätsbildung dar, ohne daß das Stichwort Humanität schon fiele. Herder betont, daß die „schönen" Wissenschaften sich nicht nur im tradierten Gespann von Poesie und „Oratorie" erschöpfen, sondern grundsätzlich alle Wissenschaften schön, d.h. bildend sein müssen. Er hat diese Thematik später in seinen Weimarer Schulreden eingehend behandelt und dort auch den Zusammenhang zwischen Humanitätsbildung und Redebildung explizit entwickelt. Die Rede über Publikum und Vaterland ist weniger pädagogisch interessant, sondern entwickelt den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Patriotismus vom Modell der antiken forensischen Rhetorik her.113 Der neue Rektor der Domschule, Gottlieb Schlegel, war Herder aus Königsberg bestens bekannt. Sie waren Kollegen am Collegium Fridericianum und als angehende Prediger" 4 gewesen, Schlegel wird in den Jugenderinnerungen des 'Lebensbilds' in der Regel zu Herders näherer Königsberger Bekanntschaft gezählt. Schlegel hatte sich vergeblich auf die Stelle des professor poeseos beworben, die durch Johann George Bocks Tod freigeworden war und erhielt schließlich den Ruf in das Rektorat der Rigaer Domschule, als Lindner von dort wegging, um seine Königsberger Poesie-Professur anzutreten. Aus der Sicht des Rigaer collegium scholarchale besaß Schlegel die besten Qualifikationen: Er besaß den Magistertitel, hatte an der Universität bereits Vorlesungen gehalten und verfugte über langjährige Lehrerfahrung. Schlegel hatte am Collegium Fridericianum die lateinische Prima unterrichtet, dies war an einer gewöhnlichen Schule Aufgabe des Rektors. Schlegel hat den Redebetrieb der Domschule, wie ihn Lindner zur Blüte gebracht hatte, unverändert weitergeführt und ebenfalls seine Einladungsschriften zusammen mit den Reden der Schüler veröffentlicht. In seinen Programmen hat er sich auch zum Rhetorikunterricht geäußert. Sie zeigen, daß in Gestalt von Schlegel der Königsberger Rhetorikbetrieb Herder wieder einholt. Im Examensprogramm vom April 1767 hat Schlegel ausführlich den Lateinunterricht - und damit den Rhetorikunterricht - an der Domschule dargestellt. Die Aufgabenbeschreibung des Konrektors zeigt, daß auch in Riga methodisch Latein- und Deutschunterricht Kehrseiten derselben Sache waren: Er [der Konrektor] läßt aus dem Lateinischen ins Deutsche, und aus dem Deutschen ins Lateinische übersetzen, so daß die Jugend in beyden Sprachen die Feder fuhren lerne. Doch wird sie auch zu eignem Denken in epistolographischen, rhetorischen und poetischen Versuchen beyder Sprachen g e w ö h n e t . " 5
Seinen eigenen Sprach- und Rhetorikunterricht stellt Schlegel folgendermaßen dar: In der lateinischen Sprache liest er mit ihnen Cicerons Reden, Livius Geschichte, Plinius Briefe und Panegyr, und die schwereren Gedichte im Freyer, wobey er sein Augenmerk auf die Entsiegelung des römischen Genius und die Anpreisung einer reinen und wohlklingenden Schreibart in den Prosaisten, so wie auf die Poetick bey den Dichtern richtet. Dieses ist auch sein Ziel in den Exercitien, welche er dadurch reell zu machen sucht, daß er zu ihnen gern eine merkwürdige Anmerkung, Geschichte, oder andere Erkenntnis, oder auch Regeln der Klugheit und des gesellschaftlichen Lebens wählet. Die muthigsten Jünglinge werden zuweilen im Disputieren zum Streit aufgefordert. [...] Die Künste der Redner und Dichter werden ihnen meistens nach seinen eignen
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Vgl. Kap. 5. 1. Vgl. dazu Kap. 3; Gottlieb Schlegel: geboren 1739 in Königsberg , besuchte dort das Collegium Fridericianum, studierte an der Königsberger Universität und arbeitete von 1758 bis 1763 am Collegium Fridericianum als Lehrer; zu Schlegels Tätigkeit am Collegium Fridericianum vgl. Zippel, Geschichte des Königlichen Friedrichs-Kollegiums, 121; er erwarb 1763 an der Königsberger Universität den Magistergrad und hielt dort auch Poetikvorlesungen, (vgl. Kap. 5. 2.) Schweder; Die alte Domschule, 38f.
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Aufsätzen entwickelt, aber auch die zur Aesthetick und den schönen Wissenschaften dienenden Werke, dem Inhalte nach bekannt gemacht. Zugleich übt er sie in allerley Arten von Aufsätzen zur Schärfung des Witzes und zum Gebrauche der Redekunst und Dichtkunst. [...] Zur Uebung im Declamiren haben sie sowohl öffentlich als besonders Gelegenheit. 1 1 6
Die Autorenlektüre, die Übungsformen und die Art, wie Realien im Rahmen des Sprachunterrichts vermittelt werden sollen, zeigen daß Schlegel hier seine pädagogischen Erfahrungen aus dem Friedrichskolleg und in den „eigenen Aufsätzen" seine ersten Vorlesungen an der Albertina verwertet. Herders Aufgaben als Kollaborator und ihr Bezug zum Rhetorikunterricht werden gegenüber dem Lehrplan von 1758 etwas verändert beschrieben: Zu diesen Lehrern kommt noch ein außerordentlicher, der Collaborator, als welcher mit den beyden obem Classen in Stunden nach den ordentlichen Schullectionen fernere Uebungen in der lateinischen Schreibart anstellt, auch sie in die politische und natürliche Geschichte unsers Vaterlandes, und der benachbarten Reiche führet, imgleichen die Geographie mit ihnen wiederholet. Die Schüler der untern Classen bessert er in der Orthographie, Geübtere läßt er ihre Gedanken in Briefen aufsetzen. Er unterrichtet auch die Anfänger und Fortgehenden in der französischen Sprache und den Anfangsgründen der Mathematik. 1 1 7
Es fällt auf, daß dies präzise Herders Lehrpensum am Collegium Fridericianum darstellt, nur Griechisch und Hebräisch muß er hier nicht mehr unterrichten. Herders um 1766 angefertigter Skizze 'Rat vor die Schule' ist ergänzend zu entnehmen, daß in Quarta und Tertia für die ersten Imitationsübungen der Vestibulus des Friedrich Muzelius benutzt wurde.118 Bereits 1768 gab es erneute Änderungen im Lehrplan, Geographie und Naturgeschichte werden jetzt stärker betont. Zum Rhetorikunterricht heißt es: In der Oratorie habe ich Uebersetzungen, Umschreibungen, Beschreibungen, Erzählungen, freundschaftliche Briefe, Briefe an Vornehme, scherzhafte, Sendschreiben, oder über Materien, Abhandlungen, Reden, Gespräche machen lassen; imgleichen in der deutschen Poesie geübt. - Die lateinischen Auetores waren Cicero Orationes, Officio, Curtius, Plinius, Livius, Freieri Fascie oder auch Virgil und Horatius}i9
Auch hier fallt auf, daß Schlegel den Gepflogenheiten des Friedrichskollegs folgt. Die genannten Übungsformen und Autoren entsprechen dem dortigen Lehrplan. Ein konkreter Ausschnitt aus dem rhetorischen Unterricht des Collaborators, der Unterricht in „Orthographie und Epistologie" ist in einer Schülernachschrift erhalten geblieben, die Herders Schüler Liborius von Bergmann 1765 aufgezeichnet hat. Die Handschrift gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil ist Orthographie und Grammatik gewidmet, der zweite Teil der Rhetorik. Er bietet kurze Definitionen zur „Wohlredenheit" und Grundzüge einer deutschen Periodenlehre.120 Das Rigaer Diktat ähnelt in Struktur und Gehalt Herders eigener Nachschrift aus der Mohrunger Zeit. Beide Diktate bieten den im wesentlichen deutschsprachigen Anfangerstoff. Die hier vermittelte deutsche Periodologie als Fundament der Epistolographie (deutsche Rhetorik und Briefschreiben waren praktisch
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Ebd. 39f. Ebd. 40. Friedrich Muzelius: Imitationes Ad Introductionem In Linguam Latinam Sive Vestibulum [...] Flensburg 1736; vgl. FA 9, 2; 185 zur Quarta: „Vestibulus ein gutes Buch"; Herder beklagt allerdings fur die Tertia „tote Übungen nach dem lieben Muzel". Schweder, Die alte Domschule 40. „Kurzgefaßte Grundsätze der deutschen Sprachlehre", 1765; Klassik Stiftung Weimar, Goethe- und SchillerArchiv, GSA 44/164; vgl. die Beschreibung der Handschrift und die Transskription des Rhetorik-Teils im Anhang.
gleichbedeutend) stellt allerdings nur einen Randbezirk des „eigentlichen", d.h. lateinischen Rhetorikunterichtes dar. Die „Abhandlung von den deutschen Perioden" ist in 23 Paragraphen gegliedert. Den Anfang bildet eine kurze Definition der mündlichen und schriftlichen „Wohlredenheit", d.h. des Stils. Rhetorik als Theorie praktischer Beredsamkeit wird hier noch nicht ins Auge gefaßt. Die Schönheit der Rede wird mit den gängigen Stiltugenden definiert: sie soll „richtig 2) deutlich 3) zierlich 4) einnehmend" 121 sein, in den folgenden drei Paragraphen werden dann Sprachrichtigkeit, Deutlichkeit und Zierlichkeit näher bestimmt. In § 5 wird als Grundkategorie der Wohlklang in gebundener und ungebundener Rede eingeführt und indirekt der Prosarhythmus definiert: Zu andern Reden dagegen braucht man meistentheils die ungebundene Schreibart, welche zwar nicht nach einem beständig gleichen Sylbenmaasse abgefasset wird; aber doch auch, durch eine geschickte Abwechslung, langer und kurzer Wörter wohlklingend seyn muß. 1 2 2
Erst jetzt werden in § 6 Rhetorik, Poetik und Prosodie definiert und in § 7 die noch fehlende Wirkungsabsicht des „einnehmenden" ausgeführt. Dies geschehe einerseits durch passende Argumente, andererseits „wenn man die Sache sinnlich vorstellet." Davor heißt es: Sie [die Rede] wird alsdenn rühren, und einen Eindruck in das Gemüth machen, wenn man das angenehme oder unangenehme, das schöne oder heßliche, das nützliche oder schädliche einer Sache recht lebhaft vorstellet, wie man es am stärksten zu empfinden pfleget, und darthut, daß uns die Sache nahe angehet. 1 2 3
Dies ist in Kurzform die klassische Lehre von den argumenta probantia und den argumenta commoventia, wobei zwischen beiden nicht klar unterschieden wird. In § 8 wird mit der logisch-grammatischen Definition des Satzes der Übergang zu Periodologie und Syntax vollzogen. In den drei folgenden Paragraphen werden einfache und zusammengesetzte Perioden, die Unterscheidung von Hauptsätzen, Nebensätzen und Zwischensätzen und die Zeichensetzung innerhalb der Perioden behandelt. § 12 bringt analog zum Mohrunger Diktat die übliche grammatische Einteilung der verschiedenen Periodenarten mit den Artenperiodus causalis (§ 13), consecutiva (§ 14), explanativa (§ 15), conditionalis (§ 16), disiunctiva (§ 17), adversativa (§ 19), exclusiva (§ 20), comparativa ( § 2 1 ) und copulativa (§ 22). Die genannten Folgeparagraphen enthalten die Definition der jeweiligen Periodenart und die Nennung der passenden deutschen Partikel. Der letzte Paragraph bringt unter Bezug auf einige rhetorische Gattungen Maßhaltevorschriften zum Gebrauch von Perioden: In Erzehlungen, Complimenten, Briefen, und affectvollen Stellen grösserer Reden, brauchet man meistentheils, theils ganz kurze Sätze, theils einfache Perioden. In längeren Reden und gerichtlichen Schriften hingegen sind die zusammengesetzten Perioden gebräuchlicher. Soll eine Rede schön und wohlklingend seyn: so müssen einfache und zusammengesetzte Perioden darinn miteinander abwechseln. 1 2 4
Es ist festzuhalten, daß hier nicht Herders eigene Ansichten zu Grammatik und Rhetorik dokumentiert sind, sondern der collaborator den Stoff diktiert hat, der im Lehrplan von Schlegel vorgegeben war. Gerda Mundorf, die als erste auf das Rigaer Diktat aufmerksam gemacht und einige Passagen daraus abgedruckt hat, bezeichnet den Abschnitt zur Ortho-
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GSA 44/164, S. 50. Ebd. 52. Ebd. 54. Ebd. 63 f.
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graphie als „typisch für die Herdersche Lehrart und seine damaligen Ansichten über die deutsche Grammatik" und hält insbesondere das Diktat zur Periodologie für „die schöpferisch gestaltende Verarbeitung der seinem Sprachunterricht zugrundeliegeriden Literatur durch Herder". 125 Diese Auffassung ist weder inhaltlich mit Herders Auffassung noch mit dem minimalen Spielraum vereinbar, den er durch seine Amtspflichten hatte. Die deutsche Periodenlehre ist hier - wie schon in Mohrungen und am Collegium Fridericianum - erster Einstieg und Grundlage für den deutschsprachigen Rhetorikunterricht, also genau das, was er drei Jahre später im zweiten Teil des 'Torso' heftig kritisieren wird.126 Mundorfs Behauptung, daß der Unterricht in Grammatik und Orthographie Herders eigene Initiative gewesen sei, widersprechen die überlieferten Lektionspläne. Die Koppelung von Orthographie und Brieflehre bzw. Periodenlehre als deutschsprachige Rhetorik war in ganz Ostpreußen und im Baltikum lange Zeit üblich,127 die Kombination dieser Fächer gehörte zum Lehrpensum des Kollaborators. Auch stilpraktisch wie -theoretisch deutet das Diktat auf Schlegel, nicht auf Herder. Man sucht die meisten der dort empfohlenen altmodischen Partikel in der Prosa des jungen Herder vergeblich, findet sie aber in Schlegels Schulprogrammen. Einige dieser Partikel zitiert Herder abfallig in einem Entwurf zum zweiten Teil des 'Torso'. Die Beschreibungen in der Rigaer Schulordnung und Schlegels Berichte in den Schulprogrammen zeigen deutlich, daß der Rhetorikunterricht im Wesentlichen von Schlegel nach seinen eigenen Aufzeichnungen gehalten wurde und Herder in seinen Repetitionen diesem Unterricht zuzuarbeiten hatte. Für eine eigene Position war hier faktisch kein Platz.
2. 3. Rhetorikkritik und alternative Konzepte in Riga und im Reisejournal Herder hat seine Kritik an der hergebrachten „Schuloratorie" in aller Offenheit und Schärfe im zweiten Teil des „Torso" und im „Reisejournal" formuliert. Im Gegensatz zu den „Fragmenten", wo die analoge Problematik im Feld der Literatur behandelt wird, hat er diese vehemente Kritik allerdings nie veröffentlicht. Als argumentative Grundstruktur tritt zum einen die polemische Distanzierung von einer modellhaften Gegenposition in Erscheinung, hier die hallische Schulrhetorik, wie sie in Mohrungen, Königsberg und Riga praktiziert wurde. Hier polarisiert Herder und verabschiedet mit allem Nachdruck die kritisierten Zustände. Der institutionelle Kontext zeigt, daß Herders Rhetorikkritik zum Teil bittere Parodie seiner konkreten pädagogischen Erfahrungen ist. Herder zitiert immer wieder ironisch aus seinem eigenen Unterrichtsmaterial. Bereits 1766 fallt in der Skizze Rat vor die Schule das Stichwort „Elende Oratorie". Dort findet sich auch die Bemerkung, in der Sekunda werde den Schülern „Schlechter Styl beigebracht" (FA 9,2; 186). Diese Defizite stehen in scharfen Kontrast zum Ganzen der Humanität und der Nation, die allen konkreten pädago125 126
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Gerda Mundorf: Die Muttersprache im pädagogischen Werk Herders. Berlin 1956, 184f. Vgl. unten, die entsprechenden Passagen bespricht Mundorf 188f., ohne den Widerspruch zwischen Herders Kritik und dem Diktat wahrzunehmen. Zur langen und verbreiteten Verbindung von Orthographie und „Epistologie" als deutschsprachiger Rhetorikunterricht vgl. die bei Langel, Entwicklung des Schulwesens in Preussen, 52 und Paul Schwarz: Die Gelehrtenschulen Preußens unter dem Oberschulkollegium (1787-1806) Bd. 1., Berlin 1910, 32f., 248, 252, 258 u. 264 wiedergegebenen Lektionspläne.
gischen Überlegungen bei Herder die Richtung geben. Seine Art der polemischen Anknüpfung ist in der Rezeptionsgeschichte am stärksten aufgenommen worden und hat das Bild von Herders antirhetorischer Einstellung geprägt. Vollständig wird das Bild allerdings erst, wenn man die zweite bei Herder zu findende Grundstruktur hinzunimmt, seine persönliche Spielart von Dialektik, in der gegnerische Positionen - bzw. Denkweisen und Problemzugänge - aufgehoben und in einer dritten Position vermittelt werden.128 Dies geschieht hier in der Vermittlung von sachlicher und sprachlicher Bildung. Sie werden in seiner Konzeption zu zwei Seiten derselben Sache, nämlich zur Menschenbildung, in der wachsende Kenntnis der Sachen, wachsende Fähigkeit zu Abstraktion und wissenschaftlichem Denken und wachsende persönliche Ausdrucksfähigkeit im Unterricht miteinander verbunden werden und im Wachstum der ganzen Persönlichkeit miteinander verschmelzen. Hier wird nicht Rhetorik an sich verabschiedet, sondern in Auseinandersetzung mit dem neuhumanistischen Verständnis der Rhetorik ein neues Konzept der Redebildung gewonnen, in dem die antike Rhetorik nach wie vor ihren Platz hat. Diese Reintegration einer neuverstandenen Rhetorik ist weniger augenfällig als die polarisierende Verabschiedung der konkret in Herders Umfeld praktizierten Schulrhetorik. Sie ist in der späteren Herderrezeption denn auch kaum wahrgenommen worden.
Der zweite Teil des Torso: Periodologie als pädagogisches Problem Die vielfach bei Herder zu findenden Diskursverschränkungen betreffen auch seine kritische Auseinandersetzung mit der „Schuloratorie". Ihre erste eingehende Reflexion äußert er nicht als Pädagoge - dies hieße in Riga als subalterner Hilfslehrer - , sondern als Literaturtheoretiker, der sich als „ungenannter" Autor seiner Fragmente bereits einen Namen gemacht hat. Diese Reflexion hat in seinem Literarischen Denkmal Über Thomas Abbts Schriften, Der Torso von einem Denkmaal, an seinem Grabe errichtet von 1768 im nicht mehr publizierten zweiten Stück seinen Platz gefunden. Gemeinsamer Hintergrund der Fragmente und der Ausführungen zur Rhetorik im 'Torso' ist Herders intensive Auseinandersetzung mit den „Briefen, die neueste Litteratur betreffend" und die dortigen Briefe Abbts zu Fragen des wissenschaftlichen und literarischen Stils.129 Abbt wird heute als Autor eher unterschätzt, ist aber als Projektionsfigur und Anreger Herders gerade zu rhetorischen Fragen kaum zu überschätzen.130 Herder merkt zu „Abbts Anmerkungen über die D. Sprache." selbst an: „Kein Verf. der Litt. Br. hat solch ein Auge auf den Styl, auf Fehler der Gattung Schreibart, und auf die Ausbildung der Deutschen Sprache in ihren Gattungen, als Abbt".131 Bereits in den Fragmenten hatte er einen Brief Abbts fast vollständig wiedergegeben, um von dort aus seine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Homiletik zu
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Zu diesem für Herder spezifischen Typ von Dialektik vgl. Ulrich Gaier: Einleitungskommentar zu FA 1, 823ff. und Ders.: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, 11 u.ö. Übersicht der relevanten Briefe in Kap. 3 und 5. Gegen die negative Einschätzung Arnolds in DA 10 s.v. Thomas Abbt ist Herders Einleitung zum 'Torso' zu halten: „Zwar hat derselbe keine schreiende Revolution in der Gelehrsamkeit erregt: keine Bibliothek von Folianten geschrieben [...] Allein, was kann ich dafür, daß ich in seinen zerstreuten Gedanken mehr finde, als in den gewölbten Paragraphen, die in Prozession systematisch daher traben:" (FA 2, 565). SBBPK N L Herder I 37, 44 r .
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formulieren. In seiner Rigaer Rede über „Publicum und Vaterland", die eine patriotisch gefärbte Auseinandersetzung mit der antiken Rhetorik als Öffentlichkeitsmodell bietet, lehnt er sich fast wörtlich an Abbts Vorgaben an. Auch im zweiten Teil des 'Torso' reicht die Auseinandersetzung mit der Rhetorik über die pädagogische Fragestellung hinaus. Die Frage nach der „Schuloratorie" wird ausgehend von der Frage nach dem Deutschen als national verbindende Sprache der Prosaliteratur erreicht. In den Abschnitten Über die wahre Prose, der Reprise Über die Prose des guten Verstandes, Über die Verschiedenheit des Lateinischen und Deutschen Perioden und Über die Sprachenmischung thematisiert Herder die Beziehung von Beredsamkeit und moderner Prosa, bestimmt dabei den medialen Ort moderner Beredsamkeit zwischen Predigt und Wochenschriften, untersucht anhand lateinischer und deutscher compositio und der Frage der puritas die Identität des Deutschen und erörtert den (rhetorischen) Stellenwert der Antikerezeption für die deutsche Literatur. Der zweite Teil des 'Torso' wurde nicht veröffentlicht, der Text liegt in drei Fassungen vor. Herder hat Stücke daraus fur die zweite Auflage der Fragmente und für die Kritischen Wälder verwendet.132 Die drei Anläufe, die er genommen hat, veranschaulichen die Problematik der pädagogischen Sprecherrolle, die wegen seiner Stellung als Lehrer eine Veröffentlichung erschwerten: Im Verlauf der verschiedenen Fassungen ist zu beobachten, wie sich Herder immer mehr vom eigentlich pädagogischen Standpunkt entfernt. Die erste Fassung mit dem Abschnitt Ueber die wahre Prose ist wörtlich in die 2. Fassung und den dortigen Abschnitt Über die Prose des guten Verstands eingegangen. Herder verweist dort auf die beiden grundlegenden Instanzen zeitgenössischer Rhetorikpflege, die Abbt in seinen Literaturbriefen immer wieder anspricht, die Deutschen Gesellschaften und die Schule.133 Zunächst konzentriert er sich auf das Problem des schulischen Rhetorikunterrichts anhand der damals üblichen deutschen und lateinischen Periodologie und nimmt dabei zwei verschiedene Perspektiven ein: In der ersten und zweiten Fassung positioniert sich Herder als Pädagoge und kritisiert die übliche Periodologie als falsche Pädagogik. In der dritten Fassung inszeniert er sich als sprachphilosophischer Philologe und behandelt die schulische Periodologie in erster Linie als philologisches Problem. Die Periodologie als falsche Rhetorikpädagogik wird nur als Zugabe thematisiert. Beiden Perspektiven gemeinsam ist die doppelte Grundfrage nach der Wahl der richtigen Sprache und der richtigen Methode, die schon in der Königsberger „Schulmaterie" „Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen" angeklungen war. Hier äußert sich Herder wesentlich dezidierter. In der Sprachenfrage kritisiert er die unhinterfragte Parallelität von Latein und Deutsch. Der Deutschunterricht bzw. der Unterricht in deutscher „Wohlredenheit" findet nur als eingedeutschter lateinischer Rhetorikunterricht statt. Herder reklamiert entgegen der herrschenden Praxis den Primat der Muttersprache. In der Methodenfrage kritisiert er den „Periodenleisten" und die Identität von Epistologie und Periodologie. Vor die Produktion setzt er den Primat des Verstehens. Damit folgt er der 132
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Da die Ausgabe des handschriftlichen Textes in der Edition Suphans (SWS 2, 325ff.) lückenhaft und z.T. willkürlich redigiert ist, ist im Anhang der vollständige handschriftliche Text wiedergegeben, wie er in SBBPK NL Herder 1 37 und 38 vorliegt. I 37 enthält im Abschnitt Über die Prose des guten Verstandes Passagen zum Stilunterricht in der Schule, die Suphan weggelassen hat; außerdem hat er z.T. stillschweigend einen Mischtext aus zwei Redaktionsstufen gebildet; vgl. zur ursprünglichen Reihenfolge der Stücke die Angaben im Anhang. SBBPK NL Herder I 37, 44v.
neuhumanistischen Programmatik, die im philologischen Unterricht eine grundsätzliche hermeneutische Wende vollzogen hatte.
Die zweite Fassung: Von der Periodologie zur Lesemethode In der zweiten Fassung (SBBPK NL Herder I 37, 45 r -49 v ) sind die rhetorikpädagogischen Erwägungen in die Erörterung einer medienpolitischen Grundsatzfrage eingebettet. Herder beginnt mit einer ausfuhrlichen Verortung von Homiletik bzw. Rhetorik und Wochenschriften als grundsätzliche Instanzen einer Aufklärung fur das gemeine Leben. Nach der eingehenden Erörterung des angemessenen Stils für das ungelehrte Publikum, die er im Schlagwort von der „Prose des guten Verstandes" zusammenfaßt und die „schöne Prose" der Lebensaltertheorie in den Fragmenten voraussetzt, folgt der Übergang zum falschen Stil im rhetorischen Schulunterricht, der der Prose des guten Verstandes besonders hinderlich ist. Dabei geht er zunächst das Sprachproblem an, das heißt den verhängnisvollen Primat des Lateinischen: Zuerst setze ich immer die unselige Methode, uns zuerst einen lateinischen Styl geben zu wollen, ehe wir unsre Muttersprache auch nur recht angreifen können. So entstehen jene Redselige Lateiner daraus, denen man nichts weniger, als das Genie ihrer Sprache zur Last legen kann: Man wird mir die Römer einwenden, die sich nach den Griechen bildeten - ja sich ihnen bildeten? und welcher Schulknabe kann das? welcher Schullehrer kanns mit seinem Schüler? So bald sie es können - nicht ihre Denkart in den Römischen Styl verpflanzen, um sie zu mißbilden, zu verunstalten, zu schiefen, sondern sie nach ihrem Genie durch ein fremdes Idiom vollkommen zu machen - wäre j a dies so nehme ich mein Wort zurück. Wo ist aber der Schulknabe, der es mir zurückgeben kann? 1 3 4
Herder setzt sich damit mit einem Standardargument bei Gottsched und den Neuhumanisten auseinander, daß gerade die intensive Beschäftigung mit dem Stil der klassischen Autoren die deutsche „Schreibart" besonders ausbilde. Grundsätzlich erkennt er dies an, rühmt er doch Abbt zu Beginn des zweiten Teils des Torso nach, er sei „unter den Alten erzogen".' 35 Im ersten Teil hatte er Abbt zum Musterbild des „idiotistischen" Schriftstellers stilisiert, der ganz mit den „Alten" lebt und gleichzeitig ganz dem Genius der eigenen Sprache und Denkungsart folgt. Hier setzt er sich von der schulischen Praxis ab, die durch den Versuch einer Bildung an den Alten das Gegenteil erreicht und eigene Sprache und eigenes Denken verkümmern läßt und die Schüler seelisch verkrüppelt. Die stilistische imitatio der Schule ist individuelles und sprachliches Identitätsproblem: durch die hergebrachte Methode wird die eigene Identität nicht entwickelt, sondern verdorben. Nach dem Sprachproblem widmet Herder sich dem vordringlichsten Methodenproblem, dem schulischen „Periodenleisten": Man fängt endlich deutsche Stylübungen an: aber Unglück gnug, daß die elende Form den ganzen Einguß verderben muß: und diese Form ist der Periodenleisten. Ihm zu folge wird nun der vortrefliche Kunstgrif gezeigt, einen magern Satz zwischen Comma, Colon, Semicolon und Punkt, zu [sie] einzuspannen, und an diesen Auxiliar prüfen, wie an eisernen Torturstäben ihm alle seine Glieder von einander zu zerren - der vortrefliche Kunstgrif durch zwei Sintemal und dieweil alles zu zerreißen, und aus dem ganzen Gedanken eine ungeheure
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Ebd. 48"; vgl. zu Umschrift und Auszeichnung des Textes die Wiedergabe im Anhang. Streichungen sind hier weggelassen, Einfügungen stillschweigend aufgenommen. Ebd. 41'.
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Luftblase zu machen, die man Pneuma nennt, und recht würdig aussieht. Jener Schulknabe hält eine Rede, von der er nichts verstand, er sagte sie aber laut, und dreust her: (48 v )
Der kurze Abschnitt entfaltet und parodiert die ganze Welt Freyersch-Schlegelscher Rhetorikpraxis: Die eigentlich veralteten, aber pädagogisch unliebsam aktuellen Partikel „sintemal" und „dieweil" sind Zitate aus dem Rigaer Diktat.136 Die „Luftblase", „die man Pneuma nennt", ist ein Wortspiel mit den Begriffen der schulrhetorischen compositio. Dort wird eine Periode mit mehr als vier kola Pneuma genannt.137 Der „vortrefliche Kunstgrif verweist auf die Warnung in Ernestis Rhetorik, der häufige Gebrauch langer Perioden wirke gekünstelt.138 Dort wird auch der Name erklärt: pneumata können (im Gegensatz zu den taseis) noch in einem Atemzug vorgetragen werden. Da der Begriff im untechnischen Gebrauch sowohl „Atem" als auch „Geist" bedeuten kann, ist klar, daß die längsten „atemreichsten" Perioden dank intensiver schulischer Praxis auch die geistlosesten sind. Das Stichwort „dreust" schließlich verweist auf den Sprachgebrauch des Lehrplans für das Friedrichskolleg, wo zur actio ausgeführt wird: Weil es auch nöthig ist dahin zu sehen, daß die Schüler nicht nur das Gedächtniß mehr und mehr verbessern; sondern auch nach, und nach, einige Dreistigkeit im Reden zuwege bringen mögen: so werden zuweilen ihre Elaborationes, nachdem sie corrigiret sind, mehrentheils aber kurtze Reden aus den bewährtesten Scribenten, damit sie das allerbeste ins Gedächtniß bringen, von ihnen auswendig gelemet; welche Reden denn auch wohl von einigen ins Deutsche, oder in lateinische und deutsche Verse übersetzet werden. Des Mittwochs und Sonnabends werden dieselben in loco libera recitiret: damit die gantze Stellung des Leibes gesehen, und die Action recht eingerichtet werden könne. 1 3 9
Herder parodiert diese „sorgfältige" Beachtung der körperlichen Beredsamkeit, da auch hier das Verständnis vernachlässigt wird. Der krönende Abschluß falscher Methodik ist die Imitation von Geliertbriefen fur den Briefunterricht: Und nun genade Gott das Gehirn! die Martialische Periodenschreibart soll mit einmal schön und süß werden: von Period und Chrie steigt man mit einemmal zu - Gellerts Briefen: ein starker Sprung! Will nicht jemand dem Springer die Hand reichen, daß er nicht Arm und Bein breche. Nun lernt der steife Periodenhumanist auf Gellerts dämmernde Art zu unterhalten: er lemt lauen Scherz, und matte Ein- und Uebergänge, schleichende Complimente: und da ihn der Sparre seines Perioden noch immer im Auge steckt: so wird die Schreibart wie anders als gerädert und recht grausam schön. [...] (49 r )
Ohne daß er es bereits auf den Begriff bringt, befindet sich Herder hier in der Nähe des Kraft-Konzepts der Kritischen Wälder, das er erst im Reisejournal explizit auf den schulischen Rhetorikunterricht überträgt. Die Signalworte „dämmernd", „lau", „matt" und „schleichend" veranschaulichen, wie durch jahrelange Stildressur aus der muttersprachlichen Kompetenz der Schüler jegliche natürliche Kraft gewichen ist, die man in der Sprache des täglichen Umgangs erwarten sollte: Wenn nun aus diesen Kindern Leute werden, die da lesen, die selbst schreiben - wie werden die Bücher seyn sollen, die sie lesen? die sie schreiben? Und wie mißlich wird es also mit der Bücherschreibart aussehen? Nun komme noch ein Thor, der auch den Geschäftstyl, die einzige Wohnstatt des ungekünstelten Verstandes,
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Vgl. ebd. § 13. Vgl. Freyer, Oratorio, S. 5, § 4. 138 Vgl. Johann August Emesti: Initia rhetorica. Leipzig 1769, § 373, S. 872: deinde, ne sint continentes ac nimis frequentes: habet enim aliquant affectationem artificii, et fatigat. (Die hier zitierte Auflage von 1769 ist textgleich mit der von Herder Benutzten Erstauflage von 1750) 139 Klemme, 83, Hervorhebung von mir. 137
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verderbe - der uns Handlungsbriefe etc. nach Gellertschen Mustern gebe, und auf seinen Negotianten böse, recht sehr böse ist - laß endlich ein solcher Styl, der steif tändelt, und ohne Gelenke scherzt, die Schreibart des gemeinen Lebens werden: so werden wir bald einander ansehen müßen: „Bruder! ist diese Kappe mit Schellen dein, oder mein?["] (49 r )
Hier parodiert Herder erneut seinen eigenen Stilunterricht am Friedrichskolleg, denn Gellerts Briefsteller war dort das Epistolographielehrbuch. Die Unterrichtsmaterialien in seinen Studienbüchern enthalten unter anderem in verschiedenen Fassungen („Ich bin böse auf Sie, ich weis zwar nicht, ob ich soll, aber genug, ich bin böse" „Ich bin böse auf Sie, ohne recht zu wißen, ob ichs soll") gerade diesen Gellertbrief. 140 Obwohl er die Anwendung Gellerts kritisiert, bemerkt er zu Recht: „Wer glauben kann, daß ich Gellerts Briefe an sich tadeln oder verdrängen wolle: mag es glauben - wer kann sich solchen Leuten erklären?" (ebd.) Denn er greift sowohl die pädagogische Perspektive als auch die Methodisierungskritik auf, die sich schon bei Geliert selbst findet. In der „praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen", die zu Gellerts Briefsteller gehörte, heißt es: Alle die künstlichen Methoden, nach welchen uns unsre Briefsteller gemeinglich lehren wollen, wie man einen Brief ordnen, und seine Gedanken in gewisse Behältnisse zwingen soll, in die sie sich meistentheils nicht schicken, sind niemandem anzupreisen. [...] Die Erfinder dieser Künste haben es unstreitig gut gemeynt; aber ihre gute Meynung, jungen Leuten das Briefschreiben zu erleichtern, hat vielleicht mehr Schaden angerichtet, als wenn sie die schlimmste Absicht gehabt hätten. 141
Die „Behältnisse" bzw. der Periodenleisten, die Herder seinen Schülern beibringen mußten, sind in den Mohrunger und Rigaer Diktaten dokumentiert. Sie machen anschaulich, wie Stil nicht durch den Kontakt mit antiken Stilvorbildern, sondern mit antikefremder Methodik vermittelt wurde. Herder bleibt in der zweiten Fassung nicht bei bloßer Kritik stehen und schlägt als Alternative eine an Gesner und Martin Ehlers142 erinnernde Lesemethode vor. Sie sichert den Primat des Verstehens, vermündlicht den Schreibstil und ist der Entwicklung des Kindes gemäßer. Die Schüler bekommen zuerst vorgelesen, werden im Hören geschult, lesen selbst und kontrollieren über das Ohr, schreiben dann erst, lesen wieder vor und hören wieder kontrollierend: Ist der Knabe einmal so weit, daß er durch das öftere lebendige Vorlesen seines Lehrers, Ohr bekommen hat, Schönheit und Mangel und Auswuchs und Numerus, und Wendung zu fühlen: und ist das Urtheil des Ohrs einmal zur Vestigkeit gediehen: wird der Knabe so dann weiter geübt, daß er auch Mund bekommt, um alle Gattungen des Vortrages mit jener biegsamen Zunge zu lesen, daß die Zunge selbst zu denken, zu empfinden scheint - nun erst laß dieser Knabe schreiben lernen: laß ihn, in dem er schreibt mit seinem stolzen Ohr hören: indem er schreibt, mit seiner stolzen Zunge lesen: bekommt dieser Knabe nicht Schreibart, so bekommt es keiner in der Welt. (49 r -49 v )
Herder weist nachdrücklich auf die bleibende Prägung durch den Schulunterricht hin, die sich später nicht mehr korrigieren läßt: „Und desto unwiederbringlicher ist der Schade, weil nach gewißen Jahren wenn einmal Ohr und Zunge gehärtet ist, Kunst und Mühe zu spät kommt." (49 v )
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SBBPK NL Herder XX 188 90f. Geliert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung, 49f. Zur Redemethodik bei Ehlers vgl. unten.
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Leitmotiv der zweiten Fassung und später im Reisejoumal ist die Umkehr der üblichen praktischen Prämissen: was normalerweise zuerst kommt, kommt bei Herder zuletzt. Die Stilpädagogik wird vom Kopf auf die Füße gestellt, die Periodologie ist nicht mehr Einstieg, sondern Schlußpunkt der Rhetorik, nicht mehr „unentbehrliches" Fundament, sondern Spezialwissen fur die angehenden Gelehrten: Auf den zweiten Weg stoßen wir von selbst, wenn wir nur eben den entgegengesetzten Weg nehmen, als der gemeine ist: denn in wieviel Fällen trift man auf das Gute, wenn man das Gegentheil vom Gewöhnlichen nimmt. Statt nemlich vom Perioden anzufangen, laße man ihn zuletzt, und setze sich, die einzige Ordnung: der Knabe muß hören, was er versteht, lesen, was er hören, und schreiben, was er sagen kann. Offenbar wird hier also die Schreibart, die sich der Sprache des Lebens nähert, und am weitesten vom Bücherton absteht, die erste: und so wird eine kleine Geschichte, in der ein nacktes Gespräch mit unter läuft: eine simple Beschreibung und Erzählung deßen, was er siehet, und höret, das erste: jede witzige Einkleidung in Briefe und d[er]gl[eichen] wenn sie nicht blos Geschäftschreiben sind, setzen viel voraus: und der Rednerperiode ist eben das Letzte von allen, ein Spätling, deßen die meisten überhoben werden können, j a deßen viele überhoben werden müßen: weil Redner- und Geschäftstyl die beiden Enden der Prose sind, die sich selten zusammenbiegen laßen. (49 v )
Der Periodenhumanismus der Schule und die „ungelehrte" Sprache des gemeinen Lebens treten nun auch methodisch auseinander. Damit wird die gelehrte Periodologie nicht nur auf die Bedürfnisse der Ungelehrten bezogen, Herder entwickelt damit auch ein stilpädagogisches Konzept, das ohne rhetorische Begrifflichkeit und Methodik auskommt. Durch die überdeutlichen Anspielungen auf die Königsberger und Rigaer Verhältnisse hat er sich allerdings davon abhalten lassen, diesen Ansatz zu veröffentlichen. Stattdessen hat er eine neue Fassung erarbeitet, in dem das Problem auch terminologisch wieder von philologischrhetorischer Seite behandelt wird. Der institutionelle Kontext des „Torso" zeigt, daß das Gegenteil von Hayms Vermutung der Fall ist, Herder könne hier Einblick in seine eigene Lehrmethode geben.143 Wahrscheinlich konnte er diese Methode unter dem Rektorat Schlegels keineswegs in die Praxis umsetzen. Die vorgeschlagene Methode hätte auch nur durch Reform des gesamten Lehrplans bzw. der ganzen Schule umgesetzt werden können. Diese grundsätzliche Reform hat Herder dann im Reisejournal ausfuhrlich entwickelt.
Die dritte Fassung: Periodologie als philologisches Problem In der dritten Fassung ist die pädagogische Problematik in eine sprachphilosophische Diskussion eingebettet. Im Abschnitt „Ueber die Verschiedenheit des lateinischen und deutschen Perioden"144 entwickelt Herder in der Rolle des philosophischen Philologen ausführlich einen geschichtlichen und strukturellen Vergleich zwischen lateinischer und deutscher Sprache. Ausgangspunkt ist Abbts Rezension zu Johann Michael Heinzes Übersetzung des Cicero-Dialogs De oratore.145 Abbt hatte die Übersetzung zwar gelobt, aber anhand einer umfänglichen Detailkritik ausführliche Reflexionen über den Unterschied zwischen lateinischer und deutscher Sprache und zum Status antiker und moderner Beredsamkeit entwik-
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Haym 1, lOOf. SBBPK NL Herder I 38, 27 v -31 v . Marci Tullii Ciceronis Drey Gespräche von dem Redner. Aus dem Lateinischen übers, von Johann Michael Heinze. Helmstedt 1762.
kelt. Heinze hatte im Anhang zu einer Übersetung von Cicero- und Livius-Reden ausführlich auf Abbts Kritik geantwortet.146 Herder antwortet hier auf Heinzes Entgegnung und verteidigt Abbts Standpunkt gegen Heinzes Kritik. Er spielt dabei in einem quasi Lessingschen Verfahren die Autoritäten Heinzes, hier hauptsächlich die Rhetorik und verschiedene Schulschriften Ernestis mit den dazugehörigen antiken Autoren, gegen ihn selbst aus. Im Ganzen gesehen respektiert Herder trotz aller Detailkritik Heinzes pädagogischen Ansatz, denn am Schluß kehrt Herder wieder in die Gefilde der Pädagogik zurück. Er bittet Heinze, seine Gründe unparteiisch zu prüfen, da mir die Sache mehr, als eine bloße Schulfrage, als der Canon zu allen Lateinischen Uebersetzungen, als eine Regel aller Schulübungen, und als ein Unterscheidungsmerkmal zweyer Haupt-Sprachen gilt, von deren richtigen Gebrauch so vieles in unsrer Gelehrsamkeit und im gelehrten Unterricht abhängt.
Herder erklärt seine Absicht „die Vorurtheile unsrer lateinisch deutschen Stylisten" zu zerstören, die Schuljugend „von dem schädlichsten und recht unterjochenden Zwange" zu befreien und „die ganze Periodologie in unsern werthen Schulrhetoriken unsrer Sprache angenehmer" zu machen. (28 r -28 v ) Auch hier bildet das Sprachenproblem und der geforderte Primat der Muttersprache den Beginn. Herder unterscheidet von seinem philologischen Standpunkt aus genau zwischen der Periodologie als angemessener altsprachlicher und sinnloser und schädlicher muttersprachlicher Stilmethode: Wozu also unsre Periodische Schulübungen fiir unsre Sprache? Für die Griechische und Lateinische, um den Perioden der Alten in aller seiner Pracht zu fühlen, (und wenn man will in diesen Sprachen selbst nachzuahmen,) sind sie unentbehrlich: aber fur unsre Deutsche Wohlredenheit - unausstehlich fremde. Als eine Grammatische, Logische, und Antiquarische Uebung vortreflich; in Erklärung der Alten sehr behülflich; aber als Deutsche Schulübung, als erste Deutsche Redübung, als Regel des Wohlschreibens, und Uebersetzens - sind sie ein unterdrückendes Joch. Was hilfts einem fähigen Züglinge, daß er seine Sprache erbärmlich ausrecken [lerne], was hilfts einem mühsamen Uebersetzer, daß er den Cicero in seine Sprache periodisch einstoppele; die Zierde, die Harmonie, das Wohlgereimte des Lateins wird er nie erreichen, sich selbst, und seine Mundart und unser lesendes Ohr quälen? Wenn Schüler und Uebersetzer von ihrem Alten lieber Materie als Form, lieber den Inhalt, als den Bau der Schreibart widernatürlich ihrer Sprache nachahmten: freilich, so würde ihnen die Weisheit, der der Wohlklang des Denkens Vorbild, sie, so viel möglich, in die Form ihrer Sprache zu gießen; jetzt ists umgekehrt: ( 3 Γ )
Hier klingt wieder die Umkehrung der schulischen Prioritäten an, die Herder in der zweiten Fassung zum Prinzip gemacht hatte. Periodologie als Fundament einer deutschsprachigen Rhetorik, wie es z.B. besonders deutlich in der Oratorie Freyers greifbar ist, wird mit aller Schärfe abgewiesen: Und steht nicht auf diesem Periodengrunde das ganze Gebäu unsrer Schuloratorien? Eben hieraufbauet man j a alles, und weiß nichts beßers, als nach einer Undeutschen Periodologie eine so Gott will! schöne Ausschmükkung des Perioden durch Tropen und Figuren anzupreisen. Dieser Auskehricht nimmt den ersten und wichtigsten Theil der Redekunst ein, und endlich werden die Arten der Schreibart, Brief, Dialog, Erzählung und.s.w. als etwas sehr entbehrliches dazu gethan, da sie doch alle, sämtlich und sonders, nicht auf den Periodengrund paßen, da dieser alles in ihnen verderben muß, da jedes von ihnen seinen eignen Boden haben, und als ein eigner besondrer Vortrag der Denkart betrachtet werden sollte. (31 v )
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Marci Tullii Ciceronis XIV auserlesene Reden nebst einer Ausgabe Livianischer Reden und einem Anhange dreyer Briefe herausgegeben von Joh. Michael Heinze. Lemgo 1767; darin v.a. 559ff. „Erster Brief: Von der Absicht eines Uebersetzers der Alten: von deutschen Perioden: obs eine deutsche Beredsamkeit gebe?" und 579ff. „Andrer Brief: Vertheidigung des Germanismi."
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Hier greift er wieder - diskreter als in der zweiten Fassung - auf seine eigenen pädagogischen Erfahrungen zurück, in der jede Übungsform auf Perioden und Chrien hinauslief. So sehr die Periodologie ihre grundsätzliche Berechtigung im Lateinunterricht hat, so wenig ist sie für eine muttersprachliche Bildung geeignet: „ - als eine Kunst zur Bildung gar unausstehlich: so ist unsre Redekunst". 147 Herder übt allerdings auch Kritik am wissenschaftlichen Wert der eingeführten lateinischen Schulrhetoriken: *) Einen Theil davon muß ich auch von unsern Lateinischen Oratorien sagen, die zuerst die Periodologie so weitläuftig und meistens so verworren vortragen; nachher mit einmal die Gattungen der Schreibart, Attisch, Rhodisch, Lakonisch, Asiatisch, abhandlen, ohne davon zu träumen, wie dies mit dem vorigen einschlage: alsdenn Briefe, und Reden, die man nicht mehr hat, Gespräche und Erzälungen vorschreiben, ohne wieder daran zu denken, wie dies mit dem Perioden und mit dem Atticismus paße; so ist das ganze Gebäude zusammengeflickt, wie ohngefahr die Worte des Titels: elementa stili cultioris.
Schon in seiner Miller-Rezension von 1766 (FA 9,2; 182) hatte er den „mittelmäßigen" Heineccius getadelt. Wenn er hier die Periodologie als Fundament deutscher und lateinischer „Oratorien" beklagt, setzt dies die sprachphilosophische Erörterung der Periodologie voraus, die Herder ausführlich vor der eigentlich pädagogischen Thematik entwickelt. Er unterscheidet dort das „Periodische" des Deutschen von der sprachästhetischen Periodik der Antike, in der Sinn und Klang wirkungsmächtig zusammenfinden. Herder mußte sie erst selbst bei Gesner und Ernesti entdecken, denn die Periodologie, die er selbst in der Schule gelernt hatte und seinen Schülern zu vermitteln hatte, war keine vollständige Theorie der compositio, sondern eine logisch-grammatische Periodologie, die Argumentationsform, Satzbauplan und Textbaustein zugleich war und mit der historisch rekonstruierbaren Periodik der Antike kaum etwas gemein hatte. Im Gegensatz zur zweiten Fassung verzichtet Herder am Schluß explizit auf eine pädagogische Alternative: „Ohngeachtet aller vortreflichen Verbeßerungen konnte Geßner bei diesem halbklugen Werke [den fundamenta stili cultioris] doch das Gebäude nicht rücken - und wer wird sich die Mühe nehmen, unsere gemeine Schuloratorien zu ändern?" (31 v ) Gesner hatte sich mit seinen Exkursen und seinem ausführlichem Kommentar diese Mühe genommen, an der Struktur der „Schuloratorien" änderte das natürlich nichts. Vom rein philologischen Standpunkt aus ist der Verzicht auf eine praktische Alternative akzeptabel, denn eine „wissenschaftliche" Alternative war mit den Theorien von Gesner und Ernesti und vor allem durch die neuerschlossenen Quellen längst da. Dieser Zug ist symptomatisch fur Herders Generation und die nachfolgenden Theoretiker: die Reflexion von Rhetorik und der Blick in die antiken Autoritäten tritt neben und schrittweise an die Stelle der herkömmlichen Lehrbuchtheorie. Interessanterweise wird der rhetorikkritische Impetus der Argumentation dadurch geschwächt. Herders Gegenkonzept muttersprachlicher Rhetorik aus der zweiten Fassung hatte gezeigt, daß der Pädagoge ohne die rhetorische Begrifflichkeit auskommen und damit den theoretischen Rahmen der Rhetorik wirklich verlassen kann. Der Philologe kann dies nicht, weil sein Problem sonst nicht mehr diskutierbar ist. Damit ist die pädagogische Kritik, die der philologischen Erörterung noch angehängt wird, erheblich eingeschränkt. Die Entschuldigung für die Behandlung einer „Schulmaterie" ist Mimikry: Herder versucht, den pädagogischen Impetus hinter der Souveränität des Philologen zu verstecken, mit der er in bester rhetorischer aemulatio-
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Ebd.
Tradition noch Ernestis philologische Souveränität überbieten möchte. Auch hier „wartet" der Text auf die wirkliche Alternative ein kompletten Schulplans, wie ihn Herder dann im Reisejournal entwickelt hat.
Kritik und Neuentwurf von Rhetorik im Reisejournal Als Herder Riga verließ, hatte er Aussicht auf die Adjunktur und spätere Nachfolge bei Loder, dem Rektor des Rigaer Lyzeums, das von der Livländischen Ritterschaft unterhalten wurde.148 In diesen Zusammenhang gehört der Entwurf einer livländischen Nationalschule im Reisejournal. Hier kritisiert er nochmals die Rigaer Verhältnisse und legt einen umfassenden pädagogischen Neuentwurf vor, in dessen Zentrum ein muttersprachlich ausgerichtetes Konzept der Redebildung steht. Der Schulplan und dessen pädagogische Programmatik setzen die breite Diskussion des Lateinischen als wissenschaftliche und schulische Sprache und die Kritik des lateinischen Imitationsbetriebs in den Fragmenten voraus.149 Daneben verarbeitet er die redepädagogischen Vorstöße aus dem zweiten Teil des Torso und die ästhetische Krafttheorie aus den Kritischen Wäldern. Ihr verdankt die Rhetorik im Reisejournal als lebendige „Sprachenergie" ihre philosophische Dignität.150 Zu Beginn entfaltet Herder eine rousseauistische Programmatik, in der pädagogische, gesellschaftliche und politische Reform ineinandergeblendet werden: Dies Alles mit Gründen der Politik, mit einem Vaterlandseifer, mit Feuer der Menschheit und Feinheit des Gesellschaftlichen Tons gesagt, muß bilden und locken und anfeuren. Und zu eben der Denkart will ich mich so lebend und ganz, als ich denke und handle, erheben. Geschichte und Politik von Lief- und Rußland aus, studieren, den Menschlichwilden Emil des Roußeau zum Nationalkinde Lieflands zu machen, das, was der große Montesquieu für den Geist der Gesetze ausdachte, auf den Geist einer Nationalerziehung anwenden und was er in dem Geist eines kriegerischen Volks fand, auf eine friedliche Provinz umbilden. (FA 9, 2, 36f.)
Sein pädagogischer Musenanruf „O ihr Locke und Roußeau, und Clarke und Franke und Heckers und Ehlers und Büschings!"151 zeigt allerdings, daß der rousseauistische Zug im Reisejournal nicht überschätzt werden darf. Eher könnte man sagen, daß sich die philosophische Vehemenz von Rousseau, die pädagogische Substanz aber von Gesner und Ernesti herleitet. Dies zeigt zunächst ein Blick auf Herders synthetisierende Betrachtungsweise. Im gleichen Atemzug mit Rousseau erscheinen auch die Heroen realistischer Pädagogik wie Francke und Hecker und als Beispiel philanthropistischer Aufgeschlossenheit in Sachen Rhetorik Martin Ehlers. Er gehört zum frühen Philanthropismus, war Gesnerschüler, Rektor der Schule in Segeberg und hatte Herder durch seine Empfehlung die Berufung zum Rektor der Petrischule in Petersburg eingebracht.'52 In dieser Zusammenstellung treten das kritische und das konstruktive Moment zusammen: während der rhetorikkritische Rousseau den
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Vgl. Jegör von Sivers (Hg.): Herder in Riga. Urkunden. Riga 1868; N D Hannover 1973, 57; vgl. Haym 1, 332f. Vgl. Kap. 5. 2. Vgl. Kap. 4. 4. FA 9, 2; 37. Zu Ehlers vgl. jetzt Jürgen Overhoff: Die Frühgeschichte des Philanthropismus (1715-1771). Konstitutionsbedingungen, Praxisfelder und Wirkung eines pädagogischen Reformprogramms im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 2004; diese grundlegende Studie erschien erst nach Abschluß des Manuskripts.
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Weg zu einer „natürlichen" Bildung weist, hat Ehlers in seinen „Gedanken von den zur Verbesserung der Schulen nothwendigen Erfordernissen"' 53 eine pädagogische Konzeption vorgestellt, die sowohl die Probleme aufgreift, die Herder beschäftigten, als auch neuhumanistisch anmutende Lösungen anbietet - darunter auch Methoden der Redebildung. Ehlers widmet sich zunächst den Unterrichtsgegenständen und behandelt dabei ganz zeitgemäß das Sprachproblem. Dem Deutschen wird der höchste Stellenwert beigemessen 154 , dann folgt das Lateinische, dessen Wert er für unstreitig hält. Modern bzw. philanthropistisch gefärbt ist sein Eintreten für Englisch und Französisch als reguläre Schulfacher, neuhumanistisch seine Kritik an der allgemeinen Vernachlässigung des Griechischen. Das Griechische ist allerdings den modernen Fremdsprachen nachgeordnet. 155 Ehlers hat bei Englisch und Französisch in erster Linie die praktischen Erfordernisse, beim Griechischen die ästhetische Qualität der Sprache im Auge. Neuhumanistisch und im Sinne Baumgartens auf der Höhe der Zeit ist auch die deutliche Kennzeichnung der „schönen Wissenschaften" als humaniora, die Wissenschaften, die „alles das in sich fassen, wodurch ein Mensch vorzüglich ein Mensch" ist und „wodurch die untern Kräfte der Seele ausgebildet und verschönert werden, und welche nur die Vollkommenheit und Schönheit der sinnlichen Erkenntniß zum Gegenstande haben." 156 Diese Auffassung wird Herders Beifall gefunden haben, die Tatsache, daß Ehlers die damals weitverbreiteten Lehrbücher von Batteux für die schönen Wissenschaften zugrundelegen möchte, wahrscheinlich weniger. 157 Ehlers räumt der Beredsamkeit und der dazu nötigen Schulung einen hohen Stellenwert ein und empfiehlt eine an Herders TorsoRezept erinnernde Methode, mit dem Lesen und Deklamieren von Lektürestellen zu beginnen. 158 In einem Musterstundenplan sind Philosophie nach Gesners isagoge oder Ernestis initiis, die schönen Wissenschaften nach Batteux, Home und Baumgarten und eine Stunde „Anweisung zur Redekunst" vorgesehen. 159 Ehlers Stundenplan hat Herder praktisch vor Augen geführt, wie eine gesamte Schule zeitgemäß organisiert werden konnte.
Von der lateinischen Rhetorik zur muttersprachlichen Redebildung Das Reisejournal bietet zunächst die Fortführung und Zuspitzung des Konzeptes muttersprachlicher Redebildung. Seiner früheren Kritik im Torso entsprechend, beseitigt Herder in seinem Schulplan den üblichen Primat des Lateinischen: „das PapistischGothische, das die Lateinische Sprache zur Herrscherin macht, wird weggenommen." 160 Er folgt der Argumentation Gesners, daß nur die künftigen Gelehrten Latein wirklich brauchen und richtet 153
Altona und Lübeck 1766. Ebd. 11-13. 155 Ebd. 13ff. und 25ff. 156 Ebd. 37; Herder wird später in seiner Preisschrift über den Einfluß der schönen in die höheren Wissenschaften eine fast gleichlautende Konzeption vertreten. 157 Ebd. 47; zu Herders kritischer Einstellung zu Batteux, der in den Übersetzungen von Ramler und Schlegel zu den meistverbreiteten Lehrbüchern der „schönen Wissenschaften" und damit auch der Rhetorik zählte vgl. die Rezension von 1772 (FA 2, 7 5 I f f ) und die Instruktionen zur Weimarer Schulreform (FA 9,2; 626). 158 Ebd. 47ff und 53. 159 Ebd. 206f. 160 F A