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German Pages [547] Year 2023
Wiener Galizien-Studien
Band 5
Herausgegeben von Christoph Augustynowicz, Kerstin S. Jobst, Andreas Kappeler, Andrea Komlosy, Annegret Pelz, Dieter Segert, Olaf Terpitz, Tatjana Thelen, Philipp Ther und Alois Woldan
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Larissa Cybenko
Galizischer Text Mehrdimensionalität in der vielsprachigen gemeinsamen Erzählung eines Raumes
Mit 7 Abbildungen
V&R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des DK Galizien der Universität Wien und des Wissenschaftsfonds FWF. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: »Galizische Landschaft im Sommer«. Foto von Yurko Dyachyshyn aus dem Projekt TERRA GALICIA: Es ist ein »unentdecktes« und unerforschtes Land, obwohl es in der Nähe liegt. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2626-272X ISBN 978-3-7370-1299-7
Inhalt
Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Einleitung: Pluralistische Wirklichkeit Galiziens. »Galizischer Text« als ihre narrative Verkörperung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
I. Naturraum Galizien Ad imperii marginem: Galizien aus der Perspektive des Reisens in der Epoche des Josephinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Die Aura einer Berglandschaft in Galizien: Die ukrainischen Karpaten .
99
II. Sozialraum Galizien Verortung der Juden im Sozial- und Kulturraum Galizien in den Reisebriefen von Franz Kratter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
»Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
»…diese merkwürdige Provinz«: Eine galizische Kleinstadt im Zuge der Modernisierung. Fiktionale Raumentwürfe von Ivan Franko und Bruno Schulz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
Das räumliche Modell Galizien als ein Transitraum . . . . . . . . . . . .
171
6 Die Schenke als Heterotopie und Nicht-Ort im Transit: Zum intertextuellen Topos der galizischen Literatur . . . . . . . . . . . .
Inhalt
189
III. Kulturraum Galizien Grenzverwischungen und Grenzübergänge: Literarische Prozesse in multikulturellen Regionen Europas am Beispiel der »galizischen« Prosa Leopold von Sacher-Masochs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
209
Kulturelle Symbiose Galiziens im Werk von Karl Emil Franzos . . . . . .
223
Literatur als Erkenntnis einer verschwundenen Welt Galiziens. Westen versus Osten in Der Pojaz von Karl Emil Franzos und Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens von Alexander Granach . . . .
237
Die narrative Konstitution der kulturellen Übersetzbarkeit: Heterogenität und Hybridität des Kulturraums Galizien in der Lebensbeschreibung von Alexander Granach . . . . . . . . . . . . . . . .
259
IV. Galizien im Umfeld des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit Inszenierung des Raumes Galizien im Zeichen des Untergangs der k.u.k. Monarchie: Joseph Roth und Andrzej Kus´niewicz . . . . . . . . .
275
Die gerichtete Landschaft: Galizische Ukrainer in der Gefechtswelt des Ersten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
Die Zerstörung der jüdischen Welt Galiziens im Blutrausch des Ersten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
315
Das Galizien der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen von Joseph Roth und Alfred Döblin . . . . . . . . .
331
V. Natur-, Sozial- und Kulturraum Galizien als Gedächtnisraum Landschaft der Er-Innerung: »Das ganz persönliche Galizien« der Phantasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Inhalt
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Das Schaffen von Joseph Roth und Soma Morgenstern als Interferenzmuster der geschichtlichen, geographischen und sprachlichen Komponente Galiziens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367
Galizien als Natur-, Sozial- und Kulturraum der erzählten Welt von Soma Morgenstern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379
VI. Rückkehr Galiziens Geopoetische Bezüge zum Habsburger Erbe im Schaffen von Jurij Andruchovycˇ als Überwindung der politischen Beschränkungen und Teilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Transformationen eines mitteleuropäischen Kulturraumes im 20. Jahrhundert: Ihre narrative Konstitution in der gegenwärtigen Galizienliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
VII. Literarischer Freiraum Galizien: Neubewertung Ivan Franko und die Wiener Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
445
Jüdische Avantgarde als ein »repräsentativer Kulturbestandteil« Galiziens: Die dichterische Kunst der Debora Vogel . . . . . . . . . . . .
469
Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität in der vielsprachigen gemeinsamen Erzählung einer historischen Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
507 507 513
Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ortsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
535
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Danksagungen
Dieses Buch ist auf der Grundlage meiner 2015 an der Universität Wien abgeschlossenen Habilitation entstanden. Allen voran danke ich Alois Woldan für die jahrelange fachliche Begleitung meiner wissenschaftlichen Arbeit über die Galizienliteratur. Ich bedanke mich bei Andrea Seidler für die Ermutigung zu dieser Habilitation. Wolfgang Müller-Funk und Andrei Corbea-Hoisie danke ich für Diskussionen und Anregungen, Joanna Jabłkowska und Stefan Kaszyn´ski für Ratschläge und Hinweise. Ich möchte mich bei Norbert Bachleitner und Christoph Augustynowicz für praktische Vorschläge und organisatorische Unterstützung bedanken. Der große Dank gebührt Hans-Christian Rump für sprachliche Korrekturen und Interesse an meiner Arbeit. Für die finanzielle Unterstützung dieser Arbeit danke ich dem Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung FWF und der Universität Wien. Ich danke auch dem Verlag Vienna University Press bei Vandenhoek & Ruprecht für die gute Zusammenarbeit. Mein besonderer Dank gilt schließlich Olexandr, nur fürs Da-Sein!
Vorwort
Im Mittelpunkt dieses Buches stehen die pluralistische Wirklichkeit des historischen Galiziens und sein geistiges Erbe, die sich ab Anfang der 1980er Jahre in ein wissenschaftliches Paradigma verwandelt haben. Dabei wurden verschiedene Forschungsrichtungen vereinigt, da die »galizische Erfahrung« ein prototypisches Beispiel bei der Erforschung der Wechselwirkung verschiedener Kulturen im Geflecht ihrer Beziehungen und Spannungen im Raum von Heterogenität und Hybridität geworden ist. Galizien wurde für mehrere Disziplinen attraktiv, da es von Anfang an ethnisch, konfessionell, linguistisch, aber auch sozial und politisch vielfältig war. Aus demselben Grund sind Galizien und sein geistiges Erbe als Forschungsobjekt für die Zugänge nicht nur der Kultur-, sondern auch der Literaturwissenschaft besonders geeignet, denn zu ihren wichtigsten Hinterlassenschaften gehört ohne Zweifel auch die in und über Galizien geschriebene faktuale und fiktionale Literatur. Wenn es in diesem Band über viele deutschsprachige und polnische Autoren geht, darunter auch über die deutsch- oder polnisch schreibenden jüdischen Schriftsteller, so tragen die Arbeiten aus dem ukrainischen Umfeld der galizischen Thematik zur Erweiterung des Forschungsfeldes bei. Es sind komparatistische Betrachtungen der Texte, aber auch Analysen der Werke einzelner Autoren, die im Gesamtkontext der Galizienliteratur, für den mehrere Wechselwirkungen typisch sind, durchgeführt werden. Die traditionelle literarische Komparatistik wird durch die räumliche Hermeneutik erweitert: Die Texte unterschiedlicher Genres, die in verschiedenen zeitlichen Perioden erschienen, sind auf den gemeinsamen räumlichen Nenner gebracht und von diesem Standpunkt aus neu erschlossen worden. Sie sind außerdem semantisch untereinander verbunden und weisen mehrere gemeinsame Topoi auf. Es geht um einen gemeinsamen Metatext, der hier als »Galizischer Text« definiert wird. Dieser Begriff ist in der Arbeit zentral und spielt als eine gemeinsame vielsprachige Erzählung des historischen Galiziens und der nachfolgenden Perioden eine zusammenfügende Rolle für die Betrachtung der Texte, die aus dem Milieu von Neben- und Miteinander, aber auch von Gegeneinander im gemeinsamen Geo-,
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Vorwort
Sozial- und Kulturraum entstanden sind. Der im Laufe von etwas mehr als zwei Jahrhunderten narrativ produzierte »Galizische Text« wird folglich zu einer einzigartigen Verkörperung mehrerer Paradigmen des Raums Galizien. In den einzelnen Beiträgen des Bandes werden diverse prägnante Beispiele aus dem vielsprachigen literarischen Fundus analysiert und verglichen, um einige wesentliche Komponenten des »Galizischen Textes« auszuloten. Die Heterogenität der angeschnittenen Themen bezüglich des Vergleichs des Schaffens der galizischen Autoren und ihrer Texte begründet auch die Mehrdimensionalität der methodologischen Entscheidungen. Im Interesse des theoretischen Anliegens dieser Arbeit wurde folglich die Verknüpfung mehrerer Herangehensweisen erforderlich. Wenn dabei die Forschungsmethoden sich im Wesentlichen auf die komparatistische Textinterpretation stützen (vor allem auf den typologischen Vergleich und die Toposforschung) sowie zu Ansätzen aus dem Bereich der traditionellen Germanistik und Slawistik greifen, werden auch die Zugänge der Kulturwissenschaften, der Geschichte, der Philosophie und der Geographie verwendet. Auf diese Weise sind die literaturwissenschaftlichen Herangehensweisen in einem interdisziplinären Raum platziert. Besonders ertragreich erwiesen sich die kulturwissenschaftlichen Ansätze, die sich im Kontext der so genannten Kulturwenden (Cultural Turns) entwickelten, darunter insbesondere die Methoden der Raumwenden (Spatial Turn und Topographical Turn). Die Ansätze der letzteren wurden durch Analyseimpulse der postkolonialen Wende (Postcolonial Turn) mit solchen Begriffen wie Hybridität und »Dritter Raum«, durch das analytische Konzept »Transdifferenz« als Sammelbegriff für Phänomene wie Hybridität, Transkulturalität oder Transidentität, durch die Zugänge der Übersetzungswende (Translational Turn), durch das kulturtheoretische Paradigma »Ähnlichkeit« sowie durch den Schlüsselbegriff der topographischen Wende (Topographical Turn) »Kognitive Kartierung« (Mental Mapping) methodisch erweitert. Es geht um relevante Raumtheorien wie Phänomenologie der Räumlichkeit und Raumsemiotik sowie um solche Begrifflichkeit wie Relationalität des geographischen Raumes, Geophilosophie, soziale Konstruktion vom Raum, Heterotopie, Orte und Nicht-Orte, performative Praktiken im Raum, Erinnerungs- und Gedächtnisräume, kulturelle Produktion und Produktivität des Raumes. Nicht außer Acht gelassen werden auch die theoretischen Konzepte einiger »Vorgänger« der Raumwende in der Kultur- und Literaturwissenschaft, solche wie »Chronotopos« von Michail Bachtin sowie »Künstlerischer Raum« und »Semiosphäre« von Jurij Lotman. Die Anleihe bei neuen Analysemethoden, die sich als besonders produktiv bestätigt haben, ermöglichte es, schon bekannte Phänomene der Literatur mit neuen Begriffen zu beschreiben. Der Band besteht aus einer Einleitung, zweiundzwanzig einzelnen Aufsätzen, die in sieben größere, thematisch einheitliche Kapitel gegliedert sind, und einem
Vorwort
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Fazit. Zum Prinzip der Konstellation der Aufsetze wurde nicht die diachrone oder synchrone Betrachtung der Werke unterschiedlicher Autoren, sondern der thematische Zusammenhang. Als Grundprinzip fungiert das Bestreben, einerseits die Verschiedenheit der einzelnen Literaturen Galiziens zu zeigen, andererseits gemeinsame Merkmale des »Galizischen Textes« zu schildern, um seine Ganzheit zu offenbaren und im Kontext der Raumwende zu erschließen. Neben den einzelnen deskriptiven Darstellungen, die zum Ziel haben, einen Überblick der Produktion und der Rezeption der Galizienliteratur zu schaffen, wurden die meisten Studien textanalytisch durchgeführt. Die Beiträge des ersten Kapitels beziehen sich auf Galizien als einen Naturraum. Im Aufsatz Ad imperii marginem: Galizien aus der Perspektive des Reisens in der Epoche des Josephinismus werden mit Hilfe der Thesen zur Raumforschung – von den Konzepten von Michel de Certeau über Michail Bachtin bis Gilles Deleuze und Félix Guattari – die Anfänge der deutschsprachigen Literatur Galiziens in Form der ersten Reiseberichte über die neue Habsburgerprovinz im Vergleich erforscht. Die Texte von vier Reisenden: Joseph Franz Ratschky, Franz Kratter, Balthasar Hacquet sowie Joseph Rohrer werden hinsichtlich der Darstellung der natürlichen Gegebenheiten, der sozialen Verhältnisse und kulturell produzierten kognitiven Kartierungen Galiziens untersucht. Der Aufsatz fokussiert vor allem die Erschließung Galiziens als einen Naturraum. Im zweiten Beitrag Die Aura einer Berglandschaft: die ukrainischen Karpaten wird die Darstellung der Natur Galiziens am Beispiel der Karpaten-Berglandschaft im Schaffen einiger österreichischen, deutschsprachig-jüdischen und ukrainischen Autoren analysiert. Ein besonderer Akzent wurde dabei auf die Schilderung der Zerstörung dieser Naturlandschaft seit der Zeit der Modernisierung in Galizien gelegt. Der erste Beitrag des zweiten Kapitels, in dem es über Galizien als ein Sozialraum geht, betitelt als Verortung der Juden im Sozial- und Kulturraum Galizien in den Reisebriefen von Franz Kratter, ist einer der ersten Beschreibungen der jüdischen Bevölkerung Galiziens gewidmet. Es wird gezeigt, dass, wenn Franz Kratter auch als ein Aufklärer schrieb, er jedoch die josephinische Politik in Galizien kritisierte. Im zweiten Beitrag »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« um 1900 wird anhand der Texte einiger ukrainischen Autoren die binnenkoloniale Politik des Machtzentrums hinsichtlich einzelner Völker an der Peripherie der Monarchie (in diesem Fall der Ruthenen/Ukrainer) dargestellt. Es geht um soziale Unterdrückung, die sich gegen die ukrainische Bevölkerung Galiziens richtete. Im Unterschied zu vielen Werken der österreichischen, aber auch der polnischen Literatur wird hier die Habsburger Monarchie nicht idealisiert. Der dritte Beitrag »…diese merkwürdige Provinz«: Eine galizische Kleinstadt im Zuge der Modernisierung. Fiktionale Raumentwürfe von Ivan Franko und Bruno Schulz widmet sich der raumfokus-
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Vorwort
sierten literarischen Darstellung der galizischen Kleinstadt Drohobycˇ, deren Modernisierung und Industrialisierung Ivan Franko mit naturalistischen Mitteln schildert, Bruno Schulz dagegen im Rahmen des modernistischen Paradigmas sie dekonstruiert und als Ort der Erinnerungsfantasien gestaltet. Im nächsten Aufsatz Das räumliche Modell Galizien als ein Transit-Raum werden Motive der Emigration der jüdischen und der ruthenischen Bevölkerung aus Galizien, Handel mit galizischen Mädchen und das Schicksal der frankophonen Gouvernanten, die aus dem Westen nach Galizien kamen und weiter nach Osten zogen, angesprochen; der Sozialraum Galizien wird dabei mit Hilfe der Konzepte »Heterotopie« (nach Foucault) und »Nicht-Ort« (nach Augé) als Raum der Migrationsbewegungen erläutert. Im Beitrag Die Schenke als Heterotopie und (Nicht)-Ort im Transit: Zum intertextuellen Topos der galizischen Literatur wird am Beispiel ausgewählter Texte mehrerer Autoren, die in verschiedenen Sprachen schrieben, der Topos der Schenke als Ort der Transformation und Adaption im Kontext der Überwindung der politischen, sozialen und kulturellen Grenzen behandelt. Neben den Konzepten von Bachtin und Lotman sind hier die Theorien der sozialen Räume, vor allem die Zugänge von Michel Foucault und Marc Augé relevant. Im dritten Kapitel des Bandes wird Galizien als ein Kulturraum erforscht. Die ersten zwei Beiträge sind den Autoren gewidmet, deren Schaffen mit dem Anfang der deutschsprachigen fiktionalen galizischen Literatur verbunden ist, und zwar Leopold von Sacher-Masoch und Karl Emil Franzos. Ihr Werk lässt sich unter unterschiedlichen theoretischen Aspekten betrachten, vor allem aber unter dem Blickwinkel der kulturellen Heterogenität und der Hybridität. Im ersten Beitrag Grenzverwischungen und Grenzübergänge: Literarische Prozesse in multikulturellen Regionen Europas am Beispiel der »galizischen« Prosa Leopold von SacherMasochs wird die Rolle des multikulturellen Milieus Galiziens für das Schaffen des Schriftstellers erörtert. Im zweiten Aufsatz Kulturelle Symbiose Galiziens im Werk von Karl Emil Franzos werden die Texte des Schriftstellers analysiert, in deren Hintergrund das Zusammenleben einzelner Völker in der kulturell heterogenen Welt Galiziens steht. Im nächsten Beitrag Literatur als Erkenntnis einer verschwundenen Welt Galiziens. Westen versus Osten in »Der Pojaz« von Karl Emil Franzos und »Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens« von Alexander Granach wird die Rolle der Literatur als Erkenntnis der verschwundenen Welt Galiziens anhand des genetischen und typologischen Vergleichs von zwei thematisch ähnlichen Werken erörtert, und zwar des Romans von Karl Emil Franzos und des autobiographischen Erinnerungsbuches von Alexander Granach. Von den theoretischen Ansätzen sind hier vor allem Lotmans Raumsemiotik und Foucaults Heterotopie wichtig. Im vierten Aufsatz Die narrative Konstitution der kulturellen Übersetzbarkeit: Heterogenität und Hybridität des Kulturraums Galizien in der Lebensbeschreibung von Alexander Granach wird der narrativ
Vorwort
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konstituierte Kulturraum Galizien unter der Perspektive der Theorien der kulturellen Übersetzbarkeit betrachtet und mit Hilfe der Kulturkonzeptionen von Homi Bhabha und der semiotischen Kulturtheorie von Jurij Lotman als ein Interaktionsraum im Kontakt der Kulturen gedeutet. Der Kulturraum Galizien kann in dieser Hinsicht als prototypisches Beispiel der Synchronie der Lebenswelten gelten, die als Dritter Raum das Grenzphänomen der Übersetzung repräsentiert. Im vierten Kapitel sind die Beiträge zusammengefügt, die Galizien im Umfeld des Ersten Weltkrieges sowie in der Zwischenkriegszeit thematisieren. Im ersten Aufsatz Inszenierung des Raumes Galizien im Zeichen des Untergangs der k.u.k. Monarchie: Joseph Roth und Andrzej Kus´niewicz wird bei den Romanen der beiden Schriftsteller, die in verschiedenen Sprachen und mit zeitlicher Distanz von einer Generation schrieben, ein gemeinsamer Interpretationsansatz angewandt. Es ist eine phänomenologische Deutung der Reversibilität zwischen dem äußeren und dem inneren, psychischen Raum, zwischen der Wahrnehmung der Natur Galiziens und dem geistigen Zustand der Protagonisten vor dem Hintergrund des Krieges und des Untergangs der Habsburgermonarchie. Methodologisch relevant sind hier die Zugänge der Phänomenologie des Raums von Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty. In den beiden nächsten Beiträgen Die gerichtete Landschaft: Galizische Ukrainer in der Gefechtswelt des Ersten Weltkrieges und Die Zerstörung der jüdischen Welt Galiziens im Blutrausch des Ersten Weltkrieges werden die in verschiedenen Sprachen geschriebenen fiktionalen und faktualen Texte gedeutet, die sich auf einen Raum zum gleichen Zeitpunkt, und zwar auf den Gewaltraum Galizien im Ersten Weltkrieg beziehen. Sie werden mit Hilfe der topologischen Zugänge zur Raumproblematik auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage nach Kurt Lewin analysiert und verglichen. Hier geht es um die Topologie des Krieges: Es wird gezeigt, wie die Friedenslandschaft Galizien sich in eine Kriegslandschaft verwandelt und wie die zwischen zwei Fronten geratene Zivilbevölkerung, die ukrainische und die jüdische, von den kämpfenden Mächten behandelt wurde. Im letzten Aufsatz dieses Kapitels Das Galizien in der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen von Joseph Roth und Alfred Döblin werden zwei Reiseberichte der deutschsprachigen jüdischen Autoren, und zwar Joseph Roths Reise durch Galizien und Alfred Döblins Reise in Polen hinsichtlich der sozialen und kulturellen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg und dem Machtwechsel analysiert. Die beiden Texte werden mit Hilfe der Raumsemiotik von Jurij Lotman und des phänomenologischen Zugangs zum Wahrnehmungsraum von Edmund Husserl interpretiert. Das fünfte Kapitel des Bandes fügt drei Beiträge zusammen, in denen unterschiedliche Raummodelle Galizien als Gedächtnisraum gestalten. Im ersten Beitrag Landschaft der Er-Innerung: »Das ganz persönliche Galizien« der Phan-
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tasie wird im theoretischen Rahmen von Karl Schlögels Im Raume lesen wir die Zeit das Schaffen von mehreren aus Galizien stammenden Autoren betrachtet, die in verschiedenen Sprachen und unterschiedlichen literarischen Traditionen sich dem Topos Galizien als einer verlorengegangenen Heimat zuwandten (Joseph Roth, Bruno Schulz, Soma Morgenstern, Stanisław Lem). Im zweiten Beitrag Das Schaffen von Joseph Roth und Soma Morgenstern als Interferenzmuster der geschichtlichen, geographischen und sprachlichen Komponente Galiziens werden die beiden Autoren hinsichtlich des künstlerischen Werdegangs verglichen. Es wird hier nach der komplexen Rolle Galiziens für ihr Schaffen gefragt. Der folgende Aufsatz Galizien als Natur-, Kultur- und Sozialraum der erzählten Welt von Soma Morgenstern ist gezielt diesem Autor gewidmet. Aufgrund der Analyse der Romantrilogie Funken im Abgrund sowie seiner autobiographischen Schriften wird gezeigt, wie der Autor die genannten Raummodelle in seinen Texten gestaltet. Im sechsten Kapitel geht es um Rückkehr Galiziens in der gegenwärtigen Literatur. Hier werden die Werke zweier ukrainischer Autoren, die sich auf das historische Galizien beziehen, mit Hilfe der raumbezogenen Ansätze interpretiert. Im ersten Beitrag Geopoetische Bezüge zum Habsburger Erbe im Schaffen von Jurij Andruchovycˇ als Überwindung der politischen Beschränkungen und Teilungen wird gezeigt, wie mittels des geopoetischen Verfahrens der Schriftsteller zur eigenen Geokulturologie kommt, welche die sowjetische und die national-sozialistische Geopolitik im 20. Jahrhundert in Bezug auf Galizien kritisch reflektiert. Die Geopoetik, die das Weiterschreiben der kulturellen Nach-Geschichte Galiziens ermöglicht, wird gegen die Geopolitik gesetzt. Der zweite Aufsatz Transformationen eines mitteleuropäischen Kulturraumes im 20. Jahrhundert: Ihre narrative Konstitution in der gegenwärtigen Galizienliteratur bezieht sich auf den Roman von Taras Prochas’ko Neprosti [Die Nichteinfachen]. Hier steht die außerordentliche Rolle des Raumes und des Ortes für den Prozess des Erzählens im Vordergrund. Im letzten, siebten Kapitel des Bandes werden die literarischen Porträts zweier Autoren aus Galizien entworfen, deren Schaffen das Phänomen des »Galizischen Textes« vervollkommnet. Im Aufsatz Ivan Franko und die Wiener Moderne geht es um die Interpretation des Werkes des wichtigsten ukrainischen Autors Galiziens im Kontext der kulturellen Zirkulation zwischen dem Zentrum und der Peripherie der Habsburgermonarchie. Zum zentralen Zugang wird hier das Transdifferenzkonzept. Der zweite Beitrag Jüdische Avantgarde als ein »repräsentativer Kulturbestandteil« Galiziens: Die dichterische Kunst der Debora Vogel ist der Analyse des Schaffens der jüdischen Dichterin aus dem Lemberg der Zwischenkriegszeit gewidmet. Als eine der besten Repräsentantinnen der jiddischen und polnischen Avantgarde hat sie das kulturelle Milieu Galiziens und die damalige Atmosphäre Lembergs künstlerisch dicht wiedergegeben und wurde
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somit zu einer von denen, die den literarischen Freiraum Galizien vor dem Vergessen bewahrt haben. Das Buch schließt mit einer Zusammenfassung, in der die Merkmale des »Galizischen Textes« als Ausdruck der Verflechtung und Wechselwirkung der Mehrdimensionalität in der vielsprachigen fiktionalen und faktualen Erzählung einer historischen Region anhand des umfassenden Bildes mittels der Verknüpfung von traditionellen literaturwissenschaftlichen Zugängen mit neuen theoretischen Ansätzen der Kulturwenden zusammengefügt und gedeutet wird. Eine heterogen-hybride Lebenswelt, die mehrmals infolge der Machtwechsel neu inszeniert wurde, wird somit als einzigartiger literarischer und kultureller Raum wiederhergestellt.
Einleitung: Pluralistische Wirklichkeit Galiziens. »Galizischer Text« als ihre narrative Verkörperung
Das Thema dieses Bandes betrifft die Erforschung der Literatur aus und über Galizien1 – dem historischen Land Mittel- bzw. Osteuropas, das längst zum Modellfall des bunten Völkergemischs geworden ist: Diese Region spielte infolge ihrer geopolitischen Lage im Laufe der Jahrhunderte die Rolle einer Brücke zwischen Ost und West, zwischen der orthodoxen und der lateinischen Welt. Der verhältnismäßig kleine Georaum wurde mit der Zeit zum Ort verwickelter administrativer Peripetien und politischer Kataklysmen. Historisch reicht seine Multikulturalität bis ins späte Mittelalter, zu Zeiten der ersten, in diesem Gebiet Europas entstandenen administrativen Einheit, des ostslawischen Fürstentums und Königreichs von Danylo Halyc’kyj: »Halycˇ-Wolhyn’«. Schon im 13. und 14. Jahrhundert lebten hier verschiedene Ethnien zusammen – Rußynen (Vorfahren der Ukrainer, in österreichischer Tradition »Ruthenen« genannt), Polen, Juden, Deutsche, Armenier – um nur die wichtigsten zu nennen. Die erste Blütezeit erlebte Galizien im 16. und 17. Jahrhundert, als die Region zur bedeutenden Transitgegend im Rahmen des Königreichs Polen wurde. Zu den oben genannten Völkern gesellten sich Italiener und Griechen. Nach der ersten Teilung Polens 1772 übernahmen die Habsburger das ziemlich ruinierte Gebiet. Dadurch entstand eine neue Provinz der österreichischen Reichshälfte der Monarchie, das »Königreich Galizien und Lodomerien«, bei dessen Bezeichnung sich die Beamten des Kaisers offensichtlich des Namens des alten Fürstentums bedienten.2 Nach den beiden darauf folgenden Teilungen Polens wurde das Territorium der Provinz wesentlich erweitert. Seine Grenzen wurden einige Male geändert, bis mit 1 Hinsichtlich der Präsenz mehrerer kulturellen Traditionen in der Region und der aus ihnen resultierenden Vielsprachigkeit kann man auch von den »galizischen Literaturen« sprechen. 2 Der Name »Galizien und Lodomerien« ist zwar vom Fürstentum »Halycˇ-Wolhyn’« abgeleitet, wurde aber von Maria Theresia juristisch mit der Zugehörigkeit des Territoriums zum Königreich Ungarn im Mittelalter unter Andras II. (1216–1221), dessen Nachfolger Jahrhunderte später die Habsburger wurden, begründet. In der Titulatur der ungarischen Könige blieb der Titel »Galicia et Lodomeria« erhalten, denn Latein bekanntlich die Verkehrssprache des ungarischen Adels war.
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Einleitung: Pluralistische Wirklichkeit Galiziens
der Einverleibung der Republik Krakau 1846 sich die Situation für mehrere Jahrzehnte stabilisierte: Die österreichische Herrschaft dauerte hier bis zum Ausgang des Ersten Weltkrieges, der wiederum neue Teilungen in dieser Region Europas evozierte. Das Territorium des ehemals größten Kronlandes der Habsburgermonarchie, das sich von Tarnopol im Osten bis Auschwitz im Westen ausdehnte, war ab 1918 von verschiedenen Mächten umkämpft und wechselte demzufolge einige Male die politische Zugehörigkeit. In der Zwischenkriegszeit wurde Galizien Bestandteil des wiedererstandenen polnischen Staates. 1939 folgte aber die erneute Teilung, wie sie im »Molotow-Ribbentrop-Pakt« festgelegt worden war. Die folgenden fünf Jahre waren für die Region verheerend: Galizien wurde zum Kriegsschauplatz zwischen den beiden größten totalitären Systemen – dem sowjetischen und dem nationalsozialistischen; die Folgen waren ethnische und ideologische Säuberungen in Form von Deportationen, Vertreibungen, Zwangsaussiedlungen und millionenfachem Menschenmord. Das bunte Völkergemisch Galiziens wurde gewaltsam zerstört; es blieb aber eines der wichtigsten Kennzeichen dieses Raumes im Sinne der Erinnerungs- und Gedächtnislandschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das historische Land nach dem Prinzip der ethnischen Dominanz und den politischen Interessen Stalins entsprechend zwischen zwei Staaten aufgeteilt – der Republik Polen und der Ukrainischen Sowjetischen Republik. Die Ukraine wurde 1991 staatlich unabhängig. Seither gehört der östliche Teil des historischen Galiziens zur Ukraine, der westliche Teil ist weiterhin ein Bestandteil von Polen.3 Angesichts des komplizierten historischen Hintergrunds war der Begriff »Galizien« je nach der Perspektive der Deutung und des Zugangs bei der Erforschung desselben Raumes unterschiedlich besetzt. Was ist vom historischen Galizien geblieben? Vor allem sind das Gedächtnisorte des galizischen Raums als materielle Zeugnisse der Geschichte und die geistige Hinterlassenschaft des gesamtgalizischen kulturellen Erbes, die als interdisziplinäres Forschungsobjekt ab Ende der 1980-er Jahre immer mehr an Attraktivität gewonnen hat. Ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses der letzten Jahrzehnte ist dabei das österreichische, das »klassische« Galizien gerückt, das als eine politisch-administrative Einheit im Rahmen der Donaumonarchie real existierte. Relevant ist dabei, dass die multiethnische und polykonfessionelle Kulturwelt dieses Kronlandes, die 3 Mit dem Namen »Ostgalizien« wird der kulturell besonders heterogene östliche Teil der habsburgischen Provinz »Galizien und Lodomerien« bezeichnet, dementsprechend »Westgalizien« – ihr westlicher, kulturell überwiegend polnisch geprägter Teil. Hier werden diese Bezeichnungen bezüglich des geographischen, kulturellen und sozialen Raums von jedem der beiden Teile verwendet. Der Begriff »Galizien« bezieht sich dagegen auf die ganze historische Region und ihr kulturelles Erbe. Die historischen Bezeichnungen »Ostgalizien« und »Westgalizien« entsprechen der Terminologie, die offiziell ab den Beschlüssen der Pariser Friedenskonferenz 1919–1920 eingeführt wurde.
Einleitung: Pluralistische Wirklichkeit Galiziens
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weit zurück in der Geschichte ihre Anfänge hatte, gerade im Laufe des 19. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Innenpolitik des Vielvölkerstaates als solche akzeptiert wurde. Mehrere Kulturen Galiziens, die hier gegen- und miteinander existierten, wurden mit der Etablierung des Nationalbewusstseins einzelner Völker Galiziens zu Teilrepräsentanten ihrer »Nationalkulturen«, obwohl als selbständige Konstrukte sie ihren vollen Ausdruck erst später gewannen, als das Kronland als politisch-administrative Einheit mit dem Ende der Monarchie von den Karten Europas verschwand. All diese Kulturen vertraten ihre eigenen Traditionen, sie hatten auch ihre eigenen narrativen Ausgestaltungen, was wiederum Ursache für die isolierte Behandlung jeder galizischen »Teilkultur« im Rahmen der nationalen Paradigmata war, vor allem hinsichtlich der polnischen, ukrainischen, jüdischen und österreichischen Aspekte des Kulturphänomens Galizien. Da die galizische Gesellschaft aber von Anfang an heterogen war (dieser Raum durchdrangen verschiedene, auch kontroverse Kulturen und Teilkulturen), hatte sie ein gemeinsames Merkmal: Der Kulturraum Galiziens war durch Vielstimmigkeit geprägt. Sie verlieh ihm aber auch die Merkmale der Hybridität, die heute oft als ein Spezifikum der zentraleuropäischen Region genannt wird. Gerade diese Vielstimmigkeit lag der Langlebigkeit des historischen Galiziens zugrunde. Einerseits prägte die kulturell heterogene und hybride Gesellschaft den galizischen Kulturraum nach dem Ersten Weltkrieg, andererseits war sie – nach deren Zerstörung durch die Gewaltherrschaft der beiden totalitären Systeme im Zweiten Weltkrieg und durch jahrzehntelanges Verschweigen der damaligen Zustände in der Zeit des sowjetischen Regimes danach – die Ursache für die Wiedergeburt Galiziens als Thema und Forschungsgegenstand in den letzten Jahrzehnten des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das wissenschaftliche Interesse am geographisch-politischen Gebilde des habsburgischen Galiziens wurde international, denn es fungierte schon immer als »ein Laboratrium für das Erproben und Austarieren von Zugehörigkeiten und Abgrenzungen, für die Formierung von kollektiven und individuellen Identitäten«.4 Besonders anschaulich treten diese Prozesse in der vielsprachigen Literatur hervor, die in und über Galizien im Laufe seiner Geschichte und in späteren Perioden geschrieben wurde.
4 Girsch/Krobb/Schößler 2012, S. 10.
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Einleitung: Pluralistische Wirklichkeit Galiziens
»Galizischer Text« als Kulturmodell eines historischen Raumes »Nur Steine sind geblieben, alles andere, Menschen, Sprache, Kultur, ist verschwunden. Nichts mehr als ein Traum«5, – lässt der gegenwärtige ukrainische Autor aus Lviv (ehemals Lemberg), Jurij Vynnycˇuk den Protagonisten seines Romans Tango smerti [Todestango] (2012), in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Im Schatten der Mohnblüte (2014) in den Sinn kommen. Hier wird die Geschichte der ehemaligen Hauptstadt Galiziens im Zweiten Weltkrieg erzählt. Es geht um die verschwundene Welt des alten Lembergs, die »nicht mehr wiederkehrte, da auch seine Bewohner nicht wiederkehrten.«6 Aber sogar Bauten werden in Galizien weggeräumt, wie es am Anfang der Erzählung Der Ort eines gegenwertigen polnischen Autors Andrzej Stasiuk dargestellt wird. Hier geht es um die Versetzung einer verlassenen, zweihundert Jahre alten hölzernen ukrainischen Kirche aus dem polnischen Dorf, aus dem ihre Erbauer vor fünfzig Jahren »gewaltsam oder heimtückisch« nach Osten »ausgesiedelt worden waren«7: Sie waren ganz schnell fertig. In zwei Monaten. Zurück blieb ein Rechteck aus grauer, lehmiger Erde. In dieser waldigen, menschenleeren Gegend sieht diese Blöße aus wie ein Stück abgerissene Haut. […] »Was war hier?« fragte mich ein Mann. Er trug einen Rucksack, hatte eine Karte in der Hand, um den Hals einen Fotoapparat. »Eine orthodoxe Kirche«, erwiderte ich. »Und was ist passiert?« »Nichts. Sie haben sie ins Museum gebracht.« »Die ganze Kirche?« »Ja, aber stückweise.« Er ging auf den ausgetretenen Platz und sah sich um, als suchte er Wände und Gewölbe. Dann fand er einen Sonnenfleck, der den Chorraum umfasste, und knipste mit seiner Praktica. »Schade«, sagte er. »Ja«, brummte ich.8
Die Erzählung ist Stasiuks Sammlung Opowies´ci galicyjskie [Galizische Geschichten] (1995), entnommen. Auf bestimmte Weise knüpft diese Geschichte über ein polnisches Dorf am Rande der Karpaten an die Geschichte des ukrai5 Wynnytschuk 2014, S. 154; Vynnycˇuk 2013, S. 118: »[…] zalysˇyvsja til’ky kamin’, a vse insˇe – ljudy, mova, kultura – use ce znyklo i stalo snom.« 6 Ebd. 7 Stasiuk 2002, S. 45; Stasiuk 1995, S. 33: »przemoca˛albo podste˛pem, wysiedleni z rodzinnej wsi.« 8 Stasiuk 2002, S. 40; Stasiuk 1995, S. 29: »Bardzo szybko sie˛ uwine˛li. W dwa miesia˛ce. Pozostał prostoka˛t szarej, gliniastej ziemi. W lesistym i bezludnym pejzaz˙u ta nagos´c´ wygla˛da jak płatek zdartej skóry. […] – Co tu było? – zapytał mnie me˛z˙czyzna. Miał plecak, w re˛ku mape˛, a na szyi aparat fotograficzny. – Cerkiew – odpowiedziałem. I co sie˛ stało? – Nic. Zabrali ja˛do muzeum. – Cała˛? – Cała˛, ale po kawałku. Wszedł na udeptany placyk i rozejrzał sie˛ wokół, jakby szukał s´cian i sklepienia. Potem wynalazł słoneczna˛ plame˛, obejmowała prezbiterium, i pstrykna˛ł praktica˛. – Szkoda – powiedział. – Tak – odmrukna˛łem.«
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nischen Autors, setzt sie quasi fort. Die ehemalige ukrainische Kirche, die vom Zusammenleben der Vertreter von zwei Völkern, von Polen und Ukrainern in einem Ort zeugte, verschwindet. Wie die Ukrainer nicht mehr da sind. Sogar die Steine sind hier nicht geblieben. Es bleibt nur ein Sonnenfleck. Diese beiden Texte, ungeachtet der Tatsache, dass sie in Hinsicht der Sprache, Zeit und Ort der Entstehung, aber auch der Gattung verschieden sind, bilden dank solchen sprachlichen Codes, wie »nichts«, »nur Steine sind geblieben«, »ist verschwunden«, »was war hier?« eine semantische Einheit. Es geht in beiden um das Galizien nach den verheerenden Jahren des Zweiten Weltkrieges. Was war also von diesem historischen Raum danach geblieben? Vor allem kann man dazu Gedächtnisorte und Gegenständlichkeit des galizischen Raums als materielle Zeugnisse der Geschichte zählen. Sie sind jedoch, wie Stasiuk zeigt, auch nicht beständig. Es bleibt aber die geistige Hinterlassenschaft des galizischen kulturellen Erbes, zu der unter anderem die in und über Galizien geschriebene Literatur gehört, die diesen Kulturraum und seine komplizierte Geschichte präsentiert. Denn Literatur sei, wie Jörg Dünne betont, nicht nur eine mediale Praxis, »die wie viele andere zur Konstitution kultureller Räume beiträgt bzw. sie beobachtbar macht, sondern die besonders dafür geeignet ist, vorstellungsmögliche Welten überhaupt erst zu einer imaginativ fassbaren Entität werden zu lassen.«9 Im Falle der Galizienliteratur widerspiegelt diese auf dem symbolischen Wege entstandene Entität direkt oder indirekt die mehrdimensionale, multikulturelle galizische Wirklichkeit. Wenn jede Kultur, wie Wolfgang Müller-Funk schreibt, ihre Narrative habe, da die Kulturen immer auch »als Erzählgemeinschaften anzusehen« seien, »die sich gerade im Hinblick auf ihr narratives Reservoir unterscheiden,«10 so konnte man über die Gesamtheit der Narrative im Sinne der »galizischen Literatur« sprechen, die zu einer »gemeinsamen Erzählung«11 des österreichischen Galiziens und der nachfolgenden Perioden wurde. Diese über zwei Jahrhunderte dauernde Erzählung verhilft, das historische Galizien als eine Lebenswelt, die vom Wesen mehrerer Traditionen gekennzeichnet war, darzustellen und kann als ein semantisch einheitlicher Text der Kultur betrachtet werden. Es wird hier folglich vorgeschlagen, ihn im Zuge der von Vladimir Toporov formulierten Bezeichnung »Petersburger Text«12 als »Galizischer Text« zu definieren. Der vom russischen Semiotiker eingeführte Begriff ist ein bedeutungsdichtes Konstrukt vom allgemeinen Charakter, das seine methodologische Validität bewiesen hat: Diese Bezeichnung lässt sich übertragen und erweitern. Die Stadt 9 10 11 12
Dünne 2013, S. 22. Müller-Funk 2008, S. 14. Ebd. Vgl.: Toporov 2003.
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St. Petersburg wird bei Toporov zu einem besonders heterogenen Text, der den Gegenstand selbst wie auch seine Widerspiegelungen im literarischen Schaffen mehrerer Autoren einschließt. Dabei ist ihm ein gemeinsamer Sinn eigen: Man kann im »Petersburger Text« ein konkretes Zeichensystem rekonstruieren, das sich in einzelnen Texten realisiert. Es geht folglich um empirische Gesamtheit literarischer Texte aus und über St. Petersburg, die in einem bestimmten chronologischen Rahmen entstanden und untereinander semantisch verbunden sind. Als semantische Einheit wird der »Petersburger Text« zu einem Kulturmodell. Wenn aber bei Toporov ausschließlich die in russischer Sprache geschriebenen Werke, die einen »Stadttext« generieren, berücksichtigt werden, so handelt es sich im Fall des »Galizischen Textes« um die Werke in verschiedenen, in der Habsburger Provinz gebräuchlichen Sprachen, nämlich in der deutschen, der polnischen, der ukrainischen, später auch in der jiddischen Sprache. Hier soll vermerkt werden, dass Toporovs Konzept direkt an die Begrifflichkeit eines anderen russischen Semiotikers, Jurij Lotman, anknüpft, der in seinen früheren Arbeiten über den »künstlerischen Text«, der ein Modell der Wirklichkeit konstituiert, schreibt.13 Dabei ist der »künstlerische Text« bei Lotman im Sinne eines symbolischen Textes im weiten Sinne zu verstehen – nicht nur als ein literarisches Einzelwerk, sondern auch als homogene Gruppe von beliebig vielen Werken bis hin zur Produktion einer ganzen Epoche. Wie lässt sich also die vorgeschlagene Definition »Galizischer Text« umschreiben? Es handelt sich somit um einen Metatext, der die Wechselbeziehung zwischen dem polyphonen Kulturraum der ehemaligen Habsburger Provinz und den ihn in verschiedenen Sprachen und zu verschiedener Zeit reflektierenden sowie produzierenden Texten zur Anschauung bringt. Der Anfang des »Galizischen Textes« liegt am Ende des 18. Jahrhunderts, in der Zeit, als diese mitteleuropäische Region zur österreichischen Provinz »Galizien und Lodomerien« dekretiert wurde. So zählt zu den »grundlegenden« Perioden des »Galizischen Textes« die fast anderthalbhundert Jahre dauernde Zugehörigkeit Galiziens zur Habsburgermonarchie. Der zweite chronologische Rahmen bleibt offen: Wenn Galizien als Phänomen, das Texte immer wieder generiert, angeschaut wird, so wird der »Galizische Text« im Laufe von etwas mehr als zwei Jahrhunderte narrativ und kulturell fortwährend erweitert. Folgend schreibt darüber Alois Woldan: Die Zahl der Texte, die in unterschiedlichen Sprachen auf Galizien Bezug nehmen, wächst an, und damit nehmen auch die vielfältigen Beziehungen in diesem Text-Raum zu. Galizien kann als ein offenes und dynamisches literarisches System gesehen werden, in dem alle Elemente aufgrund ihrer Stellung in diesem System in einem ständigen Prozess der Wechselwirkung stehen.14 13 Vgl. Lotman 1970; Lotman 1992, S. 424–425. 14 Woldan 2015, S. 5.
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Einer der Gründe dieser Dynamik kann man im Einklang mit Magdalena Marszałek bezüglich der Geopoetik des Raumes in der prekären historisch-politischen Existenz Galiziens sehen, die sein Dasein als literarischer Text intensiviert.15 Dementsprechend wird der »Galizische Text« zu einer einzigartigen Verkörperung mehrerer Paradigmata dieses Raumes. Es soll betont werden, dass dem »Galizischen Text« im Unterschied zum Begriff von Toporov, der im Kontext des Petersburger Themas die für die russische Literatur bedeutendsten Namen erwähnt und vor allem das »Silberne Zeitalter« dieser Literatur analysiert, die Werke vom unterschiedlichen ästhetischen Niveau sowie dem Grad der Literarizität zugeordnet werden. Denn neben künstlerisch wertvollen Werken wie es im Fall von Karl Emil Franzos, Leopold von SacherMasoch, Ivan Franko, Bruno Schulz, Joseph Roth, Soma Morgenstern, Debora Vogel, Julian Stryjkowski, Andrzej Kus´niewicz, Jurij Andruchovycˇ, Taras Prochas’ko, Andrzej Stasiuk ist (um nur die wichtigsten Repräsentanten zu nennen), gehören zu diesem System auch mehrere faktuale und künstlerisch weniger wertvolle fiktionale Schriften, die aber, wie Maria Kłan´ska schreibt, als »Dokumente ihrer Entstehungszeit und in den meisten Fällen gleichzeitig der dargestellten Zeit [ … ] nicht unterschätzt werden« dürfen: »Sie zeugen von einem bestimmten Galizienbild und prägten es bei ihren Lesern.«16 Dementsprechend wird hinsichtlich des »Galizischen Textes« auch die Frage nach der Zuordnung zu unterschiedlichen Gattungen aufgehoben, umso mehr, als viele galizische Autoren Galizien im Titel oder Untertitel ihrer Werke erwähnen, wodurch sie als der Gattung »galizische Texte« zugehörig gekennzeichnet werden können. So findet man Galizische Geschichten bei Leopold von Sacher Masoch und Andrzej Stasiuk. Es werden auch die Rahmen der Nationalliteraturen gesprengt. Man kann vom »Galizischen Text« der deutschsprachigen, der polnischen und der ukrainischen Literatur reden. Denn eines der wichtigsten Merkmale des »Galizischen Textes« war immer seine vielsprachige Polyphonie. Bekanntlich zählen zu den »Erzählgemeinschaften« Galiziens, die an der Produktion des »Galizischen Textes« beteiligt waren, Vertreter folgender, der für die Region wichtigsten kulturellen Traditionen: deutsch-österreichischer, polnischer, ukrainischer und jüdischer; dieser gemeinsame Text ist eigentlich aus dem Milieu der Kohabitation verschiedener Völker im gemeinsamen Georaum entstanden. Dabei sei es zu betonen, dass, wie der Theoretiker der sozialen Kultur Ivan Illich schreibt, wenn auch verschiedene Kulturen »unterschiedliche Trennlinien in die Landschaft« schneiden, der gemeine Raum dennoch durchlässig sei, weil verschiedene Kulturen sich die gleiche Landschaft teilen können.17 Die inneren Grenzen haben 15 Vgl. Marszalek/Sasse 2010, S. 13. 16 Kłan´ska 1991, S. 14. 17 Illich 1983, S. 203.
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folglich verschiedene Kulturen Galiziens nicht nur getrennt, sondern auch vereinigt: Sie wurden »porös«.18 So weist der »Galizische Text« als Duplizierung der Konstellation der Kulturen dieser Region besonders heterogene, aber auch hybride Züge auf. Folglich entsteht die gegenseitige Wechselwirkung zwischen dem Kulturraum Galizien und seinem Metatext: Der Kulturraum verweist auf den Metatext, dieser wiederum auf den Kulturraum. Ihnen liegt ein bestimmtes Zeichensystem zugrunde, das man rekonstruieren kann. Die einzelnen Texte sind dementsprechend miteinander verbunden; das erwähnte gattungsspezifische, temporäre, personale Überqueren stört nicht, im »Galizischen Text« eine semantische Einheit in vorgeschlagener Deutung zu erkennen. Um einige wesentliche Komponente dieser Einheit auszuloten, sollen also prägnante Beispiele aus diesem vielsprachigen literarischen Fundus analysiert und verglichen werden. Es wird hier folglich eine komparatistische Erforschung einzelner deutsch-, polnisch- und ukrainischsprachigen Texte aus und über Galizien vorgeschlagen, dessen Zeitrahmen die Periode vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts umfasst. Zu den laut Toporov »einfachsten und objektivsten« Kriterien, um in der russischen Literatur einen besonderen »Petersburger Text« auszusondern, gehört das Verfahren des sprachlichen Kodierens seiner Hauptkomponenten, die in einzelnen Texten implizit vorhanden sind. Diese sprachlichen Elemente haben eine diagnostische Funktion hinsichtlich der Zugehörigkeit zum »Petersburger Text« und verhelfen, ein konzentriertes Bild zu schaffen, das die Rezipienten auf den Metatext verweist.19 Bei Toporov sind es positive und negative Bezeichnungen des inneren Zustandes, die Merkmale der Modalität, positive und negative Charakteristika der Natur, der Kultur, manchmal sogar klischeeartige Fragmente, aber auch Prädikate, Begriffe der Grenze und der Abgrenzung, höhere Werte, Elemente der Metabeschreibung etc. Wenn auch fragmentarisch, so kommen diese Codes bei vielen Autoren in größerem Zeitraum vor; sie bilden diagnostische Wörter und Wortgruppen, die zu Schlüsselknoten der semantischen Struktur des »Petersburgen Textes« wurden.20 Im System von Wörtern, Symbolen, Bildern, Fragmenten, positiven oder negativen Bezeichnungen und Charakteristika, Metabeschreibungen etc., die für »geheime Botschaften« verwendet werden, kann man demzufolge auch im »Galizischen Text« typische Codes feststellen, die die semantische Nähe der einzelnen Texte zueinander erklären. Sie haben den Charakter von Leitmotiven, 18 Über die »Porosität der Grenzen« in den plurikulturellen Gesellschaften, derer Tragfähigkeit durch die postkoloniale Diskussion thematisiert wurde, schreibt Anil Bhatti. Dabei tritt in den Vordergrund »offenes Kulturverständnis«, bei dem kulturelle Übersetzbarkeit »bei aller notwendigen Problematisierung stets prinzipiell vorangesetzt« wird. Vgl. Bhatti 2015, S. 121. 19 Toporov 2003, S. 60. 20 Ebd., S. 61f.
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von typischen Themen oder, wenn man das zusammenfassend bezeichnet, von gemeinsamen »galizischen Topoi«. Hier entdeckt man auch positiv und negativ beladene sprachliche Codes, die entsprechend der Triade Natur-, Sozial- und Kulturraum aufgeteilt werden können. So wird der Naturraum Galizien bei Leopold von Sacher-Masoch, Karl Emil Franzos, Andrzej Kus´niewicz, Hermann Blumenthal, Bruno Schulz, Soma Morgenstern, aber auch bei Joseph Roth oft durch die Begriffe der unberührten Natur, der Weite, der Freiheit, der Stille gekennzeichnet. Er wird auch ästhetisiert oder sogar mythologisiert (insbesondere betrifft das die Darstellungen der weiten Horizonte der podolischen Ebene, der Karpatenlandschaft, des nächtlichen Himmels Galiziens). Zu negativen Bezeichnungen gehören Begriffe der Grenze und der Abgrenzung, der Entfernung vom Zentrum, der Liminalität, der Wildnis, der Tücken und der Gefahr, die oft in den »galizischen« Romanen von Joseph Roth vorkommen. Im Fall des Sozialraums Galizien dominieren die Attribute der mangelnden Zivilisation, der Armut, des Binnenkolonialismus, der Ausweglosigkeit, der Ausreise und der Flucht, die in den Texten der galizisch-jüdischen Autoren dominieren, oder auch bei dem sozial engagierten ukrainischen Schriftsteller Ivan Franko. Die Hauptcodes des Kulturraums Galizien kann man mit den Begriffen Heterogenität und Hybridität bezeichnen, die einerseits für das Nebeneinanderleben verschiedener Ethnien oder für die Spannungen zwischen ihnen stehen, andererseits aber für Ähnlichkeit und für gemeinsame »galizische« Identität. Die beiden kommen vor allem bei Leopold von Sacher-Masoch, Karl Emil Franzos, im autobiographischen Roman von Alexander Granach, in Erinnerungen an die »andere Zeit« von Soma Morgenstern oder auch in den Romanen von Andrzej Kus´niewicz vor. Grundlegend für die Erforschung des »Galizischen Textes« ist es folglich, dass seinen Kern, den man im Schaffen unterschiedlicher Autoren bestimmen kann, zwei konträre Hauptthemen bilden, die mit Bezug zu den Werken der darstellenden Kunst über Galizien erstmals erwähnten Bezeichnungen angewandt werden können: Es sind die Ausdrücke »Galicia miserabilis« und »Galicia felix«.21 Der erste davon wird unter anderem durch solche negativ geladenen Begriffe wie Armut, Verzweiflung, Emigration, Flucht, Krieg, Zerstörung, Leiden, Tod und Trauer kodiert. Besonders prägnant kommt die galizische Misere in den Werken vor, die Galizien während der verspäteten Industrialisierung (vor allem in Texten über den Erdölgewinnung in Boryslav) oder im Ersten Weltkrieg darstellen. Für die letztere sind mehrere Topoi der Kriegslandschaft typisch. In den unterschiedlichen Texten der Autoren, die die Frontlinie von beiden Seiten betrachteten, kommt es zu Bildern und sprachlichen Ausdrucksformen, die untereinander in Resonanz treten. Im zweiten Fall geht es vor allem um solche positiven Charakteristika wie heitere und nostalgische, vom wirklichen Leben in Galizien 21 Mehr darüber in: Cybenko 2008.
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entfernte Erinnerungen, wobei die an die Kindheit- und Jugendzeit dominieren. Folglich äußert sich über die Bedeutung der Bilder aus dieser Periode des menschlichen Lebens für zukünftiges Schaffen einer der hervorragendsten Künstler aus Drohobycˇ Bruno Schulz, in seinen Briefen an Stanisław Ignacy Witkiewicz: Ich weiß nicht, woher wir in der Kindheit zu bestimmten Bildern mit entscheidender Bedeutung für uns gelangen. Sie spielen die Rolle jener Fäden in Lösungen, um die herum sich für uns der Sinn der Welt kristallisiert. […] Solche Bilder stellen das Programm dar, bilden das eiserne Kapital des Geistes, das uns sehr früh, in Form von Gefühlen und halb bewusster Erkenntnis verliehen wird. Mir scheint, dass der ganze Rest des Lebens damit vergeht, diese Einblicke zu interpretieren, sie ihrem ganzen Inhalt nach auseinanderzunehmen und durch die ganze Spannweite des Intellekts zu geleiten, die uns zusteht. Diese frühen Bilder bestimmen den Künstlern die Grenzen ihres Schaffens. Ihr Schaffen ist eine Ableitung aus fertigen Voraussetzungen.22
Dieses »eiserne Kapital des Geistes« war für Bruno Schulz wie für viele andere Autoren aus dieser kulturell mannigfaltigen Region in ihrer »galizischen« Kindheit verborgen. Es könnten hier zu den genannten konträren Hauptthemen des »Galizischen Textes« mehrere Beispiele angeführt werden. Mehr oder weniger zeugen sie von der dichotomischen Perspektivierung durch das Prisma der Autoren, die ihre schöpferischen Intentionen auf diesen historischen Raum gerichtet haben und richten, obwohl es auch die Fälle gibt, wo kontroverse oder »gemischte« Gefühle bezüglich Galiziens zum Vorschein kommen, wie das das Schaffen Joseph Roths manifestiert. Bei allen Unterschieden weisen sie dennoch viel Gemeinsames auf – eine Tatsache, die es gestattet, diesen mehrdimensionalen Resonanzraum als eine semantische Einheit zu betrachten. Die vorgeschlagene Bezeichnung »Galizischer Text« soll somit verhelfen, sich diesem Literaturphänomen anzunähern und die verschwundene Welt Galiziens in seiner räumlichen Dimension zu beleben und weiter leben zu lassen. Es gibt noch ein kennzeichnendes Merkmal des »Galizischen Textes«, und zwar hinsichtlich der Autoren und ihrer Beziehung zum Ort, den sie beschreiben – ein Moment, das auch bei Toporov hervorgehoben wird. Es geht um die Aufteilung derjenigen, die zum »Galizischen Text« beigetragen haben, in drei 22 Schulz 1994, Bd. 2, S. 89–90: Schulz 1935: »Nie wiem, ska˛d w dziecin´stwie dochodzimy do pewnych obrazów o rozstrzygaja˛cym dla nas znaczeniu. Graja˛ one role˛ tych nitek w roztworze, dokoła których krystalizuje sie˛ dla nas sens ´swiata. […] Takie obrazy stanowia˛ program, statuuja˛ z˙elazny kapitał ducha, dany nam bardzo wczes´nie w formie przeczuc´ i na wpół s´wiadomych doznan´. Zdaje mi sie˛, z˙e cała reszta z˙ycia upływa nam na tym, by zinterpretowac´ te wgla˛dy, przełamac´ je w całej tres´ci, która˛ zdobywamy, przeprowadzic´ przez cała˛ rozpie˛tos´c´ intelektu, na jaka˛ nas stac´. Te wczesne obrazy wyznaczaja˛ artystom granice ich twórczos´ci. Twórczos´c´ ich jest dedukcja˛ z gotowych załoz˙en´.«
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Gruppen: Es sind die, die in Galizien geboren wurden und dort gelebt haben (wie zum Beispiel Ivan Franko, Bruno Schulz und Debora Vogel), oder zurzeit leben (zeitgenössische ukrainische und polnische Schriftsteller); dann die Autoren, die in Galizien geboren wurden, es aber aus unterschiedlichen Gründen ziemlich bald verlassen haben. In ihrem Fall wurde die verlorengegangene Heimat, um mit Karl Schlögel zu sprechen, »zur selbständigen Größe«.23 Sie wurde zum Gegenstand ihrer Erinnerungen, zu ihrer literarischen Heimat. Dazu zählt die Mehrheit der Schöpfer des »Galizischen Textes«, darunter Karl Emil Franzos, Leopold von Sacher-Masoch, Joseph Roth, Jósef Wittlin, Andrzej Kus´niewicz, Stanislaw Lem, Julian Stryjkovski, Soma Morgenstern, Herman Blumenthal, Manes Sperber, Alexander Granach und andere. Sie schöpften aus ihrem Gedächtnis und haben Galizien retrospektiv geschildert. Es gibt aber auch solche Autoren, die in Galizien nur bestimmte kurze oder längere Zeit verbrachten, es auf einer Reise besuchten (die Autoren der ersten Reiseberichte über Galizien, solche wie Joseph Franz Ratschky, Franz Kratter, Alphons Heinrich Traunpaur, Balthasar Hacquet, aber auch die Reisenden in späteren Zeiten, wie zum Beispiel Alfred Döblin). Es sind auch diejenigen, die als österreichische Beamten nach Galizien kamen, um es später zu verlassen (ein Beispiel dafür wäre Constant von Wurzbach). Es gibt hier auch die Fälle, die in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg stehen: Man wurde an die Ostfront geschickt, wie es im Fall von Stefan Zweig, Georg Trakl, des zukünftigen Gestaltpsychologen Kurt Lewin war. Dazu zählen auch diejenige russischen oder russisch-jüdischen Schriftsteller, die in Galizien im Ersten Weltkrieg als Offiziere der Zaristischen Armee oder Korrespondenten im Dienst waren und es in ihren Romanen, Aufzeichnungen oder Tagebüchern beschrieben (Aleksej Tolstoj, Shimon An-Ski), oder es kurz danach aus der anderen Perspektive, von der »anderen Seite« der Frontlinie betrachteten und später in ihren Werken dargestellt haben (Boris Pasternak). Mehrere interessante Darstellungen lieferte in seinen Tagebüchern und in der Prosa Isaak Babel, der nach Galizien schon nach dem Zerfall der Donaumonarchie mit der Roten Reiterarmee kam. Welche Rolle bei der Wiedergeburt der entstellten, vernichteten oder vergessenen Schätze des geistigen Erbes die mit dem Raum des Entstehens verbundene Erinnerung und Imagination – die beiden Grundlagen des literarischen Schaffens – spielen, kann man in der Stasiuks »galizischen« Erzählung weiter lesen, wenn er beschreibt, wie die Dimension der versetzten Kirche vom Ort, wo sie gebaut wurde, abhängt. Denn der »Ort hat keine Maße. Er ist Punkt und ungreifbarer Raum«24, der verhilft, den »verstohlenen Blick auf die andere Seite«25 zu werfen: 23 Schlögel 2003, S. 246. 24 Stasiuk 2002, S. 49; Stasiuk 1995, S. 35: »Miejsce nie ma wymiarów. Jest punktem i nieuchwytna˛ przestrzenia˛.«
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Ich hatte den Eindruck, daß der Mann, sicher zufällig, den Raum fotografierte, wo sich früher die Ikonostase befunden hatte. Jetzt war er von allen Formen entleert, aber von Licht erfüllt. Wie immer vor Sonnenuntergang. An schönen Herbstnachmittagen befand sich die Sonne gegenüber dem Eingang. Man mußte nur das Tor öffnen, und das Licht ergoß sich ins Innere. Eine helle Welle strömte durch das modrig riechende Schiff, fegte eilig die abblätternden, mit polychromen Darstellungen bedeckten Wände ab und brach sich an der Ikonostase. In diesen paar Minuten gewannen das Matte Gold der Schnitzerei und die verblaßten Farben der Ikonen ihren ursprünglichen, übernatürlichen Glanz wieder, der die Vorstellung und Sehnsucht der ländlichen Künstler beflügelt hatte. Es war nur ein kurzer Moment. Die Sonne verschwand hinter dem grasbewachsenen Hügel, und in die Kirche kehrte Dämmerung ein.26
So werde man »nicht sicher«, lässt Stasiuk durch den Kopf seines Ich-Erzählers gehen, ob die Kirche »wirklich weggebracht« wurde: »Der Mann schloß das Futteral des Fotoapparats. ›Und an welcher Stelle war der Eingang?‹ fragte er. ›Hier. Sie stehen auf der Schwelle‹.27« Man muss also nur das Tor öffnen, heißt es, um das Licht sich ins Innere ergießen zu lassen. Zu so einem »geöffneten Tor« wird also die Wiederentdeckung der Galizienliteratur, die infolge ihrer Erforschung aus der Dämmerung des Vergessens ans Licht gebracht werden soll.
Vorbedingungen der Erforschung der Galizienliteratur: Eine Spurensuche »vor Ort« Im Laufe seines Bestehens hat Galizien alle Etappen der Habsburgergeschichte ab 1772 bis 1918 und der Jahrzehnte danach durchgemacht. Nach 1944 wurde das ehemalige Kronland, das noch in der Zwischenkriegszeit im Rahmen des polnischen Staates als eine ganzheitliche Region bestand, in einen westlichen, polnischen und einen östlichen, ukrainischen Teil aufgespalten und zwischen beiden wurde eine streng bewachte Grenze gezogen, die Polen von der Sowjetunion 25 Stasiuk 2002 S. 44; Stasiuk 1995, S. 32: »jak zerknie˛cie na druga˛ strone˛.« 26 Stasiuk 2002, S. 43–44; Stasiuk 1995, S. 31–32: »Pomys´lałem sobie, z˙e me˛z˙czyzna, zapewne przez przypadek, sfotografował przestrzen´, w której znajdowali sie˛ ikonostas. Teraz była opróz˙niona z kształtów, lecz wypełniało ja˛ s´wiatło. Jak zwykle przed zachodem słon´ca. W jesienne pogodne popołudnia słonce znajdowało sie˛ naprzeciw wejs´cia. Wystarczyło pchna˛c´ wrota i blask wlewał sie˛ do wne˛trza. Jasna fala toczyła sie˛ przez wypełniona˛ zbutwiałym zapachem nawe˛, omiatała pospiesznie pokryte złuszczona˛ polichromia˛ s´ciany i rozbijała sie˛ włas´nie o ikonostas. Przez te kilka minut zetlałe złoto snycerki i szarzeja˛ce barwy ikon odzyskiwały pierwotne, nadprzyrodzone ls´nienie powstałe w wyobrazi i te˛sknocie wiejskich artystów. Chwila była krotka. Słonce kryło sie˛ za trawiastym pagórkiem i do s´wia˛tyni powracał półmrok.« 27 Stasiuk 2002, S. 49; Stasiuk 1995, S. 35: »Dlatego wcia˛z˙ nie mam pewnos´ci, cze rzeczywis´cie ja˛ zabrano. Me˛z˙czyzna zamkna˛ł futerał aparatu. – A w który miejscu było wejs´cie? – zapytał. – Tu. Stoi pan na progu.«
Vorbedingungen der Erforschung der Galizienliteratur: Eine Spurensuche »vor Ort«
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trennte. Im sozialistischen Polen war »galizische Thematik« aus dem offiziellen Diskurs eliminiert, besonders prekär war aber die Lage im ehemaligen Ostgalizien, damals schon die »Westukraine« genannt, das intensiv sowjetisiert wurde. Da gerade dieser Teil der ehemaligen Habsburger Provinz kulturell besonders mannigfaltig war, wird in dieser Arbeit der Akzent gerade auf das Schaffen der Autoren gelegt, die mit Ostgalizien verbunden waren. Folglich werden die Bedingungen der Rezeption und der Erforschung der galizischen Literatur in der sowjetischen Zeit sowie in der Ukraine nach der Wende kurz skizziert. In der Zeit der sowjetischen Nivellierung war man in der Ukraine bemüht, jegliche Spur der alten kulturhistorischen Tradition zu tilgen und aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Damit drohte eine ganze Kulturwelt unterzugehen. Es ist bezeichnend, dass man in der Sowjetzeit allmählich auch den Namen »Galizien« zu vermeiden begann, er sollte aus dem offiziellen Gebrauch verschwinden und wurde zum Vergessen verurteilt. Der Grund dafür wurzelt in den ideologischen Zugängen zur historischen und kulturellen Tradition, die für die sowjetische Politik, vor allem bezüglich der Geisteswissenschaften, typisch waren. Der gegenwärtige ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchovycˇ deutet dies wie folgt: Ein Nomade (ich möchte die Bezeichnung ›ein Eroberer‹ nicht gebrauchen) vermeidet den Historismus instinktiv. Einen Landstrich ›Galizien‹ zu nennen bedeutet für ihn, dass er anerkennen muss, dass hier schon jemand vor ihm gewesen ist. Gewesen [Hervorhebung von Ju. A.] im Sinne des Seins, nicht des Vorüberziehens. Es passt ihm besser, diese Region bloß als ›Vorkarpatenland‹ zu bezeichnen. Das verpflichtet ihn zu nichts, weil es bloß nur die Feststellung einer geographischen Tatsache ist. Für ihn ist dabei die östliche Perspektive wichtig, da wir uns von der europäischen Perspektive aus hinter den Karpaten befinden […]28
Nicht zufällig war auch die Literatur, waren die Texte, die in oder über Galizien verfasst wurden, in der Sowjetzeit verpönt oder sie wurden einfach verschwiegen. Dies wurde ganz konsequent gemacht. Denn die Literatur hatte bezüglich der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit schon immer eine besondere Rolle gespielt: Sie war, ist und bleibt eine spezifische Form des kulturellen Gedächtnisses. In den Bedingungen des Sowjetregimes geriet dementsprechend auch sie ins Blickfeld der Macht. Kein Wunder, dass die meisten Autoren, dessen Schaffen man heute hinsichtlich des »Galizischen Textes« in Betracht nimmt, unabhängig von der 28 Andruchovycˇ 1999, S. 35–36: »Kocˇivnyk (ne skazˇu ›zavojovnyk‹) instyktyvno unykaje istoryzmu. Nazyvaty cej kraj ›Halycˇynoju‹ dlja njoho oznacˇaje vyznaty, ˇscˇo tut chtos’ uzˇe buv pered nym. Buv – u sensi buttja, a ne perebuvannja. Jomu zrucˇnisˇe nazyvaty vse ce ›Prykarpattjam‹. Ce ni do cˇoho ne zobov’jazuje, bo je prostoju konstatacijeju heohraficˇnoho faktu. Prycˇomu z tocˇky zoru schidnoji, adzˇe z tocˇky zoru jevropejs’koji my znachodymosja za Karpatamy […].« Hier und weiter alle Übersetzungen aus dem Ukrainischen, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin des Bandes.
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Sprache, in der sie schrieben, in den sowjetischen Literaturgeschichten nie erwähnt wurden. Das bezog sich vor allem auf diejenigen, die ihre Texte in der deutschen Sprache verfassten. So wurde im Katalog der »Bibliothek der Weltliteratur«, der 1979 in Moskau erschien, keiner jener Schriftsteller erwähnt, die Altgalizien beschrieben haben, wie zum Beispiel Karl Emil Franzos, Leopold von Sacher-Masoch oder sogar Joseph Roth, wenn man an die bedeutendsten denkt. Es gab unter den »galizischen« Autoren nur wenige Ausnahmen, die zum Schulund Universitätsprogramm gehörten, wie es im Fall mit dem ukrainischen Klassiker um die Jahrhundertwende Ivan Franko war, dessen Werk für die Bedürfnisse der sowjetischen Ideologie angepasst, zensiert und reduziert wurde. In diesem Sinne wurde der Dichter, dessen Oeuvre ein vielschichtiges Phänomen darstellt, als ein »revolutionärer Demokrat« bezeichnet, sein Werk wurde auch entsprechend interpretiert. Einer der Gründe des Verschweigens des »vorsowjetischen kulturellen Erbes« war, dass die offiziellen kulturellen Instanzen der Sowjetverwaltung zuerst 1939– 41, dann aufs neue in der Nachkriegszeit bemüht waren, auch in der Westukraine den offiziellen Kurs des »sozialistischen Realismus« samt allen seinen Dogmen zu etablieren. Ab 1944 bezog sich das auch auf das Schaffen der Autoren, die im sowjetischen Lviv [russisch Lvov] blieben, hauptsächlich diejenigen, die Ukrainisch, Russisch oder auch Polnisch schrieben. Es wurde hier wie im ganzen Lande ein offizieller »Bund der sowjetischen Schriftsteller« gegründet. Viele der Texte aus und über Galizien wurden des Öfteren verschwiegen, tabuisiert oder vergessen. Zu den prägnantesten Strategien des sowjetischen totalitaristischen Systems gehörte es dabei, die Namen der Autoren aus Galizien und deren Werke gezielt nicht ins Blickfeld der Leserschaft und der Forscher kommen zu lassen. Insbesondere in den Gebieten, die in diesen Werken dargestellt waren, sollte nichts an andere Zustände erinnern. So waren auch die galizischen Autoren der Nachkriegszeit gezwungen, in einem engen Rahmen der geistigen Unfreiheit zu schreiben. Galizien aber, das Phänomen seiner Kultur, das infolge der während mehrerer Jahrhunderte andauernden Koexistenz verschiedener Völker entstand, ist nicht nur als geistiges Erbe geblieben. Es besteht auch heute – als Gegenstand der Rekonstruktion und Fortsetzung einer bestimmten Eigenart seitens der sich für Galizien interessierenden Intellektuellen des Westens, aber auch als existentiell begriffene Form des Da-Seins in der ukrainischen Kultur nach der Wende ab Mitte der 1980er Jahre, die ihre Materialisierung in der modernen Kunst findet. So wird Galizien bei Taras Prochas’ko im Essay Die Kunst ist die Erlösung der Landschaft als ein ontologischer Raum verstanden: Dieser Raum ist nur von einer Seite geschlossen. Von der anderen fließt er langsam in den riesigen Abgrund der asiatischen Leere. Der Zeitablauf kann sich hier in keine
Vorbedingungen der Erforschung der Galizienliteratur: Eine Spurensuche »vor Ort«
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Funktionen eignen. Die Landschaft stößt an die westliche Schranke und beginnt gleichzeitig gegen Osten zu nomadisieren. Das ist ein Auseinander-Fließen der Fluten, ein Auseinander-Gehen der Zeiten, das ist ein Auseinander-Fluidisieren. Das ist Galizien, das ist ein essai de déconstruction des universellen Raumes der europäischen Landschaft außerhalb der Zeit.29
Taras Prochas’ko, wie auch Jurij Andruchovycˇ – die beiden heute in IvanoFrankivs’k lebenden ukrainischen Autoren, die der Rekonstruktion der galizischen Topoi viel Aufmerksamkeit schenken – haben ihr literarisches Schaffen als die besten Vertreter des so genannten »Stanislavs’kyj Fenomen« begonnen (»Kulturphänomen von Stanislau«, wie früher die zweitgrößte Stadt Ostgaliziens hieß). Im geistigen Leben der Ukraine um 1990 hat diese Künstlergruppierung an großer Bedeutung gewonnen. Die Zuwendung zur galizischen Thematik mit breitem Spektrum im Schaffen ukrainischer Künstler wurde also erst nach der politischen Wende möglich. Die gleiche Situation konnte man auch in der Forschung beobachten: Erst ab Mitte der 1990er Jahre sind in der Ukraine mehrere Beiträge und eine Reihe von Dissertationen erschienen, die Bezug auf die Galizienliteratur nehmen. Es wurden hier auch Versuche einer neuen Definition der Galizienliteratur gemacht. So schlug der ukrainische Galizien-Kenner Jurko Prochas’ko vor, bei der Beantwortung der Frage, ob eine Geschichte der »Galizischen Literatur« möglich wäre, keine eigentlichen Kriterien dieser Definition zu suchen: Es gebe mehrere von ihnen, dabei seien sie ziemlich unterschiedlich. Zu den typologischen Zügen der »galizischen« Literatur zählt er folgende: Kontakte und »organische« Einflüsse aufeinander, die Rolle der politischen und der institutionellen Gemeinsamkeit, Einwirken der formellen und informellen Einflüsse aus Wien. Eine wichtige Rolle spiele dabei der Josephinismus, die Anteilnahme für polnische Aufstände, die Literatur der galizischen Haskala, die Konkurrenz und gegenseitige Einflüsse unter den Theatern, das Interesse für die Folklore der einzelnen Völker, die galizische Zeitungslandschaft und vieles mehr. All dies sei einer der Gründe dafür, dass in Galizien eine enorm wichtige Rolle die Übersetzung als Vermittlung zwischen den Sprachen und Kulturen spielte. Unter den bekanntesten Übersetzern zwischen Deutsch, Polnisch, Ukrainisch, Hebräisch waren auch viele, die selbst als Autoren bekannt wurden: Karl Emil Franzos, Nathan Samuely, Tadeusz Rittner, Ivan Franko, Siegfried Lipiner u. a. Außerdem könne man im Laufe des Bestehens des politischen Konstrukts Galiziens in seinen kulturellen Prozessen auch viele gemeinsame Tendenzen verfolgen, so zum 29 Prochas’ko, Taras 1996, S. 13: »Cej prostir zamknutyj lysˇ z odnoho boku. A z insˇoho – povil’no peretikaje u veletens’ku prirvu azijs’koho pustosˇcˇa. Perebih cˇasu tut ne mozˇe vklastys’ u zˇodni funciji. Landsˇaft vkopujet’sja u zachidnu pereponu i vodnocˇas pocˇynaje kocˇuvaty na schid. Ce – Roz-tocˇcˇja, Roz-cˇassja, Roz-plynnja. Ce Halycˇyna, ce essai de déconstruction universal’noho prostoru jevropejs’koho landsˇaftu u ponad-cˇassi.«
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Beispiel die paradigmatische Rolle der Romantik für mehrere Kulturschaffende unterschiedlicher Herkunft im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts; ab den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war es der gemeinsame Kontext des Naturalismus und der Moderne.30 Man sollte außerdem die Geschichte der Galizienliteratur mit der Periode der Zugehörigkeit Galiziens zur Donaumonarchie begrenzen, es wäre aber zu »kategorisch«, gibt er zu, da in dem Fall mehrere Erscheinungen der Trägheit nicht berücksichtigt sein würden.31 Obwohl Galizien als eine administrative Einheit mit dem Zerfall der Monarchie, die die Rolle eines Magnets gespielt hatte, verschwunden war, seien der Sinn und die Bedeutungen geblieben, schreibt der ukrainische Kulturforscher. Dazu zählen, laut ihm, die galizischen Strukturen und die galizische Lebenswelt. Die Wesensart Galiziens habe nicht zu existieren aufgehört. Aus Prochas’kos Sicht benötigt die Erforschung der Geschichte dieser Wesensart in der Literatur andere Zugänge als im Fall der Erforschung der Literaturgeschichte Galiziens selbst.32 So kann man zusammenfassend sagen, dass im europäischen »Randgebiet« Galizien, das im Laufe der gesamten Geschichte seines Bestehens zu verschiedenen Staaten gehörte und sich unter der Macht von verschiedenen politischen Richtungen und Ideologien befand, die Rezeption der Literatur zur »galizischen Thematik« sowie ihre Erforschung von diversen äußeren Umständen und Einflüssen abhängig war. Es konnten aber nicht alle Spuren getilgt werden. Deswegen gehörte es zu den aktuellen Aufgaben der Geisteswissenschaften, die in einem unmittelbaren historischen Bezug zum galizischen Kulturraum als einer europäischen Erinnerungslandschaft stehen, Galizienliteratur aus der Vergessenheit zu holen und wieder in den Fokus des Interesses zu rücken.
Galizienliteratur-Diskurs: Anfänge Die alte und neue Galizienliteratur kann man heute nicht mehr als einen radikal neuen Forschungsgegenstand bezeichnen: Das »Galiziensyndrom« begann Anfang der 1980-er Jahre (so Stefan Kaszyn´ski)33, als diese Literatur wiederentdeckt und zum Objekt des internationalen Diskurses gemacht wurde. Im deutschsprachigen Raum haben die Collagen und Anthologien einzelner Primärtexte oder Textauszüge von Martin Pollak (1984) sowie von Karl-Markus Gauß und Martin Pollak (1992) große Aufmerksamkeit erregt. Sie machten die Galizienliteratur einem breiteren Leserkreis bekannt und ermöglichten einen Einblick in 30 31 32 33
Prochas’ko, Jurko 2010/a, S. 2–14. Prochas’ko, Jurko 2010/b, S. 25. Ebd., S. 87. Kaszyn´ski 1987, S. 8.
Galizienliteratur-Diskurs: Anfänge
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die kulturelle Vielfalt dieser Region. Ihnen folgten zwei Bände aus der Reihe »Europa erlesen«: Galizien34, herausgegeben von Stefan Simonek und Alois Woldan (1998), und Lemberg35, zusammengestellt von Alois Woldan (2008). Die politische Wende ermöglichte nach Galizien zu reisen, um diese »verlorene« Welt wiederzuentdecken. Ab Anfang der 1980-er Jahre erschienen einige nostalgische Erinnerungs- und Reiseaufzeichnungen. Die internationale, spezifisch literaturwissenschaftliche Erforschung der Galizienliteratur setzte ebenso Ende der 1980-er Jahre mit den Publikationen der Beiträge der wissenschaftlichen Konferenzen in Poznan´ und Innsbruck ein: Galizien – eine literarische Heimat36 und Galizien als gemeinsame Literaturlandschaft37. Diese Veröffentlichungen haben Akzente bei der Erforschung der Galizienliteratur gesetzt, wovon schon die Namen der beiden Sammelbände zeugen. Wichtig ist, dass zum Forschungsgegenstand neben den deutschsprachigen Autoren, die traditionell im Zusammenhang mit Galizien besprochen werden, Texte von polnischen Schriftstellern geworden sind, die über Altgalizien retrospektiv in der Zwischenkriegszeit geschrieben haben (Beiträge von Stefan Kaszyn´ski, Krzysztof Lipin´ski, Alois Woldan). Zu den Desideraten der Forschung zählen dabei Autoren, die galizischer Herkunft waren und in oder über Galizien in ukrainischer Sprache schrieben. Man muss diesbezüglich auch bemerken, dass viele jüdische Schriftsteller in der deutschen oder später in der polnischen Sprache geschrieben haben und öfters als Repräsentanten der deutsch- bzw. polnischsprachigen Literatur Galiziens wahrgenommen werden. Bei der kritischen Würdigung der oben erwähnten Veröffentlichungen über die Literatur(en) Galiziens kann man folgendes festhalten: In meisten von ihnen handelt es sich um Texte über Galizien unter literaturhistorischer und komparatistischer Perspektive, die in verschiedenen Perioden in der deutschen und polnischen Sprache geschrieben wurden. Schwerpunkte der Forschung liegen dabei auf folgenden Themen und Fragestellungen: Galizien als literarische Heimat und als eine gemeinsame Literaturlandschaft; literarischer Mythos Galizien, Mythologisierung der Geschichte Galiziens, Habsburger Mythos in Galizien, »galizische Morbidität«; Diskrepanz zwischen Realität und Utopie bei der Darstellung der galizischen Landschaft; die Rolle der Aufklärung in Galizien und der galizische Gefühlspluralismus; der galizische Kontext des Schaffens einzelner Autoren; »galizische Identität«; Galizien als geistiger Hintergrund der Erneuerung des Judentums; Erinnerung an Galizien und »galizische Sehnsucht«. Bezüglich der Ansätze und der wissenschaftlichen Zugänge in diesen Arbeiten kann resümierend gesagt werden, dass die meisten von 34 35 36 37
Simonek/Woldan 1998. Woldan 2008. Kaszyn´ski 1987. Rinner/Zerinschek 1988.
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ihnen sich als traditionell typisch für Literaturgeschichte und Komparatistik erwiesen. Dabei lieferten sie relevante Forschungsergebnisse, die man aus dem literaturhistorischen Komplex »Galizien« gewonnen hat. Ab Anfang der 1990-er Jahre erschienen Publikationen über die deutsche Literatur Ostmittel- und Südosteuropas: Sammelbände von Anton Schwob Deutsche Literatur Ostmittel- und Südosteuropas von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Forschungsschwerpunkte und Defizite (1992) und Methodologische und literarhistorische Studien zur deutschen Literatur Ostmittel- und Südosteuropas (1994). Unbestritten sind in diesem Forschungsgebiet die Verdienste von Maria Kłan´ska, die sich 1991 zum Thema Problemfeld Galizien: zur Thematisierung eines nationalen und politisch-sozialen Phänomens in deutschsprachiger Prosa 1846– 1914 habilitiert hat und mehrere Beiträge zu diesem Thema veröffentlichte. In ihrem ausführlichen Aufsatz Die deutschsprachige Literatur Galiziens in der Forschung (1992) zeigt Kłan´ska eine repräsentative Zusammenstellung auf, eine für die Erforschung der deutschsprachigen Literatur Galiziens relevante Bibliographie. Obwohl diese Abhandlungen insgesamt aufschlussreich sind, sind einige von ihnen zu deskriptiv gehalten. Man kann aber die Studien von Claudio Magris als Bestrebung einstufen, die Vielfalt der Dichtung aus diesem Raum der Donaumonarchie darzustellen: Es sind das Kapitel »An östlichen Reichsgrenzen« aus dem Buch Der Habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur (ital. 1963, deutsch 1966) und die literaturwissenschaftliche Darstellung Weit von wo? Verlorene Welt des Ostjudentums (ital. 1971, dt. 1974). Unter den literaturgeschichtlichen Publikationen der letzten Jahrzehnte sind mehrere zu finden, die einzelnen Autoren gewidmet sind, deren Schaffen einen Bezug zu Galizien hat, darunter das Buch von Wolfgang Müller-Funk Joseph Roth (2012), in dem unter anderem solche raumbezogene Themen behandelt werden wie »Fremde als Heimat«, »Wohnort: Hotel«, Imaginäre Topographie; oder die interdisziplinäre Sammlung wissenschaftlicher Essays zu den einzelnen Romanen dieses Schriftstellers, herausgegeben von Johann Georg Lughofer: Im Prisma. Joseph Roths Romane (2009) sowie eine neue Biographie Joseph Roths von Wilhelm von Sternburg (2009). In der Reihe »New Yorker Beiträge zur Literaturwissenschaft« erschien 2005 der von Robert G. Weigel herausgegebene Band: Vier große galizische Erzähler im Exil: W. H. Katz, Soma Morgenstern, Manès Sperber und Joseph Roth. Karl Emil Franzos sind zwei weitere Publikationen gewidmet: Zweigeist (2005) von Oskar Ansull sowie der von Petra Ernst herausgegebene Sammelband: Karl Emil Franzos. Schriftsteller zwischen den Kulturen (2007). Letzterer widmet sich dem feuilletonistischen Schreiben des galizischen Autors, seinem Galizien-Bild, der Konstruktion des kulturellen Raums »Halb-Asien« und seiner Darstellung jüdischer Identitätskonzeptionen. Nach der »Rehabilitierung« und Wiederentdeckung von Leopold von Sacher-Masoch durch Michael Farin in seiner Publikation Leopold von Sacher-Masoch. Mate-
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rialien zu Leben und Werk (1987) erschienen mehrere Bücher, Essays und Beiträge über die galizischen Erzählungen des Schriftstellers. Von besonderem Interesse ist die Monographie von Larissa Polubojarinova Leopold von SacherMasoch – avstrijskij pisatel’ epochi realisma (2006) [Leopold von Sacher-Masoch – österreichischer Schriftsteller in der Zeit des Realismus]. Immer mehr Faszination findet das Schaffen von Bruno Schulz. Neben neuen Übersetzungen seiner Erzählungen von Doreen Daume (2008) ist im gleichen Jahr die Übersetzung der fundamentalen Untersuchung von Jerzy Ficowski Bruno Schulz. 1892–1942. Ein Künstlerleben in Galizien erschienen [poln. Ausgabe: Jerzy Ficowski: Regiony wielkiej herezji i okolice. Bruno Schulz i jego mitologia (2002)]. Relevant sind auch die 2006 in der Ukraine publizierten Monographien über Ivan Franko. Es sind dies: Die Studie der zeitgenössischen ukrainischen Schriftstellerin und Philosophin Oksana Zabuzˇko Filosofija ukrajins’koji ideji ta jevropejs’kyj kontext. Frankiv period [Philosophie der ukrainischen Idee und der europäische Kontext. Frankos Periode] (1992), in der Frankos Werk im damaligen europäischen philosophischen und literarischen Kontext besprochen wird; die Monographie von Tamara Hundorova Franko ne Kamenjar. Franko i Kamenjar [Franko ist kein Steinbrecher. Franko und Steinbrecher] (2006) – eine Darstellung des Schaffens von Franko an der Grenze der kulturellen Räume in der Zeit der Epochenwende von der Romantik über den Positivismus bis zur Moderne – sowie die historische Untersuchung von Jaroslaw Hrytsak Prorok u svojij vitcˇyzni. Franko ta joho spilnota (1856–1886) [Ein Prophet in seinem Land. Franko und seine Gemeinschaft (1856–1886)] (2006), wo Frankos Leben und Wirken in der ersten Periode seines Schaffens im breiten kulturhistorischen Umfeld analysiert wird. Es erweisen sich aber Forschungsdesiderate, und nicht nur hinsichtlich des Schaffens einzelner galizischer Autoren im Rahmen der jeweiligen nationalen Literaturgeschichte und dementsprechend der Sprachtradition, sondern auch auf den komparatistischen Wegen, wenn der genetische und typologische Vergleich der Werke durchgeführt wird, die zeitlich diachron oder synchron entstanden waren, sich aber auf einen gemeinsamen Raum im breitesten Sinne dieses Begriffes beziehen. Hier sollten neue methodische Ansätze verwendet werden, denn, wie Stefan Kaszyn´ski in der Vorbemerkung zum Sammelband Galizien – eine literarische Heimat betont, könne man mit den der modernen Literaturwissenschaft zur Verfügung stehenden Methoden »dieser Literatur nicht beikommen, man weiß aber angeblich, wo ihre Heimat ist, aber auch das weiß man nicht genau, denn was ist schon eine literarische Heimat, die es nicht gibt, ein Mythos, Phantasma, eine innere Landschaft, eine konturenlose Erinnerung?«38 Eine wichtige Rolle bei der Erforschung spielt die Sprache, in der die »galizischen Literaturen« entstanden. Die Mehrsprachigkeit Galiziens hatte doppelte 38 Kaszyn´ski 1987, S. 7.
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Wirkung: Einerseits entwickelten sich hier im Laufe der Zeit einzelne Literaturen in den Sprachen Deutsch, Polnisch, Ukrainisch und später Jiddisch, die zu den entsprechenden »Nationalliteraturen« gehören, andererseits waren diese einzelne Literaturen voneinander nie isoliert: Infolge des gleichen historischen und sozialen Hintergrunds entstanden viele gemeinsame Topoi des »Galizischen Textes«. Dabei konnte man die Wirkung sowohl der Anziehungs-, als auch der Abstoßungskräfte verfolgen, die unter anderem das Entstehen mehrerer Mythen, Klischees und Stereotypen verursachten, die positiv oder negativ beladen waren. Eine gründliche Erforschung der galizischen Literatur erfordert deswegen mehrdimensionale und nicht-kanonische Zugänge. Es ist also erforderlich, die transnationale Diskussion über die Galizienliteratur weiterzuführen, und zwar als Auseinandersetzung mit den literarischen Texten im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Diskurses unter der gezielten Perspektive der neuen Zugänge. Bekanntlich konnte man seit Ende des 20. Jahrhunderts entsprechend der neuen Ausrichtung der Kulturwissenschaften mehrere Wenden (Cultural Turns) verfolgen, die von der Einführung neuer Leitvorstellungen und Kategorien, vom Richtungswechsel und vom Theoriewandel gekennzeichnet waren. In diesem Sinne schrieb Andreas Kappeler, einer der Initiatoren des Doktoratskollegs »Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe« an der Universität Wien, wenn er die Frage »Weshalb Galizien?« beantwortete, dass »das historische Galizien« sich »als Experimentierfeld für kulturwissenschaftliche Ansätze wie die postcolonial studies oder den spatial turn anbiete.«39 Mehrere Publikationen, die im Rahmen des Doktoratskollegs veröffentlicht wurden, sind der Erforschung der Geschichte, der Kultur und der Literatur Galiziens unter neuen Perspektiven gewidmet.40 So findet man literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge in den Bänden Galizien – Fragmente eines diskursiven Raumes (2009) und Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie? (2013), herausgegeben von Elisabeth Haid, Stephanie Weismann und Burkhard Wöller; Galizien in Bewegung. Wahrnehmungen – Begegnungen – Verflechtungen (2017), herausgegeben von Magdalena Baran-Szoltys, Olena Dvoretska, Nino Gude, Elisabeth JanikFreis und Continuities a n d Discontinuities of the Habsburg Legac y in EastCentral European Discourses since 1918 (2020), herausgegeben von Magdalena 39 Galizien 2009, S. 7. 40 Auf der Webseite des Doktoratskollegs »Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe«, in dem 2006–2019 Geschichte, Kultur(en), Literatur(en) und Sprachen Galiziens interdisziplinär erforscht wurden, ist die Bibliographie zu Galizien veröffentlicht, die Bereiche Literatur, Geschichte und Politik umfasst und die einschlägige Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte nennt: https://dk-galizien.univie.ac.at/. Außerdem sind hier mehrere Publikationen zum Thema »Galizien« aufgeführt sowie die Bänder der Reihe »Wiener GalizienStudien«, die bei Vienna University Press (Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht) seit 2017 erscheint.
Mehrdimensionalität der Herangehensweisen
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Baran-Szołtys und Jagoda Wierzejska. Literarischer Wechselseitigkeit im österreichischen Galizien und danach ist der Sammelband von Alois Woldan Beiträge zu einer Galizienliteratur (2015) gewidmet. Die Monographien von Franciska Solomon Blicke auf das galizische Judentum: Haskala, Assimilation und Zionismus bei Nathan Samuely, Karl Emil Franzos und Saul Raphael Landau (2012) und von Stephanie Weismann Das Potenzial der Peripherie. Leopold von SacherMasoch (1836–1895) und Galizien (2017) behandeln dagegen gezielt das Schaffen einzelner Autoren aus dem Galizien des 19. – Anfang des 20. Jahrhunderts. Das exemplarische Buch des Historikers Börries Kuzmany Brody: Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert (2011) schildert unter anderem unterschiedliche Wahrnehmungen der Heimatstadt von Joseph Roth in der Geschichtsschreibung und in der Literatur. Zu den neusten Veröffentlichungen gehört die Monographie von Magdalena Baran-Szoltys Galizien als Archiv. Reisen im postgalizischen Raum in der Gegenwartsliteratur (2020). Hier werden zeitgenössische Repräsentationen von Galizien in polnischen und deutschsprachigen literarischen und publizistischen Reisetexten analysiert. Die Verfasserin beleuchtet Funktionsweisen von Reisen in historische und geographische Räume und entwickelt daran die These von Galizien als einem historisch-literarischen, familiären und idiosynkratischen Archiv, in welchem gewisse Themen, Mythen und materielle Relikte aufbewahrt werden. Es sind nur wenige Beispiele, die vielseitige Erforschung Galiziens und seines kulturellen Erbes wird fortgesetzt. Von einem solchen methodologischen Standpunkt geht auch das Anliegen der Untersuchungen dieses Bandes aus: Es geht hier um die vergleichende Geschichte der Galizienliteratur, die mit neuen literatur- und kulturwissenschaftlichen Zugängen, vor allem der Raumwende in Verbindung gebracht werden soll. Zunächst sollen aber methodisch-theoretische Ansätze und einige Begriffe geklärt werden, die für diese Arbeit von Bedeutung sind und durch die sie sich in ein breiteres Forschungsfeld einreihen lässt.
Mehrdimensionalität der Herangehensweisen: Methodisch-theoretische Ansätze und Begriffsklärungen Komparatistik: genetischer und typologischer Vergleich / Rezeption im fremden Kontext; literarische Übersetzung / Toposforschung / Kulturwissenschaften: Wende zum Raum Der Forschungsgegenstand dieser Untersuchung ermöglicht es, ihn a priori komparatistisch zu behandeln. Dazu gibt es zweierlei Gründe: Es wird erstens der »Galizische Text« als eine Gesamtheit der Narrative betrachtet, dementsprechend
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wurde das Schaffen mehrerer Autoren zur Erforschung herangezogen, die in unterschiedlichen zeitlichen Perioden und in verschiedenen Sprachen im gleichen geopolitischen und kulturellen Raum Texte verfassten oder über ihn schrieben. Vom Standpunkt der Komparatistik werden dabei Werke verglichen, die vor allem in den für den galizischen Raum typischen Sprachen geschrieben wurden: Deutsch, Polnisch und Ukrainisch. Zweitens wird das Schaffen der galizischen Autoren betrachtet, die sich an gemeinsame geographische, historische und kulturell spezifische Themen wandten. Dieser Umstand ermöglicht den genetischen Vergleich, der den Einfluss betrifft, der im Rahmen von genetischen Kontaktbeziehungen untersucht wird. Besonders produktiv ist im Fall der Galizienliteratur aber die Erforschung der Fragen, wenn die Ähnlichkeiten dadurch zustande kamen, dass sie aufgrund der analogen Ausgangssituationen (gesellschaftlicher und kultureller Voraussetzungen) bedingt waren. Ihre Beantwortung wird zum Anliegen des typologischen Vergleichs. Neben diesen zwei grundsätzlichen Fragestellungen der vergleichenden Literaturwissenschaft werden für diese Arbeit auch folgende Herangehensweisen der literarischen Komparatistik relevant: Probleme der Rezeption einzelner Werke in einem fremden Kulturkontext (Umdeutung, Adaption und Deformation der rezipierten Texte unter dem Einfluss der Ideologien) sowie thematologische Fragestellungen, vor allem hinsichtlich der Toposforschung.41 Diesbezüglich wurden die Sichtweisen der historischen Komparatistik relevant, zu deren Grundlagen der von Ernst Robert Curtius neu definierte Begriff des locus communis wurde. Im Fall der Galizienliteratur ging es um »gemeinsame Orte« der typischen Metaphern und Bilder, der Gesamtheit der Themen und Motive, der Beschreibungsmuster von Personen und Orten, Vorgängen und Emblematik sowie um Denk- und Ausdrucksschemata, die in einem synchron-diachronen Rhythmus im durchgehenden »Galizischen Text« vorkommen. Es werden komplexe Aspekte hervorgehoben, die die Grenzen einer für die nationalen Diskurse typischen historischliterarischen Analyse überschreiten. Dabei wurde auf den rezeptionsästhetischen Zugang verzichtet, da für das Verständnis des kulturhistorischen Phänomens »Galizischer Text« neben den literarischen Kunstwerken der bekanntesten galizischen Schriftsteller die Werke weniger bekannter Autoren herangezogen wurden: In Anlehnung an die Literaturwende (Literary Turn) wurde der Textkorpus gattungsmäßig von ästhetischen Texten (fiktionale Texte) auf andere Textsorten und kulturelle Manifestationen (faktuale Texte wie beispielsweise autobiographische Erinnerungsbücher und Reiseberichte) hin erweitert. Genealogisch gesehen, wurden vor allem epische Texte betrachtet; in den Fällen, wo die Logik des Forschungsprozesses es erforderte, wurden auch Werke anderer Gattungen ins Visier genommen. 41 Nach Zima 2004, S. 340–342.
Mehrdimensionalität der Herangehensweisen
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Die Forschungsmethoden dieser Untersuchung sind interdisziplinär: Sie beziehen sich vor allem auf die komparatistische Textinterpretation und erfassen ebenfalls Ansätze aus dem Bereich der Germanistik und Slawistik sowie der Kulturwissenschaften, der Geschichte, der Philosophie und der Geographie. Im Vordergrund stehen hier die kulturwissenschaftlichen Ansätze, die im Kontext der so genannten Kulturwenden (Cultural Turns) entwickelt wurden, insbesondere die Methoden der Raumwenden (Spatial Turn und Topographical Turn). Die neuen Analysemethoden verhalfen die komparatistischen Fragestellungen zum »Galizischen Text« durch die Hermeneutik des Raumes zu ergänzen. Diese Ansätze betreffend ist es wichtig zu vermerken, dass es hier generell um die räumliche (spatial) Hermeneutik geht, die das epistemologische Potenzial der Raumfokussierung erschließt.42 Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit steht der Raum als physischer, aber auch als relationaler Begriff, als gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, der Nutzung und der Aneignung, eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation.43 Dementsprechend wird in der Arbeit die Anwendung der Forschungsmethoden diverser Raumtheorien und ihrer Leitbegriffe dominant, die im Rahmen der Raumwende, aber auch davor und daneben konzipiert wurden. Mit dieser innerhalb der Kulturwissenschaften ausgearbeiteten Perspektive sind mehrere fachübergreifende Forschungszugänge verbunden. »Raum« wird dabei vor allem nicht mehr nur als ein wahrnehmungsunabhängig existierender Container mit Unterscheidung von innen und außen verstanden, dem Menschen, Objekte und Ereignisse zugeordnet werden können; aber auch nicht mehr nur als geographischer Raum. Infolge des neuerlichen Paradigmenwechsels wurde angenommen, dass, wie Stephan Günzel betont, »›Raum‹ nicht ohne die Berücksichtigung der konstitutiven Leistung von Medien und Kulturtechniken sowie ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Prozessen beschreibbar ist.«44 Denn die Beschreibung des Raumes besteht nicht nur aus dem Akt der Repräsentation einer ontologischen Gegebenheit; wichtig ist dabei die Produktion des Raumes, die mitwirkt. Es soll aber betont werden, dass die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Raum, die als eine der kulturwissenschaftlichen Wenden in den 1980er Jahren erklärt wurde, keine absolut neue und unerwartete Forschungsperspektive ist. Davon zeugen mehrere Raumtheorien, die sich ab Ende des 19. und im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Philosophie und in den Kulturwissenschaften entwickelten und sich für die methodologischen Ansätze dieser Arbeit als aktuell erweisen.
42 Bachmann-Medick 2006, S. 284–328. 43 Ebd., S. 292. 44 Günzel 2010, S. XI.
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Relevante Raumtheorien und ihre Begrifflichkeit Politische Geographie / Relationalität des geographischen Raumes / Geophilosophie / soziale Konstruktion von Raum / Heterotopie / Produktion des Raumes / performative Praktiken im Raum / Orte und Nicht-Orte / Erinnerungs- und Gedächtnisräume / kulturelle Produktion und Produktivität des Raumes Die »Wende zum Raum« in den Kulturwissenschaften wurde maßgeblich von den Theoretikern vorbereitet, die sich mit den politisch-geographischen Räumen auseinandergesetzt haben. Unter möglichen »Vorläufern« dieser Wende kann man den Geographen Friedrich Ratzel mit seiner Hauptschrift Politische Geographie (1898) nennen, in der er die Rolle der geographischen Lage betont. Sie sei kein totes Nebeneinanderliegen der Nachbargebiete, sondern eine Aneinandergliederung. Gilles Deleuze und Felix Guattari entwickelten gemeinsam das Konzept der »Geophilosophie« und lösten die Räumlichkeit von der Materialität des geographischen Bodens. Sie verwendeten für die Beschreibung von Räumen das zentrale Oppositionspaar, nämlich das deterritorialisierte, nomadische »Glatte« und das reterritorialisierte, sesshafte »Gekerbte« (Capitalisme et schizophrénie,1980). Wichtig waren auch die Zugänge der Sozialwissenschaften, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den sozialen und den geographischen Raum nicht einfach trennten, sondern eine soziale Konstruktion von Raum durch individuelles und soziales Handeln postulierten. Zu den Vorbereitern des Denkens des Spatial Turns gehört hier Georg Simmel, laut dem erst eine soziale Organisation eine als solche wahrnehmbare Raumorganisation überhaupt schafft (Über räumliche Projektionen sozialer Formen, 1903). Michel Foucault, der die Renaissance des Raumdenkens voraussah und »unsere Zeit« als »Zeitalter des Raums« kennzeichnete45, schrieb über eine soziale Wissensordnung, die sich durch die Ausgrenzung eines historisch veränderlichen Anderen topologisch konstituiert. Er konzipierte in dem Beitrag Andere Räume den Begriff der »Heterotopie«, einer Kategorie, die zwischen den diskursgeschichtlichen Studien zur »Außengrenze« der Ordnung und zu derjenigen nach »Innen« vermittelt (Des espaces autres, 1967/1984). Dabei betonte Foucault, dass es keine Kultur gebe, die keine Heterotopien hervorbringe. Henri Lefebvre wurde mit seiner Studie Die Produktion des Raumes (La production de l’espace, 1974) zum Impulsgeber einer ganzen Generation neomarxistischer Sozialgeographen, vor allem für David Harvey und Edward Soja. Er vertritt die Auffassung, dass der soziale Raum ein soziales Produkt sei. Der physische Naturraum sei dabei als Bildhintergrund, als »Dekor« eines gemeinsamen Ausgangspunkts, der Ursprung des sozialen Prozesses. Jede Gesellschaft oder jede Produktionsweise produziert aber einen ihr 45 Vgl. Frank/Mahlke 2008, S. 228.
Relevante Raumtheorien und ihre Begrifflichkeit
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eigenen Raum. Zum Wegbereiter der Neuausrichtung der Kulturwissenschaften bezüglich der Theorien des Performativen wurde Michel de Certeau mit dem Buch Kunst des Handelns (Arts de faire, 1980). Der Raum sei für ihn ein Ort, mit dem man etwas macht: Die Straße wird durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Die raumkonstitutive Praxis des Gehens wird auf das Erzählen übertragen: Nicht nur das Erzählte, die Geschichte, durch die dem Ort Bedeutung verliehen wird, sondern der Ort wird auch zum Raum durch das (erzählte) Erzählen. Der Anthropologe und Kulturwissenschaftler Marc Augé schrieb in seinem Buch Orte und Nicht-Orte (Non-Lieux 1992) die Foucault’sche Geschichte von sozialen Räumen und ihren Gegen-Räumen fort. Nicht-Orte entstehen, laut ihm, im Gegensatz zu den verschränkten und voneinander durchsetzten RaumZeit-Ordnungen innerhalb von zeittypischen »Transiträumen« – den zerstückelten Wahrnehmungsräumen permanenter Reisen, die gleichzeitig zu einer besonderen »Beziehung« werden, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält. »Transitraum« wird bei Augé zu einem Typ des Raumes der (Über-) Moderne, aber zugleich zur Prämisse eines drohenden Verlusts des kulturellen Gedächtnisses. Dieses Konzept steht in Relation zum Konzept von Pierre Nora »Erinnerungsorte«. Mit analogen Fragen beschäftigt sich auch Karl Schlögel in der Untersuchung Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (2003). Relevant für die Thematik der Beiträge dieses Buches waren auch die theoretischen Ansätze über Erinnerungs- und Gedächtnisräume von Aleida Assmann und die Konzeption einer »raumgewordenen Vergangenheit« von Walter Benjamin sowie seine »Topographie der Kindheit«. Es wurde von mehreren Theoretikern festgestellt, dass die Beschreibung des Raumes neben seiner Materialität die historisch und kulturell spezifischen diskursiven Praktiken inkludiert, durch die er erst hervorgebracht und konstituiert werden kann. So wird »Raum« laut dem Namensgeber von Spatial Turn Edward Soja kulturell produziert; er ist dabei auch kulturell produktiv. Dementsprechend steht im Zentrum der Aufmerksamkeit der Raumwende neben den anderen der Begriff »Kulturraum«. Es soll betont werden, dass der Begriff »Kultur« hier unter der Vielseitigkeit dieses Ausdruckes als sozialer Begriff verstanden wird, der in räumlichen Bezeichnungen konfiguriert wird.46 Denn als sozialer Begriff wird Kultur durch lokalisierende Verfahren als distinkter und kohärenter Raum etabliert. Der Begriff »Kulturraum« wurde also im Sinne der »Verräumlichung der Kultur« gebraucht. So ist er mit dem territorialen Begriff nicht deckungsgleich. Vor diesem theoretischen Hintergrund wurden also fiktionale und faktuale Texte der Galizienliteratur neu gelesen und in Bezug auf den Raum und Räumlichkeit interpretiert. Die Hauptprinzipien der methodologischen Zugänge 46 Müller-Funk 2008, S. 4.
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beziehen sich auf die Räume als eine physische / materielle Gegebenheit (Primärraum) und auf die Räume als eine symbolische Entität (Sekundärraum). Der erzählte Raum der Literatur wird dabei in Sinne einer Konstruktion verstanden, die die politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse widerspiegelt, dabei aber auch einen neuen kulturellen Raum produziert. Die methodologischen Ansätze, die innerhalb der modernen Kulturwissenschaften ausgearbeitet wurden, bieten sich dementsprechend für die Analyse von literarischen Texten an. Von Relevanz ist dabei, dass sie den primären Raum als eine sozial und kulturell konstruierte Kategorie auffassen lassen und somit verhelfen sollen, einen transkulturellen Zugang zu Autoren zu finden, deren Texte sich auf die pluralistische Wirklichkeit Galiziens beziehen und sie in verschiedenen Sprachen dieser Region literarisch reflektieren. Dementsprechend wird die neue kulturwissenschaftliche Begrifflichkeit gebraucht, die im Zuge von Spatial und Topographical Turns konzipiert wurde.
Zwei Versionen der räumlichen Wende und ihre Begrifflichkeit Spatial Turn / Topographical Turn Es werden zwei Versionen von der räumlichen Wende unterschieden:47 Spatial Turn als eine angloamerikanische, internationale ist auf die Globalisierung ausgerichtet und tut postkoloniale Raumperspektiven auf, wenn im Zusammenhang von Raum von Herrschaft und Macht, Zentrum und Peripherie gesprochen wird. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen hier virtuelle Räume. Die deutschsprachige Version Topographical Turn wertet dagegen überwiegend aus der Perspektive der Europäisierung lokale und regionale Erfahrungsräume auf und bezieht sich auf empirisch fassbare Räume.48 Für diese Ansätze ist auch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt typisch.49 Im Fall Galiziens sind beide Zugänge relevant: Einerseits kann es als postkolonialer Raum interpretiert werden, andererseits kommt die räumliche Seite des historischen Galiziens als einer europäischen Region in Sicht.
47 Bachmann-Medick 2006, S. 301–302. 48 Über diese Differenz schreibt auch Sigrid Weigel, wenn sie zwischen dem Spatial Turn der Cultural Studies, wo der Akzent auf die Kritik an der Kolonialisierungsgeschichte gelegt werde, und demjenigen der deutschen Kulturwissenschaften unterscheidet, für die der Begriff Topographical Turn – besonders in der Literaturwissenschaft – typisch sei. Vgl. Weigel 2002, S. 151–165. 49 Schlögel 2003, S. 68.
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Spatial Turn Schlüsselbegriffe Hybridität / »Dritter Raum« / Ähnlichkeit / Transdifferenz / Übersetzung der Kulturen Im Rahmen des Spatial Turns werden die Ansätze der räumlichen Wende bei der Interpretation der galizischen Texte durch Analyseimpulse der postkolonialen Wende (Postcolonial Turn) methodisch erweitert, die in enger Beziehung zur Hermeneutik des Raums stehen.50 Hier wurden solche explizit auf die Literatur angewendete Schlüsselbegriffe der postkolonialen Lektüremodelle wie Hybridität und »Dritter Raum« (Third Space) in Betracht gezogen. Vor allem handelt es sich um den Leitbegriff Hybridität. Er wird in Anlehnung an die »positive Resemantisierung« (so Sylvia Sasse) dieses Konzeptes gebraucht, die von Michail Bachtin begonnen und von Homi Bhabha für die Postcolonial Studies profiliert wurde. Wie Sasse in ihrer Einführung über Bachtin betont, bezeichnet Hybridität Differenz, Korrelation, Koexistenz – also »Dialogizität in Bachtins Sinn«.51 Homi Bhabha betont in seinem Buch Die Verortung der Kultur52 gerade die »räumliche« Seite des Begriffs. Im Kontext der Hybridität wird auch eine neue Auffassung der kulturellen Dynamik vertreten: Bezüglich der Zentrum-Peripherie-Achse werden eher Ränder und Grenzzonen sowie »Zwischenräume« für kulturell produktiv gehalten.53 Mit dem Begriff der Hybridität, die nach dem Prinzip »Sowohl-als-auch« fungiert, ist die nächste Leitvorstellung der postkolonialen Theorie, und zwar der »Dritte Raum« methodisch verbunden, da in methodologischer Hinsicht Hybridisierung vor allem das Ausloten eines solchen Raums als eines Schwellenraums zwischen den Identitätsbestimmungen, so Bhabha, verbunden sei.54 Für die räumliche Wende sind zwei Dimensionen des »Dritten Raums« wichtig: Die erste Dimension deutet das Dazwischentreten des »Dritten Raums« als eine Interpretationsmethode, die gegen Dichotomien, gegen binäre Kategorisierungen eingreift. Insbesondere hat sich hier die Deutung dieses Begriffes von Edward Soja durchgesetzt: »Dritter Raum« im Sinne eines Ortes, an dem reale und
50 Es soll vermerkt werden, dass das Zurückgreifen auf die Ansätze der Postkolonialen Studien im Fall Galiziens nur unter Berücksichtigung der habsburgischen binnenkolonialen Herrschaft in der entlegenen Provinz möglich war. Postkoloniale Zugänge zur Geschichte der Habsburgermonarchie standen in letzter Zeit im Zentrum der kulturwissenschaftlichen Diskussion. Vgl. die Internetplattform www.kakanien.ac.at sowie Sammelbände: MüllerFunk/Plener/Ruthner 2002; Csáky/Prutsch/Feichtinger 2003. 51 Sasse 2010, S. 137. 52 Bhabha 2000. 53 Ebd., S. 198. 54 Bhabha 2000, S. 203.
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imaginäre Örtlichkeiten zugleich präsent seien.55 Er nennt Räume, die gleichzeitig materiell und symbolisch, real und konstruiert und in konkreten raumbezogenen Praktiken ebenso wie in Bildern repräsentiert sind, »reale-und-imaginierte Räume« (real-and-imagined places).56 Sie sind nicht mehr nur real, territorial und physisch, aber auch nicht mehr nur symbolisch bestimmt, sondern beides zugleich. Unter dieser Raumperspektive gesehen kann Galizien auch als »Dritter Raum« repräsentiert werden. Dabei wird der Ausdruck »Dritter Raum« nicht nur als Denkfigur und Metapher verwendet, er kann auch zu Analysekategorien entwickelt werden. Eng damit verbunden ist die zweite Dimension des Begriffes »Dritter Raum«, wenn er nicht nur konzeptuell gebraucht wird, sondern sich auch zur räumlich fundierten Vorstellung eines Kontaktraums ausweitet. Gemeint sei hier, so Bachmann-Medick, ein Ort der Auseinandersetzung in und zwischen den Kulturen, in dem Grenzziehungen (zum Beispiel zwischen Eigenem und Fremdem) destabilisiert werden können.57 Auf den Bereich des »Sowohl-als-auch« bezieht sich auch das kulturtheoretische Paradigma »Ähnlichkeit«, das als eine alternative Vorgehensweise in den Kulturwissenschaften gilt und für die Erforschung der Kulturphänomene Galiziens herangezogen werden kann. Da deren Grundbegriffe die des Nahen und des Fernen, der Distanz und der Ent-Fernung sind, konnotiert die Philosophie der Ähnlichkeit auch räumliches Denken.58 Außerdem soll hier erwähnt werden, dass neulich für Hybridität, Transkulturalität oder Transidentität ein Sammelbegriff eingeführt wurde, und zwar das analytische Konzept »Transdifferenz«, das es ermöglicht, Phänomene zu untersuchen und zu beschreiben, die mit Modellen binärer Differenz nicht erfasst werden können.59 Im Fall der Kulturen und Literaturen Galiziens erwies sich dieser Zugang als besonders produktiv. Die erwähnten Schlüsselbegriffe von Spatial Turn wurden in dieser Untersuchung auch durch die Zugänge der Übersetzungswende (Translational Turn) ergänzt, die von Doris Bachmann-Medick zwischen zwei anderen – der postkolonialen und der räumlichen Wende gestellt wurde.60 Als wichtige Form des Kontakts zwischen unterschiedlichen Kulturen spielt die Übersetzung sowohl in der semiotischen Theorie der Kultur von Jurij Lotman als auch in den Arbeiten zur Hybridität von Homi Bhabha eine der zentralen Rollen.
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Bachmann-Medick 2006, S. 204. Soja 1996. Ebd., S. 205. Bhatti/Kimmich 2015, S. 17–18. Lösch 2005, S. 26–49. Bachmann-Medick 2006.
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Topographical Turn Schlüsselbegriff Kognitive Kartierung (Mental Mapping) Im zweiten Fall der räumlichen Wende, der so genannten deutschsprachigen Version, die als topographische Wende (Topographical Turn) eine besondere Resonanz in der europäischen Literaturwissenschaft gefunden hat, geht es vor allem um die Repräsentationsformen von Räumen. Ein besonderes, erkenntniskritisches Potential gewinnen hier die Landkarten und das Verfahren der Kartierung (mapping). Karl Schlögel konzentriert den Raumfokus in seiner Monographie Im Raume lesen wir die Zeit auf die Landkarten. Sie sollen bei ihm aber, hebt Bachmann-Medick hervor, im topographischen Sinn die Gleichzeitigkeit der Raumbeziehungen aufzeigen und Raumverhältnisse über das Kartenlesen als »Visualisierung«61 zugänglich machen.62 Für Galizien, das infolge seiner geopolitischen »Brückenlage« unter der Herrschaft verschiedener Mächte war und mehreren Staaten angehörte, ist die Raumpräsentation durch Karten besonders prägnant: Im Laufe der Geschichte änderten sich seine politischen Karten mit den jeweiligen neuen Grenzen mehrmals. Von besonderem Interesse sind heutzutage demzufolge die historischen Karten Galiziens, die die ehemaligen Verhältnisse auf der symbolischen Ebene widerspiegeln. Die Karte wird auch im Sinne der topographischen Wende als ein herausragender Gegenstand im Zuge der methodischen Umsetzung oder strategischen Verwendung im Verfahren der Kartierung (mapping) hervorgehoben. Der kulturwissenschaftliche Ansatz richtet sich vor allem auf die Repräsentationstechniken und die Repräsentationsformen; dabei rückt der Darstellungsakzent in den Vordergrund. Solche Kartierungsfelder erweitern die physische Karte zu kognitiven Karten, also zu »symbolischen und vor allem subjektiven Aufladungen der kartographischen Bezugspunkte mit je verschiedenen Bedeutungen.«63 In dem Fall verweisen kognitive Karten aufgrund ihrer Überlagerung der physisch-räumlichen Strukturen durch (subjektive) Erinnerungsakte auf die Komplexität der Raumperspektive, auf Schnittstellen zwischen Raum und Zeit. Kartierung wird zu einer mentalen Operation, zur kognitiven Kartierung.
61 Schlögel 2003, S. 263. Vgl. auch Schneider 2004. 62 Bachmann-Medick 2006, S. 300. 63 Ebd., S. 299–300.
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Bemerkungen zur narrativen Raumdarstellung Topographie / Topologie des Raumes Um die entsprechende kultur- und literaturwissenschaftliche Begrifflichkeit der raumbezogenen Textanalyse zu beschreiben, soll man das Augenmerk vorerst auf die Unterschiede zwischen der Topographie und Topologie des Raumes sowie ihre Bedeutung für die »Geschichten im Raum« und »Raumgeschichte«64 lenken, da für diese Untersuchung beide relevant sind.65 Laut Jörg Dünne kann man davon ausgehen, »dass sich die Untersuchung von Topographien mit konkreten geographischen Räumen beschäftigt, die die Frage nach der geographischen Referenz implizieren.«66 Es geht aber nicht nur darum, »dass sich Geschichten im gegebenen, physischen Raum abspielen, sondern dass auch der topographische Raum in bestimmter Weise ein produzierter Raum ist«.67 Die in der Topographie beschriebenen Orte und Landschaften können wirklich oder nur fingiert sein. Im Rahmen der Topographien spricht man auch vom Modellieren geographischer Bilder68 sowie von den Graphien des Raums, wie zum Beispiel von der Kartierbarkeit der literarischen Texte. Bei den gegenwärtigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Zugängen wird die Aufmerksamkeit neben den topographischen Figuren in der literarischen Darstellungstheorie auch auf die Korrelation zwischen Literatur, Philosophie und Topographie gerichtet, insbesondere neben den räumlichen Denkfiguren auf die Rolle der Topographie sowie der geographischen Karte für einzelne Schriftsteller, und dementsprechend auf Orte und Landschaften als Vorbedingung der Literatur. Im Sinne von der Raumwende gelten aber literarische Landschaften, so Bachmann-Medick, »nicht als vorgegebene Objekte der Beschreibung, sondern als Ergebnis menschlicher bzw. poetisch-sprachlicher Tätigkeit, Zuschreibungen und Projektionen«.69 Es sei das performative Vermögen der Sprache, das Räume herstellt, die mehr sind als bloße Verhaltensumwelten, resümiert die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Vom ähnlichen Standpunkt aus erarbeitet auch Barbara Piatti ihre Geographie der Literatur. Es geht der Forscherin »um eine Konzeption von vergleichender Literaturgeschichte unter räumlichen Gesichtspunkten: Wo spielt Literatur und weshalb spielt sie dort? Wie nutzt, überformt, verfremdet oder re64 Dünne 2013. 65 Während die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel den Ausdruck topographical turn gebraucht, findet man beim Medienwissenschaftler Stephan Günzel die Definition topological turn. Vgl.: Weigel 2002; Günzel 2007. 66 Dünne 2013, S. 6. 67 Ebd. 68 Zamjatin 2006. 69 Bachmann-Medick 2006, S. 310.
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modelliert sie – über mehrere Epochen – bestehende geographische Räume? Und wie lassen sich solche fiktionalisierten Landschaften, genauer: ihre Genese und ihre innere Struktur darstellen und deuten?«70 Nicht ohne Relevanz für Zugänge dieser Arbeit waren auch die Topologien. Sie kann man als abstrakte Raumrelationen, »die nicht notwendigerweise von physischen Räumen ausgehen«, verstehen.71 Laut der Genese dieses Konzeptes in der Mathematik wird der Raum bei der topologischen Betrachtung nicht als Substanz, sondern als Feld zwischen Körpern verstanden. Dünne schreibt dazu: »Man kann mit einigem Recht annehmen, dass topologische Ansätze die besondere Chance eröffnen, das Denken in Lagerelationen zum Ausgangspunkt der Frage nach der Geschichtlichkeit von Raum überhaupt zu machen; es wird sich aber zeigen, dass topologische Ansätze ebenso dafür verwendet werden können, um Geschichten im Raum zu beschreiben«.72 Es soll erwähnt werden, dass solche Aspekte des Raumes wie Topos, Topographie und Topologie nicht erst im Rahmen der Raumwende aufgetaucht sind; sie waren schon »immer« mit dem poetischen Denken verbunden. Da zu den Aufgaben der Literatur auch die Wiedergabe der Wechselbeziehungen der Zeit und des Raumes im Textkontinuum gehört, befinden sich räumliche Figuren im Zentrum der Aufmerksamkeit mehrerer Literaturtheorien des ganzen 20. Jahrhunderts. Als eines von vielen Beispielen kann das Konzept »Chronotopos« von Michail M. Bachtin erwähnt werden, das er schon 1937 erarbeitete, doch als Essay erst 1973 vollenden konnte. Eine Art der Raum-Renaissance ist aber ab Ende der 1950-er Jahre zu vermerken, als die Arbeiten von Gaston Bachelard, Maurice MerleauPonty sowie Jurij Lotman erschienen. Alle diese theoretischen Ansätze haben auch ihren Nachklang in diesem Band gefunden. Daher war es wichtig, den Unterschied zwischen verschiedenen Arten des narrativ erzeugten Raums zu skizzieren.
Raum im narrativen Text Narratologie des Raumes / Phänomenologie der Erfahrungsräumlichkeit / Raumsemiotik / Chronotopos Vom Stand der Narratologie des Raumes wird im Text zwischen der Ereignisregion, dem Erzählraum, dem erzählten Raum und dem konkreten Raum der erzählten Welt unterschieden.73 Laut der Definition von Katrin Dennerlein be70 71 72 73
Piatti 2008, S. 9. Dünne 2013, S. 6. Ebd. Dennerlein 2009.
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deute die Ereignisregion den Bereich »in«, »an« oder »bei« einer räumlichen Gegebenheit, in dem sich ein Ereignis abspielt. Die Ausdehnung sei durch das Ereignis bestimmt. Sie könne mit der Objektregion der aktuellen Welt zusammenfallen, könne aber auch davon abweichen.74 In unserem Fall wurde der Raum Galiziens zur Ereignisregion, der aber nicht unbedingt mit seinem ehemaligen geopolitischen Raum zusammenfallen muss. Der Erzählraum umfasst die Ereignisregion, in der ein Erzählakt situiert ist. Der erzählte Raum bedeute dagegen die Ereignisregion, in der kein Erzählakt situiert sei.75 Der konkrete Raum der erzählten Welt sei, so Dennerlein, die Menge derjenigen konkreten Objekte der erzählten Welt mit einer Unterscheidung von innen und außen, die nach den Regeln der erzählten Welt zur Umgebung einer Figur werden.76 Der Begriff »die erzählte Welt« umfasst die Handlung sowie die Gesamtheit der Figuren, Objekte und räumliche Gegebenheiten; »konkret« bedeutet dabei, dass sie »sinnlich, anschaulich« gegeben sind.77 Es gibt mehrere Möglichkeiten, den konkreten Raum in einem narrativen Text zu erzeugen, die man unter die Bezeichnungen »raumreferentielle Ausdrücke« und »Inferenzen auf Raum« einordnen kann.78 Das Vorhandensein von erzählter Wahrnehmung ist aber für die Konkretheit des Raumes keine notwendige Voraussetzung. Sie werde, so Dennerlein, nur dann aktuell, wenn es um die erzählte Raumwahrnehmung geht, die dann vorliegt, wenn jemand wahrnimmt.79 Diesbezüglich gewinnen zwei Zugänge zur narrativen Raumdarstellung an Relevanz: die Zugänge der Phänomenologie des Raumes und der Raumsemiotik. Es wäre zunächst zu bemerken, dass der narrativ erzeugte Raum, ausgehend von der literarischer Darstellung von Bewegungen im Raum und »vor allem von Kodierungen des Raums, seinen Repräsentationsformen, seinen Gewohnheiten, Praktiken, narrativen Erschließungen und seiner Aufladung mit Symbolen und Imaginationen, schließlich seiner Umwandlung zu symbolischen bzw. ›imaginären Orten‹«80 von der Phänomenologie und der Semiotik des literarischen Raumes schon längst vor der »räumlichen Wende« behandelt wurde. Wenn Topographie vor allem referentiell ist und sich auf das abbildhafte Verständnis von Literatur stützt, bezieht sich Topologie auf abstrakte Strukturen, die vom Standpunkt dieser beiden auf den ersten Blick diversen Zugängen gedeutet sein können. Die beiden Traditionen, die phänomenologisch-hermeneutische und
74 75 76 77 78 79 80
Ebd., S. 237. Ebd., S. 240. Ebd., S. 239. Ebd., S. 48. Ebd., S. 73–99. Ebd., S. 240. Bachmann-Medick 2006, S. 308.
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die strukturalistisch-semiotische, gehören, wie Andreas Reckwitz betont81, zu zwei Hauptzweigen des kulturwissenschaftlichen Feldes. Die Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften seien laut ihm nicht durch »revolutionäre Ablösungen von Paradigmen gekennzeichnet, sondern durch Transformationen, durch Verarbeitung der Theorien von Vorgängern, die eben nicht auf deren strikte Ablösung zielt, sondern auf Konvergenzen«.82 Bezüglich des phänomenologischen und semiotischen Zugangs wird keineswegs ihre Konvergenz gezeigt – sie gehen getrennt hervor und bestehen doch gleichzeitig »in durchaus spannungsreichen Konstellationen nebeneinander«.83 Wie Dmytro Nalyvajko betont, sollen die Methoden, die beim Vergleich zweier oder mehrerer Werke zur Anwendung kommen, sich unter anderem nach solchen modernen Zugängen wie Phänomenologie und Semiotik ausrichten.84 Es war in unserem Fall wichtig, unter mehreren Ansatzmöglichkeiten, die unterschiedliche Raumtheorien darbieten, zwei konträre Zugänge der räumlichen Interpretation zu wählen, um Unifikation zu vermeiden. Dabei können diese Zugänge entweder textimmanent sein oder sich nach dem Vorwissen des Autors richten. Die Ergebnisse der phänomenologischen Raumtheorien, die auf Wahrnehmung und Leiblichkeit basieren, waren schon immer für die Erforschung des literarisch dargestellten Raumes relevant. In diesem Fall wurde der Raum nicht mehr als gleichförmiger Ausdehnungsraum konzipiert, sondern als Erlebensraum. Ein solcher topologischer Ansatz stützt sich auf die Philosophie von Edmund Husserl, die zum Ausgangspunkt sowohl der frankophonen als auch der deutschen Form der Topologie geworden ist. Stephan Günzel unterscheidet diese beiden Formen des topologischen Raumdenkens folgendermaßen: »Während die frankophone Topologie mit Bachelard [Poetik des Raumes, 1957, L.C.] explizit an Modelle der neueren Geometrie sowie der Relativitätstheorie anschließt, wird in der deutschen Topologie bei Martin Heidegger der ›Ort‹ und dessen lebensweltliche Funktion als Wohnstätte oder Heimat betont.«85 Beide Ansätze, erklärt Günzel weiter, argumentieren recht unterschiedlich: Die französische Version ziele vor allem darauf ab, eine Inkompatibilität zwischen topologischem und euklidischem Raum zu belegen, die deutsche Phänomenologie dagegen versuche aufzuzeigen, dass der dreidimensionale Raum der topologischen Struktur einer Erfahrungsräumlichkeit entspreche. »Ein Vermittlungsversuch« sei bei MerleauPonty zu finden [Phénoménologie de la perception, 1961]: Einerseits vertrete er die These von der Ursprünglichkeit des topologischen Raums, andererseits
81 82 83 84 85
Reckwitz 2000, S. 542. Bachmann-Medick 2006, S. 20. Ebd., S. 21. Nalyvajko 2009, S. 29. Dünne/Günzel 2006, S. 106.
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konstatiere er die Verflechtung beider Raumtypen.86 Konstruktiv für die Fragestellungen dieser Arbeit erwies sich auch die verhaltenswissenschaftliche Form der Topologie von Kurt Lewin [Kriegslandschaft, 1916], der eine topologische Raumbeschreibung der Phänomenologie vorgelegt hat, die sich auf eine konkrete Erlebenssituation bezieht.87 Es war Gaston Bachelard, der mit seiner frühen phänomenologischen Arbeit Poetik des Raumes (franz. 1957, deutsch 1987) den Grundstein für die Raumsemiotik gelegt hat. Eine besondere Entwicklung nahm sie bei Jurij Lotman, in dessen theoretischen Erläuterungen Topologie den textimmanenten Strukturen zugrunde liegt, die die Dynamiken der literarischen Sujetkonstitution deutlich machen. Jörg Dünne schrieb diesbezüglich: »Lotman befreit die literarische Objektkonstitution aus der positivistischen Verhaftung in der topographischen Referentialität eines lebensweltlich erfahrbaren Raums. Dies gelingt ihm dadurch, dass er Sprache, und speziell Literatur, nicht nur als Systeme betrachtet, die auf Welt referieren, sondern die Welt modellieren.«88 Die Besonderheit der Literatur sei es, so Jurij Lotman in Struktura chudozˇestvennogo teksta [Die Struktur des künstlerischen Textes] (1970), dass ihr Material die natürlichen Sprachen selbst sind. Hierzu kommt, dass der »künstlerische Text« ein Modell von Wirklichkeit konstituiert. Dabei ist der künstlerische Text bei Lotman im weiteren Sinne zu verstehen – nicht nur als Einzelwerk, sondern auch als homogene Gruppe von beliebig vielen Werken bis hin zur Produktion einer ganzen Epoche. An diese These knüpft auch der Begriff »Galizischer Text«. Die Methode von Lotman besteht darin, dass er in künstlerischen Texten duale räumliche Oppositionen ausfindig macht. Weltmodelle lassen sich, so Lotman, aus literarischen Texten rekonstruieren, indem solche räumliche Oppositionen auf ihre Semantik hin analysiert werden. Im Aufsatz Das Problem des künstlerischen Raums in Gogols Prosa erläutert Lotman das folgendermaßen: »Jedem Raum entspricht ein besonderer Typ der Beziehungen zwischen den in ihm funktionierenden Gestalten. […] Das im Text von Abenden entstandenes System der räumlichen Verhältnisse erwies sich als ziemlich potentielles modellierendes System, das sich von seinem unmittelbaren Inhalt distanzieren kann und zur Sprache des Ausdruckes der außerräumlichen Kategorien wird.«89 So erweist sich die räumliche Ordnung für Lotman als organisierendes Element, um das herum auch nichträumliche Charakteristika aufgebaut werden. Er ist der Meinung, dass jede soziale und kulturelle Ordnung der Welt topologisch strukturiert sei: Das 86 87 88 89
Ebd. Lewin 2006, S. 129–140. Dünne 2013, S. 10. Lotman 1992, S. 424–425. In der deutschen Übersetzung auch in: Lotman/Eimermacher 1974. S. 200–271. Lotman bezieht sich auf die Erzählsammlung von Nikolaj Gogol Abende am Weiler bei Dikan’ka.
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bedeutet, dass soziale, religiöse, politische und moralische Modelle über räumliche Vorstellungen konzeptionalisiert werden. Sie können folglich als Raummodelle gestaltet werden.90 Eine besondere Stellung nimmt in Lotmans »früheren Arbeiten« der Begriff der Grenze ein: Sie trennt zwei komplementäre Teilmengen eines semantischen Feldes und sollte impermeabel, undurchlässig sein. Anders wird dieser Begriff aber in späteren Arbeiten Lotmans zur semiotischen Theorie der Kultur gedeutet, die unter dem Titel Vnutri mysljasˇcˇich mirov [Die Innenwelt des Denkens] (2000) erschienen. Hier wird der Grenze eine alternative Rolle zugewiesen: Sie ermöglicht den Prozess der Über-Setzung.91 Lotman operiert dabei mit dem Begriff der »Semiosphäre«, die für ihn ein semiotisch verstandener Raum der Kultur sei, infolgedessen sie zum Synonym für Kultur im breiten Sinne wird.92 Als Zeichenraum, der durch eine unaufhörliche Dynamik der Zeichenbildung und Zeichenlöschung prozessual definiert wird (wie es zum Beispiel im Fall der Nationalkulturen ist), wird sie zur Sphäre der zeichenhaften Kommunikation. Lotmans »Semiosphäre« kann man folglich als die Gesamtheit aller Zeichenbenutzer, Texte und Codes einer Kultur bezeichnen; sie ist das symbolische Konzeptualisieren eines kulturellen Raumes. Die Grenzzone des Kontakts zu benachbarten »Semiosphären« wird zum Ort intensivierter semiotischer Dynamik. Infolgedessen, schlussfolgert Lotman, sei der äußerste Rand der Semiosphäre ein Ort des permanenten Dialogs: Hier entstehen die »Mischformen« der Kulturen.93 Somit wird die Grenze zum wichtigsten Übersetzungsmechanismus der »Semiosphäre«: Die Grenze sei dabei höchst ambivalent – als Abgrenzung kann sie hindern, als Übersetzung und Aneignung aber ermöglichen. Semiotische Dynamik der Kultur bedeutet für Lotman die Grenz-Dynamik. Er betont auch die nicht adäquate Übermittlung von Informationen: Vielmehr sei es »der produktive Mehrwert, der durch die unweigerliche Differenz zwischen Sender und Empfänger zustande kommt, welcher für ihn von Interesse ist, da er die Entstehung von Kultur zuallererst ermöglicht.«94 Außerdem betont Lotman die unentbehrliche Präsenz des Dialogs: Er ist für die Überwindung der Grenze notwendig. Es geht dabei nicht nur um die Übersetzung von einer in eine andere natürliche Sprache (die übersetzungstheoretische Perspektive), sondern auch um Übersetzung zwischen semiotisch unterschiedlichen Codes, die man interpretieren kann (die semiotische Perspektive). 90 Diese These wird durch Forschungsergebnisse der Kognitionspsychologie plausibel gemacht, die besagen, dass Raumvorstellungen als Gedächtnisstützen fungieren und dass abstrakte Probleme als Raummodelle gedacht werden. 91 Frank/Ruhe/Schmitz 2010, S. 393f. 92 Lotman 2010, S. 163f. 93 Ebd., S. 191f. 94 Frank/ Ruhe/Schmitz 2010, S. 405.
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Abschließend soll hier noch auf Michail Bachtins Modell eines »konsequent chronotopischen Herangehen[s]«95 hingewiesen werden, das er als den aus den Naturwissenschaften entlehnten Begrifft »Chronotopos« viel früher – vor Spatial Turn – formulierte. »Einen massiveren Appell hätte Bachin, – so Michael Frank und Kirsten Mahlke – nicht auf die zeitgenössischen Literaturwissenschaften richten können: nach der beinahe ausschließlichen Fokussierung auf die Zeit nun auch den Raum in die Romanbetrachtung einzubeziehen.«96 Zurzeit wird Bachtins Konzept auch breiter eingesetzt: Es geht um jede Form der Narration, denn hinsichtlich der raumzeitlichen Beziehungsstruktur der Sprache jegliche Form des Ausdrucks von Beziehungen und geistigen Prozessen räumlich angeordnet sei: »das heißt die Zeit ist immer nur unter räumlichen Bedingungen vorstellbar«.97 Folglich kann man resümieren, dass die beiden methodologischen Zugänge, die Phänomenologie der Räumlichkeit und die Raumsemiotik, unterschiedliche Möglichkeiten bieten, die Raummodelle im narrativen Text zu entwerfen.
Raummodelle als Konfiguration von Rauminformationen Anthropologisches / institutionelles / spezifisches Raummodell Neben der Frage der Deskription des narrativen Raumes wird die Frage seiner Konstitution gestellt, die grundlegend für sein Modellieren ist. Es soll betont werden, dass der narrative Raum nicht nur die Beschreibung des Raumes als einer physischen Gegebenheit inkludiert und nicht nur als ein Akt der Repräsentation, als eine literarische Abbildung verstanden sein soll, sondern auch als eine Kategorie, die sozial und kulturell aufgefasst wird. Denn – es soll hier nochmals an die These von Henri Lefebvre erinnert werden – jede Gesellschaft produziert einen Raum, der ihr eigen ist.98 Als solcher erscheint er auch in den literarischen Texten, die galizische Wirklichkeit darstellen: Der konkrete Raum der erzählten Welt bezieht sich hier unmittelbar auf den Georaum Galiziens sowie auf den der galizischen Gesellschaft eigenem sozialen und kulturellen Raum. Inferenzen auf diese Räume verlangen vom Modell-Leser99, zu dem auch 95 96 97 98 99
Bachtin 2008, S. 196. Frank/Mahlke 2008, S. 227. Ebd. Lefebvre 2006, S. 330–331. Unter dem Begriff »Modell-Leser« wird hier ein »Textbasiertes, anthropomorphes Konstrukt« verstanden, »das gekennzeichnet ist durch die Kenntnis aller einschlägigen Codes und auch über alle notwendigen Kompetenzen verfügt, um die vom Text geforderten Operationen erfolgreich durchzuführen. Der Modell-Leser hat außerdem ein Gedächtnis, um das textspezifische Wissen aufbauen zu können, sowie die Fähigkeit, Inferenzen zu bilden«. In: Dennerlein 2009, S. 238.
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der beobachtende Literaturwissenschaftler gehört, bestimmte Kompetenzen, um das textspezifische Wissen aufbauen zu können. Die literarischen Texte, die die Wirklichkeit Galiziens darstellen, lieferten mehrere mentale Konstrukte, die laut Katrin Dennerlein »aus dem Text aufgrund der im Text vergebenen Informationen und mithilfe des Weltwissens des Lesers gebildet« wurden.100 Wie viel in diese mentalen Modelle aufgenommen wird und welchen Status es dort hat, sei durch die Konventionen bestimmt.101 Unter den Informationen, die in den Texten verborgen sind, beziehen sich viele auf den Raum und seine einzelne Eigenschaften. Hierauf Bezug nehmend wird mit dem Terminus »Raummodell« von dieser Forscherin »eine Konfiguration von Rauminformationen« verstanden, »die sich aus Wissen über die materielle Ausprägung einer räumlichen Komponente und Wissen über typische Ereignisabfolgen zusammensetze. Im Vordergrund steht dabei das Verhältnis von Textsignalen und Wissen, das der Modell-Leser haben muss«.102 Das zweite Element bildet einen wichtigen Bereich der Rauminformationen. Dennerlein hebt hervor, dass das Raummodell, das vom narrativen Text produziert wird, neben den physischen und nicht-physischen Einzeleigenschaften gerade durch Handlungen, Ereignisse und Figuren, die in, an oder bei den räumlichen Gegebenheiten lokalisiert sind, charakterisiert werden kann. Von der Forscherin werden drei fundamentale Typen von Raummodellen unterschieden: anthropologische (die sich aus dem Erleben von »basalen« räumlichen Gegebenheiten, unter anderem von Haus, Wald, Berg, Baum, Teich, Weg, Straße, Wanderpfad etc. ergeben, wenn, laut Certeau, die Sprache des Raums »anthropologisch«103 wird), institutionelle (gemeint sei, dass bestimmte räumliche Gegebenheiten eine typische räumliche Struktur und typische Ereignismuster aufweisen, die durch soziales Handeln entstehen; sie beziehen sich auf die soziale Wirklichkeit) und spezifische (die nicht den typischen räumlichen Gegebenheiten und Ereignisabfolgen zugeordnet sind, wie im Fall der beiden anderen Raummodellen, sondern mit bestimmter Handlung und bestimmten räumlichen Gegebenheiten verbunden seien). Die Raummodelle speisen sich, so Dennerlein, aus unterschiedlichen Quellen. Es kann die aktuelle Welt, das Genre, aber auch die texteigene oder eine textübergreifende fiktionale Welt sein.104 In diesem Sinne wird vorgeschlagen, den Naturraum als einen anthropologischen Raum zu modellieren, dementsprechend den Sozialraum als einen institutionellen, und den Kulturraum als einen spezifischen.
100 101 102 103 104
Ebd. Ebd. Ebd., S. 178–179. Certeau, Michel de 2006, S. 348. Dennerlein 2009, S. 180–181.
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Innovation und Forschungsperspektive Das Interesse für »gemeinsame Erzählung«, die im Rahmen von bestimmten historischen Räumen produziert wurde, ist in der vergleichenden Literaturwissenschaft nicht neu. Als besondere geistige Phänomene wurden zum Beispiel die Literatur des »Prager Kreises«, die literarische Landschaft des Banats oder der Bukowina behandelt. Zum literarhistorischen Komplex »Galizien« sind seit den 1980er Jahren auch schon mehrere relevante Forschungsergebnisse gewonnen worden. Diese Arbeit veranschaulicht aber unter Berücksichtigung der interdisziplinären Zugänge jenseits nationaler Kategorien gemäß der räumlichen Verortung das Schaffen mehrerer Autoren, die in und über Galizien der habsburgischen Periode und danach in verschiedenen Sprachen schrieben. Innovativ ist dabei die intendierte Heranziehung von Texten zu Galizien über einen längeren Zeitraum aus einzelnen Nationalliteraturen und verschiedenen Genres, so dass die Gattungs-, Sprach- und Zeitgrenzen aufgebrochen wurden. Die Themen sind einerseits mit den traditionellen methodischen Ansätzen der komparatistischen Literaturwissenschaft behandelt worden wie beispielsweise beim genetischen, typologischen und thematologischen Vergleich, aber auch bezüglich der Rezeption im fremden Kontext. Andererseits wurden sie von einer methodologisch innovativen Perspektive aus angegangen: Es handelt sich um die innerhalb der Kulturwissenschaften entwickelten neuen Zugänge der so genannten »Kulturwenden« (Cultural Turns), insbesondere der »Raumwende« (Spatial Turn) sowie der »Postkolonialen Wende« (Postcolonial Turn), die in enger Beziehung zur Hermeneutik des Raums steht. Obwohl diese »Wenden«, vor allem die viel diskutierte »Raumwende«, schon einige Jahrzehnte dauern und nicht mehr so neu sind, wird immer noch von »einer anhaltenden Marginalisierung räumlicher Kategorien in der Literaturwissenschaft gegenüber temporalisierenden Analyseformen«105 gesprochen. Von Relevanz wurde dabei nicht nur die Zuwendung zu geographischen Topographien und Topologien, sondern auch »eine Auseinandersetzung mit sozialen Praktiken und kulturellen Prozessen der Raumkonstitution sowie den mit ihnen unauflösbar verbundenen vielfältigen Symbolisierungen«, die es erlaubten, »Literatur als raumkulturelles Medium zu erforschen«.106 Diese Einsichten in das Verhältnis von realen und literarischen Raumordnungen werden also in dieser Untersuchung zentral: »Die schon bestehenden literaturwissenschaftlichen Ana105 Hallet/Neumann 2009, S. 19–20. Es werden, laut den Herausgebern, immer wieder die Möglichkeiten einer raumorientierten Literaturwissenschaft ausgelotet, die »explizit und systematisch an die kulturwissenschaftlichen Raumforschung anschließt« und »die vorliegenden raumtheoretischen Konzepte in den Kulturwissenschaften« so entwickelt, dass sie für die Erforschung räumlicher Phänomene in der Literatur produktiv werden. Ebd. 106 Ebd., S. 28.
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lysekategorien wurden konsequent mit raumkulturwissenschaftlichen Ansätzen verbunden«107, die den Raum nicht nur als eine physische Gegebenheit behandeln, sondern auch als eine sozial und kulturell konstruierte Kategorie auffassen. Die Kompatibilität unterschiedlicher, schon früher bekannten und neuen Raumkonzepte (Phänomenologie und Semiotik des Raumes, seine soziale und kulturelle Produktion, kulturelle Produktivität des Raumes), sowie ihrer Begrifflichkeit (Lotmans dichotomische Raumsemiotik und seine semiotische Theorie der Kultur, Bachtins Dialogizität und Chronotopos, Foucaults Heterotopie, Augés Nicht-Orte, Bachtins und Bhabhas Hybridität, Bhabhas und Sojas »Dritter Raum«), war durch Objekt und Gegenstand der Forschung bedingt: pluralistische Wirklichkeit Galiziens und mehrdimensionaler »Galizischer Text«. Die Berührungspunkte zwischen einzelnen Ansätzen liegen in den Texten selbst: Das Zugreifen zu den unterschiedlichen Raumkonzepten und neu konzipierten Begriffe war textimmanent bestimmt. Gemäß der kultur- und literaturwissenschaftlichen Wenden, bei denen die Rückkehr zum Material betont wird, war der Akzent auf den Gegenstand der Forschung gesetzt worden – auf den »Galizischen Text« selbst als symbolische Repräsentation der verschiedenen mit- und gegeneinander agierenden Realitäten Galiziens. Es soll betont werden, dass bei der Auswahl der räumlich zu deutenden Texte nicht ihr zeitliches Nach- oder Nebeneinander in den Vordergrund rückte, sondern ihr thematisches Potenzial, das die Raumfokussierung ermöglichte. Auf diese Weise wird hier der physikalische Naturraum Galizien beschrieben sowie seine inkongruenten Sozial- und Kulturwelten über die narrative Topographie und Topologie in eine Konstellation der Gleichzeitigkeit gebracht. Die Texte, in denen mehrere Stimmen nebeneinander geführt werden, wurden unabhängig von den Biographien der Autoren, der Zeit ihrer Entstehung und der Sprache, in der sie verfasst wurden, gelesen und verglichen. Daher wird der »Galizische Text« als eine semantische Einheit in Hinblick auf seine räumliche Verortung und sein räumliches Imaginationspotenzial, in dem sich geopolitische, soziale und kulturelle Fragen widerspiegeln, erfasst und untersucht. Das Thema des Buches eröffnet auch neue Forschungsperspektiven. Vor allem in der Hinsicht, dass Texte von in der Geschichte der Galizienliteratur weniger bekannten Autoren in die Diskussion vom Standpunkt der traditionellen literarischen Komparatistik und jener der räumlichen Hermeneutik eingebracht werden. Und zwar nicht nur aus dem germanistischen, sondern auch aus dem slawistischen Bereich. Neue Perspektiven kann auch der Vergleich mit einer (oder mehreren) heterogenen und hybriden europäischen Kulturräumen und literarischen Landschaften eröffnen. Von Relevanz wäre auch die Weiterentwicklung der methodologischen Ansätze der Erforschung der Literatur aus und über polyglotte historische Regionen infolge ihres Anschlusses an aktuelle Forschungsdebatten 107 Ebd.
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im Rahmen der vergleichenden Literaturwissenschaft und der Kulturwenden. Hinsichtlich der Implikationen für andere Wissenschaftsgebiete, vor allem für die Kulturwissenschaften, kann das Thema dieser Untersuchung weitere Auswirkungen haben, denn der Gegenstand der Erforschung – »Galizischer Text« – wird hier als paradigmatischer Prototyp für interkulturelle Studien gewertet.
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I. Naturraum Galizien
Ad imperii marginem: Galizien aus der Perspektive des Reisens in der Epoche des Josephinismus
Die »neu erfundene Provinz« Bekanntlich fand die erste Teilung des polnischen Staates Rzeczpospolita (lat. Res publica) 1772 statt: Das politisch geschwächte Königreich wurde zwischen drei mächtigen Nachbarn geteilt – Preußen, Russland und Österreich. Die Rolle des Letzteren in diesem Prozess wurde mehrmals als eher »passiv« dargestellt; die Geschichte der »widerwilligen« Unterzeichnung des Teilungsvertrages durch Maria Theresia im August 1772 fand in den anekdotenhaften Erzählungen und in der bildenden Kunst ihren Niederschlag. Vor allem ging es Habsburg um die Angst vor der Kriegsgefahr, da vorher schon ein russisch-österreichischer Konflikt wegen der Erwerbungen von Territorien der Pforte bestand. Anderseits war insbesondere Joseph II. als Mitregent daran interessiert, den Verlust Schlesiens an Preußen (1763) mit neuem Landerwerb zu kompensieren. Da die Interessengegensätze der Großmächte sich verschärft hatten, musste also ein Ausweg gefunden werden, um die Entspannung unter ihnen zu fördern. Zum »Trostpreis« für Österreich wurde die Erwerbung der südöstlichen polnischen Territorien vereinbart. Als Legitimation der Rechtsansprüche hat man die Geschichte Ungarns des 15. Jahrhunderts herangezogen, als die Zipser Städte 1412 an Polen verpfändet worden waren. 1769 rückten österreichische Truppen in die Zips ein, infolge dessen wurden dreizehn nördliche Städte an Ungarn wieder angegliedert. Auf diesem »Umweg« hatte die Habsburgermonarchie ihr politisches Recht auf die Landnahme der Territorien des ehemaligen Königreichs Polen bestätigt und Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Provinz gewonnen, die ihre Machtstellung im osteuropäischen Raum stärkte.108 108 Die Geschichte Galiziens war mit der Geschichte von Ungarn und Polen seit dem Mittelalter verbunden: Der König von Ungarn, Andreas II. (1205 bis 1235), beanspruchte den Titel »Rex Galiciae et Lodomeriae« (König von Galizien und Lodomerien). Es ist eine latinisierte Version der slawischen Namen Halycˇ und Volodymyr, der wichtigsten Städte des Fürstentums Halycˇ-Volyn’ (Galizien-Wolhynien), die Ungarn von 1214 bis 1221 regierten. Nach der Vertreibung der Ungarn im Jahre 1221 holten die Ruthenen (später »Ukrainer« genannt)
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Ad imperii marginem: Galizien aus der Perspektive des Reisens
Der Georaum des auf diese Weise erworbenen Territoriums, der a priori da war, hatte »aufgrund seiner spezifischen materiellen Erfüllung und der Wechselwirkung seiner Objekte eine eigentümliche Raumgestalt«109, seine naturgegebene Landschaft. Sie prägten die nördlichen Karpatengebirge, das Hügelland des Vorkarpatengebiets und die große Ebene, die sich Richtung Osten ins Unabsehbare hinzog, neben vielen kleineren Flüssen die größeren Ströme Dnister und Zachidnyj Buh (Westlicher Bug) im östlichen, die Wisła (Weichsel) im westlichen Teil, sowie ein ziemlich kühles und feuchtes Klima. Dieser Georaum wurde seit dem Mittelalter bekämpft, die natürlichen Grenzen wurden durch die staatlichen ersetzt, die das Territorium als einen politisch-geographischen Raum formten, dessen Grenzen jedoch ziemlich beweglich waren. In den unruhigen Zeiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts erlitt der historisch gestaltete politischgeographische Raum eine neue Grenzveränderung: Er wurde an Österreich angegliedert. Der auf diese Weise künstlich hervorgebrachte politisch-geographische Raum der »neu erfundenen Provinz«110 sollte zu einem realen und authentischen, historischen und sozialen Raum für die Menschen, die hier lebten, werden. Ihn prägte eine außergewöhnliche Multikulturalität, die bis ins späte Mittelalter, zu Zeiten des ostslawischen Fürstentums und Königreichs »HalycˇVolyn’« zurückreichte. Wenn die Koexistenz verschiedener Ethnien unter dem habsburgischen Zepter für die Donaumonarchie schon von jeher typisch war und dem Sinn der Gesellschaft des »Vielvölkerstaates« entsprach, so erwies sich der Sozial- und Kulturraum der neu hervorgebrachten Provinz als besonders heterogen. Territorial sollte es das größte Kronland am nordöstlichen Rande der österreichischen Reichshälfte der Monarchie sein. Vorerst hatte man in der Hofburg kaum eine klare Vorstellung von seiner tatsächlichen räumlichen Ausdehnung. Man vermutete eine »schöne Provinz«111 erworben zu haben, die ungeachtet der sich die Herrschaft über das Gebiet zurück. Der Fürst Danylo Halyc’kyj (Danylo von Galizien) wurde 1253 zum König von Halycˇ-Volyn’ gekrönt. 1349 eroberte König Kasimir III. der Große von Polen im Zuge der Galizien-Wolhynien-Kriege den größten Teil Galiziens und beendete die Unabhängigkeit dieses Territoriums. Nach seinem Tod im Jahre 1370 trat Polen in eine Personalunion mit Ungarn (1370–1382) und Ruthenien (Galizien), die von einem schlesischen Statthalter, Wladislaus II. von Oppeln, regiert wurde. Unter der JagiellonenDynastie (Könige von Polen von 1386 bis 1572) hat das Königreich Polen seine Territorien wiederbelebt und neu konstituiert. An die Stelle des historischen Galiziens trat die Wojewodschaft »Ruthenien«. 1526, nach dem Tod Ludwigs II. von Ungarn, erbten die Habsburger zusammen mit der ungarischen Krone die ungarischen Ansprüche auf die Titel des Königshauses von Galizien und Lodomerien, die die habsburgische Kaiserin Maria Theresia nutzte, um ihre Teilnahme an der ersten Teilung Polens 1772 zu rechtfertigen. Vgl. Rhode 1980. 109 Schultz 2010, S. 49. 110 Wollf 2010, S. 13. 111 Maner 2003, S. 155.
Reisebericht im »Galizischen Text«
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marginalen Lage zum »Musterland der neuen Staatsordnung«112 ausgebaut werden sollte. Dementsprechend waren die Habsburger zunächst darum bemüht, »mit umsichtiger Sorgfalt« das neue Gebiet der Monarchie einzugliedern: Die »umfangreichen staatlichen Maßnahmen113 ab Ende des 18. Jahrhunderts verdeutlicht das Stichwort »Einrichtungswerk Galizien«. Sie bildeten neben den späteren gesellschaftlichen Phänomenen der Innenpolitik des Zentrums der Monarchie bezüglich der Randgebiete, insbesondere einer solch entlegenen Peripherie wie die Provinz Galizien, den Grund für die Annäherung an ihre Geschichte und an ihr geistiges Erbe aus der Perspektive postkolonialer Zugänge. Diese Perspektive steht im engen Bezug zur Hermeneutik des Raumes, insbesondere der Zugänge der Raumwende (Spatial Turn). Die beiden operieren unter anderem mit den räumlichen Begriffen und Metaphern, solchen wie Zentrum, Peripherie, Ränder, Grenze, Kartographie etc. Solche Beschreibung des Raumes schließt neben seiner Materialität die historisch und kulturell spezifischen diskursiven Praktiken ein, durch die er erst hervorgebracht und konstituiert werden kann. Denn, wie sich Henri Lefebvre äußert, der soziale Raum sei ein soziales Produkt.114
Reisebericht im »Galizischen Text« All diese theoretischen Grundsätze gestatten es, einen neuen Blick auf das geistige Erbe Galiziens zu richten, darunter auch auf den »Galizischen Text«. Am Anfang der österreichischen Periode stehen die in deutscher Sprache verfassten Texte einer solchen »raumbezogenen« Gattung wie der Reisebericht. Bevor aber die Spezifik dieses Genres und die Besonderheiten seiner Gesamtoption skizziert werden, soll auf die Ursachen der Zuwendung zu ihm ab dem Ende des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen und im josephinischen Österreich im Besonderen hingewiesen werden. Von Relevanz ist dabei die Tatsache, dass von den Habsburgern ziemlich ruinierte Gebiete im Osten der polnischen Adelsrepublik übernommen wurden, von denen man vorher wenig gewusst hatte. Es sollten Ende des 18. Jahrhunderts in der Hofburg nicht nur die neu erworbenen Territorien kartiert, sondern auch die Völker dieser Territorien und ihre Lebensbedürfnisse erfasst werden. Denn die neuen Grenzen, die für die Habsburger eine wichtige Rolle spielten, insbesondere die Grenze zum traditionell politischen Opponenten – dem russischen Zarenreich im Nordosten der Monarchie, teilten aber nicht nur die Territorien, sondern auch die Menschen, die diese Territorien 112 Ebd., S. 153. 113 Ebd. 114 Lefebvre 2006, S. 330.
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Ad imperii marginem: Galizien aus der Perspektive des Reisens
besiedelten.115 Der frühe Raumsoziologe Georg Simmel schrieb bezüglich der sozialen Organisation des Raumes, die »überhaupt eine als solche wahrnehmbare Raumorganisation«116 schafft, wie folgt: »Der Staat herrscht über sein Gebiet, weil er sämtliche Bewohner desselben beherrscht.«117 Dementsprechend wurde, laut ihm, im Altertum der König häufig »keineswegs als König des Landes, sonders nur seiner Bewohner bezeichnet«.118 Wichtig dabei ist, dass gerade im 17. und 18. Jahrhundert sich die biopolitischen Machttechniken herausgebildet hatten, wie Michel Foucault in seinen 1977 und 1979 gehaltenen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität betonte.119 Gerade zu dieser Zeit hatten Monarchen und Verwaltungen »die Vorteile detaillierter Raumkenntnisse zu administrativen Zwecken« erkannt.120 Der Kartographie kam dabei die Funktion zu, annektierte Räume in lesbare, geordnete und damit kontrollierbare Territorien zu verwandeln.121 Sie befasste sich mit dem »Sammeln, Verarbeiten, Speichern und Auswerten raumbezogener Informationen sowie deren Veranschaulichung«.122 Zu den Voraussetzungen der Kartierung gehörten seit dem Altertum die Reisen, die neben den Routenbeschreibungen mehrere andere Informationen lieferten. Michel de Certeau, einer der Wegbereiter der Neuausrichtung der Kulturwissenschaften an die Theorien des Performativen, unterscheidet, wenn er über die »Praktiken im Raum« schreibt, zwischen zwei Erfahrungspolen – den Wegstrecken und Karten.123 Das Verhältnis zwischen der Wegstrecke (eine diskursive Reihe von Handlungen) und der Karte (eine totalisierende Planierung der Beobachtungen) bedeutet für ihn die Relation zwischen den beiden Sprachen des Raumes – der anthropologischen und der symbolischen.124 Die Karte wird somit von der Wegstrecke als Umgangsweise mit dem Raum bedingt und vorausgesetzt: »Ein Tun erlaubt ein Sehen«.125 Aber es gebe, laut de Certeau, auch einen anderen Fall, wenn die Karte eine Voraussetzung für eine Route sei. Die Kette von raumschaffenden Handlungen scheint dann »mit Bezugspunkten markiert zu sein, die auf das hinweisen, was sie produziert (eine Vorstellung von Orten), oder was sie beinhaltet (eine lokale Ordnung)«.126 Darin sieht de Certeau die Struktur des Reiseberichtes: »Die Geschichten von Wanderungen oder von Gebärden 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126
Adelsgruber u. a. 2011, S. 126. Dünne u. a. 2006, S. 291. Simmel 2006, S. 304. Ebd., S. 306. Günzel 2010, S. 135. Ebd., S. 30. Ebd., S. 177. Ebd., S. 24. de Certeau 2006, S. 347. Ebd. S. 348. Ebd., S. 349. Ebd.
Reisebericht im »Galizischen Text«
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werden durch die ›Zitierung‹ von Orten markiert, die sich daraus ergeben oder die sie autorisieren«.127 Eine solche Kombination von Wegstrecken und Karten sei auch, so de Certeau, den literarischen und wissenschaftlichen Darstellungen des Raumes eigen, in der »Art und Weise, in der sie sich seit fünf Jahrhunderten […] verschachtelt und später geschieden haben«.128 Im Vordergrund der Reiseberichte als einer besonderen Gattung, die in der Zeit der Aufklärung zum ersten Mal diskutiert wurde, stand gerade diese Bezugnahme auf den Vorgang des Reisens. Sie sollten auch einen Authentizitätsanspruch haben, wenn nach der Person der Reisenden, deren Reiseziele und -interessen, sowie den Verkehrsmitteln, die benutzt wurden, gefragt wurde. Von Bedeutung für unser Thema ist die Tatsache, dass bis zur Aufklärung Reiseberichte selten einen literarischen Anspruch hatten; meistens waren es Forschungsreisen, die insbesondere enzyklopädisches Faktenwissen demonstrieren. Mit der Aufklärung rutschte neben der Authentizität die Fiktionalität des Reiseberichts in den Vordergrund. Die praktischen Vermessungen der neuen Territorien, für die Wegstrecken zurückzulegen waren, die in den Karten veranschaulicht wurden, resultierten in den wissenschaftlichen Beschreibungen, Tagebüchern, Briefen etc.129 Auf diese Weise wurde der narrativ gestaltete Raum kognitiv vermessen. Die Rolle der raumkonstitutiven Praxis spielten hier folgendermaßen das »Gehen« und das »Erzählen« – die beiden raumbildenden Praktiken nach de Certeau130, denn sowohl ein Raum als auch eine Sprache existieren nur durch die Realisierung von Wegen und Worten. Eine besondere Rolle spielten dabei die Richtungsvektoren und die Aspekte der Temporalität. In diesem Sinne soll der von Michail Bachtin 1938, längst vor der »Wende zum Raum« eingeführte Begriff »Chronotopos des Weges« erwähnt werden.131 Für ihn ist das Motiv der Begegnung (in halbmetaphorischer oder metaphorischer Bedeutung) typisch. Die Funktionen des »Weges« und der »Begegnung« haben, laut Bachtin, eine außerordentliche Bedeutung, da sie dazu verhelfen, die sozial-historische Vielfalt des Landes, wo die Reise stattfindet, ihren sozialen und kulturellen Raum, wenn man die Terminologie der »Raumkehre« gebraucht, vorzuführen und zu erschließen.132 Dabei wird der »Weg« bei Bachtin auch außerhalb des Romans betrachtet, in solchen sujetlosen Genres wie den publizistischen Beschreibungen (Ende des 18. Jahrhunderts) oder den publizistischen Reiseskizzen der ersten Hälfte des 19. Jahr-
127 Ebd. 128 Ebd. 129 Es soll betont werden, dass es bei den Reiseberichten im Allgemeinen keine einheitliche narrative Form gab und gibt. 130 de Certeau 1988, S. 179–238. 131 Bachtin 1989, S. 7; 21f. 132 Ebd., S. 182.
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hunderts.133 Demzufolge wird der »Chronotopos des Weges« zur wichtigen Konstituente der Reisebeschreibungen als Gattung. Diese Konstituente ist aber von der anthropologischen Kategorie der Wahrnehmung nicht zu trennen. So kann der infolge des dynamischen Prozesses des Gehens (der Fortbewegung) der anthropologisch wahrgenommene Raum im Sinne der Hodologie als der Wissenschaft von Wegen und der Bewegung auf ihnen als ein »hodologischer Raum« bezeichnet werden. Wie Anna de Berg in der Studie »Nach Galizien« zeigt, kommt es in den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts zu einem wichtigen Wendepunkt in der Gattung der Reiseliteratur: »Die ausschließlich informative Funktion der Reiseberichte, welche die Gattung noch im 17. Jahrhundert geprägt hat, macht der subjektiven Wahrnehmung Platz, die im Laufe der Zeit eine dominierende Rolle in den Reisebeschreibungen gewinnen wird.«134 Bei der Konstruktion des »hodologischen Raumes« beginnt diese Kategorie gerade in der Epoche der Aufklärung eine zentrale Rolle zu spielen, infolge dessen es zum Paradigmenwechsel bei der Gestaltung der Beschreibung kam: Die gelehrte, sachliche, enzyklopädische Form wurde allmählich durch die subjektiv-literarische ersetzt.135 Die subjektive Wahrnehmung wies aber schon damals ein räumliches Charakteristikum auf, die eine bestimmte Evolution durchmachen wird: Sie war ausgesprochen distanziert. Der unbefangene Blick eines Fremden wurde verräumlicht; es war ein »Blick aus dem Fenster«, in diesem Fall aus dem einer Postkutsche. Ihn prägte ein eindeutiger räumlicher Vektor: Es war der überlegene Blick »von oben«. Obwohl es in den meisten Reisebeschreibungen dieser Zeit vor allem um die moralische Legitimation des aufklärerischen »Aufdeckens« ging – im Fall Galiziens Ende des 18 Jahrhunderts waren die Art der Darstellung und Zwecke der Reiseberichte durch die Ideen der Zivilisierung und Kultivierung der Peripherie beeinflusst –, verriet der distanzierte Blick ihrer Verfasser das Gefühl, einer »besseren Nation« und höher entwickelten Kultur anzugehören. Der Zweck der Reiseberichte über die Provinz »Galizien und Lodomerien« entsprach von Anfang an den zwei Parametern, die, laut Voltaire, für die Gültigkeitsansprüche von Reisebeobachtungen relevant waren – den Motiven eines Reisenden zum einen und der »Logik« seiner historischen Beobachtungssituation« zum anderen.136 Unter den ersten Reisenden, die sich in die an die Monarchie angegliederte neue Provinz auf den Weg machten, waren ausgebildete und engagierte Leute. Wenn einige von ihnen nach Galizien kamen, um dieses Land und seine Bevölkerung näher kennen zu lernen, so waren unter ihnen auch 133 Ebd. »Klassische Beispiele« für Bachtin sind Radischtschevs »Reise von Petersburg nach Moskau« oder die Feuilletons von Heinrich Heine. 134 de Berg 2010, S. 42. 135 Mehr dazu in de Berg 2010, S. 42f. 136 Strack 1994, S. 16. Zit. nach Augustynowicz 2013, S. 70.
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solche Gelehrte und Beamte, für die Migrationsmotive im heutigen Sinne entscheidend wurden: Man hoffte in der neuen Provinz, insbesondere in ihrer Hauptstadt Lemberg, Karriere zu machen. Markant ist dabei, dass die Reisenden, die Galizien am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts besuchten, ihrer geistigen Haltung nach die Anhänger des Josephinismus waren. Zu den Motiven ihrer Reisen gehörte neben den rein menschlichen oder wissenschaftlichen Interessen die Verbreitung der Reformideen des aufgeklärten Absolutismus, die von Anfang an im Hintergrund des habsburgischen Appropriationsprojektes standen. Diese Motive prägten die Logik der historischen Beobachtungssituation der josephinischen Reisenden. Aus der Perspektive des westlichen Zentrums gesehen, hatte das damalige Galizien nicht nur eine marginale Lage; seine Lage war auch ausgesprochen liminal. Die neue Provinz wurde nicht nur zum Grenzgebiet zwischen zwei antagonistischen imperialen Mächten und zwei Kulturwelten – der orthodoxen und der lateinischen –, sondern auch zur Grenze zwischen dem »glatten« und dem »gekerbten« Raum, wenn man sich in der von Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelten Begrifflichkeit der »Geophilosophie« ausdrückt.137 Dieses zur Beschreibung von geopolitischen Räumen ästhetisch verwendete Oppositionspaar wurde von den beiden Philosophen wie folgt erklärt: »Der glatte Raum und der gekerbte Raum – der Raum des Nomaden und der Raum des Sesshaften – der Raum, in dem sich die Kriegsmaschine entwickelt, und der Raum, der vom Staatsapparat geschaffen wird, sind ganz verschieden«.138 Dabei sei der »glatte« Raum eher ein Affekt-Raum, ein intensiver Raum der Entfernungen, der »haptisch« wahrgenommen werde: »Er ist von Intensitäten erfüllt, von Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen und klanglichen Kräften und Qualitäten, wie in der Steppe […]«.139 Der »gekerbte« Raum dagegen sei ein Raum von Eigenschaften; in ihm organisieren die Formen eine Materie, er wird vom Himmel als Maßstab und den sich daraus ergebenden, messbaren visuellen Qualitäten überdeckt.140 In diesem Sinne begann mit der Realisierung der Zivilisierungs- und Kultivierungsprojekte Galiziens die »Einkerbung« des im Nordosten des Habsburgerreiches gelegenen Territoriums, das hinter den Gebirgsketten der Karpaten lag und sich bis zu den südöstlichen Steppen hin erstreckte. Obwohl, soll betont werden, die »Einkerbung« dieses geopolitischen Raumes, der an der Grenze zum »glatten« Raum der großen osteuropäischen Ebene lag und viele seiner Eigenschaften besaß141, zwar schon viel früher durch 137 138 139 140 141
Deleuze und Guattari 2006, S. 434f. Ebd., S. 434. Ebd., S. 437. Ebd. Man könnte vermuten, dass dieser Umstand Karl Emil Franzos zur Erfindung seiner Bezeichnung Galiziens als »Halb-Asien« verhalf.
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mehrere größere und kleinere Handelszentren begann: Denn die Städte werden von Deleuze und Guattari als ursprüngliche »Einkerbungskraft« genannt.142 Mit dem Gegensatz »glatt« – »gekerbt« verbinden die Philosophen zwei Arten von Reisen: eine hierarchisch verzweigte, kulturell- und erinnerungsschwangere »Baum-Reise« à la Goethe, die von allen Seiten »eingekerbt« sei, und eine andere, mehrdimensional vernetzte »Rhizom-Reise« à la Kleist, die einen »glatten« Raum erobert. Unterschiede seien hier aber nicht objektiv: Alles vermischt sich und überschneidet sich, entscheidend sei dabei der Umstand, ob ein bestimmtes Ziel festgelegt sei. »Kurz gesagt«, resümieren die beiden, »Reisen unterscheiden sich weder durch die objektive Qualität von Orten, noch durch die messbare Quantität der Bewegung, noch durch irgendetwas, das nur im Geiste stattfindet, sondern durch die Art der Verräumlichung, durch die Art, im Raum zu sein, oder wie der Raum zu sein«.143
Beginn der kognitiven Kartierung Galiziens Die Anfänge der habsburgischen »Einkerbung« und kognitiven Kartierung Galiziens ist mit dem Namen von Joseph II. verbunden. Dieser Kaiser zählte das Reisen zu den Pflichten des Herrschers und erreichte unter den europäischen Machthabern die höchste Kilometerleistung seiner Zeit. 1773 reiste er in das Banat und nach Siebenbürgen und bereiste danach das gerade gegründete Kronland »Galizien-Lodomerien«. Denn die ersten Maßnahmen der Aneignung Galiziens und der Schaffung eines der habsburgischen Staatsidee entsprechenden Raumes sollte vom Staatsapparat ausgehen144. Johann Polek, Custos der k.u.k. Universitätsbibliothek Czernowitz, zitierte aus einer zeitgenössischen Quelle über die Zeitverwendung Josephs II. während der Reisen nach Galizien und in die Bukowina (ursprünglich ein Bestandteil des Kronlandes GalizienLodomerien) sowie über die Bedeutung dieser Reisen für die Provinz folgendes: Er besuchte allerley Personen, betrachtete viele Sachen von mannigfaltiger Art, um sich als Regent, als Staatsmann, als Soldat und Feldherr, als Liebhaber, Beförderer und Beschützer der Wissenschaften, Künste, Manufakturen, Gewerbe, als Oekonom, als Bürgerfreund, als Mensch, nicht sowohl nur zu ergötzen, als vielmehr, worauf es einzig und allein bei ihm ankam, zu unterrichten.145 142 Deleuze und Guattari 2006, S. 434. 143 Ebd., S. 442f. 144 Auf Josephs II . Initiative wurde in Lemberg 1782 ein ständiger Landtag errichtet, zwei Jahre später die Akademie zur Ausbildung in den besten Künsten in Galizien gegründet. 145 Zit. nach: Polek 1895, S. 1. Anthologische Beschreibung der Reise des Herrn Grafen v. Falkenstein nach Frankreich 1777. Schwabach 1778, 73. Der österreichische Kaiser Joseph II. reiste oft unter seinem offiziellen Inkognito als Graf von Falkenstein (oder als Comte de
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Die Reisen des Kaisers waren nicht nur von seinen Beamten bis aufs Kleinste ausgearbeitet und vorbereitet, Joseph II. selbst war bekanntlich ein scharfer Beobachter. Es war für ihn aber wichtig, alles, war sein Interesse erweckte, narrativ zu gestalten. Polek beschreibt das wie folgt: Die tagsüber gemachten Wahrnehmungen brachte er abends zu Papier. Damit waren sie keineswegs begraben und vergessen; im Gegenteil, aus ihnen erwuchsen die großen Veränderungen und Verbesserungen, die sich an Joseph’s Namen knüpfen.146
Infolge der kognitiven Kartierung kam es zur narrativen Gestaltung des Raumes Galiziens. In ihrem Zuge erschienen die ersten Texte, die Reisebeschreibungen und -berichte, die im Gefolge Josephs II. und kurz danach oder auch etwas später entstanden. Hinsichtlich der Prävalenz von Authentizitätsansprüchen bekundeten sie den ausgeprägten Hang zur Fiktionalität und lieferten mehrere mentale Konstrukte, die, laut Katrin Dennerlein, »aus dem Text« gebildet werden.147 Ein Anliegen dieser Studie ist dementsprechend die Beschreibung der mentalen Modelle, die aufgrund der in den deutschsprachigen Reiseberichten über Galizien Ende des 18. – Anfang des 19. Jahrhunderts vorgefundenen Informationen und mit Berücksichtigung des Wissens von der neuen Provinz seitens der zeitgenössischen Leser gebildet wurden. Die einzelnen Texte sollen dabei auf die analogen Fragen untersucht werden, die auf den Raum unter verschiedenen Perspektiven als Natur-, Sozial- und Kulturraum bezogen sind. Ihre Beantwortung soll dazu verhelfen, die einschlägigen Raummodelle Galiziens zu beschreiben, die seiner kognitiven Kartierung während der Reisen in die neue habsburgische Provinz sowie nach längeren Aufenthalten in ihr im Zeitalter des Josephinismus als mentale Modelle erfolgten und in Reiseberichten, Briefen oder Essays ihren Niederschlag fanden. Neben der Strukturierung der raumreferentiellen Informationen, die die ersten deutschsprachigen Reiseberichte über das neue Kronland lieferten, liegt das heuristische Potenzial dieses Verfahrens bei der Erforschung der damaligen gesellschaftlichen Phänomene Galiziens, die seinen Sozial- und Kulturraum prägten. Das Modell des Naturraums soll dabei als der Ursprung des sozialen und des daraus resultierenden kulturellen Prozesses gedeutet werden. Das Innovative dieses Zugangs besteht in der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf Elemente, Erzeugungs- und Darstellungstechniken des »Galizischen Textes« sowie die Bemühung, mit seiner Hilfe ein vielseitiges Bild Galiziens von Ende des 18. – Anfang des 19. Jahrhunderts zu zeichnen. Hierauf Bezug nehmend wird hier im Einklang mit den Definitionen von Katrin Dennerlein vorgeschlagen, die Aufmerksamkeit vorerst auf den NaFalkenstein auf seiner Reise nach Versailles). Die Orthographie des Originals wurde beibehalten. 146 Ebd. 147 Dennerlein 2009, S. 238.
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turraum Galizien als einen anthropologischen Raum zu lenken, um ihn dementsprechend zu modellieren. In Hinsicht darauf, dass ein Reisebericht einen ausgeprägten Raumbezug hat, werden die genannten Raummodelle aus diesem Genre, genauer gesagt, aus seiner oben skizzierten Spezifik, Struktur und Gesamtoptik stammen. Dass es hierbei um eine konkrete Periode der Reiseberichte geht, und zwar um die der Aufklärung, genauer des Josephinismus, spielt bezüglich der genannten Typen von Raummodellen insoweit eine besondere Rolle, als die aufklärerischen Reisebeschreibungen, wie Ralf-Reiner Wuthenow dazu schreibt, als »Folge und Ursache zugleich von Aufklärung […] literarische Zeugnisse naturkundlicher, geographischer, anthropologischer Bestrebungen« seien. Die räumliche Erfahrung spielt dabei eine besondere Rolle: Sie »wird schließlich auch historische Reflexion«.148 Als Quellen für die Analyse und den typologischen Vergleich wird eine Auswahl von vier Texten in chronologischer Folge herangezogen, die, obwohl sie zum Genre des Reiseberichts gehören, in verschiedener Form geschrieben wurden. Im Hintergrund von allen stehen tatsächliche Reisen vom Zentrum der Monarchie in die Peripherie des Reiches. Obwohl sie sich durch die Art, im Raum zu sein, ziemlich unterscheiden, sind sie mehrdimensional vernetzte »Rhizom-Reisen«, die, von Wien aus, dem Zentrum des »gekerbten« Raumes, den »glatten« Raum der neuen Provinz Galizien kognitiv »erobern«.
Die ersten josephinischen Reisenden in Galizien Als erster deutschsprachiger Reisebericht über Galizien gilt die 1783 verfasste Beschreibung des sechsundzwanzigjährigen Wiener Dichters und Beamten Joseph Franz Ratschky, der Galizien vom 22. Mai bis 1. Oktober bereiste, zur gleichen Zeit, als Joseph II die Provinz besuchte, und seine Eindrücke als Tagebuch einer im Jahre 1783 von Wien nach Galizien unternommenen Reise niederschrieb.149 Edith Rosenstrauch-Königsberg, die Besitzerin des handschriftlichen, undatierten Bandes, begründet die Vermutung, dass das Tagebuch im Auftrag von Joseph II. geschrieben wurde, durch die Mitgliedschaft des Autors in der Freimaurerloge »Zur wahren Eintracht«, deren Kreis dem Kaiser nahestand, sowie durch das hohe Honorar, das der Verfasser bekam, als er seinen Bericht Joseph II. in Wien vorlegte.150 Der Umstand, dass Ratschky vor der Reise Kontakt 148 Wuthenow 1980, 38f. Zit. nach de Berg 2010, 45f. 149 Zitation des Textes von Ratschky erfolgt nach Rosenstrauch-Königsberg 1992. Die Orthographie des Originals von Ratschky wurde beibehalten. 150 Rosenstrauch-Königsberg 1992, S. 105–106.
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zu Freimaurerlogen in Lemberg aufnehmen sollte, wurde von ihm nirgendwo erwähnt. Es könnte auch der Grund sein, dass der wahre Zweck seiner »RhizomReise« nach Galizien darin bestand, Informationen über die neue Provinz für den Hof zu sammeln. Dieser Zweck bestimmte auch das Verfahren der narrativen Gestaltung der Reise: »die Angaben Ratschkys sind ziemlich exakt«, konstatiert dazu Rosenstrauch-Königsberg.151 Nach Galizien reiste Ratschky nicht alleine: Er begleitete Hofrat Margelik, der die galizischen Geschäfte an der böhmischösterreichischen Hofkanzlei leitete.152 Die Route nahm bei Sosnica den Anfang und führte über Krakau, Lemberg bis Brody an der Grenze zum russischen Zarenreich. Am Ende des Tagebuches bemerkte Ratschky, dass er »das Land beinahe ganz durchreiset« habe.153 Möglichst genau wird von ihm die Länge der Wegstrecken genannt, die zwischen einzelnen von ihm erwähnten Orten lagen. Die Umstände der Reise und die Interessen des Autors werden insofern vertuscht, als er sich und seinen Bericht im Vorwort zum Tagebuch folgendermaßen präsentiert: Jedermann, dem dieses Buch allenfalls zufälliger Weise in die Hände geraten sollte, wird so billig seyn, zu bedenken, daß die vielen nur flüchtig hingeworfenen unbedeutenden, und oft läppischen Bemerkungen und Einfälle, welche darin enthalten sind, nicht für das Publikum bestimmt, und oft nur aus Mangel der Zeit auf der Reise obenhin aufgezeichnet wurden, um den Verfasser einst den Gegenstand selbst nicht ganz vergessen zu lassen […].154
Wenn, wie Rosenstrauch-Königsberg dazu bemerkt, der Vorwand, »die Aufzeichnungen seien nur für den Autor selbst bestimmt«, viele Reiseberichte der Zeit kennzeichnete155, war das im nächsten (hinsichtlich der Zeit der Veröffentlichung), zweibändigen Reisebericht des achtundzwanzigjährigen Autors Franz Kratter Briefe über den itzigen Zustand von Galizien. Ein Beitrag zur Statistik und Menschenkenntnis156, die 1786 in Leipzig publiziert wurden, nicht der Fall. Zum Vorwand wird hier die Briefform des Reiseberichtes genommen, die nicht minder typisch für diese Gattung war. Neben der Wiedergabe des Erfahrungsgehaltes gestatte sie den Ton einer vertraulichen Unterhaltung. Obwohl vom Verfasser der Besuch der Brüder in Galizien als Ziel der Reise genannt wurde157, war ihr wahrer Zweck schon der im Titel deklarierte Versuch, den »itzigen Zustand« von Galizien darzustellen, genauer gesagt: die »innere Verfassung des Staates, den Zustand der Gesetzgebung, die Beschaffenheit der Stände, Sitten, Gebräuche, Charaktere, 151 152 153 154 155 156 157
Ebd., S.111. Ebd., S. 107. Ebd., S.118. Ebd., S. 105. Ebd. Die Orthographie des Originals wurde beibehalten. Kratter 1786, S. V.
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Religion, die besonderen Verhältnisse der Klassen untereinander […] zu schildern«.158 Mit dem ersten Satz des Vorwortes kündigt Kratter an, dass seine Reisebeschreibung für das deutsche Publikum bestimmt sei: Reise- und Länderbeschreibungen, wenn sie den Wert des Tones und der Mannigfaltigkeit haben, waren von jeher die Lieblingslektür des teutschen Publikums, weil sie seinem Geschmacke, seinem Hange nach dem Neuen, und Sonderbaren, seiner Laune, seinen Grillensängereien nach ihrer ganzen, großen, wundersam sich durchkreuzenden Verschiedenheit mehr entsprechen, als hundert andere Schriften. Denn hier findet das leere Tändeln des nach Kurzweil gähnenden Stutzers amüsierende Kleinigkeiten, die leidende Empfindsamkeit des sanftfühlenden Mädchens rührende Gemälde, die auf Abenteuer ausgehende Einbildungskraft des Schwärmers erschütternde Seltsamkeiten, die kapriziöse Tadelsucht des krittelnden Kopfes lächerliche Schiefen und Unebenheiten, der auflauernde Beobachtungsgeist des Menschenkenners unerwartete Originalität, das spekulierende Grübeln des Statistikers besondere Verfassungen, das Vernünfteln des Denkers endlich reichhaltigen Stoff aus der Natur der Dinge.159
Schon diese erste Passage des Buches offenbart Kratters spöttisch-ironievollen Stil und präsentiert ihn als einen »bissigen« Autor. Dieser Stil wurde unter anderem dadurch verursacht, dass Kratter, der nach Galizien mit dem Vorhaben ging, eine Karriere als Universitätsprofessor mit fester Anstellung zu beginnen, in seinen Hoffnungen scheiterte und in seinem darauf folgenden Werk über die neue Provinz, das er anonym publizierte, quasi öffentliche Rache übte. Nach Lemberg kam Kratter 1784 schon als ziemlich bekannter Autor. Seine dichterischen Panegyriken auf den Kaiser zeugen von ihm als einem offenkundigen Anhänger des Josephinismus. In Wien hatte er Erfolg mit Bühnenstücken und Erzählungen.160 Kratters Aufenthalt in Galizien war keine Reise im üblichen Sinne wie im Fall von Ratschky; er verbrachte dort längere Zeit und bezog 1795 den Posten des Leiters des Lemberger Theaters.161 Seine Praktiken im Raum Galiziens – die Wegstrecken, die er zurücklegte –, waren eher Ausflüge und kurzfristige Reisen durch die Provinz. Sie gestatteten aber Kratter nicht nur, die Natur Galiziens wahrzunehmen und einzuschätzen, sondern auch den Sozial- und Kulturraum des neu erworbenen Kronlands kognitiv zu vermessen, um die gesehenen Missstände narrativ darstellen und gnadenlos kritisieren zu können. Kratters publizistischer Reisebericht enthält mehrere Statistiken und Informationen, aber auch emotional gefärbte Schilderungen der damaligen gesellschaftlichen Umstände in Galizien. Nolens volens wurde dieser Autor zum ersten Kritiker der österreichischen binnenkolonialen Herrschaft in der entlegenen Provinz. Kratters Briefe erweckten schon damals ein erhebliches Aufsehen, sie lieferten aber auch mehrere 158 159 160 161
Ebd., S. III–IV. Ebd., Vorwort zum I. Bd., S. I–II. Kłan´ska 1999, S. 383f. DBE 1997, Bd. 6, S. 73.
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Topoi des »Galizischen Textes« für die Zukunft. Später wurde der Autor als »Nestor der deutschen Literatur in Galizien« bezeichnet.162 Anders war es im Fall von Balthasar Hacquet, der in der Zeit von 1790–1796 (im Alter von über fünfzig Jahren) sein Opus magnum Neuste physikalischpolitische Reisen in den Jahren 1788–1795 durch die Dacischen und Sarmatischen oder Nördlichen Karpaten163 in vier Teilen und sechzehn Kapiteln in Nürnberg publizierte. Es war das Ergebnis seiner mehrjährigen Wanderungen zu Fuß und zu Pferd durch die »vergessene[n]« Gebirge Europas.164 Hacquet war ein vielseitig begabter Mensch und äußerst wissbegieriger Gelehrter, vor allem ein Naturwissenschaftler, der sich sein Leben lang mit Geographie, Geologie, Ethnologie, Medizin, Alpinistik und anderem mehr beschäftigte.165 Als Anhänger von josephinischen Reformen – in seiner Autobiographie erwähnt Hacquet, das er 1784 »die Ehre hatte, den Kaiser Joseph II., den Reformator des großen Teiles der Menschheit« zu empfangen und mit ihm im eigenen Kabinett ein anderthalb Stunden dauerndes Gespräch zu führen166 –, ging er 1787 auf den Vorschlag des Gouverneurs von Galizien, Grafen Brigido, den seinerzeit auch Ratschky besuchte, an, an der vom Kaiser in Lemberg 1784 gegründeten Universität Naturkunde zu unterrichten. Als Persönlichkeit und Wissenschaftler war Hacquet einzigartig. Folgendermaßen charakterisiert ihn Marija Valjo: Im Vergleich zu den anderen Professoren an der Universität Lwiw war B. Hacquet mit seiner beträchtlichen Erfahrung als der universale Wissenschaftler und Reisender eine höchst originelle und untypische Persönlichkeit. Er zeichnete sich nicht nur durch seinen rohen Charakter und seine Intoleranz zum wissenschaftlichen Konservatismus aus, sondern auch und vor allem durch sein hohes Ausbildungsniveau, Freidenken und bewundernswerte Arbeitsamkeit sowie durch Sprachkenntnisse.167
Von Lemberg aus unternahm Hacquet 1788–1795 mehrere Forschungsreisen in die Nordkarpaten, damals ein unbekanntes Naturgebiet. Als erster zeichnete er auch
162 Häusler 1979, S. 22. 163 Die Orthographie des Originals wurde beibehalten. 164 Scharr 2004, S. 26. Diese »umfassend bearbeitete Neuausgabe« von Hacquets Beschreibung der Nordkarpaten enthält Kürzungen des Originals, das tausend Seiten umfasst. Die Kürzungen, wie der Herausgeber bemerkt, beziehen sich auf »Textstellen, die wegen ihrer oftmals seitenlangen naturwissenschaftlichen Versuchsreihen oder wegen der im heutigen Kontext nicht mehr verständlichen Ausführungen u. ä. für den gegenwärtigen Leser kaum von Interesse sein dürften«. Den Text im faksimilierten Original kann man unter der Internetadresse http://www.literarture.at/webinterface/library abrufen. 165 Vor den Reisen durch die Karpaten hatte Hacquet unter anderem die Ostalpen durchgewandert, erforscht und beschrieben. Seine Publikationen waren zu seiner Zeit in den wissenschaftlichen Kreisen hoch anerkannt; auf ihn bezieht sich bei der Alpenüberquerung während der »Italienischen Reise« Johann Wolfgang von Goethe (vgl. Scharr 2004, S. 23). 166 Valjo 1997, S. 85. 167 Valjo 2003, S. 139.
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das Bild des gesamten Verlaufs der Gebirgskette der Karpaten, die an ein Hufeisen erinnernde Form von Wien bis in den Südwesten der Walachei aufweisen. Im Vergleich zu anderen nach und durch Galizien reisenden habsburgischen Beamten hatten seine Reisen den Charakter der geographischen Entdeckung und kulturellen Erkundung im Sinn der Aufklärung und sind deswegen als Teil eines kolonialen Projektes zu verstehen: Hacquet benutzte »das komplexe Verfahren der Geländeerforschung«168, dem neben der Eruierung der Geographie, Geologie und Naturschätze der neu gewonnenen Gebiete die Erforschung ihrer Geschichte, Gesellschaft, Kultur, insbesondere der ethnischen Gruppen der Bevölkerung zugrunde lag. Hacquets kartographische und kognitive Vermessung der neuen Territorien im Nord- und Südosten der Monarchie und ihre narrative Gestaltung in den veröffentlichen Reisebeschreibungen wirken oft als Plädoyer für die Reformen von Joseph II., obwohl sie zugleich scharfe Kritik an dem binnenkolonialen Verwaltungssystem üben. Im Vergleich zu anderen hatten Hacquets »Rhizom-Reisen« durch Südosteuropa einen pedestrischen Charakter – er ist riesige Gebiete Schritt für Schritt durchwandert. Es sind die Territorien von Nordrumänien, Moldau, Bessarabien, Siebenbürgen, Nordbukowina, Huzulien, Bojkenland, Ostgalizien (Rothreussen) im Süden und im Osten, Südpolen sowie die polnische und slowakische Tatra im Westen.169 Diese Art des Reisens, besser gesagt, des Wanderns, bedingte die Besonderheit des Chronotopos der zurückgelegten Wege: Ihn kennzeichnete eine besondere Detailliertheit, die nicht nur die Erschließung von Naturschätzen des Landes, sondern auch die Erkundung des gesamten Sozial- und Kulturraumes Galiziens gestattete. Die Intentionen des Wissenschaftlers begründen neben den Zugängen zum Raum der erforschten Territorien den enzyklopädischen Maßstab seiner Reisebeschreibungen. Die Verbindung von Naturkunde mit Geschichte, Ethnographie und Kulturerforschung verleiht ihnen den universellen Charakter der Reiseberichte in der Epoche der Aufklärung. Der Autor präsentiert sich als nüchterner Kenner seiner Forschungsobjekte und räumlicher Gegebenheiten, sein Stil ist sachlich und präzis; dabei kennzeichnet seine Ausdrucksweise eine durch die Situation der Forschungsreise bedingte Distanz, insbesondere zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Es scheint aber übertrieben, den Blick des Wissenschaftlers als »eigentümlich kühl«, von »befremdete[r] Kälte« erfüllt zu definieren, wie ihn Ritchie Robertson in seiner Studie über die Bewohner Galiziens in den Reiseberichten des späten 18. Jahrhunderts ausmacht.170 Es geht um Hacquets Beschreibung der von ihm beobachteten Szene, wie eine Pokutierin (Huzulin) ohne jegliche Hilfe im Laufe »von einer Halben Stunde«171 ein Kind 168 169 170 171
Ebd., S. 140. Ebd. Robertson 2012, S. 49f. Hacquet 1794, III, S. 59f.
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gebärt. Dabei hebt Hacquet hervor, dass die Nabelschnur zerriss und nicht zugebunden wurde. Man soll hier nicht außer Acht lassen, dass Hacquet selbst ein Mediziner und Wundarzt war, der als Professor für Anatomie in Laibach unter anderem Geburtshilfe unterrichtete172 und diesen Vorfall als die Naturnähe der Karpatenbewohner interpretierte und an ihn im Kontext seiner »Zivilisationskritik« appellierte: Als ich sie nun fragte, warum sie denn die Schnur des Kindes nicht zuband? So gab sie mir zur Antwort: »es hat nicht Noth« sie wisse schon aus der Erfahrung von größeren Säugtieren, als der Mensch ist, was mancher Doktor nicht weiß: daß zerrissene Gefäße wenig oder nichts bluten. Wie viel doch die Natur hilft, und die Künsteleyen verderben. […] Ärzte pralet doch nicht so viel mit eurem Wissen, es muß euch ja doch bekannt seyn, wie wenig eure Kunst erfunden hat; das tätigste Mittel entdeckt ja oft ein Thier und nicht Ihr.173
Hacquet, insbesondere seine Beschäftigung als Natur- und Kulturforscher, hatte seinerzeit Resonanz in den gebildeten Kreisen der Monarchie gehabt. Joseph Rohrer, der letzte für unser Thema wichtige Autor, der 1804 seine Berichte über die Reisen in Südosteuropa – darunter auch durch Galizien – als habsburgischer Beamter im Alter von fünfunddreißig Jahren in Wien unter dem Titel Bemerkungen auf einer Reise von der Türkischen Gränze über die Bukowina durch Ostund Westgalizien, Schlesien und Mähren nach Wien174 veröffentlichte, erwähnt in seinen Schriften den »Herrn Bergrat«175 als einen Professor, den er zu schätzen weiß. Bemerkenswert sind Rohrers Aussagen über den mit Hacquet gemeinsamen Kreis der Forschungsinteressen bezüglich der »Slawischen Bewohner der Österreichischen Monarchie«176 und sein Bedauern, keinen Gedankenaustausch mit ihm durchführen zu können, obwohl sie in Lemberg sich »gegenüber schon durch mehrere Jahre so nahe« wohnten, dass Rohrer in Hacquets »Zimmer sehen« konnte.177 Er bedauert auch, seine Schriften nicht zu Sicht bekommen zu haben, und bemerkt dabei ambitioniert: »[…] so dürfte immerhin die Vergleichung einiges Interesse für wissenschaftliche Kenner und Volksfreunde haben«.178 Rohrers Wunschvorstellungen sind von dem Erkennen der Entfremdung infolge der »großstädtischen Lebensarth«179 in den zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt (gemeint ist dabei die Hauptstadt Galiziens Lemberg). Dabei haben diese Vorstellungen einen »räumlichen« Charakter: 172 173 174 175 176 177 178 179
Hacquet schreibt darüber in seiner Autobiographie. In: Valjo 2003, S. 82. Hacquet 1791–1793, III, S. 60f. Die Orthographie des Originals wurde beibehalten. Rohrer 1804, S. 145. Ebd., S. 146. Ebd., S. 145. Ebd., S. 146. Ebd., S. 145.
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Hätten wir beide am Lande selbst gewohnt, so würden wir uns vielleicht einander schon längst die Lieblingsarbeiten unserer Mußestunden mitgetheilt, wir würden wechselweise unserem Busen Luft gemacht haben. Aber nun, da wir in der großen Stadt nur wenige Schritte von einander wohnen, lassen wir es nur beim wechselweisen Gruße, wenn wir uns zufällig auf der Gasse begegnen, bewenden.180
Daraus kann man schlussfolgern, dass es keine persönlichen Kontakte zwischen den Reisenden durch nord- und südöstliche Territorien des Habsburgerreiches gab. Rohrer konnte sich jedoch zu den Kollegen von Hacquet zählen: Obwohl er ab 1800 als Polizeikommissar in Lemberg tätig war, publizierte er eine Reihe von ethnographischen Studien über die deutsche, slawische und jüdische Bevölkerung der Habsburgermonarchie und erhielt 1808 eine Professur für Statistik an der Lemberger Universität.181 Außerdem erwähnt er Hacquet bei seinen Bemerkungen über die Bodenschätze Galiziens.182 Dank seiner beiden Berufe beschäftigte sich Rohrer erfolgreich mit den galizischen Verhältnissen. Die von ihm, ähnlich wie bei Kratter, in Form von Briefen an einen imaginären Freund verfasste Reisebeschreibung, deren Stil zwischen genauer Schilderung der Natur, einzelner Bevölkerungsgruppen und den im vertrauten Ton geschriebenen Überlegungen schwankt, enthält mehrere Informationen zum sozialen und kulturellen Raum Galiziens. Rohrers Texte, wie Robertson bemerkt, »weisen ihn als einen typischen Vertreter der josephinisch geschulten Bürokratie aus, der lange nach dem Einsetzen der Reaktion den Idealen der Aufklärung treu geblieben ist«.183 Die Entscheidung, seinen Reisebericht in epistolarer Form zu gestalten, begründet er wie folgt: Die Bemerkungen, welche ich in diesem Buche mitteile, sind kein Produkt der Fantasie eines Schriftstellers, der nie aus seinem Zimmer heraus kam und lediglich schreibt, um das Papier zu füllen […]. Sie wurden wirklich auf einer Reise von der Moldau nach Wien gemacht, und großen Theils in Briefen einem Freunde mitgetheilt, der auch auf ihre öffentliche Bekanntmachung gedrungen hat. Dadurch erklärt sich die Briefform.184
So präsentiert sich Rohrer von Anfang an als erfahrener Reisender, aber auch als ein höchst belesener Autor, der hohe Ansprüche an die Authentizität und den wissenschaftlichen Wert seines Berichtes stellt. Nur selten aber erwähnt er die Umstände und Art seines Reisens, obwohl die Route wie die Stationen der Reisen mit Hilfe von Toponymika genau angegeben sind und die Anschaulichkeit seiner Darstellungen keinen Zweifel daran lässt, dass es auch in diesem Fall um den Chronotopos des Weges und der Begegnung geht. Als Beispiel kann die im 180 181 182 183 184
Ebd., S. 146. Robertson 2012, S. 43. Rohrer 1804, S. 145. Robertson 2012, S. 43. Rohrer 1804, Vorrede, S. III–IV.
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fünften Brief vom 25. November 1802 beschriebene Szene der Begegnung mit einem Bergbauern in einer Schenke im Stanislauer Kreis dienen, der »eine kleine Charakteristik dieser Ortschaften«185 folgt. Wenn aber die Darstellung der Begegnung selbst dem Genre und der Optik des Reiseberichtes entspricht, erinnern die folgenden Beschreibungen der Gebirgsdörfer dieses Kreises eher an eine frei gestaltete Erzählung, wobei der Autor bemerkte, dass er »diese Dörfer schon in einer anderen Jahreszeit besucht« hatte und »dieselben demnach aus dem Gedächtnisse« beschreibe.186 Die Bemerkung, dass er sich »auf den Flügeln der Fantasie in die Gebirgsdörfer« hinaufschwang187, ergänzt den Eindruck vom Hang zur Fiktionalität, die mit der Aufklärung in den Reiseberichten in den Vordergrund rutschte.
Galizien als Naturraum Das erste, worauf die josephinischen Reisenden, wenn sie im von der habsburgischen Dynastie geschaffenen administrativen Neugebilde unterwegs waren, ihren Blick richteten, war die Natur des Raumes der neuen Provinz. Sie wurde auf zwei Weisen wahrgenommen: visuell, wenn der Distanzsinn des Auges entscheidend war, und durch die Nahsinne, wenn der Wahrnehmende infolge der pedestrischen Praxis zum Subjekt der Schritte wurde und den Raum multisensorisch durchstrukturierte. Im Sinne der Aufklärung war für die kognitive Kartierung des Naturraumes Galizien die Wahrnehmung der galizischen Landschaften als assoziativer Ausschnitt aus dem Georaum in seinen geistigen Bezügen, um aus ihm das Objekt der poetisch-sprachlichen Narration zu machen, nicht entscheidend. Er wurde aber auch nicht aus der Perspektive der Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung wahrgenommen wie in den fiktionalen literarischen Texten, insbesondere ab der Moderne mit der für sie typischen Aisthesis des Raumes. Für die Augen des Kaisers und seiner Beamten war es vor allem wichtig, die Natur der Territorien, die sie zu beherrschen hatten, um sie dann auch »ökonomisch ausbeuten zu können«188, kartographisch und kognitiv zu vermessen. Der physische Naturraum wurde hier, im Sinne von Lefebvre, zum Ursprung des sozialen Prozesses: Jedes Detail, jeder Naturgegenstand wurde ausgewertet. Dabei verwandelte sich die Natur in eine negative Utopie – sie sei der Rohstoff, auf den die Produktivkräfte der Gesellschaft einwirken, um ihren Raum herzustellen.189 Im Vorder185 186 187 188 189
Ebd., S. 78. Ebd. Ebd. Ruthner 2003, S. 111. Lefebvre 2006, S. 330f.
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grund stand hier die Tatsache der Bemächtigung fremder Territorien, die den Grund zu der Perspektive legte, die Habsburgermonarchie als Pseudo-Kolonialmacht im Sinne des binnenkontinentalen Kolonialismus anzusehen. Zu beachten sind hier, wie Clemens Ruthner betont, die Unterschiede zwischen den Begriffen Kolonisierung/Kolonisation und Kolonialismus.190 Am Ende des 18. Jahrhunderts ging es hinsichtlich Galiziens um beides: Neben den Erscheinungen des inneren Kolonialismus von Seiten der habsburgischen Verwaltung wurde die neu geschaffene Provinz aktiv kolonisiert. Dazu lieferten die ersten Berichte über die gezielten Reisen durch die Provinz neben den Informationen über den Georaum Galiziens auch Daten des intentionellen Erlebens der materiellen Ausprägung der räumlichen Komponenten des Naturraumes, seiner Ebenen und Hügeln, Wälder und Felder, Flüsse und Gebirge, Straßen und Wanderpfade. Da sie als »basale« räumliche Gegebenheiten von der Perspektive der beobachtenden Subjekte wahrgenommen wurden, tragen sie dazu bei, den Naturraum Galizien als ein anthropologisches Modell zu gestalten.
Naturraum Galizien im Reisetagebuch eines Dichter-Beamten Das Reisetagebuch von Joseph Franz Ratschky liefert die wichtigen »zuverlässigen« Angaben über die materielle Ausprägung der Provinz, über die geographische »Lage, Größe und Beschaffenheit« des Landes191, dessen Georaum also, der politisch, zivilisatorisch und kulturell »einzukerben« war. Neben der Nennung der Länge – die »Königreiche Galizien und Lodomerien […] liegen zwischen dem 35ten und 44ten Grad nach dem Pariser Meridian« und der Breite – sie »erstrecken sich vom 48ten bis zum 50ten Grad nördlicher Breite«, sowie der Gesamtfläche – »1360 Quadratmeilen«, vermerkt Ratschky, dass es hier mehrere Bodenschätze gibt und viele landwirtschaftlichen Produkte gewonnen werden: »Das Land […] bringt Getreide, Hanf, Flachs, Tabak, Wachs und Honig, am vorzüglichsten, vor allem Salz«.192 Besonders wird die Fruchtbarkeit des galizischen Bodens geschätzt, die der Reisende visuell wahrnahm. So heißt es in der Eintragung vom 25. Mai, gleich nach dem Betreten des Landes: »In einiger Entfernung von der Grenzscheidung zwischen Schlesien und Galizien fließt die Sola […] Die Gegend um hier ist sehr fruchtbar, um und um mit Winterfrucht bebaut.«193 Oder an dem Tag danach in Slaniontek:
190 191 192 193
Ruthner 2003, S. 112. Rosenstrauch-Königsberg 1992, S.111. Ebd. Ebd.
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Etwas über eine Meile von hier fließt die Raba, ein beiläufig einen Steinwurf breites Wasser. Von diesem Flüsschen an bis nach Bochnia fährt man durch eine ununterbrochene Strecke von Feldern, deren angenehmer Flor dem Auge die herrlichste Weide verschafft. Sowohl nach dem Geständniß der Einwohner als nach meiner eigenen augenscheinlichen Überzeugung bisher ist der Feldbau und die Fruchtbarkeit des Bodens hier um Bochiner Kreise vorzüglicher, als in dem übrigen, jenseits des Sans gelegenen Galizien, obwohl das ganze Land soweit ich bisher Gelegenheit hatte, es zu sehen, an Feldfrüchten und Grasweiden mit Recht reich und gesegnet genannt werden kann.194
Toponymika, die Ratschky erwähnt, verhelfen dabei, den konkreten Georaum seiner Route darzustellen. Zwischen West- und Ostgalizien wird von ihm noch nicht unterschieden, obwohl schon eine bestimmte Prädisposition dazu zu verfolgen ist, wenn der Autor des Tagebuches die Territorien »jenseits des Sans« hervorhebt. Die Informationen, die sein Reisetagebuch über die Natur Galiziens liefert, ermöglichen es, sie als einen Naturraum zu modellieren, der gute Konditionen für die wirtschaftliche Entwicklung hat. Wenn aber Ratschky gegen Ende der Reise den »natürlichen Reichtum« des Landes preist195, versucht er in seinen Kommentaren zum gesellschaftlichen Zustand Galiziens die Ursache des Elends zu finden und richtet seinen Blick auf die Gesellschaft der Provinz: »Galizien in sich selbst könnte ein Paradies sein, wenn es nicht von Menschen bewohnt gewesen wäre, die es nach und nach, ohne an die Zukunft zu denken, zur Wüste umbildeten«.196 Der physische Naturraum Galizien in dem Zustand, wie ihn der aufgeklärte Reisende vorgefunden hat, kann laut seiner Vorstellung nicht zum Ursprung des sozialen Prozesses im josephinischen Sinne werden; es kommt hier zur einer Diskrepanz, deren Ursachen Ratschky in seinen Beobachtungen Galiziens als einen Sozialraum sucht. Der Naturraum Galizien soll, seinen Überzeugungen nach, zivilisiert, »eingekerbt« werden, um den Begriff von Deleuze und Guattari zu gebrauchen.
Kratters Briefe über Galizien, Ausblicke auf die Natur des Landes Das Stichwort »Fruchtbarkeit«197 bezüglich der Potentialität der Natur Galiziens fällt auch in den von Kratter drei Jahre später veröffentlichen Briefen über den itzigen Zustand von Galizien, obwohl sie sich der Form, dem Stil, dem Umfang und dem Zweck nach von Ratschkys Reisetagebuch diametral unterscheiden. Doch dank der Nähe des Zeitraumes von beiden Reiseberichten kommt es im hodologischen Raum Galiziens, den sie schildern, zu bestimmten Überschnei194 195 196 197
Ebd. S. 112. Ebd., S. 118. Ebd. Kratter 1786, II, S. 95.
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dungen bezüglich der Wahrnehmung der Natur des Landes. Für Kratters Beobachtungen waren beide Wahrnehmungsweisen ebenso wichtig, wie im Fall von Ratschky – der Distanzsinn des Auges sowie die Nahsinne des Wandernden. Am Anfang der Darstellung Galiziens fällt bei Kratter aber auf, dass er die marginale geographische Lage und die schwierige Erreichbarkeit der Provinz betont. Es sei »ein ganz unbekanntes Land«, die Straße, die aus dem Zentrum der Monarchie hierher führt, sieht oft »unwegsam« aus.198 Der spöttische Plauderton der ersten Briefe über die Lemberger Universität wird in der Mitte des ersten Bandes unterbrochen. Im sechzehnten Brief liefert Kratter mehrere sachliche Informationen und Statistiken über den geographischen Raum Galiziens, die er vermutlich nicht empirisch zusammenstellte, sondern anderen schriftlichen Quellen entnahm. Dabei werden vom Autor der Reisebriefe ebenso galizische Toponymika erwähnt, – das Verfahren, mit dessen Hilfe er den von ihm geschilderten Georaum objektiviert. Schon im Titel des »Sechszehnten Briefes« erwähnt er die Grenzen des Landes, seine Länge und Breite, Flüsse, Gebirge, Wälder und die Beschaffenheit des Bodens.199 Seine Angaben unterscheiden sich nicht wesentlich von den Daten Ratschkys, wenn er wie folgt konstatiert: »Der ganze Flächeninnhalt des Landes wird von einigen auf 1200 von anderen auf 1300 auch auf 1400 Quadratmeilen angegeben«.200 Dabei bemerkt er, dass das Land sich »vermöge seiner Lage mehr in die Länge, als Breite« dehnt.201 Wenn Kratter die größten Flüsse Galiziens aufzählt (Weichsel, San, Dniester, Pruth, Bug Donajak und Wisloka), hält er für wichtig zu berichten, welche von ihnen immer schiffbar sind (Weichsel, San und Bug), und welche »nur zu jenen Zeiten«, »wenn sich von den benachbarten Hügeln und Bergen häufiges Wasser ergießt«.202 Die Landschaft wird in seiner Beschreibung durch die karpatischen Gebirge und abwechselnd »da und dort« durch »die Ebenen mit den schönsten, und fruchtbarsten Bergen, und Hügeln« geprägt.203 Mit Zuneigung wird das Klima des Landes geschildert, dessen »heilsamer Einfluß« ihm offensichtlich gut zukam: »Die Luft ist angenehm, schwer, und gesund, und die Innwohner müssten ein ansehnliches Alter erleben, […]«.204 Der Boden Galiziens sei, nach Kratters Meinung, »sehr verschieden, und abwechselnd«, jedoch »überaus fruchtbar«.205 Er nennt die Kreise, die »sich an Segen von Getreid« auszeichnen, und charakterisiert die Qualität der Erde 198 199 200 201 202 203 204 205
Kratter 1786, I, S. 36. Ebd., S. 131. Ebd., S. 132. Ebd. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd. Ebd., S. 134.
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deiktisch: »Man findet da die besten, fettesten, theils schwarzen, theils von Natur glücklich gemischten Erdarten. In sandigten und gebirgigten Gegenden ist die Natur karger.«206 An einer anderen Stelle, wenn es um die Produktion von Tabak geht, schreibt Kratter über den »schwarzen, reinen und fetten Boden«, der in Galizien »häufig anzutreffen« sei.207 Er zählt die »Gattungen von Holz« auf, das in Galizien hergestellt wird und schätzt seine Qualität für den Bau oder die Herstellung von Geräten ein.208 Gleich Ratschky erwähnt Kratter die »gewöhnlichen Erzeugnisse des Landmannes«: Es sind »alle Gattungen von Getreid, und Hülsenfrüchten, besonders aber Korn, das in Podolien bis zum Überfluß wächst, Hafer, und Heidekorn«.209 Für Viehzucht seien besonders die »Gebirgsgegenden, besonders in Pokutien« geeignet.210 Kratter vermerkt, dass es keine Landseen in Galizien gibt, »aber große, und schöne Teiche, besonders im Lembergerkreise«.211 Lexikographisch werden viele Gattungen von Mineralien aufgelistet, die man in galizischen Gebirgen findet.212 Zu den vorzüglichsten Schätzen Galiziens zählt der Autor der Briefe das Salz, das in den Salzgruben (zu den größten gehören die Gruben zu Wieliczka) und als Sudsalz gewonnen wird, »womit besonders der Fuß des karpatischen Gebirgs von dem Sanfluß an bis an die Gränze der Moldau bis zum Überfluß angefüllt ist«.213 Wenn man all die Rauminformationen in Kratters Beschreibungen Galiziens als einen Naturraum auf einen gemeinsamen Nenner bringt, so wird Galizien in seinen Reisebriefen als Land gestaltet, das summa summarum fruchtbar ist. Die vom Autor wahrgenommenen, aufgezählten und geschilderten »basalen« räumlichen Gegebenheiten und ihre materielle Ausprägung – die Landschaft, die Erde, die Natur- und Bodenschätze – gestalten ein mannigfaltiges Modell des physischen Naturraumes der Provinz. Aufgrund »einer unbegreiflichen Nachlässigkeit des Landvolks«214 kann dieser Naturraum aber nicht, ähnlich wie bei Ratschky, wenn auch im anderen Maßstab, ohne »Einkerbung« – der Reformierung der galizischen Gesellschaft – zum Ursprung des sozialen Prozesses werden, infolge dessen die neu erworbene Provinz zum »Musterland der neuen Staatsordnung«215 werden könnte.
206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
Ebd. Kratter 1786, II, S. 68. Kratter 1786, I, S. 135. Ebd., S. 137. Kratter 1786, II, S. 94f. Kratter 1786, I, S. 137. Ebd., 137f. Kratter 1786, II, S. 86. Kratter 1786, I, S. 134. Maner 2003, S. 153.
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Der Blick eines aufgeklärten Wissenschaftlers Die Zugänge zum Naturraum Galizien haben bei Balthasar Hacquet einen anderen Charakter. Schon bei der Veröffentlichung seines Reiseberichts stellte er die Bezeichnung »physikalische« Reisen auf den ersten Platz im Titel. Seinen Beschreibungen liegen empirische Tatsachen zugrunde, die er während seiner meistens pedestrischen Rhizom-Reisen durch die Karpaten, aber auch durch die an sie grenzenden Gebiete gewann – »so lang, als ganz Gallizien sich erstreckt, von Siebenbürgen bis nach Schlesien«.216 In der Vorrede zum ersten Teil der Publikation deutete Hacquet die Größe des Territoriums der Provinz an und bezeichnete die Karpatenreise als sein letztes Unternehmen: »[…] denn einen Zeitraum von so vielen Jahren, wie die Bereisung eines so großen Königreiches, als Gallizien, erforderte, erlebe ich nicht mehr, […]«.217 Neben der früheren Erfahrung und seiner außerordentlichen Belesenheit – Hacquets wissenschaftliche Reiseberichte sind von mehreren originellen Anmerkungen und Zitaten der damals aktuellen fachlichen Literatur begleitet – wurde bei ihm die Bewegung durch den erforschten Raum entscheidend: Den physisch-geographischen Raum nahm er vor allem als einen hodologischen wahr. Dementsprechend spielt bei Hacquet der Chronotopos der Wege, der Straßen und Wanderpfade eine große Rolle. Dabei gab Hacquet vor jedem Kapitel den genauen Verlauf der Reise an, wie zum Beispiel vor dem zehnten Kapitel des dritten Teiles: »Von den Hauptsächlichsten Eisenbergwerken Haliziens, als jenes von Mizun, Skole, Smolna usw. zu von dem bey Mizun befindlichen Bernstein und dessen wahrscheinliche Entstehung.«218 Kennzeichnend für Hacquets Verfahren der Raumerforschung und seine wissenschaftliche Darstellung ist die Kombination von Wegstrecken und Karten, der beiden Zugänge, wie sie in der modernen Raumtheorie von de Certeau als anthropologische und symbolische Sprache des Raumes definiert werden. Einerseits ist für Hacquet die schon vorhandene Karte Galiziens die Voraussetzung für seine Forschungswanderungen. In der Vorrede zum ersten Teil seiner wissenschaftlichen Darstellung, bei der Beschreibung des Reliefs des »ganzen Landes«, beruft er sich auf die »Hauptkarte von ganz Polen […], welche Zannoni im Jahre 1772 heraus gab«.219 Andererseits bemerkt er daneben: »[…] ob sie gleich dermalen von diesem Reiche die beste ist, so fehlt es ihr doch sehr an Richtigkeit«220, und er appelliert an die neue »Galizische Karte«, die er nach eigenen empirischen Daten über den Geo- und Naturraum der Region vorbereitete: »[…] 216 Hacquet 1790, I, Vorrede, S. XIII. 217 Ebd., S. XII. 218 Hacquet 1794, III, 62. Die Angabe der Routen ermöglichte es, in unserer Zeit die konkreten Skizzen zu jeder Reise graphisch zu entwerfen (Scharr 2004). 219 Hacquet 1790, I, Vorrede, S. XVII. 220 Ebd.
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so werde ich auch nicht ermangeln, eine physikalische Karte heraus zu geben, wie ich dergleichen zu der Ornitographia carniolica geliefert habe«. Diese neue, »in der Arbeit befindliche« Karte221 wird folglich von Hacquets zurückgelegten Wegstrecken als Umgangsweise mit dem Georaum Galiziens bedingt und vorausgesetzt: Da das Königreich Gallizien höher als Ungarn liegt, so sind auch die Karpathen von der Nordseite niedriger. Die Hälfte dieses Reichs ist, nach der Länge gegen die Karpathen zu, ganz mit kleinen Gebirgen angefüllt, so, daß wenn man auf den Karpathen ist, nun das ganze Land eben kommt, bei dem Herabsteigen sieht man aber, daß das Erdreich von allen Seiten durchschnitten ist, und eine hüglichte Fläche bildet, wie man aus der Hauptkarte von ganz Polen ersehen kann […].222
Infolgedessen gebraucht dieser Autor oft bei der Beschreibung des Naturraumes der von ihm erforschten Region solche dem Typus »Wegstrecke«223 entsprechende raumreferentielle Ausdrucksformen und Wendungen, wie zum Beispiel: »Wendet man sich von da aus gegen Norden, so findet man […]«224, oder »Gegen Nordwest von der Gegend […]«.225 Die Ortsangaben sind in Hacquets Text absolut und deiktisch, sie sind dazu bestimmt, sich im Raum zu orientieren: »Von da aus nach Norden, bis an den Dniesterfluß, sind nichts als kleine Hügel, welche aus Lehm-, und Sedimentstein gebildet sind. Hier am Fluß liegt noch der Überreste der Hauptstadt von dem Königreich Gallizien, nämlich Halitcs […].«226 Oder auch: »Von hier wandte man sich nach Nordost zu dem Dorfe Niemerow ».227 Die Zugänge Hacquets zu den erwähnten räumlichen Gegebenheiten sind akademisch präzis und kenntnisreich, der konkrete Raum, den er in seinen Reiseberichten narrativ gestaltet, wird dabei kognitiv von seiner Perspektive aus vermessen. Bemerkenswert ist Hacquets Schreibweise der örtlichen Toponymika: Er gibt sie nach dem phonetischen Prinzip wieder. So vermerkt er in der Vorrede zum ersten Teil der Reiseberichte: »Die Namen der Sachen und Ortschaften werde ich jederzeit getreu nach dem Sprachgebrauch aufzeichnen, als Polnisch, Russisch228 und Moldauisch«, und kommentiert dabei wie folgt: »Ich weiß wohl, daß derjenige Deutsche, welcher dieser Sprache nicht kundig ist, sie niemals recht aussprechen wird, […].«229 Deswegen findet man bei Hacquet oft dieselben Namen auf verschiedene Weise geschrieben. So gibt er den politisch gewählten Namen Galizien 221 222 223 224 225 226 227 228 229
Ebd., S. VIII. Ebd., S. XVII. Dünne u. a. 2006, S. 347. Hacquet 1791, II, S. 3. Ebd., S. 13. Hacquet 1790, I, S. 196. Hacquet 1796, IV, S. 37. Eigentlich »ruthenisch«, dementsprechend »ukrainisch«. Hacquet I, Vorrede, S. XIII f.
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(bei Hacquet »Gallizien«) als autochthones »Halizien«230 wieder, wobei letztere Bezeichnung, mit dem stimmlosen Konsonanten am Anfang, sich an der Phonetik der ruthenischen (ukrainischen) Sprache orientiert. Dieser Zugang liegt Hacquets Hypothese von der Etymologie des Namens aus der alten Hauptstadt des Fürstentums Halycˇ zugrunde (und dementsprechend aus der Bezeichnung des Fürstentums selbst, L. C.), dessen Herkunft er aus dem Altgriechischen ableitet: »[…] Halitcs, welches Wort ohne allen Zweifel aus dem griechischen herstammt, nämlich von ͑άλς (›hals‹, L. C.) oder Salz«.231 Seine Vermutungen begründet Hacquet durch die Entdeckung der ersten Salzquelle »vom ganzen Land« bei Halycˇ, wenn auch »mit der Länge der Zeit immer mehrere und bessere Quellen entdeckt«232 wurden.233 Die Stätten des Vorkommens dieses »heilsamen Naturprodukt[s]«234, das zu den wichtigsten Bodenschätzen des Landes gehörte, verfolgt Hacquet während seiner ganzen Galizienreise. Hacquets wissenschaftliche Interessen waren also neben der Geographie gezielt auf die Geologie der Karpatenregion gerichtet. Zur aktiven Erkundung der Natur- und Bodenschätze trieb ihn vor allem das Engagement des Entdeckers; seine pragmatischen Reflexionen und Kommentare bezüglich ihres Gewinns und der Möglichkeit des wirtschaftlichen Gebrauchs gestatten anzunehmen, dass seine naturwissenschaftlichen Interessen das von der Hofburg aus geleitete koloniale Projekt unterstützten. So liefert Hacquet eine genaue Darstellung von dem, was man in Galizien gewinnen und für »die Pracht der Kirchen, so wie des Adels«235 im Zentrum der Monarchie nutzen konnte, wie im Fall der Entdeckung von Alabaster- und Marmorvorkommen in der Gegend von Halicz – »lese Halitsch« (originale Anmerkung von Hacquet): Bey dem Dorf Meducha geben die Berge schönen weißen durchsichtigen Alabaster, der manchmal mit rosenroten Adern durchsetzt ist, und dessen Farbe zum Theil von Eisen und Braunstein herrühret. Von diesem noch meistens im Verborgenen liegenden Anbrüchen, gegen Abend, steht vieler schwarzgrauer Marmor an, der die gehörige Feste hat, und eine gute Politur anzunehmen fähig ist.236
230 231 232 233
Scharr 2004, S. 318. Hacquet 1790, I, S. 196. Ebd. Hacquet legt seine Begründung nach dem phonetischen Prinzip folgend aus: »Man kann hier sagen, diese Beweise sind zu wenig, obgleich sie aus der Natur der Sache Wahrscheinlichkeit geben, daß Gallizien von daher seinen Namen führen soll, indem der erste Buchstabe des Worts schon widerspricht: allein wenn man mit vielen slavischen Völkern bekannt worden, so erfährt man mehr als zur Genüge, daß viele das H in G, und so umgekehrt verwandeln, z. B. mag nur das so gemeine Wort Gora oder Hora, welches Berg, Anhöhe, Obern oder Hügel bedeutet, dienen.« (Hacquet 1790, I, S. 197) 234 Ebd. 235 Hacquet 1791, II, S. 4. 236 Ebd.
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Hoch geschätzt wird von Hacquet auch das Granitvorkommen, das er im westlichen Teil Galiziens bei Rzeszów vorfindet: »Der Granit ist weiß und roth, aus Quarz, Feldspat, Glimmer und Hornblende, in vielen auch Granaten […]237.« Die Kommentare des Aufklärers sind dabei von der Kritik gegen die damalige Politik der Habsburger begleitet, die er sich als anerkannter und unabhängiger Gelehrte leisten konnte. So reflektiert Hacquet über die wertvollen Mineralien, die in Galizien vorkommen, auf eine emotional gefärbte Weise: »Allein was nützen heut zu Tag alle diese für Pracht bestimmten Steinarten, da die europäische Staatsverfassung sich auf einen übermäßigen Kriegsfuß durch Ludwig und Friedrich den Großen hat setzen müssen, […].«238 Zu den Informationen über die materielle Ausprägung des Naturraums Galizien, die Hacquet in narrativen Darstellungen seiner Erkundungen liefert, gehören auch die Beschreibungen von mehreren anderen Natur- und Bodenschätzen, die in Galizien vorkommen. So notierte Hacquet mit genauer Ortsangabe die Vorkommen von grauem und weißem Gipsspat, von Schwefelquellen, »die sich wegen ihres täglichen Nutzen, den sie verschaffen, sehr auszeichnen«239, von Sedimentstein sowie von sehr gutem »aus dem Grauen ins Schwarze fallendem Flintsteine«.240 Die letzte Bemerkung wird vom Autor wie folgt kommentiert: »Der dasige Landmann macht schon seit undenklichen Zeiten Gebrauch davon.«241 Außerdem kommen in Galizien Bernstein242 und »an dem Striche der nördlichen Karpathen […] viele Quellen vom Berg- oder Steinöl« vor.243 So findet Hacquet in dem Dorfe Wenglowka in der Nähe von Przemysl »in einem sumpfigen Garten die Quellen vom Bergöl«, »polnisch Ropa«.244 Seine Wanderwege führten auch bis »Nahujowicz« in der Nähe des »nicht unbeträchtlichen Städtchen[s] Drohobicz«245, wo viel Bergöl erzeugt wurde. Bei der Beschreibung der Karpaten weist Hacquet auch auf die großen Waldungen hin, »die man wegen der Unzudringlichkeit nicht benutzen kann«.246 Die Qualität des galizischen Bodens, die Ratschky und Kratter etwas überschätzt hatten, ersterer als reisender Dichter-Beamte sogar euphorisch, schätzt Hacquet fachlich ein: »In Galizien, welches wie gesagt, einen ganz weichen Boden hat, findet der Landmann nicht nötig sein Fuhrwerk und Vieh zu beschlagen. Kommt er aber mit solchen in steinigte Gebürge, so ist sein Wagen, so wie die 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246
Hacquet 1796, IV, S. 43. Hacquet 1791, II, S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 13. Ebd. Hacquet 1794, III, 73, S. 80. Hacquet 1794, III, S. 84. Ebd., S. 148. Ebd., S. 160. Ebd., S. 49.
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Hufe seines Zugviehs bald zu Grunde gerichtet.«247 Das galizische Erdreich, wie zum Beispiel zwischen Drohobycˇ und der »Hauptstadt des Landes«, beschreibt er als »stäts ein lehmigtes und mergelichtes mit Hügeln und Flächen abwechselndes«.248 Die »Hauptstadt Haliziens«, mit den Namen »Lwów Pohlnisch, Leopolis Lateinisch, Löwenburg Teutsch, welches aber durch den ganz zweckwidrigen Nahmen Lemberg von den teutschen Völkern verhunzt worden«249, hat Hacquets Meinung nach eine ungünstige Lage in einem Kessel, »wo sie von allen Seiten mit Anhöhen aus Sand, Kalk und Gipsmergel umzingelt ist; nur gegen N. ist ein kleiner Ausgang in die Ebne, wo das wenige Wasser, das die Stadt besitzet, den Ausweg findet«.250 Man sollte nicht, räsoniert der Naturforscher, in dem Gebiet, wo Wassermangel besteht, eine Stadt gründen: »Was für ein Fehler hat man nicht gleich Anfangs begangen, eine Stadt in einer sandigen Wüste zum Hauptort zu machen, wo weder Holz, Wasser, Bau- noch Pflastersteine zugegen sind .«251 Hacquet hat aber auch ein Auge für die Landschaftsästhetik Galiziens, zum Beispiel in der Gegend bei Krakau, wo das Land »ganz romantisch« wird: »Man hat stets ein gelind-abfallendes Land, welches hin und wieder mit kleinen Hügeln und Kalkfelsen besetzt ist. […] Krakau hat eine sehr angenehme und schöne Lage, ganz in der Ebene, wo der Weichselstrom vorbeyfließt.«252 »[…] so romantisch, und angenehm, als eine im Lande seyn kann«, erscheint Hacquet die Gegend beim Ort Kalwaria nicht weit von Krakau.253 Den Ort Sklo, wo sich mehrere »Quellen von einem starken Schwefelwasser« befinden254, stellt Hacquet folgendermaßen dar: »Sklo liegt beynahe in gerader Linie viel Meilen von Lemberg, gegen Abend an der Landstraße nach Wien, in einer angenehmen Ebene, hat gegen Norden einen See, oder großen und fischereichen Teich.«255 Die Pflanzen- und Tierwelt Galiziens sind vom Naturforscher auch nicht außer Acht gelassen worden. Er zeichnet in seinen Reiseberichten unter anderem die von ihm entdeckten neuen Arten von Pflanzen256 oder von Vögeln. »Bei dem Dorfe Janow«, wo »sehr große Teiche sind«, sieht der Reisende »eine große Menge von Enten und Reiherarten« und bildet letztgenannte als eine »neue Reyherart« ab.257 Er orientiert sich bei der Beschreibung der Tierwelt Galiziens an den schon in der Antike verbreiteten Lehren der Klimatologie. Das kann man bei Hacquets Ver247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257
Hacquet 1791, II, S. 186. Hacquet 1794, III, S. 167. Ebd., S. 169. Ebd., S. 270f. Ebd., S. 175. Hacquet 1796, IV, S. 60f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 105. Ebd., S. 9. Hacquet 1790, I, S. 170–179. Hacquet 1796, IV, S. 18.
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gleich von Galizien mit Ungarn mitverfolgen: »[…] was das Klima von Hungarn gegen jenes von Galizien vermag, ist, daß alles, was man die Pflanzen der Thiere nennt, als: Haare, Hörner, usw., in Galizien kurz und klein, in Hungarn hingegen alles lang und groß ist.«258 Diese Zugänge gebraucht er auch bezüglich der Menschentypen: Menschen und Tiere haben in Sarmatien kurze Haare, nur die Schweine haben lange und schöne Borsten. Das Hornvieh hat durchgehends kurze Hörner, da hingegen in Hungarn Menschen und Tiere lange Haare und Wolle haben. […] – Wo liegt dieses Sonderbare? Ganz gewiß nur in den Wassern, im Klima, und wohl auch etwas in der Nahrung und in der übrigen Lebensart. So wie also in einem Lande durch Klima und Nahrung Krankheiten entstehen, so kommt in einem andern ein sonderbares Wachsthum hervor.259
Hacquets Denken des Mensch-Natur-Verhältnisses erweist sich hier als ziemlich rigide, so wie es bis ins 18. Jahrhundert hinein verbreitet war und den Grund für spätere Klischees lieferte. Hinsichtlich der binnenkolonialen Bestrebungen der Habsburger in entlegenen Provinzen wurde ein solches Denken später auch instrumentalisiert. Folglich kann man Hacquet, als einen der ersten josephinischen Naturforscher Galiziens, als den Vorboten von mehreren Themen nennen, die im Laufe der nächsten Jahrzehnte auftauchten, wie z. B. in den Publikationen über die Naturgeschichte Galiziens, unter anderem über das eigentümliche Tierreich des Landes von Alexander Zawadzki (1840) sowie über die Insektenfauna Galiziens von Maximilian Nowicki (1864) oder auch über die Naturgeschichte des Menschen von Josef Majer und Isidor Kopernicki (1870er-1880erJahren)260, in der die physische Eigentümlichkeit der Galizier festgestellt wurde. So lieferten die »physikalischen« Reisen Hacquets durch Galizien mehrere primäre Rauminformationen über seinen Naturraum. Für den wandernden Gelehrten bekam er den Charakter eines hodologischen Raumes, wenn die »basalen« räumlichen Gegebenheiten in ihrer materiellen Ausprägung als Erdreich, Waldungen, Flüsse, Teiche, die Natur- und Bodenschätze aus der Perspektive des Reisenden visuell und multisensorisch wahrgenommen wurden. Die situationsbezogene Thematisierung dieser Gegebenheiten in den konkreten Bewegungsbereichen wurde von Hacquet narrativ gestaltet, infolgedessen er Galizien als einen von der Mannigfaltigkeit und vom Reichtum gekennzeichneten Naturraum modellierte. Er fand ihn aber als einen solchen vor, der sich im rohen Zustand befand und eo ipso die Hilfe der aufklärerischen Zivilisierung und dementsprechend der »einkerbenden« Kolonisierung benötigte. Diese Position 258 Ebd., S. 201. 259 Ebd. 260 Durch die Arbeiten von Majer und Kopernicki wurde Galizien in den achtziger Jahren des 19. Jh.s eines der anthropologisch am besten bekannten Länder Europas.
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Ad imperii marginem: Galizien aus der Perspektive des Reisens
eines Anhängers des Josephinismus bringt ihn und seinen Reisebericht trotz aller gravierenden Unterschieden des Modellierens des galizischen Naturraums, in die Nähe seiner Vorgänger, die als die ersten aufgeklärten Reisenden aus dem Zentrum der Monarchie den Boden Galiziens im Gefolge von Joseph II. betraten.
Naturerlebnisse eines Statistikers in Galizien Joseph Rohrer war kein Naturforscher, sein Reisebericht ist im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen Untersuchungen Hacquets von anderen Intentionen bestimmt und hat folglich einen ganz anderen Charakter. Als einer der Ersten hebt er schon im Titel seiner Reisebeschreibungen den Unterschied zwischen Ost- und Westgalizien hervor, der ihm auf seinen mehrere Monate dauernden Reisen aufgefallen war, wenn die Datierung der Briefe berücksichtigt wird. Den galizischen Boden betrat er im November 1802261 und verließ ihn im April 1803: Seinen am 6. April verfassten Brief schließt er mit den Worten: »Doch genug aus Galizien! Morgen betrete ich schon am frühen Tage den Schlesischen Boden.«262 Den bereisten Georaum thematisiert Rohrer meistens nicht situationsbezogen. Obwohl in vielen Fällen die lebendige Wahrnehmung zu spüren ist, stellt er das von ihm genau Observierte in der narrativen Form von Beschreibungen, Reflexionen, Kommentaren, Argumentationen, Projekten dar, die er seinem, im vorliegenden Fall »erfundenen« Freund mitteilt. Nicht selten stößt man beim Lesen von Rohrers Briefen auf lange Statistiken und präzise Details, die er mit Hilfe der schon vorhandenen Daten zusammenstellt. Doch gerade an den Stellen, an denen Rohrer sich bemüht, eine natürliche epistolare Kommunikation nachzuahmen, gelingt es ihm, seine unmittelbaren Erfahrungen, die er auf den zurückgelegten Wegstrecken sammelte, darzustellen und als den von ihm erlebten hodologischen Raum mit Hilfe des Erzählens zu konstituieren. Die beiden Zugänge beziehen sich auch auf den Naturraum Galizien, der in Rohrers Briefen sowohl mithilfe des Vorwissens als auch mithilfe der Informationen über die materielle Ausprägung der von ihm erlebten »basalen« räumlichen Gegebenheiten modelliert wird. Rohrers Art, während seiner Rhizom-Reisen im Raum zu sein, ist durch die visuelle und multisensorische Wahrnehmung gekennzeichnet. Ähnlich den anderen Reisenden seiner Zeit strukturiert er die galizische Landschaft aus zwei dominierenden Komponenten, als ein »herrliches Flachland«263 und als Gebirgsgegend. Diese Opposition, die die Landschaft Galiziens kennzeichnet, wird 261 Rohrer 1804, S. 72. 262 Ebd., S. 205. 263 Ebd., S. 81.
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zum permanenten Topos des »Galizischen Textes«. Oft wird die Landschaft von diesem Autor nicht nur bloß als ein assoziativer Ausschnitt aus dem Georaum beschrieben, sondern als erzählte Wahrnehmung einer mobilen Wahrnehmungsinstanz dargestellt, infolgedessen sie ästhetisiert wird wie beispielsweise bei der Beschreibung der Quelle des bedeutendsten Flusses Ostgaliziens, Dniester. Die Wegstrecke wird dabei durch Toponymika konkretisiert: Dem reisenden Naturbeobachter würde ich vorschlagen, dem Laufe des Dniesters zu folgen, ja diesen Fluß bis zu seiner Quelle zu begleiten, welche in einem romantischen Thale Dubowe liegt, das so einsiedlerisch schön liegt, daß ein Solomon Geßner kaum einen schönern Platz sich zu seinen Dichtungen und Zeichnungen erkiesen könnte.264
Die Gegend im Brzez´aner Kreise, wo Honig gewonnen wird, bekommt in Rohrers Darstellung sogar die Züge eines Locus amoenus, einer schönen »Arcadenwelt in den beblümten Wandelgängen dieser Landschaft«265: Denn wenn man zur Frühlings- oder Sommerzeit diesen Kreis bereist, so sieht man oft, so weit nur das Auge über die Flächen reichet, nichts als Heidekorn von allen Seiten. Blüht dasselbe, so schwebt man gleichsam im Honiggeruche, den die Blüthen ausduften.266
Jedoch ist die Landschaftsästhetik für Rohrer in seinen Anmerkungen auf der Reise durch Galizien nicht unbedingt von Bedeutung, seine Reflexionen zeugen vor allem vom Wissen über die nützlicheren Dinge, wie zum Beispiel über die mineralogischen Schätze des galizischen Naturraumes, das er nicht infolge eigener Forschungswanderungen wie im Fall von Hacquet gewann, sondern – unter anderem – aus den Arbeiten des letzteren schöpfte: Das Land sei, laut Rohrer, »sehr reich an mineralogischen, bisher nicht genützten Schätzen«267. Er rechne dabei »vorzüglich Eisen, Steinkohlen, Walkererde« und bemerkt, dass der »einzige Professor Herr Hacquet […] noch immer so munter im Felde der Literatur arbeitet, als er es in seinen jüngern Jahren tat«.268 Der Naturraum als Element der von Rohrer erzählten Welt nimmt auch einen erwähnenswerten Platz bei der Beschreibung der Topologie der Hauptstadt des Kronlandes, Lemberg, ein, das zu seinem einige Jahre dauernden Wohnort wurde. Die Darstellung der Stadt gehört zu den trefflichsten Beschreibungen im Rohrers Reisebericht, die über die üblichen Beschreibungen eines Reisenden weit hinausgehen. Die Stellen, wo er seine Lieblingsorte in Lemberg schildert, sind als erlebter Raum, der aus seiner Perspektive wahrgenommen wurde, wiedergegeben und bekunden die Einstellungen und Gefühle des Autors. Infolgedessen 264 265 266 267 268
Ebd., S. 190. Ebd., S. 126. Ebd., S. 125. Ebd., S. 145. Ebd.
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weisen sie einige Merkmale der fiktionalen literarischen Texte auf. Treffend ist in diesem Sinne die Art der Wiedergabe der Lage und des Reliefs von Lemberg, die diametral andere Zugänge im Vergleich zu den distanzierten Darstellungen von Kratter oder zu den wissenschaftlich-nüchternen Beschreibungen von Hacquet erkennen lässt. Den in der Stadtlandschaft auffallenden Gegensatz zwischen dem ebenen und hügeligen Teil, der in allen Reiseberichten vorkommt, stellt Rohrer mithilfe der Optik dar, die man für die Landschaft als Ausschnitt aus dem Georaum beim Panorama-Blick gewinnt: Ich vermag es nicht, die Empfindungen und Gefühle zu schildern, die mich so sonderbar durchgreifen, wenn ich von dieser Seite hinab ins Thal sehe, in welchen zunächst einige im Gebüsche zerstreute Häuschen liegen, in größerer Entfernung aber gleichsam halbmondenförmig fruchtbare Triften und Acker von kleinen Hügeln begrenzt werden. Die ganze Natur, wenn man des Morgens hierher gehet, scheint diese Scene stille feiern zu wollen, indem allmählich unter unsern Füßen tief im Thale, während wir schon von sanftern Sonnenstrahlen umgeben, auf dem Berge stehen, die Nebel sich zerstreuen, und unter mannigfaltigen Wandelhängen forteilen.269
Dabei vergisst Rohrer nicht zu erwähnen, dass auch Joseph II. diese Gegend besuchte und die Schönheit des Ausblicks von den Höhen des »stillen Wäldchens« genoss.270 Andere Erfahrungen machte Rohrer auch während seines Aufenthaltes in Galizien im Winter 1802/1803. Schon auf der Reise von Czernowitz nach Galizien, »in unser gelobtes Land«271, erlebte er auf der Straße nach Stanislau, der ersten galizischen Kreisstadt, in der er eintraf, einen heftigen Schneesturm, der von ihm als ein aufregendes Ereignis beschrieben wurde: Wie ich hierher kam, hiervon weiß ich mir selbst wenig mehr Rechenschaft zu geben. In eben derselben Stunde nämlich, als ich von Czernowitz wegfuhr, empfing mich ein heftiger Schneesturm. Die beständigen Schneeflocken hemmten mir alle Aussicht. Die kalten Winde, welche bald von dieser, bald von jener Seite gegen mich bliesen, machten, das ich mein Gesicht so sorgfältig einband, wie es die Milchmädchen aus den benachbarten Dörfern Wiens zur Sommer- und Winterzeit auf der Straße nach der Hauptstadt zu thun pflegten.272
Der beim Schneesturm wahrgenommene Naturraum im Flachland Galiziens weist hier die Züge eines »glatten«, intensiven Affekt-Raumes auf. Wenn Kratter den heilsamen Einfluss des Klimas Galiziens lobt, so leidet Rohrer in Lemberg an der enormen Kälte. Der »heurige, sehr harte Winter zwingt, nicht viel sich vom Hause zu entfernen« und »daher die Gelegenheit benimmt, den Beobachter zu 269 270 271 272
Ebd., S. 168f. Ebd., S. 162. Ebd., S. 72. Ebd., S. 72f.
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machen«.273 Er erwähnt die Information darüber, »wie es in den meisten Zeitungen gestanden hat, daß einzig im Lemberger-Kreise zweiunddreißig Menschen erfroren, so waren doch unstrittig zumal im ganzen Lande der Erfrorenen Viele«.274 Rohrer bemerkt dabei, dass es sogar in der Hauptstadt am Holzvorrat mangelt; dabei seien die Waldungen »um Lemberg durch mehrere Meilen im Umkreise schon sehr auffallend ausgelichtet worden«, und dass »eine Zeit kommen wird, wo die Einwohner Lembergs selbst um teures Geld kein Holz werden haben können«.275 Die Beobachtungen des Beamten haben einen wirtschaftlichen Charakter. Der gebürtige Tiroler teilt seine Erfahrungen über den schonenden Umgang mit den Waldungen mit: »Die Holz-Konsumtion ist in der Hauptstadt unstreitig viel größer, als sie bei weiser eingerichteten Maßregeln sein würde«276, und appelliert für den sorgsamen Umgang mit den Wäldern: Wie notwendig wäre es doch in Ost- und Westgalizien die volle Aufmerksamkeit auf Wald-Kultur zu wenden! Wenn man bedenkt, daß bei der bisher eingetroffenen Bauart wegen jedes abgebrannten Dorfes (und wie oft geschieht dieses in Galizien!) ein ganzer Wald wieder zur Herstellung neuer Bauernhäuser am alten Grunde nötig ist, so kann man sich beiläufig einen Begriff von der jährlichen Holzverschwendung machen.277
Rohrer schlägt vor, Plantagen anzulegen, »dass eben so viel reifes, neues Holz heranwächst, als altes verbraucht wird«.278 Ohne diese Maßnahmen, die der überzeugte Anhänger des Josephinismus mit den Reformen vonseiten der Verwaltung verknüpft, »lässt sich leider auch keine bessere Zukunft hoffen«.279 Wie seine Vorgänger verbindet er diese Zukunft Galiziens mit der neuen Landesregierung. Denn für ihn verdient »Allein selbst die rohe Natur […] doch den Blick des weisen Mannes«280. Sein Ziel wäre, den »inneren Reichtum in unserer Provinz« zu vermehren281, um »dem Staate neue Quellen zum Nationalreichtum zu verschaffen«.282 1804 geschrieben, haben diese Worte des österreichischen Aufklärers einen modernen kolonialistischen Klang: Hier fällt die Tatsache der Bemächtigung der anderen Territorien auf, um sie zu beherrschen und ökonomisch auszubeuten.283 Das Wissen über die materielle Ausprägung der räumlichen Gegebenheiten Galiziens als eines Naturraumes, das Rohrer auf der Reise in
273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283
Ebd., S. 160. Ebd. Ebd., S. 162. Ebd. Ebd., S. 164. Ebd. Ebd. Ebd., S. 80. Ebd., S. 197. Ebd., S. 188. Ruthner 2003, S. 111.
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Galizien gewann, gebraucht er, wie alle drei schon früher nach Galizien gekommenen josephinischen Reisenden, um die Notwendigkeit der Herrschaft Habsburgs in der marginalen Provinz zu begründen und zu rechtfertigen.
Schlussfolgerungen Schlussfolgernd kann man sagen, dass eine solche raumbezogene Gattung wie der Reisebericht, indem er insbesondere am Ende des 18. Jahrhunderts eine Neuerung erkennen lässt, nämlich die Verbindung der Authentizität mit der Fiktionalität, sich als eine wichtige Quelle der Erforschung des Georaumes erweist, in dem die Reise verlief. Denn er ermöglichte nicht nur die kognitive Vermessung des neuen Territoriums, sondern auch ihre narrative Gestaltung in verschiedenen Formen, unter anderem als ein Reisetagebuch, als Briefe, die von einer Zwischenstation der Reise zur nächsten geschrieben wurden, oder auch als wissenschaftliche Studien. Wenn von einer Seite die Reiseberichte durch die Kombination der Wegstrecken mit den Karten strukturiert wurden, spielte von der anderen Seite die räumliche Wahrnehmung eine entscheidende Rolle, die in der Zeit der Aufklärung immer subjektiver geprägt wurde. Der Raum, der im Prozess der Fortbewegung visuell und multisensorisch wahrgenommen wurde, kann als hodologischer Raum bezeichnet werden, den die Richtungsvektoren und Temporalität bestimmen. Zentral für den Reisebericht wurden folglich der Chronotopos des Weges, die Zwecke, die Motive und die Logik der historischen Beobachtungssituation. Alle diese Merkmale kennzeichnen die ersten deutschsprachigen Reiseberichte, die in der Epoche des Josephinismus die machtpolitisch annektierte Provinz als einen narrativen Raum produzieren. Das Wissen über die materielle Ausprägung des naturgegebenen Georaumes Galiziens, das in diesen Reiseberichten mitgeteilt wurde, verhalf, ihn als einen anthropologischen Naturraum zu modellieren, der sich aus der Beobachtung und dem Erleben der »basalen« räumlichen Gegebenheiten ergab. Das Modell des Naturraumes Galizien erweist sich als der Ursprung zukünftiger sozialer Prozesse, ungeachtet aller Unterschiede der Berichte bezüglich der Art des Reisens oder des Aufenthaltes der Autoren, der Zwecke und der Motive ihrer Reisen in die entlegene Provinz sowie der Zugänge zu ihrer Darstellung als eines hodologischen Raumes. Der Naturraum wurde dabei nicht nur als gemeinsamer Ausgangspunkt für die galizische Gesellschaft im habsburgischen Sinne konstruiert, er wurde als Rohstoff behandelt, auf den die Produktivkräfte dieser Gesellschaft einwirken sollten, um den angestrebten sozialen Raum hervorzubringen. Die josephinische Kolonisierung Galiziens führte zu binnenkolonialen Prozessen in der Gesellschaft der Provinz, die aus dem Zentrum der Monarchie in die Peripherie projiziert wurden. So ermöglichen die kulturwis-
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senschaftlichen Ansätze wie Spatial Turn und Postcolonial Turn, welche die literaturwissenschaftliche Analyse der Texte der Reiseberichte erweiterten, ein vielseitiges Bild nicht nur von den Umständen im damaligen österreichischen Galizien, sondern auch eines von der Epoche des Josephinismus und seiner Innenpolitik: Als Randgebiet der Monarchie wurde Galizien in der deutschsprachigen Reiseliteratur aus der Zeit Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts als ein Raum der Appropriations- und Zivilisierungsprojekte betrachtet. Dabei lieferten die narrativen Einschreibungen in den Georaum der »neu erfundenen Provinz« viele sprachliche Codes der Motive, die für die spätere Erzählkunst typenprägend wurden und als Grund für gemeinsame Topoi des »Galizischen Textes« fungieren, die im Schaffen von bekannten und weniger bekannten Autoren Galiziens nicht zu übersehen sind. Es sind »diagnostische« sprachliche Elemente, die auffallend dicht auftreten. Folglich zeugen sie von der Zugehörigkeit der ersten deutschsprachigen Reiseberichte zum »Galizischen Text« und gestatten einen neuen Blick auf Galizien zu werfen. Als konkretes Ergebnis können hier einige meist vorkommende Elemente angeführt werden, die positive sowie negative Charakteristiken des Georaums Galizien darbieten. Positive Merkmale geben folglich solche sprachliche Codes wieder wie Reichtum der Natur Galiziens, ihre Potentialität; die Fruchtbarkeit der galizischen Erde: schwarzer, reiner und fetter Boden; große und schöne Teiche; Vorhanden von mehreren Bodenschätzen und wertvollen Mineralien, vor allem von Salz und Quellen vom Bergöl; heilsamer Einfluss des Klimas. Eine große Rolle bei der Wiedergabe der Landschaftsästhetik Galiziens spielt die öfters betonte Opposition von Flachland und Gebirgsgegend als von zwei dominierenden Komponenten der Gegend. Nicht selten wird sie als locus amoenus beschrieben. Zu negativen Charakteristiken Galiziens als Georaum zählen die marginale geographische Lage und die schwierige Erreichbarkeit der Provinz; die Unwegsamkeit der Straßen, die aus dem Zentrum der Monarchie nach Galizien führen; große, aber undurchdringliche Wälder; enorme Kälte; roher Zustand der Natur; galizisches Elend, die aus der Nachlässigkeit des Landvolkes resultiert. All diese kritisierenden Momente, die von den josephinischen Reisenden hervorgehoben wurden, erweisen sich als Zweck, die Notwendigkeit der Herrschaft Habsburgs und der Kolonisierung der Provinz zu begründen. Folglich kann man die Reiseberichte von Franz Ratschky, Franz Kratter, Balthasar Hacquet und Joseph Rohrer als ein typisches Merkmal der ausklingenden Epoche des Josephinismus einschätzen.
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Die Aura einer Berglandschaft in Galizien: Die ukrainischen Karpaten
Walter Benjamin hat seinen Begriff der Aura unter anderem am Beispiel der Berglandschaft erläutert: Aura »definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«284 Der Gebirgszug konstituiert sich hier als ästhetisch angeschaute Landschaft. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit sind – laut Benjamin – die Aura und so auch die Landschaftsbegriffe dem Verfall unterworfen. Als Ursachen dieses Verfalls erwähnt der Philosoph die folgenden: »Er beruht auf zwei Umständen, die beide mit der zunehmenden Bedeutung der Massen im heutigen Leben zusammenhängen: nämlich die Dinge räumlich und menschlich näher zu bringen« und die »Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion.«285 Diese These lässt sich am Beispiel einer konkreten Berglandschaft verfolgen, und zwar der ukrainischen Karpaten, die Ostkarpaten genannt, die hier aus drei Perspektiven angeschaut sein werden: als eine geographische Landschaft (ein Erd- und Naturraum), als kulturhistorische Landschaft (Kulturraum) und als ästhetische Landschaft (kulturell produzierter Raum). Vorerst sollte man sich an diese Berge als an eine geographische Landschaft, als an einen »Abschnitt der Erdoberfläche samt dem darüber befindlichen Abschnitt des Himmels«286 annähern. Die ukrainischen Karpaten liegen im Westen des Landes, wo heute die staatlichen Grenzen der Ukraine, der Slowakei, Ungarns und Rumäniens zusammenkommen. Sie sind ein gewaltiger Gebirgszug, der sich über 280 Kilometer von Nordwesten nach Südosten mit durchschnittlich 100 Kilometer Breite hinzieht und im Süden in die rumänischen Karpaten
284 Benjamin 1963, S. 18. 285 Ebd., S. 18. 286 Hellpach 1965, S. 168.
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Die Aura einer Berglandschaft in Galizien: Die ukrainischen Karpaten
übergeht. Bei der Ortschaft Rachiv287, an der Grenze zwischen der Ukraine und Rumänien wurde 1887 von den k.u.k. Geographen das geographische Zentrum Europas festgelegt. Die Inschrift am steinernen Obelisk, der an diesem »ewigen Ort« steht, lautet: »Locus perennis / diligentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confecta cum mensura gradum meridionalium et parallelorum centrum europeum.« Als eine Naturlandschaft gehören die ukrainischen Karpaten zu den größten Waldgebirgen der Ukraine und Mitteleuropas und bilden mit ihren drei Pässen den östlichen Teil des Karpatenbogens. In Hinsicht auf die Geologie sind es alte Berge überwiegend mittlerer Höhe, auf deren gewölbten Spitzen der Schnee nur bis Ende Mai liegen bleibt. Der höchste Berg der Ostkarpaten – die Hoverla – beträgt 2061 m; hier kann man manchmal einige Schneeflecken bis Mitte August sehen. Die Karpaten haben einen Mittelgebirgscharakter: Die sanft konturierten Hügel sind meistens mit üppigen Wäldern bedeckt, wobei Tannenwälder an den nördlichen und gemischte Laubwälder, darunter nicht selten Buchenwälder, auf den südlichen Hängen wachsen. Das Klima dieser Gegend ist mäßig warm und feucht: Im Winter sind die Kämme mit tiefem Schnee bedeckt, im Sommer regnet es oft. Die Ostkarpaten sind reich an Wasserquellen; hier entspringen mehrere ˇ eremosˇ, Tysa u. a.). Besonders malerisch sind diese Flüsse (Dnister, Stryj, Prut, C Berge im Frühherbst, wenn das Laub sich mit allen Tönen von Rot und Gelb verfärbt und die Tannen dunkelgrün emporragen. Zweitens haben die Besonderheiten der geographischen Lage und die eigentümliche Natur dieser Berge die ukrainischen Karpaten zu einer kulturhistorischen Landschaft werden lassen. Schon im Altertum kreuzten sich in dieser Region die Handelswege, die den Westen mit dem Osten verbanden, wodurch eine Mischung der Kulturen entstand. Die Berge waren dabei die natürliche Sperre, der östliche Ausläufer, die Europa vor dem Zug der Nomadenvölker aus Asien schützten. Beispielhaft ist die Rolle der Karpaten während des Widerstandes gegen die Invasion der Mongolen im Mittelalter zu nennen. Trotzdem geriet die autochthone slawische Bevölkerung schon ziemlich bald unter die Herrschaft verschiedener fremder Mächte: unter jene der Ungarn, der Polen, der Rumänen, und ab Ende des 18. Jahrhunderts unter jene der Habsburgermonarchie. Zu dieser Zeit entstanden hier drei kulturhistorische Landschaften: Galizien, die Bukowina (cisleithanischer Raum) und Transkarpatien (transleithanischer Raum). In den Ostkarpaten verlief im Ersten Weltkrieg die Frontlinie zwischen Österreich-Ungarn und Zarenreich Russland, die einen »beweglichen« Charakter hatte. Die Naturlandschaft wurde auf Jahrzehnte kontaminiert. Nach dem Zerfall der Monarchie wurde diese Gebirgsstrecke zwischen Rumänien, 287 Alle Namen der Orte bzw. der Flüsse und der Berge werden laut des Klangs im Ukrainischen wiedergegeben.
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Ungarn, Tschechoslowakei und Polen zerteilt. Nach den Gräueltaten des Zweites Weltkrieges wurde in der Region die Sowjetmacht etabliert. Das ganze Gebiet umfasste neben den Ostkarpaten selbst das Karpaten-Vorland und das südliche an Ungarn grenzende ebene Gebiet von Transkarpatien. Entwicklungsgeschichtlich gesehen bildeten sie eine Einheit. Die Lage an der Kreuzung der Kulturen (der westlichen-lateinischen und der östlichen-byzantinischen Traditionen) verlieh dieser Region eine einmalige Atmosphäre. In diesem Zusammenhang könnte man in den Bergen direkt mehrere Beispiele der alten, fast unberührt gebliebenen Kultur der autochthonen Bevölkerung antreffen, die sich aus mehreren, mitunter stark differenzierten Volksstämmen (Huzulen, Bojken, Lemken) zusammensetzte. Sie sprachen auch verschiedene Mundarten des Ukrainischen, die infolge der relativen Isolierung voneinander entstanden. Ursache dieser Differenzierung war die Tatsache, dass die Berglandschaft der Ostkarpaten schon immer stark zerklüftet und schwer zugänglich war. Bis heute gibt es hier nur vier bedeutende Straßen und drei Bahnlinien, die noch zu k.u.k. Zeiten angelegt wurden. Die beiden letzten Momente, und zwar die periphere Lage an der Kreuzung verschiedener Kulturen und die relative Unzugänglichkeit bewirkten drittens die Herausbildung des eigenartigen Phänomens der Berglandschaft der Ostkarpaten im ästhetisch-philosophischen Sinne: Sie wirkten schon immer faszinierend. Besonders deutlich trat es in den symbolischen Formen zutage, vor allem in der Literatur. Sowohl »pragmatische« Gattungen wie Reiseliteratur und ethnographische Darstellungen aller Art als auch schöngeistige Werke, die eine fiktive Wirklichkeit darstellten, konnten sich dieser Faszination nicht entziehen. Dabei wurde das Karpaten-Phänomen durch die Einmaligkeit dieser Berge geprägt und wirkte meistens aus der Ferne, wodurch eine bestimmte Idealisierung nicht zu vermeiden war. Als »grüne Naturinsel«, die der westeuropäischen Zivilisation gegenübergestellt wurde, lockten die Ostkarpaten die Aufmerksamkeit der Reisenden schon in der Zeit des »aufgeklärten Absolutismus«. Ein prägnantes Beispiel dazu sei hier die vierbändige Reisebeschreibung von Balthasar Hacquet Neuste physikalisch-politische Reisen durch die Dacischen und Sarmatischen oder nördlichen Karpathen (1790–1796) erwähnt, die mehrere landeskundige Beiträge enthalten. Obwohl Hacquet’s Interesse hauptsächlich der Geographie, Geologie und Biologie der Region galt, konnte er seine Begeisterung für die Sitten und Bräuche der Bergbewohner nicht verheimlichen. Das änderte aber seine Überzeugung an der Notwendigkeit der deutsch-österreichischen Kulturmission (besonders im Schul-, Gesundheits-, Militär- und Gerichtswesen) nicht. Als einer der ersten wandte sich Hacquet der Darstellung eines der eigentümlichsten Stämme zu, die die Ostkarpaten bewohnen – und zwar der Huzulen. Viele Ethnographen und Literaten haben später ihr Augenmerk auf ihr besonderes Aussehen, auf ihre hochentwickelte und originelle angewandte Kunst, die auch Teil des Alltags war
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und die sich bestens in den Trachten darstellt, ihre naturnahe Lebensweise und ihren freiheitsliebenden Charakter gerichtet. Den Huzulen wurde viel Aufmerksamkeit auch im Kronprinzenwerk des Erzherzogs Rudolf gewidmet, wie z. B. in der folgenden Beschreibung ihres Aussehens: Ein Huzule »[…] ist gewöhnlich kräftig gebaut, von hoher schlanker Statur und zeichnet sich durch männliche Gesichtszüge, gebräunte Hautfarbe, schwarze Augen und schwarzes langes Haar, schöne Adlernase und langen Schnurrbart aus.«288 Die Huzulen fanden ihren dichterischen Niederschlag in der vielsprachigen Literatur über die Ostkarpaten.289 Obwohl (oder gerade weil) die von österreichischen Aufklärern vorgeschlagenen Zivilisierungsmaßnahmen in den östlichen Provinzen im Laufe des nächsten Jahrhunderts mühsam und meistens nur in den großen Städten (Lemberg, Czernowitz, Stanislau) durchgesetzt wurden und die Berge nicht berührten, blieben die Ostkarpaten ein reizendes Reiseziel, das öfters poetisiert wurde. Ein Reiseführer durch die Bukowina aus späterer Zeit – Anfang des 20. Jahrhunderts – beschreibt die Karpaten in diesem Kronland verlockend: Den ganzen Südwesten des Landes bedeckt das Gebirge, das nahezu unvermittelt aus dem Hügelland emporsteigt; es küsst hier die Steppe den Karpathenbogen und darin liegt der eigentümliche Reiz dieses Gebietes. Mächtige, parallel gefaltete, mit Nadelholz dicht bewaldete Ketten, die in einer Breite bis zu 56 Kilometer reichen, manifestieren sich uns als die Vorlagen des Hochgebirges.290
Viel Aufmerksamkeit schenkte den Ostkarpaten im 19. Jahrhundert die Völkerkunde. Davon zeugen die markanten Stellen im Kronprinzenwerk des Erzherzogs Rudolf, wo die Berge der östlichen Provinzen der Monarchie »in Wort und Bild« erscheinen. Als besonders sehenswert wird der Urwald in den Karpaten beschrieben, der die Impression einer unberührten Natur vermittelt: In den östlichen, beinahe ausschließlich mit Wäldern und Forsten bedeckten Karpaten, tief im Gebirge […] findet man noch echte Urwälder, welche ihre Unzugänglichkeit und besonders das Fehlen geeigneter wilder Floßwässer vor den Angriffen des Menschen schützte und bis auf unsere Tage bewahrte. Durch Wälder, die schon mehr oder weniger forstmäßig genutzt wurden, gelang man allmählich in eine Wildnis, die wirklich ergreifend ist. Den Boden, auf dem uralte geborstene Stämme lang hingestreckt oder oft haushoch übereinander getürmt morschen, bildet vorwiegend eine tiefe, halbzersetzte, mit dicken Moospolstern belegte Humusschicht, aus der häufig größere Steinblöcke oder Felsen hervorragen, unter denen nicht selten eine Quelle hervorrieselt, deren 288 Österreich-Ungarische Monarchie in Wort und Bild 1898, S. 387. 289 Woldan 1998, S. 151–166; Woldan 2015. 290 Kusdat 2001, S. 11. Dass solche Darstellungen der Berglandschaft nicht an Aktualität verloren hatten, zeugt die schnell vergriffene Neuausgabe des Reiseführers. Auch heute bleiben die ukrainischen Karpaten für die Reisenden eine interessante, aber auch mühsame, von der Infrastruktur der modernen Touristik geschonte Entdeckungsgegend.
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Wasser nach kurzem Lauf im Gerölle und in moorigen, mit Straußfarn und sprossendem Bärlapp dicht bewachsenen Schichten verschwindet, um weiter desto reichlicher hervorzubrechen.291
Diese reizvolle Gebirgslandschaft, die von der Aura des Natürlichen, Echten und Geheimnisvollen umgeben war, zog vor allem die Künstler an und wurde zum permanenten Topos der fiktionalen Literatur. Mit dem Schaffen der Schriftsteller aus Galizien und der Bukowina – Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895) und Karl Emil Franzos (1848–1904) – gelangte das Phänomen der Karpatengebirge Mitte des 19. Jahrhunderts auch in die deutschsprachigen Werke. Der in Lemberg geborene Leopold von Sacher-Masoch, der seine Heimat in früher Jugend verlassen hatte, kam immer wieder in die Karpaten. Ihre Landschaft wurde zum besten Hintergrund und zur Dekoration für viele seiner Werke, zu einem der Topoi der für ihn typischen Gegenüberstellung von Osten und Westen. Die Karpaten sind bei diesem oft umstrittenen Schriftsteller eine »grüne Stelle«, die auf ihn jungfräulich, echt und für ihre Zeit »natürlich« wirkt. Hier platziert er seine sehnsüchtige Naturwelt, die nicht so reguliert ist, wie die zivilisierten westlichen Welten, und die ihre eigene unberührte Aura ausstrahlt. Diese kulturelle Dichotomie wird bei Sacher-Masoch am Beispiel der Gegenüberstellung der Karpatenund Alpenlandschaft sichtbar. Karpaten sind für Sacher-Masoch aber auch der Ort, wo Osten und Westen zusammenkommen. In der Architektonik des Urwaldes der galizischen Berge sieht er orientalische und westliche Züge zugleich: Die Walddickicht in den Karpaten erinnert an einen Palast arabischer Märchen, sei dabei von einem Rauschen wie von Tönen einer Orgel erfüllt: Während in den Alpen bei aller Massenhaftigkeit und Schroffheit ihrer Gebirgsstöcke auf allen Berghäuptern, in allen Tälern derselbe gleichmäßige Glanz der Heiterkeit ruht, zeigen unsere Karpaten wie unser Volk eine tiefe, schweigende, unaussprechliche Schwermut, eine gewisse Wildheit, eine vorweltliche, ureigentümliche, unentweihte Großartigkeit, deren düstere Majestät uns nur zu demütigen und niederzudrücken scheint, um uns dann um so mehr über den schweren schwülen Dunst der Erde emporzuheben. Feierlich thront die jungfräuliche Natur in dem Urwald, der uns drohend umschließt. Uralte Buchen, Rieseneichen schließen ihre breiten Äste, ihr dichtes Blattwerk zu einer gigantischen Kuppel zusammen, welche von oben durch die Sonne beschienen, gleich jenen der Paläste arabischer Märchen, aus einem einzigen Edelstein, einem grünen leuchtenden Smaragd zu bestehen scheint, von einem tiefen geheimnisvollen Rauschen wie von Orgelton durchzittert.292
In der Gegend der Karpaten spielt die Handlung der Erzählung von SacherMasoch Don Juan von Kolomea, die dem unter westlichem Lesepublikum de291 Brix/Kohl 1997, S. 91. 292 Sacher-Masoch 1877, S. 198–199.
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bütierenden Autor einen raschen Durchbruch brachte. Laut Ferdinand Kürnberger verkörpert diese Gegend bei Sacher-Masoch die »Poesie der Sinne«, die der »Poesie der Ideen« der klassischen deutschen Dichtung gegenübergestellt werde.293 »Wir hätten, – schreibt er weiter, – eine Poesie zu hoffen aus einem Naturland, nicht aus einem Beamtenland«.294 In einem romantischen Luftkurort in den Karpaten nimmt die skurrile Geschichte von Venus im Pelz ihren Anfang. Als »Naturdichter« hatte Sacher-Masoch im Westen einen großen Erfolg: Die Zivilisation erzeugt immer das Verlangen nach dem Exotismus, nach der Perspektive des Entdeckens. Etwas andere Akzente bezüglich der Karpatenlandschaft findet man bei Karl Emil Franzos. Mit seinen Kulturbildern aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien (1870ff.), der Feuilletonreihe Aus Halb-Asien (1876), mehreren Reisenotizen und Prosawerken (Erzählungen und dem Roman Ein Kampf ums Recht, 1882) »entdeckt« er diese Gegend für den deutschsprachigen Leser, wobei die Ostkarpaten bei ihm zur natürlichen Grenze zwischen Europa und Asien, zum Ende der zivilisierten Welt werden. Der vom Schriftsteller selbst erfundene Begriff »Halb-Asien« (eine Kennzeichnung der Gebiete im Vorkarpatenland) steht am Anfang einer langfristigen literarischen Tradition: Er hat mehrere Klischees des »Asiatischen« hinsichtlich dieses Raumes verwendet, deren Resonanz man im Schaffen sogar der modernen Autoren findet, wie z. B. im Gedicht von Ingeborg Bachmann (1926–1973) Große Landschaft vor Wien. Außer dem Motiv der Grenze erscheinen die Ostkarpaten bei Franzos aber auch romantisch und unzivilisiert, sie wirken als Symbol der Unbezähmbarkeit, der Kühnheit und der Freiheit. Besonders beliebt war gerade dieses Karpatenmotiv bei der hervorragenden ukrainischen Schriftstellerin der Jahrhundertwende aus der Bukowina, Ol’ha Kobyljans’ka (1863–1942). Die Waldmutter. Eine Skizze aus dem ukrainischen Leben nannte sie ihre in deutscher Sprache geschriebene Erzählung, deren Hauptgeschehen sich in den Karpaten abspielt: die Tragödie einer alten Huzulin, die ihren einzigen Sohn bei der Rekrutierung durch die k.u.k. Armee am Anfang des Ersten Weltkrieges verliert. Die von der Autorin als Exposition der Geschichte beschriebene gebirgige Wildnis enthält – einem ersten Sonatensatz gleich – die Aufstellung der Stimmung der zu verarbeitenden Themen: Harmonie des mit der Natur eine Einheit bildenden Lebens in den Gebirgen und die Vorahnung der Katastrophe: Wer kennt das Karpatengebirge? Auch das im Kronland Bukowina? Viele, aber vielleicht auch wenige. 293 Kürnberger 1985, S. 189. 294 Ebd., S. 192.
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Da gibt es Partien, verborgene Schluchten, da gibt es Plätze, wo sich die Götter und Nymphen aufhalten, wo zaubernde Farrenkräuter den Erdenkindern die Augen verhüllen, auf daß sie das übersehen, was für ihre Alltagsseelen unfaßbar wäre und das Auge blenden würde. Die zaubernden Farrenkräuter und Sagenkinder des Karpathengebirges. Wo die heilkräftige und gleichzeitig gifttragende Arnica ungehindert wuchert, ihre Augen über den übermütigen, zuzeiten verschlafenen Bach schweifen läßt und ihren eigentümlichen Duft ausströmt. Wo alles e i n Atem, e i n Rhythmus ist. Waldrauschen, Biegen und Wiegen im Winde, süßes Träumen und Sichgehenlassen, Trägheit in Sonnenglut und Ächzen und Brausen in Gewitterstürmen. Wer kennt das alles? Viele, aber vielleicht auch sehr wenige.295
Ähnliche ästhetische Zugänge zur Darstellung der Ostkarpaten als einer Poesielandschaft, die öfters mythenträchtig ist, findet man in der Tradition der ukrainischen Literatur ab Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Landschaft wird zum Hintergrund der dramatisch gespannten Handlungen, der Kollisionen und der starken Charaktere. Meistens sind das Autoren aus Galizien und der Bukowina, aber auch die Schriftsteller, die aus den zentralen ukrainischen Gebieten in die Karpatengegend reisten und von diesen Bergen inspiriert wurden; nicht selten wandten sie sich auch der Schilderung der Huzulen zu. Hier werden einige prägnante Beispiele aus dem Schaffen der Schriftsteller, der Vertreter des so genannten Neofolklorismus in der ukrainischen Literatur aufgeführt. Mychajlo Kocjubyns’kyj (1864–1913), ein aus Podolien stammender ukrainischer Impressionist, lässt in der Erzählung Tini zabutych predkiv [Die Schatten vergessener Ahnen] eine »Romeo und Julia«-Geschichte bei den Huzulen in der Karpatenwelt spielen.296 Die malerische, aber auch wilde Welt der Karpatengebirge bei Kocjubyns’kyj sprudelt hier über von alten Legenden, Sagen und Mythen, die er meisterhaft in das Geschehen einflechtet und ästhetisiert. Sie wirken echt und gestalten die suggestive Atmosphäre dieser Novelle. Faszinierend wirkt die Karpatenlandschaft auch im Schaffen eines anderen ukrainischen Autors aus dem Osten der Ukraine, Hnat Chotkevycˇ (1877–1938), den diese Berge nach seiner ersten Bekanntschaft nie mehr losließen. Gefesselt von der Lebensweise und Folklore der Bergbewohner, gründet er um 1911 das Theater der Huzulen, mit dem er bis nach Krakau kommt. Im Zentrum seines Schaffens stehen die Geschichten der Oprysˇky, der Teilnehmer an den rebellischen Aufständen und 295 Kobyljans’ka 2013, S. 203. 296 Der nach der Novelle von Mychajlo Kozjubyns’kyj Die Schatten vergessener Ahnen von Sergej Paradzˇanov gedrehte Film (1964, im Westen unter dem Titel Die Feuerpferde bekannt) war ein großer Erfolg der ukrainischen Kinokunst. Anfang der 1960er Jahre bildete sich unter dessen Einfluss die »Schule des ukrainischen poetischen Kinos« heraus. »Sinnenfreude und Agonie in einem Rausch von Farben und Tönen«, schrieb die Kinokritik über ihn.
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Karpatenräuber zugleich, besonders ihres Anführers Oleksa Dovbusˇ, dem er den gleichnamigen Roman widmet. Eine realistische Darstellung der Oprysˇky-Bewegung schildert er auch in seinem besten Roman Kaminna dusˇa [Die steinerne Seele], in der deutschen Übersetzung Räubersommer. Es ist außerdem die Geschichte einer ekstatischen, sensuellen Liebe, die, obwohl unglücklich, zur Vervollkommnung der Persönlichkeit der Protagonistin führt. In dieser Hinsicht steht der Roman von Chotkevycˇ in einer Reihe mit den Werken von David Herbert Lawrence. Nostalgisch beschreibt der Autor die authentischen Sitten, Bräuche und Legenden der Huzulen, mit der Vorahnung, dass mit der kommenden Technisierung die einmalige Aura dieser Welt verschwinden wird: […] und die Welt wird bestehen, solange die Menschen Ostereier malen und zum Jurijfest Feuer abbrennen. Irgendwo hinter hohen Bergweiden und rauschenden Quellen, ganz ferne, so fern, daß wir es uns nicht ausdenken können, sitzt an einem finsteren Quellort, in einer abgrundtiefen Schlucht der älteste Teufel, Pekun genannt. Er wird mit zwölf Ketten an einen Felsen geschmiedet und müht sich Tag und Nacht ab, sich loszureißen. […] Wenn aber die Menschen einmal aufhören werden, Ostereier zu malen und zum Jurijfest abzubrennen, wird diese unsere Welt vergehen, und keine Erinnerung wird an sie bleiben! Die Volksseele ahnte bereits, daß eine Zeit kommen wird, da man keine Ostereier mehr bemalt: im Marktflecken Kossiw wird man sie herstellen. Es wird auch keine mehr nach ihnen und dem Brauch, der sie hervorrief, fragen. Die Überlieferungen und der Volksglaube werden verschwinden, wie auch die Huzulen mit ihrer Tracht, ihren Sitten und ihrer Kultur der vergangenen Jahrhunderte. Diese Welt wird vergehen, und Pekun wird seine Fesseln ablegen!297
Die Vorahnung des Verfalls der dichterischen Welt der Karpatenlandschaft und der Zerstörung der Aura dieser Berge begann schon ab Ende des 19. Jahrhunderts Wirklichkeit zu werden. Sie kam mit der Tendenz der Zeit zur Nutzung des Waldes: »Sehenswert ist ein solcher Urwald, aber sein Wert als Nutzwald ist sehr gering und darum schwindet er und muss endlich den bewirtschafteten Forsten weichen.«298
297 Zit. nach Gauß/Pollack 1992, S. 133–134. Chotkevycˇ 1970, S. 41–42: »Ta j doty bude svit stojety, dokyv ljude mut pysaty pysanky ta vohni na Jurija palyty. Za vysokymy grunjamy, za sˇumlyvymy potokamy, des’ daleko, ne v nasˇu dumu, u bezvistjach bezvistennych, u temnim izvori na dvanacitjoch lancjuhach sydyt’ najstarsˇyj irod – Pekun, prykutyj do cˇornoji skaly. Sydyt’ – i jek den’, tak nicˇ irvet sy z totych lancjuhiv, uryvaje, ady. […] A ot ik ne stanut ljude pysanok pysaty ta na Jurija klasty vohniv, – izhybne svit ces i pamnjeti po cim sy ne lysˇyt! Sˇcˇos’ peredcˇuvala narodna dusˇa, sˇcˇo pryjde cˇjes – i ne mut uzˇe bilsˇe pysanok pysaty: u Kosovi na fabryci jich narobljat’. A vidtak myne potreba i v pysankach samych, i v tim, sˇcˇo vyklykalo jich pysannja. Zhynut’ povir’ja j vira z nymy, ne stane huculiv z jich opovidannjamy, nosˇeju j kulturoju mynulych vikiv. ›Zhybne ces svit – i Pekun rozkujet sy!‹« 298 Österreich-Ungarische Monarchie in Wort und Bild 1898, S. 826; Brix/Kohl 1997, S. 91.
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Die ursprünglich mit großen Urwäldern bedeckten Hänge des ehemals waldreichsten Gebirges Europas wurden das Opfer der Abholzung. Ihre Überreste haben sich 1898 nur in einigen Teilen der östlichen Karpaten erhalten. Die Entwaldung wurde von den »unbedachten Rodungen und besonders einer übermäßigen Waldnutzung«299 vorangetrieben, sie »steigerte sich rapid, als die erleichterten Verkehrsverhältnisse den Absatz in größere Entfernungen nicht nur auf Wasser-, sondern auch auf Landwegen ermöglichten«.300 Den raschen Vorgang der Industrialisierung verstärkte die 1894 errichtete Eisenbahnstrecke zwischen Galizien mit Ungarn, die mit einem 1221 Meter langen Tunnel und mit der weitgespannten Eisenbahnsteinbrücke ausgestattet wurde. »Vorher – so Martin Pollak – hatte man das Gebirge nur auf einer mit Schlaglöchern übersäten Poststraße erreicht, die durch das weite Pruthtal nach Süden lief und auf dem sogenannten Magyarenweg den Körösmezöpaß das Massiv der Czornohora, des Schwarzen Berges, und die Grenze zwischen Galizien und Ungarn überquerte.«301 Obwohl man von dieser »in landschaftlicher und technischer Hinsicht schönsten Gebirgsbahnstrecke Galiziens«302 wunderschöne Ausblicke in die Bergwelt hatte, begann damit die direkte Aufhebung von Distanz und Einmaligkeit der Karpatenlandschaft. Die immer wüster werdenden Gebirge verloren allmählich die Ausstrahlung ihres sich selbst genügenden Mikrokosmos. Der Verfall der Karpatenlandschaft und die Zerstörung ihrer Aura im technischen Zeitalter haben auch ihren Niederschlag in der damaligen Literatur gefunden. Ivan Franko (1856–1916), der als Autor ein bedeutendes literarisches Werk hinterließ und darüber hinaus zu den bekanntesten Wissenschaftlern seiner Zeit zählte, schilderte in einer historischen Erzählung Sturm im Tuchla-Tal (im ukrainischen Original Zachar Berkut) den Zustand der einst unwegsamen Urwälder in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts: In der Gegend von Tuchla ist es heutzutage traurig und unwirtlich. Zwar bespülen noch immer der Stryj und der Opir die kieselumsäumten grünen Ufer, zwar sprießen im Frühling wie vorher Gras und Blumen auf den Wiesen, und der Königadler zieht seine Kreise in der durchsichtigen azurblauen Luft, aber wie hat sich alles übrige verändert, der Wald, die Dörfer und die Menschen! Einst bedeckten dichte, undurchdringliche Wälder fast den ganzen Hang, von den Flüssen im Tal bis zu den Bergweiden; jetzt sind sie wie Schnee in der Sonne zusammengeschmolzen, sind gelichtet, mitunter ganz verschwunden. Große Flecke liegen kahl. Nur hier und da steht eine verkrüppelte Tanne oder ein kümmerlicher Wacholderstrauch zwischen verkohlten Baumstümpfen. Früher herrschte hier eine tiefe Stille-, kein Laut war zu hören außer der Trembita eines Hirten von einer fernen Bergweite, dem Brüllen eines Auerochsen oder dem Röhren 299 300 301 302
Ebd. S. 819. Ebd. Pollak 1984, S. 81. Brix, Kohl 1997, S. 94.
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eines Hirsches aus dem Dickicht. Jetzt gellen die Schreie der Hirten über die Weideplätze, in der Waldestiefe und in den Schluchten lärmen Holzfäller, Sägewerker und Zimmerleute, die unausgesetzt die Schönheit der Tuchlaer Berge zerwühlen und benagen wie ein Wurm. In große Stücke zersägt, treiben die jahrhundertealten Tannen und Fichten stromabwärts zu den neuen Damphsägewerken, oder sie werden gleich an Ort und Stelle zu Balken und Brettern zerschnitten.303
In diesem Sinne ließen sich diese Berge als ästhetisch betrachtete Landschaft nicht mehr rekonstruieren. Die Distanz zu ihnen und ihre Einmaligkeit sind infolge der »Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion« und durch den Umstand, »die Dinge räumlich und menschlich näher zu bringen«, aufgehoben worden.304 Als eine der Komponenten des »Galizischen Textes« sind die Karpaten als ostgalizische Berglandschaft in der Literatur erhalten geblieben, die mehr oder weniger adäquat einen Teil des Substrats der Natur Galiziens wiederspiegeln und mehrere sprachliche Codes liefert, die bei den Autoren vorkommen, die in verschiedenen Sprachen und zu unterschiedlicher Zeit schrieben, liefert. Einerseits sind es solche Bezeichnungen aus der materiellen Sphäre wie »grüne Insel« oder unberührte Natur der Gebirge, andererseits beziehen sich solche mit dieser Berglandschaft verbundenen Symbole wie die Aura des Natürlichen, die Harmonie mit der Natur, das Ekstatische, das Sensuelle und das Euphorische, die Unbezähmbarkeit, die Kühnheit und die Freiheit zur geistig-kulturellen Sphäre. Dazu gehören auch die sprachlichen Codes, die das Geheimnisvolle, das Mystische und das Mythische, das Echte und das Authentische ausdrücken. So schaffen sie im natur- und kulturhistorischen sowie im ästhetisch-philosophischen Sinne ein konzentriertes Bild der Berglandschaft der Ostkarpaten, das auf den Metatext der Galizischen Literatur hinweist und mehrere Möglichkeiten seiner literarischen Gestaltung bietet. 303 Zit. nach Pollack 1984, S. 69; Franko 1978, S. 7: »Sumno i nepryvitno teper v nasˇij Tucholsˇcˇyni! Pravda, i Stryj, i Opir odnakovo myjut’ jiji rinysti zeleni uzberezˇzˇja, luhy jiji odnakovo pokryvajut’sja vesnoju travamy ta cvitamy, i v jiji lazurovim, chystim povitri odnakovo plavle ta kolesuje orel berkut, jak i pered davnimy vikamy. Ale vse insˇe jak zˇe zminylosia! I lisy, i sela, i ljudy! Sˇcˇo davno lisy husti, neprochidni zakryvaly majzˇe ves’ jiji prostir, okrim vysokych polonyn, schodyly v dolynu azˇ nad sami riky, – teper vony, mov snih na sonci, stopylysja, zridly, zmalily, dekudy posˇcˇezaly, lysˇajucˇy po sobi lysi oblazy; inde znov iz nych ostojalysja lysˇe poobsmaljuvani pen’ky, a z-mizˇ nych de-de nesmilo vyrostaje nuzˇdenna smerecˇyna abo ˇscˇe nuzˇdennisˇyi jalovec’. Sˇcˇo davno tycho tut bulo, ne cˇuty nijakoho holosu, krim vivcˇars’koji trembity des’ na dalekij polonyni abo ryku dykoho tura cˇy olenja v husˇcˇavynach, – teper na polonyni hejkajut’ volari, a v jarach i debrjach haljukajut’ rubacˇi, tracˇi j gontari, nenastanno, mov nevmyrusˇcˇyj cˇerv, pidhryzajucˇy ta pidtynajucˇy krasu tuchol’s’kych hir – stolitni jalyci ta smereky, i abo spuskajucˇy jich, potjatych na velyki botjuky, doli potokamy do novych parovych tartakiv, abo taky na misci rizˇuchy na dosˇky ta na gonty.« 304 Benjamin 1963, S. 18.
Literaturverzeichnis
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Chotkevycˇ, Hnat: Kaminna dusˇa., Kyjiv: Dnipro 1970. Chotkevytsch, Hnat: Osterfest am Czeremosz, in: Gauß, Karl-Markus/Pollak, Martin: Das reiche Land der armen Leute. Literarische Wanderungen durch Galizien, Wien: Jugend und Volk 1992. S. 132–138. Franko, Ivan: Vorwort zu »Sturm im Tuchla-Tal«, in: Pollack, Martin: Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien/München: Brandstätter 1984. S. 69. Franko, Ivan: Zachar Berkut, in: Povne zibrannja tvoriv u 50-y tomach, tom 16., Kyjiv: Naukova dumka 1978, S. 7–155. Gauß, Karl-Markus/Pollak, Martin: Das reiche Land der armen Leute. Literarische Wanderungen durch Galizien, Wien: Jugend und Volk 1992. Hacquet, Balthasar: Hacquets neuste physikalisch-politische Reisen in den Jahren 1788 bis 1795 durch die Dacischen und Sarmatischen oder Nördlichen Karpaten. 4 Bände. Erster Teil 1790. Zweiter Teil 1791. Dritter Teil 1794. Vierter Teil 1796, Nürnberg: Verlag der Raspischen Buchhandlung 1790–1796. Kobyljans’ka, Ol’ha: Die Waldmutter. Eine Skizze aus dem ukrainischen Leben, in: Ukrainische Nachrichten (Wien), Nr. 61 vom 13. und Nr. 62 vom 20. 11. 1915. Zit. nach: Kobyljans’ka, Olha: Die Waldmutter. Eine Skizze aus dem ukrainischen Leben, in: Rychlo, Petro (Hg.): Kobyljans’ka, Olha. Valse mélancolique. Ausgewählte Prosa, Czernowitz: Knyhy – XXI 2013, S. 203–222. Kocjubyns’kyj, Mychajlo: Tini zabutych predkiv, in: Kocjubyns’kyj, Mychajlo: Tvory v semy tomach. Tom 3. Opovidannja, povisti (1908–1913), Kyjiv: Naukova dumka 1974, S. 178–227. Pollack, Martin: Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien, München: Brandstätter 1984. Sacher-Masoch, Leopold von: Eigentum. Bd. 1, Bern: Georg Froeleen 1877.
Sekundärliteratur Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963. Brix, Emil/Kohl Irene: Galizien in Bildern. Die Originalillustrationen für das »Kronprinzenwerk« aus den Beständen der Fideikommißbibliothek der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien: Selbstverlag Verein für Volksschulen 1997. Hellpach, Willy: Geopsyche: die Menschenseele unter dem Einfluß von Wetter und Klima, Boden und Landschaft, Stuttgart: Enke 1965. Kürnberger, Ferdinand: Vorrede zum »Don Juan von Kolomea«, in: Sacher-Masoch, Leopold von: Das Vermächtniß Kains. Erster Theil. Die Liebe. Stuttgart: Verlag der J.G.
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Cottaschen Verlagsbuchhandlung 1870, S. 39–55, auch in: Sacher-Masoch Leopold von: Don Juan von Kolomea: galizische Geschichten, Bonn: Bouvier 1985, S. 188–194. Kusdat, Helmut (Hg.): Illustrierter Führer durch die Bukowina von Hermann Mittelmann. Czernowitz 1907/1908. Neue Herausgabe, Wien: Mandelbaum 2001. Österreich-Ungarische Monarchie in Wort und Bild. Bd. 14, Galizien, Wien: Kaiserlichkönigl. Hof- und Staatsdr. 1898. Woldan, Alois: Begegnung mit dem Fremden – die literarische Integration der Huzulen nach Mitteleuropa, in: Woldan, Alois: Beiträge zu einer Galizienliteratur, Frankfurt a.M. u. a.: Peter Lang 2015, S. 217–232. Woldan, Alois: Der Huzulen-Text als ein Feld des Übergangs zwischen Sprachen, Gattungen und Epochen, in: Woldan, Alois: Beiträge zu einer Galizienliteratur, Frankfurt a.M. u. a.: Peter Lang 2015, S. 249–264. Woldan, Alois: Die Huzulen in der Literatur. in: Beitl, Matthias; Göttke-Krogmann, Ulrich; Plöckinger, Veronika (Hg.): Galizien: ethnographische Erkundung bei den Bojken und Huzulen in den Karpaten, Wien: Österr. Museum für Volkskunde 1998, S. 151–166. Woldan, Alois: Dobosz und Dovbusˇ – zwei Versionen der Dobosch-Legende bei Stanisław Vincenz und Hnat Chotkevycˇ, in: Woldan, Alois: Beiträge zu einer Galizienliteratur, Frankfurt a.M. u. a.: Peter Lang 2015, S. 233–248.
II. Sozialraum Galizien
Verortung der Juden im Sozial- und Kulturraum Galizien in den Reisebriefen von Franz Kratter
Das Kronland »Galizien und Lodomerien« sollte nach der Annexion vom südöstlichen Teil des polnischen Königreiches 1772 zu einem neuen sozialen und kulturellen Raum für die hier lebenden Menschen werden. Diesen Raum prägte, wie erwähnt, eine außergewöhnliche Multikulturalität, die in dieser Region im Laufe der Jahrhunderte schon früher entstand und von Habsburgern quasi »vorgefunden« wurde; dabei war die Koexistenz verschiedener Ethnien unter ihrem Zepter schon von jeher typisch. Neben den anderen Ethnien (Deutsche, Deutschösterreicher, Armenier, Ungarn, Griechen, u. a.) dominierten in der Zeit der habsburgischen Herrschaft in Ostgalizien drei Völker – Ruthenen (Ukrainer), Polen und Juden, in Westgalizien dementsprechend Polen und Juden. Dabei bildeten die Juden, überwiegend Aschkenasim, in der galizischen Gesellschaft eine kontrastive soziale, religiöse und kulturelle Gruppe.305 Mehrere Maßnahmen ab Ende des 18. Jahrhunderts, ebenso wie spätere gesellschaftliche Phänomene der Innenpolitik des Zentrums der Monarchie bezüglich der Randgebiete bilden den Grund für die Annäherung an die Geschichte Galiziens aus der Perspektive der postkolonialen Zugänge, die im engen Bezug zu den Ansätzen des Spatial Turns in der Kulturwissenschaft stehen. Denn, wie Karl Schlögel die Raumwende definiert, sei »Spatial Turn: […] gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt – nicht mehr, aber auch nicht weniger.«306 Da der Raum dabei als soziales und kulturelles Konstrukt gedeutet wird, beziehen sich fast alle Ansätze des Spatial Turns auf den Raumbegriff von Henri Lefebvre: Der physische Naturraum wird gemäß diesem Theoretiker zum Ursprung des sozialen Prozesses, in dem auch kulturelle Praktiken spezifisch verortet sein können. Relevant ist dabei, dass der Raum 305 Laut der Meinung der Mehrheit der Historiker waren die ersten jüdischen Zentren auf dem galizischen Boden schon im 10.–11. Jahrhundert entstanden. Die Juden kamen in den osteuropäischen geopolitischen Raum in mehreren Migrationswellen, die durch die Verfolgungen in Westeuropa, vor allem vonseiten des Katholizismus verursacht waren und ab dem Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dauerten. Vgl.: Velykyj 2007. 306 Schlögel 2003, S. 68.
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nicht nur als eine kulturell produzierte, sondern auch als kulturell produktive Kategorie aufgefasst wird, als solche, die narrativ entworfen und erzeugt wird. Diese theoretischen Grundsätze ermöglichen einen neuen Blick auf Galizien zu richten, unter anderem auch auf die galizische Literatur der österreichischen Periode, an deren Anfang die in deutscher Sprache verfassten Reiseberichte stehen. Die meisten von ihnen kennzeichnete die Ausrede, dass die Aufzeichnungen »nur für den Autor selbst bestimmt«307 seien. Doch im zweibändigen Reisebericht von Franz Kratter Briefe über den itzigen Zustand von Galizien. Ein Beitrag zur Statistik und Menschenkenntnis308 war das nicht der Fall. Der Zweck des Autors war der im Titel deklarierte Versuch, den »itzigen Zustand« von Galizien darzustellen, und zwar: »[…] die innere Verfassung des Staates, den Zustand der Gesetzgebung, die Beschaffenheit der Stände, Sitten, Gebräuche, Charaktere, Religion, die besonderen Verhältnisse der Klassen untereinander, […] überhaupt das Gute, Schöne, Preiswürdige, wie das Schlechte, Häßliche, Abscheuliche« zu schildern.309 Kratter verbrachte in Galizien ziemlich lange Zeit. Dabei durchquerte er die Provinz mehrfach, was ihm ermöglichte, einen publizistischen Reisebericht zu verfassen, der neben den Statistiken und Informationen emotionelle Darstellungen der gesellschaftlichen Umstände im Kronland enthält. Als einer der Ersten, die über das damalige Galizien schrieben, überwindet er die aufklärerische Distanz zum Objekt der Darstellung und vermeidet nicht, seine eigenen Emotionen zu äußern. Diese Annäherung an den Gefühlsraum zeugt von den präromantischen Tendenzen bei diesem Autor. In seinem Opus richtet Kratter den Blick sowohl auf die soziale und wirtschaftliche Struktur Galiziens, als auch auf seine heterogene Kulturwelt. Besonders »geräumig« ist in seinen Briefen die Darstellung der gesellschaftlichen Situation und der Lebensverhältnisse in Galizien zur Zeit der Einverleibung in die Monarchie, die zu einer wichtigen Quelle der Einschätzung der Struktur des galizischen Sozialraumes, der ihn prägenden Beziehungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsschichten und ethnischen Gruppen, sowie der sozialen Prozesse geworden ist. Dabei mahnt Kratter seine Leser, die er vom Standpunkt des Aufklärers a priori für »Menschenfreunde, edle, sanfte, liebenswürdige Seelen«310 hält, dass er sie mit »ganz fremden Klassen von Menschen« und ihren »merkwürdigen« politischen und moralischen Verhältnissen311 bekannt machen wird. Besonders viel Resonanz fand Kratters Darstellung der 307 308 309 310 311
Rosenstrauch-Königsberg 1992, S. 105. Kratter [1786] 1990. Bei der Zitierung ist die Orthographie des Originals erhalten. Ebd., Teil I.: »An den Leser«, S. 3–4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7.
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zwei im Sozialraum Galiziens diametral positionierten Klassen – der polnischen Magnaten und der galizischen Bauern. Es kommt in den Briefen, wie Maria Kłan´ska bemerkt, zum »wichtigsten Kritikpunkt Kratters gegen den galizischen Adel«, der im »Despotismus den Bauern gegenüber«312 besteht. Ebenso viel Aufmerksamkeit wird in den Briefen aber auch den galizischen Juden geschenkt. Kratters Einschätzung ihrer Stellung in der ökonomischen Struktur des Kronlandes entspricht der damals in der Habsburgerьonarchie vorherrschenden, aber auch im ganz »aufgeklärten« Europa üblichen judenfeindlichen Sicht, die die Juden einerseits als fremdes, aber auch als sich »parasitär«313 anpassendes Volk einschätze. So zeigt er am Beispiel der Grenzstadt Brody, wo die Bevölkerung mehrheitlich jüdisch war, die Rolle der jüdischen Gemeinde in ihrer Entwicklung zum »vorzüglichsten Handlungsort«.314 Die historisch bewiesene Tatsache, dass die Besitzer der Stadt, die polnischen Magnaten Potockis, den jüdischen Händlern von Brody hohe Kredite gewährten315, interpretiert Kratter wie folgt: Sein Aufkommen hat Brody der P**schen Familie zu verdanken, die durch List, Gewalt, Ertheilung schmeichelnder Vorrechte für die handelnde Judenschaft, nach und nach Jahrmärkte an sich gezogen, und beträchtlichere Judenfamilien sich da häuslich niederzulassen verleitet hat.316
Es fällt auf, dass Kratter diese Provinzstadt vom höheren, zentral fixierten Standpunkt des Imperiums ansieht: Für den aus Wien gekommenen und in Lemberg logierenden Autor erschien Brody als eine »elende Judenstadt«.317 Die galizischen Juden findet Kratter »anders« und »exotisch«. Sie bilden im vom Autor kognitiv kartierten Raum der Provinz eine besondere Gruppe. Betont wird auch die im physischen Raum des Landes abgegrenzte Wohnweise der Christen und der Juden, die »in einiger Entfernung«318 voneinander leben. Es fällt auf, dass Kratter bei der Einordnung der Klassen im Sozialraum Galizien sie nicht nur nach dem sozialen Prinzip als Edelmann, Geistlicher, Bürger und Landmann bezeichnet, sondern auch zu ethnischen und religiösen Merkmalen greift. Die Juden definiert er als eine besondere Klasse der galizischen Gesellschaft und positioniert sie zwischen den Bürgern und den Landleuten. Ihnen widmet Kratter insgesamt fünf Briefe und betitelt sie »Von den Juden«.319 Schon der erste Satz des ersten Briefes bezieht sich auf die Räumlichkeit des Sozialen in der 312 313 314 315 316 317 318 319
Kłan´ska 1988, S. 39. Arendt 1932, S. 74. Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 102. Kuzmany 2011, S. 45f. Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 102. Kratter [1786] 1990, Teil I., S. 212. Ebd., S. 151. Kratter [1786] 1990, Teil I., S. 22–59.
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galizischen Gesellschaft: Die jüdische Gemeinde wird von ihrer Umgebung abgegrenzt und bildet quasi einen »Staat im Staat«: »Die Judenschaft in Galizien hatte bis itzt noch immer eine ganz andere Verfassung. Sie ist in Gemeinen und Kahalen vertheilt, wovon jede ihren Rabiner, ihre Aeltesten, und Richter, ihre Lehrer, Schreiber u. d. g. hat.«320 Auf diese Weise wird hingewiesen, dass die Juden, die zur Gesamtbevölkerung der neuen Provinz gehören, ihren eigenen sozialen und kulturellen Raum inmitten der galizischen Gesellschaft aufgebaut hatten. Diese Neigung zur Selbstisolation ähnelt einer Heterotopie, dem »anderen Raum« im Sinne von Michel Foucault321, wenn er von der Verortung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft spricht. Unter mehreren Beispielen wird von Foucault die Kolonie erwähnt, der auch die Diaspora, insbesondere die jüdische Diaspora als Galuth gleichgestellt werden kann. Ähnlich begründet die geschichtlich verursachte »Abkapselung der Juden« Léon Poliakov, wenn er das Leben im Ghetto mit dem klösterlichen Leben der religiösen Orden, die auch zu den Foucaults Heterotopien gehören, vergleicht: Das Ende des Mittelalters ist der Zeitpunkt, an dem sich das alte jüdische Wohnviertel in ein Ghetto verwandelt; seine Tore werden am Abend mit einem Schlüssel zugeschlossen, und seine Bewohner haben nur bei Tag das Recht, die Straßen in christlichen Wohngebieten zu benützen. Hinter dieser Umzäunung zieht sich die jüdische Gemeinde endgültig auf sich selbst zurück.322
Den materiellen Ausdruck findet die jüdische Heterotopie bei Kratter also in solchen räumlichen Gegebenheiten, wie das »jüdische Wohnviertel« oder das »Ghetto«. Er schildert sie als ein »Judensistem«323, liefert zu ihm genaue Angaben und gibt die soziale Hierarchie der Gemeinde wieder. Dabei nehmen die Juden im Modell des sozialen und kulturellen Raums im neuen Kronland, das vom Autor in den Briefen entworfenen wurde, eine »Zwischenstellung« ein: Kratter präzisiert, dass sie sich zwischen der »Herrschaft« und den »Bauern« befinden.324 Solche Verortung der Juden in der Gesellschaft sei aufs engste mit ihren »Nahrungswegen«325 verbunden, die »zum Theil im Handel, zum Theil in Verpachtungen, oder sogenannten Arenden«326 bestehen. Ferner sei ihnen erlaubt, »alle Arten von Handwerken zu treiben«327 oder auch als »Faktoren« tätig zu sein – die, fügt Kratter hinzu, »nach unserer Sprache auch Besteller, Zubringer u. d. g. 320 321 322 323 324 325 326 327
Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 22. Foucault 2006, S. 317–329. Poliakov 1978, S. 62–64. Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 24. Kratter [1786] 1990, Teil I., S. 166. Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 27. Ebd. Ebd., S. 28.
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heißen können«.328 All diese Möglichkeiten, sich zu ernähren, sind – erklärt Kratter – »in diesem gewerblosen Lande«329 sehr gering. Die »Zwischenstellung« der Juden gefährde, seiner Meinung nach, diese sozial, kulturell und konfessionell andere Gruppe durch ihre Umgebung. Kratter gehört zu den ersten Autoren, die eine kritische Analyse der sozialen Lage des Judentums in Galizien lieferten. Dabei greift er, wie Christoph Augustynowicz bemerkt, zum »VampirBild« vor allem als soziale Metapher, wenn er die Juden des Landes in der »hybriden Stellung« als »vampirische Täter und Opfer«330 darstellt. Kratter ist auch der erste österreichische Aufklärer, der den »elenden Zustand« beschreibt, »in welchem die meisten Juden in Galizien sind«331: Er nehme sie, so Augustynowicz, als ausgesaugt wahr, »vor allem durch ein obskures Bündnis aus Adel und einer sonderbar amorphen jüdischen Oberschicht«332, die »[…] unter dem Vorwand der Gemeindebedürfnisse« »die arme Judenschaft beinahe auf den letzten Tropfen ihres Schweißes auskeltern«.333 Das Elend der meisten galizischen Juden hat im von Kratter narrativ produzierten sozialen Raum Galiziens ihre materielle Ausprägung, wovon die Beschreibung der Judengassen in galizischen Städtchen und Städten zeugen, die zu den immer wieder kehrenden Topoi der Literatur in und über Galizien gehören. Kratter beschreibt die Judengasse in Lemberg, die er mit dem aufgeklärten Blick visuell wahrnimmt, wie folgt: Die elendste von allen Gassen ist die Judengasse; sie ist beinahe zu allen Zeiten der Witterung schmutzig, und der Fußgänger wird in selber alle zwei, oder drei Schritte von einer andern Art eines unangenehmen, modernden, faulenden Gestankes verfolgt. Die Häuser sind schlecht gebaut, und werden säuisch gehalten, von einigen stehen nur noch die Mauern. Etliche Plätze sind ganz leer.334
In diesem Kontext bemüht sich der Autor der Briefe aber auch das soziale Verhalten der Juden zu erklären, indem er auf die feindliche Umgebung hinweist, die gegen sie hetzt: »Die Noth, diese große unerreichbare Schulmeisterin für Schelme und Diebe, hat den Juden zu einem besonders schlauen, tiefsinnigen, spekulierenden Betrüger gemacht.«335 Da das Ausmaß der Feindschaft immer größer wurde – »Ganz Galizien wünscht nun dem Juden, diesem Verderbnis des ganzen Landes, in andere Verhältnisse versetzt zu werden.«336, – sollte »das ganze Ju328 329 330 331 332 333 334 335 336
Ebd., S. 29. Ebd., S. 37. Augustynowicz 2013, S. 74–75. Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 38. Augustynowicz 2013, S. 74. Kratter [1786] 1990, Teil II., 37–38. Ebd., S. 157. Ebd., S. 39. Ebd., S. 42.
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densistem«337, so Kratter, im Kronland vonseiten der neuen Regierung geändert werden. Für die »Umschmelzung eines solchen Sistems«338 wäre die Gesetzgebung zu aktivieren. Kratter erwähnt mehrere Vorbereitungen und Schritte der habsburgischen Regierung, die zum Ziel hatte, den Sozialraum Galiziens in dieser Hinsicht umzugestalten. Das bezieht sich, zum Beispiel, auf die Idee, den galizischen Juden zu gestatten, sich mit dem Ackerbau zu beschäftigen: »Das Land würde freilich unendlich dabei gewinnen, wenn man den Juden zum Feldbau vermögen könnte«.339 Der Modus des Optativs zeugt aber von der Skepsis des Autors bezüglich solcher Vorschläge: »Man hat dessentwegen schon etliche Versuche gemacht, die vergebens waren, und ich fürchte nicht ohne Ursache, daß es dieser nicht weniger sein wird«.340 Bezüglich der Verortung der Juden im Kulturraum Galiziens soll man sich vorerst der Definition des Begriffes der Kultur annähern. Unter verschiedenen Kulturbegriffen, die Wolfgang Müller-Funk im Anschluss an Chris Jenks341 unterscheidet, ist unter anderem der soziale Begriff relevant, der Kultur »als das Insgesamt von Lebensweisen begreift, in dem der Lebensvollzug ins Spiel kommt«.342 Dieser Kulturbegriff sei »ohne räumlichen Formeln wie Raum und Grenze undenkbar«.343 Es geht dabei um symbolische Räume, die im Sinne des Spatial Turns »nicht deckungsgleich mit jenen sind, die wir als territorial begreifen […]«344, so Müller-Funk. Eine solche Sichtweise gestattet über das narrative Modellieren von solchen symbolischen Räumen zu sprechen. Bei Kratter, für den Galizien als fremder Kulturraum erscheint, kann man von der »Typisierung fremder Räume«345 sprechen, die »den Maßgaben der eigenen kulturellen Dynamik«346 folgt und in dem Fall die räumliche Machtachse »Zentrum – Peripherie« widerspiegelt. Es ist deswegen dem galizischen Kulturraum, den der josephinische Autor narrativ in seinem Text produziert, bestimmte an seine Zeit gebundene Stereotypisierung eigen, die, so Homi Bhabha bezüglich des postkolonialen Subjekts, »eine Form der Erkenntnis und Identifizierung, die zwischen dem, was immer ›gültig‹ und bereits bekannt ist, und dem, was ängstlich immer von neuem wiederholt werden muss, oszilliert«.347 Die Verortung der Juden im galizischen Kulturraum durch Kratter entspricht folglich den ver337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347
Ebd. Ebd. Ebd., S. 52–53. Ebd., S. 53. Jenks 2005, S. 6–24. Müller-Funk 2008, S. 4. Ebd. Ebd. Ebd., S. 9. Ebd. Vgl. Bhabha2000, S. 97.
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breiteten Klischees des »aufgeklärten« 18. Jahrhunderts und zeugt von seiner Abhängigkeit von Stereotypen, insbesondere, wenn es um die Darstellung der »mangelnden« Kultur, um die alles umfassende Lebensweise geht: Es bleibt doch immer um die Juden ein ganz wunderbares Geschlecht. Dieses schmutzige, lumpichte, stinkende, ewig von allen Arten des Ungeziefers zerbissene, und zernagte Völkchen hält die ganze nette, reinliche Christenheit für unrein, es steht mit dem Thier des Unflats in einer unaufhörlichen Unversöhnlichkeit, und lebt, und webt, und müht, und badet sich so gut, wie selbes, im Unflate.348
Die Logik der historischen Beobachtungssituation des »reisenden« Josephinisten bestimmt seine Inkonsequenz bei der Darstellung des galizischen Judentums, insbesondere, wenn er sich in seiner Beschreibung persönlich zur gesellschaftlichen Situierung dieses Volkes der neuen Provinz äußert. Kratters Perspektive der Verortung des galizischen Judentums im Sozial- und Kulturraum des Kronlandes war zweifellos durch die damaligen habsburgischen Reformen in der Provinz bedingt. Es war unter anderem das Ziel von Maria Theresia, die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Galizien zu reduzieren: Von der neuen Verwaltung wurde eine schwierig zu bezahlende »Heiratstaxe« für die Juden eingeführt. Es wurden den galizischen Juden auch neue Steuern auferlegt, die im Vergleich zu polnischen Zeiten um das Drei- bis Vierfache höher waren.349 Besonders aktuell waren für Kratter aber die Ideen und Bestrebungen Kaiser Josephs II. hinsichtlich der Judenschaft des neuen Kronlandes, deren Realisierung er im hodologischen Raum seiner Reisen in Galizien verfolgen konnte. Mehrere dieser Beobachtungen hatten direkten Bezug zu dem drei Jahre nach Erscheinen der Briefe veröffentlichen kaiserlichen »Toleranzpatent für die galizischen Juden« (1789)350, dessen Hauptbestimmungen einen sozial-räumlichen Hintergrund hatten: Sie waren darauf ausgerichtet, der Judenschaft ihre partikulare Stellung in der Gesellschaft aufzuheben. Wenn auch »salus publica« (das allgemeine Wohl) zum Lebensziel des Kaisers wurde, schwankte Joseph II. zwischen der Judophobie und der Überzeugung, dieses Volk zum Nutze des Staates zu »verbessern«.351 Es kommt in den Briefen aber zu einer markanten Wende: Obwohl Kratter selbst ein Vertreter des Josephinismus war, kritisierte er das Reformwerk, das von Wien aus in die Tat umzusetzen war. Darin war er, wenn man an die judenfeindliche Sichtweise seiner Zeitgenossen denkt, den andern Aufklärern als Andersdenkender weit voraus. Zu den besonders erschütternden Szenen in seinen Briefen gehört die emotional gefärbte Darstellung der »räumlichen Lösung« 348 349 350 351
Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 157. Honigsman 2007, S. 43. Balaban 2007, S. 50–51. Ebd., S. 47.
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der Judenfrage in Galizien in der Epoche des Josephinismus. Kratter fängt mit der Frage an, die er gleich voller Ironie beantwortet: »›Aber man kann sie ja aus dem Lande schaffen?‹ Freilich. Das kann man, weil man alles kann, was man will! Zum Ruhm unserer toleranten Zeiten muß ichs hier anmerken, daß dieses fleißig geschieht.«352 Die verarmten jüdischen Familien wurden ausgesiedelt und über die Grenze des Landes gebracht. Es ging dabei um die Familien, »welche heiraten, ohne die bestimmten 20 Dukaten zu erlegen« und um »Familien, welche ein Paar Termine in ihren Steuern zurückbleiben«.353 Sie wurden als »erarmt« angesehen, ohne die Ursache ihrer Verarmung zu untersuchen. Die Szene der Abschiebung solcher Familien wird zum erzählten Raum, den der homodiegetische Ich-Erzähler als Fokalisierungsinstanz im Prozess der Bewegung, des Gehens durch die Judengasse in Lemberg visuell und akustisch wahrnimmt: Es war ein großer Auflauf. Ich erkundigte mich um die Ursache. Etliche vierzig arme Judenfamilien, hieß es, werden über die Gränzen geführt. Wie ich weiter ging, kam mir ein entsetzliches Geheul entgegen. Die Empfindlichkeit meines Herzens hieß mich fliehen. Wie ich floh, verfolgte mich ein vollstimmiges, gräßlich gällendes Jammern, Gewinsel, Angstgewimmer, Ach- und Wehgeschrei von Greisen, Witwen, Müttern, unmündigen Kindern u. s. w. Aber keine Barmherzigkeit!354
Raumreferentiell, mit Hilfe vom deiktischen Adverb »hinüber«, das refrainartig einige Male wiederholt wird, gibt Kratter die Direktionalisierung der Abschiebung an: »[…] man verkauft ihre noch übrigen Lumpen, lädt sie auf einen Wagen, und hinüber mit ihnen über die Gränze.«355 Es wird von Kratter nicht präzisiert, über welche Grenze die Juden aus Galizien weggebracht sein sollten, vermutlich aber war das die Grenze zum von Russland annektierten polnischen Territorium: An der Grenze, berichtet weiter der Autor, wurde beinahe die Hälfte der Vertriebenen von den »Innwohnern der polnischen Gränze«356 vertilgt. »Die andere Hälfte fraß in kurzer Zeit das verlassene, hilfslose Elend auf.«357 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass ein anderer Anhänger des Josephinismus, und zwar Balthasar Hacquet, ein gelehrter Naturforscher und Ethnograph, der etwas später seinen Opus magnus Neuste physikalisch-politischen Reisen in den Jahren 1788–1795 durch die Dacischen und Sarmatischen oder Nördlichen Karpaten publizierte, bezüglich dieser Stellungnahme von Kratter Kritik ausübte und die Partei der Verwaltung ergriff:
352 353 354 355 356 357
Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 46. Ebd. Ebd., S. 46–47. Ebd. Ebd., S. 47. Ebd.
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Man hat ihnen (den galizischen Juden, L.C.) Lasten aufgelegt, die sie oft nicht tragen konnten oder wollten, so daß man sie wegen ihrer betrügerischen und faulen Lebensart außer Land schaffte, aber nicht wie der Verfasser der Statistischen Briefe über Gallizien sagt, man habe sie so ungerecht misshandelt, allein was schreibt man nicht im Tag hinein, von hören sagen, ohne gesehen und geprüft, zu haben. Wer kann dafür, daß man nicht allen Unfug, welchen die Beamten auf dem Lande manchmal begehen, nicht verbeugen kann, so was geschieht einmal, und dann werden die Schranken schon dagegen gestellt; aber weder die Gesetze noch der Wille des Monarchen befahl eine solche Behandlung.358
So wurde Kratter zum ersten unter den nach Galizien gekommenen Aufklärern, der die Aufmerksamkeit auf die existentielle Situation der Juden lenkte und Partei für sie ergriff. Dabei verortete er die Juden nicht nur im Sozial- und Kulturraum Galiziens als »Paria«, die von allen anderen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen ausgestoßen wurden, sondern wies auch auf ihre »tatsächliche Stellung in der Welt«359 und in der Geschichte der Menschheit hin. Die Juden sind für Kratter die gleichen Menschen wie alle anderen. Er bemüht sich, ihre Situation zu verstehen: Das unglückliche Judentum ist nun seit Jahrhunderten, Gott weiß! durch was für einen Fluch der Natur, und des Himmels in einem Verhältnisse mit der übrigen Menschheit, daß jeder Privatbürger, jede Gesellschaft, jeder Stand, jede Nation, so gar der Staat selbst sich Unmenschlichkeiten gegen selbes erlaubt, ohne sich dabei Vorwürfe zu machen, man habe in ihm ein ganzes, mitverbrüdertes Menschengeschlecht misshandelt.360
Kratter kritisiert die »nüchternen« Verordnungen des neuen Machtapparats in Galizien, die gegen die Judenschaft gerichtet waren, sowie die josephinische Judenpolitik insgesamt. Er betont, dass das von der habsburgischen Regierung in Galizien eingeführte neue soziale System, dessen Grundlage die Vernunft sein sollte, nicht im Stande sei, die Probleme der jüdischen Bevölkerung im sozial, konfessionell und kulturell mehrdimensionalen Raume Galiziens zu lösen: Im Grunde aber bleiben sie noch immer, auch zu unsern menschlichern Zeiten, noch die unglücklichste, beklagenswürdigste, hilfloseste Klasse der Menschen, denen nicht erlaubt ist, im Schoße ihres Vaterlandes Patrioten, bei den größten Abgaben für die Aufrechthaltung des Staates Bürger, im Kreise ihrer verbrüderten Mitmenschen Brüder zu sein!361
Emotionell tritt der Verfasser der Briefe gegen die soziale Ausgrenzung der Juden in Galizien auf. Markant ist, dass die josephinischen Reformen, die zum Ziel die »Zivilisierung« und »Kultivierung« des annektierten Territoriums hatten, in 358 359 360 361
Hacquet [1790] 2012, S. 199. Bei der Zitierung ist die Orthographie des Originals erhalten. Arendt 1932, S. 74. Kratter [1786] 1990, Teil II., S. 43. Ebd., S. 59.
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seiner Deutung die Ideale der Aufklärung insgesamt vonseiten des habsburgischen Staates verletzten: Ist der Staat dem Juden weniger schuldig, als dem Christen? Die Sonne geht über den einen auf, wie über den andern! Weil der Mensch Jude ist, soll er nicht Mensch sein, soll er keine Freistädte, kein Vaterland, keine Sicherheit haben? Was für auffallende, die Menschheit, und Majestät gleich entehrende Widersprüche in der Gesetzgebung! Wie soll der Jude Bürger im Herzen sein können, wenn das Vaterland aufhört gegen ihn Vaterland zu sein?362
Die Beobachtungsgabe des reisenden Aufklärers Kratter, der die Ambivalenz der josephinischen Reformen schon früh erkannt hatte, sowie seine unmittelbare Einschätzung der galizischen Wirklichkeit ermöglichten ihm, die Umgestaltung des sozialen und kulturell heterogenen Raumes Galiziens im Sinne der neuen Macht als solche zu zeigen, die in den judenfeindlichen Vergehen resultierte. Auf diese Art wurden Kratters Briefe, wie Wolfgang Häusler schreibt, »[…] nicht nur die erste, sondern auch für lange Zeit die gediegenste Analyse der Lage des Judentums in Galizien. Er ist sich klar der Probleme bewusst, die aus der Übertragung der gesellschaftlichen Normbegriffe Mitteleuropas auf eine so völlig anders geartete, historisch entstandene Sozialordnung resultieren müssen.«363 Die Sichtweise des frühen Vertreters des Josephinismus korrespondiert diesbezüglich mit der Deutung der Epoche der Aufklärung, die Hannah Arendt 1932 im kurz vor der Zeit des Nationalsozialismus verfassten Artikel »Aufklärung und Judenfrage«364 publizierte. Die politische Philosophin analysiert die Arbeiten der Protagonisten der Aufklärung wie beispielsweise Lessing, Mendelssohn und seine Schüler oder auch Herder und Schleiermacher. Sie betont darin »die Blindheit der Aufklärung«365, die Vernunft als Grundlage des Staates proklamierte, weil sie die Juden nur als Unterdrückte ohne eigene Geschichte sah. Alles andere werde danach als »Hemmung« auf dem Weg zur »Einbürgerung« und »Menschwerden«366 betrachtet, so Arendt. Sie spricht von der »Allherrschaft des Menschen in Form der Vernunft und ihrer platten Nützlichkeitslehre«.367 Für die Aufklärer sei, laut der Philosophin, die »Möglichkeit«, nicht die »Wirklichkeit« des jeweiligen menschlichen Seins entscheidend.368 Arendt hebt die Position von Herder hervor, der den Juden »ihre Geschichte« zurückgab, die bei ihm zur »verstandenen Geschichte« werden sollte.369 Sie zeigt, dass sich die Gleichheit 362 363 364 365 366 367 368 369
Ebd., S. 60. Häusler 1979, S. 27. Arendt 1932. Ebd., S. 70. Ebd. Ebd., S. 71. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73f.
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aller Menschen und die gegenseitige Toleranz nicht allein aus der Vernunft ableiten lassen. Es gehe dabei nicht um Toleranz (man denkt dabei an das »Toleranzpatent« des aufgeklärten Kaisers! – L.C.), sondern um »Verstehen« der Einmaligkeit, betont die Philosophin: »Jeder Mensch wie jede geschichtliche Epoche hat ein Schicksal, dessen Einmaligkeit kein anderer mehr verurteilen darf; […]«.370 Am Anfang ihrer Analyse formuliert Arendt die These: Sie ortet die »moderne Judenfrage« in der Aufklärung: »[…] d. h. die nichtjüdische Welt hat sie gestellt«371, deren Antworten hätten das Verhalten der Juden und ihre Assimilation bestimmt. In diesem Sinne zeigt Kratter in seinen Briefen, dass die josephinische Innenpolitik – bezogen auf die neu gegründete Provinz – die existentielle Situation der Juden in Galizien, die eine in die Jahrhunderte reichende Tradition in diesem osteuropäischen Raum aufwies, nicht verstanden, sondern in ihrer Sichtweise die Juden ihrer Geschichte beraubt hatte. Kratters Beobachtungen stehen aber auch im Einklang mit der Deutung der Aufklärung und ihrer Dialektik, die im 20. Jahrhundert nach den Gräueltaten des Naziregimes in den philosophischen Fragmenten von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gegeben wurde (1944).372 Die Aufklärung, heißt es bei den Philosophen, habe seit je »im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.«373 Horkheimer und Adorno entwarfen in ihrer Arbeit »eine philosophische Urgeschichte des Antisemitismus«, dessen »Irrationalismus« sie auch aus dem Wesen der herrschenden Vernunft selber und der ihrem Bild entsprechenden Welt ableiteten.374 Dementsprechend ging die von Kratter beschriebene josephinische Judenpolitik, die im Zuge des aufgeklärten Zivilisierungsprojekts im marginalen Galizien durchgeführt wurde, im judenfeindlichen Irrationalismus der damaligen österreichischen Verwaltung unter. Schlussfolgernd kann man also bestätigen, dass der 1786 anonym in Briefform erschienene Reisebericht, den der österreichische Aufklärer und Anhänger des Josephinismus Franz Kratter über das 1772 von Habsburger annektierte Territorium verfasst hatte, zum ersten literarischen Text wurde, der den Sozial- und Kulturraum Galizien unter dem kritischen Blickwinkel infolge der unmittelbaren Wahrnehmung des Ich-Erzählers narrativ gestaltete. Wenn auch in der Forschung die Warnung »vor einer möglichen Überbewertung des Wahrheitsgehaltes«375 von Reiseberichten geäußert wurde, reflektiert der am Ende des 370 371 372 373 374 375
Ebd., S. 75. Ebd., S. 65. Horkheimer, Adorno 1988. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7. Robertson 2012, S. 55.
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18. Jahrhunderts von Kratter in seinem Text kulturell produzierte Raum Galiziens die Haupttendenzen der Reformierung der sozial und kulturell heterogenen galizischen Gesellschaft durch die habsburgische Verwaltung, insbesondere hinsichtlich der Juden, die dort ansässig waren. Als Voraussetzung dafür fungiert neben der für die Aufklärung typischen »distanzierten« Darstellungsweise des Autors seine Fähigkeit, den Rahmen der Epoche zu brechen und sich der neuen, »präromantischen« Art der Narration zu nähern, die den Gefühlsraum nicht ausschließt. Die gegen den Josephinismus und die Aufklärung insgesamt kritische Stellungnahme hinsichtlich der Judenfrage bringt Kratter in die Nähe von Herder, der 1774 als einer der ersten Zeitgenossen die Aufmerksamkeit auf die Positionierung der Juden im Zeitalter der Aufklärung lenkte und somit die Notwendigkeit betonte, den Juden ihre Geschichte zurückzugeben. Damit wird deutlich, dass Kratters Verortung der Juden auf seiner mentalen Karte Galiziens, die mit Hilfe der postkolonialen Sichtweise und der Zugänge des Spacial Turns analysiert und beschrieben wurde, in Vielem mit den Ideen der Denker des 20. Jahrhunderts wie Hannah Arendt, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno korrespondiert, insbesondere, wenn es um die Schilderung der Kontinuität in Bezug auf den Umgang mit den Juden und der Relativität der Aufklärung geht. Außerdem weisen Kratters Briefe mehrere sprachliche Codes auf, die zwischen der Ab- und Zuneigung hinsichtlich der galizischen Juden schwanken und als Stereotypen für die jüdische Thematik des mehrsprachigen »Galizischen Text« diagnostisch wurden. Einerseits sind es solche wie die Darstellung des jüdischen Volkes als »fremd« und »exotisch«, seine Entfernung zu anderen Ethnien Galiziens; die Selbstisolation der jüdischen Wohnviertel und Ghettos; die Zwischenstellung der Juden innerhalb des Sozialraumes Galizien, ihre »parasitäre« Anpassung in der galizischen Gesellschaft; gravierende Unterschiede zwischen der Oberschicht und den armen Familien innerhalb der jüdischen Gemeinde, die Bereicherung dank dem Handeln einerseits und das Elend der Mehrheit der galizischen Juden, das ihr soziales Benehmen beeinflusst und die Feindschaft der christlichen Umgebung provoziert, andererseits; die Fragwürdigkeit der existenziellen Situation der galizischen Juden insgesamt und das Plädieren für ihre Assimilation. Andererseits sind das die Betonung der Rolle der Juden in der Entwicklung der neuen habsburgischen Gesellschaft und die Anerkennung ihrer Menschenrechte im aufgeklärten Staat. All diese Motive wurden zu permanent auftauchenden Topoi des »Galizischen Textes«, ungeachtet der nationalen Zugehörigkeit der Autoren und der Zeit der Erscheinung ihrer Werke.
Literaturverzeichnis
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Hacquet, Balthasar: Neuste physikalisch-politischen Reisen in den Jahren 1788–1789 durch die Dacischen und Sarmatischen oder Nördlichen Karpaten, I. Th., Nürnberg: Raspe, 1790, zit. nach dem Unveränderten Faksimilereprint, Fines Mundi, Saarbrücken, 2012. Kratter, Franz: Briefe über den itzigen Zustand von Galizien. Ein Beitrag zur Statistik und Menschenkenntnis, in 2 Bd.: Teil I. und Teil II., Leipzig: Verlag G. Ph. Wucherers, und in Kommission bei G. J. Beer, 1786, zit. nach dem Neudruck vom Helmut Scherer Verlag, Berlin 1990.
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»Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« um 1900
Ukrainische Irredenta376 – so wurde im Ersten Weltkrieg das Phantom des »ukrainischen Verrates« genannt, unter dem man die politische Unabhängigkeitsbewegung der Ukrainer vermutete, die in den östlichsten Provinzen der k.u.k. Monarchie lebten und den »Anschluss an das Mutterland« anstrebten. Unter »Mutterland« verstand man in dem Fall das zaristische Russland – den strategisch wichtigsten Gegner der Habsburger im Osten. Dafür gab es bestimmte Gründe: Die ukrainische Gesellschaft in der Monarchie war höchst heterogen, und eine ukrainische Nation erwies sich als »unvollständig«.377 Neben der »austrophilen« Mehrheit verbreiteten sich hier schon ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts »moskvophile« und »ukrainophile« Bewegungen. Während erstere eine Autonomie im Rahmen der k.u.k. Monarchie anstrebten, plädierte die zweite Gruppe für den territorialen Anschluss an das zaristische Russland und die dritte – für die Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates. Das hatte historische Ursachen: Nach dem Zerfall des Kyjiver Reiches (10. bis 13. Jahrhundert) war das ukrainisch besiedelte Territorium im Laufe der Jahrhunderte politisch geteilt, was sich auch dahingehend auswirkte, dass eine symbolische Grenze zwischen dem byzantinischen und lateinischen Kulturraum entstand und dass sich zwei ukrainische Identitäten, eine östliche und eine westliche, herausbildeten.378 Für die weitere Geschichte der westlichen Region 376 Die ›Irredenta‹ oder italienisch: ›terra irredenta‹ (das [noch] nicht befreite Land, das verlorene Land). So wird das beanspruchte Gebiet im Ausland genannt. Der Topos »Ukraine irredenta« wurde von den Anhängern der Idee der ukrainischen Unabhängigkeit und der Gründung des eigenen Staates am Ende des 19. Jahrhunderts in Galizien gebraucht, unter anderem von solchen Politikern und Kulturschaffenden wie Ivan Franko, Mykola Michnovs’kyj und Julian Bacˇyns’kyj, dessen Hauptwerk den Namen »Ukraina Irredenta« (1895) trug. Julian Bacˇyns’kyj (1870–1940) wurde in Galizien geboren, er starb in einem stalinistischen GULAG. 377 Dasˇkevycˇ 1998, S. 93–104. 378 In diese Zeit fällt die Bezeichnung dieses Volkes als Ukrainer bzw. Ruthenen. Der Name »Ukrajina«, »Vkrajina«, was »ein Land« bedeutet, wurde in den historischen Annalen im 12. Jahrhundert verwendet. Auf dem ganzen Territorium der heutigen Ukraine war aber bis
128 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« spielte das Fürstentum Halycˇ-Volhyn′ bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, dem Beginn der polnischen Eroberung, eine große Rolle. Die fast vierhundert Jahre dauernde Periode der polnischen Herrschaft bestimmte die weitere politische und soziale Situation in Galizien und spielte auch für die Innenpolitik der Habsburger in dieser Provinz eine entscheidende Rolle: Gegenüber den ethnischen Spannungen, die hier ständig herrschten, versuchte die k.u.k. Verwaltung eine Aufsichtsposition einzunehmen. Gegen die »Moskvophilen« wurde schon am Anfang des Krieges in Galizien ein Erlass des Statthalters und der Kriegsverwaltung über »den präventiven Arrest der politisch Verdächtigen«379 veröffentlicht. Wie es aber für das Chaos am Anfang von jedem Krieg typisch ist, waren Fehler bei den Arrestierungen alltäglich, insbesondere in den Fällen, wo ein Denunziant von der österreichischen Kriegskommandatur 50 bis 500 Kronen pro »einen russischen Patrioten«380 bekam. Trotz aller Anstrengungen gelang es indes den Russen die östlichen Grenzgebiete der Monarchie militärisch zu erobern. Als die Mittelmächte dann 1915 mit ihrer Gegenoffensive die russische Besetzung beenden konnten, herrschte zunächst große Freude, doch diese war, wie Isabel Röskau-Rydel konstatiert, schnell »getrübt durch das brutale und in den meisten Fällen nicht berechtigte Vorgehen des k.u.k. Militärs gegen Kollaborateure«:381 Verhaftungen, Prozesse und standrechtliche Exekutionen waren an der Tagesordnung. Betroffen war davon […] vor allem die ruthenische Bevölkerung und insbesondere die gebildete Schicht, die pauschal der Kollaboration bezichtigt wurde.382
379 380 381 382
zum 17. Jahrhundert der Begriff »Rus’« gebräuchlich, der in lateinischer Form »Ruthenia« lautete. Von dieser Form wurde die in der Habsburgermonarchie übliche amtliche Bezeichnung der ukrainischen Bevölkerung »Ruthenen« abgeleitet. In der Zentral- und der Ostukraine, die ab Mitte des 17. Jahrhunderts an Russland angegliedert wurden, verwendete man die Bezeichnung »Kleinrussland« und das Ethnikon »Kleinrussen«. Die Termini »Ukraine« und »Ukrainer« wurden mit der Entwicklung einer politischen Emanzipationsbewegung immer gebräuchlicher. In der k.u.k. Monarchie begann man sie ab den 1890er Jahren in Wissenschaft, Literatur, Publizistik und im gesellschaftlichen Leben immer häufiger zu verwenden. Verneinung der Bezeichnung »Ukrainer« anstatt »Ruthenen« in Österreich-Ungarn passierte meistens nur aus politischen Gründen, wie es im Fall des Professors für Slawistik an der Wiener Universität Watroslaw von Jagic´, war, der die Meinung äußerte, dass »das Ukrainertum in Österreich sich im Entwicklungsstadium befindet, deswegen wäre die Anerkennung des nationalen Namens Ukrainer vorzeitig.« (AVA, Min. d. Innern, Präs, 22/gen. – Nr. 26517–15. 12. 1915). Popyk 1999; auch in: Naukova biblioteka Nacional’noji akademiji nauk Ukrajiny imeni Wasylja Stefanyka, Fond 9., Akt 122, S. 6. [Wissenschaftliche W. Stefanyk Bibliothek der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine: Fonds 9., Akte 122, S. 6.]. Aus dem Artikel »Moskvophile« von W. Ausländer in der Zeitung »Das russische Wort«. In: Wissenschaftliche W. Stefanyk Bibliothek der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, Fonds 9., Akte 122., S. 162. Röskau-Rydel 1999, S. 159. Ebd.
»Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« 129
In den zentralen und westlichen Gebieten der Monarchie wurden Internierungslager eingerichtet, zu deren größten Graz-Thalerhof gehörte, wo bis 1917 »mehrere Tausend Ukrainer […] infolge von Unterernährung, Krankheiten und Misshandlungen starben.«383 Röskau-Rydel kommt zur Schlussfolgerung, dass »jetzt erst«, nach dem »blindwütigen Vorgehen« der österreichischen Behörden, die Ukrainer intensiv über die Loslösung ihres Landes von Österreich nachzudenken begannen.384 Es ist aber offensichtlich, dass dieser Konflikt bestimmte historische Ursachen hatte, die viel tiefer im »Vielvölkerstaat« wurzelten. Bei näherer Betrachtung findet man österreichische Korrespondenzen zu den gängigen kolonialen Diskursen der Moderne, wobei v. a. soziale, innenpolitische und kulturelle Paradigmen die k.u.k. Monarchie als einen quasi-binnenkolonialen Herrschaftskomplex erscheinen lassen. Um diese Merkmale zu entdecken und darzustellen, wären die interdisziplinären Zugänge besonders geeignet; mit ihrer Hilfe könnte man die sozial-historischen Daten und Realitätszusammenhänge mit den entsprechenden symbolischen Formen – darunter die literarischen Texte, die zu dieser Zeit entstanden sind – konfrontieren. Es geht also um eine komparatistische Retrospektive der Werke einiger ukrainischen Schriftsteller und Dichter, die in Österreich-Ungarn um die Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg und der danach folgenden Katastrophe lebten und schrieben, wodurch sie mehrere geschichtliche Bezüge der existentiellen Situation der Ukrainer im Habsburgerreich, besonders was die Konstellation »Herrschaft – Kolonie« anbetrifft, mit dem bilateralen »innen/außen Blick« ins literarische Bild gefasst haben. Die »österreichischen Ukrainer«, die »Ruthenen« also, hatten im Rahmen der Monarchie ihre eigene Vorgeschichte. Sie waren meistens in zwei cisleithanischen Kronländern am nordöstlichen Rand des Habsburgerreiches (ihr autochthones Aussiedlungsterritorium) – Galizien (östlicher Teil) und im Norden von der Bukowina konzentriert, die 1772 und, entsprechend, 1774 Bestandteil von Österreich wurden. Außerdem lebten die Ukrainer auch im Transkarpatengebiet, das zu Transleithanien gehörte. Die Provinz Galizien-Lodomerien, wobei die Bukowina bis 1849 administrativ zu ihr gehörte, könnte man dank der heterogenen ethnischen Zusammensetzung als ein kleines Abbild der Multinationalität der k.u.k. Monarchie betrachten. Die Ukrainer, die im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts zu den zahlreichen Bevölkerungsgruppen des »Vielvölkerstaates« zählten, bildeten hier die Mehrheit.385 Dessen ungeachtet gehörten sie zu 383 Röskau-Rydel 1999, S. 159–160. 384 Röskau-Rydel 1999, S. 160. 385 Der Zahl nach nahmen die Ukrainer in Cisleithanien nach den Deutschen, Tschechen und Polen den vierten Platz ein. Die Statistik aus dem Jahr 1910 beweist, dass die Mehrheit der österreichischen Ukrainer im Jahre 1910 in Galizien (91,17 %), und in der Bukowina (8,67 %) lebte; in Wien und anderen Kronländern dagegen nur 0,16 %. In: Popyk 1999, S. 10.
130 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« den »nichthistorischen«, »nichtdominierenden« und »unterdrückten« Völkern des Habsburgerreiches.386 Die Tatsache, dass sich ihr historisch-nationales Zentrum außerhalb von Österreich-Ungarn befand und ihre nationalpolitische Geschichte wenig mit der Habsburgermonarchie gemein hatte, verlieh den Ukrainern – zusammen mit den Italienern und den Serben – eine »Sonderstellung«.387 Diese tritt auf allen Ebenen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens deutlich zutage: Während der ganzen »österreichischen Epoche« Galiziens und der Bukowina war ihnen eine periphere Rolle im Vergleich zum Zentrum des Reiches zugeteilt. Besonders deutlich war die Rückständigkeit der beiden Provinzen bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu sehen. Ungeachtet der Maßnahmen, die hier im Zuge der allmählichen Liberalisierung der österreichischen Wirtschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden388, und der Beschleunigung der wirtschaftlichen Prozesse, die durch die Integration dieser Kronländer in die Habsburgermonarchie um 1880 hervorgerufen wurde389, war für Galizien und die Bukowina um die Jahrhundertwende ein niedriges Niveau der Industrie und der Landwirtschaft typisch: Die wirtschaftliche Entwicklung fand hier viel später als in westlichen Provinzen der Monarchie statt. In der Geschichtschreibung wird in den galizischen und bukowinischen Städten das Fehlen der Schwerindustrie sowie der große Anteil an Heimarbeit mit primitiver technischer Ausrüstung erwähnt. Das Interesse des Zentrums bestand meistens nur im Rohstoffexport – ein Umstand, der zu konkreten Schlussfolgerungen führt: Für die Industrie Galiziens und der Bukowina waren bis zum Ersten Weltkrieg die Züge eigen, die für koloniale und halbkoloniale Länder charakteristisch sind. Sie blieben am Anfang des 20. Jh. eine innere Kolonie Österreichs, ein günstiger Markt für die Industriewaren und ein billiger Agrar- und Rohstoffanhang.390
In Hinsicht auf die soziale Struktur bestand die ukrainische Bevölkerung Österreich-Ungarns überwiegend aus Agrariern (93,18 %); Ukrainer waren um 1900 in der Landwirtschaft und Holzindustrie beschäftigt.391 Prägnant ist dabei die Tatsache, dass der Boden meistens den Grundbesitzern der nicht-ukraini386 Bauer 1907, S. 190. 387 Kann 1964, Bd. 1, S. 56. Heute gehört der größere Teil von Galizien und der Bukowina zur Ukraine, die 1991 als unabhängiger Staat proklamiert wurde. Die Tatsache, dass ihre westlichen Gebiete fast 150 Jahre Bestandteil der Habsburgermonarchie waren, gestattet, die Ukraine teilweise zu den Nachfolgestaaten von Österreich-Ungarn zu zurechnen. 388 Röskau-Rydel 1999, S. 109ff. und 271ff. 389 Mosser 1995, S. 53–72. 390 Popyk 1999, S. 9. In den Jahren 1910–1911 befanden sich aus der gesamten Zahl der Industriebetriebe von ganz Österreich in Galizien 6,6 %, in der Bukowina – 0,7 %. 90 % der Exportwaren waren hier Rohstoff und Halbfabrikate, die Industriewaren machten nur 3 % aus. – Ebd. 391 Bihl 1984, S. 563.
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schen Herkunft, in Galizien überwiegend Polen, gehörte.392 Zahlreiche Reminiszenzen an die Armut der galizischen Bauern bringt auch die deutschsprachige österreichische Literatur des 19. Jahrhunderts und späterer Perioden. So vergleicht der in Galizien geborene Karl Emil Franzos »die öde, braune Heide« seiner Heimat mit einer »Bettlerhand«393, und für Joseph Roth erscheint Galizien 1924 als ein Land, wo die Erde reich, die Bewohner aber arm sind, wo alle »eigentlich von der einzigen produktiven Klasse: den Bauern« [Hervorhebung im Original] leben.394 Die Situation in der Bukowina stellte in manchen Hinsichten eine Ausnahme dar, besonders hinsichtlich der politischen Atmosphäre nach dem nationalen Ausgleich; sie wurde aber öfters stark idealisiert.395 Traditionell deutet man das ukrainische Bildungswesen in Galizien und in der Bukowina, besonders wenn man die »österreichische« Periode mit den früheren oder späteren Zeiten in der Geschichte von diesem Landstrich vergleicht, als ziemlich erfolgreich. Man könnte in Hinsicht auf das Ausbauen der nationalen Lehranstalten eindeutige Fortschritte feststellen, so dass die meisten ukrainischen Zeitzeugen mit den Bildungsmöglichkeiten und der österreichischen Bildungspolitik zufrieden waren.396 Im Vergleich zu den anderen Völkern der k.u.k. Monarchie war aber die Zahl der Analphabeten unter den Ukrainern viel größer, was auch mit der Unmöglichkeit für die meisten Bauernfamilien, die Kinder in der Stadt für die Zeit der Ausbildung unterzubringen, eng verbunden war.397 Wenn die Universitätsbildung in Cisleithanien fast für alle zugängig war, so zählten die Studenten ukrainischer Herkunft sehr wenige; unter den Ursachen waren meistens ökonomische Faktoren entscheidend. Zur Gründung einer ukrainischen Universität, ungeachtet der Bestrebungen der 1860–1870er Jahre, sie in der Hauptstadt Galiziens Lemberg, ins Leben zu rufen, kam es nie. Das führte sogar zur Sezession der Studenten der zu dieser Zeit fast völlig polonisierten Universität Lemberg. Bezüglich des rechtlichen Standes der Ukrainer in Österreich könnte man sagen, dass sie alle Rechte des 19. Paragraphen der Verfassung des Jahres 1867 von der Gleichberechtigung aller Völker Österreichs, dem Recht auf eigene Na392 393 394 395
Popyk 1999, S. 13–14; Bihl 1984, S. 564. Franzos 1998, S. 159. Roth 1992, S. 95–96. Franzos 1876. Laut der »imaginären Geographie« des Schriftstellers sei Czernowitz »eine europäische Insel« inmitten von »Halb-Asien«. Vorbildlich wäre hier das bis heute gut erhaltene Jugendstilmosaik an der Fassade der Czernowitzer Sparkasse – eine symbolische Darstellung aller österreich-ungarischen Kronländer unter den »Fittichen von Habsburger«: Die Bukowina, die als jüngstes Kronland zu ihnen kam, ist als eine Jungfrau im weißen Gewand dargestellt, Galizien dagegen erscheint als eine reife Frau mit dem Bündel der goldenen Ähren in den Händen. 396 Halip, 1994, S. 161. 397 Halip 1994, S. 156.
132 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« tionalität und Sprache genießen durften.398 In der Tat war aber diese Möglichkeit für sie sehr begrenzt, besonders in Hinsicht auf den Gebrauch der eigenen Sprache. Obwohl der österreichische Staat de jure die Gleichstellung aller Sprachen im Schulwesen, in den Ämtern und im gesellschaftlichen Leben anerkannte399, war Ukrainisch de facto rechtlos – in Galizien dominierte Polnisch, in der Bukowina Deutsch.400 Dabei war die Zahl der Vertreter der ukrainischen Nationalität in gesetzgebenden Organen und in vollziehenden Behörden sehr gering. Die politisch-rechtliche Situation der Ukrainer des Habsburgerreiches war dementsprechend ambivalent: Auf der einer Seite hat ihnen die österreichische Verfassung alle Rechte für eine selbständige Entwicklung gleich allen anderen Völker des Reiches garantiert, was ihnen die Möglichkeit gab, »eigene Kräfte zu entwickeln und für die längere Zeit die einzige Lebensquelle für das ganze ukrainische Volk zu bleiben«401, auf der anderen konnten ihnen die »niedrigen Startmöglichkeiten« (wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit, mangelnde Bildung etc.), die verfassungsmäßig garantierten Rechte vollkommen zu gebrauchen, nicht ermöglichen. »Die ›politische‹ Last der Konkretisierung«402 der reichseinheitlichen Durchführungsverordnungen, die den Ländern auferlegt wurde, konnte vor Ort infolge der oben genannten Umstände nicht getragen werden. Einer der wichtigsten Nachweise für rechtliche und politische Lage der Ukrainer in der Habsburgermonarchie war ihre quantitative und qualitative Präsenz in der k.u.k. Armee. Traditionell gehörte Galizien zu den Regionen, wo »so viele Männer als nur möglich« zum Militär eingezogen wurden, »um die österreichische Armee zu stärken.«403 Dabei dienten die ehemaligen ukrainischen Bauern aus Galizien und der Bukowina meistens als gemeine Soldaten im k.u.k. Militär. Wenn am Anfang des Ersten Weltkrieges die Ukrainer 8 % des Gesamtpersonals der k.u.k. Armee ausmachten404, so bildeten sie zur gleichen Zeit fast 10 % der Mannschaften der österreich-ungarischen Armee. Meistens formten sie die Besetzung der Infanterieregimenter: Anfang 1914 machten die Ukrainer 59 % bis 73 % aller Infanteristen der k.u.k. Armee aus.405 Unter den Offizieren war dagegen ihr Anteil nur 0,2 %.406 Im Laufe des Krieges griff die österreichische Kriegsadministration bei der Einziehung von Rekruten immer 398 399 400 401 402 403 404
Stourzh 1985, S. 56. Stourzh 1985, S. 5. Popyk 1999, S. 25. Levyc’kyj 1915, S., in: Popyk 1999, S. 26. Mosser 1995, S. 71. Fras 1999, S. 54–55. Diese Zahl sollte dem Anteil der Ukrainer an der k.u.k. Wehrmacht unter den anderen Volksgruppen der Monarchie entsprechen. In: Winkler 1919, S. 1–4. 405 Bihl 1980, S. 572. 406 Holovac’kyj 2000.
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wieder auf Galizien und die Bukowina zurück. Neben der Tatsache, dass gerade die Infanteristen, wie in jedem Krieg, vorerst zur Rolle des »Kanonenfutters« bestimmt waren, sollte die Lage der gemeinen Soldaten in der k.u.k. Armee, wenn auch »aus der Sicht des Gegners« – eines russischen Verfassers, weit von den menschenwürdigen Bedingungen entfernt erscheinen: Auch im Leben der Soldaten ist nicht alles zum Besten bestellt. Große Bedeutung haben in der Armee die Unteroffiziere, deren Macht über die ihnen Unterstellten enorm ist, und die kaum kontrolliert werden. Sie gehen mit den Untergebenen äußerst brutal um, schlagen sie beim Drillen, ohne sich zu genieren, und sind in der Lage, den Soldaten auch in dessen Freizeit zu schurigeln und ihm sein Leben zu vergällen.407
Infolge der hier aufgeführten Daten könnte man sagen, dass sogar ein »flüchtiger« Blick auf die Geschichte der Ukrainer während der k.u.k. Monarchie mehrere Prozesse und Konstellationen eines »inneren Kolonialismus« seitens der österreichischen Verwaltung und des deutschsprachigen Kulturzentrums bezüglich der entlegenen nordöstlichen Provinz zu verfolgen erlaubt. Einen kolonialistischen Diskurs zu entwickeln ermöglichen hier mehrere Tatsachen, die ihren Niederschlag in verschiedenen literarischen Gattungen im Schaffen der ukrainischen Autoren in Galizien und in der Bukowina in der Zeit um die Jahrhundertwende bis zu Ende der Monarchie gefunden haben. Die Schwerpunkte werden dabei auf die Bereiche wie die wirtschaftliche Entwicklung, die sozialen Strukturen, die Bildungsmöglichkeiten sowie der rechtliche Status der Ukrainer und ihre Präsenz in der k.u.k. Armee gelegt. Die Erhöhung der Bukowina zum selbständigen Herzogtum (1849) und die Einführung der Autonomie für Galizien (1861–1868) haben die sozialpolitischen, nationalen und kulturellen Entwicklungsprozesse in beiden Grenzgebieten beschleunigt. Dies ermöglichte den ukrainischen Schriftstellern, eine eigene Sicht aus einer Kronland-Perspektive auf die k.u.k. Monarchie – v. a. in Bezug auf die Sozial- und Nationalitätenpolitik des »Vielvölkerstaates« – zu entwickeln. Hierbei zeichnen sich zwei Tendenzen ab, die den Spannungsbogen zwischen Affirmation und Negation bilden: einerseits Idealisierung der Situation in Galizien und in der Bukowina, die einer Mythenschöpfung gleicht, und andererseits scharfe Kritik an der Haltung des Zentrums den nicht-deutschsprachigen Ethnien gegenüber. Das war, eigentlich, das symbolische Abbild der Ambivalenz der damaligen sozialpolitischen Situation der österreichischen Ukrainer im Vergleich zu den Verhältnissen in der »Großen Ukraine«, die zum zaristischen Russland gehörte, einerseits und zu den Möglichkeiten der anderen Ethnien der Monarchie andererseits.
407 Kaiser Franz Josephs Österreich-Ungarn. Aus: »Österreich-Ungarn«, Moskau 1914, Serie: Unsere Freunde und Feinde, (russ.) Nr. 5, in: Kagan 1998, S. 244.
134 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« Die ukrainische Affirmation der k.u.k. Monarchie war hauptsächlich eine Folge der Euphorie nach den Ereignissen der Revolution von 1848, als die galizischen Ruthenen – im Gegensatz zu polnischen Befreiungsbestrebungen – die herrschende Macht unterstützten, an die sie bestimmte Hoffnungen zur Verbesserung ihrer Lage knüpften. So erwiesen sie sich als »treue Untertanen« und »Tiroler des Ostens«, wie die Klischees lauteten, die bleibenden Charakter erhielten und der Überzeugung von der ukrainischen Loyalität gegenüber dem Habsburgerhaus mit seinen drei Säulen – Armee, Bürokratie und Kirche – Ausdruck verliehen (ungeachtet die Tatsache, dass ihnen nie eine wirkliche Selbstbestimmung gegönnt wurde). Auf dieser Tendenz beruhte eine langanhaltende Idealisierungstradition, die mit Stereotypen des »friedlichen Zusammenlebens« und der »politischen Harmonie« im Kronland einherging. Als nach 1848 die habsburgische Politik den Weg des Liberalismus und Parlamentarismus beschritten hatte, verliehen die liberal-konstitutionellen Reformer dem Begriff »Monarchie« eine ganz andere Bedeutung: Sie wurde als »solidarischer« und »freiwilliger Bund der Völker«, die einen politischen Konsens und politische Balance erreicht haben, gedeutet. Die Ukrainer sollten sich in diesem »bunten Reich« nicht unterdrückt fühlen. Es hieß, dank der Zugehörigkeit zur Monarchie könnten sie Zutritt zu »Europa« als politischem und kulturellem Raum haben.408 Besonders deutlich wurden die positiven Seiten dieser Umstände im Vergleich zur Nationalitätenpolitik in Russland: Ab 1847 traten in der russisch regierten Ukraine zahlreiche Repressalien von Seiten der zaristischen Regierung gegen die eigenständige Identität und Kultur des Volkes in Kraft, die im Verbot der ukrainischen Sprache in Publikationen und auf der Bühne gipfelten (1876). Dagegen gewannen zur gleichen Zeit Galizien und die Bukowina eine herausragende Bedeutung für den ukrainischen Literaturbetrieb: Hier wurden mehrere ukrainische Druckereien und Verlage gegründet und hier entwickelte sich die literarische Kritik. In den 1880er und 1890er Jahren wurde Lemberg zur Literaturmetropole, zum Zentrum des kulturellen Lebens der ganzen Ukraine409 sowie zu einem Zufluchtsort der politischen und kulturellen Emigranten aus dem Zarenreich, wie z. B. Mychajlo Hrusˇevs’kyj und Mychajlo Drahomanov. Ostgalizien wurde zum »ukrainischen Piemont«. Diese Situation bildete mit der Zeit die Grundlage zum Entstehen des »Habsburger Mythos«, den man hier in idealisierenden Tradition pflegte: Galizien und die Bukowina wurden als quasi »harmonische«, d. h. polyethnische und multikulturelle Räume der Monarchie präsentiert. Die Gestalt von Kaiser Franz Joseph wurde zum Symbol der Epoche; im 408 Zabuzˇko 1993, S. 16ff. 409 In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erschienen nur in Lemberg zahlreiche Literaturperiodika, z. B. Zeitschriften wie »Zorja«; »Literaturno-naukovyj visnyk«; »Svit«; Zeitungen wie »Zˇyttja i slovo«, »Dilo«. 1873 wurde hier die Literaturgesellschaft Namens Taras Schewtschenko gegründet.
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Volksmund ist eine so große Zahl an Anekdoten, Legenden und Liedern über den »guten Kaiser« und »die Zeiten von Großmütterchen Österreich« überliefert, dass sie nur mit den Sagen vom legendären Rebellenführer Dovbusˇ in den Karpaten vergleichbar sind.410 So schreibt der zeitgenössische ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchovycˇ nicht ohne Ironie über den verbreiteten Brauch der galizischen Bauern, Franz Josephs Bild mit bestickten Handtüchern zu schmücken, ähnlich wie Heiligenbilder oder das Porträt des Nationaldichters Taras Sˇevcˇenko.411 Zur offenen »Idealisierung« Österreichs, wie dies in der polnischen Literatur der Jahrhundertwende der Fall war412, kam es bei den ukrainischen Autoren jener Zeit nicht. Obwohl starke Einflüsse der österreichischen Moderne auf ihr Schaffen nicht zu bestreiten sind – so etwa bei Ivan Franko, Olha Kobyljans’ka, Wassyl Stefanyk413 – dominierten in ihren Werken doch sozialkritische Zugänge, in deren Hintergrund die Ablehnung der kaiserlich-königlichen Innenpolitik in den Kronländern stand. So trat ungeachtet der strengen k.u.k. Zensur bei mehreren ukrainischen Schriftstellern in Galizien und der Bukowina um die Jahrhundertwende besonders deutlich eine kritische Tendenz zu Tage. Die gesellschaftliche Anerkennung auf dem Wege der Assimilation anstrebend, bemühten sich einige ukrainische Autoren ursprünglich im Rahmen der österreichischen Literatur deutsch – in der Sprache des Zentrums – zu schreiben. Der wahre Erfolg kam aber nur nach ihrer Hinwendung zur Muttersprache, wodurch sie ihre Eigentümlichkeit beweisen konnten. Die aus dem Kontext der »österreichischen Ukraine« heraus produzierten Werke bezeugen eine gewisse Einheitlichkeit in der Wahl charakteristischer Themen, Intentionen, Denkweisen, Stimmungen und typischer Atmosphären. Im Folgenden werden einige der Autoren erwähnt, in deren Werken die Dekonstruktion der gängigen Stereotypen, Bilder und Mythen besonders prägnant ist. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht Kurzprosa und Lyrik. Meistens ist die gesellschaftliche und nationale Problematik in diesen Texten eng miteinander verbunden; dabei verfolgt man bei der Behandlung bestimmter Themen eine deutliche Intertextualität. Zu den wichtigen Themen einer ukrainischen »Kolonialliteratur«, die sich den Problemen der wirtschaftlichen Beziehungen des Zentrums zur Peripherie widmet, gehören diejenigen, die man mit den Stichwörtern »Bodenschätze« und »Ausbeutung« bezeichnen könnte. Sie markieren den Text Boryslav414 von Ivan 410 Bondarenko Lviv, 18. 08. 2000; Bondarenko 17. 08. 2000. Der nostalgische Habsburger-Mythos ist in Galizien und der Bukowina bis heute lebendig, was in Hinblick auf das Machtwechsel und die Menschenvernichtungen des 20. Jahrhunderts verständlich wird. 411 Andruchovycˇ 1999. S. 7; Andruchowytsch 2003, S.40. 412 Gauß 1998, S. 111. 413 Simonek 1997. 414 Franko 1978, S. 275–276. Zit. nach: Simonek, Woldan 1998, S. 97–98. Aus dem Ukrainischen von Stefan Simonek.
136 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« Franko (1856–1916), der neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ein gesellschaftlich und politisch engagierter Publizist war.415 Mehrmals wandte er sich den Schattenseiten der damaligen Zustände in seiner Heimat zu. In Boryslav schildert Franko die Gegend um das gleichnamige galizische Dorf im sachlichen Stil eines Zeitungsberichtes als einen Ort für Studien »nicht so sehr poetischer, als vielmehr sozialer Natur«416; auf diese Weise wird es möglich, alle »Mängel des gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems«417 darzustellen. Der Name des einstigen Dorfes, später »in ganz Galizien, ja in ganz Europa als Förderstätte für Öl und Erdwachs bekannt«418, wird zum Symbol der wirtschaftlichen Ausbeutung des Kronlandes: Boryslav ist »zum Zentrum der Ausbeutung in jeder nur möglichen Hinsicht geworden«419; diese »schreckliche Ausbeutung« breitet sich »einer Seuche gleich immer weiter« aus und wird »mit steigender Not und Bedürftigkeit des Volkes immer stärker«.420 Dabei lag die Verwendung der Erdölgewinne weitab von dieser Gegend, hier herrschte nur die nüchterne Pragmatik der Industriellen, die von weither kamen und den realen Zuständen in Galizien gegenüber gleichgültig blieben: Ich weiß nicht, ob es den tausenden und abertausenden gebildeten Menschen, die dort Jahr für Jahr zusammenströmen, um ihre Interessen wahrzunehmen, jemals in den Sinn gekommen ist, wenigstens einen Blick auf das Leben jener unzählbaren Menge an »Erdölgräbern« zu werfen, die für sie die Schätze der Erde zu Tage bringen.421
In der Nähe von Boryslav geboren, hatte Franko »lange Jahre […] die Möglichkeit gehabt«422, das Leben der Arbeiter – der ehemaligen Bauern, und ihre Arbeitsbedingungen beim Gewinnen von »Nafta«, das als »Licht aus Galizien« in der ganzen Monarchie bekannt wurde, zu verfolgen. Der Stoff- und die Themenwahl sowie strenge Objektivität der Darstellung zeugen von großem Einfluss Émile Zolas, dessen Werke Franko übersetzte und über den er einige literaturkritische Artikel verfasste. So betont er die Rolle des sozialen Milieus, das von der raschen und gewinnsüchtigen Industrialisierung der Gegend geprägt wird, für die physische und psychische Degradierung von Generationen proletarisierter 415 Gauß 1998, S. 101. 416 Simonek, Woldan 1998, S. 97; Franko 1978, S. 275: »[…] studij – ne tak poetycˇnych, jak bil’sˇe social’nych«. 417 Ebd.; S. 275: »[…] naslidky vsiljakych chyb teperisˇnjoho suspil’noho ustroju […]«. 418 Ebd.; »[…] zvisnyj na cilu Halycˇynu, ba j na cilu Jevropu, jako kopalnja nafty i zemnoho vosku, […]«. 419 Ebd.; S. 98; 276: »[…] oseredkom ekspluataciji u vsich mozˇlyvych vydach, […]«. 420 Ebd.; »[…] strasˇennij ekspluataciji, ˇscˇo, mov zaraza, ˇsyryt’sja ˇscˇoraz dal’sˇe, roste uraz iz zrostom nuzˇdy i nedostatku v narodi, […]«. 421 Ebd., S. 97; S. 275: »Ne znaju, cˇy prychodylo j na dumku tysjacˇam a tysjacˇam obrazovanych ljudej, sˇcˇo tam rik-ricˇno z’jizdjat’ zadlja interesiv, chot’ pohljanuty na zˇyttja toji nezlicˇymoji syly ›ripnykiv‹, sˇcˇo dlja nych vydobuvajut’ skarby zemni.« 422 Ebd., S. 98; S. 276: »Dovhi lita mav ja sposibnist’ […]«
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Bauern: »Boryslav ist dabei, […] die Lebenszeit, die Gesundheit und die Moral ganzer Gemeinden massenweise zu verschlingen.«423 Die Schlussfolgerung, zu der der ukrainische Schriftsteller aus Galizien kommt, zeigt die Perspektivlosigkeit eines kolonialisierten Landes: »Boryslav […] ist zu einer Falle geworden, in die unsere glückliche Gegend am Fuße der Karpaten geraten ist und darin nun zugrundegeht, und in der die gesunden Kräfte unseres Volkes in gewaltigem Ausmaß verschwendet werden.«424 Eine ähnlich kritische Einstellung kann man auch bei der literarischen Gestaltung der dörflichen Zustände in Galizien gegen Ende des 19. Jahrhunderts verfolgen. Die Lage der ukrainischen Bauern einige Jahrzehnte nach dem Abschaffen des Frondienstes ist wirklichkeitsgetreu in der Prosa von Lev VasylovycˇSapohivs’kyj (1858–1883) wiedergegeben, einem Zeitgenossen und politisch verbündeten von Franko. Die 1882 erschienene realistische Erzählung Bezvynni [Die Schuldlosen]425 trägt den Untertitel Iz spomyniv [Aus den Erinnerungen], was die künstlerische Methode des Verfassers erläutert: Er bemüht sich die Lebenswahrheit abzubilden. Die Handlung spielt in einem Lemberger Krankenhaus, wo der Erzähler zufällig zum Zeugen des Todes eines Bauern wird: Petro Stojkiv, 32 Jahre alt, Vater von drei Kindern, Todesursache – Schnittverletzungen mit der Sense. Die Vorgeschichte schildert das Landleben in Galizien, wobei das Stereotyp von den »faulen, trunksüchtigen ruthenischen Bauern« entlarvt werden soll: Das ukrainische Dorf ist sauber, gepflegt, wirkt freundlich: Dem Kaiserweg entlang, an beiden seinen Seiten erstreckt sich auf zwei Kilometer das Dorf Sˇcˇ. […]. Vom Weg scheint es wohlhabend zu sein und man könnte denken, dass es eine deutsche Kolonie sei, aber dichte Gärten am Weg, tief zum Hinterhof hingeschobene Häuschen mit den kleinen Fenstern bezeugen, dass dort unsere Leute leben, die wahre Ruhe genießen und die Geräusche vermeiden, die von der Straße Tag und Nacht kommen.426
Die Art, wie der Schriftsteller den Bauernhof und die Sitten der ukrainischen Familie beschreibt, erweist die Züge des poetischen Realismus. Das Glück und die Ruhe der harmonischen Existenz wird aber durch eine für Galizien typische Konstellation ruiniert: die Unbeschränktheit der Ansprüche auf den Bodenbesitz der polnischen Magnaten versus die Rechtlosigkeit der ukrainischen Bauern. Als 423 Ebd.; Ebd.: »Boryslav pozˇyraje […] zdorov’ja i moral’nist’ cilych hromad, cilych mas.« 424 Ebd.; Ebd.: »Boryslav […] stavsja mizˇ tym zapadneju, v kotrij hyne i propadaje nashe sˇcˇaslyve Pidhir’ja, v kotrij marnujet’sia bez liku zdorovych syl nasˇoho narodu.« 425 Vasylovycˇ-Sapohivs’kyj 1882. S. 165–169. 426 Vasylovycˇ-Sapohivs’kyj 1882, S. 166: »Vzdovzˇ cisars’koho hostyncja, po oboch jeho bokach, tjahnes’ na dva kylometry selo Sˇcˇ. … Z hostyncja vydajes’ ono zamozˇne j mov nimec’ka kolonija, ale husti sadky popry dorohu, v hlyb podvir’ja zasuneni chatky z malen’kymy okoncjamy, svidcˇat’, sˇcˇo tam mesˇkajut’ nasˇi ljude, sˇcˇo ljubujut’ sia tyshynoju j odsuvajut’ sja od hamoru, jakyj sˇumyt’ hostyncem den’ i nocˇ.«
138 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« der Grundbesitzer sich gewaltsam die Wiese eines Bauern aneignet, bemüht sich dieser auf gerichtlichem Weg seine Rechte zu verteidigen. Das Verfahren gegen den polnischen Herrn dauert aber im k.u.k. Rechtsstaat einige Jahre, während dessen das Gras immer wieder von den Leuten des Magnaten gemäht wird. Aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung beginnt der Bauer zu trinken, was sein Familienleben ruiniert. Als im nächsten Sommer der Verwalter des Grundbesitzers aufs Neue den Tagelöhnern befiehlt, das Gras auf der Wiese zu mähen, wirft er sich unter die Sensen der Mäher. Zum Mörder wird derselbe galizische Bauer Jóseph – ein Pole, der im Affekt mit seiner Sense nach Petro schlägt und sich dann freiwillig den Gendarmen stellt. Tiefsinnig erscheint die Schlussszene der Erzählung, wo der für Galizien typische Mythos vom »guten Kaiser« destruiert wird: Jóseph wurde von den Gendarmen abgeführt. Er fuhr ruhig, versank in Gedanken, erst die Ankunft in Lemberg machte ihn lebhafter. Er sah die ganze Stadt feierlich geschmückt, durch die Straßen zogen Menschen, überall herrschte Gedränge. Der Gendarm wollte mit ihm zur nächsten Polizeistation einkehren, um ihn nicht vor die Augen des hohen Gastes zu führen, der durch diese Straße ziehen sollte, aber es war zu spät. Das Jubeln näherte sich ihnen und um die Ecke herum bog der prächtige Zug. Jóseph schoss der Gedanke durch den Kopf, beim Kaiser um Gnade zu bitten, und er streckte, auf die Knie fallend, die gefesselten Hände dem vorbeiziehenden Zug entgegen und schrie: »Ich bin nicht schuld!« Sein Geschrei wurde aber nur von den Nebenstehenden wahrgenommen; der starke Hieb der Gendarmenpistole ließ ihn sich vom Boden zu erheben und sich unter die Leute zu führen, wo nur wenige ihn bemerkten.427
Der für zwölf Jahre Verurteilte nimmt sich nach einem halben Jahr das Leben. Einem Refrain gleich durchzieht den Text die Frage: »Wer ist an dem Ganzem schuld?« Vasylovycˇ-Sapohivs’kyj beantwortet sie mit den Worten der Witwe: Es sind die Machthabenden. Diese Antwort wird auch von der Erzählung suggeriert: Die galizischen Bauern sind, wie auch vor hundert Jahren, rechtlos geblieben. Der österreichische Staat dagegen unterstützt die polnischen Grundbesitzer, derer Willkür keinen Gesetzen untersteht. Soziale Ungerechtigkeit in Galizien nach 1848 wird auch im Schaffen von Ivan Franko öfters thematisiert. Das Recht des Schweins. Eine politische Erzählung aus 427 Ebd., S. 169: »Juzefa povely zˇandarmy. On jichav spokojnyj, zadumanyj, i azˇ vchod do Lvova ozˇyvyv jeho. On pobacˇyv cilo misto urocˇysto prystrojene, po ulycjach snovalys’ tovpy ljudej, ˇscˇo hodi bulo j perepchatys’. Zˇandarm chotiv z nym vernutys’ do najblyzsˇoji staciji policijnoji, sˇcˇob ne vesty jeho pered lycem dostojnoho hostja, sˇcˇo mav toju ulyceju perejizdyty, ta vzˇe bulo za pizno. Kryky pidneslys’ vzˇe kolo nych j na zakruti pokazalys’ pysˇni pojizdy. Juzefovy strilyla hadka do holovy prosyty prosˇcˇenja u cisarja i on padajucˇy na kolina prostjahnuv skovani ruky do perejizˇdzˇajucˇoho pojizdu j zakrycˇav: ›Ja ne vynen!‹ – ale kryk jeho buv zamicˇenyj lysˇ stojacˇymy najblyzsˇe neho, a zdorovyj udar kolby zˇandarms’koji pidnis ho z zemli i on dav sja vzˇe spokojno zatrutyty mezˇy ljudej, de malo kto jeho zaprymityv.«
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Galizien428 behandelt die Verfassungsrechte der ukrainischen Bauern. Sie erschien 1896 deutsch in »Die Zeit«. Um den Dokumentarcharakter der Erzählung zu betonen, erklärt der Autor schon im ersten Satz: »Nachstehende Erzählung ist nicht mein geistiges Eigentum«.429 Als Sprachrohr des Verfassers fungiert hier der alte ostgalizische Bauer Hrycuniak, einer der »wenigen von der älteren Generation, welche sich der radikalen Bauernbewegung mit Leib und Seele angeschlossen haben«.430 Seine Darstellung könnte zu den besten eines galizischen Ukrainers am Ende des 19. Jahrhunderts zählen: In seinem Äußeren nichts weniger als imposant, grauhaarig, einfach, sogar ärmlich gekleidet, nicht besonders hoch gewachsen, hager, mit einem von den Mühsalen des Lebens vielfach durchfurchten aber ausdrucksvollen Gesichte und schwarzen, leuchtenden Augen, verschwindet er im Gedränge und verrät durch nichts eine über das gewöhnliche Niveau des galizischen Bauers hervorragende Intelligenz.431
Obwohl Hrycuniak weder lesen noch schreiben konnte, war er als »ein eigenartiges Rednertalent bekannt«.432 Im Vortrag, den der Bauer vor der Versammlung von ca. 600 Leuten hält, schildert er anschaulich an alltäglichen Beispielen, dass man solche »sehr schöne Sachen«433 wie Abschaffung des Frondienstes, Gleichheit vor dem Gesetze, Verfassungsrechte, welche die Bauern in Galizien haben – »nicht allzu genau besehen muß […] weil sie, wie die Fabriktücher, Farbe ablassen, und diese Farbe dann einem an den Fingern kleben bleibt«.434 So stellt Hrycuniak die Gleichberechtigung der Bevölkerung Galiziens nach dem »Frühling der Völker« in der Monarchie in Frage: »Und gleich sind wir vor dem Gesetze, sagst du, lieber Freund« so fuhr er fort »das mag auch richtig sein, obwohl ich es bis jetzt nie merken konnte. Komme ich zum Herrn Bezirksrichter oder zum Herrn Bezirksmann oder sogar in den autonomen Beziksausschuss, so heißt es noch immer, wie vor dem Jahr 1848: ›Warte, Bauer! Steh nur draußen, Bauer! Weg von hier, Bauer!‹ Und als ich es einmal versuchte, naseweis zu sein und auf meine Gleichheit vor dem Gesetze zu pochen, so bekam ich eine Maulschelle, ebenso saftig und vollwichtig, wie zur Zeit der Atamane. Wenn dagegen ein Gutsbesitzer, ein Pächter, sogar ein gemeiner Schankwirt in die Kanzlei kommt, lässt man ihn nie draußen warten, ladet ihn zum Sitzen ein und behandelt ihn ganz delicat und zuvorkommend. Na, eine solche Gleichheit hatten wir auch vor dem Jahr 1848.«435
428 429 430 431 432 433 434 435
Franko 06. 06. 1896, S. 145–147. Zit. nach: Simonek, Woldan 1998. S. 163–173. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Ebd. Ebd. Ebd., S. 166. Ebd. Ebd., S. 167f.
140 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« Die gesetzlich vorgesehenen Strafen haben nach neuem Recht lediglich eine Metamorphose durchgemacht: Die Stockschläge haben jetzt eine »neue Art«, nach der sie statt eines bestimmten Körperteiles den ganzen Menschen und seine ganze Familie treffen«.436 Der Redner verwendet einen Vergleich: Die Menschen werden von den k.u.k. Behörden häufig sogar mehr gequellt als »die armen Tiere«.437 Seine Schlussfolgerung lautet: »[…] so sieht des Bauers Verfassungsrecht aus: Er muss ein gemeines Schwein beneiden«438, worin der Alte die Emigrationsursachen in Galizien sieht. Die soziale Ungerechtigkeit in Galizien stellt Franko auch in Form der Bibelparodie Die galizische Schöpfungsgeschichte dar, die in einer deutschen Fassung gleichfalls in der Wiener »Die Zeit« erschien.439 Es ist eine humorvolle Analyse der Stereotypisierung der beiden wichtigsten sozialen Schichten Galiziens – der ukrainischen Bauern und der polnischen Magnaten – am Beispiel der Trinksitten und deren ökonomischen Hintergründe: Im Anfang war der Schnaps. Er war zuerst chaotisch. Ein jeder durfte ihn brennen, verkaufen oder auch höchsteigen trinken. Da kam aber der Ungarwein ins Land. Und der war theuer. Und so schied Gott die Schnapstrinkenden von den Weintrinkenden und gab den letzteren eine Gewalt über die ersteren. Und so kam es, dass die einen nur den Schnaps brennen und trinken mussten, aber brennen für die anderen und trinken für ihr gutes Geld – die anderen aber bekamen den fertigen Schnaps und verkauften ihn für ihre Rechnung, um sich mit Ungarnwein volltrinken zu können. […] Die Bevölkerung wurde in zwei Schichten geteilt. Die einen, bei denen das Schnapstrinken obligatorisch war, hießen Bauern oder Vieh, und die anderen, welche in dem Schnapstrinken der Bauern die Hauptquelle ihres Wohlstandes erblickten, hießen Schlachzizen, zuweilen auch Freiheitshelden, Vaterlandsretter, Märtyrer der nationalen Sache, oder allgemein »Nation«.440
Ohne seinen Spott über die »glorreiche nationale Tradition«441 des polnischen Adels zu verbergen, schildert Franko, wie »die Verteidiger des Alten«442 zu allen Mitteln greifen, um ihre herrschende Position zu behalten: Zuerst bringen sie die Propination (das Recht, Schnaps zu verkaufen) »in den Geruch der Heiligkeit«443, und dann, als es klar wurde, »dass man nur einen Todten heilig sprechen kann«444, beschließen sie, das Heiligtum zu verkaufen. In einer Ratsversammlung wird heftig gestritten, auf welche Weise es verkauft werden soll, um alle sich »von 436 437 438 439 440 441 442 443 444
Ebd., S. 169. Ebd., S. 170. Ebd., S. 173. Die Zeit (Wien), XXVII. Bd., 13. April 1901, Nr. 341. S. 18. In: Simonek, Woldan 1998. S. 11–15. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd. Ebd.
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dem Vorwurfe des Judassenthums reingewaschen«445 fühlen konnten. Da werden mehrere Varianten vorgeschlagen: die Propination teurerer, als »um dreißig Schillinge«, d. h. um Millionen Goldgulden446 zu verkaufen, nicht »in natura«, sondern »in effigie« wegzugeben, also, »nur das nackte, theoretische Recht – den Schnaps zu brennen und zu verkaufen« an alle zu verteilen, »die Brennereien und Verkaufsläden«447 aber als Eigentum zu behalten. Letzten Endes beschließt man, dass die Propination »in aller Form so, wie sie seit Anbeginn gewesen ist, nur dass sie jetzt kein Privat-, sondern Landeseigentum« ist und damit also weiterhin die Interessen der Machthabenden befriedigt. Die Parodie der Schöpfungsgeschichte erlaubt dem Verfasser, die »Ewigkeit« der kritisierten Grundsätze herauszuarbeiten, in Übertragung auf die aktuellen Macht- und Rechtverhältnisse. Der Prozess der Schöpfung wird aber bei Franko nicht zu Ende weitergeführt: »Ein vierter Tag ist bis jetzt in Galizien noch nicht angebrochen«.448 Das Thema der sozialen Ungerechtigkeit in Galizien findet sich um die Jahrhundertwende auch bei den ukrainischen Schriftstellern, die einige Zeit im Kronland als politische Emigranten lebten. Einer der talentiertesten unter ihnen war zweifellos Hnat Chotkevycˇ (1877–1938). In seinen »galizischen« Jahren schrieb er einige realistische Erzählungen, die sich ebenso der Rechtslosigkeit der ukrainischen Bauern in Österreich-Ungarn widmen. Troje. Narys iz halyc’koho zˇyttja [Drei. Eine Skizze aus dem galizischen Leben]449 gehört zur im Stil der Dokumentarliteratur verfassten geschichtlichen Kurzprosa des Schriftstellers, die von der offiziellen Zensur der k.u.k. Monarchie verboten war. In Form des Zeitungsberichtes, den drei junge Menschen im Lemberger Kaffeehaus lesen, wird die Geschichte der Ermordung des ukrainischen Gemeindevorstehers in einem ostgalizischen Dorf im Zuge des Landtagswahlkampfes erzählt. Die Vertreter der Macht – die Gendarmen, die im Dienste des polnischen Kandidaten, des Grafen Badeni handeln, erstechen vor den Augen der Menschenmenge den Vertreter der Ukrainer, der in der Kanzlei die Frage der Reklamationen klären wollte, weil er schon in vielen Prozessen gegen die Behörden gewonnen hatte. Der biblische Topos der Kreuzigung, mit dem die Erzählung anhebt, kommt im Text wiederholt vor, wodurch ihm eine Leitfunktion zukommt:450 Das ist eine neue Station des Märtyrerzuges unseres Volkes auf das historische Golgatha, ein neues Opfer unserer Bauer auf dem Befreiungsaltar. Die vom Haß wütenden Pharisäer schreien besinnungslos: »Er soll gekreuzigt werden! Er soll gekreuzigt wer445 446 447 448 449 450
Ebd., S. 13. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12f. Ebd., S. 15. Chotkevycˇ 1990, S. 482–487. Die Erzählung von Hnat Chotkevycˇ weist einige gemeinsame Züge mit dem Roman von Nikos Kazandzakis Der wiedergekreuzigte Christus auf.
142 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« den!…« Und alle Pilaten lassen die Finger vom Blut, das schuldlos vergossen wurde…«.451
Marko wird von den Gendarmen in der Anwesenheit von seiner Frau und Schwester, die ihn umarmen, ermordet; beim Begräbnis hat man ihm einen Dornenkranz auf den Kopf gesetzt. Die Handlung begleitet der Leitspruch: »Im Namen des Rechtes!« Die Unbegreiflichkeit des Geschehenes wird dadurch betont, dass es »im konstitutionellen Staat von Mitteleuropa, und dabei unter der Regierung, die sich auf das Volksparlament, das auf dem Grunde der allgemeinen Abstimmung gewählt wurde«452, passiert ist. Zu den wichtigen Ursachen der sozialen und politischen Rechtlosigkeit der Ukrainer in der »aufgeklärten Monarchie« gehörten die mangelnden edukativen Möglichkeiten. Obwohl die Gestaltung des Bildungswesens in Galizien und in der Bukowina während der habsburgischen Verwaltung, und insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Vergleich zum vorigen Stand bedeutende Fortschritte bewies, galten die österreichischen Ukrainer als das Volk mit der höchsten Analphabetenrate. Die verbreitete Meinung, dass nur unter der k.u.k. Regierung ihnen der Zugang zur Bildung und nationaler Emanzipation ermöglicht wurde, wird freilich in der lyrischen Miniaturnovelle des früh verstorbenen Autors Les′ Hrynjuk (1883–1911) Osinni chvyli [Die Herbstwellen]453 (1901) widersprochen. Sie gibt auf ergreifende Weise der hoffnungslosen Situation eines Vaters Ausdruck, der seinen begabten Sohn aus der Schule in der Stadt zurück ins Dorf holen muss, weil er dessen Ausbildung nicht bezahlen kann. Sein innerer Monolog entfaltet sich in der Resonanz zur Hoffnungslosigkeit des Spätherbstes auf dem Lande; mit jedem Schritt in Richtung des Dorfes wird die Verzweiflung des Bauern größer. Mit lakonischen Sätzen gelingt es Hrynjuk, den psychischen Zustand des Vaters und des kleinen Sohnes wiederzugeben: »– Nykolka, Söhnchen, du musst nach Hause! Wir haben nichts mehr, um in die Schule zu gehen!« Nykolka begann zu weinen. Das Blut überströmte das Herz des Alten. Sie kamen nach Hause. Nykolka zog sein Jäckchen und Stiefelchen aus und kroch auf den Ofen, um zu weinen. Der Alte neigte seinen vom Jammer zerschlagenen Kopf zum Tisch.454
451 Chotkevycˇ 1990, S. 482: »Nova stacija mucˇenycˇoho pochodu nasˇoho narodu na istorycˇnu Holhofu, novu kryvavu zˇertvu poklalo nashe muzˇyctvo na vyzvolnim prestoli. Ozvirili vid nenavysti faryseji horlajut’ bez upynu: ›Rozpny joho! Rozpny joho!…‹ A vsjaki pilaty vmyvajut’ ruky vid nevynno prolytoji krovi…« 452 Ebd., S. 482. 453 Hrynjuk 1989, S. 365–366. 454 Ebd., S. 366: »– Nykolko, synku, pidesˇ dodomu! Nema vzˇe iz-za cˇoho do sˇkoly chodyty!« Nykolka zaplakav. Serce krovavylosja staromu. Pryjsˇly dodomu. Nykolka skynuv sardacˇok i cˇobitky i poliz na picˇ plakaty. A staryj sklonyv na stil holovu, pobytu zˇurboju.
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Bezeichnend für ukrainische Schriftsteller aus dem nordöstlichen Kronland ist der Gefängnis-Topos, der vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten bereithält – vom wörtlichen Verständnis bis hin zu umfangreichen Metaphern, die direkt auf die Etikettierung der k.u.k. Monarchie als »Völkerkerker« Bezug nehmen. Er kommt im Schaffen mehrerer Autoren vor. In der sozialkritischen Erzählung Na vachcymri [Im Wachzimmer]455 schildert der galizische Autor Denys Lukijanovycˇ (1873–1965) am Beispiel einiger Verhaftungen die Prinzipien des juristischen Verfahrens in Österreich-Ungarn. Es werden der Reihe nach verschiedene Fälle beschrieben, die dank der verwendeten Ich-Form besonders authentisch und vertraut wirken. Sie geben die Erfahrung eines Gefängnisschreibers wieder, desselben Verhafteten, der dank seiner Ausbildung in dieser Funktion ausgenutzt wird, wie mehrere andere wieder: Tagelang muss er den »status animalium«456 von jedem, der im Arrest ist, beschreiben. Das Gesetz verletzt alle, die kein Privileg des »neminem captivabimus, nisi jure victum« haben457. Es richtet sich freilich nur nach Wohlstand, Macht und sozialem Status. Ins Gefängnis gerieten die Vertreter verschiedener nationalen Minderheiten Galiziens – dieser Umstand wird vom Verfasser aber nicht betont –, meistens sind es indes die Menschen, die von der Gesellschaft ausgestoßen sind: Ein halberfrorener Habenichts etwa, der ein Stück rostigen Eisens gestohlen hat458; ein armer Jude, der des Diebstahls verdächtigt wird – »ganz grundlos, vielleicht nur deswegen, dass er arm sei«.459 Er wird verhaftet, obwohl zu Hause drei Halbwaisenkinder, das kleinste – neun Monate alt – bleiben. Als der Jude bat, ihn kurz nach Hause gehen zu lassen, bemerkt der Ich-Erzähler: Ich beruhigte ihn, doch wusste ich, dass es nicht so sein wird, obwohl es so sein sollte. […] Unter solchen Bedingungen, bei solchen, manchmal langen galizischen Gerichtsverfahren, den Menschen zu verhaften und über einen Monat im Gefängnis zu halten, wenn er des Diebstahls nur verdächtigt wird, für den er, höchstens nur acht Tage des Arrestes bekommen würde, ach nein!…460
Lukijanovycˇ, der selbst die juristische und philosophische Fakultät der Lemberger Universität absolvierte, beschreibt die »Sitten und Bräuche des Gefängnislebens«, 455 Lukijanovycˇ 1989. S. 221–241. Die Erzählung erschien 1897 in der Zeitung »Bukowyna« 117– 121. 456 Ebd., S. 223. 457 Ebd., S. 224. »Niemanden würden wir verhaften, wenn wir nicht das Recht der Sieger hätten« (lat.). 458 Ebd., S. 223. 459 Ebd., S. 224. 460 Ebd.: »Tak ja potisˇav joho, chocˇ i znav, sˇcˇo tak ne bude, chocˇa tak povynno buty. […] V takych umovach, pry takij povilnij ne raz halyc’kij proceduri sudovij v’jaznyty cˇolovika i derzˇaty u slidcˇij v’jaznyci cˇerez misjac, pidozrivajucˇy joho o kradizˇ, za kotru distav by, mozˇe, visim dib aresˇtu, ha!…«
144 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« einer kleinen Welt für sich, die eine typische Heterotopie im Sinne von Michel Foucault darstellt461, sachlich, präzise, überzeugend und mit großem Mitgefühl, was an die naturalistische Methode erinnert.462 So schildert er Menschen und Welt jeweils vom Standpunkt des Einzelnen – in dem Fall des Wachzimmerschreibers und der Verhafteten; im Zentrum der Darstellung steht das Milieu. Dem Stil des Schriftstellers ist eine feinfühlige Wiedergabe des fremden Erzählens eigen – die Sprache wird stark individualisiert, öfters kommen die Jargonismen vor. Bei der Darstellung der alltäglichen Vorfälle unterzieht er die sozialen Verhältnisse im österreichischen Galizien einer sorgfältigen Analyse. Besonders prägnant wirkt die Geschichte des sechzehnjährigen Franz, dessen Schicksal der Ich-Erzähler weiter verfolgt: Ein begabter, physisch gut entwickelter Junge, der bei einem Offizier der k.u.k. Armee im Dienste steht, ohne ständigen Lohn zu bekommen, begeht ein Verbrechen aus chronischem Hunger. Der Verfasser bemerkt, dass »es ihm nicht passt, ein Dieb zu sein«463 und beruft sich auf die Theorien Cesare Lombrosos, gemäß deren man an den Gesichtszügen des Menschen feststellen könne, ob dieser die Neigung zum Verbrechen geerbt habe oder nicht – eine Methode, die für die Naturalisten typisch war. Allmählich wird Franz vom Milieu abhängig: Er ist dem Einfluss der »professionellen« Diebe ausgeliefert und die wiederholte Haft verdirbt ihn immer mehr: Alle seine Bemühungen, ein ehrlicher Mensch zu werden und Arbeit zu finden, scheitern. Nach mehreren Verhaftungen erkrankt er an Tuberkulose. In der direkten Rede des Ich-Erzählers gibt Lukijanovycˇ seine Gedanken über die sozialen Probleme im damaligen Galizien wieder: Wenn du, Junge, in die Akademie [im Jargon – eine Bezeichnung für ein Gefängnis LC] geraten bist, so kommst du als echter Verbrecher heraus. Die Gesellschaft wird von deinen, wie es scheint, nicht geringen Begabungen keinen Gewinn haben. Hatten die Menschen keine Möglichkeit gehabt, dich zu retten? Doch, sie hatten, aber taten nichts, jeder aus anderem Grund. Gedankenlos blätterte ich in der Anklageschrift des Staatsanwaltes und den Akten des Gerichtsverfahrens. Ich habe viele Fragen gefunden, aber nur eine nicht, wo sie fragen würden: Warum hat er gestohlen? Niemand dachte daran, warum ein sechzehnjähriger Junge eine Kassa zerschlägt? Ist es noch nicht zu spät, Franz zu retten? Warum gibt es für solche Menschen, wie er, keine andere Anstalt als Bryhidky [eines der größten Gefängnisse in Lemberg LC] und eine Kriminalanstalt in Stanislau?464 461 462 463 464
Foucault 2006, S. 317–329. Nach Brecht, in: Beutin 1994, S. 316–317. Lukijanovycˇ 1989, S. 228: »Jomu ne lycjuje zlodjuhoju buty.« Ebd., S. 232–233: »‹Pidesˇ, chlopcˇe, v akademiju,– dumav ja,– vyjdesˇ z neji skincˇenym zloˇy dijem. Suspilnist’ ne bude mala pozˇytku z tvojich nemalych, jak zdajet’sja, sposibnostej. C ljudy ne maly nahody ratuvaty tebe? Maly, a ne zrobyly toho, kozˇdyj z insˇoji prycˇyny«. Ja bez mysli perekydav dali kartky litohrafovanoji prokurators’koji zˇaloby i chid rozpravy pered sudom prysjazˇnych. Najsˇov ja bahato pytan’, ta ne najsˇov odnoho, kotrym by vony spyta-
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Die Verwendung des Gefängnismotivs erreicht einen Höhepunkt im Gedichtwerk von Ivan Franko, und zwar in seinen Tjuremni sonety [Gefängnissonetten] (1890)465. Als Mitbegründer der Ukrainischen Radikalen Partei und Verfasser mehrerer sozialkritischer Werke über die Zustände in Galizien sowie »wegen der Unbotmäßigkeit vor den Autoritäten des Staates«466 wurde der Dichter inhaftiert und verbrachte drei Monate im Gefängnis von Kolomea. Während dieser Verhaftung erschienen 45 Sonette, die er auf dem Schutzumschlag eines Buches – heute im Franko-Archiv aufbewahrt467 – geschrieben hat. Wegen der von ihm gewählten Gedichtform, die im Widerspruch zum Inhalt der ungeschminkten Darstellung der Existenz im Gefängnis stehen, bemerkt Franko, dass Petrarca, »dessen Sonette viel Schönheit verbergen«468, frei war, im Palazzo wohnte und ein Schwert trug, »wir, dagegen, in der Kloake leben, darum keine bessere Dekorationen haben«.469 Hier wurden alle »wie Vieh beschrieben: Name, Alter, Größe, Aussehen, Haare, Auge, Zähne, alle Merkmale«. […] »Nun treibt uns doch nach Wien auf den Markt!«470 – ruft der Dichter aus. Wenn es außerhalb der Gefängnismauern noch Verfassung und Gesetze gäbe, so seien sie hier nur »ein dunkler Mythos, eine Glocke, von der man nicht weiß, wo sie läutet«.471 Die Gefängniswächter seien von »unserer Ordnung zum Stand der Hunde erniedrigt«472; darum »erniedrigen sie stets die anderen«.473 Sarkastisch klingt in diesem Kontext der Ausruf des Dichters – »O Felix Austria!«474 Voller Ironie wird auch die »hohe Regierungsfigur«475 beschrieben, die das Gefängnis besucht, die »Gefängniskultur« sei hier »echt österreichisch«.476 Der Topos des Gefängnisses gestattet es Franko auch, die habsburgische Innenpolitik in der Provinz schonungslos anzuklagen. Österreich-Ungarn erscheint in diesen Dichtungen als »Ein fauler Sumpf inmitten von Europa, Bedeckt von dichtem Schimmelgrün!« Folglich wendet er sich weiter an das Habsburgerreich: »Du, Pflegeort von
465 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476
lysja: dlja cˇoho vin krav? Nikoho ne zastanovylo, sˇcˇo sˇistnadcjatylitnij chlopec’ rozbyvaje ˇ y i teper ne pora sˇcˇe rjatuvaty Franca? C ˇ omu zˇ nema dlja takych, jak vin, ljudej insˇoho kasu. C zakladu, lysˇe Bryhidky ta stanislavivs’kyi kryminal?« Franko 1976, S. 151–174. Gauß 1998, S. 101. Voznjak 1955, S. 189–200. Franko 1976, Sonett 9., S. 155: »[…] krasy, pysˇnot v joho sonetach / Tak mnoho.« Ebd.: »My zˇ tut zˇyvemo v kloaci, / To j de zˇ nam vzjaty krasˇcˇych dekoracij?« Ebd., Sonett 3, S. 152: »Hei, opysaly nas, nemov chudobu: / I nazvu, j vik, i rist, i vsju podobu, / Volossja, ocˇi, zuby, vsi prymity – / Teper chocˇ v Viden’ nas na torh honite!« Ebd., Sonett 18, S. 159: »Dlia nas vony je tilky mifom temnym, / Lysˇ dzvonom, sˇcˇo ne znaty, de vin dzvonyt’.« Ebd., Sonett 20, S. 161: »Ponyzˇeni do rozrjadu sobaky / Porjadkom nasˇym, […]«. Ebd.: »Ponyzˇujucˇy druhych jakomoha.« Ebd., Sonett13, S. 157: »Sˇcˇaslyva Avstrije!« Ebd., Sonett 21; S. 161: »Vysoka urjadovaja fihura, […]«. Ebd., Sonett 23, S. 162: »Se tezˇ kul’turnyj vyplid, ›echt‹ avstrijs’kyj, […]«.
146 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« Dummheit und von Stillstand, / O Austria! Wo Du den Fuß nur setztest, / Gedeiht Betrug, Ausbeutung, Völkerleid, / Dort blüht die Seelenlosigkeit, gleich Moder.«477 In der Donaumonarchie seien Mottos zu hören wie »Freiheit« und »Kultur«, man würde nicht wie im zaristischen Russland nach Sibirien verschleppt, aber der österreichische Sumpf »erstickt das Herz und die Seele«.478 Im nächsten Sonett wendet sich der Dichter schließlich an die k.u.k. Monarchie: »Du, Völkerkerker, […]«479 Das sei das Land, wo viele betrogen würden, wo die Freiheit nur imaginär herrsche, wo ein Volk gegen das andere gehetzt werde, woraus dieser Staat seine Kräfte schöpfe. Das Motiv der Rebellion, des Kampfes gegen Tyrannei und Unterdrückung ist dem ganzen Werk von Franko eigen. Noch zu seinen Lebzeiten wurde er nach den Titeln seiner gleichnamigen Gedichte Steinbrucharbeiter und Ewiger Revolutionär genannt. Die Erfahrung des politisch Verhafteten und Eingekerkerten verschärfte jedoch seine Kritik an den Zuständen in Österreich-Ungarn am Ende des 19. Jahrhunderts, an der Innenpolitik eines Staates, die besonders hinsichtlich der nichtdeutschsprachigen Minderheiten ausgeprägt koloniale Züge trug. Die Gegensätze zwischen dem Zentrum und der Peripherie des Habsburgerreiches spitzten sich indes mit dem Anfang des Ersten Weltkrieges außerordentlich zu, dessen Gräuel den imperialen Geist der beiden Gegnerstaaten, zwischen denen die Ukrainer geteilt waren – der Donau- und der Nevamonarchie – noch deutlicher offenbarten. Die Kritik am k.u.k. Militarismus bildet denn auch das Gerüst der Werke mehrerer ukrainischen Autoren dieser Zeit. Zu den meist verbreiteten Themen in der ukrainischen Literatur dieser Periode gehört die Teilnahme der Ukrainer am Weltkrieg und das Motiv ihrer Rekrutierung in die k.u.k. Armee. Besonders drastisch wird die Darstellung dann, wenn es um souveräne Völker geht, wie im Fall des mit den Ukrainern eng verwandten Bergstammes der Huzulen. Ihre legendenträchtige Lebenswelt wurde zum Objekt der Aufmerksamkeit der landeskundlichen Werke schon in der Entstehungszeit des 477 Ebd., Sonett 44; S. 172–173: »Bahno hnyleje mizˇ krajv Jevropy, / Pokryte cvillju, zelennju hustoju! / Rozsadnyce nedumstva i zastoju, / O Avstrije! De lysˇ ty postavysˇ stopy, / Povze obluda, zdyrstvo, placˇ narodu, / Cvite bezdusˇnist’, nacˇe plisen/ z muru.« 478 Ebd.: »Bahno tvoje lysˇ serce j dusˇu dusyt’.« 479 Ebd., Sonett 45, S. 173: »Tjurmo narodiv, […]«. Der Begriff »Völkerkerker« galt auch unter ukrainischen Intellektuellen im »russischen« Teil der Ukraine für das Zarenreich. In Gefängnissonetten tadelt Franko ebenfalls die repressive Politik der Zaren (Sonett 33); er bezeichnet Russisches Imperium als ein Land der Sehnsucht, der Geduld und der Brutalität sowie erwähnt Sibirien als Verbannungsort, in: Voznjak 1955, S. 192. Im Autograph des Sonetts 44 schrieb Franko hinsichtlich der Zensur in der Habsburgermonarchie »O A[vstrije]!«; im Manuskript, den er an Ahatanhel Kryms’kyj nach Kyjiv zugeschickt hat, dagegen den vollständigen Namen: »O Austrije!«, in: Zapysky istorycˇno-filolohicˇnoho viddilu UAN 1926, S. 409.
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Kronprinzenwerkes480, und sie hat auch die Belletristik inspiriert. Dazu gehört der Roman Der Räubersommer (im Original Kaminna dusˇa [Steinerne Seele]), den Hnat Chotkevycˇ während seiner Zeit in Galizien über die Huzulen und ihre Revolte um 1800 (Oprysˇky-Aufstände genannt) verfasste. Nicht ohne Sentimentalität und romantischer Veranlagung beschreibt der Autor die Charakterzüge der Bergbewohner, vor allem ihre Liebe zur Freiheit, die für sie ohne die vertraute Karpatenlandschaft undenkbar sei. Zu den Schlüsselszenen des Romans gehört die Episode »Dmytro muss in den Soldatendienst«, wo die psychologischen Ursachen für die Desertion der Huzulen aus der Armee genannt werden: Das Rekrutieren war die schrecklichste Plage des Huzulenlandes. In den »Soldatendienst« zu gehen war solch ein Gräuel, dass so mancher Bursche den Tod vorgezogen hätte. Überhaupt den Huzulen von seinen Bergen fortzureißen, bedeutete das gleichwie einen gefesselten Adler ins Wasser tauchen oder einen Fisch in die Luft werfen. Die Burschen flohen daher… Gelang es nicht, und der Huzulenbursche wurde Soldat, dann floh er bei der erstbesten Gelegenheit und wurde zum Deserteur.481
Im Einklang damit steht eine Episode aus den Jahren des Ersten Weltkrieges: Damals war den österreichischen Militärbehörden die Aufstellung einer huzulischen Freiwilligentruppe nur unter dem Vorwand gelungen, dass diese ihre eigenen Dörfer gegen die russische Armee verteidigen und nicht als Landsturmsoldaten nach Ungarn geschickt würde.482 Dem Huzulenland wandte sich auch die bukowinische Schriftstellerin Ol’ha Kobyljans’ka (1863–1942) zu, die aus einer ukrainisch-polnischen Familie stammte und, ohne eine Universität zu absolvieren, eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit war. Das Thema »Weltkrieg« und insbesondere das Motiv der Rekrutierung bekommen in ihren Texten eine erschütternde Tragik. In auf Deutsch verfasster und später von der Autorin selbst ins Ukrainische übersetzter Erzählung Waldmutter. Eine Skizze aus dem ukrainischen Leben483 wird der Habsburger-Mythos in einen Kaiserin-Mythos umgedeutet. Der Glaube an diesen Mythos und die Hingabe der Protagonistin – einer armen, einsamen Huzulin, die mit der Natur ihrer Umgebung in heidnischer Harmonie lebt, endet mit der 480 Kaindl, in: Zintzen 1999, S. 192–197. 481 Chotkevycˇ 1968, zit. nach: Gauß 1992, S. 201–211. Übersetzung aus dem Ukrainischen von Anna-Halja Horbacˇ; Chotkevycˇ, Internetquelle: »Rekrutacija – ce bula najstrasˇnisˇa posˇest’ Hucul’sˇcˇyny. Ity u vojanc’ku sluzˇbu’ – ce buv takyj strach, sˇcˇo ne odyn leginyk voliv by smerti pozˇyty. Vzahali vidorvaty hucula vid joho hir, to vse odno, ˇscˇo zv’jazanoho orla zanuryty v vodu, a rybu pustyty litaty v povitrja. I legini tikaly. V hory, lisy, kuda ocˇi dyvljatsja – aby ne vpasty v ruky, aby ne datysja zlovyty. A koly ne vdalosja i stavav legin zˇovnierocˇkom, – tikav pry persˇij zˇe mozˇlyvosti i stavav dyzertyrom.« 482 Staatliches Gebietsarchiv in Czernowitz: Bestand 283, Beschreibung 1, Sache 5, S. 31–32. 483 Kobyljans’ka 20. 11. 1915. Zit. nach: Simonek, Woldan 1998, S. 57–75.
148 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« »Aufopferung« des einzigen Sohnes: Mit Beginn des Krieges muss er an die Front gehen. Der Duktus des Textes versucht die malerische, aber auch raue Karpatenlandschaft, von der die Menschen geprägt sind, wiederzugeben. Fast »wie aus Holz geschnitzt«484 ist das braune Antlitz der Huzulin Dakija und voller Runzeln: »Not, schwere Arbeit und Gram, die sie seit dem Tode ihres Mannes nicht verließen, haben in ihrer Art die Schriftzeichen ihres Wesens darauf gedrückt«.485 Das »viele Gebücktsein«486 formten »die noch immer hohe Gestalt«.487 Ins Typische gehen auch die Charakterzüge des jungen Huzulen Jurij: übermütig, aufreizend, mit klugen schalkhaften Augen, »groß, schlank und kräftig, wie ein echter Gebirgssohn […]. Vom Scheitel bis zur Sohle dunkel und ernst«.488 Wortkarg, aber feinfühlig wird von Kobyljans’ka die Übereinstimmung der menschlichen Gefühle mit der Natur dargestellt: die Einsamkeit und der Herbst, die Bedrohung und das Echo in den Bergen. Die Nachricht von der Ermordung der Kaiserin erschüttert die Huzulin, denn sie erblickt darin eine fatale Koinzidenz, die der Tod zusammengestellt hat: die vom Windbruch gefällte riesige Tanne – »die Waldmutter«489 und »die Frau unseres Kaisers«490, »die Mutter eines ganzen Landes«491: Da beschlich sie ein seltsames Gefühl. Sie hätte es nicht zu beschreiben vermocht. Das fiel ihr auch gar nicht ein. Nun verstand sie plötzlich. Verstand alles. Erst jetzt. Da sie alt wurde. Alles auf der Erde, was Gott schuf war eines. Alles war ein Atem. Und da war der Tod gewesen. Noch schleicht er wahrscheinlich umher. Sucht noch weiter? Ach, um ihn her ist alles rauschend, grün, schlank und jung! Nur die Waldmutter musste gehen. Schritt für Schritt geht er… bleibt stehen… wo sich was rührt… wo was rauscht und – horcht. Irgendetwas muss er noch mitnehmen. Irgendwohin muss er weiter. Weiter, noch ein Paar zur Waldmutter… noch ein Paar…492
Als nach siebzehn Jahren der Krieg kam und Jurij einberufen wurde, ahnt Dakija, dass er »auf immer«493 ihrem Blick entzogen sein wird, dass der Tod also weiter sucht. Die innigste Szene der Erzählung ist dann der Abschied der Mutter von ihrem Sohn. Dabei betet die Huzulin zur Gottesmutter und zur Kaiserin, ihr Kind zu beschützen. Mit ihrer Suggestivkraft gehört diese Erzählung wohl zu den Spitzenleistungen der Autorin.
484 485 486 487 488 489 490 491 492 493
Ebd., S. 58. Ebd. Ebd., S. 59. Ebd., S. 58. Ebd., S. 73. Ebd., S. 62. Ebd., S. 68. Ebd., S. 70. Ebd., S. 63. Ebd., S. 74.
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Die Tragik, dass der einzige Sohn eingezogen wird, thematisiert auch die Novelle Vyvodyly z sela [Weggeführt aus dem Dorf]494 von Vasyl’ Stefanyk (1871– 1936). Der Text hat eine expressionistische Umrahmung: Von der im Westen erstarrten Wolke, um die herum das Morgenrot seine blassen Streifen wirft und die »dem blutüberströmten Haupt eines Heiligen«495 gleicht, hinter dem die Strahlen der Sonne hervordringen, im ersten Satz bis zum »herbstlichen Himmelgewölbe«, auf dem die Sterne »wie goldene Körnchen auf einem glatten, eisernen Dreschboden«496 flimmern, im letzten. Die Verzweiflung der Mutter, die ihren Sohn »wie eine Wunde«497 gepflegt hat, äußert sich im Geschrei: »In jener Nacht saß die alte Mutter im Hof und klagte mit heiser gewordener Stimme: ›Wie soll ich dich sehen, wo soll ich dich suchen?!‹«498 Mit Mitteln der expressionistischen Ästhetik wird auch die Vorahnung des blutigen Krieges bei den Bauern im ukrainischen Dorf wiedergegeben: Hinter den Leuten kam ein junger Bursche mit kahlgeschorenem Kopf. Alle blickten ihn an. Es schien ihnen, als ob dieser Kopf, der jetzt im blutigen Lichte schwebte, von den Schultern herabfallen müsse – irgendwo weit weg auf die Kaiserstraße. In fremden Ländern, irgendwo unter der Sonne, wird er auf die Straße fallen und umherrollen.499
Die letzte Bemerkung des Autors greift auf eine der Kernfragen des Kolonialdiskurses in Hinblick auf die Teilnahme der Ukrainer im Ersten Weltkrieg auf: Wessen militärische Interessen soll dieser Soldat verteidigen? In Sinn und Atmosphäre stimmt die Novelle im Übrigen auch mit dem Grodek-Gedicht500 von Georg Trakl überein, das ebenso in den galizischen Schlachtfeldern wurzelt. Die Thematisierung der Unmenschlichkeit des Krieges erreicht in der Erzählung von Ol’ha Kobyljans′ka Lyst zasudzˇhenoho vojaka do svojeji zˇinky [Der Brief eines zum Tode verurteilten Soldaten an seine Frau] ihren Höhepunkt.501 Der Untertitel lautet: Iz ukrajins’koho zˇyttja v Avstriji pidcˇas lycha roku 1916 [Aus dem ukrainischen Leben in Österreich während des Übels des Jahres 1916]. Die von der Autorin gewählte epistolare Form des Textes ermöglicht eine besondere 494 Zit. nach: Simonek, Woldan 1998, S. 35–37, Aus den Ukrainischen von Stefan Simonek; Stefanyk, 1942, S. 20–22. 495 Ebd., S. 35; S. 20: »[…] na zakervavlenu holovu jakohos’ svjatoho.« 496 Ebd., S. 37; S. 22: »[…] osinnje sklepinnja nebesne. Zvizdy merechtily, jak zoloti cˇicˇky na hladkim zaliznim toci«. 497 Ebd., S. 36; S. 21: »dula-m na ti, jak na ranu…« 498 Ebd., S. 37; S. 22: »Toji nocˇi sydila na podvir’ji stara mama ta zachryplym holosom zavodyla: – Vidky tebe vizyraty, de tebe sˇukaty?!« 499 Ebd., S. 35; S. 20: »Za ljud’my vyjsˇov moloden’kyj parubok iz obstryzˇenoju holovoju. Vsi na njoho dyvylysja. Zdavalosja jim, sˇcˇo ta holova, sˇcˇo teper bujala u kervavim svitli, ta maje vpasty z plicˇ – des’ daleko na cisars’ku dorohu. V cˇuzˇych krajach, des’ azˇ pid soncem, vpade na dorohu ta bude valjatysja.« 500 Trakl 1987, S. 167. 501 Kobyljans’ka 1988, S. 594–599.
150 »Vielvölkerstaat« versus »Völkerkerker« im Schaffen der »österreichischen Ukrainer« Intensität des Ausdrucks. Der Grund für die Verurteilung des Soldaten durch das Kriegstribunal ist, dass er vor Müdigkeit im Schützengraben auf den Knien eingeschlafen ist und deshalb als Deserteur gilt. Die Hauptursache des Todesurteils besteht freilich darin, dass die Richter die Sprache des Soldaten bei seiner Verteidigung nicht verstehen: Das Kriegstribunal ist unbarmherzig, schnell wie ein Feuer. Man fragt nicht viel, man trifft. […] Ich und meine Muttersprache, wir beide haben auf einmal den Boden unter den Füßen verloren. Etwas passierte, ein Paar Worte in der fremden Sprache – meine Muttersprache und ich gingen zu Grunde… […] Sie wollen mich wegen des Verrates erschießen. Niemand sprach meine Sprache. Sie war so weit und so verlassen. Wer würde sie hören? Sie kann den Fremden nichts bringen. […] Ich und meine Sprache müssen sterben; […]502
Ukrainisch, die Muttersprache des Soldaten, wird zur Sprache »des Verrates« instrumentalisiert, wegen der Sprache wird er als Verräter verurteilt: Gleich einem Eimer, voll vom Blut, quillt in meiner Seele die Frage – wofür muss ich leiden? Wofür? Ist meine Sprache schuld daran, die Ferne, die mich von meinem Land – der Heimat – trennt? So oft habe ich gehört, wie unsere Bauern des Verrats angeklagt werden, so oft, […]503 [Hervorhebung im Original, L.C.].
Deutsch hingegen, als linqua franka der k.u.k. Monarchie, wird in der Erzählung von Kobyljans′ka zur Sprache des Krieges und zur symbolischen Ordnung der Kolonisatoren. Vor der Erschießung wird dem Soldaten ein Erdklümpchen aus der Heimat, das ihm sein Vater beim Abschied gab und das er am Herzen trug, weggenommen. Zu Hause blieben die Frau und sieben Halbwaisen zurück. Dahinter steht das phantomhafte Konstrukt einer »ukrainischen Irredenta«, das in der Geschichte der k.u.k. Monarchie eine tragisch-ironievolle Bezeichnung bekam. So kann man infolge der Analyse der aufgeführten historischen Daten und der in den letzten Jahrzehnten des Existierens der k.u.k. Monarchie veröffentlichten Werke der ukrainischen Schriftsteller und Dichter zu der Schlussfolgerung kommen, dass die Innenpolitik des Habsburgerreiches mehrere Konstellationen eines Binnenkolonialismus seitens der österreichischen Verwaltung und des deutschsprachigen Kulturzentrums bezüglich der entlegenen nordöstlichen 502 Ebd., S. 598: »Vojennyj sud je nevmolymyj, skoryj, jak vohnevyj kris. Ne pytaje bahato, lysˇe bje. […] I moja mova, moja maternja mova, my oboje vtratyly naraz pid nohamy grunt. Sˇcˇos’ stalosja, kilka sliv v cˇuzˇij movi, i vona, i ja utonuly… […] Mene maly za zradu rozstriljaty. Mojeji movy ne znav nichto. Vona bula tak zdaleka i opusˇcˇena. Chto i sluchav jiji? Vona ne daje nicˇoho cˇuzˇym. […] ja i moja mova musjat’ vmerty.« 503 Ebd., S. 596: »Nenacˇe vidro, povne krovi, vyrynaje i pidchodyt’ pytannja z mojeji dusˇi – i ˇ y moja mova tomu vynna, viddalennja vid mojeji tone nazad – za sˇcˇo ja terplju? Za sˇcˇo? C ˇ y tomu, sˇcˇo lysˇ Boh odyn svidok mojeji nevynnosti? Tak ridnoji storony – bat’kivsˇcˇyny? C cˇasto cˇuv ja, jak nasˇych muzˇykiv obvynuvacˇeno za zradu – tak cˇasto, […]«
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Provinz aufweist. Die Analyse der Texte der ukrainischen Autoren in und aus Galizien, die eine eigene Sicht aus der Kronland-Perspektive auf die k.u.k. Monarchie entwickelt haben, beweist den Niederschlag dieser Politik in der Literatur. Die angeführten Werke bekunden sprachliche Codes, die mehreren Stereotypen, Klischees und Topoi zugrunde liegen. Einerseits weisen sie eine Idealisierung der Situation in Galizien und in der Bukowina auf, die einer Mythenschöpfung gleicht, andererseits demonstrieren sie eine scharfe Kritik an der Haltung des Zentrums den nicht-deutschsprachigen Ethnien gegenüber. Im ersten Fall sind es der für Galizien typische Mythos vom »guten Kaiser« und von der »guten Kaiserin« sowie das Bild der galizischen Ukrainer als »treue Untertanen« und »Tiroler des Ostens«, das von der ukrainischen Loyalität gegenüber dem Habsburgerhaus zeugen sollte, aber auch die Darstellung Galiziens als »ukrainisches Piemont«. Somit wurde hier den galizischen Ukrainern ermöglicht, dank der Zugehörigkeit zur Monarchie den Zutritt zu »Europa« als politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Raum zu bekommen. Viele aus dem Kontext der »österreichischen Ukraine« heraus produzierte Werke bezeugen aber die Dekonstruktion der gängigen Stereotype, Bilder und Mythen. Die meist vorkommenden sprachlichen Elemente, solche wie »die öde, braune Heide« wie ein »Bettlerhand«; »ständige Not und Bedürftigkeit des Volkes«; »die einzig produktive Klasse: die Bauern«; die Widerspiegelung der widerrechtlichen Lage der ukrainischen Bauern im Ausdruck: die Menschen werden mehr gequält als »die armen Tiere«; die Darstellung der sozialen Ungerechtigkeit gegenüber der Bevölkerung Galiziens: Sie »wurde in zwei Schichten aufgeteilt«; mangelnde Bildungsmöglichkeiten: »Wir haben nichts mehr, um in die Schule zu gehen«; Ausbeutung der Bodenschätze: »Boryslav ist dabei, […] alle umliegende Dörfer auszusaugen«; Opfer der Bauern »auf dem Befreiungsaltar«; Gefängnis-Topos sowie Habsburgermonarchie als »Völkerkerker«; das Rekrutieren als »die schrecklichste Plage«, der Gram der Mütter bei der Rekrutierung und beim Kriegseinsatz des einzigen Sohnes, wenn er »in fremden Ländern fallen« kann; die Freiheitsliebe der Bergbewohner der ukrainischen Karpaten, wenn in den Soldatendienst zu gehen »einem Gräuel« gleich sei; die Missachtung der ukrainischen Sprache bzw. die Bezeichnung des Ukrainischen als »Sprache des Verrats«: »Ich und meine Sprache müssen sterben«; »ukrainischer Verrat« im Ersten Weltkrieg sowie »ukrainische Irredenta«. Diese sprachlichen Codes bieten übereinstimmend kritische Charakteristiken der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation der ukrainischen Bevölkerung des nordöstlichen Kronlandes dar. Als »diagnostische« Wörter und Wendungen bekommen sie eine typenprägende Funktion und bilden den Spannungsbogen zwischen Affirmation und Negation der habsburgischen Politik gegenüber den galizischen Ukrainern.
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»…diese merkwürdige Provinz«: Eine galizische Kleinstadt im Zuge der Modernisierung. Fiktionale Raumentwürfe von Ivan Franko und Bruno Schulz
Bekanntlich galt die nordöstliche habsburgische Provinz Galizien-Lodomerien als eine der ärmsten und rückständigsten Kronländer des Reiches. Ihre Modernisierung war eng mit der Industrialisierung verbunden, die in Galizien im Vergleich zu anderen Regionen Zentraleuropas etwas später den Durchbruch fand. Wenn aber die Habsburgermonarchie dank ihrer sozialen und kulturellen Heterogenität als Staat der Kontraste galt, so wurde ihre nordöstliche Peripherie zum Raum, wo Unterschiede besonders auffielen. Als dieses Land zu Österreich kam, gab es hier ein entwickeltes Netz der Städte, die meistens als Handelszentren entstanden. Anfang des 20. Jahrhunderts lebte schon die Hälfte der galizischen Bevölkerung in kleineren Städten und Städtchen, für die ein ethnisches »Dreieck« – jüdisch-polnisch-ukrainisch – typisch war. Mit der Metropole Galiziens, Lemberg, waren es über hundertfünfzig Kleinstädte.504 Der für unser Thema relevante Prozess der Modernisierung Galiziens, der von Technisierung und Differenzierung der Gesellschaft, aber auch von solchen Auswirkungen wie Zerstörung des Ganzen und die Fragmentierung des psychischen Lebens begleitet wurde, fand gerade in diesem urbanen Milieu statt. Zum Gegenstand der Erforschung wird hier also die galizische Kleinstadt als räumliches Konstrukt betrachtet, das narrativ konstituiert wird. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Texte von zwei bedeutenden Schriftstellern Galiziens: Ivan Franko und Bruno Schulz. Ihre Werke entstanden in zwei verschiedenen Sprachen – ukrainisch und polnisch – und wurden laut der traditionellen Literaturgeschichte, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dem nationalen Narrativ folgte, den entsprechenden nationalen Literaturen zugeordnet. Die Zeit ihres Schaffens liegt weit auseinander. Ivan Franko (1856–1916) wurde in der Nähe von Drohobycˇ geboren. Als Untertan Österreich-Ungarns schrieb er in den letzten Jahrzehnten des 19. – Anfang des 20. Jahrhunderts in den drei wichtigsten Sprachen des Kronlandes – der deutschen, der polnischen und der ukrainischen; der Schwerpunkt seiner 504 Lozyns’kyj 2005, S. 28–40.
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Dichtung lag aber im Ukrainischen. Bruno Schulz (1892–1942) hat auch zu Zeiten der k.u.k. Monarchie die Welt erblickt; er verbrachte seine Kindheit und frühe Jugend im habsburgischen Galizien. Seine Ausbildung und Sozialisation erfolgten dagegen nach dem Zerfall der Monarchie. Bruno Schulz, der einer polonisierten jüdischen Familie entstammte, studierte in Lemberg und Wien, lebte dann ausschließlich in seiner Heimatstadt Drohobycˇ, die in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte. Die Texte der genannten Schriftsteller aus komparativer Sicht zu betrachten, einen typologischen und thematologischen Vergleich durchzuziehen, ermöglicht ein Umstand: Sie thematisierten in den entsprechenden Werken ihren Herkunftsort in der Periode der Zugehörigkeit zu Österreich-Ungarn. Der Ausschnitt aus der realen Welt, der physisch-empirischer Erstraum, in dem sie von ihrer Kindheit an verwurzelt waren, wird fiktionalisiert und zum Schauplatz des Werkes gemacht, wie es im Fall von Franko war, oder zum Handlungsraum transformiert, der als Zweitraum ideelle, imaginative Repräsentationen des Erstraums enthält505, – ein Verfahren, das das Werk von Schulz kennzeichnet. In diesem Sinne stehen »durch das Kriterium des gemeinsamen Schauplatzes oder Handlungsraums«, wie Barbara Piatti in der »Geographie der Literatur« schreibt, »Texte aus verschiedenen Literaturen und Epochen nebeneinander, die sonst nie in einem Zusammenhang gesehen werden«.506 Hinsichtlich der Referenz auf die Wirklichkeit, – zitiert sie Andreas Mahler – werde die jeweilige Stadt erst durch den Text hervorgebracht. »Die Resultate eines solchen Imaginationsprozesses« nennt Mahler »Textstädte«507; dabei unterscheidet er eine Trias von »Städten des Realen«, »Städten des Imaginären« und »Städten des Allegorischen«.508 In unserem Fall geht es um alle drei Typen von Textstädten. Sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen gestattet dabei die Präsenz eines gemeinsamen Raumes. Bei beiden Autoren ist es die galizische Provinz, eine galizische Kleinstadt Drohobycˇ, deren realer Raum von ihnen fiktional entworfen wird. Dabei soll nicht außer Acht gelassen werden, dass die Räume immer zeitlich begrenzt sind, dass der Zusammenhang zwischen Zeit und Raum in den literarischen Texten als Chronotopos509 organisiert wird. Es soll dementsprechend vom Chronotopos einer Provinzstadt die Rede sein. Wo aber Bachtin solch einen Chronotopos hervorhebt, wenn er über das spießige Provinzstädtchen als eine idyllische Variante mit der zyklischen Alltagszeit schreibt, geht es im Fall der galizischen Provinzstadt Ende des 19. – Anfang des 20. Jahrhunderts eher um den Chronotopos der Schwelle als eines Wendepunkts.510 Zu 505 506 507 508 509 510
Piatti 2008, S. 361–363. Ebd., S. 10. Mahler, S. 12. Ebd., S. 25f. Bachtin 1986. Ebd., S. 452–453.
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solch einem Wendepunkt, der patriarchale Verhältnisse und alte Traditionen des Kleinstadtraumes gefährdet, wird gerade der Einbruch der Moderne in die habsburgische Provinz mit allen sie begleitenden Prozessen und Folgen. Chronologisch gesehen, soll man zuerst den Text von Ivan Franko Boryslav smijet’sja [Boryslav lacht]511 betrachten. Im Titel der 1881 geschriebenen, 1882 veröffentlichten, aber nicht abgeschlossenen Erzählung steht der Name des ehemaligen Dorfes Boryslav in der Nähe der Bezirksstadt Drohobycˇ. Dank der Entdeckung des Erdöls Anfang des 19. Jahrhunderts und insbesondere des damals weltweit größten Erdwachsvorkommens 1854 in Boryslav ist diese Siedlung im Laufe einiger Dezennien zum industriellen Zentrum Galiziens geworden. Die Modernisierung, die rasch in die idyllische Landschaft des nördlichen Randes der Karpaten einbrach, war aber mit der Errichtung mehrerer Raubbaubetriebe verbunden mit der Folge, dass die umliegenden Dörfer zerstört wurden und ein Zustrom billiger Arbeitskräfte nach Boryslav erfolgte. Eines der »interessantesten Gebiete Europas«512, aus dem »nicht durchaus Idyllisches«513 zu berichten wäre, nannte diese Gegend Joseph Roth, als er 1928 als Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« Boryslav besuchte. Im Text von Boryslav smijet’sja wird aber das Bild des Franko aus seiner Gymnasialzeit vertrauten Drohobycˇ geschaffen. Es wird zur eigentlichen Textstadt der Erzählung. Denn, wie Martin Pollak in »Nach Galizien« schreibt: »Mit der sprunghaften Entwicklung der Petroleumindustrie in den achtziger und neunziger Jahren, dem Bau von Raffinerieanlagen, Rohrleitungen und Fabriken«514 veränderte sich »schlagartig« auch das Leben in Drohobycˇ selbst. Gerade nach Drohobycˇ kamen aus allen Himmelsrichtungen die Abenteurer, die nach rascher Bereicherung süchtig waren. Neben dem Gewinn, der Errichtung von Boulevards und teuren Villen begann in der ehemalig »staubigen« und »verschlafenen« Provinzstadt, »wie viele andere in Ostgalizien«515, eine ganz neue Atmosphäre zu herrschen, und zwar die der gesellschaftlichen Antagonismen und der Brutalität, wodurch es zu einer Verschärfung der sozialen, aber auch ethnischen und konfessionellen Spannungen kam. In diesem sozialen und kulturellen Raum gestaltet Franko sein Drohobycˇ als Textstadt. Relevant ist dabei die künstlerische Methode des Schriftstellers. Franko, der sich zu dieser Zeit für das Schaffen von Émil Zola begeisterte sowie dessen Realismus und die breite soziale Thematik lobte, gestaltete Drohobycˇ als eine »Stadt des Realen«. Genau wird im Text auch die Zeit genannt, in der sich die Ereignisse um Drohobycˇ und Boryslav entwickeln: Es geht um den konkreten Wendepunkt im wirtschaftlichen Leben der Monarchie, um »das Ende der 60-er 511 512 513 514 515
Franko 1978, Bd. 15, S. 256–480. Roth 1990, Bd. 2, S. 939. Ebd., S. 944. Pollak 1984, S. 30. Ebd., S. 29.
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Jahre, die Ära des großen wirtschaftlichen Aufschwungs in Österreich, die Ära des großen Spekulationsfiebers, des großen Aufschwindelns«.516 Der vom Autor fiktionalisierte Raum, der Textstadt der Erzählung, der zum Schauplatz der Handlung wird, ist durch mehrere topographische Marker kartiert. So beginnt die Erzählung mit der Darstellung einer Baustelle im Zentrum von Drohobycˇ, wo das Fundament für das neue Haus des aus Wien gekommenen, reichen jüdischen Unternehmers Leon Hammerschlag gelegen wird. Erwähnt werden der Rathausturm, auf dem die Uhr schlägt, und die katholische Kirche, in deren Nähe die Spießbürger der Stadt im Grünen defilieren.517 Das zukünftige Haus von Hammerschlag, das in der Erzählung symbolisch aufgeladen wird, soll an der Kreuzung zweier Straßen errichtet werden, der Herrengasse und der Grünen Straße.518 Von der Einbildungskraft des Unternehmers erfasst, soll es zum Sinnbild eines glücklichen Raumes werden, der im Sinne der Phänomenologie »gelebt« wird:519 »[…] ein Nest, das für Zierde und Ruhm der Stadt beibringen sollte«.520 Konträr dazu wird von Franko das Haus der Familie des Hammerschlags-Antagonisten, Hermann Goldkrämer, dargestellt, eines in Drohobycˇ ansässigen jüdischen Großunternehmers, dem es gelungen war, aus ärmlichsten Verhältnissen in seiner Jugend zum reichsten Bürger von Drohobycˇ aufzusteigen. Sein Haus, das am Rande der Stadt steht, ist eigentlich das ehemalige Landgut einer verarmten polnischen Aristokratenfamilie, eine Tatsache, die den Tendenzen der »neuen Zeiten« entsprach. Es ist eine Mischung aus patriarchalischer Lebensweise und einigen Anstrengungen zur Modernisierung.521 In der Wahrnehmung von Leon Hammerschlag erscheint dieser Lebensraum von bedrückender Stille und an ein Grab erinnernder Kälte erfüllt. Erwähnt wird im Text auch das jüdische Viertel im Osten von Drohobycˇ – »Lan«, in dessen Zentrum »ein hoher, getünchter Tempel ragt«.522 Die Petroleumarbeiter – vor allem sind es verarmte ukrainische Bauern – versammeln sich am Sonntag bei der griechisch-katholischen Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit.523 Die Exaktheit bei der Wiedergabe der Topographie des Stadtbildes in Franko’s Erzählung erzielt den Realisierungseffekt. Dabei fallen die räumlichen Abgrenzungen innerhalb der sozial und kulturell heterogenen Gesellschaft von Drohobycˇ auf.
516 Franko 1978, Bd. 15, S. 333: »[…] pry kinci 60-ch rokiv, v dobi velykoho rozhonu promyslovoho v Avstriji, v dobi velykoji spekuljacijnoji harjacˇky, velykoho ›Aufschwindl‹-u.« 517 Ebd., S. 256. 518 Ebd., S. 258. 519 Bachelard 2006, S. 166–177. 520 Franko 1978, Bd. 15, S. 266: »[…] hnizdo, kotre by bulo krasoju i slavoju mista…«. 521 Ebd., S. 277. 522 Ebd., S. 260: »[…] na schodi vydno bulo vysocˇeznu pobilenu bozˇnycju.« 523 Ebd., S. 302.
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Den Text eröffnet eine prägnante Szene, in der es dem Autor mittels der Darstellung der Stadt als eines Erlebensraumes gelingt, die typische Hybridität des Kulturraumes einer galizischen Kleinstadt abzubilden. Franko versammelt in einem engen Raum, nämlich auf dem zentralen Platz von Drohobycˇ, wo sich die Baustelle befindet, die Vertreter verschiedener ethnischen, konfessionellen und sozialen Gruppen der Stadt. Es sind die ukrainischen Bauarbeiter und die reichsten Bürger von Drohobycˇ und Boryslav, darunter überwiegend die Juden, sowie ein polnischer Adeliger, der ungeachtet der finanziellen Probleme sich doch als Angehöriger der Stadtelite fühlt. Es kommt noch eine ethnisch-konfessionelle Gruppe dazu, die am Ritual der Einweihung des Fundamentes teilnimmt. Es ist »eine Schar« ärmerer Juden von Drohobycˇ mit dem Rabbiner in der Mitte, ein jüdisches »Kahal«.524 In der Menschenmenge herrsch Chaos und Verlegenheit von Seiten der Christen gegenüber den Juden. Mitten im Gebet der Juden fangen am Mittag die Glocken aller Kirchen von Drohobycˇ zu läuten. Der akustische Raum, der von allen Anwesenden, unabhängig vom sozialen Stand oder Konfession wahrgenommen wird, verschmilzt sie zu einem Ganzen und wird als gutes Wahrzeichen erklärt: Die Uhr schlug Zwölf. Auf dem Glockenturm neben der katholischen Kirche, unmittelbar neben der neuen Baustelle, begann eine riesige Glocke zu läuten, den Mittag bekannt gebend. Dahinter bimmelten auch alle anderen Glocken der Kirchen in der Stadt. Es schien, als ob die ganze Luft von Drohobycz mit klagenden Stimmen stöhnte, unter denen ein verworrenes und mehrstimmiges »Umein« noch klagender und trauriger zu klagen schien. Die Arbeiter, als sie die Glocken hörten, nahmen die Mützen ab und fingen an, sich zu bekreuzigen; ein Schüler aber näherte sich Leon, beugte sich vor ihm und begann zu flüstern: »Gott soll Sie und das von Ihnen angefangene Werk segnen.« […] – Und dann, als er in der unmittelbaren Nähe von Leon war, sagte er noch leiser: »Haben Sie das gemerkt? Der Herrgott hat Ihnen ein gutes Zeichen geschickt, dass alles, was Sie sich nur wünschen, glücklich endet.« – »Ein gutes Zeichen? Was für ein?« – fragte Leon. – »Hören Sie nicht, dass die christlichen Glocken von selbst Ihnen einen Dienst tun und den Segen des christlichen Gottes Ihnen geben? […] Diese Glocken sind ein gutes Zeichen für Sie!«525 524 Ebd., S. 261: »[…] se buv kahal zˇydivs’kyj z rabynom vseredyni.« 525 Ebd., S. 261–262: »Vdaryla dvanadcjata hodyna. Na dzvinyci kolo kostela, tut zˇe, nasuprotyv novoji budovy, zahudiv velycˇeznyi dzvin, zvisˇcˇajucˇy poludnje. Za nym zatelen’kaly j usi druhi dzvony na drohobyc’kych cerkvach. Bacˇylos’, shcho cilyj vozduch nad Drohobycˇem zastohnav jakymys’ placˇlyvymy holosamy, sered kotrych ˇscˇe placˇlyvisˇe i sumnisˇe rozdavalosja te bezladne riznoholose ›umajn‹. Robitnyky, pocˇuvsˇy dzvony, poznimaly sˇapky i pocˇaly chrestytysja, a odyn ˇskolnyk, pidijsˇovsˇy do Leona i vklonyvsˇysja jomu, pocˇav ˇseptaty: ›Naj boh blahoslovyt’ vas i zacˇate vamy dilo.‹ […] A vidtak, pochyljajucˇysja sˇcˇe blyzˇcˇe do Leona, skazav tychisˇe: ›Vydyte, pan bih dobryj pislav vam znak, sˇcˇo vse pide vam sˇcˇaslyvo, sˇcˇo tilko zahadajete.‹ – ›Dobryj znak? A to jakyj?‹ – spytav Leon. – ›A ne cˇujete, sˇcˇo chrystyjanski dzvony sami dobrovi’no robljat vam sluzˇbu i klycˇut’ na vas blahoslovenstvo chrystyjans’koho boha? […] Ti dzvony – to dobryj znak dlja vas!‹…«
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Neben solcher Anwendung des phänomenologischen Verfahrens bei der Darstellung der galizischen Kleinstadt als eines Erlebensraumes kann man im Text von Boryslav smijet’sja einige Beispiele der räumlichen Strukturen vorfinden, die die Dynamiken der Sujetkonstitution verdeutlichen. Entsprechend der Raumsemiotik von Jurij Lotman kann das System der räumlichen Verhältnisse zur Sprache des Ausdrucks der außerräumlichen Kategorien werden.526 Der Text von Boryslav smijet’sja liefert einige Beispiele der Konzeptionalisierung verschiedener Modelle über räumliche Vorstellungen. Als raumsemiotische Opposition wird von Franko die Dichotomie zwischen dem Reichtum als Abgrund einerseits und der Liebe, der geistigen Arbeit als vom etwas Hohen und Erhabenen andererseits dargestellt.527 Die hungernden und proletarisierten Bauern, die in den Petroleumbetrieben arbeiten, müssen in die Gruben hinabsteigen – im direkten und übertragenen Sinne; dabei soll das »neue, glänzende und große Unternehmen«, das Goldkrämer angefangen hat, ihn »noch höher auf der Stiege des Reichtums«528 hinaufsteigen lassen. Aber nicht nur die Art der Narration spielt für Franko bei der Konstruktion des Raumes von Drohobycˇ eine entscheidende Rolle, man erkennt in seinem Verfahren die diskursive Praxis, wenn das begriffliche Denken im Unterschied zum intuitiven im Vordergrund steht. Zur Zeit der Arbeit am Text der Erzählung interessierte sich Franko für den Sozialismus; fast gleichzeitig übersetzte er »Das Kapital« von Karl Marx, das Kapitel, in dem es um die primäre Kapitalakkumulation ging. Der soziale Raum von Drohobycˇ und Boryslav war laut Franko bestens geeignet, die »westlichen« sozialistischen Theorien an galizischer Realität zu überprüfen. Der Protagonist der Erzählung, ein ukrainischer Bauarbeiter Benedjo Synycja – ein ideologisches Alter Ego des Autors – denkt über die Fragen der Gerechtigkeit, der Solidarität zwischen den Arbeitern und der Arbeiterbewegung nach529; er bereitet den ersten Streik in Boryslav vor. Diese Erscheinungen im sozialen Leben einer galizischen Kleinstadt sind mit der Verbreitung der Ideen des Klassenkampfes, die die Modernisierung der Gesellschaft begleiten, eng verbunden. Die marxistischen Ideen kommen aus dem Westen: Es wird vom Autor auf die Entwicklung der Arbeiterbewegung in den westeuropäischen Ländern hingewiesen.530 In der Erzählung sind mehrere Seiten der Darstellung der wirtschaftlichen Situation der galizischen Bevölkerung gewidmet. Prägnant ist, dass Franko dieses Thema aus einer konkreten Perspektive verräumlicht: Sein Ziel ist, das Elend der armen Bevölkerung Galiziens unabhängig von der ethni526 Lotman 1974. 527 Franko 1978, Bd. 15, S. 289. 528 Ebd., S. 344: »[…] nove blyskucˇe i velyke predprynjattja, kotre malo joho vydvyhnuty sˇcˇe vysˇcˇe po drabyni bahatstva.« 529 Ebd., S. 297–298. 530 Ebd., S. 306.
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schen Zugehörigkeit wiederzugeben. Eine große Rolle spielt dabei der Bachtin’sche »Chronotopos des Weges (der Landstraße)«:531 Im Akt des Gehens durchmisst der Protagonist den Raum, der zwischen Drohobycˇ und Boryslav liegt, er nimmt ihn wahr und strukturiert ihn als Raum der »allgemeinen Not«.532 Der Raum wird hier mit Hilfe performativer Praxis konstruiert533 und als geographisches Bild dargestellt. Dabei verwendet Franko eine noch aus der Antike bekannte Methode der geographischen Gestaltung des ganzheitlichen Weltbildes: Der Beobachter soll sich über die Erdoberfläche erheben, sie von oben anschauen, um dann die Welt »von innen«, mit Hilfe der Gedanken darstellen zu können.534 Von einem Hügel nahe der Landstraße aus erstreckt sich vor den Augen des Protagonisten das Panorama von Boryslav, in dem die niedrigen Häuser mit »schuppenähnlichen Dächern« und roten, den »blutigen Streifen am Himmel«535 gleichenden Schornsteinen der Petroleumfabriken dominieren. In Boryslav smijet’sja gibt es noch ein Zeichen der Modernisierung der galizischen Gesellschaft, und zwar die Abbildung der antisemitischen Stimmungen als einer Ideologie. Antisemitismus als Ideologie der Moderne erreicht das traditionell multikulturelle kleinstädtische Milieu Galiziens parallel zur Industrialisierung und sozialen Differenzierung. Franko, der auch Jiddisch konnte und sich aktiv für die ostjüdische Kultur interessierte, teilt die neue galizische Gesellschaft nicht nach dem ethnischen oder religiösen, sondern nach dem sozialen Prinzip. Im sozialen Raum Galiziens unterscheidet er präzis zwischen den jüdischen Armen und jüdischen Reichen, den Unternehmern und Fabrikbesitzern. »Der Andere« ist für Franko »der Ausbeuter«. Mit gleichen realistischen Zugängen wie im Fall der Darstellung des Elends der ukrainischen Bauern schildert er das arme jüdische Viertel von Drohobycˇ, »Lan«, in einem anderen Text, in der Erzählung Boa constrictor: Es ist »eine armselige Ruine«.536 Dabei war Franko einer der wenigen galizischen Autoren, der die Ereignisse so darstellte, wie sie vom Blick der jüdischen Protagonisten erfasst wurden, nämlich aus jüdischer Perspektive.537 Wie erzielt Franko also, dass die von ihm dargestellte galizische Provinzstadt Drohobycˇ im Zuge der Modernisierung als eine »Stadt des Realen« wirkt? Bezüglich der literarischen Topographie bei Franko schreibt Martin Sander, dass 531 532 533 534 535
Bachtin 1986, S. 278. Franko 1978, Bd. 15, S. 302: »[…] zahal’noi kryvdy i nuzˇdy.« Certeau, de 1988, S. 218. Zamjatin 2006, S. 88. Franko 1978, Bd. 15, S. 308: »Nevysoki pid hontjam domy bililysja do soncja, mov sribljava luska. Ponad dachamy de-ne-de vydnilysja cˇervoni, tonki, a vysoki komyny naftaren’, mov kryvavi pasmuhy, sjahajucˇi do neba.« 536 Franko 1978, Bd. 14, S. 373: »[…] cila tota perestorona podobala radsˇe na odnu nuzˇdennu ruinu.« 537 Hrycak 2006, S. 363.
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Drohobycˇ beim ihm als geschlossener und deutlich strukturierter Raum erscheint, in dem sich das Drama der Modernisierung abspielt.538 Der Erzähler positioniere sich klar in diesem Raum: Er sei an der Seite der Opfer der Ausbeutung. Seine moderne Welt sei die Welt der Konstruktion der Identität: »Franko schildert so gesehen den Auftakt zu einer ihm noch möglichen Klarheit von Zuordnungen und Abgrenzungen, […]«.539 Als eine moderne personale Identität wird sie, wie Aleida Assmann bezüglich der Psychologie und Soziologie des urbanen Menschen schreibt, nicht in »schroffer Abgrenzung gegen die Gesellschaft behauptet«, sondern »innerhalb dieser Gesellschaft entwickelt«.540 Diese Identität entsteht durch die Übernahme einer sozialen Rolle.541 Anders ist es aber im Fall von Bruno Schulz. Als ein polnisch-galizischer Autor, verfasste Bruno Schulz seine Erzählungen in und über Drohobycˇ fast fünfzig Jahre später als Ivan Franko. Sein erster Erzählband Sklepy cynamonowe [Die Zimtläden]542 erschien 1934, die Prosafragmente, darunter Republika marzen´ [Die Republik der Träume]543 und Ojczyzna [Das Vaterland]544 wurden später gedruckt. Diese Texte entstanden in der Zwischenkriegszeit, sie haben aber den Charakter einer Retrospektive, und zwar zu Zeiten der Kindheit des Autors. Auffallend ist dabei, dass Schulz, obwohl der Chronotopos des Wendepunkts Modernisierung eine enorm große Rolle in seinem Schaffen spielt, auf die Gegebenheiten des Booms der Petroleumindustrie in Galizien, der im Zentrum der Aufmerksamkeit bei Franko steht, keinen direkten Bezug nimmt. Das wirtschaftliche Leben seiner Textstadt in Ojczyzna wird von ihm »ästhetisiert«: Es wird nur die »stark entwickelte Zuckerindustrie« und »eine berühmte Porzellanmanufaktur mit schöner alter Tradition«545 erwähnt. Fremdes Kapital wird in die Unternehmen der Stadt auf den Wegen der familiären Bündnisse investiert: »Andere nehmen bei der Abreise von hier ihre Frauen mit, die anmutigen Töchter unserer Kaufleute, Fabrikanten und Hoteliers. Dank dieser Verbindungen wird fremdes Kapital in unsere Unternehmen investiert und dadurch unsere Industrie gestärkt.«546 Es gäbe hier »keine Er-
538 539 540 541 542 543 544 545
Sander 1993, S. 264. Ebd., S. 265. Assmann 2011, S. 212. Ebd., S. 217. Schulz 1994, Bd. 1; Schulz 1998. Schulz 1994/d, Bd. 1, S. 334–341; Schulz 1998/d, S. 341–350. Schulz 1994/a, Bd. 1, S. 341–348; Schulz 1998/b, S. 372–379. Schulz 1994/a, Bd. 1, S. 345; Schulz 1998/b, S. 376: »Silnie rozwinie˛ty przemysł cukrowniczy […]«; »[…] sławna˛ fabryke˛ porcelany o pie˛knej, starej tradycji.« 546 Schulz 1994/a, Bd. 1, S. 345; Schulz 1998/b, S.: 376: »Inni, wyjez˙dz˙aja˛c, wywoz˙a˛ ze soba˛ sta˛d z˙ony, nadobne córki naszych kupców, fabrykantów, restauratorów. Dzie˛ki tym we˛złom obcy kapitał bywa cze˛stokroc´ inwestowany w naszych przedsie˛biorstwach i zasila nasz przemysł.«
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schütterungen und Krisen.«547 Aber nicht nur das gestattet die Texte der beiden galizischen Autoren im räumlichen Kontext kontrastiv zu interpretieren. Die Kleinstadt Drohobycˇ, die im Hintergrund aller Texte von Schulz steht und deren Handlungsraum bildet, gewinnt die Züge der »Stadt des Imaginären« und wird zur »Stadt des Allegorischen«. Wenn Franko in seiner Prosa als Beispiel des im Rahmen des realistischen Paradigmas schreibender Autor gilt, so wirken die Texte von Bruno Schulz extrem modernistisch. Man könnte ihn in die Nähe von Marcel Proust oder Robert Walser bringen. Auf den ersten Blick macht die Textstadt von Schulz den Eindruck, dass dieser fiktive Ort – eine »Provinzstadt mittlerer Größe«548 – wirklich existiert. Es gibt bei ihm mehrere topographische Marker, die auch in der Erzählung von Franko erscheinen, z. B. die römisch-katholische Kirche, die im Zentrum von Drohobycˇ steht. Schulz beschreibt sie als eine »alte, ehrwürdige Kathedrale, die auf einer hohen Plattform liegt, etwas abgesondert am Rand der Häuser.«549 In der Erzählung Sklepy cynamonowe erwähnt Schulz auch den Ring, auf dem die Leute ihren Spaziergang genießen. Der Raum dieser Textstadt wird überwiegend performativ konstruiert. Eine große Rolle spielen dabei raumbildende Handlungen: Das Erzählen selbst, das laut Michel de Certeau550 als Realisierung einer Sequenz von Zeichen funktioniert, und das Gehen als pedestrische Praxis sowie das Passieren der Orte im langsamen Fahren. Hier haben wir auch mit dem Chronotopos des Weges zu tun, aber in etwas anderem Sinne, als Bachtin es hinsichtlich des antiken und mittelalterlichen Romans meinte. Im Text von Ivan Franko, für den die auktoriale Erzählweise typisch ist, geht der Protagonist zielbewusst die Wegstrecke entlang. Der Ich-Erzähler von Schulz entspricht meistens dem Typ eines Flaneurs, der durch die Straßen schweift (oder in einer Kutsche fährt), für den die Stadt zu einem Wahrnehmungsraum wird. Prägnant ist hier die nächtliche Wanderung durch die Stadt in der Erzählung Sklepy cynamonowe. Es werden dabei heterogene Sinneseindrücke aneinander gereiht. »Die optische Beobachtungsgabe Schulz’«, – schreibt Margarita Pazi, »wird auch auf die anderen Sinne übertragen […]«.551 Die Aisthesis des Raums spielt dementsprechend in seinen Texten eine enorm große Rolle. Für die Raumgenese ist hier die Gebundenheit an den Körper des Subjekts, bzw. dessen Position im oder zum Raum entscheidend. Phänomenologisch gesehen stellt der Körper den Ursprung des Raumes dar, ein Verfahren, das den Effekt der filmischen Erzähltechnik hervorbringt. Nicht zufällig ist der Kinematograph in vielen Texten von Schulz als ein Wunderland 547 Ebd.; Ebd.: »[…] bez wstrza˛sów i kryzysów.« 548 Ebd., S. 342; Ebd., S. 372: »[…] s´redniej wielkos´ci miasto prowincjonalne[…]«. 549 Ebd., S. 344–345; Ebd., S. 375: »[…] starej, czcigodnej katedry, połoz˙onej na wysokiej platformie nieco odosobnionej na skraju domów.« 550 Certeau, de 1988, S. 218. 551 Pazi 1988, S. 96.
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präsent.552 Das Kino ist für ihn »der Ort des Staunens, der Ort, an dem die Fantasie ihre schöpferische Kraft ausübt«.553 Aber nicht nur solche Art der Raumerzeugung, wenn die Illusion eines dreidimensionalen Raumes entsteht, verstärkt bei Schulz den Eindruck, dass der fiktive Ort existiert. Den Realisierungseffekt erreicht er durch das Einfügen in das Textgewebe der Karten seiner fiktionalen Räume. Die physische Karte wird dementsprechend zu einer kognitiven erweitert. So wird in Republika marzen´ die Textstadt und das Land als eine Karte imaginiert, die sogar kosmische Dimensionen erreicht: Dort, wo die Karte des Landes schon sehr südlich wird, fahlgelb von der Sonne, dunkel und verbrannt im Wetter des Sommers, wie eine reife Birne, dort liegt es wie ein Kater in der Sonne – jenes erwählte Land, diese merkwürdige Provinz, diese einmalige Stadt der Welt. Vergeblich, darüber mit profanen Menschen zu sprechen! […] Die Stadt und das Land haben sich zu einem sich selbst genügenden Mikrokosmos abgeschlossen, sich auf eigenes Risiko unmittelbar am Ufer der Ewigkeit niedergelassen. Vorstadtgärtchen stehen wie am Rand der Welt da und blicken über die Zäune in die Unendlichkeit einer anonymen Ebene. Gleich hinter den Schlagbäumen wird die Karte des Landes namenlos und kosmisch wie Kanaan. Über diesem schmalen und verlorenen Streifchen Land hat sich der Himmel noch einmal tiefer und ausladender als anderswo aufgetan, ein Himmel, gewaltig wie eine Kuppel, vielstöckig und saugend, voll unvollendeter Fresken und Improvisationen, fliegender Draperien und mächtiger Himmelfahrten.554
Die physisch-räumlichen Strukturen werden dabei durch subjektive Erinnerungsakte des Autors überlagert. Es fällt auf, das Drohobycˇ bei Schulz als fein detaillierter Gedächtnisraum erscheint. Es ist das autobiographische Gedächtnis, das episodischen Charakter hat. Als »Mich-Gedächtnis« sei es laut Aleida Assmann in seiner Unstrukturiertheit und Unkontrollierbarkeit nie voll zugängig und in seiner Dynamik nicht steuerbar. Relevant seien für diese Art des Gedächtnisses sinnliche Impulse, die von den Gegenständen ausgehen.555 Das »Mich-Gedächtnis« von Schulz bezieht sich auf seine Kindheit, die er wieder552 Wie, z. B., in der Erzählung Die Julinacht, in: Schulz 1994/b, Bd. 1, S. 199–205; Noc lipcowa, in: Schulz 1998/a, S. 223–229. 553 Caneppele 2010, S. 108. 554 Schulz 1994/d, Bd. 1, S. 334; Schulz 1998/d, S. 341–342: »Tam gdzie mapa kraju staje sie˛ juz˙ bardzo południowa, płowa od słon´ca, pociemniała i spalona od pogód lata, jak gruszka dojrzała – tam lez˙y ona, jak kot w słon´cu – ta wybrana kraina, ta prowincja osobliwa, to miasto jedyne na s´wiecie. Daremnie mówic´ o tym profanom! […] Miasto to i kraina zamkne˛ły sie˛ w samowystarczalny mikrokosmos, zainstalowały sie˛ na własne ryzyko na samym brzegu wiecznos´ci. Ogródki przedmiejskie stoja˛ jakby na krawe˛dzi s´wiata i patrza˛ poprzez parkany w nieskon´czonos´c´ anonimowej równiny. Tuz˙ za rogatkami mapa kraju staje sie˛ bezimienna i kosmiczna, jak Kanaan. Nad tym skrawiem ziemi wa˛skim i straconym otworzyło sie˛ raz jeszcze niebo głe˛bsze i rozleglejsze niz˙ gdzie indziej, niebo ogromne, jak kopuła, wielopie˛trowe i chłona˛ce, pełne niedokon´czonych fresków i improwizacyj, leca˛cych draperyj i gwałtownych wniebowsta˛pien´.« 555 Assmann 2011, S. 183–184.
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zugewinnen bestrebt war, denn die Bilder der Kindheit stellen für ihn doch »ein Programm« dar.556 Wie Jerzy Ficowski bemerkt, sei die mythenbildende Sphäre der Kindheit »sowohl Gegenstand als auch Ziel des Werkes und des künstlerischen Programms von Bruno Schulz«.557 Dabei gehe sein Mythos in Drohobycˇ umher558, das zur Allegorie einer universalen Kindheitsstadt wird, »in der ein jeder Mensch kraft seiner Phantasie die Welt aufs Neue erstellen kann.«559 Hier hört man nie auf, die Welt neu zu entdecken und mit Staunen zu betrachten. Dabei fällt es auf, dass die Schulz’sche »Kindheitsstadt« nicht nur »manchmal topographische Ähnlichkeit mit Drohobycˇ hat«, wie es Margarita Pazi behauptet.560 Die frühen Bilder von Schulz sind durchaus »galizische Bilder«, die in Drohobycˇ und seiner Umgebung entstanden. Der Mythos der Kindheit wird aber bei Schulz durch den Einbruch der Moderne zerstört. Ulica krokodyli [Die Krokodilgasse], mit diesem negativen Epitheton, so Paolo Caneppele561, bezeichnet der Schriftsteller die Straße seiner Textstadt, die bei ihm zum Innbegriff der Industrialisierung wurde. De facto ist das eine literarische Entsprechung zur Stryjer Straße in Drohobycˇ. Den Eindruck, als ob es diese Straße in Wirklichkeit gäbe, erweckt Schulz wiederum mit der Beschreibung einer »alten und schönen Karte unserer Stadt«, die der Vater »in der unteren Schublade seines tiefen Schreibpultes« verwahrte.562 Die Methode der geographischen Darstellung, wenn die Erdoberfläche von oben angeschaut und dann »von innen« dargestellt wird, erweist sich hier besonders wirksam. Die »gewaltige Wandkarte« von Drohobycˇ und Umgebung, die der Autor am Anfang der Erzählung beschreibt, ist »in Form eines Panoramas aus der Vogelperspektive«563 dargestellt; dabei wird der Ausblick kinematographisch gewechselt: Mit weitem Blick auf das ganze Tal des Flusses und Vorgebirgen wird auf die Stadt hingewiesen, die »aus der welken Ferne der Peripherie« auftaucht und »zur Mitte«564 hin wächst. Die Straßen und Steinhäuser werden immer näher gezeigt; detailliert kommen die Innenstadt und das neue Viertel in Sicht. Wo in der alten Stadt die »vielgestaltige architektonische Polyphonie«565 herrschte, »leuchtete die Umgebung der Krokodilgasse in jener weißen Leere, mit der man auf geographischen Karten die Polargebiete und die Landschaften unerforschter sowie 556 557 558 559 560 561 562
Ficowski 2008, S. 67. Ebd., S. 61. Ebd., S. 63. Golec 2006, S. 150. Pazi 1988, S. 97. Caneppele 2010, S. 24. Schulz 1994/c, Bd. 1, S. 70; Schulz 1998/f, S. 74: »Mój ojciec przechowywał w dolnej szufladzie swego głe˛bokiego biurka stara˛ i pie˛kna˛ mape˛ naszego miasta.« 563 Ebd.; »[…] tworzyły ogromna˛ mape˛ s´cienna˛, w kształcie panoramy z ptasiej perspektywy.« 564 Ebd.; »Z tej zwie˛dłej dali peryferji wynurzało sie˛ miasto i rosło ku przodowi.« 565 Ebd., S. 71; S. 75: »[…] wieloraka˛ polifonje˛ architektoniczna˛.«
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unsicherer Existenz zu bezeichnen pflegt«.566 Es ist ein industrieller und gewerblicher Distrikt, wo »dem alten, morschen Boden der Stadt« der Pseudoamerikanismus »aufgepfropft« wurde; er lässt hier »die üppige, wenn auch leere und farblose Vegetation trödlerhafter, schlechter Ansprüche emporschießen«.567 In der Krokodilgasse gibt es auch einen Zug (eine Straßenbahn?) – eines der markantesten Wahrzeichen der Modernisierung. Die Darstellung der Menschenmenge, die auf den Zug wartet, der hier ankommen soll, wirkt dagegen surrealistisch: »Sie warten lange und säumen als schwarze, schweigende Menge die kaum eingezeichneten Spuren der Gleise, die Gesichter im Profil, wie eine Reihe blasser Papiermasken, denen man die phantastische Linie des Starrens eingeschnitten hat«.568 Die Bemerkung, dass man übrigens nie sicher sei, wann der Zug ankommt, verleiht dem Ganzen eine ironische Schattierung. In der Krokodilgasse herrscht ein »Mangel an Farben«569; »gelegentlich bei Wanderungen durch diesen Stadtteil« habe man »tatsächlich« den Eindruck, in »langweiligen Rubriken kommerzieller Anzeigen zu blättern«.570 Diese Wanderungen seien »so schal und ergebnislos, wie die Anstrengungen der Phantasie, wenn sie durch Spalten und Kolumnen pornographischer Drucke gejagt wird«.571 Die Krokodilgasse, resümiert der Autor, »war ein Zugeständnis unserer Stadt an die Sache der Neuzeit und die großstädtische Verderbtheit«.572 Wie diese wenigen Beispiele veranschaulichen, dominiert bei der Gestaltung des Raumes des Industrieviertels der Textstadt von Schulz die phänomenologische Vorgehensweise, die auf Wahrnehmung und Leiblichkeit basiert. Es ist aber ein Erlebensraum unter dem Zeichen des »Minus«, eine Allegorie der Dekonstruktion der Identität im Zuge der Modernisierung. Dabei wird die Differenz zwischen dem eigenen Ich und allen formulierten sozialen Rollen besonders markiert.573 Sie erscheint nicht mehr als etwas Festes und klar Positioniertes wie es im Fall des eine Generation früher schaffenden ukrainischen Autors Ivan Franko war, in dessen Interessensfeld die Technisierung und Differenzierung der Gesellschaft, die die 566 Ebd.; »[…] okolica ulicy Krokodylej s´wieciła pusta˛ biela˛, jaka˛ na kartach geograficznych zwykło sie˛ oznaczac´ okolice podbiegunowe, krainy niezbadane i niepewnej egzystencji.« 567 Ebd.; S. 76: »Pseudoamerykanizm, zaszczepiony na starym, zmurszałym gruncie miasta, wystrzelił tu bujna˛, lecz pusta˛ i bezbarwna˛ wegetacja˛ tandetnej, lichej pretensjonalnos´ci.« 568 Ebd., S. 77; S. 82: »Czekaja˛ długo i stoja˛ czarnym milcza˛cym tłumem wzdłuz˙ ledwo zarysowanych ´sladów toru, z twarzami w profilu, jak szereg bladych masek z papieru, wycie˛tych w fantastyczna˛ linje˛ zapatrzenia.« 569 Ebd., S. 72; S. 77: »brak barw«. 570 Ebd.; »[…] gdyz˙ chwilami, we˛druja˛c po tej cze˛´sci miasta, miało sie˛ w istocie wraz˙enie, z˙e wertuje sie˛ w jakims´ prospekcie, w nudnych rubrykach komercjalnych ogłoszen´,« 571 Ebd., S. 73; S. 78: »[…] we˛drówki te były równie jałowe i bez rezultatu, jak ekscytacje fantazji, pe˛dzonej przez szpalty i kolumny pornograficznych druków.« 572 Ebd., S. 80; S. 85: »Ulica Krokodyli była koncesja˛ naszego miasta na rzecz nowoczesnos´ci i zepsucia wielkomiejskiego.« 573 Assmann 2011, S. 217.
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Modernisierung nach Galizien brachte, stand. Schulz könne, so Martin Sander, »die ferneren Ergebnisse dieser Entwicklung nur noch als immer diffusere, labyrinthische Struktur, als Terrain dauernder Grenzüberschreitungen übermitteln«.574 In seiner Darstellung wird die personale Identität von der Deformation begleitet; in den Vordergrund rutscht die Fragmentierung des psychischen Lebens – die Erscheinung der Moderne, die seine Texte aufs Beste präsentieren. Der Raum seiner Textstadt des Imaginären und Allegorischen wirkt im Vergleich zur Textstadt des Realen von Ivan Franko konträr: Er ähnelt einem Labyrinth.575 Daran zeigt sich, laut Sander, die wesentliche Differenz zwischen den beiden Schriftstellern: »Während Ivan Franko in seiner räumlichen Gliederung des narrativen Geschehens die neue Welt als geschlossenen und klar strukturierten Schauplatz der Moderne inszenieren kann, gerät sie bei Schulz zum Labyrinth voll ungeklärter Bedeutungen, mehr noch: zu einem Terrain ihrer dauernden Dekonstruktion«.576 Das industrielle Zeitalter brachte der Provinzstadt technischen Fortschritt, es bedrohte aber »die Existenz der als heil empfundenen Welt.«577 So lässt sich schlussendlich sagen, dass die Analyse der Darstellung der Modernisierungsprozesse in der galizischen Kleinstadt mit Hilfe der räumlichen Zugänge bei solchen hinsichtlich der Zeit, des kulturellen Milieus, der Sprache und der Paradigmen des künstlerischen Schaffens unterschiedlichen Autoren wie Ivan Franko und Bruno Schulz ein Beispiel geben, wie die Verwendung der Begriffe von Raum und Räumlichkeit zum wirksamen Erkenntnismittel werden. Im Falle der literarischen Texte, die als Medien einer »imaginären«, »literarischen Geographie« wirken, kann man dementsprechend vom epistemologischen Potential des Raumes sprechen. Dabei weisen die analysierten Texte typische sprachliche Codes auf, die sich als gemeinsame Topoi des Chronotopos »eine galizische Provinzstadt« im Schaffen auch anderer, zu verschiedenen nationalen Literaturen zugezählten Autoren wiederholen und im gesamten »Galizischen Text« vorkommen. Es sind diagnostische Wörter und Wendungen, die zwei disjunktive Bedeutungssphären widerspiegeln: Einerseits eine staubige, verschlafene Provinzstadt; Einbruch und Wendepunkt der Moderne mit sprunghafter Industrialisierung der Provinz sowie gesellschaftlichen Antagonismen wie Verschärfung der sozialen, ethnischen und konfessionellen Spannungen; Technisierung und Differenzierung der Gesellschaft; Dichotomie zwischen Reichtum und Armut; Proletarisierung der Bauern; galizische Provinz als Raum der allgemeinen Not; Elend der armen Bevölkerung (unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit); jüdisches Viertel als eine »armselige Ruine«; Antisemitismus als 574 Sander 1993, S. 265. 575 Die besten Beispiele davon liefern die Texte von Bruno Schulz Sklepy cynamonowe und Ulica krokodyli. 576 Sander 1993, S. 266–267. 577 Dutsch 1994, S. 349–350.
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Bekundung der Ideologie der Moderne; Verbreitung der Ideen des Klassenkampfes; Dekonstruktion der Identität im Zuge der Modernisierung; galizische Provinzstadt als ein »nicht durchaus idyllischer Ort«. Andererseits sind es solche positiv geladene Topoi wie galizische Kleinstadt als Erinnerungs- und Gedächtnisraum der Kindheit; Aisthesis des ländlichen und kleinstädtischen Raums Galiziens; Bedeutung sinnlicher Impulse für Mich-Gedächtnis; mythenbildende Sphäre der Kindheit, ihre Bilder als Programm für das Schaffen der galizischen Künstler; vormodernistisches Galizien als eine »heil empfundene Welt« sowie als »eines der interessantesten Gebiete Europas«.
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Das räumliche Modell Galizien als ein Transitraum
Die Frage nach dem Zusammenhang von sozialer Ordnung und Raum stellte sich in den Humanwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts: Über die Räumlichkeit des Sozialen als einer der Ersten schrieb Georg Simmel.578 Für das Vorbereiten des Denkens des aktuellen Spatial Turns wurden jedoch erst die Zugänge der Sozialwissenschaften entscheidend, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den sozialen und den physischen (geographischen) Raum nicht einfach trennten, sondern gemeinsam betrachten ließen, wie es Henri Lefebvre formuliert hat.579 Relevant wurde auch der von Michel Foucault konzipierte Begriff der Heterotopie – eine Kategorie, die »verwirklichte Utopien« bedeutet, in denen die realen Orte zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Heterotopien liegen, laut Foucault, außerhalb aller Orte, obwohl sie sich lokalisieren lassen. Zum Fortschreiber der Foucault’schen Konzeption von Gegen-Räumen wurde Marc Augé, der in der Arbeit Orte und NichtOrte580 über die Verschiebung und den Wechsel der räumlichen Parameter, die mit dem »Augenblick, da die Einheit des irdischen Raums denkbar«581 wurde, verbunden und zum realgeschichtlichen Faktum geworden seien. Unter den Nicht-Orten versteht Augé die Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind und die alten Orte, die laut der ethnologischen Tradition mit dem Begriff einer in Zeit und Raum lokalisierten Kultur verknüpft sind, nicht integrieren.582 Die Nicht-Orte seien anonym und austauschbar. Ihnen sei, laut Augé, zueigen, dass sie überall dort neu hervorgebracht werden, wo die Phänomene der Raumbeschleunigung und des Raumzerfalls wirken. Zu solchen Phänomenen gehören neue Fortbewegungstechniken, die eng mit der Migration verbunden sind und den Umgang mit Raum mitbestimmen. Nicht-Orte seien deren Produkt und beziehen sich auf »die für den beschleunigten Verkehr von Personen und 578 579 580 581 582
Simmel 2006, S. 289–303. Lefebvre 2006, S. 330. Augé 1994. Ebd., S. 39–40. Ebd., S. 93.
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Gütern erforderlichen Einrichtungen«.583 Sie werden von Augé als »das Maß unserer Zeit«584 definiert und werden für Transiträume typisch, unter denen er zerstückelte Wahrnehmungsräume permanenter Reisen versteht.585 Solche NichtOrte werden vom Gefühl der Entwurzelung und Entfremdung begleitet. Wenn, Augés Hypothese entsprechend, Nicht-Orte und Transiträume die (Über)Moderne hervorbringt586, so kann man ähnliche Phänomene, die diese Raumerfahrung begleiten, viel früher beobachten. Die Überlegungen des französischen Philosophen über den »Bruch zwischen dem Reisenden oder Schauenden und der Landschaft«587 kann man schon im Zeitalter der Postkuschen und später der Eisenbahnen finden, wie, zum Beispiel bei Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine und anderen. Sie führen »die Kritik der dynamisierten Landschaftslektüre«588 weiter, die zu einem Topos geworden ist. Denn die Interdependenzen von Raumerfahrung und technisch optimierten Fortbewegungsmitteln wurden, wie Manfred Schivelbusch schreibt589, nicht erst seit wenigen Jahren bemerkt und kritisiert. Diesen Topos kann man auch am Beispiel der Migrationsgeschichte der Habsburger-Provinz Galizien verfolgen, die sich für die Erforschung mehrerer sozialer und kultureller Prozesse eignet. Folglich wird anhand konkreter Textbeispiele aus unterschiedlichen Genres und Sprachen gezeigt, wie von der erzählten Welt der galizischen Literatur das räumliche Modell Galizien als ein Transitraum, in dem unterschiedliche Nicht-Orte lokalisiert sind, produziert wird. Für die Erforschung der räumlichen Mobilität in Galizien und ihrer Projektion in literarische Texte, in welchen Galizien als Raum der erzählten Welt gestaltet wurde, sind zwei Faktoren relevant. Vor allem ist es die liminale Lage dieser künstlich hervorgebrachten administrativen Einheit an der nord-östlichen Grenze der Monarchie zum Russischen Zarenreich, die von Anfang an die Spezifik des politisch-geographischen Raums Galiziens als eines Grenzlandes bestimmte. Diese Grenze, die bis zum Zerfall von Österreich-Ungarn 1918 existierte, teilte das ehemalig einheitliche politisch-geographische Territorium und seine Bevölkerung. Dementsprechend verschaffte die Grenzlage der Provinz Galizien die räumliche Relationalität im Sinne von Friedrich Ratzel.590 So wurde Galizien zu einem Schwellenraum zwischen zwei Kulturwelten und Identitätsbestimmungen, zwischen Westen und Osten. Die aus der Wiener Hofburg ge583 584 585 586 587 588 589 590
Ebd., S. 44. Ebd., S. 94. Ebd., S. 110. Ebd., S. 92–93. Ebd., S. 110. Christians 2010, S. 261. Schivelbusch 1977. Ratzel 2006, S. 388.
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führte Zivilisierungspolitik hinsichtlich Galiziens setzte die gegenseitige Migration in Gang. Außerdem bestimme die Lage, laut Ratzel, das wirtschaftliche und politische Gewicht des Landes.591 In dieser Hinsicht war die marginale Lage des nord-östlichen Kronlands nicht besonders günstig. Diesem Umstand zufolge setzte die Modernisierung in dieser entlegenen Region ziemlich verspätet ein. Einerseits kennzeichnete diese Verspätung die langwierige Industrialisierung und Technisierung der Provinz, andererseits verursachte sie die durch die Armut bedingte Emigration der Bevölkerung. Die späte Modernisierung erweist sich demzufolge als zweiter wichtiger Faktor der Thematisierung in den literarischen Texten über Galizien der Auswanderung, der Flucht und des Menschenhandels. Aus dieser Perspektive soll nachgefragt werden, wie die erwähnten Phänomene und Prozesse, die Galizien als einen Transitraum modellieren, in den Texten von Autoren, deren Schaffen aufs Engste mit dieser historischen Region verbunden war, reflektiert wurden. Die meisten dieser Autoren haben gemeinsam, dass ihr Leben auch von der Migration geprägt war. Der Bezug ihrer Texte zu Galizien – obwohl im unterschiedlichen historischen Kontext erschienen – ermöglicht es, sie typologisch zu vergleichen. Als einer der ersten deutschsprachigen Autoren thematisierte Galizien als ein Grenzland Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895). Beachtenswert ist hier seine kurze Novelle Der alte Pfarrer (1882)592, die außerhalb des Konvoluts der Texte des Schriftstellers steht, für die die Repetition der so genannten »masochistischen« Thematik eigen ist. Die Novelle ist der erzwungenen jüdischen Heimatlosigkeit gewidmet, dem Wandern der Juden als Ausdruck der »conditio judaica par excellence«.593 Das Verb »wandern« und seine Substantivierung wird zum Refrain der Novelle. Am Anfang des Textes entwirft Sacher-Masoch mit Hilfe der Toponymika den biblischen Raum des Umziehens der Juden (Ägypten, Kanaan, Babylon, Jerusalem), um ihn dann auf den »ganzen Erdboden«594 zu erweitern. Das raumreferentielle Konkretum »Osten« bezeichnet in der erzählten Welt der Novelle die »neu gefundene Heimat«595 der Juden. Diese Heimat inmitten der slawischen Umgebung wird als eine Heterotopie im Sinne von Michel Foucault dargestellt, als ein »anderer Raum«, der sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft verortet sei.596 Obwohl die Juden »sich um ihr Leben« »gleich den anderen, in deren Mitte sie wohnen«597, bemühen, leben sie jedoch im Ghetto nach der eigenen alten Tradition, die es als einen von Augé erwähnten Orten »des 591 592 593 594 595 596 597
Ebd., S. 389. Sacher-Masoch 1882, S. 147–151. Dolgan 2007, S. 29. Sacher-Masoch 1989, S. 34. Ebd., S. 34. Foucault 2006, S. 292f. Sacher-Masoch 1989, S. 34.
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eingeschriebenen und symbolisierten Sinnes«, als einen »anthropologischen Ort«, der »mit Leben erfüllt«598 sei, als einen »Wohnort« also, deuten lässt. Infolge der Misshandlungen einer »rohen«, »blöden Menge«599, die raubte, verwüstete und vernichtete, verwandelte sich der jüdische Wohnort in seinen Gegensatz – in einen Nicht-Ort: »… die Häuser wurden in die Trümmerhaufen verwandelt«.600 Die Gemeinde wird »ortlos«; sie wandert »dem fernen Westen zu«.601 Hier richtet Sacher-Masoch seine Aufmerksamkeit auf die historischen Tatsachen:602 In der Novelle Der alte Pfarrer kann man die Reaktion des Autors auf die antijüdische Pogromwelle im Mai 1881 in der ukrainischen Stadt Volocˇisk auf der russischen Seite jenseits des Grenzflusses und die Flucht ins österreichische Podwołoczyska diesseits, in Galizien, vermuten. Die Berichte von diesen Pogromen erschienen auch in der Neuen Freien Presse in Wien.603 Beim Überschreiten der ersehnten galizischen Grenze wurden die Vertriebenen aber mit neuen Hindernissen konfrontiert: Die k.u.k. Gendarmen und Zollwächter verlangten von den »Geplünderten, die nur das nackte Leben gerettet«604 hatten, Pässe und »Schätze«. Ein ukrainisches Dorf, wo sie angekommen waren, schien auf den ersten Blick ein »alter Ort« der christlichen Welt zu sein: »Ein freundliches Dorf, ein Kirchturm mit rotem, leuchtendem Dache«.605 Sacher-Masoch bezeichnet den konkreten Raum, in dem die Flüchtlinge Halt machen, topologisch, mit Hilfe der absoluten Ortsangaben: »auf dem Platz vor der Kirche beim Brunnen«.606 Diese Positionierung wird zur Andeutung des bevorstehenden Konfliktes. Die galizischen Bauern werden von einem »Taugenichts«607 aufgehetzt, dabei haben ihre judenfeindliche Gefühle »traditionell« gewordene Gründe – sowohl religiöse in Form von Andeutungen an die Kreuzigung Christi und an den rituellen Mord, als auch wirtschaftliche: »Ihr führt Schätze mit euch, die ihr dem armen Volke erpresst habt«.608 Das galizische Dorf verwandelt sich für die Juden von einem traditionellen christlichen Ort in einen Nicht-Ort; auch hier werden sie verfolgt und bleiben »Ort-los«. Die Obhut finden sie dank dem Eintreten eines griechischkatholischen Priesters hinter den Mauern des christlichen Friedhofes an der Kirche, wo ein Quasi-Übergangslager der Flüchtlinge entsteht – noch ein Beispiel der klassischen Foucault’schen Heterotopie. Nach drei Tagen und drei Nächten 598 599 600 601 602 603 604 605 606 607 608
Augé 1994, S. 97. Sacher-Masoch 1989, S. 34. Ebd. Ebd. Vgl. Kłan´ska 2002, S. 193–221. Adelsgruber/Cohen/Kuzmany 2011, S. 202. Sacher-Masoch 1989, S. 35. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 36.
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zwischen den Gräbern verlassen die Verfolgten nach der Buße der Bauern das Dorf, um in die galizische Kreisstadt zu den Glaubensgenossen zu ziehen. »Für wie lange?«609 stellt der Autor eine rhetorische Frage und skizziert das weitere erzwungene Wandern der Juden: »Dann heißt es weiterziehen, nach Spanien und weiter über den Ozean, dorthin, wo das Sternenbanner der Freiheit weht.«610 So gestaltet Sacher-Masoch Galizien als ein »Tor nach Westen«, das als Element der von ihm erzählten Welt zum spezifischen Modell des Transitraums permanenter Durchreisen wird. Seine Orte stellen keine Asyle dar, sondern verwandeln sich in die Nicht-Orte des Übergangs. Unter einer anderen Perspektive werden die Prozesse der räumlichen Mobilität und Entortung im galizischen Raum von Karl Emil Franzos reflektiert, einem etwas jüngerem Zeitgenossen Sacher-Masochs. In seinen kulturhistorischen und ethnographischen Kulturbildern, die er für die Neue Freie Presse unter dem emotional gefärbten Titel Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa schrieb, die später als Buch unter dem Titel Aus Halb-Asien zusammengefasst wurden, berichtet er von seinen Studienreisen in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Osteuropa, darunter auch nach Galizien und in die Bukowina – die Kronländer, in denen die Moderne gerade sich zu etablieren begann: Man stieg beim Reisen aus der Postkutsche ins Eisenbahncoupé um. Als Beispiel der Modellierung Galiziens als eines Schwellenraums zwischen Westen und Osten und dementsprechend als eines Transitraums der Migration, kann Franzos’ Feuilleton Gouvernanten und Gespielen (1876)611 aus dem zweiten Band der Kulturbilder gelesen werden. Der Autor nimmt die Tätigkeit ins Visier, »welche die ›Kulturträgerinnen‹ aus dem Westen« im Zuge der Modernisierung »in Russland und Rumänien, in Galizien und Ungarn entwickeln«.612 Mehrmals wird von Franzos die west-östliche Richtung der Migration betont, die nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch verursacht wurde: Nach Halb-Asien gehen Frauen und Mädchen aus den ärmlichen Verhältnissen Westens, vor allem aus der Schweiz, Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich und Italien.613 Diese »Länderskala« werfe, so Franzos, Licht »auf die Richtung der Kulturbestrebungen« der »Gebildeten und Halbgebildeten«614 im Osten: Gefragt werden Kenntnisse der französischen Sprache. Wiederholt benutzt Franzos das Handelsfachwort, das vor allem die Ausfuhr von Waren bedeutet, im Feuilleton sich jedoch auf die »Seelen« bezieht – der »Export«; er sei, so Franzos, »ein beständiger«.615 Es 609 610 611 612 613 614 615
Ebd., S. 38. Ebd. Franzos 1901. Ebd, S. 37. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd., S. 37.
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kommt also zum beschleunigten Verkehr von Personen, zur Situation, die die Entstehung des Transitraums prädisponiert. Denn, um mit Augé zu sagen, wäre der Raum des Reisenden »der Archetypus des Nicht-Ortes«.616 Relevant ist die Unbestimmtheit und die Entfernung der Orte in Halb-Asien, wo die westlichen Bildnerinnen und Gespielen einen Posten annehmen: Sie sind anonym und liegen »dreihundert Meilen weit von der Heimat«617 entfernt. Aus der Franzos’schen Perspektive, die immer eine westliche ist, sind diese Orte deiktisch als »dort« positioniert. »Dort«, im Unterschied zu Europa, gibt es keinen juridischen Schutz: »… in Europa ist die Themis nicht, wie in jenen Ländern, eine freche Dirne, die dem reichen Einheimischen vertraulich zublinzelt« und die Fremden »höhnisch fortweist«.618 Die jungen Bildnerinnen und Gespielen, wenn sie im Osten ankommen, werden verloren; mit dem Eintritt in die Orte, wo sie sich durch Arbeit ihr Brot zu verdienen hofften, ergeben sich Situationen des Missbrauchs; die Fremden werden zu Opfern. Franzos verweist auf die Fälle der »Schändlichkeit«, die »im Vorhinein geplant«619 wurde und spricht von den Agenturen, die die »Reisen nach dem Osten«620 vermitteln. Es geht um die Mädchen, die »man nur deshalb« nach Osten kommen lässt, »um sie zu Grunde zu richten«, um sie zu »verhandeln«: Sie »bevölkern dort zuerst die Häuser der reichen Wüstlinge und dann – die glücklicheren unter ihnen die Friedhöfe, die Unglücklicheren die Freudenhäuser«.621 Es fällt hier auf, dass Franzos die für die Foucault’sche Heterotopien typische Lexik verwendet: anonyme Häuser, Freudenhäuser, Friedhöfe. Ähnliches Schicksal erwartet auch jene »Knaben, die nach dem Osten gebracht werden, angeblich, um dort in den Häusern der Reichen als lebendige Grammatiken zu dienen«: In diesen Häusern werden sie häufig »als Gegenstand unnatürlichen Lüste missbraucht«.622 So gewinnen die Orte im Osten, das eigentliche Ziel der langen Reise der ehrlichen Arbeit wegen, den Charakter eines Nicht-Ortes; der Aufenthalt in ihnen wird zum Verweilen im Provisorischen, im Dazwischen. Zum Durchgangsraum in den meisten von Franzos geschilderten Fällen wird Grenzland Galizien. Um seinen Bericht für die Leser wahrheitsgetreu zu gestalten, veröffentlicht Franzos einzelne Fälle in Form der narrativen Skizzen, als persönliche Erinnerungen des homodiegetischen Erzählers. Diese in den Bericht eingefügten Episoden überwinden, Hildegard Kernmayer folgend, »die generischen Konventionen des klassischen Reiseberichts« und »lassen ›Halb-Asien‹ 616 617 618 619 620 621 622
Augé 1994, S. 103. Franzos 1901, S. 39. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd., S. 66–67. Ebd., S. 43. Ebd., S. 65.
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auch als ästhetischen Raum entstehen«.623 Es ist zum Beispiel die Geschichte einer »Französin«, die 1858 als Gouvernante im Hause des verwitweten galizischen Edelmanns Henryk von T. angestellt wurde, eines »schönen, stattlichen Manns in den Dreißigern«.624 Als er sie ähnlich wie viele andere missbraucht hatte, vergiftete sich die »Französin«. Das störte den Edelmann aber nicht, »noch lange in tausend Freuden zu leben und in seinen Kreisen sehr angesehen«625 zu sein. Es ist auch die Geschichte des Mädchens aus Genf, das bei einer russischen Generalin den Posten der Bonne bekam und mit ihr nach Galizien, dann auf das Gut bei Lipkani in Bessarabien zog, wo sie vom Sohn der Generalin, dem jungen Garde-Offizier aus Langeweile verführt wurde. Erniedrigt und verstoßen, bleibt sie hochschwanger allein. Der Ich-Erzähler hilft dem Mädchen, indem er es »mit Hülfe einiger polnischen Gulden, die beim russischen Naczalnik den fehlenden Pass ersetzten«, über die Grenze nach Österreich »schmuggelte«626, von wo aus es in die Heimat, nach Genf zurückkehren konnte. Galizien spielt in dieser Geschichte die Rolle des Transitraums – als solcher wird er nicht nur durch das Überqueren der Grenzen modelliert, sondern auch durch die Lokalisierung in Galizien der Nicht-Orte, wie sie die Schweizerin wahrnimmt: Es sind beispielsweise das Landgut des polnischen Edelmanns, das Haus der Generalin, wo das Mädchen eine Anstellung bekam, oder der Grenzübergang zwischen Russland und Österreich. Besonders aktiv wurden die Prozesse der räumlichen Mobilität in Galizien ab Ende des 19. Jahrhunderts. Die Folge der marginalen Lage der Provinz, ihrer wirtschaftlichen Benachteiligung und Rückständigkeit war, dass Galizien, wie die sozial engagierte jüdische Autorin Bertha Pappenheim, die damals Osteuropa bereiste, schrieb, seine Bevölkerung nicht ernähren konnte.627 Sprichwörtlich wurde der Titel des Buches von Stanisław Szczepanowski Ne˛dza Galicji w cyfrach [Das Elend Galiziens in Ziffern], das 1888 erschien und die »galizische Misere« durch Statistik belegte.628 Die Auswanderung der Bevölkerung aus dem habsburgischen Kronland, die Pappenheim als »die Evakuierung des Landes« bezeichnete629, wurde unvermeidlich, die räumliche Mobilität nahm dabei eine andere Richtung – die Emigration führte nach Westen, über den Ozean: Zum Ziel 623 624 625 626 627
Kernmayer 2007, S. 123. Franzos 1901, S. 51. Ebd., S. 53. Ebd., S. 63. Pappenheim 1992, S. 88. Vgl.: Pappenheim 1904. Bertha Pappenheim (1859–1936) war eine österreichische Frauenrechtlerin, die den »Jüdischen Frauenbund« gegründet hat. Bekannt wurde sie darüber hinaus als »Patientin Anna O.« Die von Josef Breuer zusammen mit Sigmund Freud in den Studien über Hysterie veröffentlichte Fallgeschichte war für Freud Ausgangspunkt für die Entwicklung der Psychoanalyse. 628 Vgl. Kłan´ska 2012. 629 Pappenheim 1992, S. 88.
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wurden vor allem die USA, Kanada, Brasilien und Argentinien. Hauptsächlich emigrierten die verarmten Vertreter aller drei wichtigsten Volksgruppen Galiziens – Ukrainer, Polen und Juden, um in der neuen Welt ein besseres Leben zu finden. Nur wenigen gelang es, Fuß in der Fremde zu fassen. Wie der aus Lemberg stammende polnische Ökonom Leopold Caro (ein Fachmann für die Auswanderung aus Österreich) berichtete, war die Reise besonders beschwerlich; die Lebens- und Arbeitsbedingungen erinnerten nicht selten an Sklaverei.630 Gleichzeitig florierte das Auswanderungsgeschäft: In Galizien waren mehrere legale und illegale Agenten tätig, die durch das ganze Kronland zogen. Zum Nebenprodukt der organisierten Emigration wurde der Menschenhandel. All diese Tatsachen haben einen Nachklang im Schaffen der galizischen Autoren gefunden, wie zum Beispiel bei Ivan Franko. Zwischen 1896–1898 veröffentlichte er auf Ukrainisch vier Gedichte unter dem gemeinsamen Titel Do Brazyliji! [Nach Brasilien!]631, in denen er das Schicksal der aus Galizien auswandernden ukrainischen Bauern darstellte. In diesem Zyklus offenbaren sich mehrere Phänomene der Raumbeschleunigung: Galizien gewinnt zufolge der Auswanderung den Charakter eines Transitraums – es wurde zum Aufmarschraum der Emigranten. Franko bezieht sich in diesen Gedichten auf die Tatsachen und bemüht sich, realistische Bilder zu schaffen. So fügt er dem ersten Gedicht Lyst do Stefaniji [Der Brief an Stefanie] (gemeint ist die Ehefrau von Kronprinz Rudolf von Habsburg, Kronprinzessin Stephanie von Belgien) folgende Anmerkung bei: 1895 ist der Emigrationsagent Jerholet durch fast ganz Ostgalizien gezogen, er war wie ein Bauer angezogen und hat die Menschen nach Brasilien herangelockt. Dabei verstellte er sich als verstorbener Erzherzog Rudolf. Es wurden mehrere ähnliche Briefe aus verschiedenen Randgebieten Galiziens geschrieben.632
Im Brief, den ruthenische Bauern an die Kronprinzessin schreiben, werden Versprechungen auf ein wohlhabendes Leben genannt, die der falsche Kronprinz, der nicht tot sei, sondern geheim in Galizien herumwandert, ihnen einredet. In Brasilien sollen sie, heißt es, unter seinem Zepter sorglos leben. Dabei kommt es zu humoristischen, fantastischen Darstellungen wie im Fall der Beschreibung der Affen, die alles für die Menschen tun und von selbst an die Arbeit gehen. Im zweiten Gedicht Koly pocˇujesˇ, jak v tysˇi nicˇnij… [Wenn du hörst, wie in nächtlicher Stille…] geht es aber um die leidvolle Reise der Emigranten ins Ungewisse. Zentral wird hier der Topos der Bahnfahrt beschrieben mit einem solchen typi630 Caro 1907, S. 12f. 631 Franko 1976, S. 263–271. 632 Franko 1976, S. 263. Die Tatsache, die von Franko erwähnt wurde, steht im Hintergrund des Titels des Buches von Martin Pollack Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien. (Pollack 2010).
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schen Nicht-Ort wie ein fremder Grenzbahnhof, wo die Emigranten aufgehalten, beschimpft, registriert und von den Gendarmen von den Schaltern weggestoßen werden; wo Mütter ihre Kinder in den Aborten stillen und in den Schlaf wiegen müssen. Viele Auswanderer werden nicht hereingelassen und werfen sich aus Verzweiflung auf die Schienen vor den abfahrenden Zug. Im dritten Gedicht Dva panky jdut’ popry nych [Zwei Herren gehen an ihnen vorbei] werden die Gleichgültigkeit derjenigen, die zu den oberen gesellschaftlichen Schichten in Galizien gehören sowie ihre Verachtung zu den Emigranten wiedergegeben. Das letzte, vierte Gedicht, das im Rhythmus eines Volksliedes geschrieben ist, schließt mit seiner Briefform den Zyklus ab. Der Brief, der die leidvolle Reise aus Galizien über Italien und weiter über die See nach Lateinamerika detailliert schildert, wird in Brasilien geschrieben und nach Hause geschickt. Es geht in ihm um die Krankheiten und die Todesfälle unter den Emigranten, wenn von vierzig Menschen nur achtzehn das Ziel erreichen konnten. Besondere Aufmerksamkeit hat bei Franko das Thema des Mädchenhandels aus Galizien auf sich gezogen. Über diese Art des Geschäfts im Kronland schreibt Martin Pollack im Buch Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien wie folgt: »Nach vorsichtigen Schätzungen werden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus Galizien pro Jahr ungefähr 10’000 Mädchen als Prostituierte allein nach Südamerika gebracht.«633 Dabei zitiert er Leopold Caro: »Aus keinem anderen Land Europas können Mädchen und Frauen so straflos weggeschleppt und in Übersee an Freudenhäuser verkauft werden wie aus Galizien.«634 In einem anderen Beitrag, nämlich in Halycˇyna-Transyt [Galizien-Transit] bezieht sich Pollack auf die Information aus der 1888 erschienenen Lemberger Tageszeitung Kurjer Lwowski, in der über die Tätigkeit einer Agentin aus Czernowitz, Anna Feldmann berichtet wird, die Mädchen an die Freudenhäuser lieferte.635 1891 wird in derselben Zeitung über Händler mitgeteilt, die »durch ganz Galizien« fuhren und Mädchen aus armen Familien, »sogar bei den Verwandten oder verelendeten Eltern«636 kauften. Auf all diese Fakten stützte sich Franko, als er 1892 in Wien eine kriminell gefärbte Erzählung zunächst auf Polnisch verfasste und 1897 selbst ins Ukrainische übersetzte: Dlja domasˇn’oho ohnysˇcˇa [Für den häuslichen Herd].637 Es geht in diesem Prosawerk um eine ukrainische Frau aus bürgerlichem Stand in Lemberg, die während der lang andauernden Abwesenheit ihres Ehemannes, der als k.u.k. Hauptmann in Bosnien diente, zusammen mit einer Komplizin, ebenfalls einer Dame aus der »besseren« Lemberger Gesellschaft, die ein teures 633 634 635 636 637
Pollack 2010, S. 57. Ebd., S. 57–58. Kurjer Lwowski, 1888, 7 sierpnia, in: Pollack 2008, S. 46. Kurjer Lwowski, 1891, 4 sierpnia, in: Pollack 2008, S. 48. Franko 1979. S. 7–143. Vgl. Woldan 2018, S. 21.
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Freudenhaus leitete, galizische Mädchen in die Prostitution in Lemberg und im Ausland (vor allem in Smyrna, Alexandria, Konstantinopel, Bombay und Rio de Janeiro) führte, um den Wohlstand ihrer Familie abzusichern. Die Möglichkeit dieser Tätigkeit in der galizischen Metropole zeugt von den Prozessen der Raumbeschleunigung, die die Moderne in Galizien begleiteten. Sie ist mit anonymen, austauschbaren Raumklischees verbunden wie Bahnhöfe, Casinos, Bordells, Büros der Polizeibehörden, also mit dem, was später von Augé als Nicht-Orte definiert wird. Tiefenpsychologisch gestaltet Franko die Prozesse des Raumzerfalls der von ihm erzählten Welt aus der Perspektive der erlebenden Subjekte. Prägnant ist hier die Veränderung der Raumwahrnehmung im Traum des Hauptmanns Antin Anharovycˇ, als die heimelige familiäre Umgebung der Wohnung sich in eine fremde verwandelt638, oder als er die Stimmung im Lemberger Casino in der Gesellschaft der anderen Offiziere wahrnimmt und fühlt, wie um ihn ein »leerer Raum« entsteht, eine »unangenehme, schwüle, tötende Atmosphäre«.639 Nachdem der Hauptmann von der Beschäftigung seiner Frau erfahren hat, verwandelten sich für ihn die vertrauten Lemberger Straßen, die Franko nach dem genauen Stadtplan mit Hilfe der Eigennamen konkretisiert, in ein chaotisches Labyrinth, in dem er ziellos herumirrt.640 Dem zunehmend antisemitisch geprägten Zeitdiskurs in der galizischen Gesellschaft entsprechend sind bei Franko die Haupttäter des Handels mit den »galizischen Mädchen«641 die Juden, obwohl, wie Alois Woldan bemerkt, »die Opfer der kriminellen Machenschaften, welche Aniela, Julia und Sternberg betrieben, […] ethnisch nicht zugeordnet«642 seien. Franko bemerkt sogar an einer Stelle im Text, dass ohne den jüdischen Agenten David Sternberg die beiden Frauen nicht in diese berüchtigten Machenschaften verwickelt worden wären.643 Die Rolle der Juden in den Prozessen der Migration in Galizien wird von Franko aber einseitig geschildert. Anders berichtet darüber Martin Pollack, der sich in Kaiser von Amerika auf die oben erwähnten Zeitungsangaben stützt. Im Text Handel mit delikatem Fleisch644 arbeitet er die in Kurjer Lwowski 1888 aufgeführte Geschichte von Anna Feldmann auf. Sie sei eine Händlerin jüdischer Herkunft, die jüdische Mädchen aus Galizien und der Bukowina an Bordelle verschacherte, mit dem Vorwand, »sie bei reichen jüdischen Familien im Ausland als Dienstboten«645 unterzu-
638 639 640 641 642 643 644 645
Franko 1979, S. 23–25. Ebd., S. 37. Ebd., S. 68, 105f. Vgl. Woldan 2018, S. 23. Ebd., S. 120: »halyc’ki divcˇata« [galizische Mädchen]. Woldan 2018, S. 27. Franko 1979, S. 123. Pollack 2010, S. 43–58. Ebd., S. 46.
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bringen. Im Text Polacas646 schreibt derselbe Autor, dass die meisten Prostituierten in Brasilien und Argentinien, die aus den polnischen Territorien stammten und dementsprechend so genannt wurden, gewöhnlich jüdischer Herkunft waren und »aus kleinen Schtetln in Galizien und Russland, aus den Elendsvierteln von Lemberg, Odessa, Warschau, Łódz´, Krakau«647 kamen. Die Geschichte der Auswanderung und des Menschenhandels wird im publizistischen Text den historischen Fakten entsprechend behandelt: Die osteuropäischen Juden nahmen in den Prozessen der Migration nicht nur die Stellung der Hauptakteure ein, sie gehörten auch zu den meisten Opfern. Detailliert schreibt darüber auch Bertha Pappenheim, die zusammen mit Sara Rabinowitsch 1903 eine monatelange Reise nach Galizien unternahm, um die dortige soziale Situation, insbesondere der jüdischen Familien zu untersuchen sowie die Gründe für Mädchenhandel und Prostitution in Osteuropa zu erforschen. Eines der Ziele dieser Untersuchung war die Bekämpfung des Mädchenhandels im jüdischen Milieu Galiziens. In ihren Reisebriefen, die unter dem Titel »Sisyphus-Arbeit«648 erschienen, erklärt Pappenheim die »Immoralität der Galizianerinnen« sowie die Sittlichkeitsfrage durch die damalige soziale Lage und macht Vorschläge zur Besserung der Situation. Ihre Idee, dass neben den sozialen Ursachen für solche »Geschäfte« das Streben der Mädchen und Frauen mit allen möglichen Mitteln Selbständigkeit zu gewinnen stand, korrespondiert in manchem Hinsichten mit dem Kontext der Frankos Erzählung Dlja domasˇn’oho ohnysˇcˇa. Pappenheim betont in einem der Vorträge wie folgt: »Viele Fehler, mancher Fehltritt, solche, die gut zu machen sind und solche, die nie mehr ungeschehen gemacht werden können, erklären sich aus diesem unklaren und doch so berechtigten Wunsche nach einem Eigenleben in irgend einer Form.«649 Nicht zuletzt spielte im Fall der osteuropäischen jüdischen Mädchen, so die Autorin, der Hang der Familien zu traditionellen Erziehungszielen und -methoden, der strenge Glauben und, als Folge, die Bestrebung der jungen Frauen da herauszukommen. Die Frömmigkeit kann, schreibt sie, die zunehmende Immoralität nicht aufhalten, im Gegenteil: Und so sehen wir denn auch, daß Galizien, das Reservoir der jüdischen Orthodoxie, seit vielen Jahren an Ungarn, Rumänien, London und viele Städte Amerikas einen bedeutenden Teil ihres Bedarfs an Mädchen »liefert«. Die Frömmigkeit, wie sie die orthodoxe Geistlichkeit verlangt, scheint nach dieser Richtung hin kraftlos zu sein […]650
646 647 648 649 650
Ebd., S. 224–235. Pollack 2010, S. 224. Pappenheim 1924; Pappenheim 1992, S. 19–24. Pappenheim 2015, e-Book. Pappenheim 1992, S. 20.
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In der aktiven Beteiligung der osteuropäischen Juden an den Emigrationsprozessen, darunter am Menschenhandel, spielten aber mehrere Faktoren mit: einerseits die zunehmend schwieriger werdenden Lebensbedingungen, die mit dem Verbot für die Juden zu tun hatten, Acker zu besitzen und zu bearbeiten, der unter den Bedingungen der modernen Konkurrenz problematischer gewordene Hausiererhandel (in der Literatur wurden diese prekären Situationen als »Luftexistenzen« bezeichnet), die ungeregelten, zur Verarmung führenden Steuergesetze; andererseits die transitäre Position der Juden in der galizischen Gesellschaft, ihre traditionelle Rolle als Händler, Kaufleute und Bankiers, die mit den entsprechenden Kenntnissen und Beziehungen weltweit verbunden waren, sowie nicht zuletzt auch ihre permanente Wanderschaft. Eine besondere Stellung nehmen all diese gesellschaftlichen Phänomene im Schaffen von Joseph Roth (1894–1939) ein, obwohl er alle seine »galizischen« Texte im Vergleich zu den erwähnten Autoren in der Zeit schrieb, als Galizien als eine administrative Einheit der Habsburgermonarchie nicht mehr bestand und sein sozialer Raum sich infolge mehrerer gesellschaftlicher Prozesse grundsätzlich geändert hatte. Er schilderte den sozialen Raum Galizien retrospektiv, wie er im Laufe des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde und zum Zeitpunkt seiner Geburt bestand. In Brody, einer Handelsstadt an der österreichisch-russischen Grenze, 1894 geboren, wurde Roth früh zum Zeugen der stärksten Abwanderung aus seiner Heimatstadt, als Brody die Funktion der Handelsdrehscheibe verlor und sein Verfall einsetzte.651 Die Themen und Motive, die Roth aufgreift, bilden mehrere Gründe und Prozesse der Emigration aus Galizien ab. So schrieb Roth im von seiner Kindheit inspirierten parabelhaften Text Erdbeeren (1929)652, der unvollendet geblieben ist, (dabei nannte ihn Andrea Manga Bell den »schönsten Roman, den er nie geschrieben hat«653) wie folgt: »Unsere Stadt war arm. Ihre Einwohner hatten kein geregeltes Einkommen, sie lebten von Wundern. Es gab viele, die sich mit nichts beschäftigten. […] Man lebte von guten Gelegenheiten«.654 Die Armut der Stadtbewohner – in Brody waren es über achtzig Prozent Juden – wurde zu einem der Gründe für die Emigration. Wie Pollack, Bezug auf die zeitgenössische Dokumente nehmend, vermerkt, verließ nach den statistischen Angaben zwischen 1881 und 1910 insgesamt ein Viertel der jüdischen Bevölkerung Galizien; die meisten machten sich in die Vereinigte Staaten auf, um »ihr Heil in Amerika«655 zu suchen. Diese Tatsachen stehen im Hintergrund von Erdbeeren, wenn Roths Darstellung auch groteske, märchenhafte Züge annimmt
651 652 653 654 655
Kuzmany 2011, S. 95–99. Roth 1989, 1008–1036. Nach Bronsen 1993, S. 19. Roth 1989, S. 1030. Pollack 2010, S. 80.
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wie zum Beispiel: »Meine sieben Brüder verließen das Haus und die Heimat«656, oder manchmal sogar eine ehrgeizige Schattierung aufweist: »Meine Landsleute waren begabt. Viele leben in großen Städten der alten und neuen Welt. Alle sind bedeutend, manche berühmt«657, oder resümierend: »Die Klügsten wanderten nach Amerika aus.«658 Nicht außer Acht hat Roth ebenso die Bereicherungsgeschäfte der Auswanderungsagenten und der Akteure des Schmuggels gelassen, die Schwarzhandel mit jeder möglicher Ware, sogar mit den Menschen betrieben. Ihre Gestalten schildert er ebenso in seinen Galizien-Romanen Radetzkymarsch (1932) und Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters (1937). In Erdbeeren heiß es: Einige Männer beschäftigten sich mit der Beförderung junger Männer nach Amerika und mit der Herstellung falscher Papiere. Sie verdienten viel. Sie waren nicht zuverlässig. Im letzten Augenblick, wenn man schon in der Eisenbahn saß und ehe man die Grenzen des Landes verlassen hatte, schickten sie ein Telegramm an die Behörde, und man kam ins Zuchthaus und nicht nach Amerika. Mit den Auswanderungsagenten musste man gut leben.659
Zentral wurde das Thema der Emigration der jüdischen Familien nach Westen, vor allem in die USA, in einem der bekanntesten Romanen von Roth Hiob (1930).660 Obwohl es ums Milieu eines Schtetls an der damaligen österreichischrussischen Grenze geht (der Protagonist des Romans Mendel Singer bezeichnet sich in New York als ein »russischer Jude«), unterscheidet es sich de facto nicht vom mühseligen Leben in jüdischen Gemeinden Galiziens. Mit der Auswanderung der Familie Singers nach Amerika kommt aber ein neues Motiv bei Roth auf: Es ist das Gefühl der Nostalgie nach der verlorenen Heimat, das Roth selbst auch gut bekannt war. Dabei wird in seinem Text das osteuropäische Schtetl an der Grenze zu Galizien, wo die jüdische Familie ihre Wurzeln hatte, als ein »alter«, »anthropologischer«661, mit Leben erfüllter Ort dargestellt, dagegen New York – als ein zerstückelter Wahrnehmungsraum, als ein Nicht-Ort im Sinne von Augé. Eben an diesem Ort empfinden die Emigranten das Gefühl der Entwurzelung und der Entfremdung. Hier, in Amerika, scheinen sogar die Sternbilder »zerhackt« zu sein, dagegen werden die Begriffe »Heimat« und »zu Hause« vom Protagonisten mit dem verlassenen Ort an der russisch-österreichischen Grenze assoziiert:
656 657 658 659 660 661
Roth, 1989, S. 1013. Ebd., S. 1008. Ebd., S. 1020. Ebd., S. 1020–1021. Roth 1990, S. 3–136. Augé 1994, S. 93.
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Mendel Singer entzündete die Kerze in der grünen Flasche neben dem Bett und ging ans Fenster. Da sah er den rötlichen Widerschein der lebendigen amerikanischen Nacht, die sich irgendwo abspielte, und den regelmäßigen silbernen Schatten eines Scheinwerfers, der verzweifelt am nächtlichen Himmel Gott zu suchen schien. Ja, und ein paar Sterne sah Mendel ebenfalls, ein paar kümmerliche Sterne, zerhackte Sternbilder. Mendel erinnerte sich an die hellgestirnten Nächte daheim, die tiefe Bläue des weitgespannten Himmels, die sanftgewölbte Sichel des Mondes, das finstere Rauschen der Föhren im Wald, an die Stimmen der Grillen und Frösche. Es kam ihm vor, dass es leicht wäre, jetzt, so wie er ging und stand, das Haus zu verlassen und zu Fuß weiterzuwandern, die ganze Nacht, so lange, bis er wieder unter dem freien Himmel war und die Frösche wahrnahm und die Grillen und das Wimmern Menuchims. Hier in Amerika gesellte es sich zu den vielen Stimmen, in denen die Heimat sang und redete, zum Zirpen der Grillen und zum Quaken der Frösche. Dazwischen lag der Ozean, dachte Mendel. Man musste ein Schiff besteigen, noch einmal ein Schiff, noch einmal zwanzig Tage und Nächte fahren. Dann war er zu Hause bei Menuchim.662
Es gibt folglich unter Roths »galizischen« Texten fast keine, in denen die Prozesse der räumlichen Mobilität und Entortung nicht geschildert werden. Sie thematisieren galizische Armut, Grenzüberschreitungen und Grenzschmuggel, Menschenhandel, Auswanderung, die jüdische Wanderschaft und als Folge die Sehnsucht nach der für immer verlorenen Heimat. Nicht zufällig kommen in diesen Werken mehrere Foucault’sche Heterotopien, solche wie Ghettos, Jahrmärkte, Friedhöfe, Gefängnisse, Schiffe, aber auch Augés Nicht-Orte wie Bahnhöfe, Grenzschenken und Hotels vor. Sie alle prägen den von Roth gestalteten sozialen Raum seines Herkunftslandes als einen Transitraum zur Zeit der »großen Flucht aus Galizien«.663 So lässt sich als Fazit sagen, dass aufgrund der räumlichen Analyse der Texte aus und über Galizien sein epistemologisches Potential als eines Grenz- und Schwellenraums gezeigt werden kann. Die hier besprochenen Autoren schrieben in unterschiedlichen Zeiten, ihr Schaffen weist poetologische Differenzen auf. Sie gestalteten aber den gleichen geographisch-politischen Raum und die gleichen Prozesse, die für die Gesellschaft Galiziens im ausgehendem 19. – am Anfang des 20. Jahrhunderts typisch geworden waren. Die gemeinsamen Topoi des sozialen Raums Galizien, die in diesen Texten vorkommen, solche wie räumliche Mobilität, Heterotopien und Nicht-Orte, charakterisieren ihn als einen Transitraum, der von permanenter Fortbewegung, von Grenzgängen und Grenzüberschreitungen, von der Migration in beide Richtungen, in der ost-westlichen, aber auch in der west-östlichen gekennzeichnet war. Diese Topoi sind auf unterschiedliche Weise sprachlich kodiert und werden zur permanenten Konstante des »Galizischen Textes«. Zu den am häufigsten vorkommenden Elementen gehören die für 662 Roth 1990, S. 86–87. 663 So der Nebentitel des Buches von Martin Pollack »Kaiser von Amerika«: Pollack 2010.
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diesen gemeinsamen Text traditionell gewordene Wörter und Wendungen, wie »galizische Misere«, die Grenze, die Grenzlage, der Grenzschmuggel, »anonyme« Orte, weite Entfernungen, das »permanente« Wandern, »Evakuierung« des Landes, die Emigration in die USA und nach Brasilien, Versprechungen des wohlhabenden Lebens in der Fremde, leidvolle Reise der Emigranten ins Ungewisse, Menschenhandel mit seinen Akteuren und Opfern, Galizien als »ein Tor nach Westen« sowie die Sehnsucht nach der für immer verlorenen Heimat. All diese diagnostisch wichtigen Codes gestalten ein einheitliches, konzentriertes Bild vom sozialen Raum Galizien zur Zeit der verspäteten Modernisierung als von einem transitären Raum der Migration.
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Die Schenke als Heterotopie und Nicht-Ort im Transit: Zum intertextuellen Topos der galizischen Literatur
»Am Anfang war der Schnaps« – lautet der erste Satz des vom ukrainisch-galizischen Dichter, Schriftsteller und Publizisten Ivan Franko für die Wiener »Die Zeit« in Deutsch verfassten Artikels Die galizische Schöpfungsgeschichte. Er schreibt: »Es war zuerst chaotisch. Ein jeder durfte ihn brennen, verkaufen oder auch höchsteigen trinken.«664 Später hat man in Galizien in den Schenken getrunken, die in der Regel einem jüdischen Wirt gehörten und sich außerhalb der Gemeinde befanden. Dazu gab es objektive Voraussetzungen, die in der früheren Periode der galizischen Geschichte wurzelten: Im polnischen Königreich boten sich für die jüdische Bevölkerung ziemlich gute wirtschaftliche Möglichkeiten, da die Zünfte weniger stark ausgebildet waren und die Juden sich in mehreren Gewerben und Handwerk betätigten konnten.665 Eine neue Periode in der politischen und sozialen Lage der galizischen Juden begann mit der Errichtung der habsburgischen Provinz 1772; eine radikale Änderung kam jedoch erst 1848 – den österreichischen Juden wurden wie den Christen dieselben Eigentumsrechte verliehen. Die galizischen Juden dürften sich aber nur in den kleinen Provinzstädten ansiedeln; in der Hauptstadt der Provinz, Lemberg, wurde es ihnen nur im Judenviertel gestattet. Die Städte, die von vornherein das Recht »de non tolerandis iudaeis«666 besaßen, haben es in der Regel behalten. Darin liegt die Ursache, dass die von Juden geführten Schenken sich üblicherweise am Rande der Ortschaften befanden. Ungeachtet dieser Tatsache wurde der jüdische Schankwirt im Laufe der Zeit zu einer typischen Erscheinung der Berufsstruktur der Juden Osteuropas; die Schenke selbst wurde dabei zu einem immer wiederkehrenden Topos sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur. Man kann seine intertextuelle Zirkulation verfolgen, darunter auch im Schaffen der Autoren, die in und über Galizien schrieben. Es soll folglich aufgrund der Beispiele aus diesen Texten 664 Franko 1901, S. 18. 665 Vgl. Honigsmann 2007, S. 42–45. 666 Ebd., S. 44.
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Die Schenke als Heterotopie und Nicht-Ort im Transit
gezeigt werden, welche Rolle der Topos der Schenke im »Galizischen Text« als gemeinsamer vielsprachiger Erzählung dieses Raumes spielt und wie er hinsichtlich der Zeit der Abfassung einzelner Werke, ihrer Zugehörigkeit zu einzelnen »nationalen Literaturen« der Region sowie der objektiven und subjektiven Spezifika des Schaffens einzelner Autoren nuanciert wird. Neben den hermeneutischen Zugängen soll das heuristische Potenzial der Analysekategorien »Raum« und »Räumlichkeit« innerhalb der Literaturwissenschaft und ihrer Nachbardisziplinen gebraucht werden, insbesondere solcher Begriffe wie Heterotopie von Michel Foucault667 und Nicht-Ort von Marc Augé668, aber auch etwas früherer Konzepte wie Chronotopos von Michail Bachtin669 und Grenze von Jurij Lotman.670 Die räumliche Anordnung der Schenke als eine Heterotopie und ein transitärer Nicht-Ort, der »außen« lokalisiert war, erfolgt aufgrund der Tatsache, dass sie sich »am Wege« befand und folglich mit der Bewegung im Raum verbunden war: Zu einer Schenke musste man hingehen oder hinfahren; oft kehrte man in ihr auf Reisen ein. Da der Topos der Schenke in galizischen Texten, die unterschiedliche Zeit-und-Raum-Beziehungen künstlerisch erfassen, vorkommt, bekommt bei seiner Deutung der Bachtins Begriff des Chronotopos des Weges und des eng mit ihm verbundenen Motivs der Begegnung eine besondere Bedeutung.671 Mit ihnen lässt sich, so Bachtin, auch ein weiterer, »von hoher emotionalwertmäßiger Intensität durchdrungener Chronotopos«, der der Schwelle, verbinden, dessen wesentliche Ergänzung der Chronotopos der Krise und des Wendepunkts im Leben seien.672 In der Literatur kommt dieser Chronotopos – so Bachtin – immer »metaphorisch und symbolisch«673 vor. Eine besondere Ausformung bekommt unter diesem Blickwinkel die Lokalisierung der Schenke an der Grenze, insbesondere, wenn es um die topologische Grenze zwischen verschiedenen Kulturen und/oder um die topographische Grenze zwischen verschiedenen staatlichen Gebilden geht, wie im Fall Galiziens. In diesem Sinne kommt dem Begriff die »Grenzschenke«, die in den galizischen Texten öfters vorkommt und einen topologischen sowie topographischen Bezug aufweist, eine symbolische Bedeutung zu. Welche Rolle für die Struktur des künstlerischen Textes das räumliche Phänomen der Grenze spielt, hat Jurij Lotman bewiesen: Die Grenze wird bei ihm zum zentralen Strukturmerkmal der einzelnen Raum-
667 668 669 670 671 672 673
Foucault 2006, S. 320f. Augé 1994. Bachtin 1989. Lotman 1972. Vgl. Bachtin 1989, S. 21f. Vgl. Ebd., S. 453. Ebd.
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Entwürfe, die es vermögen, Begriffe zu modellieren, »die an und für sich nicht räumlicher Natur sind«.674 Vor dem Hintergrund dieser Raumtheorien und räumlichen Zugänge, die sich für die Beantwortung mehrerer Fragestellungen der galizischen Literatur als textimmanent erweisen, kann man das Funktionieren des Topos der Schenke bei mehreren Autoren verfolgen, die in verschiedenen, für Galizien typischen Sprachen und zu unterschiedlichen Zeiten ihre Werke verfassten. Dieser Längsschnitt gestattet es, die galizische Schenke als eine in den literarischen Texten narrativ modellierte Heterotopie und als ein Nicht-Ort im Transit zu beschreiben. So steht sie aber nicht im Gegensatz zur Realität Galiziens, sondern dupliziert diese in ihrem imaginierten Raum. Zu den ersten markanten Beispielen der Darstellung einer Schenke in der fiktionalen deutschsprachigen Literatur über Galizien gehört die einführende Episode in der Novelle von Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895) Don Juan aus Kolomea (1870), die dem jungen Schriftsteller einen großen Erfolg bescherte. Die aus der Ich-Perspektive des Autors beschriebene galizische Schenke am Rande einer Dorfstraße wird zum Handlungsort der für Sacher-Masoch typischen Umrahmung des Textes. Einerseits ist es ein vollkommen realer Ort, einer von vielen im damaligen Galizien. Andererseits wird seine Realität bei SacherMasoch in Frage gestellt, da die von ihm beschriebene Schenke einen direkten Bezug auf einen für die Geschichte des österreichischen Galiziens wichtigen Zeitbruch aufweist und folglich die Zeit an einem Ort akkumuliert. Es sind die polnischen Aufstände der 1830er Jahre, deren Folgen auf den 1836 in Lemberg geborenen Sohn eines Polizeidirektors und zukünftigen liberalen österreichischen Beamten einen großen Einfluss hatten. Nicht zufällig wird im Text der Novelle die Bezeichnung des Ich-Autors als »einen durch und durch schwarzgelben Herren«, dessen Gesicht und dessen Seele schon »ganz schwarzgelb« seien, verwendet.675 Die Eindrücke aus dem väterlichen Haus, wo sich auch ein Kerker befand, spielten für die Sym- oder Antipathien des Schriftstellers für die Vertreter einzelner Völker Galiziens eine entscheidende Rolle. Das kommt schon im ersten Satz der Novelle zum Ausdruck, wenn der Autor über die Äußerung eines Polen bezüglich Freitags im Sinne eines »guten Anfangs« ironisiert und sein Einverständnis mit den Worten des galizisch-deutschen Kolonisten zeigt, der behauptet, das der Freitag ein Unglückstag sei, »denn an diesem Tag sei unser Herr am Kreuze gestorben«.676 Mehrere andere Bemerkungen sowie die Narrationsweise Sacher-Masochs zeugen davon, wen er in diesem gesellschaftlichpolitischen Konflikt unterstützt: Es sind die ruthenischen Bauern, die auf der 674 Lotman 1972, S. 329. 675 Vgl. Sacher-Masoch 1985, S. 20. 676 Vgl. Ebd., S. 19.
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Seite der habsburgischen Verwaltung stehen und als Bauernwache die vermuteten Verschwörer, die polnischen Insurgenten also, in der Schenke einsperren. Somit übt sie die Funktion einer Haftanstalt aus und wirkt schon beim ersten Anblick beunruhigend. Sacher-Masoch beschreibt das wie folgt: Von weitem schien es vor derselben von Zeit zu Zeit aufzublitzen. Es war die aufwärts genagelte Sense eines Bauers, der vor der Thüre Wache hielt, und gerade über dem Rauchfang der Schenke stand der Mond und blickte auf den Bauer und seine Sense. Er blickte durch das kleine Fenster der Schenke und warf seine Lichter wie Silbermünzen hinein, und füllte die Pfützen vor dem Hause mit Silber, […].677
Die Schenke der Sacher-Masoch’schen Novelle wird aber nicht nur wegen des Zusammenhangs mit dem Zeitbruch in Galizien zu einer Heterotopie. Sie befindet sich an einer Landstraße und ist ausdrücklich mit dem ständigen Betreten und Verlassen verbunden, infolgedessen ihre Zeit-und-Raum Beziehung »klassische« Merkmale des Bachtins Chronotopos des Weges und der Begegnung aufweist. Sie ist in der Lage, mehrere Sozial- und Kulturräume an einem einzigen Ort zu vereinen und zueinander in Beziehung zu setzen: In ihr begegnen sich die Vertreter verschiedener sozialer Schichten und kultureller Gruppen der nordöstlichen habsburgischen Provinz, die hier nebeneinander leben; infolgedessen akkumuliert der imaginierte Raum der galizischen Schenke mehrere Beispiele für den Austausch als auch für die Konflikte unter ihnen. Als eine Heterotopie erfüllt die Sacher-Masoch’sche Schenke außerdem noch eine Funktion des »andersartigen Ortes«: Neben dem realen Raum bildet sie im Text zugleich einen mythischen Gegensatz zur Realität. Der Grundton des inneren Raums der Schenke ist »Grünspan«, alle Gegenstände und alle Anwesenden sind in grünliches Licht getaucht. Meisterhaft gibt der Autor diese Nuance der Beleuchtung des Raumes wieder: Grüner Schimmel an den Wänden, der große viereckige Ofen wie mit Grünspan lackiert, grünes Moos wuchs aus den Feldstein-Parketen Israels. Grüner Bodensatz in den Schnapsgläsern, wirklicher Grünspan an den kleinen Blechmaßen, aus denen die Bauern tranken, wenn sie an den Schenktisch traten und ihre Kupfermünzen hinlegten. Eine grüne Vegetation bedeckte den Käse, den Moschku mir vorsetzte, und sein Weib saß im gelben Schlafrock mit großen Grünspanblumen hinter dem Ofen und schläferte ihr blaßgrünes Kind. Grünspan in dem abgehärmten Gesicht des Juden, Grünspan um seine kleinen unruhigen Augen, um seine dünnen, bewegungsvollen Nasenflügel, in seinen höhnisch verzogenen, sauren Mundwinkeln.678
Das grüne Licht und das Grünspan-Motiv verleihen der Schenke einen archaischen Zug; sie wird außer Zeit gestellt und auf diese Weise mythologisiert. Der
677 Ebd., S. 20. 678 Ebd., S. 21.
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Besitzer der Schenke gewinnt dabei die Züge des »Ewigen Juden«.679 In diesem Sinne wird auch seine Frau geschildert. Mit wenigen Strichen gelingt es SacherMasoch bei der Darstellung ihrer Gestalt das traurige Los der Juden wiederzugeben: Sie war schön, als Moschku sie heimführte, ich wette darauf. Jetzt ist alles so befremdend scharf in ihrem Gesichte. Schmerzen, Schande, Fußtritte, Peitschenhiebe haben lange in dem Antlitz ihres Volkes gewühlt, bis es diesen glühend welken, wehmüthig höhnischen, demüthig rachelustigen Ausdruck bekam. Sie krümmte ihren hohen Rücken, ihre feinen durchsichtigen Hände spielten mit dem Branntweinmaß, ihre Augen hefteten sich auf den Fremden. Eine glühende, verlangende Seele stieg aus diesen großen schwarzen, wollüstigen Augen, ein Vampyr aus dem Grabe einer verfaulten Menschennatur, und saugte sich in das schöne Antlitz des Fremden.680
Das Vampir-Motiv, das hier eine erotische Schattierung hat, wie es für SacherMasoch üblich ist, kommt aber in den galizischen Texten auch im anderen Kontext vor, und zwar als eine Komponente des sozialen Diskurses, der aus der postkolonialen Perspektive geführt wird.681 Die Juden Galiziens, darunter auch die Besitzer der Wirtshäuser, werden unter diesem Blickwinkel als Ausbeuter gedeutet, die neben den polnischen Adeligen »Blut und Schweiß« aus den galizischen Bauern aussaugen. Besonders prägnant ist dieses Motiv für das Schaffen von Ivan Franko, vor allem für seine gesellschaftskritischen Texte, die unter dem Einfluss von Émile Zola entstanden sind. Eine besondere Stelle nimmt darunter der Zyklus Boryslav. Kartyny z zˇyttja pidhirs’koho narodu [Boryslav. Bilder aus dem Leben des Volkes am Fuße der Karpaten] ein, den er in den 1870er Jahren schrieb und in dem er die Prozesse der Industrialisierung Galiziens, mit denen die Entwurzelung dieses Raumes sowie seine Ruinierung verbunden war, im Stil des rigorosen Realismus darstellte. Im Zentrum dieser Texte steht der erste Aufschwung der Naphtha- und Erdwachsproduktion in Boryslav, mit dem solch kontroverse Begriffe wie »Galizisches Pennsylvanien« und »galizische Hölle« verbunden waren.682 Boryslav sei dabei, schreibt Franko über diese Ortschaft, »[…] kreuz und quer alle umliegenden Dörfer auszusaugen und die junge Generation […] zu verschlingen.«683 Zu den aktivsten Unternehmern gehörten von Anfang an die galizischen Juden, aber auch diejenigen, die aus dem Zentrum oder aus anderen Teilen der Monarchie kamen. Sie »kauften oder pachteten von den ahnungslosen ruthenischen 679 Hier geht es um die Figur des ewig durch die Zeiten wandernden Juden, die in zahlreichen literarischen Werken, in der Malerei und der Musik thematisiert wird. 680 Ebd., S. 23. 681 Vgl. Augustynowicz 2011. 682 Vgl. Pollack 1984, S. 34–35. 683 Franko 1978, S. 276: »[…] Boryslav vysysaje vzdovzˇ i vsˇyr vsi susidni sela – pozˇyraje molode pokolinnja […].« (Übersetzung aus dem Ukrainischen von Stefan Simonek).
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Bauern kleine Parzellen«, auf denen »Schacht neben Schacht angelegt wurde«.684 Diesem Thema ist Frankos zum Boryslaver-Zyklus gehörende Erzählung Navernenyj hrisˇnyk [Der bekehrte Sünder] gewidmet, die er 1877 veröffentlichte. Es ist die Geschichte eines einst wohlhabenden Bauern mit Namen Wassyl Pivtorak, den ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft: Nach der Entdeckung einer Erdölquelle auf dem seit Generationen der Familie gehörenden Boden versucht er, daraus Gewinn zu erzielen, und fängt mit Hilfe seiner Söhne an, einen Schacht zu graben. Aus Mangel an Erfahrung verunglücken dabei zwei von seinen drei Söhnen tödlich. Die Frau des Bauern stirbt nach dem Begräbnis des zweiten Sohns aus Gram. Der verwaiste Bauer sucht Trost im Alkohol und geht an ihm zugrunde. Der Jude Schmilo, ein Schankwirt bei Boryslav, nutzt die Frustration und die Alkoholabhängigkeit des alten Bauern aus, um dessen Boden für miserables Geld zu gewinnen. In kurzer Zeit richtet er auf dem erworbenen Feld mit der Hilfe technischer Erfindungen von damals einige Gruben ein und erzielt einen großen Gewinn. Die galizische Schenke gehört in der Erzählung zu den zentralen Handlungsorten. In Frankos Darstellung ist sie mit der Heterochronie, der raschen, aber auch chaotischen Industrialisierung verbunden, die den traditionellen Raum des Dorfes ruiniert: Überall Bewegung, Lärm, Geschrei, Gebrüll der Säge, Schläge der Hämmer, aber es ist nicht die lebendige, frische Beweglichkeit des Frühlingslebens auf dem Lande, das sind die unheilverkündenden Stimmen, die Vorboten des neuen Lebens, eines schweren, schmutzigen, freudlosen, zu dem von nun an das elende Boryslav verurteilt ist.685
In dieser Hinsicht wird die dargestellte Schenke zu einer Heterotopie, zum Ort der Begegnung der Vertreter unterschiedlicher sozialer Schichten von Boryslav: »Im Schmilos Wirtshaus flimmern zwei Kerosinlampen, die mit dem blassen Licht eine Gruppe von Menschen beleuchten.«686 Es sind vor allem die proletarisierten ehemaligen Bauern, die »Erdölgräber«, die in der Schenke mit großem Verlangen essen und ihren Wochenlohn vertrinken. Ihre Hände, ihre Gesichter und Hemde sind mit Erdöl beschmiert. Am Haupttisch sitzt eine andere Gruppe von Menschen. Es sind die »viel anständiger aussehende[n]«687 Bürger von Boryslav, die zu Schmilo gekommen sind, um sich zu stärken, zu erfrischen und miteinander zu reden. Obwohl sie sich »wie zu Hause«688 benehmen, spüren sie 684 Vgl. Pollack 1984, S. 32. 685 Franko 1978, S. 337: »Vsjudy ruch, hamir, kryky, harkit pyly, stuk toporiv, ale se ne tota zˇyva, svizˇa ruchlyvist’ sil’s’koho vesnjanoho zˇyttja, se zlovisˇcˇi holosy, peredvisnyky novoho zˇyttja, tjazˇkoho, brudnoho, neradisnoho zˇyttja, na kotre vidteper zasudzˇenyj bidnyj Boryslav.« 686 Ebd., S. 339: »U Sˇmilovij korcˇmi blymaje dvi naftivky, osvicˇujucˇy blidym prominnjam cilu hromadu ljudej.« 687 Ebd.: »Vony vyhljadajut’ daleko pokaznisˇe i porjadnisˇe, […].« 688 Ebd.: »[…] povodjat’sja mov u sebe doma.«
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geheime Gewissensbisse über das verlorene Geld. Am Schanktisch sitzt der rotbärtige Schmilo, dessen Blick nach höherem Gewinn im ganzen Raum späht. Er erblickt neben dem Ofen den vom Kummer gebeugten Wassyl und fängt an, ihm immer mehr Schnaps einzuschenken und zu überreden, sein Grundstück zu verkaufen. Die Schenke wird hiermit für den alten Bauern zu einer Krisenheterotopie689, zum Zufluchtsort, wo er mit seiner herkömmlichen Zeit und seinem Milieu endgültig bricht und dem seelischen Schmerz ausweicht, um in jenem Illusionsraum den Trost im Alkoholrausch zu finden. Neben diesen Funktionen als Foucaults »Gegen-Ort« verweist der Topos der Schenke bei Franko auch auf einen anderen Umstand des Sozialraums im damaligen Galizien: Er wird zum verdichteten Bild der galizischen Armut. Dieses verwendet der ukrainische Schriftsteller nicht nur bei der Darstellung des armseligen Zustandes der ruthenischen »Erdölgräber«, sondern auch bei der Beschreibung eines anderen jüdischen Wirtshauses in Boryslav, das sich in dem Haus befindet, das heruntergekommener als alle andere Häuser wirkte: Das war die Schenke, die man »Beim rothaarigen Moschko« nannte, eine der armseligsten und ekelhaftesten Schenken in der ganzen Welt. Der verfaulte Boden war mit dicker Schicht des flüssig vermischten Kots bedeckt, auf den schmutzigen Bänken und unter den Tischen lagen abgerissene Menschen in den schwarzen, mit Erdöl beschmierten Lumpen, mit bläulich weißen abstoßenden Gesichtern, auf denen Krankheiten, Müdigkeit von der schweren Arbeit, die Faulheit, die Armut und Gott weiß noch welche »Hauptsünden« ihre Spuren hinterließen.690
Als eine Heterotopie wird die galizische Schenke etwas später auch beim jüdischen Autor deutscher Sprache, Joseph Roth, gestaltet.691 In seinem 1937 veröffentlichten Roman Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters schildert er Galizien retrospektiv, kurz vor dem entscheidenden Zeitbruch – dem Untergang der Habsburgermonarchie. Am Ort, wo sich die im Roman dargestellte Schenke befindet, wird auch die Zeit akkumuliert – man kann folglich keinen genaueren chronologischen Rahmen des Geschehens festlegen. »Die sogenannte Grenzschenke«692 ist Hauptschauplatz und Leitmotiv des Romans.693 Es ist, wie bei Franko, eine Geschichte von der Einsamkeit und dem Verfall eines
689 Vgl. Foucault 2006, S. 321–322. 690 Franko 1978, S. 356: »Se buv sˇynok, zvanyj ›u rudoho Mosˇka‹, odyn iz najnuzˇdennisˇych i najvidrazlyvisˇych ˇsynkiv u sviti. Prohnyla pidloha poryta bula hruboju verstvoju ridko rozmisˇenoho bolota, na brudnych lavach, ba j popid stolamy lezˇaly obderti ljudy v cˇornych, obroplenych lachach, z hnylystymy, strasˇnymy lycjamy, na kotrych pysaly svoji slidy i neduhy, i utoma vid roboty, i linyvstvo, i nuzˇda, i boh znaje jaki sˇcˇe, hrichy holovni.« 691 Grenzschenken kommen in Roths galizischen Texten toposhaft öfter vor; dabei haben sie verschiedene Funktionen (Vgl. Beug 1991). 692 Roth 1991, S. 139. 693 Vgl. Scheichl 2004, S. 182–183.
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Menschen durch den Alkohol, aber auch, viel breiter, eine Parallele zum Scheitern von Österreich-Ungarn, seinem Untergang von seinen Grenzen her.694 Einerseits wirkt Roths Grenzschenke durchaus realistisch: Es war in ihr »warm und gut und fröhlich. Man trank, man spielte Karten, man rauchte.«695 Andererseits stellt sich zugleich heraus, dass sie ein dubioser, ein unheimlicher Ort ist: Die Grenzschenke gehört Leibusch Jadlowker, einem Grenzgänger und vermuteten Mörder »von unbekannter Herkunft« – »man wusste nicht einmal, auf welche Weise er in ihren Besitz gekommen war«.696 Jadlowker war Neffe des früheren Besitzers, eines »silberbärtigen Juden«, der auf eine geheimnisvolle Weise umgebracht wurde.697 In der Grenzschenke verkehrt lichtscheues Gesindel; es ist »der Sammelplatz für Taugenichtse und Verbrecher«698. Diese Charakteristik des Ortes wird vom Autor durch die Anapher verstärkt: »Wie gesagt: Taugenichtse und Verbrecher verkehrten in der Grenzschenke Jadlowkers; Landstreicher, Bettler, Diebe und Räuber beherbergte er.«699 Zu den Hauptfiguren unter den Stammbesuchern der Schenke gehört der Grenzschmuggler Kapturak, der vom Menschenhandel lebt. Sie ist der Ort des Gebrauchs falscher Gewichte, wo zugleich der gesetzlich verbotene »neunziggrädige Schnaps«700 reichlich konsumiert wird. Die von Roth erfundene Schenke ist kein gewöhnliches Wirtshaus, das für den Grenzverkehr typisch war. Um diese Schenke kümmerte sich sogar der Staat, um einen Überblick über die Migration zu gewinnen. Die Grenzschenke wirkt außerdem märchenhaft: Es ist der Ort, vor dem sogar die Cholera Halt macht. So weist die Roth’sche Grenzschenke mehrere Hauptmerkmale eines Foucault’schen Gegen-Ortes auf. Als eine Heterotopie hat sie einen transitären Charakter: Die Schenke in Das falsche Gewicht wird permanent betreten und verlassen, da zu den wichtigsten Vorgängen, in die sie involviert ist, Auswanderung und Flucht gehören. Und das ist kein Zufall. Die Schenke befindet sich an der Grenze zwischen der Habsburgermonarchie und dem russischen Zarenreich mit allen daraus entstehenden Folgen. Bemerkenswert ist auch, dass die handelnden Personen des Werkes aus beiden politischen und kulturellen Teilräumen, die zwei semantische Felder bilden, kommen: Der Protagonist des Romans, der Eichmeister Anselm Eibenschütz ist ein mährischer Österreicher, dagegen sind die anderen Figuren, die »vor Ort« die entscheidende Rolle spielen, »russischer« Herkunft. So kommen Jadlowker, Euphemia und Sameschkin aus der 694 695 696 697 698 699 700
Vgl. Ebd., S. 187. Roth 1991, S. 154. Ebd., S. 139. Ebd. Vgl. Ebd., S. 140. Ebd. Ebd., S. 141.
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südlichen Ukraine bzw. Bessarabien, die damals zum Zarenreich gehörten. Als Grenzgänger sind sie, im Sinne von Lotman, mit den zentralen Ereignissen des Romans verbunden.701 Der Chronotopos der Grenze, der das Geschehen in der Schenke prägt und im Roman zentral wird, soll aber nicht nur im direkten geopolitischen Sinne gedeutet werden. Metaphorisch beinhaltet er auch solche Bachtin’sche Begriffe wie »Chronotopos der Schwelle und des Wendepunkts«.702 Er bestimmt das Schicksal des Eichmeisters, das mit dem Überwinden mehrerer Grenzen verbunden ist: Es sind die Grenzen zwischen dem Zentrum und Peripherie des Habsburgerreiches, zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit und folglich zwischen Ordnung und Chaos. Auf der Suche nach dem »richtigen Maß« überwindet der Eichmeister die Grenze zwischen West und Ost, was für ihn einerseits Verfall, andererseits aber Gewinn an Menschlichkeit bedeutet. In der Grenzschenke erkennt Eibenschütz zum ersten Mal, »was ein Weib sei.«703 Er erfährt »die Liebe und alle seelische[n] Veränderungen, die sie einem Manne bereitet.«704 In diesem Zustand ist der Eichmeister sogar imstande, einen Regen zu begrüßen: »Ich muss mich stark verändert haben in dieser Gegend!«705 – so sein Gedankengang. Die besondere Lage, in der er sich befindet, bewirkt folglich, dass die Grenzschenke die Rolle einer Abweichungsheterotopie spielt: Sie wird zu einem Zufluchtsort der Liebhaber. Der Bruch mit der Gesellschaft und seinem Milieu geht im Fall des Eichmeisters so weit, dass er diesem illusionären Raum nicht entweichen kann: »Seitdem Jadlowker eingesperrt war, betrachtete der Knecht den Eichmeister Eibenschütz als den legitimen Besitzer der Grenzschenke.«706 Dieser Transformation zufolge stirbt er einen gewaltsamen Tod. Die Grenzschenke wird nicht nur für den Protagonisten des Romans zu einer Krisenheterotopie. Sie verbirgt auch die anderen, die sich im Krisenzustand befinden: mehrere Emigranten, russische Deserteure, die heimlich die Grenze überquert haben. Sie bleiben in der Schenke nicht lange und werden von den Vermittlern weiter nach Westen geführt. In diesem Kontext wird die von Roth dargestellte galizische Schenke zum transitiven Nicht-Ort im Sinne von Augé, in dem die Phänomene der Raumbeschleunigung infolge der Migrationsprozesse, die den Untergang der Habsburgermonarchie begleiteten, als Symptome des Raumzerfalls zutage treten. Es sind die »Trostlosen und Verzweifelten«707, deren eben verlassene Heimat sich ganz in der Nähe befindet, doch für sie für immer 701 702 703 704 705 706 707
Vgl. Lotman 1972, S. 327–328. Bachtin 1986, S. 453. Roth 1991, S. 149. Ebd., S. 183. Ebd., S. 180. Ebd., S. 178. Ebd.
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unerreichbar bleibt. Roth gibt die Stimmung, die in der nächtlichen Grenzschenke herrscht, wie folgt wieder: Gegen drei Uhr begann ein Deserteur, Ziehharmonika zu spielen. Er spielte das Lied: »Ja lubyl tibia«708– und alle begannen zu weinen. Sie weinten nach der Heimat, die sie eben selbst aufgegeben hatten. Sie hatten mehr Sehnsucht nach der Heimat in diesem Augenblick als Sehnsucht nach der Freiheit.709
Die Präsenz der Deserteure aus Russland konkretisiert dabei die Zeit der Handlung im Roman: Es ist die Zeit im Umfeld des Ersten Weltkrieges. Der Krieg, genauer seine ersten zwei Tage im August 1914, bildet die Zeit, in der sich die Handlung eines der besten Romane des jüdischen Autors polnischer Sprache, Julian Stryjkowski (Pesach Stark), nämlich Austéria (1966) abspielt.710 Der Ort der Handlung ist ein galizisches Wirtshaus, das »am Stadtrand, am Dulibsker Trakt, einer Straße, die zu den Karpaten führte, in nahezu völliger Einöde«711 liegt. Der Besitzer der Schenke ist der alte, rechtgläubige Jude Tag: »Hier ist er geboren, genau wie sein Vater, hier sind seine Eltern gestorben und seine Frau, hier möchte auch er sterben.«712 Als die Großeltern noch die Schenke führten, »schämte man sich nicht, ›Schenke‹ zu sagen. Heute heißt es ›Austeria‹«.713 »Heute« wohnt hier der alte Tag mit seiner Schwiegertochter Mina, der kleinen Enkelin Lolka und der ruthenischen Magd Jewdocha, mit der er eine Liebesbeziehung hat. Der Sohn wird einberufen und an die östliche Front, unweit der österreichisch-russischen Grenze, geschickt. »Selbst in Friedenszeiten war es grausig, einen Blick hinter die Grenze zu werfen, was sollte man da erst jetzt sagen!«714 – schreibt Elo in einem Brief. Das gesamte Geschehen ist aus der Perspektive des Schankwirts, des alten Tag dargestellt, überwiegend in Form eines inneren Monologs. Obwohl die Ortschaft selbst nicht genannt wird, verhilft die präzise Lokalisierung der Schenke, die Heimatstadt des Schriftstellers, Stryj, zu erkennen, die »besser als er«715 niemand zu beschreiben vermochte. Nicht nur die Lage am Weg und die Zeit des Kriegsbeginns machen Austeria zu einem Gegen-Ort: Sie fungiert als eine Kri-
708 709 710 711 712 713 714 715
Eigentlich russisch: »Ja ljubil tebja« [Ich habe dich geliebt]. Anm. v. L.C. Ebd., S. 181. Der Name der Schenke »Austeria« spielt auf »Austria« an. Stryjkowski 1968, S. 7–8; Stryjkowski 1966, S. 8: »[…] na skraju miasta, przy Dulibskim szlaku, wioda˛cym na Skole, na Karpaty, w pustkowiu prawie, […]«. Stryjkowski 1968, S. 7; Stryjkowski 1966, S. 7: »Tu sie˛ urodził on, jego ojciec, tu umarli jego rodzice, z˙ona, tu chce umrzec´.« Stryjkowski 1968, S. 121; Stryjkowski 1966, S. 115: »Wtedy nie wstydzono sie˛ mówic´ karczma. Dzis´ mówi sie˛ Austeria.« Stryjkowski 1968, S. 16; Stryjkowski 1966, S. 15: »Nawet za czasów pokojowych było strasznie za te˛ granice˛ zajrzec´, a cóz˙ dopiero teraz!« Vgl. Voznjak 2007, S. 415.
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senheterotopie und ein Nicht-Ort zugleich, an dem der »Weltuntergang«716 in Galizien komprimiert wird. Der Chronotopos des Krieges717, an den die Erinnerungen des Autors narrativ fixiert wurden, aber auch die Chronotopoi des Weges und der Begegnung sind hier besonders ausgeprägt. In Austeria herrscht die beunruhigende Atmosphäre der gespannten Erwartung des Unheils, die in der Wahrnehmung des alten Tag und seiner kleinen Familie wiedergegeben wird. Man zieht die Gardine auf und zu, um auf die Straße zu schauen: »Die Landstraße hatte sich geleert. […] Stille. Entvölkerte Stille: Erwartung des Feindes. Gleich wird er erscheinen.«718 »›Wony tutka zaraz budut!‹, [ruthenisch: ›Sie werden gleich da sein‹]«, sagt Jewdocha, und meint dabei »die ›Moskali‹«.719 »Wiederum wurde es still. Es war die Stille der Wehrlosigkeit. Sie lagerte auf der Landstraße und ließ ganz allmählich den Feind einsickern. Die Landstraße war stumm und gleichgültig, der Feind ebenfalls.«720 Austeria wird auch zum Durchgangsort: Man betritt und verlässt ihren Raum ständig. Es sind diejenigen, die auf der Flucht sind. »Sie sollten besser fragen, wer nicht da drinnen ist. Die reinste Arche Noah«721, – beantwortet der alte Tag die Frage des Pfarrers danach, wer in der Schenke verweilt. Dieses Bild sowie das Motiv der Sintflut werden zu einem der Leitmotive des Romans. Somit wird nicht nur die Schutz gebende Bedeutung von Austeria betont, sondern auch die Bedeutung der perspektivischen Wahrnehmung des Geschehens: Die Schenke wird zu einem festen Bezugspunkt.722 In ihrem engen Raum treffen die ortsansässigen Juden, eine Gruppe der vor der Front fliehenden Chassidim mit ihren Frauen, Kindern und ihren Bediensteten sowie versprengte ungarische Husaren aufeinander. Es ist markant, dass in Austeria nur die Verfolgten, die Opfer zusammenkommen – die Kosaken, die die Stadt besetzen, wo sie brandschatzen, schänden und töten, erreichen sie nicht, obwohl man aus den Fenstern des Hauses den Brand, der in der Stadt wütet, sieht und die Kanonaden hört. Dieser Umstand verleiht dem Ort wundertätige Züge. Sie kommen auch dann vor, wenn die Fliehenden nach Austeria ständig zurückkehren müssen, so, als ob sie von ihr nicht losgelassen würden: »Sie gingen, gingen, und kamen doch nicht vom 716 Stryjkowski 1968, S. 138; Stryjkowski 1966, S. 131: »Koniec s´wiata«. 717 Als historischer Hintergrund fungiert im Roman die Brussilov-Offensive an der Ostfront des Ersten Weltkrieges, die bei Stryj einen Militärfriedhof mit zehntausend Soldatengräbern hinterließ (Vgl. Voznjak 2007, S. 415). 718 Stryjkowski 1968, S. 54; Stryjkowski 1966, S. 51: »Gos´ciniec opustoszał. […] Cisza. Bezludna cisza: oczekiwanie na wejs´cie wroga. Zaraz ukaz˙e sie˛ oczom.« 719 Ebd. 720 Stryjkowski 1968, S. 61; Stryjkowski 1966, S. 57: »Znowu nastała cisza. Bezbronna cisza. Cisza szosy powoli wpuszczała nieprzyjaciela. Szosa była oboje˛tna. Nieprzyjaciel był oboje˛tny.« 721 Stryjkowski 1968, S. 148; Stryjkowski 1966, S. 141: »Ksia˛dz zapyta, kogo tam nie ma. Arka Noego.« 722 Vgl. Dünne/Günzel 2006, S. 110–111.
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Fleck«;723 »Alle waren sie zurückgekehrt. Keinem einzigen war die Flucht gelungen«.724 Die Schutz gebende Rolle von Austeria breitet sich sogar auf den Bereich des Todes aus und verleiht der Schenke am Rande der Straße einen weiteren Zug der Foucault’schen Heterotopie. So bringt zu diesem Gegen-Ort der Krause Bum, verzweifelt Hilfe suchend, das von ihm »bis zum Wahnsinn«725 geliebte Mädchen Asia, das von einer verirrten Kugel getroffen wurde. Die Tote wird im Schlafzimmer des Wirtshauses aufgebahrt, ungeachtet der Gefahr, dass die Kosaken die Totgeschossene finden und die Besitzer der Schenke vors Gericht schleppen könnten. Doch der alte Tag entscheidet, die tote Asia in der Austeria zu lassen: »Krieg ist Krieg, aber der Tod bleibt das Allerwichtigste. So etwas ist heilig«726, – sagt er, alles Notwendige fürs Ritual vorbereitend. Ihn quält die Frage, warum gerade diejenigen, die nie getötet haben, die völlig Unschuldigen, sterben müssen. Entscheidend wird im Roman folglich der Chronotopos des Wendepunkts: Die alte Welt, wo Friede herrschte, bricht zusammen; in der neuen tobt der Krieg. Austeria wird somit zum Ort, an dem der alte Tag die Antwort auf das, was geschieht, sucht und nicht findet: »Welchen Sinn also hat alles auf dieser Welt?«727 »Es gibt auf nichts eine Antwort«728 – folgert er und denkt über Gott und seine Gerechtigkeit nach. Der Roman endet mit einer symbolischen, das nachfolgende Schicksal des galizischen Judentums andeutenden Szene: Der alte Tag bricht zusammen mit dem Pfarrer in die Stadt auf, um den russischen Kommandanten, der »heutzutage« »mächtiger als Gott«729 sei, um die Rettung aller Gebliebenen zu bitten. Bevor er die Austeria verlässt, spricht er das Gebet, »das man vor dem Tode spricht«.730 Die Schlüssel und das Geld überlässt er der ruthenischen Magd und bittet sie, gut zu seiner Schwiegertochter zu sein. Der Topos der Schenke wird auch in der Literatur über Galizien aufgegriffen, die in den letzten Jahrzehnten entstand. Nach dem Untergang des habsburgischen Galiziens im Ersten Weltkrieg und der endgültigen Vernichtung seiner multikulturellen Welt im Zweiten Weltkrieg widerspiegelt dieser Topos im Vergleich zur alten, »klassischen« interethnischen Konstellation andere soziale und kulturelle Verhältnisse in der Region. Eine besondere Rolle spielt der Topos der Schenke im Roman des ukrainischen Gegenwartsautors Jurij Andruchovycˇ 723 Stryjkowski 1968, S. 5; Stryjkowski 1966, S. 50. »Szli, szli, a wcia˛z˙ stali na jednym miejscu.« 724 Stryjkowski 1968, S. 102; Stryjkowski 1966, S. 96. »Wszyscy wrócili. Nikomu nie udało sie˛ uciec.« 725 Stryjkowski 1968, S. 7; Stryjkowski 1966, S. 7: »[…] kochał sie˛ w niej szalenie« […]. 726 Stryjkowski 1968, S. 79–80; Stryjkowski 1966, S. 75: »Wojna wojna˛, ale ´smierc´ jest zawsze najwaz˙niejsza. To s´wie˛te.« 727 Stryjkowski 1968, S. 95; Stryjkowski 1966, S. 90: »Jaki wie˛c sens ma wszystko na s´wiecie?« 728 Stryjkowski 1968, S. 94; Stryjkowski 1966, S. 88–89: »Nie ma odpowiedzi na nic.« 729 Stryjkowski 1968, S. 244; Stryjkowski 1966, S. 232. »Dzis´ komendant jest silniejszy niz˙ Bóg.« 730 Stryjkowski 1968, S. 251; Stryjkowski 1966, S. 238. »To taka modlitwa przed s´miercia˛.«
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Dvanadcjat’ obrucˇiv [Zwölf Ringe] (2003). Es gibt hier zwei Ausformungen dieses Topos, die zum räumlichen Grundgerüst des Textes gehören: Es ist der Hauptplatz des Geschehens des Romans »Wirtshaus »Auf dem Mond« (»[…] genau so, mit asymmetrischen Anführungszeichen in der Mitte, wurde es geschrieben«731 – steht im Text), und die »Kneipe bei Kilometer 13«. Beide Orte weisen dabei deutliche Merkmale und Charakterzüge einer Heterotopie auf. So präsentiert sich vor allem der Hauptschauplatz des Geschehens, das »Wirtshaus »Auf dem Mond«, dessen Schriftbild schon auf eine Abweichung anspielt. Hier trifft sich die Reisegesellschaft. Außergewöhnlich ist auch die Lage des Wirtshauses auf der Hochalm Dzyndzul, die im Ersten Weltkrieg eine wichtige strategische Rolle spielte und bestenfalls mit einem Hubschrauber erreichbar ist. Aber noch evidenter zeigt sich der heterotope Charakter des Wirthauses darin, dass es eine auffallende Heterochronie aufweist. Es wurde in der Zwischenkriegszeit als ein Observatorium für die Warschauer Schule der Meteorologie errichtet. Danach folgen mehrere Metamorphosen infolge der Zeitbrüche im ehemaligen Galizien: Hier wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ein britischer Spionagestützpunkt eingerichtet; in der sowjetischen Periode hat man die etwas umgestaltete Ruine als ein Skiinternat verwendet, und schließlich erwarb das Gebäude ein Vierteljahrhundert später, nach einer »Verkettung phantastischer Kataklysmen«,732 als die osteuropäische Landkarte radikal verändert wurde, ein Vertreter eines im ukrainischen Staat aufgetauchten neuen Menschentypen, »dem sich, eng wie ein Nadelöhr, die Möglichkeit eröffnete, sehr schnell und vorbehaltlos zu Geld zu kommen.«733 Er errichtet hier eine kitschige Nobelherberge. Die »24 h-Kneipe bei Kilometer 13«, deren Name schon auf die berüchtigte Lokalisierung in der Öde hinweist, ist ein Pavillon aus Plastik und Aluminium auf einer kleinen Anhöhe: »Nichts Besonderes«, ähnlichen Orten konnte man »in den östlichen Karpaten zu Dutzenden begegnen«734, so der Autor. Sie knüpft an die Roth’sche Grenzschenke aus Das falsche Gewicht an. Hier wie dort treffen sich die kriminellen Außenseiter der Gesellschaft, in diesem Fall – der posttotalitären ukrainischen Gesellschaft im ehemaligen Ostgalizien. Der Protagonist des Romans, der Wiener Photograph, »Morgenlandfahrer«735 und Grenzgänger KarlJoseph Zumbrunnen (die Überquerung der politischen und die Überwindung 731 Andruchowytsch 2007, S. 45; Andruchovycˇ 2013, S. 43: »[…] same tak, z asymetrycˇnymy lapkamy poseredyni ce pysalosja.« 732 Andruchowytsch 2007, S. 58; Andruchovycˇ 2013, S. 55: »[…] cilyj lancjuh fantastycˇnych kataklizmiv, […].« 733 Andruchowytsch 2007, S. 58; Andruchovycˇ 2013, S. 56: »[…] vynykla vuz’ka, niby vusˇko holky, mozlyvist’ vel’my sˇvydkoho i bezzasterezˇnoho zbahacˇennja.« 734 Andruchowytsch 2007, S. 233; Andruchovycˇ 2013, S. 226: »Nicˇoho nadzvycˇajnoho, […] pid cˇas mynulych blukan’ Schidnymy Karpatamy podibnych misc’ trapljalosja desjatkamy.« 735 Andruchowytsch 2007, S. 12; Andruchovycˇ 2013, S. 10: »[…] pryvabljuvalo bahat’och mandrivnykiv na Schid.«
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der kulturellen Grenzen gelingen ihm besonders schwierig), fährt immer wieder in die Westukraine, einerseits auf der Suche nach den Spuren seines Urgroßvaters, des k.u.k. Oberförsters in Vorochta, andererseits wegen der exotischen Motive für seine Fotoausstellungen in Wien und der Liebe zur ukrainischen Dolmetscherin Roma Woronytsch. Wie bei Roth entstehen in Dvanadcjat’ obrucˇiv zwei semantische Felder: von Mitteleuropa (Österreich und insbesondere Wien) und von der Peripherie an seiner Grenze, von »Halbasien«, wie einst Karl Emil Franzos diese Region bezeichnete. Ähnlich wie der Roth’sche Protagonist geht auch Andruchovycˇ’s Hauptheld Karl Joseph an seiner unglücklichen Liebe und am Schnaps zugrunde. Dabei wird gerade die »Kneipe bei Kilometer 13« zum Ort, an dem das Einander-Nicht-Verstehen736 für Karl-Joseph eine fatale Rolle spielt: Hier wird er von einem Kriminellen ermordet. Im Sinne einer Heterotopie und des transitären Nicht-Ortes der postsowjetischen ukrainischen Gesellschaft fokussiert die von Andruchovycˇ dargestellte Kneipe mehrere groteske Merkmale einer sich im Umbruch befindenden Wirklichkeit. Solche Überlagerungen und Multiplizierungen von Zeiten in einem Raum gestatten es dem Autor, den traditionellen Topos der galizischen Schenke für die komprimierte Darstellung der Geschichte der Region zu nutzen. Andruchovycˇ geht aber noch weiter: Er knüpft hier, ähnlich wie einst Sacher-Masoch, an das Mythische an. Das tut er im Romantext mit Hilfe der inneren Zitation der Verse von Bohdan Ihor Antonycˇ, einem in der Sowjetzeit verschwiegenen modernistischen Dichter, der in Lviv lebte, wirkte und im Alter von achtundzwanzig Jahren starb. Zum Epigraph des Romans wird eine Strophe von Antonycˇ, die den Namen des andersartigen Wirtshauses im Roman bestimmt: »Mein Freund, gegürtet einsam von der Nacht / Verwoben ins Geheimnis unsrer Welt, / komm mit am Abend dieser Frühlingspracht / ins Wirtshaus auf dem Mond – Schnaps ist bestellt.«737 Bekanntlich spielt der Mond im Schaffen von Antonycˇ eine besondere Rolle: Er ist bei diesem Dichter, der von Lemken abstammte, mit der Welt der Mythen und der Folklore dieses Karpatenvolkes verbunden.738 Der Mond wird in dieser Tradition zur Sonne der Nacht. Er beleuchtet »das andere Ufer«739 des Menschenkosmos, das Reich des Chaos, wo es keine Grenze zwischen dem Guten und Bösen gibt. Das von Antonycˇ erdichtete »Wirtshaus auf dem Mond«, dessen Bild eine zentrale Rolle in Dvanadcjat’ obrucˇiv spielt, wird somit zum transzendentalen Nicht-Ort und schließt den Kreis der Zirkulation des Topos der Schenke zwischen Sacher-Masoch und Andruchovycˇ ab. 736 Vgl. Feichtner-Tiefenbacher 2011, S. 286. 737 Zit. nach: Andruchowytsch 2007, S. 7; Andruchovycˇ 2013, S. 5: »Samotnij druzˇe, mov u nocˇi pojas, / ty v tajemnyci svitu opovytyj. / V cej vecˇir vesnjanyj chody zi mnoju / v korcˇmi na misjaci horilku pyty.« 738 Vgl. Novikova 2004, S. 19. 739 Ebd., 25.
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Folglich kann man zum Fazit kommen, dass der traditionelle Topos der Schenke den vielsprachigen »Galizischen Text« im Laufe von mehr als zwei Jahrhunderten begleitet. So wurde die Schenke im Schaffen von Leopold SacherMasoch im Kontext der polnischen Aufstände in Galizien gestaltet; Ivan Franko wandte sich diesem Topos als verdichtetem Bild der sozialen Ungerechtigkeit und galizischen Armut zu. Eine besondere Ausformung bekam er in der Gestalt einer galizischen Grenzschenke im Schaffen von Joseph Roth, der sie mit dem Untergang der Habsburgermonarchie und Migrationsprozessen in Verbindung setzte. Als Ort, wo der Weltuntergang des Ersten Weltkrieges in Galizien komprimiert wird, fungiert die Schenke bei Julian Stryjkowski. Mehrere Metamorphosen macht dieser Topos bei Jurij Andruchovycˇ durch, der ihn intertextuell mit der Dichtung von Bohdan Ihor Antonycˇ in Verbindung setzt und somit auf einen transzendenten Hintergrund hindeutet. Wie die Analyse der Beispiele aus den Texten dieser galizischen Autoren zeigte, hängt jede konkrete Ausformung des Topos der Schenke von der Zeit des Entstehens sowie von der Tradition, an die das Schaffen jedes einzelnen Schriftstellers anknüpft, ab. Dabei weisen diese heterogenen Darstellungen mehrere gemeinsame Züge auf, die von folgenden sprachlichen Codes wiedergegeben werden: Es sind »außen«, »an der Landstraße« sowie »am Wege« bezüglich der Lokalisierung der Schenke; die Schenke als Ort des »Treffens« und des »Durchgangs«; die typischen Gestalten der alten Juden als Besitzer der Schenke (»abgehärmtes Gesicht«, »unruhige Augen«, »bewegungsvolle Nasenflügel«, »verzogene, saure Mundwinkel«, »roter« oder »silberner Bart«, die »Rechtgläubigkeit«); die Schenke als »Ort des Gewinns« einerseits sowie verdichtetes »Bild der Armut« der proletarisierten Bevölkerung Galiziens andererseits; »Grenzschenke« als der Ort des Untergangs, wo »Taugenichtse und Verbrecher«, aber auch Flüchtlinge und Deserteure – die »Trostlosen und Verzweifelten« – verkehren; die Schenke als Rettungsort auf der Flucht (die »reinste Arche Noah«), ihre Schutz gebende Funktion; der Ort, wo Zeitwenden und -brüche verdichtet sind sowie als unheimlicher und märchenhafter Ort, der in der Gestalt des »Wirtshauses auf dem Mond« mythologische Züge annimmt. All diese Gestaltungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, verhelfen die Zugänge der modernen Raumtheorien mit dem Begriff der Heterotopie von Michel Foucault und seiner weiteren Deutung als Nicht-Ort im Transit von Marc Augé sowie solche früheren raumbezogenen Konzepte wie Chronotopos von Michail Bachtin und Grenze bei Jurij Lotman. Die angeführten Beispiele des Topos der Schenke im »Galizischen Text« veranschaulichen mehrere markante Charakteristika der Gegen- und der Nicht-Orte. Es sind die entlegene Lage, das transitäre Betreten und Verlassen, die Verbindung mit der Heterochronie, die beunruhigende Atmosphäre, die Krisen- und Abweichungssituation sowie der Hang zur Illusion und zum Mythos. Es wurde außerdem gezeigt, dass die
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Übereinstimmungen unter ihnen als gemeinsame Chronotopoi erklärt werden können, und zwar als Chronotopos des Weges, der Begegnung, des Wendepunkts sowie der Grenze in direkter und kultursemiotischer Bedeutung. So weist der von unterschiedlichen galizischen Autoren narrativ modellierte Topos der Schenke mehrere Gemeinsamkeiten auf, die die Hybridität des heterogenen Sozial- und Kulturraums Galizien kennzeichnen.
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Literaturverzeichnis
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III. Kulturraum Galizien
Grenzverwischungen und Grenzübergänge: Literarische Prozesse in multikulturellen Regionen Europas am Beispiel der »galizischen« Prosa Leopold von Sacher-Masochs
Obwohl das reale Galizien in den Abgrund zweier Weltkriege versank, wirkt das Phänomen seiner Multikulturalität auf mehreren Ebenen – psychologisch, politisch, kulturell – bis heute fort. Galizien ist unter den Kultur- und Literaturwissenschaftlern zum beliebten Thema geworden, was aber auch seiner kritischwissenschaftlichen Erforschung Schwierigkeiten bereitet. Eine solche Schwierigkeit bildet bei der Interpretation der fiktionalen Abbildung der galizischen Welt die kulturelle Vielfalt, die sowohl in mehreren nationalen Literaturen als auch im gemeinsamen »Galizischen Text«, auf den unterschiedliche kulturelle Einflüsse einwirkten, ihren Ausdruck gefunden hat. Nicht selten wird dies bei der Anwendung der traditionellen literaturwissenschaftlichen Zugänge fragwürdig. Ein Beispiel dafür ist das Schaffen des zu Unrecht fehlinterpretierten, stigmatisierten und heute vergessenen deutschsprachigen Dichters Leopold von SacherMasoch (1936–1895), in dessen Werken, besonders in denen von hoher ästhetischer Qualität, »galizische Topoi« eine zentrale Rolle spielen. Trotz der widersprüchlichen Geschichte der Rezeption seiner Prosa, die nur wenigen bekannt ist, und trotz der allgemein üblichen Klischees, die wiederholt werden, ohne die vom Autor verfassten Texte zu berücksichtigen – der Begriff »Masochismus« nivelliert das ganze Werk von Sacher-Masoch; man schüttet durch diese Einordnung »das Kind mit dem Bade aus« –, kann man in den letzten Jahrzehnten einen Paradigmenwechsel im Diskurs über sein Werk verfolgen, und zwar weg vom »Masochismus« und hin zum »Galizien-Thema«, zu den zahlreichen ostgalizischen Motiven und Sujets. Dabei weist die Belletristik des Schriftstellers mehrere Beispiele für historisch und kulturell bedingte Spezifika der Literatur auf, deren Hintergrund die »kollektive Mentalität« eines bestimmten zeit-räumlich situierten Gesellschaftssegments bildet. Von den Forschern, die sich mit der deutschsprachigen Literatur Galiziens, mit dem Problem dieser Literaturlandschaft (Maria Kłan´ska, Stefan Kaszyn´ski, Albrecht Koschorke, Martin Pollack) und mit dem Schaffen von Sacher-Masoch gezielt beschäftigen (Eberhard Hasper, Svetlana Milojevic, Michael Farin, Adolf Opel, Larissa Polubojarinova u. a.), wird Sacher-Masoch neben Karl Emil Franzos
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als der Dichter bezeichnet, der »seine Heimat der deutschsprachigen Literatur erschlossen hat«.740 Wenn man aber dabei zwischen den Autoren unterscheidet, die in Galizien geboren wurden, gelebt haben und die außerdem sozial aktiv waren (wie z. B. Ivan Franko) und solchen, die dieses Land in ihrer Kindheit oder Jugend verlassen haben und die ihre Heimat später nur ab und zu mit dem distanzierten, aber auch nostalgischen und neugierigen Blick der Reisenden betrachtet haben (»ein schönes, weil ein fernes Ideal« – eine Paraphrase von Ivan Franko), so zählt Sacher-Masoch (wie später auch Joseph Roth) zur zweiten Gruppe. Dabei soll noch eine dritte Gruppe erwähnt werden: Dichter, die ihr ganzes Leben in dieser Provinz verbracht haben, die aber in einer Art »innerer Emigration« ihre eigene imaginäre mythische Welt erfunden haben, wie z. B. der jüdisch-polnische Autor der Zwischenkriegszeit Bruno Schulz. Auf das Schaffen der Dichter der letzten zwei Richtungen hatte die Situation des »Wegziehens« – im direkten oder übertragenen Sinn – die Auswirkung gehabt, dass persönliche Momente der eigenen Erfahrungen und Erinnerungen immer mehr durch die Phantasien und Einbildungen, die der Galizien-Mythos produzierte, umgewandelt wurden. In der Welt von Karl Emil Franzos, der, ähnlich wie Joseph Roth seine Heimat gleich nach der Matura verlassen hat und sie nur von Zeit zu Zeit besuchte, wurde dieses »Ideal« allerdings vor der Kraft des Mythos der deutschen Aufklärung verdrängt. Gerade dieser Umstand soll bei der Einschätzung der Poetik dieser Dichtung – im Sinne des Wesens und der Spezifika der Ausdrucksmittel, also letztlich des Mimesis-Problems – vor eindeutigen normativen Zugängen und Kanons warnen: Man kann in dieser Hinsicht am Beispiel des Phänomens des »Galizischen Textes« von der Verwischung der Grenzen zwischen ästhetischen Prinzipien verschiedener literarischer Richtungen, Strömungen und Stile sprechen. Exemplarisch erscheint in diesem Zusammenhang die Aussage aus der Streitschrift von Sacher-Masoch Über den Wert der Kritik (1873), die zur Klärung der Vorstellungen des Autors über das dichterische Schreiben führt: Es bedeute für ihn die Gabe, »Gedanken, Einfälle, Beobachtungen, Eindrücke, Ereignisse oder Erfindungen der Phantasie in einer korrekten und dem Inhalte entsprechenden eigentümlichen Sprache auf das Papier zu bringen…«741 Ungeachtet dessen, dass Sacher-Masochs dichterisches Schreiben als System erfundener Fiktionen aufgebaut wurde, sind seine Novellen und Erzählungen von zeitgenössischen Rezipienten als Widerspiegelung der authentischen und objektiv zugänglichen Wirklichkeit wahrgenommen worden. Ein prägnantes Beispiel wäre hierbei die bekannte Vorrede von Ferdinand Kürnberger zu SacherMasochs Don Juan von Kolomea (1870), die dem jungen Belletristen zu seinem schnellen Aufstieg verhalf. Im Vergleich mit dem Schaffen des großen russischen 740 Kłan´ska 1999, S. 395–400. 741 Sacher-Masoch 1957, S. 120.
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Realisten Ivan Turgenjev betont Kürnberger den Sensualismus der Sacher-Masochs Dichtung, indem er sie »Poesie der Sinne« nennt.742 Die Einschätzung des Schaffens des Schriftstellers wurde dementsprechend auf die Bahn einer konkreten historisch begrenzten Stilepoche – der realistischen Tradition der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – gelenkt. So wird Sacher-Masoch in der Geschichte der Literatur Österreichs neben den klassischen »bürgerlichen« oder »poetischen« Realisten der Gründerzeit wie Ferdinand von Saar und Marie von EbnerEschenbach platziert. Zur Charakterisierung seiner Werke findet man Beschreibungen wie »rigoroser Realismus« in Parallele zum Schaffen von Ludwig Anzengruber oder Peter Rosegger, die eher zur mimetischen Schreibweise von Karl Emil Franzos passen würden.743 Im Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn (1930) wird Sacher-Masoch von Rudolf Latzke eindeutig als »ein Realist« definiert.744 Unter dem Untertitel »Realistische Schriftsteller Galiziens« wird der Dichter auch von Maria Kłan´ska besprochen.745 Eine solch eindeutige Einordnung kann zu bestimmten Verallgemeinerungen und Stereotypen bei der Wertung des dichterischen Nachlasses des Schriftstellers führen. Schon die wichtigste stilistische Konstante des Realismus überhaupt – die spezifische Kohärenz der dichterischen Darstellung mit der objektiven Realität – sowie solche relevante programmatische Merkmale der Dichtung des Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie die Forderung, »die Wirklichkeit so, wie sie ist – unparteiisch darzustellen, die Gefühle, Wertung und Meinungen des Dichters auszuschalten, natürliche Verhältnisse und sinnlich erfahrbare Vorgänge mit den ihnen angemessenen einfachen sprachlichen Mitteln zu schildern«746, scheitern, wenn man die auf Galizien bezogene Werke dieses Autors textimmanent analysiert. Es können bei Sacher-Masoch mehrere Beispiele der Darstellung des Nebeneinanderlebens der Völker, wie es der Fall in mehreren seiner galizischen Geschichten ist, herausgegriffen werden. Gerne stellt der Schriftsteller die Ukrainer (Ruthenen) dar: Bei ihm sind sie »Kleinrussen« bzw. »unsere Bauern« sowie griechisch-katholische (unierte) Priester. Die Polen, des Öfteren als »Polaken« bezeichnet, sind als Grundbesitzern und Insurgenten gleichbedeutend beschrieben. Daneben finden sich Juden – als Schankwirte, Kutscher, Pächter oder Mandatare. Prägnant ist dafür der Prolog aus Don Juan aus Kolomea, wo in einer sozialgeschichtlichen und politischen Konstellation Vertreter von drei Völkern zusammenkommen. Die subjektive Einschätzung der politischen Ereignisse im Kronland kurz vor dem »Frühling der Völker« – der Revolution 1848 742 743 744 745 746
Kürnberger 1985, S. 189. Zeman 1996, S. 393–406; McInnes/Plumpe 1996, S. 523–525. Latzke 1987, S. 226–251. Kłan´ska 1999, S. 395–400. Schweikle, Günther/Schweikle , Irmgard 1990.
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– sowie danach zeigt deutlich den Standpunkt eines hohen, liberalen österreichischen Beamten, z. B. in den Novellen Der Kapitulant, Der Haidamak, Das Erntefest: Hier treten die Folgen der Herkunft und der Erziehung des Schriftstellers deutlich zutage. Das realitätsgerichtete Projektieren eigener aufklärerischen Überzeugungen bezüglich der gesellschaftlichen Reformen im Lande findet sich in seinem Projekt Das Vermächtnis Kains. Alle diese und verschiedene andere Beispiele beweisen, dass es bei SacherMasoch keine feste Beziehung zwischen der Darstellung und der verifizierbaren Wirklichkeit gibt, was von der Leserschaft aber angenommen wurde. Dazu kommt noch eine häufige Vertauschung und Ungenauigkeit bei den Eigennamen, z. B. die für Galizien untypische russische Kosenamen Sascha und Saschka bei griechisch-katholischen Priestern – den Protagonisten der gleichnamigen Erzählung –, die an der kulturellen Wiedergeburt der Ukrainer aktiv teilnehmen747; die Synchronisierung von in der Geschichte weit auseinander liegenden Ereignissen (Oprysˇky-Aufstand in den Karpaten unter der Anführung von Dowbusˇ im 18. Jahrhundert und die Zeit des Vormärzes in der Novelle Der Haidamak), sowie das Zusammenstellen von historischen Persönlichkeiten, die zu verschiedenen Zeiten gelebt und gewirkt haben. Nicht zufällig kam es schon damals zur offenen Kritik der Erzählweise des Schriftstellers. In einem Vorwort zur Ausgabe der Werke von Osyp Fed’kovycz (1876) schätzte der bekannte ukrainische Historiker und Philologe Mychajlo Drahomanov das Schaffen von Sacher-Masoch vom objektivistischen und positivistischen Standpunkt aus negativ ein: »[…] er weiß selbst nicht, was er von den Ruthenen erzählt, […] lauter Unsinn, […] und die fremden Leute glauben daran«.748 Besonders scharf kam das in einer kritischen Bemerkung bezüglich der Sacher-Masochs Prosa von seinem Landsmann und jüngerem Zeitgenossen Ivan Franko zutage, der sich in seinen frühen Romanen und Erzählungen als überzeugter Anhänger der realistischen Ästhetik zeigte749, vor allem in Bezug auf die Darstellung der Realitäten des Lebens der galizischen »unteren Schichten«: »[…] er lügt über Galizien unglaubliche Dinge […]«.750 Wie der ukrainische Literaturforscher Jevhen Nachlik bemerkt, war Frankos Bewertung durch Sacher747 Im Hintergrund steht die Tätigkeit von »Rus’ka Trijcja« [Ruthenische Dreieinheit] und die des ersten ukrainisch-galizischen Lyrikers Markijan Sˇasˇkevycˇ. »Rus’ka Trijcja« war eine von Markijan Sˇasˇkevycˇ, Jakiv Holovac’kyj und Ivan Vahylevycˇ geleitete literarische Gruppierung, die ab Ende der 1820er Jahre in Galizien national-kulturelle Wiedergeburt der Ukrainer begann. 748 Drahomanov 1970, S. 345. 749 Bezüglich seines Schaffens verwendete Ivan Franko die Bezeichnung »der wissenschaftliche Realismus«; er sei für ihn der »einzige ästhetische Kodex«, »das Leben selbst«; der Schriftsteller solle beim Schaffen »nur die Wahrheit, nicht ästhetische Regeln berücksichtigen«. Vgl. Franko 1955, Bd. 16, S. 13. 750 Franko 1986, Bd. 49, S. 286. Brief vom ca. 10. 08. 1891.
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Masochs Abweichung von der Darstellung der wirklichen Lebensumstände im Lande und demzufolge von der Perspektive des klassischen Realismus verursacht. »Das Urteil Frankos aber« – so Nachlik – »ermöglicht[,] Spezifika« des Werkes von Sacher-Masoch »besser zu verstehen. […] die Mehrheit von ihnen passt in die engen Grenzen der realistischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts nicht hin.«751 Eine gewisse Skepsis bezüglich der Möglichkeiten der realistischen Methode des Schreibens von Sacher-Masoch zeigt auch die ukrainisch-deutsche Forscherin Аnna-Нalja Horbatsch anhand der ukrainischen Thematik in seinem Werk: »[…] es ist ihm nicht gelungen, das Volksleben in Galizien realistisch darzustellen, was man von einem deutschen Schriftsteller der 1870–80er Jahre erwarten konnte«.752 Dagegen hat Sacher-Masoch für die von ihm abgebildete galizische Welt seinen eigenen Blick: »Sein Galizien« ist ein kunstvolles Gewebe aus Gefühl, Gedächtnis und Erinnerung, Phantasie und Einbildungskraft, eine bunte Welt des Nebeneinanderlebens unterschiedlicher Völker, die er auch gerne mythologisiert. Gerade dieser mit Begeisterung erfüllter Künstlerblick auf das damalige Galizien macht sein Werk für uns interessant: Wer Galizien in ein kleines Bild fassen will, der fahre auf den Markt nach Kolomea. Er steht dann auf dem Forum der alten römischen Kolonie, im Gewühl der Handelnden, Bietenden, Kaufenden, ab und zu Eilenden, und sieht das merkwürdige Land in bunten Gestalten vorüberziehen. Jetzt meint er in dem Bazar von Belgrad, jetzt auf dem Kirchplatz eines Schwarzwälder Dorfes zu sein. Wie dort der braune Armenier mit dem langen Tschibuk und der weiße blonde Schwabe, die kurze Pfeife im Mundwinkel, den Handel abschließen, da überkommt es ihn ganz allegorisch und er sieht Morgen- und Abendland sich die Hände reichen. Kein Land der österreichischen Monarchie bietet ihm ein ähnliches Bild, weder Ungarn noch Dalmatien, keines eine solche Fülle von Gegensätzen. Hier hat sich die Völkerwanderung häuslich niedergelassen.753
Unter diesem Blickwinkel kommt es häufig zur Abwendung von der »nüchternen Realität«, zu Phantasmen und Mythen, zur Darstellung der Bedrohung des Menschen durch dämonische Mächte; es kommt zu einer außerordentlichen Sensibilität für die Natur, zur Hervorhebung der menschlichen Individualität, zur Vorliebe für Folklore, zum Zurückgreifen auf die Vergangenheit einzelner Völker – also zu den typischen Merkmalen der Poetik der Zeit, die unter dem Zeichen der Romantik stand. Man könnte überblicksartig folgende romantische Zeit- und Raumthemen erwähnen: alte Schlösser in Ostgalizien, zauberhafte Interieurs in der Novelle Die Toten sind unersättlich, geheimnisvolle und melancholische, bis ins Mythische erhobene Landschaftsornamentik der ukraini751 Nachlik 1995, S. 168. 752 Horbatsch 1973, S. 104. 753 Sacher-Masoch 1879, S. 11–12.
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schen Karpaten, die Weite der Podolischen Ebene und die Steppe in den Novellen Der Kapitulant, Der Haidamak, Im Schlitten, Tag und Nacht in der Steppe. Dazu zählen auch solche in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts immer unwesentlicher werdende Tendenzen wie die szenische Darstellungsweise, die direkte Anwesenheit des Narrators, »farbige«, zur Malerei tendierende Epitheta. Prägnant ist auch die typisch romantische Ironie des Autors – die Hauptintention der romantischen Poetik754: Das beste Beispiel dafür ist seine im Stil der »Gothic novel« geschriebene Novelle Die Toten sind unersättlich, dessen Motiv Heinrich Heines Buch der Lieder entnommen wurde. Die Berücksichtigung des Paradigmas der romantischen Poetik ermöglicht bei der Deutung der von Sacher-Masoch dargestellten menschlichen Charaktere eine neue Betrachtungsweise. So wird, wie Winfried Freund betont, der »kleinrussische Adelige« Don Juan (Protagonist der Novelle Don Juan von Kolomea) von der antiromantischen Kritik als »egoistischer und skrupelloser Verführer« verurteilt, obwohl er eher der »um seine persönliche Befreiung aus den Zwängen weiblicher Liebe ringende Mann«755 ist. Die Hauptzüge der romantischen Helden tragen auch die Protagonisten der zwei nächsten erfolgreichen Novellen des Schriftstellers Der Kapitulant (1867) und Der Judenraphael (1882). So erweist sich der Kapitulant Frinko Balaban als edel- und wehmütiger, feinfühliger, melancholischer und sich aufopfernder Held, »ein Mann, der nicht zu übersehen war – im Gliede so wenig als in der Gemeinde«, mit dem Blick, der »einem weh tat«.756 Der begabte ukrainische Künstler Plutin, mit »schlanker, vornehmer Gestalt« und »hübschem, bleichem, ungewöhnlichem Gesicht mit den dunklen Augen«757, wird von einer Fee mit der Wunderblume mit dem Talent zum Malen beschenkt; stets einsam, wird er in der bürgerlichen Umgebung »ein Taugenichts«758 genannt; seine Liebe zur Jüdin Hadaßka ist von der Todessehnsucht als dem Streben nach der Ewigkeit begleitet.759 Die Geliebte stirbt in seinen Armen gleich einer »Wili, die es beim ersten fahlen Frühlicht in das Grab zieht«760: Dabei gehört die Darstellung des Todes einer jungen Frau zu den Themen, die für die Romantiker seit Novalis und Edgar Allan Poe »ohne Zweifel das poetischste der Welt«761 war. Der bekannteste Forscher des Schaffens von Sacher-Masoch in Frankreich, Gilles Deleuze, bemerkt, dass das Werk des österreichischen Autors
754 755 756 757 758 759 760 761
Strohschneider-Kohrs 1989, S. 75. Freund 1996, S. 524. Sacher-Masoch 1996, S. 220–221. Sacher-Masoch 1989, S. 56. Ebd., S. 42–43. Ebd., S. 148. Ebd., S. 140. Ohlbaum 2000, S. 7.
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»über das gesamte Potential der deutschen Romantik verfügt«.762 Das wirft, nach Ansicht des Philosophen, ein neues Licht auf die Deutung seiner Dichtung, insbesondere in Bezug auf die Möglichkeiten von Phantasmen und die Wiedergabe von »suspense« – dem Zustand gespannter Erwartung. Als Einfluss der polnischen Romantiker der so genannten »Ukrainischen Schule« – zu den bekanntesten Vertretern gehörte Bogdan Zaleski – erklärt Anna-Halja Horbatsch nicht nur die Kosakophilie und die Spezifika der die Darstellung der sozial-politischen Beziehungen zwischen Polen und Ukrainern in der Zeit vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, sondern auch Sacher-Masochs Begeisterung für die ukrainischen Märchen, Sagen und Volkslieder: Hlamton spielte ein einfaches, kleinrussisches Volkslied – ›O! du Graf Potocki!‹ –, aber wie er spielte! Die Töne quollen schmerzlichen Tränen gleich unter seinem Bogen hervor, jetzt schwebten sie empor wie wehmütige Geisterklage, und dann fielen sie wieder wie vergossenes Blut, das um Rache schreit, zur Erde nieder. Ja, man konnte wahnsinnig werden bei diesem Liede…763
Laut verschiedener autobiographischer Zeugnisse verdankte aber Sacher-Masoch diese Kenntnisse und diese Begeisterung seiner ruthenischen Amme – eine weitere »romantisch« gestaltete Reminiszenz. Persönliche Aufzeichnungen des Dichters beweisen auch seine Vertrautheit mit der russischen Literatur, besonders mit dem Schaffen von Nikolaj Gogol, dessen frühe Werke mit ihrer ukrainischen Thematik der Romantik angehören. Mit Bezug auf die Dichtung dieses Schriftstellers wird auch später Joseph Roth erwähnt: Folglich äußert sich Marcel Reich-Ranicki: »[…] so verbindet er scheinbar mühelos osteuropäische Vorbilder mit westlichen, Gogol etwa mit Flaubert«.764 Die Merkmale der romantischen Poetik stehen auch im Vordergrund der idealisierenden Verklärung von Galizien im Schaffen von Sacher-Masoch, wo ein für die Tendenzen dieses ästhetischen Paradigmas zentrales Thema – die Sehnsucht nach einer sinnerfüllten Welt, wo der Mensch noch im Einklang mit der Natur und im Gegensatz zur Zivilisation lebt – häufig vorkommt. Diese »melancholische« Perspektive in Bezug auf Galizien wird später auch von Joseph Roth und Bruno Schulz entwickelt. Aus diesem Grund ist es wichtig zu betonen, dass die im Schaffen von SacherMasoch besonders bei den galizischen Topoi oft zutage tretende »Grenzverwischung« zwischen den Systemen der ästhetischen Prinzipien und der stilistischen Merkmale beider Kunstrichtungen – Romantik und Realismus, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herauskristallisiert hatten – für das mehrsprachige Phänomen des »Galizischen Textes« insgesamt auch in den nächsten Perioden als typisch erweist. In der deutschsprachigen Literatur kann man diese »Grenzver762 Deleuze 1992, S. 12–13. 763 Sacher-Masoch 1989, S. 68–69. 764 Reich-Ranicki 1970, zit. nach Nürnberger 1992, S. 134.
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wischung« bei Joseph Roth, in der polnischen bei Bruno Schulz, in der ukrainischen bei Hnat Chotkevytsch und Mychajlo Kozjubyns’kyj verfolgen. Diese Typologie besteht darin, dass historische Verifizierbarkeit »[…] hinter die künstlerische Wahrheit galizischer Topoi und Versatzstücke, wie man sie je neu und individuell für sich entdeckt«765, zurücktritt. Das multikulturelle und mehrsprachige Galizien erweist sich dabei als Treff- und Schnittpunkt nicht nur einzelner regionaler und im Zuge der kolonisierenden Prozesse seitens der Habsburgermonarchie hinzugewonnener Kulturen, sondern auch verschiedener Kunstrichtungen und Strömungen. Diese Situation offenbart sich als besonders günstig für die Synthese. Hier kamen die Tendenzen, die man bei der Gesamtentwicklung der europäischen Literatur verfolgen konnte, deutlicher zum Vorschein. So betont der ukrainische Literaturwissenschafter Dmytro Nalyvajko bezüglich der Besonderheiten der individuellen Stile in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts, dass der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts »synthetische individuelle Stile, die realistische und romantische Elemente vereinen, eigen sind.«766 Obwohl diese Erscheinung nicht allgemein gültig sei, könne man sie, so Nalyvajko, im Schaffen mehrerer Schriftsteller, die als anerkannte Realisten gelten, verfolgen (wie z. B. Balzac, Stendhal, Dickens u. a.). Wenn in der europäischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts andere stilistische Konstanten der realistischen Poetik, die der Wiedergabe der Wirklichkeit adäquat waren, dominant wurden, bewirkte die historische Konstellation der kulturellen Erscheinungen im Falle des Literaturphänomens »Galizischer Text« eine bestimmte Verzögerung dieser Prozesse. Markant ist, dass die gleiche Tendenz auch in anderen Kunstgattungen, besonders in der Malerei und Architektur, zu verfolgen ist. Eine textimmanente Analyse der Sacher-Masochs Werke weist aber auch einige andere Beispiele solcher Grenzverwischungen der Stilmerkmale, wie das Heraustreten aus dem Rahmen der wirklichkeitsnahen Gestaltung, die für den Realismus des 19. Jahrhunderts typisch war, auf. Es geht um einige Elemente der naturalistischen Darstellungsweise als Vorwegnahme der neuen Ästhetik der Moderne, besonders bei der Wiedergabe solcher Determinanten des Menschen wie Abstammung, Milieu und Empirie sowie der dekadenznahen Darstellung einiger tiefenpsychologischen Prozesse in den Frau-Mann-Beziehungen.767 Die für die Schriftsteller, die im Rahmen des realistischen Kunstsystems geschrieben haben, typische analytische Methode führte zur wissenschafts-orientierten 765 Woldan 1998, S. 207. 766 Nalyvajko 1987, S. 32–33. Der Autor bezieht sich auf die Konzeption des italienischen Wissenschaftlers Umberto Bosco vom Zusammenschluss der Romantik und des Realismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ein komplexes System (»Realismo romantico«, Roma, 1967), ist aber mit der Universalität dieser Erscheinung nicht einverstanden. 767 Zeman 1996, S. 405.
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Darstellungsweise; hierdurch kam es manchmal zur Übertragung der wissenschaftlichen Prinzipien auf die Literatur. Im Falle von Sacher-Masoch verursachte die direkte Orientierung an das philosophische System von Arthur Schopenhauer und gezieltes Studium des Mutterrechts von Johann Jakob Bachofen eine deutliche Transposition ihres Gedankengutes auf sein dichterisches Schaffen. Dementsprechend umfasste der Spannbogen der ästhetischen Prinzipien der Poetik in der Belletristik Sacher-Masochs Stilmerkmale verschiedener literarischer Kunstrichtungen der Romantik (insbesondere in der Form der Spätromantik in den europäischen nationalen Literaturen) über Realismus und Naturalismus bis zur Neuromantik und Fin-de-siècle-Dekadenz. Infolgedessen könnte man sagen, dass eine objektive Wertung solcher Texte neue mehrdimensionale Zugänge fordert, die die Rolle der Fiktion bei der literarischen Darstellung im Werk von Sacher-Masoch adäquat deuten. Die Grenze zwischen Realität und Erfindung soll neu gezogen werden; in Bezug auf die Authentizität sollen entsprechende Maßstäbe gefunden werden. Es ist notwendig, einen anderen Umgang mit dem Kanon zu finden, um konstante Paradigmen kritisch einzuschätzen. Dabei stellt sich die Frage: Welcher künstlerischer Standpunkt war für Sacher-Masoch selbst annehmbar? Einer der Beweise dafür, dass er sich als einen »echten Realisten« verstand, ist sein Vorhaben, einen Zyklus von Romanen und Novellen zu schreiben, der die wichtigsten Momente des menschlichen Lebens umfassen sollte. Sacher-Masoch hatte vor, ein breites Panorama des menschlichen Daseins im Sinne der La Comédie humaine von Balzac unter dem Namen Das Vermächtnis Kains zu gestalten. Aber schon bei der Entstehung des Projektes bezweifelte der Autor, dass ihm seine Realisierung gelingen werde.768 Der Zyklus blieb unvollendet, obwohl die Novellen mit galizischem Hintergrund als Höhepunkt seiner Schaffenskraft bezeichnet werden können. Dafür gab es bestimmte Ursachen. Einerseits waren es die Bemühungen des Autors, sich von einer universalen Idee abzustoßen und zu den breiteren Verallgemeinerungen mit Hilfe der »romantischen Deduktion« zu kommen. Das kann man, laut Dmytro Nalyvajko, auch beim großen französischen Romancier finden, infolgedessen es bei ihm zu mancher »übertriebenen Dramatisierung der Lebenssituationen, Hyperbolisierung des Willens und der Leidenschaften, einseitiger Darstellung der handelnden Personen«769 kam. Andererseits spielte im Schaffen von Sacher-Masoch eine erhebliche Rolle die Verwirrung der Zugänge bei der Interpretation der Wirklichkeit in der literarischen Darstellung. Wichtig für Sacher-Masoch war außerdem das multikulturelle Milieu Ostgaliziens abzubilden – »eine bunte, fremdartige, oft grotesk vielförmige Welt«, wo »ein Chaos 768 Der Brief von Leopold von Sacher-Masoch an den Bruder Karl vom 08. 01. 1869, in: SacherMasoch 1985, S. 177ff. 769 Nalyvajko 1987, S. 34.
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von Sitten, Trachten und Religionen«770 herrschte. Dieses Milieu verursachte die mythologisierende Tendenz, die außerhalb der stilistisch-ästhetischen Merkmale einer bestimmten Kunstrichtung liegt und seine wichtigste Transformation im gemeinsamen mehrsprachigen »Galizischen Text« fand. Das schafft ein weiteres Problem, das hier dargestellt werden soll: Welche Grenzverwischungen zwischen den einzelnen nationalen Literaturen kann man im Schaffen der galizischen Autoren verfolgen und welche Auswirkung hat dies auf ihre Rezeption und Einschätzung vom Standpunkt verschiedener Nationalliteraturen aus? Das lange Nebeneinander-Leben mehrerer Ethnien im heterogenen Sozial- und Kulturraum Galizien hat eine Situation hervorgebracht, die neben der eigenen Identität einzelner Völker eine komplexe hybride Identität entstehen ließ, was Auswirkungen auf ein gemeinsames Literaturphänomen hatte. So lassen sich bei galizischen Schriftstellern, die in verschiedenen Sprachen schrieben und die traditionsweise in den Kanon verschiedener nationaler Literaturen eingereiht werden, mehrere innere Grenzverwischungen erkennen, die mit dieser hybriden Identität verbunden sind. Für die Interpretation der Texte dieser Schriftsteller sollte man aus heutiger Sicht neue, transkulturelle und transdisziplinäre Zugänge finden, wo Ergebnisse verschiedener Disziplinen, z. B. in Vergleichender Literaturwissenschaft, kognitiver Linguistik, der Semantik, der Stilistik, der Psychologie und anderer berücksichtigt werden müssen. Sacher-Masochs Prosa, die einen direkten Bezug zu Galizien hat, weist verschiedene Beispiele solcher Grenzverwischungen unterschiedlicher Art auf. So bezeichnet sich der Autor selbst mehrmals als ein »Galizianer«, dabei betont er ein komplexes Gefühl der gemeinsamen Identität – »wir, Galizianer«. Diese Identität bedeutete aus der westlichen Perspektive »das Östliche«, welches für ihn mit dem »Slawischen« identisch war. Die Idealisierung und Verklärung der galizischen Realität führte dazu, dass diese Weise der Darstellung der Völker Galiziens, besonders derjenigen, für die er als liberaler Österreicher mit prohabsburgischen Sympathien besonderes Interesse aufwies – Ukrainer und Juden –, symptomatisch für sein Werk wurde. Wenn er sich mit den Slawen, vor allem mit den Ukrainern, manchmal sogar identifizierte (wichtig waren für Sacher-Masoch das Gemeinsamkeitsgefühl der ukrainischen Bauern, die Gerechtigkeitsbestrebungen des ruthenischen Kleinadels sowie der ausgeprägte Cordozentrismus771, der in der ukrainischen Philosophie und Kultur eine wichtige Rolle spielte, so hatte er für die galizischen Juden immer ein lebendiges Interesse gezeigt. Ihre 770 Sacher-Masoch A. v., in: Sacher-Masoch L. v. 1989, S. 6–7. 771 Cordozentrismus (vom lat. »cordis« – das Herz) – eine Tendenz des philosophischen Denkens, wenn die Wirklichkeit vor allem durch Emotionen, Gefühlen, »Seele« und »Herz« begreifen werden kann. Dieses Denken war unter anderem den deutschen Frühromantikern eigen; in der ukrainischen Philosophie und Literatur waren die Anhänger des Cordozentrismus Hryhorij Skovoroda und solche Dichter wie Taras Sˇevcˇenko und Nikolaj Gogol.
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Traditionen, der Glaube, die Lehre, das Familiengefühl haben Sacher-Masoch immer fasziniert: Im Gegensatz zu Karl Emil Franzos, gehörte er zu den wenigen, die gegen die Assimilation der Juden plädierten. Ungeachtet der unterschiedlichen Zugänge bei der Interpretation der Geschichte, Lebensweise und sozialpolitischen Situation dieser Völker ist es Sacher-Masoch gelungen, Bilder von Galizien zu schaffen, deren hoher ästhetischer Wert mit der Zeit immer mehr an Bedeutung gewinnt. Im Bereich des Sprachlichen findet man in Sacher-Masochs Texten Grenzüberschreitungen zwischen einzelnen in Ostgalizien gesprochenen Sprachen. Es sind mehrere Slawismen (Polonismen und Ukrainismen, manchmal in russischer Lautform); Lehnübersetzungen der ukrainischen Idiome sowie bestimmte Ausdrucksweisen der ukrainischen Sprache, wie z. B. Redewendungen – »nehmen Sie«, »kamen ihnen so gute Freundchen von allen Seiten«, »Fürchten Sie Gott!«, »Auf wessen Wagen du fährst, dessen Lied sollst du singen«, »floh sie euch«772; auf lexikalischer Ebene – pejorative Ausdrücke aus dem Ukrainischen, Polnischen und Jiddischen (»Hundeblut«, »Achprosch«, »Scholetesser«773 etc.). Höchst interessant für heutige Zeit sind zahlreiche jiddische und hebräische Bezeichnungen und Ausdrücke, die Sacher-Masoch in die Texte der jüdischen Erzählungen aus Galizien einführt (die Ausgaben dieser Geschichten waren vom Autor selbst mit Kommentar und Worterklärungen ausgestattet). Man kann hier das für multikulturelle Räume produktive Zusammenwirken der Elemente verschiedener Sprachen verfolgen, was für die sprachliche Kreativität von großer Bedeutung war. Nicht von ungefähr wird später der Reichtum und der musikalische Satzbau der deutschen Sprache auch bei Joseph Roth betont. Das Interesse und die Begeisterung Sacher-Masochs für die multiethnische Welt Galiziens, die Motive und Sujets seiner Werke, die spezifische Stilistik seiner galizischen Prosa führten dazu, dass er im westukrainischen Literaturprozess des 19. Jahrhunderts aus ethnographisch-folkloristischer und historisch-patriotischer Sicht rezipiert wurde.774 Schon zu Lebzeiten des Schriftstellers waren infolge der rein nationalen Zugänge zu seiner Identität mehrere Klischees über seine nationale Zugehörigkeit und über die Sprache, in der er schrieb, entstanden, die nach seinem Tode noch verstärkt wurden. Die Frage: Deutscher oder Slawe? (»Slave ou Allemand?«775) wurde »im Kreuzfeuer der Zeitgenossen«776 um seine Person besonders eifrig diskutiert. Auch die Besonderheiten seiner Aus772 Horbatsch 1995, S. 43–49. 773 Sacher-Masoch 1989, S. 78, 82,136. 774 Nachlik 1995, S. 170. Diese Tendenz kann man auch in der Rezeption der Übersetzungen ausgewählter Werke von Sacher-Masoch ins Ukrainische verfolgen, die ab Ende der 1990er Jahre erschienen. Meistens sind das die Erzählungen mit galizischer Thematik. 775 Michel 1989, S. 11. 776 Farin 1987, S. 40.
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drucksweise, Fremdentlehnungen aus anderen Sprachen wurden nicht außer Acht gelassen: »Er […] feindete die deutsche Grammatik an, indem er sie ruthenisch radebrach.«777 Gleichzeitig wurden Nachforschungen angestellt, ob er jüdische Vorfahren hatte. Diese Tendenz spielte auch bei der Aufnahme des Namens des Schriftstellers auf die Liste der von den Nazis verbotenen Literatur eine bestimmte Rolle. Alle diese Tatsachen beweisen, dass die Reduktion des Schaffens eines Schriftstellers, das in einem multikulturellen Raum entstanden ist, auf eine bestimmte nationale Literatur nach den Prinzipien des 19. Jahrhunderts zu fragwürdigen Schlussfolgerungen führt. Man sollte die Spezifika der Werke von Sacher-Masoch, die Bezug auf Galizien haben, mehrdimensional, als Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer nationaler Einflüsse im multikulturellen Kontext darstellen. Abschließend soll bemerkt werden, dass man am Beispiel des Schaffens von Leopold von Sacher-Masoch besondere literarische Prozesse verfolgen kann, die neue, transkulturelle und multidimensionale Zugänge verlangen. Sie sind durch die Grenzverwischungen und Grenzübergänge in Hinsicht auf Kanon und Tradition bei der Rezeption und Interpretation bedingt. Es ist einerseits die Synthese verschiedener Systeme von ästhetischen Prinzipien sowie stilistischen Merkmalen unterschiedlicher Kunstrichtungen und Strömungen, die im Vergleich zur Gesamtentwicklung der europäischen Literatur deutlicher zum Vorschein kommen; andererseits kann man hier beim Etablieren stilistischer Konstanten der realistischen Poetik, die der Wiedergabe der Wirklichkeit adäquat waren, eine bestimmte Verzögerung verfolgen. Außerdem wird es ersichtlich, dass die lange Kohabitation mehrerer Ethnien in einem heterogenen Sozial- und Kulturraum eine komplexe hybride Identität entstehen lässt, die mehrere Auswirkungen auf ein gemeinsames Literaturphänomen haben kann, darunter auf das produktive Zusammenwirken der Elemente verschiedener Sprachen. All dies bedingt die besondere Kreativität des mehrsprachigen und mehrdimensionalen literarischen Konglomerats, das als ein gemeinsamer »Galizischer Text« bezeichnet wird.
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Kulturelle Symbiose Galiziens im Werk von Karl Emil Franzos
Die einzigartige polyphone Ästhetik des Kulturraums Galizien, die eine Symbiose der deutschen, slawischen und ostjüdischen Züge darstellt, gehört zu den Hauptcharakteristiken des »Galizischen Textes«. In diesem Sinne wäre das Werk von Karl Emil Franzos (1848–1904), dem zu Unrecht vergessenen Poeten, wiederzuentdecken und zu reflektieren. Es liefert ein reiches Topoi-Inventar seiner Gegenwart; darunter sind es solche, die vom multikulturellen Milieu Galiziens und von den Beziehungen zwischen den Kulturen einzelner Völker zeugen. Vorerst soll aber betont werden, dass man bei mehreren galizischen Autoren ähnliche oder gemeinsame Themen, Motive, Zugänge verfolgen kann. Ein Dialog der Texte und der Sprachen Galiziens entsteht bei der Gestaltung der Landschaft, des Milieus, der Aura dieses Landes, und wird in den unverkennbaren sprachlichen Codes ausgeformt. Die milde, melancholische, von der Zivilisation unberührte Natur bildet den Hintergrund der Handlung nicht nur bei Karl Emil Franzos, sondern auch bei Leopold von Sacher-Masoch und Joseph Roth. Wechsel der Jahreszeiten, Farben, Geräusche, Gerüche verflechten sich, dringen ineinander und gestalten ein einmaliges Bild eines gemeinsamen Raumes, der sich in der Zeit ausstreckt und Merkmale verschiedener Kulturen und Mentalitäten zu einer Legierung verschmilzt. Hier könnte man von der inneren, imaginären Landschaft sprechen778, von ihrer besonderen Kreativität, die sich im »Galizischen Text« realisiert. Einer der Topoi der galizischen Literatur ist die Darstellung Galiziens als Ortes der Kindheit und der Jugend, der aus der Perspektive der Zeit zu einer »literaˇ ortkiv (polnisch Czortków), wo Karl Emil Franzos rischen Heimat« wurde. Mit C geboren wurde, ist er ständig verbunden, ähnlich wie Joseph Roth mit seiner Heimatstadt Brody, Bruno Schulz mit Drohobycˇ. Bei der Gestaltung des Heiˇ ortkiv, bei Franzos in seinen matortes gibt es hier viel Gemeinsames: Wenn C Gettogeschichten »Barnow« genannt, als fiktives Nest am Rande Galiziens beschrieben wird, so kommt die von Roth selbst nie genannte Heimatstadt Brody 778 Schlögel 2003, S. 243–246.
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Kulturelle Symbiose Galiziens im Werk von Karl Emil Franzos
als ein »Krähwinkel der Monarchie« vor. Eine ähnliche Konstellation entsteht auch bei den sozialkritischen Zugängen der Autoren zu ihrer Heimat. Wenn die Reise durch Galizien, die Roth 1924 schrieb, mit den Worten »Das Land hat in Westeuropa einen üblen Ruf«779 beginnt, bedenkt man vielleicht nicht immer den Bezug zu Franzos, der als einer der ersten in seinen 1876 erschienenen Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrussland und Rumänien dieses Land in halb-sarkastischer, halb-gutmütiger Weise als »Halb-Asien«780 dem westeuropäischen Leser vorstellte und Bekanntschaft in literarischen Kreisen erwarb. In der Einleitung zu seinen Kulturbildern gibt Franzos selbst die Definition des von ihm geprägten Begriffes wieder: Der Titel, welchen ich diesem Buche vorgesetzt, mag seltsam und auffallend genug klingen, aber wahrlich nicht um solchen Klanges willen habe ich ihn gewählt, sondern weil er mir die Culturverhältnisse jener Länder, welche ich hier schildere, kurz und richtig zu charakterisieren scheint […]. Im Allgemeinen herrscht im Osten oder doch mindestens in jenem Theil des Ostens, von dem diese Blätter Kunde geben, weder heller Tag, noch dunkle Nacht, sondern ein seltsames Zwielicht, im Allgemeinen sind Galizien, Rumänien und Südrussland weder so gesittet, wie Deutschland, noch so barbarisch, wie Turan, sondern eben ein Gemisch von Beiden – Halb Asien! 781
Erfolgreich wurde Karl Emil Franzos aber nicht deswegen, weil er als Historiker oder Ethnologe über Galizien und andere Länder von Ost- und Südosteuropa schrieb, sie aus dem Coupé-Fenster – distanziert und bei der Schnelligkeit des Wechsels der Impressionen – schilderte, sondern weil er diese mannigfaltige und bunte Welt als Zusammenleben mehrerer Völker in der Tradition des psychologischen Realismus dargestellt hat. Der Grund, warum man auch heute immer mehr von diesem Autor spricht (ungeachtet dessen, dass manche ihn als einen sentimentalen oder historisch-ethnographischen Dichter bezeichnen), ist der ausgeprägte sittliche Anspruch bei der Darstellung der zwischenmenschlichen Beziehungen dieses Zusammenlebens, was seine Geschichten auch heute lesbar macht. Es kam dabei in seinem Werk zur Symbiose der unterschiedlichen Kulturen, die für Galizien relevant waren. Bei dieser Symbiose kann man drei Dominanten nennen: das jüdische Element, das deutsche und das ukrainische (in der altösterreichischen Tradition – das »ruthenische«, von der Perspektive des zaristischen Russlands – das »kleinrussische«).
779 Roth 1990, S. 281. 780 Obwohl man von der Notwendigkeit der Wiederentdeckung dieses österreichischen Dichters spricht, kann man am Beispiel seiner Bezeichnung von der Lebensfähigkeit solcher Klischees sprechen, wie es im Fall der Zeitschrift für die deutsche Literatur und Kultur Südosteuropas unter dem Namen »Halbasien«, die zweimal jährlich in Frankfurt am Main noch vor kurzem erschien. 781 Franzos 1876. Zit. nach: Würtz 1998, S.23.
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Die jüdische Thematik spielt bei Franzos eine besondere Rolle. Einerseits waren Die Juden von Barnow sein erster großer Erfolg. Andererseits gilt Franzos als einer der ersten Schriftsteller, der diesen »nicht uninteressanten Alltag« der osteuropäischen Juden (so der Erstverleger) dem westeuropäischen Leser näher brachte. Im Unterschied zu Joseph Roth aber, der später, in den 1920–1930er Jahren das Ostjudentum im Vergleich zum Westjudentum idealisierte, kommt er seinem Judentum als Westler näher. Oft zitiert werden die Worte des Vaters aus dem Vorwort zu seinem Roman Der Pojaz: »Du bist deiner Nationalität nach kein Pole, kein Ruthene, du bist ein Deutscher […] – Deinem Glauben nach bist du ein Jude.«782 Die Heimat war also nicht in Galizien, sondern im Westen zu suchen. Der Kern der ostjüdischen Welt war für Franzos autochthon-barbarisch, den Ausweg aus der Rückständigkeit sah er dagegen nur in der Schale der westeuropäischen Zivilisation, sein Lobgesang galt dieser Zivilisation in der Form der deutschen Aufklärung. Man hat dem Schriftsteller oft vorgeworfen, dass er seine Heimat und seine Landsleute tendenziös darstellt – die Kritik in Bezug auf die Lebensweise im Schtetl, die Idealisierung der deutschen Kultur im klassischen Sinn seien bei Franzos von mehreren Fetischen begleitet, wie z. B. »das weiße Tischtuch«, das unbedingt als ein Zeichen der westlichen Kultur erscheinen sollte. Die Frage, ob er ein Tendenzschriftsteller wäre, hat Franzos selbst am besten im Vorwort zu Vom Don zur Donau. Neue Culturbilder aus Halb-Asien beantwortet: »Wenn derjenige ein Tendenzschriftsteller ist, der verschweigt oder entstellt, was ihm nicht passt, dann bin ich wahrlich keiner, wenn es derjenige ist, der durch seine Arbeiten einen ethischen Zweck verfolgt, dann bin ich Tendenzschriftsteller«.783 Die hoffnungslose Rückständigkeit und Armut des Heimatlandes, die im Vergleich zur »zivilisierten« deutschen Welt besonders grell wirkten, riefen bei Franzos auf keinen Fall eine zynische oder überhebliche Verurteilung vonseiten des distanzierten Beobachters hervor, im Gegenteil, sie erweckten ein inniges Gefühl des Mitleides für die Zustände seiner Landsleute, von dem sein ganzes Werk geprägt war. Das Hauptziel des Schriftstellers bestand darin, durch Kritik und Verneinen die Situation im galizischen Schtetl zu verbessern. Die Möglichkeit aus der Hoffnungslosigkeit dieser verzweifelten Situation herauszukommen verknüpfte Franzos ausschließlich mit dem »Großen Deutschland« – im Sinne der Vereinigung des deutschsprachigen Teiles der Habsburgermonarchie mit dem deutschen Staat in der Form, wie er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. Der einzig mögliche Weg für das Ostjudentum, seine Rückständigkeit zu überwinden, war laut Franzos, die Verleugnung seiner nationalen Identität unter der Bedingung der Assimilation durch die deutsche Kultur und 782 Franzos 1988, S. 2. 783 Franzos 1878, S. IX.
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der Erhaltung des eigenen, mosaischen Glaubens. Besonders lebhaft hat er das am Beispiel der Gestalt von Nataniel Trachtenberg gezeigt – eines der Protagonisten des Romans Judit Trachtenberg (1891): Er sprach und schrieb das Deutsche rein und geläufig, las regelmäßig die Wiener Zeitungen und in seinen Mußestunden sogar zuweilen einen Dichter, Lessing oder Schiller. Aber wie sehr sich dadurch seine Ansichten über Ziel und Zweck des Lebens von denen seiner armen, umdüsterten Glaubensbrüder entfernen mochten, so blieb er doch mit ihnen durch Tracht und Lebensführung eng verbunden und kam nicht bloß jedem Gebote des Glaubens, sondern auch jeder Satzung der Rabbiner mit ängstlicher Treue nach. »Sie kennen die Luft nicht, in der wir atmen müssen!« pflegte er seinen aufgeklärten jüdischen Geschäftsfreunden in Wien oder Breslau zu erwidern, wenn sie ihm leise Vorwürfe darüber machten. »Ob ich es wirklich für sündhaft halte, am Sabbat einen Stock zu tragen, ist gleichgültig; wesentlich aber ist, unsere Leute durch das Beispiel eines Mannes, den sie achten müssen, darüber zu beruhigen, dass man deutsche Bücher lesen, mit den Christen in reinem Deutsch sprechen und dabei doch ein frommer Jude bleiben kann. Darum wäre es fast ein Frevel, wenn ich heute meinen Talar zu einem deutschen Rock verschneiden ließe – und glauben Sie, dass mich dies meinen Edelleuten oder dem Herrn Kreiskommissär näherbrächte? Mitnichten, sie würden derlei nur als den ohnmächtigen Versuch verhöhnen, mich ihnen gleichzustellen! So müssen denn wir wenigen Gebildeteren im Lande vorläufig nach außen bleiben, wie wir sind!« Dies, fügte er stets hinzu, sei seine innerste Überzeugung, und wie ernst es ihm damit war, bewies er auch durch die Art, wie er seine heiligste Pflicht erfüllte, die Erziehung der beiden Kinder, welche die frühverstorbene, zärtlich geliebte Gattin hinterlassen.784
Seine Tochter Judith, eine rothaarige Schönheit, erzieht Nathaniel Trachtenberg gleich wie den Sohn in der Tradition der deutschen Klassik, wodurch er der Familie eine hohe Stellung in der Gesellschaft zu sichern hofft. Die beiden Kinder bekommen eine gute Ausbildung nach europäischem Muster, sie werden zu typischen Vertretern des emanzipierten Judentums. Judith geht eine Liebesbeziehung mit einem polnischen Magnaten ein und bekehrt sich zum Christentum, wodurch sie in Opposition sowohl zur eigenen Familie, als auch zur ganzen jüdischen Gemeinde geriet. Den Ausweg findet sie im Selbstmord. Die Intuition des wahren Künstlers führt Franzos zur tragischen Dichotomie zwischen der Assimilationsidee und den existentiellen Realien. Die »in die Zukunft gerichtete«, fast schon klassisch gewordene Utopie der Assimilation des Judentums blieb bei Franzos unerfüllt, wovon die besten Werke des Schriftstellers zeugen. Wie tragisch die Unerfüllbarkeit dieser Bestrebungen war, hat auch die Zukunft bestätigt. Als überzeugter Anhänger der deutschen Assimilation tritt Franzos aber auch in seinem letzten Werk Leib Weihnachtskuchen und sein Kind (1896) auf. Die 784 Franzos 1972, S. 185–186.
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Treue zu den religiösen und ethischen Normen der ostjüdischen Gemeinde führt zur Katastrophe, obwohl der Autor sich bemüht, die Welt- und Lebensvorstellungen der Einwohner des Schtetls zu verstehen und zu erklären. Im Zentrum der Geschichte steht eine wichtige Komponente des galizischen literarischen Topos: die innige Liebe zwischen einem Ukrainer und einem schönen jüdischen Mädchen, die schon im Schaffen von Cäsar Wenzel Messenhauser angedeutet war und später von Leopold von Sacher-Masoch aufgegriffen wurde. Diesen Topos findet man auch in der belletristisch geschriebenen Autobiographie von Alexander Granach Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens.785 In der Erzählung von Franzos scheitert die Liebesbeziehung zwischen zwei jungen Leuten aus verschiedenen ethnischen Gruppen: Die Geliebte, »das Kind«, das die Eltern nach altem jüdischen Brauch mit einem reichen alten Juden vermählten, ertränkt der junge ruthenische Bauer aus Eifersucht im Dnister786; dabei geht er auch selbst zu Grunde. In diesem Text werden von Franzos Motive angesprochen, die später eine wichtige Rolle im bekannten Roman von Joseph Roth »Hiob« spielen werden. Ähnlich wie bei diesem Klassiker des 20. Jahrhunderts, ist der Protagonist des Werkes von Franzos, Leib, ein echter Philanthrop und ein traditionstreuer Jude. Unter den Schicksalsschlägen beginnt er an seinem Glauben zu zweifeln, doch er findet letztendlich zu ihm zurück. Die Hauptakzente im Sujet der beiden Werke – verhängnisvolle Liebe zwischen jungen Leuten verschiedenen Glaubens und unterschiedlicher Tradition, das Motiv der jüdischen Frömmigkeit, Schicksalsschläge als Erprobung des Glaubens, sogar der Name der Protagonistin, der tragischen Gestalt Miriam, zeugen von der Zugehörigkeit der Werke von beiden Schriftstellern zum »Galizischen Text«. Zu den bedeutendsten Werken der Literatur mit galizischer Thematik gehört zweifellos der Roman von Karl Emil Franzos Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten (1893). Wenn man die Weltanschauung des Autors berücksichtigt, so kann man dieses Werk als eine geistige Biographie des Schriftstellers betrachten, als eine eigentümliche Verbindung einer galizischen Ghettogeschichte mit dem deutschen Entwicklungsroman der Zeit der Aufklärung. Außerdem ist Der Pojaz eine subtile Darstellung der typisch »galizischen« Mentalität des osteuropäischen Judentums, solcher ihrer Züge, wie z. B. das ausgeprägte Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinde, die Treue zur religiösen Tradition und das Streben, sich aus dieser »Welt in sich« loszureißen, einer typischen Sehnsucht nach der weiten Welt, die man nur durch die Lossagung von der eigenen Identität auf dem Wege der Assimilation erreichen kann. Aber gerade dieser Roman hat die Möglichkeit eines solchen Weges in Frage gestellt. 785 Vgl.: Kosyk 2009, S. 99–112. 786 Dnister (russ. Dnjestr) – der größte Fluss Galiziens, entspringt im Süden von Lemberg und mündet im Schwarzen Meer.
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Zweifelhaft ist schon die existentielle Situation des Protagonisten Sender Glatteis. Der talentierte junge Jude aus Galizien sieht in der Theaterkarriere die einzige Möglichkeit, der Umgebung, deren er überdrüssig ist, zu entfliehen. Eine der Vorbedingungen dazu wäre die vollkommene Beherrschung des Bühnendeutsch.787 Für Franzos bedeutet das aber eine Doppelmimikry: Ein osteuropäischer Jude, der die Assimilation anstrebt und ein Schauspieler werden will, trägt den Keim der Unehrlichkeit und der Heuchelei in sich. Sie wird, einerseits, zur Ursache des Konfliktes mit der Welt der orthodoxen Juden (die Stettlgemeinde versteht Sender nicht und lehnt ihn ab, man nennt ihn im Ghetto »einen Pojaz«, was dem Bajazzo und dem Abtrünnigen entspricht) und andererseits den Grund des gegen ihn gerichteten Antisemitismus liefert. Die Bestrebungen des jungen Mannes scheitern. Sender kann seine jüdische Vergangenheit nicht verneinen, seine Hoffnung auf den Erfolg auf der Bühne wird nicht erfüllt, er stirbt infolge einer Schwindsucht im Alter von zweiundzwanzig Jahren. An den Anfang des Romans werden die Zeilen gestellt, die das Thema des Buches vorausnehmen: Der Held dieser Geschichte – und zwar in Wahrheit ein Held, wenn man diese Bezeichnung nicht einem Menschen, der mit Aufgebot aller Kraft leidvoll nach einem hohen Ziele ringt, ungerecht weigern will – hatte auch einen heroischen Vornamen. Er hieß Sender, in welcher gedrückten, gleichsam ausgeknochten Form der stolze Name Alexander, den die Juden in einer glorreichen Zeit ihrer Geschichte von den Hellenen übernommen, unter ihren gequälten, geknechteten Nachkommen im Osten Europas fortlebt. Minder heldenhaft klingt sein Zuname: Glatteis, den irgendein Zufall oder die Laune eines Beamten seinem Großvater zugeteilt hatte. Aber wenige wussten, dass er so hieß, der Name stand eigentlich nur in seinem Geburtsschein, in seinem Konskriptionszettel und in dem Totenschein. In Barnow jedoch ward er nie anders genannt als Sender der Pojaz oder noch häufiger Roseles Pojaz. Denn die Rosele Kurländer draußen im Mauthause, am Eingang des Städtchens, hatte ihn aufgezogen, und er benahm sich so sonderbar: wie ein »Pojaz« meinten die Leute. »Pojaz« aber ist das korrumpierte Wort für »Bajazzo«.788
Wenn man das ganze Oeuvre von Franzos betrachtet, so kann man sagen, dass er in keinem anderen Werke seine Bedenken bezüglich der Verbesserung der Situation seiner Landsleute auf dem Wege der Assimilation, insbesondere an die deutschen Kultur, besser zum Ausdruck brachte als in diesem äußerst persönlichen Roman. Franzos hatte diese Bedenken schon in der Zeit, als er am Text arbeitete. Die Ahnung, dass seine Idee illusorisch war, beherrschte ihn, bevor
787 Eine erfolgreiche Karriere in diesem Sinne hat später Alexander Granach (1890–1945), der einer jüdischen Familie aus Galizien entstammte, gemacht. 788 Franzos 1988, S. 12.
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der Roman fertig war.789 Besonders subtil äußert der Autor diese Bedenken in den Reflexionen des Protagonisten in der eiskalten Bibliothek des Dominikaner Klosters: Sender, nachdem er Lessings Drama Nathan der Weise gelesen hat (wofür er mit seiner Gesundheit büßte), vergleicht Nathan mit der Figur von Shylock aus Shakespeares Drama Der Kaufmann von Venedig: Nathan, sagte er sich, ist zwar der Bessere, aber er redet immer ruhige, vernünftige Sachen und hat keine großen Leiden und keine großen Freuden, Schaje aber – der kann immer schreien und herumlaufen und dies und jenes tun. Nathan wäre leichter zu machen, aber Schaje wäre mir doch lieber! 790
Die Tatsache, dass Franzos von beiden dramatischen Gestalten im Sinne des ästhetischen Einflusses den Shakespeareschen Helden bevorzugt, zeugt davon, dass er die Unechtheit »des ideellen Juden« Nathan, der für ihn längere Zeit ein Vorbild war, schon ahnte. Zur gleichen Zeit verliert seine Kritik des Obskurantismus in galizischen Ghettos, die auch in diesem Roman vorkommt, ihren sarkastischen Unterton, den man noch in seinen »halb-asiatischen« Skizzen oder in »Juden von Barnow« erkennen konnte. Der Ton des Erzählers wird weicher, sein Blick fixiert nicht nur die dunklen Aspekte des Schtetlmilieus, sondern auch positive Seiten der Weltanschauung des galizischen Judentums. Das Judentum bedeutete für Franzos etwas Anderes als »Wangenlöckchen« und ein schwarzer Hut. Und wenn sein ganzes Werk als eigenes curriculum vitae gelten kann, so zeugt es von seiner Chirurgen-Sicht in Hinblick auf die Rückständigkeit der Schtetlwelt. Er hoffte, sie durch die Hochschätzung Deutschlands als eines »Landes der Dichter und Denker« zu überwinden. Aber auch sein eigenes Leben wurde zum Beweis der Unmöglichkeit solch einer Symbiose. Die Assimilierung hatte für Franzos in erster Linie ethischen und zivilisatorischen Sinn: Ich wünsche den Osten weder germanisiert noch gallisiert […] Ich wünsche ihn bloß cultivierter, als er derzeit ist, und sehe keinen anderen Weg dazu, als wenn sich der Einfluss und die willige Pflege westlicher Bildung und westlichen Geistes steigern.791
Seinen folgenreichen Irrtum bewies die spätere Geschichte, wo »im Namen der weißen Tücher« die Barbarei des Zweiten Weltkrieges explodierte und »die Sprache der Dichter und Denker« sich in »die Sprache der Mörder« verwandelte. Die Franzos’sche Begeisterung für die deutsche Kultur und die Epoche der Aufklärung in Deutschland hatte bestimmte Hintergründe, wovon seine Wer789 Franzos hat seinen Roman nicht gleich in Deutschland publiziert, die Erstausgabe von Pojaz fand in der autorisierten Übersetzung ins Russische in St. Petersburg statt, und erst später, schon nach dem Tode des Dichters, in Stuttgart und Berlin (1905). 790 Franzos 1988, S. 104. 791 Ebd., S. 23.
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dejahre zeugen – also die Zeit der Bildung der Anschauungen und Ideale, die eine entscheidende Rolle für sein ganzes Schaffen spielten. Es geht hier um das Czernowitzer k. k. Obergymnasium, das Franzos 1859–1867 besuchte und wo er maturiert hat. Der Schriftsteller erinnerte sich später an diese Zeit als die glücklichste in seinem Leben. Meistens wird die Bildung des zukünftigen Autors am Czernowitzer Gymnasium nur als eine Tatsache erwähnt; es reicht aber, nur einen flüchtigen Blick auf die Jahresberichte des Gymnasiums zu werfen, um in der kreativsten Zeit eines Schülers zu sehen, was für ein reiches Material die Berichte für die Entwicklung des Sensoriums des Schriftstellers anbieten.792 In den gymnasialen Lehrplänen werden Berichte über die Kulturbeziehungen und der sprachlichen Situation in der Lehranstalt sowie Texte der Abhandlungen der Lehrer zu verschiedenen Fächern veröffentlicht; es gibt auch die Daten über die Lehrer und die Schüler selbst. Wenn man den Inhalt und den Ton dieser Abhandlungen verfolgt, wie z. B. zu solchen Themen wie »Die Frauen Homers« vom Gymnasiallehrer Fedir Holub, der bei Franzos in der VI. Klasse Latein und Griechisch unterrichtete, oder über den Charakter der Hauptlehren der Philosophie Arthur Schopenhauers von Alois Scherzel, der beim zukünftigen Dichter in der VII. Klasse Philosophie lehrte, so kann man verfolgen, warum Franzos sich so für die Antike begeisterte, warum er von der damals aktuellen westlichen Philosophie gründliche Kenntnisse hatte. Unter den Sprachen, die im Laufe des ganzen Studiums »obligat« unterrichtet wurden, findet man Deutsch, Ruthenisch (Ukrainisch) und Rumänisch. Der Unterricht in Literatur und Kulturgeschichte erfolgte am Gymnasium auf dem höchsten Niveau. Diese Tatsache erklärt unter anderem Franzos’ späteres Interesse für die anderen Kulturen Galiziens und der Bukowina. Die Programme und die Festschrift geben Information über die Lehrmittel des Gymnasiums: Da sind viele Titel der Bibliotheksbestände aufgeführt sowie eine statistische Übersicht der Schüler angegeben: über die Muttersprache (bei Franzos »Deutsch«) und das religiöse Bekenntnis (im Fall von Franzos »mosaisch«). Die »Location« der Schüler beweist, dass Franzos einer der besten in seiner Klasse war, ab der VI. Klasse der erste; die VIII. Klasse absolvierte er mit einer Auszeichnung. Zu seinen Freunden, die auch zu den Absolventen mit Auszeichnung zählten, gehörte der Czernowitzer Armenier Juliusz Negrusz – diesen Namen wird später der Protagonist von Nach dem höheren Gesetz tragen. Oft bleiben die Lehrer, die im Leben der zukünftigen Schriftsteller eine bestimmende und inspirierende Rolle gespielt haben, unbekannt. Ähnlich, wie der 792 In der Lemberger Universitätsbibliothek (heute Bibliothek der Nationalen Ivan Franko Universität Lviv) sind Jahresberichte (Programme) des k.k. Obergymnasiums in Czernowitz von 1852; 1852/53; 1856/57; 1859/60; 1861–1867 sowie die »Festschrift« zur hundertjährigen Gedenkfeier der Gründung des k.k. I. Staatsgymnasiums in Czernowitz erhalten geblieben.
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Gymnasialprofessor Max Landau aus Brody im Fall von Joseph Roth, war Franzos’ Lieblingslehrer der Gymnasialprofessor Ernst Rudolf Neubauer, der ihn im Fach Deutsch unterrichtete. In der Festschrift wird er folgend geschildert: […] selbst dichterisch veranlagt, durch seine Vorträge über Ästhetik und deutsche Literatur die ihm mit ungeteilter Liebe anhänglichen Herzen seiner Zöglinge zu wahrer Begeisterung hinriss und sie sogar, um die Metrik und Prosodie zu üben, zu dichterischen Versuchen anleitete […].793
Es wäre noch zu erwähnen, dass der Gymnasialdirektor gerade diesem Lehrer die Gründung des Turnvereins im Gymnasium mitzubetreiben beauftragte, denn: […] der bei der Schuljugend überaus beliebte Neubauer war es, der zuerst den Gedanken zur Einführung des Turnens am Gymnasium gefasst hatte. Er hat noch als Student in Prag und Wien fleißig geturnt und da, da er überhaupt in allen körperlichen Übungen, im Schwimmen, Fechten und Reiten wohlbewandert war, war er auch gesonnen, sich als Lehrer für diese Gegenstände anzubieten […].794
Wenn man noch berücksichtigt, zu welchen Themen die Schüler bei Neubauer freie Aufsätze schrieben, welchen Platz die deutsche Klassik im Unterricht hatte, so könnte man sehen, wo die Begeisterung für Goethe und Schiller, für die Idealisierung der deutschen Kultur und hohe Ethik – dieses »höhere Gesetz« – bei Franzos wurzeln. »Das Wort Gymnasium«, – erklärte in einer Rede zu Schulgesetzen 1852 der Direktor des Gymnasiums, Joseph Nahowski, – »[…] bedeutet eine Übungsstätte und zwar eine Übungsstätte des Geistes in allem Guten, Schönen und Wahren. Das Gymnasium ist nicht wie die Universität, eine reine Unterrichts-, es ist zugleich und wesentlich eine Erziehungsanstalt.«795 Das Czernowitzer Obergymnasium hat Franzos dank seines Studiums eine hohe sittliche und intellektuelle Startposition gegeben. Gerade diese Lehranstalt blieb ihm in der Erinnerung als »Vorhof zum Paradies Deutschland«796, was neben dem Einfluss des Vaters seine Vorliebe zur deutschen Kultur begründete, entwickelte aber auch sein Interesse für die autochthonen Kulturen Galiziens und der Bukowina. Dabei war Franzos keine Ausnahme. Die Idee der deutschen Assimilation war eine Tendenz der Zeit, die in der jüdischen Haskala-Bewegung entstand.797 Zu
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Festschrift 1808–1908, S. 101. Ebd., S. 92. Jahresbericht 1852, S. 3. Würtz 1998, S. 6. Die Haskala, auch Haskalah (hebräisch »Bildung«, »Philosophie«), auch »mit Hilfe des Verstandes aufklären« ab 1831 auch als »jüdische Aufklärung« bezeichnet, war eine Bewegung, die in den 1770er und 1780er Jahren in Berlin und Königsberg entstand und sich von dort nach Osteuropa ausbreitete. Sie beruhte auf den Ideen der europäischen Aufklärung, die sie ihrerseits zu erweitern verstand und trat demnach mitunter auch für Toleranz und
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den entschiedensten Vertretern des Deutschtums – besonders im Osten der Monarchie – gehörten damals viele Intellektuelle jüdischer Herkunft. Obwohl mit der Verstärkung der zionistischen Bewegung ihre Zahl geringer wurde, gab es sogar bis zur Jahrhundertwende viele Anhänger der deutschen Assimilation. Unter ihnen wäre der später weltbekannte Rechtssoziologe, Professor und Rektor der Czernowitzer Universität (Studienjahr 1907/09) Eugen Ehrlich zu erwähnen. Folglich äußerte er sich in seiner Schrift Die Aufgaben der Sozialpolitik: Ich selbst gehöre noch einem Geschlechte an, für das es keine andere Lösung der Judenfrage gibt, als ein vollständiges Aufgehen der Juden im Deutschtum. Das galt nicht nur für die Juden, die unter den Deutschen wohnen, sondern auch für die Juden hier im Osten, die mitten unter slawischen Völkern ihren Sitz haben…798
Weniger erforscht ist aber die dritte Dominante des Schaffens von Karl Emil Franzos, und zwar als einer der besten Vertreter der so genannten »ukrainischen Dichterschule in der österreichischen Literatur«799, zu der vor allem Ernst Rudolf Neubauer, Moritz Amster, Ludwig Adolf Simiginowicz-Staufe, Victor Umlauff, Johann Obrist gehörten. Diese Tatsache gestattete, ihn »Freund der Ukrainer«800 zu nennen. Neben Leopold von Sacher-Masoch wurde Franzos zu einem der ersten deutschsprachigen Autoren, der die Aufmerksamkeit auf die Ukrainer als auf ein eigenes Volk mit eigener Geschichte, Kultur und Mentalität lenkte. Damit brach er mit der Tradition, die Ukrainer mit Polen oder Russen zu identifizieren oder sie bloß als ein »ethnografisches Material« zu betrachten, das nur »für die assimilatorische Arbeit der anderen Nationen bestimmt ist«801, so Ivan Franko. Man findet im Werk des Schriftstellers in Überfülle ukrainische Themen, Motive, Typen sowie eine Darstellung des ukrainischen Milieus. Beschreibungen der autochthonen Bevölkerung Galiziens bei Franzos zeugen von seiner Annäherung an die positive Tradition in der Rezeption seines Herkunftslandes. Ein prägnantes Beispiel der typischen inhaltlichen Komponenten des »Galizischen Textes« in seinem Schaffen sind die Themen und Motive, die sein lebhaftes Interesse an der Lebensweise, der Weltwahrnehmung und der Kunst der ukrainischen Bauern, insbesondere der Bergbewohner der galizischen Karpaten wiedergeben. Wenn Franz Kratter als erster deutschsprachiger Autor das Leben der galizischen Bauern schilderte und es, wenn auch nicht ganz ohne Anteilnahme, doch mit bestimmter Distanz tat, so wurde Franzos zum ersten Schriftsteller Österreich-Ungarns, der die ukrainische Welt Galiziens mit großer
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eine gleichberechtigte Stellung der Juden in den europäischen Gesellschaften ein. Vgl: Schulte 2000. Zit. nach: Rehbinder 1986, S. 26–27. Rychlo 2000, S. 342–354. Rychlo 2010, S. 7–17. Zˇulyns’kyj 2016, S. 14.
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Zuneigung dargestellt hat. Wie sein Roman Ein Kampf ums Recht (1882) zeigt, war er mit dem Schaffen von Nikolai Gogol vertraut – nicht umsonst trägt sein Protagonist den Namen Taras Barabola als eine Reminiszenz an den Haupthelden des Gogolschen Romans Taras Bulba. Obwohl im Werk des Schriftstellers das in der ukrainischen Geschichtsschreibung, Literatur und Folklore sehr beliebte Thema des Aufstandes der ukrainischen Bergbewohner Huzulen unter der Anführung des »edlen Räubers« Olexa Dovbusˇ in den galizischen Karpaten im 18. Jahrhundert dargestellt wurde, hat die äußerliche Nähe des Werkes zur Geschichte Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas dem Autor manche Kritik in der deutschsprachigen Welt gebracht; dennoch wurde dieses Werk zu einer interessanten Entdeckung für die westeuropäische Leserschaft. Jedenfalls wurde Franzos zu einem der ersten Erforscher und Übersetzer der ukrainischen Literatur (vor allem der Dichtung von Taras Sˇevcˇenko) und der ukrainischen Folklore in der deutschsprachigen Welt.802 Er war auch einer der ersten deutschsprachigen Literaturwissenschaftler, der sich fachlich mit den Fragen der ukrainischen Literatur befasste.803 Dabei hat er das auf hohem Niveau getan, ähnlich wie im Fall von Georg Büchner, dessen Werk dank der philologischen Vorbereitungs- und Herausgebertätigkeit von Karl Emil Franzos 1879 »entdeckt« wurde.804 So zeugen die Werke von Karl Emil Franzos, die im galizischen Milieu spielen, sowie seine Tätigkeit des jüdisch-deutsch-slawischen Kulturvermittlers vom Gefühl der innigen Liebe des Schriftstellers zu seiner Heimat Podolien – dem Landstrich in Ostgalizien, wo er die Welt erblickte, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Hier wurde er als Künstler geprägt. Deswegen vielleicht ist bei ihm hinter dem »aus dem Coupé-Fensterschauen« immer ein wahres, warmes Gefühl verborgen:
802 Franzos 2010. 803 Die von Luise von Beseler am 2. 11. 1938 geschriebenen Notizen der Vorlesung von Franzos über die ukrainische Literatur aus seinem »Vollkursus der slawischen Literaturen«, die er 1892 in Berlin an der Augustenschule und am Victoria Lyzeum gehalten hat, zeigen, dass der Inhalt der Vorlesung, die Ausdrucksweise, die Interpretation mehrerer Werke, die Analyse des Schaffens der ukrainischen Autoren, vor allem von Taras Sˇevcˇenko, die Bemerkung des Schriftstellers, dass die Ukrainer »die schönsten Volkslieder haben«, wie Franzos von der ukrainischen Dichtung fasziniert war: »Alle ruthenischen Bauern sind Dichter«, heißt es bei ihm. In: Maschinenschrift der Notizen von Luise von Beseler (später Prof. Thierfelder), Staatliches historisches Archiv in Lviv. 804 Diesbezüglich wird eine merkwürdige Geschichte erzählt: Es wird berichtet, dass es in Lemberg eine Apotheke gab, in der jemand um 1875 gearbeitet hat, der durch chemische Experimente die verblasste Handschrift von »Woyzek« von Georg Büchner lesbarer gemacht hatte und damit die erste Edition im Rahmen der Ausgabe, die Karl Emil Franzos 1879 publiziert hat, ermöglichte. Aus: Poschmann 1987, S. 335–337.
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Am Mittwoch war ich am Bahnhofe von Stanislawow. Mein Herz hatte geklopft, als ich am Morgen aus dem Fenster des Coupés zuerst wieder die weite, weite Ebene erblickte. Was ich da sah, war nicht schön, nicht fruchtbar, nicht reizend, aber – es war die Heimat! Ich hatte mich vorgebeugt und starr hinausgesehen, bis mir der Wind die Tränen in die Augen getrieben. Oder war es nicht der Wind?805
Dieser Heimat verdankte Franzos seinen literarischen Werdegang, der die einmalige Symbiose der Kulturen der galizischen Lebenswelt, ihre Heterogenität und Hybridität aufs Beste erkennen lässt. Gerade diese Vielstimmigkeit bedingte die besondere »eigene Sprache« des »Galizischen Textes«, seine Spezifik und wichtigste kennzeichnende Merkmale, die sich in Leitmotiven und Bildern realisierten. Galizien »spricht« durch seine Landschaft, durch sein Milieu und seine Aura, durch das Gegenüber- und Zusammenwirken von Mentalitäten und Benimmmustern seiner Völker, durch ihre Bestrebungen, eigene Identität, Kultur und Glauben zu behalten und die Akkulturationsideen durchzusetzen sowie durch gravierende Unterschiede zwischen Rückständigkeit und Modernisierung. Gerade dank dieser gemeinsamen Leitmotive und Bilder, die zu prägnanten Topoi des Werkes von Karl Emil Franzos wurden, sind seine Texte mit den Texten anderer galizischen Autoren aufs Engste semantisch verbunden. So weisen sie auf die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen »Metatext« hin, zum dichten »Galizischen Text« also, in dessen Vibrationen die Resonanz der Geschichte dieses historischen Landstriches wahrgenommen werden kann.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Franzos, Karl Emil: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrussland und Rumänien, erster Band, Leipzig: Duncker und Humblot 1876. Franzos, Karl Emil: Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1994 [1905]. Franzos, Karl Emil: Die Hexe, 14. Auflage, Leipzig: Reclam, ohne Jahresangabe. Franzos, Karl Emil: Die Juden von Barnow, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990 [1877]. Franzos, Karl Emil: Moschko von Parma. Drei Erzählungen, Wien: Globus 1972. Franzos, Karl Emil: Vom Don zur Donau. Neue Culturbilder aus Halb-Asien, Bd. 1, Leipzig: Duncker und Humblot 1878. Roth, Joseph: Reise durch Galizien, in: Roth, Joseph: Werke. Das journalistische Werk: 1924–1928. Bd. 2, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1990 [1924], S. 281–292. ˇ ernivci: Knyhy Rychlo, Peter (Hg.): Karl Emil Franzos: Ucrainica. Kulturolohicˇni narysy. C XXI 2010. 805 Franzos, ohne Jahresangabe, S. 6.
Literaturverzeichnis
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Sekundärliteratur Festschrift zur hundertjährigen Gedenkfeier der Gründung des k. k. I. Staatsgymnasiums in Czernowitz, 1808–1908 [Bibliothek der Nationalen Ivan Franko Universität Lviv]. Jahresberichte des k.k. Obergymnasiums in Czernowitz von 1852; 1852/53; 1856/57; 1859/ 60; 1861–1867 [Bibliothek der Nationalen Ivan Franko Universität Lviv]. Kosyk, Ihor: To Marry the Other: Zur Geschichte der gemischten Ehen in Galizien und Lemberg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Galizien. Fragmente eines diskursiven Raums, Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2009, S. 99–112. Poschmann, Henri: Die »Woyzeck«-Handschriften. Brüchige Träger einer wirkungsmächtigen Werküberlieferung, in: Lehmann, Susanne/Leiner, Mischa: Georg Büchner: Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler 1813–1837, Katalog, Ausstellung Darmstadt, 2. August – 27. September 1987, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1987, S. 333–337. Rehbinder, Manfred: Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, Berlin: Duncker und Humblot 1986. ˇ ernivci: Knyhy Rychlo, Peter (Hg.): Karl Emil Franzos: Ucrainica. Kulturolohicˇni narysy, C XXI 2010. Rychlo, Peter: Ukrajins’kyj meridian Karla Emilja Francoza, in: Rychlo, Peter (Hg.): Karl ˇ ernivci: Knyhy XXI 2010, S. 7–17. Emil Franzos: Ucrainica. Kulturolohicˇni narysy, C Rychlo, Petro: »Ukrainische Dichterschule« in der österreichischen Literatur, in: Arlt, Herbert/Belobratow, Aleksandr (Hg.): Interkulturelle Erforschung der österreichischen Literatur, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2000, S. 342–354. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2006 [2003]. Würtz, Herwig (Hg.): Karl Emil Franzos 1848–1904. Der Dichter Galiziens. Zum 150. Geburtstag. Katalog der Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Wien 1998. Zˇulyns’kyj, Mykola: »My musymo navcˇytysja cˇuty sebe ukrajincjamy…« 100 rokiv tomu ˇ erneha pisˇov iz zˇyttja nazional’no-kulturnyj budivnycˇyj Ukrajiny, in: Rafal’s’kyj, Oleh/C Petro (Hg.): Ivan Franko u tvorenni nazional’noji identycˇnosti, Nizˇyn: Vydavec’ Lysenko M. M. 2016, S. 11–22.
Literatur als Erkenntnis einer verschwundenen Welt Galiziens. Westen versus Osten in Der Pojaz von Karl Emil Franzos und Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens von Alexander Granach
Die Spezifik des politisch-geographischen Raumes des habsburgischen Kronlandes Galizien war von Anfang an durch ihre Lage bestimmt. Denn, wie Friedrich Ratzel 1894 schrieb, sei die geographische Lage eine Aneinandergliederung der benachbarten Gebiete.806 Sie bedeute ein Verhältnis, eine im Einnehmen und Ausstrahlen lebendige Beziehung.807 In diesem Sinne verschaffte die Lage der »neu erfundenen Provinz«808 die Relationalität seines politisch-geographischen Raumes. Die literarischen Texte, die die Welt Galiziens darstellen, erzeugen folglich mehrere Raummodelle – eine Tatsache, welche die Verwendung methodologischer Zugänge der Kulturwissenschaften ermöglicht, darunter derjenigen, die im Kontext der Wende zum Raum als einem dominanten heuristischen Leitmotiv herausgebildet wurden.809 Vor diesem theoretischen Hintergrund wird folglich das Modell der west-östlichen Opposition und/oder Kompatibilität im narrativen Raum des »Galizischen Textes« entworfen. Wenn dabei neben die Frage der Deskription des narrativen Raumes die Frage seiner Konstitution gestellt wird, soll betont werden, dass der Sozial- und Kulturraum Galizien in den literarischen Texten, die seine Wirklichkeit darstellen, als ihre literarische Abbildung erscheinen: Der erzählte Raum und der Erzählraum beziehen sich hier unmittelbar auf den der galizischen Gesellschaft eigenen soziokulturellen, für den mehrere Ausprägungen des Verhältnisses zwischen Ost und West kennzeichnend sind, wie z. B. der Gegensatz zwischen den an östliche oder westliche Traditionen gebundenen Konfessionen oder das Gegen- und Zusammenwirken der Kulturen. Denn die politisch-geographische Zugehörigkeit von Galizien zur Habsburgermonarchie ermöglichte auch einen aktiven Kontakt mit Mittel- und Westeuropa. Inferenzen über einen solchen Kontaktraum gehen, laut Katrin Dennerlein, auch aus nicht-raumbezogenen Informationen wie Hand806 807 808 809
Ratzel 2006, S. 388–389. Ebd., S. 388. Wolff 2010, S. 3ff. Günzel 2010.
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lungen, Ereignisse und Figuren, die in, an oder bei den räumlichen Gegebenheiten lokalisiert sind810, hervor. Neben raumreferentiellen Ausdrücken kann, laut ihr, anhand solcher Inferenzen das mentale Modell des Raumes aufgebaut werden.811 Unter den Theorien, die sich mit der Verbindung von Raum und Handlung noch vor der Raumwende befassten, ist die Raumsemiotik von Jurij Lotman zu nennen. Obwohl sie als Theorie des narrativen Raumes behandelt wurde, handelt es sich hier eigentlich um eine Theorie der erzählten Welt.812 Lotman ist der Meinung, dass jede soziale und kulturelle Ordnung der Welt topologisch strukturiert sei.813 Die Raumgestaltung wird, laut ihm, zur Sprache, die die anderen nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt: Schon auf der Ebene sprachtextuellen, rein ideologischen Modellierens erweist sich die Sprache der räumlichen Relationen als eines der grundlegenden Mittel zur Erfassung der Wirklichkeit. Die Begriffe »hoch – niedrig«, »nah – fern«, »offen – geschlossen«, »abgegrenzt – unabgegrenzt«, »diskret – kontinuierlich« bilden dabei das Material für den Ausbau von kulturellen Modellen mit keineswegs räumlichem Inhalt und erhalten die Bedeutung: »wertvoll – wertlos«, »gut – schlecht«, »eigen – fremd«, »zugänglich – unzugänglich«, »sterblich – unsterblich« und dergleichen mehr. Die allgemeinen sozialen, religiösen, politischen und moralischen Modelle der Welt, mit Hilfe derer der Mensch in den verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte das ihn umgebende Leben begreift, sind stets mit räumlichen Charakteristika versehen […].814
Es soll vermerkt werden, dass Lotmans Überlegungen zum Problem des Sujets sich nicht nur auf künstlerische Texte beziehen.815 »Indem der Mensch Sujettexte schuf,« – schrieb er, »lernte er es, Sujets im Leben zu erkennen und sich auf diese Weise das Leben zu deuten.«816 Lotmans Theorie gilt insbesondere für die Texte, die das Raummodell erzeugen, für das eine binäre Opposition von zwei disjunkten Teilräumen typisch ist. Als Beispiele erweisen sich hier zwei Werke aus dem Konvolut des »Galizischen Textes« als besonders geeignet, nämlich: Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten von Karl Emil Franzos und Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens von Alexander Granach. Prägnant ist, dass schon ihre Titel »raumbezogen« sind: Franzos, der seinen Roman in Deutschland 1893, in dem von ihm angestrebten westlichen Kulturraum also, vollendete, betont mit seinem Untertitel die Weltrichtung, aus der die von ihm erzählte Geschichte kommt. Über die Umstände, 810 811 812 813 814 815 816
Dennerlein 2009, S. 239. Ebd., S. 99ff. Burghardt 2008, S. 201ff. Lotman 2006, S. 530. Ebd., S. 530–531. Ebd., S. 536. Lotman 1981, S. 204.
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warum dieses »Dokument des Herzens« des galizischen Dichters, so Jost Hermand817, erst 1905, postum also, gedruckt wurde, gibt es mehrere Vermutungen. Raumbezogen ist nicht nur der Name des Romans. Der Bachtins Begriff des »Chronotopos des Weges« und damit verbundenen »Chronotopos der Begegnung«818 spielen im Text eine entscheidende Rolle bei der Konstruktion des narrativen Raumes: Nicht zufällig kommt der Protagonist des Romans, Sender Glatteis, mit dreizehn Jahren zu einem Fuhrmann in die Lehre; gerade diese Tätigkeit ermöglicht ihm die entscheidende Begegnung seines Lebens – die Begegnung mit dem Theater in Czernowitz. Im Titel von Granachs Autobiographie wird direkt auf den Weg hingewiesen: Da geht ein Mensch. Markant ist hier die Bemerkung im Brief vom Granachs Vater, wenn er schreibt, dass der neue Beruf, den sein Sohn wählt, ein »neuer Weg« sei: »Und da ich weiß, daß neue Wege schwer gangbar sind, so wünsche ich Dir Kraft und Mut, ihn zu beschreiten.«819 Hinsichtlich der Rolle des Chronotopos des Weges und der Begegnung für die Konstruktion des Textraumes bekommt dieser Titel eine raummodellierende Bedeutung. Alexandra Strohmaier deutet das wie folgt: »Im Unterschied zu dieser statischen Metapher [Metapher von der individuellen Geschichte als Lebensweg, L. C.] verschiebt die Verbphrase im Titel Granachs, markiert durch die Präsensform, den Akzent auf den Akt des Gehens, der den Lebensweg, den Werdegang, gewissermaßen erst hervorbringt.«820 Sie verbindet diese These mit dem performativitätstheoretischen Zugang von Michel de Certeau, laut dem »das Gehen und das Erzählen aufgrund ihrer performativen Funktion als analoge Praktiken«821 verstanden werden können. Strohmaier liest dementsprechend den Titel Granachs als Verweis auf den Vorgang des Erzählens, »auf das, wodurch die Lebensgeschichte entsteht.«822 Granach erzählt seinen Lebensweg retrospektiv, nachdem er Deutschland, wohin er aus Galizien emigrierte, wegen des Naziregimes verlassen hat; thematisiert wird von ihm »die Welt von Vorgestern«823, wie Adam Winfried diese Art des biographischen Schreibens in der deutschen Exilliteratur definiert. Granachs Autobiographie erschien in der amerikanischen Übersetzung 1945 auch postum, sechs Wochen nach dem vorzeitigen Tod des Autors. Zwischen der von ihm dargestellten Lebenswelt Galiziens und seinen Erinnerungen an die Heimat lag schon die Zäsur des Zweiten Weltkrieges.
817 818 819 820 821 822 823
Hermand 2002, S. 360. Bachtin 1989, S. 21–22. Granach 1994, S. 210. Strohmaier 2012, S. 224. Certeau de 1988, S. 189. Strohmaier 2012, S. 224. Winfried 1998.
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Obwohl die beiden Texte eine zeitliche Distanz von fast einem halben Jahrhundert trennt und ihre Chronotopoi dementsprechend verschieden organisiert sind, werden sie öfters verglichen. So spricht Peter Härtling vom »Weiterschreiben« des Franzos’schen Romans, seiner »Verwirklichung« von Granach, der sich als »zweiter Pojaz sah«.824 Marek Przybecki betont die Parallelität beider Geschichten und untersucht sie im Kontext der Gattung des Bildungs- und Entwicklungsromans.825 Dabei soll aber nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Geschichten zu verschiedenen Gattungen der narrativen Texte gehören. Der Pojaz ist ein fiktionaler Text, ein in der Tradition des bürgerlichen Realismus mit einigen Elementen des Naturalismus geschriebener Roman, eine Art des klassischen Bildungsromans nach dem Muster von Goethes Wilhelm Meister. Die Geschichte, die dieses literarische Kunstwerk erzählt, ist erfunden. Da geht ein Mensch dagegen, ist eine Autobiographie, eine faktuale Erzählung im Sinne von Gérard Genette826, eine vom Autor verfasste, subjektzentrierte Darstellung des eigenen Lebens und Werdegangs mit dem Anspruch, alles so zu beschreiben, wie es wirklich war. Hier könnte man eine Parallele zu Dichtung und Wahrheit von Goethe ziehen. Das Werk trägt aber den Untertitel Roman eines Lebens. Es gibt keine Beweise, dass er von Granach selbst hinzugefügt wurde. An dieser Stelle ist es aber angebracht, auf die Überlegungen von Philippe Lejeune hinzuweisen, der aufgrund der Nicht-Identität von Autor und Erzähler eine Autobiographie eindeutig vom Roman in autobiographischer Form abgrenzt, der den Diskurs der Autobiographie nur formal imitiert.827 Eventuell wurde die Bezeichnung »Roman« erst vom Verleger vorgeschlagen und ist dadurch bedingt, dass mehrere Episoden dieser Autobiographie den hohen ästhetischen Wert eines dichterischen Kunstwerkes aufweisen. Alexandra Strohmaier erklärt die Annäherung von Granachs Lebensgeschichte an einen Roman aufgrund der Dichotomie von Fakten und Fiktion in diesem Text, die durch »die stellenweise inkonsistente Fokalisierung«828 erfolgt. Obwohl die Struktur von Granachs Text gemäß den formalen Besonderheiten einer Autobiographie eine chronologische Abfolge der berichteten Lebensereignisse sowie die Doppelung des Ichs in ein erzählendes und ein erzähltes darstellt, kann man auch den Bezug zu Lotmans Sujettheorie nehmend, im letzteren einen »die Handlung tragenden Helden«829 erkennen, der die bestehende Ordnungen negiert und mehrere Grenzen überschreitet. Auf 824 825 826 827 828
Härtling 2005, S. 265. Przybecki 1988, S. 112f. Arnold/Detering 2002, S. 659. Vgl. Lejeune 1994, S. 14, in: Löschnigg 2004, S. 34. Strohmaier 2012, S. 230. Strohmaier bezieht sich auf Käte Hamburger, laut der die Wahrnehmung von Welt mit den Augen von anderer ein epistemologisches Privileg der Fiktion sei. 829 Lotman 2006, 542.
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diese Weise wird die Sujetbewegung und, dementsprechend, ein höchst abenteuerliches Erzählen erzeugt. Es gibt mehrere Gründe, diese Texte gegenüberzustellen. Das gemeinsame Thema des Schicksals eines ostjüdischen Schauspielers, der sich für die westliche Bühnenkunst begeistert und bemüht ist, seinen Wunsch, Schauspieler zu werden zu realisieren, ermöglicht vor allem den typologischen Vergleich. Im Roman von Franzos geht es um die Flucht aus der jüdischen Gemeinde. Prägnant ist hier die Episode im Schneesturm, als Sender eilig und geheim das Haus verlässt, um nach Czernowitz zu gelangen. Der Protagonist ist entschlossen, die abgesonderte Welt des Ghettos endgültig zu verlassen. Bei Granach geht es eher um den von mehreren Ereignissen begleiteten Aufbruch aus Galizien. Der Ich-Erzähler kehrt einige Male in seine Heimat zurück, insbesondere in den entscheidenden Momenten seines Lebens, bevor er sich als Künstler in Berlin der 20-er Jahre etabliert. Maria Kłan´ska bemerkt hierzu: Etwa seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts verlor die »Flucht aus dem Schtetl« ihren geheimnisvollen, abenteuerlichen Charakter. Junge Männer entschieden sich bewusst, der Enge der Provinz zu entfliehen, um in der »großen Welt« zu studieren.830 Es gibt außerdem einige Argumente für den genetischen Vergleich beider Texte. In der Autobiographie von Granach gibt es zwei Hinweise darauf, dass ihm der Roman von Franzos bekannt war und dass er einen großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. In der folgenden Episode dieser Lebensgeschichte verwandelt sich Galizien in einen Gedächtnisraum; dabei wird der Franzos’sche Roman zum Gegenstand, von dem sinnliche Erinnerungsimpulse ausgehen: »So fiel eines Tages der ›Pojaz‹ von Karl Emil Franzos in meine Hände. Dieser ›Pojaz‹ berauschte und begeisterte mich. […] Kam er doch aus meiner Gegend. Ich sah plötzlich Städte und Dörfer, Menschen aus meiner Heimat.«831 Aleida Assmann definiert diese Art des Gedächtnisses im Unterschied zum »Ich-Gedächtnis« als das Produkt einer bewussten und intentionalen (Re-)Konstruktion der Vergangenheit, ein »Mich-Gedächtnis«, das unbewusst ist und »sich durch überraschende Signale bemerkbar macht«.832 Eben zu solch einem Signal wird in der Lebenserzählung von Granach der Roman Der Pojaz. Die genannten Vergleichsarten der beiden Texte beziehen sich auf den politisch-geographischen, sozialen und kulturellen Raum Galiziens, der vom Narrativen symbolisch modelliert wird. Infolgedessen kann man sie unter verschiedenen räumlichen Aspekten kontrahieren. Es ist für beide Werke prägnant, dass sie auf dem räumlichen Gegensatz zwischen Ost und West einerseits und ihrer Vereinbarkeit andererseits aufgebaut sind: Ostjüdisches Ghetto als Aus830 Kłan´ska 1994, S. 19. 831 Granach 1994, S. 220. 832 Assmann 2011, S. 184.
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grenzung versus Verortung des westeuropäischen Humanismus in der deutschen Aufklärung bei Franzos und die ostjüdische Lebenswelt versus deutscher Kulturraum bei Granach. Das Wissen über die Ereignisabfolgen in beiden Texten, die den dargestellten Raum mit der Handlung verbinden, ermöglicht einerseits das Raummodell dieser Opposition zu erzeugen, andererseits die Frage nach dem zentralen Ereignis und dementsprechend nach dem Sujet der Texte im Sinne der Lotmanschen Erzähltheorie zu beantworten. Die Antwort auf diese Fragen kann zur Lösung des Problems der Ursache der auffallenden Gemeinsamkeit bei der verschiedenen Gattungszugehörigkeit von Der Pojaz und Da geht ein Mensch verhelfen. Lotman entfaltet sein raumsemantisches Modell als eine grundsätzliche Strukturierung von Welt durch die binäre Opposition zwischen zwei Teilräumen, zwischen denen normalerweise eine Grenze besteht, die man gewöhnlich nicht überschreiten kann. Da die Grenzüberschreitung im breitesten Sinne, als Verletzung der realen und ideellen Grenzen des Raums für die hier vergleichende Texte typisch ist, kann Lotmans Modell bei der Untersuchung ihrer Sujetmuster besonders produktiv sein. Ein Sujet, das bei Lotman auf das zentrale Ereignis ausgerichtet ist, setzt sich aus drei Elementen zusammen, nämlich aus einem semantischen Feld, das in zwei komplementäre Teilmengen aufgeteilt ist, aus einer Grenze zwischen diesen Teilmengen, die unter normalen Bedingungen impermeabel ist, sich im vorliegenden Fall jedoch für den die Handlung tragenden Helden als permeabel erweist, und aus dem die Handlung tragenden Helden.833 Gemäß diesen drei Schritten werden auch der Franzos’sche Roman und Granachs Lebensgeschichte handlungslogisch analysiert. Das semantische Feld des Raummodells der in beiden Texten dargestellten Welt kann man in zwei Teilmengen insofern teilen, als es hier zu einer Opposition zwischen Osten und Westen kommt, die von zwei Kulturtraditionen bestimmt wird, nämlich zwischen dem jüdischen Ghetto, dem Schtetl, oder der Glaubensgemeinde als einem traditionellen ostjüdischem Raum und dem westeuropäischen Kulturraum, vor allem aber dem der deutscher Kultur und der damit verbundenen Assimilation. In beiden Texten gibt es mehrere Beispiele der semantischen Besetzung der kulturellen Teilräume dieser Gegenüberstellung. Bei Franzos entspricht diese Teilung seinem Lebensprogramm: Der Westen erscheint in Pojaz als die Welt der reinen Menschlichkeit, der Osten dagegen als die Welt der religiösen Strenggläubigkeit, »wo die Binde des religiösen Vorurteils den armen Menschen so dicht um die Augen liegt, wie selten anderwärts.«834 In der »Raumsprache« wird das von Franzos wie folgt ausgedrückt: »Wie fast nach jedem Oststurm in der ›großen Ebene‹ begann nun der Wind aus Westen zu 833 Lotman 1993, S. 341. 834 Franzos 2002, S. 103.
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wehen, sanft, warm und weich.«835 Das jüdische Ghetto in Barnow (das Pseudˇ ortkiv (Czorków) in mehreren Texten von onym der galizischen Heimatstadt C Franzos) ist im Roman als Ort beschrieben, dessen visuelle und olfaktorische Wahrnehmung Abneigung hervorruft.836 Es ist hier nur eine Art der Ausbildung der Kinder möglich, und zwar im »Cheder«, einer Art religiös geprägten jüdischen Grundschule. Franzos stellt die Anstalten, wo Sender die ersten Lehrjahre verbringt, aus der Perspektive des aufgeklärten Humanismus in subjektiver Optik dar und kritisiert die gegenüber Neuerungen geschlossen gebliebene jüdische Gelehrsamkeit. Das hebräische Wort »Cheder« bedeutet, wie der Autor selbst kommentiert, »zu deutsch« eine »Stube«.837 Die Stube des Rebs Elias Wohlgeruch838 wird vom heterodiegetischen Erzähler in visueller, akustischer und olfaktorischer Wahrnehmung als geschlossener und enger Raum beschrieben. Dieser Lehrraum wird bei Franzos zum Ort der Misshandlungen und des Fanatismus, zu einer »abscheulichen Einrichtung«839, zu »einem Schandfleck des orthodoxen Judentums«.840 Der Rabbi, der im Ghetto über die Schicksale der Mitmenschen entscheidet, ist »fromm und gewissenhaft«, aber »nur im Sinne des starren, düsteren Glaubens seiner Sekte«.841 Sein Fluch wäre »eine furchtbare Strafe«842; die Deutschen Bücher zu lesen wäre im Ghetto eine Sünde843 – sie werden verbrannt.844 Man darf in der jüdischen Gemeinde nur durch Vermittlung heiraten. Diese und mehrere andere Beispiele, die die Mikroanalyse des Textes von Der Pojaz liefert, gestalten das ostjüdische Ghetto ikonisch als eine »Heterotopie« im Sinne von Michel Foucault.845 Es fällt auf, dass das orthodoxe Milieu des Ghettos im Roman von Franzos, wie auch in anderen seiner ostjüdischen Geschichten, als »chassidisch« bezeichnet wird. Maria Kłan´ska vermutet dabei aber eine Übertreibung: »[…] es sei denn, dass er darunter alle fromme Juden versteht«.846 Obwohl Franzos den Chassidismus einseitig als »Aberglauben« charakterisiert847, spielt die chassidische Mystik in der entscheidenden Episode des Romans – der ersten Begegnung Sender Glatteis’ mit der modernen westeuropäischen Kultur – eine besondere Rolle: Sender fährt 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846 847
Ebd., S. 280. Ebd., S. 185. Ebd., S. 40. Zu Franzos’ Namenstudien vgl. Ansull 2005, S. 87–103. Franzos 2002, S. 40. Ebd. Ebd., S. 142. Ebd., S. 164. Ebd., S. 213. Ebd., S. 164. Foucault 2006. Kłan´ska 2007, S. 42. Mehr dazu ebd., S. 42–43.
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nach Sadagóra, bevor er nach Czernowitz kommt, wo er zum ersten Mal das Wort »Theater« hört und von großer Sehnsucht nach der Bühne erfüllt wird. Dass im Text der Besuch der Hochburg des Chassidismus unmittelbar vor der Begegnung mit der Welt der Moderne in Czernowitz erfolgt, zeugt von der Ambivalenz der Gefühle des Autors gegenüber dem jüdischen Glauben, und dementsprechend bezüglich des Gegensatzes zwischen den beiden Teilräumen, dem ostjüdischen und dem westeuropäischen Kulturraum. In der Lebensgeschichte von Alexander Granach sind die Akzente anders gesetzt. Obwohl in seinem Text das semantische Feld des Raummodells der erzählten Welt ebenso in zwei komplementäre Teilmengen aufgeteilt ist, werden sie jedoch wieder zu einem kulturell hybriden Raum vereint. Die Fragen der Assimilation und der Aneignung an die deutsche Kultur spielen für Granach innerhalb Galiziens keine Rolle; damit wird er erst in Berlin konfrontiert, als ihm klar wird, dass er, ohne Kenntnis der deutschen Sprache, seiner Sehnsucht, auf der deutschen Bühne zu spielen, nicht folgen kann. Entsprechend dem autobiographischen Ich ist der Lebensraum der jüdischen Familie Granachs im sozialen und kulturellen Raum Galiziens nicht von der slawischen Umgebung abgesondert, – es ist keine Heterotopie wie im Fall des Ghettos bei Franzos. Die Lebensweise der jüdischen und christlichen Familien im Granachs Heimatdorf unterscheidet sich kaum voneinander: Sie bearbeiten den Acker, sind befreundet und haben viel Gemeinsames. Die Väter der Familien – der alte Jus Fedorkiw und Aaron Gronich führen »in täglichen, wöchentlichen, ja jährlichen Fortsetzungen«848 Gespräche über die Religionen und die Beziehungen zwischen den einzelnen Völkern. Die Freundschaft zwischen ihnen erhebt sich über alle Vorurteile: »Vater hielt den Christen Jus Fedorkiw für seinen Freund, der ihm näher war als seine Glaubensgenossen, die zum selben Gott beteten, sich derselben Sprache bedienten und dieselben Sitten und Gebräuche wahrten.«849 Eine Alltagsrivalität besteht nur zwischen den erwachsenen Männern beider Familien, doch »Man konnte nicht sagen, daß sie Feinde waren«850, – fügt Granach hinzu. Zur Konfrontation und Exklusion kommt es erst dann, wenn »von Außen«, auf dem sozialen (durch den polnischen Grundbesitzer) und konfessionellen (durch den Dorfpfarrer) Grunde gehetzt wird. Zu den ersten Opfern wurden zwei behinderte Kinder – Rachmonessl und »Bohugekowate«.851 Die Darstellung ihres tragischen Todes – Rachmonessl ertrinkt im Brunnen, gehetzt von den als wilde Tiere verkleideten älteren Söhnen der ukrainischen Bauernfamilie, Gottzumdank erfriert auf dem Grab 848 849 850 851
Granach 1994, S. 39. Ebd., S. 189–190. Ebd., S. 45. Rachmonessl – »Mitleidchen« auf Jiddisch und Bohugekowate – eigentlich »Bohudjakuwaty« – »Gottzumdank« auf Ukrainisch.
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seines Freundes auf dem jüdischen Friedhof – gehört zu den erschütterndsten und symbolträchtigsten Episoden von Granachs Lebensgeschichte.852 Gottzumdank wird ohne Priester begraben, und der alte Fedorkiw sagt dabei: Gottzumdank hat nie die Bibel gelesen und auch nicht den Predigten des Dorfpfarrers zugehört. Aber er liebte seinen Freund mit einer Zartheit und Treue, wie sie dem Vater aller Wesen sicherlich genehm sein wird, und wie sie der Dorfpfarrer doch nie verstehen kann.853
Der jüdisch-christliche Gegensatz wird hier – angesichts der Zuneigung, die vereint – aufgehoben. Anders als bei Franzos, schildert Granach Aberglauben und Vorurteile, die das Leben der jüdischen Familie prägen. Mit gutmutiger Ironie beschreibt der Autor das Wegjagen des »kleinen zahnlosen Teufels«854 aus dem Leibe des Neugeborenen, das Gespött der Mama bei der christlichen Prozession zu Weihnachten, oder die »fromme, wilde Ekstase« aller beim Besuch des Rabbi aus Czortków.855 Gerade an Feiertagen aber wurde zwischen den Familien eine »konfessionelle« Grenze gezogen: »[…] jeden Sonnabend wurden wir daran erinnert, daß wir Juden waren. Und jeden Sonntag wurden sie daran erinnert, daß sie Christen waren. Die beiden Begriffe standen sich fremd, kalt und gehässig gegenüber.«856 Bei der Darstellung des ostjüdischen Glaubens unterscheiden sich Granachs Zugänge wesentlich von der Sichtweise von Franzos. Er betont die Rolle der Frömmigkeit der Chassiden, zu denen auch seine Eltern gehörten, und schreibt über das beschützende Wirkung des Glaubens: »[…] unsere heiligen Bücher beschützen uns, und die Mezuzas an den Türen sind unsere Zeugen und Wächter.«857 Die Frömmigkeit, die in seinem Geburtshaus herrschte, hat er durch das ganze Leben getragen.858 Besonders bedeutsam war für ihn der Glaube in den schwierigen Momenten des Lebens, wie beispielsweise während der Zeit als Kinderarbeiter859, oder beim Erhalten der Nachricht vom Tode des Vaters.860 Er bewahrt diese Frömmigkeit auch in den neuen Kreisen in Berlin. Wenn Franzos die ostjüdische Religiosität der aufgeklärten Weltanschauung des Westens gegenüberstellt, werden sie von Granach verbunden: Es werden in seiner Lebens852 853 854 855 856 857 858
Granach 1994, S. 46–56. Ebd., S. 56. Ebd., S. 22. Ebd., S. 145–146. Ebd., S. 33. Ebd., S. 36. Es wäre hier anzumerken, dass Granach seine Autobiografie nach den Veröffentlichungen Martin Bubers Geschichten der Chassidim (ab 1906 bis 1928) schrieb, die dieses eigenartige Glauben auf faszinierende Weise dem europäischen Lesepublikum näher brachten. 859 Granach 1994, S. 156–157. 860 Ebd., S. 211.
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geschichte mehrere Parallelen zwischen den beiden Kulturräumen gezogen. Eine besondere Bedeutung haben hier die Erinnerungen des Autors an seine frühe Ausbildung im Cheder und an den Rabbi-Lehrer Schimschale, den Milnitzer. Trotz einiger Analogien zu Der Pojaz, wie zum Beispiel die Beschreibung der Schabernacks, welche die Schüler dem alten Lehrer spielen861, wirkt die Lehre bei Schimschale doch anders als die Erfahrungen, die Sender Glatteis im Cheder macht. Hier hörte Granach zum ersten Mal von der Heiligkeit des gedruckten Wortes.862 Später wird er in Berlin über das »Dienen dem Wort des Dichters«863 hören und die beiden Deutungen in einen Zusammenhang bringen: Ich dachte darüber nach – pflegte nicht auch mein alter Lehrer Schimschale, der Milnitzer, im kleinen Städtchen Horodenka über die Heiligkeit des Wortes zu sprechen? Ja, er meinte aber das Wort in der Heiligen Schrift. Mein neuer Lehrer, Emil Milan, in dieser großen europäischen Welt meinte das Wort in der Dichtung, das Wort im Theater – ich dachte lange darüber nach und bin noch heute damit nicht fertig.864
In Berlin erkannte Granach die »magische Kraft der deutschen Kunst«865; Emil Milan wurde für ihn zu einem »neuen«, einem »deutschen«, einem »christlichen Schimschale, dem Milnitzer«.866 Diese magische Kraft bringt er in die Nähe der ostjüdischen Religiosität: »Auf der Bühne zu stehen war für mich dasselbe, was für meinen Vater sein Gottesdienst war – nur noch freudiger!«867 Mit einer heiligen Andacht, wie »junge Chassidim ihrem Wunderrabbi lauschen«868, verfolgen die jungen Schauspieler die Proben bei Reinhardt. Die Blütezeit des ReinhardtTheaters beschreibt Granach mit einer räumlichen Metapher: »Alles hier weckte in mir die Vorstellung von einem reifen Weizenfeld mit einer wohlgeratenen Ernte in meiner weiten, flachen galizischen Heimat.«869 Dank der Bühnenkunst verschmelzen in der Autobiographie von Granach die beiden Teilmengen des semantischen Feldes seiner Lebensgeschichte zu einem Ganzen: Theater wurde für ihn zur Welt, in der er »zu Hause war«.870 Der Gegensatz zwischen den ostund westeuropäischen Kulturräumen wurde somit aufgehoben. Wenn man die beiden Texte auf das Vorhandensein der Grenze zwischen den Teilmengen des semantischen Feldes, in unserem Fall der Grenze zwischen den dargestellten Teilräumen von ost- und westeuropäischer Tradition im Franzos’ 861 862 863 864 865 866 867 868 869 870
Ebd., S. 76. Ebd., S. 80. Ebd., S. 232. Ebd., S. 233. Ebd., S. 225. Ebd., S. 226. Ebd., S. 268. Ebd., S. 266. Ebd., S. 263. Ebd., S. 406.
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Roman und Granachs Lebensgeschichte befragt, liefern sie mehrere Beispiele sowohl von konkreten physischen als auch von symbolischen Grenzen, die zu überschreiten wären. Die Ausgrenzung des Ghettos wird für den Protagonisten des Romans von Franzos durch seine späteren Erfahrungen besonders deutlich. Beim Lesen der deutschen Bücher erkennt Sender, »daß er wie ein Blinder dahingelebt, oder richtiger wie ein Kind, das sich für den Mittelpunkt allen Treibens hält und sein Stücklein Welt für die einzige, die es gibt.«871 Er folgt seiner Leidenschaft und ist bestrebt, dieses »Stücklein Welt« zu verlassen, die Grenze zwischen dem Ghetto als einer Heterotopie und der christlichen Umwelt zu überwinden. Die Grenze, welche die Isolation des Ghettos materiell, aber auch sozial, konfessionell und kulturell festlegt, hat in Der Pojaz einen konkreten Ausdruck. Sie wird mit dem jiddischen Begriff »Eiruw« bezeichnet, den Franzos im Text des Romans wie folgt deutet: Jedes Judenstädtchen ist von einem an Häusern, Bäumen oder Pflöcken befestigten Draht, dem »Eiruw« umzogen. Bei den »Mismagdim« in Galizien, den frommen Gemeinden in Posen und Westpreußen hat der »Eiruw« nur für den Sabbat Bedeutung. Da der Jude an diesem Tage keine Last aus seinem Hause hinaustragen darf, also niemand mit einem Gebetsmantel oder einem Taschentuch auf die Gasse treten dürfte, so wird durch den »Eiruw«, der den Ort umschließt, die Fiktion hergestellt, als wäre das ganze Weichbild ein Haus. Der Sekte der »Chassidim« aber, die ja in Barnow die herrschende war, genügt diese Bedeutung des Drahtes nicht. Bei ihnen ist es überhaupt verboten, zu anderen Zwecken als in Geschäften oder um das Gotteshaus auszusuchen, die Stube zu verlassen, denn der Fromme soll daheim sitzen und über Talmud und Thora grübeln. Da aber auch sie dies nicht immer tun können, so bedeutet der »Eiruw« die Grenze, innerhalb deren man spazieren gehen darf, denn da verlässt man gleichsam das Haus nicht.872
Senders Geständnis, dass er den »Eiruw« überschritten habe873, da er »frische Luft« benötige, bekommt hier eine Doppelbedeutung; für die Entwicklung der Handlung des Romans wird sie im direkten und übertragenen Sinne besonders relevant. Eine wichtige physische Grenze für den Protagonisten, die sich als permeabel erweist, ist der Fluss Pruth, den Sender überqueren muss, um nach Czernowitz zu gelangen. Diese räumliche Vorstellung bekommt hier eine neue Semantik, sie drückt die Idee der Überwindung der Grenze zwischen den beiden kulturellen Traditionen aus. Die Hauptstadt der Bukowina, die im Schaffen von Franzos schon immer ein blühendes »Stücklein Europa«, mitten in der »halbasiatischen Kulturwüste«874 war, liegt jenseits von Pruth, wenn man sich ihr von Sadagóra, dem Zentrum von Chassidismus, aus nähert. Nachdem Pojaz diese 871 872 873 874
Franzos 2002, S. 210. Ebd., S. 129–130. Ebd., S. 130. Franzos 1888–1889.
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Grenze überquert, die symbolisch den Kulturraum der chassidischen Mystik vom deutschkultivierten Czernowitz trennt, erlebt er zum ersten Mal in seinem Leben eine Theateraufführung. Die Begegnung mit dem Theater875 bestimmt sein Schicksal, sie wird zum zentralen Ereignis des Romans. Die nächste Grenze, die in der »Raumsprache« den Gegensatz der beiden Kulturen in Galizien zum Ausdruck bringt, ist die Grenze zur Burg, die Sender, sich überwindend, passiert.876 Hier trifft er einen verbannten Soldaten, den ehemaligen Wiener Studenten Wild, der ihm das Lesen deutscher Bücher beibringt. Senders geheime Flucht aus dem Ghetto, um nach Czernowitz zu kommen, entspricht dem Überqueren der wichtigsten Grenze, die ihn vom deutschen Kulturgut trennt. In ihr kulminiert die Handlung des Romans.877 Nach dem anstrengenden, aber gelungenen Passieren vom Eiruw kommt er zum Fluss Dniester878, der Galizien und die Bukowina, in der Optik des Autors aber den östlichen – bei Franzos »halbasiatischen« – vom westlichen, d. h. dem »deutschen« Kulturraum trennt. Hier wird Galizien zu einem »Zwischenraum«, der, ähnlich wie ganz Osteuropa in der Interpretation von Larry Wolff im Bewusstsein der Aufklärung zwischen den Tiefen der Barbarei und der Zivilisation sich befindet, das »zivilisierte« Europa mit dem »barbarischen« Asien verbindet.879 Es gelingt aber dem Pojaz nicht, diese natürliche Grenze zu überqueren, trotz all seiner Bemühungen. Es gibt dafür eine »realistische« Erklärung: der Eisstoß auf dem Fluss, der die Brücke zerstört. Ein anderer, symbolischer Grund für das Misslingen zur Überschreitung der Grenze zwischen den beiden Kulturräumen könnte sein, dass die Welt des Ghettos Pojaz nicht los lässt. Die Hauptgrenze, die zu überqueren ist, erweist sich für ihn, aber auch für den Autor, als impermeabel. Für die Sujetbewegung sei, der Lotmanschen Theorie des Narrativen entsprechend, das Überqueren der Grenze zwischen den komplementären Teilmengen eines semantischen Feldes entscheidend. Ein Ereignis im Text werde auf die Versetzung der Figur über eine solche Grenze, oder dem Bestreben, sie zu passieren, aufgebaut. Doch Pojaz, der im Franzos’schen Roman die Handlung trägt, scheitert in seinen Bemühungen, die Grenze zu verletzen. Er kehrt in den Raum seiner Herkunft, ins galizische Ghetto zurück und stirbt. Franzos verurteilt seinen Helden zum physischen Scheitern. Prägnant sind dabei die Worte des deutschassimilierten Arztes, der die Position des Autors raumreferentiell mit den oppositionellen Deiktika ausdrückt: »Dort wollte er leben, und hier will er ster875 876 877 878
Franzos 2002, S. 58–67. Ebd., S. 71–72. Ebd., S. 276. Die unterschiedliche Schreibweise des Namens des Flusses entspricht der Transliteration aus den verschiedenen Sprachen: »Dniester« ukrainisch bei Franzos und »Dnjestr« russisch bei Granach. 879 Wolff 1994, S. 6–8.
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ben«.880 Als entscheidend erweisen sich hier die typischen ethischen Werte der galizischen Juden, vor allem die Pflicht der Mutter gegenüber: […] er war ja der Sohn des Stammes, dem die schwersten Opfer der Eltern für ihre Kinder etwas Selbstverständliches sind. Aber ebenso selbstverständlich ist diesem Stamme die dankbare Treue der Kinder für die Eltern, das vierte Gebot wird nirgendwo auf Erden so heilig gehalten, wie im Ghetto des Ostens […].881
Aber nicht nur das Appellieren an die jüdische Tradition dient dazu, die Gründe des Scheiterns des Protagonisten beim Überschreiten der Grenze zwischen den kulturellen Teilräumen der erzählten Welt zu veranschaulichen. Es zeugt von der Skepsis des Autors gegenüber seinem Lebensprogramm, in dessen Zentrum die Frage der Assimilation des osteuropäischen Judentums im Sinne der deutschen Aufklärung stand, die für Franzos die Grundbedingung der Emanzipation der osteuropäischen Juden bedeutete. Ein jüdisches Mädchen, das Sender innig liebt, äußert sich vor Pojaz bezüglich Regina, die den Weg der Assimilation betrat: »[…] bei euch kommt alles aus dem Herzen und bei ihr alles aus dem Verstand.«882 Die Skepsis gegen den Vorrang der deutschen Aufklärung steht auch im Hintergrund von Senders Aussage, dass Shakespeares Shylock auf der Bühne darzustellen ihm lieber wäre.883 So charakterisieren die Handlungen, Ereignisse und Figuren des Romans das kulturelle Raummodell, das von Franzos narrativ produziert wird. Dem Textaufbau liegt dabei der Versuch des Protagonisten zugrunde, die Grenze seines Herkunftsraums zu überwinden. Das Scheitern dieses Versuches zeugt von der Enttäuschung des Schriftstellers über die Ideale des deutschen Humanismus. Obwohl sein Protagonist stirbt, beweist der Autor auf idealistische Weise dessen geistige Prävalenz. Granachs Autobiographie Da geht ein Mensch ist auch auf die Cronotopoi des Weges und der Begegnung fokussiert. Für diese Lebensgeschichte ist prägnant, dass das Überschreiten mehrerer Grenzen, die auf dem Lebensweg des autobiographischen Ichs entstehen, wie schon betont, die Dynamik der erzählten Welt ausmacht. Neben den Grenzen, die im sozialen Raum Galiziens vorhanden sind, wie zum Beispiel der Unterschied zwischen dem Dorf und der Kleinstadt als zwei gegensätzlichen Teilmengen dieses Raumes884, passiert der homodiegetische IchErzähler der Autobiographie erfolgreich mehrere physische und symbolische Grenzen zwischen Ost und West. Die zeitliche Distanz von fast einem halben Jahrhundert, aber auch die Sichtweise des Autors bestimmten dabei den Hauptunterschied zwischen den beiden verglichenen Texten, denn, wie Wolfgang Mül880 881 882 883 884
Franzos 2002, S. 342. Ebd., S. 180. Ebd., S. 256. Franzos 1988, S. 104. Ebd., S. 67, 176–177.
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ler-Funk bemerkt, »die Räume [sind] immer auch zeitlich begrenzt.«885 Zum europäisch kultivierten Zentrum Galiziens wird bei Granach die »Riesenstadt« Lemberg886, die in Der Pojaz ebenso als eine große Stadt erwähnt wird, jedoch eine, wo es vor »wildfremden Menschen«887 bangte. Die bei Franzos entscheidende Grenze – nämlich der Fluss Dniester, der sich für den Protagonisten seines Romans als impermeabel erweist – ist in Da geht ein Mensch kein Hindernis auf dem Weg des erzählendes Subjekts der Autobiographie: Es gibt schon eine eiserne Brücke über den Dnjestr.888 Neben der Erwähnung mehrerer Zugfahrten, der Beschreibung von Bahnhöfen und der Feststellung, dass es um die »erste Generation, die ohne Heiratsvermittler auskam«889, ging, zeugt diese Brücke vom Einbruch der Moderne in Galizien. Ähnlich, wie im Franzos’schen Roman spielt die Begegnung des autobiographischen Ichs mit dem Theater die entscheidende Rolle für seinen Werdegang. Sein erster Theaterbesuch findet jedoch nicht in Czernowitz, sondern in Lemberg statt. Diese Begegnung eröffnet ihm eine neue Welt und wird, ähnlich wie in Der Pojaz zum zentralen Ereignis der Lebensgeschichte von Granach: Aber eines Abends gingen wir ins Theater. Und hier war plötzlich das, was mit nichts vergleichbar war von allem, was ich bis jetzt gesehen, gehört, und erlebt hatte. Denn hier entdeckte ich eine ganz andere, eine mir unbekannte, eine neue Welt.890
Im Unterschied zum deutschsprachigen Theater in Czernowitz handelt es sich aber um ein jüdisches Theater. Das Problem der deutschen Assimilation wird erst dann aktuell, wenn das erzählende Ich den galizischen Raum verlässt. Wie der Franzos’sche Pojaz ist der Ich-Erzähler von dem, was er auf der Bühne sieht, völlig begeistert. Seine Reaktion ist aber anders als die von Sender: Er grenzt sich nicht vom Chassidismus ab, die Stimmung im Theater gewinnt für ihn sogar mystische Züge. Dementsprechend wird die Grenze zwischen der westlich orientierten Theaterkultur und der ostjüdischen Tradition für das autobiographische Ich verwischt: Ich verstand kein Wort von alledem. Ich wusste nur eins: Genauso sprachen die frommen Chassidim in Horodenka über die heiligen Wunderrabbis. Kein Mensch sprach hier vom Wochentag, von Arbeit, von Geschäften, nicht einmal von der eigenen Familie. Ich beneidete alle um ihre Teilnahme, um ihr Wissen, und meine Neugierde kitzelte mich irgendwo in der Herzgegend.891
885 886 887 888 889 890 891
Müller-Funk 2008, S. 9. Granach 1994, S. 102, 176. Franzos 2002, S. 269. Granach 1994, S. 126. Ebd., S. 119. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178.
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Die Begegnung mit dem Theater eröffnet für das erzählende Subjekt eine neue Welt, die Welt der Kunst: »Welch eine Welt! In drei kurzen Stunden ein ganzes Leben! Mehrere Leben! Welch eine große, wirkliche, überwirkliche Wirklichkeit!«892 Er entschließt sich, den neuen Weg zu gehen.893 Jedoch beim Beschreiten des neuen Weges existiert für den Ich-Erzähler der Autobiographie auch keine Grenze zwischen der Welt der Kunst und der ostjüdischen Realität Galiziens. Sie erwies sich für ihn als permeabel: Hier [auf der Bühne, L. C.] müßte man meinen Vater mit Jus Fedorkiw über Gott sprechen lassen, und Rachmonessl und Gottzumdank zeigen. Wie Rachmonessl in den Brunnen fällt und Gottzumdank Rachmonessls Grab zudeckt und selber dabei erfriert! Schimschale, den Milnitzer, den großen Weisen, der betteln ging, müsste man hier zeigen, […] Hier kann man ja alles erzählen und zeigen und fühlen, und die anderen fühlen alles mit und nehmen an allem teil.894
Seinem Bestreben folgend, ein Schauspieler zu werden, auf der deutschen Bühne zu spielen, beginnt das autobiographische Ich Deutsch zu erlernen, was seine »heimliche Sehnsucht war«.895 Die deutsche Sprache ist hier jedoch kein Mittel der Assimilation als Programm, wie es im Fall von Franzos war. Das Überschreiten der Grenze zwischen zwei Sprachen, Jiddisch und Deutsch, ermöglicht dem Ich-Erzähler »das Tor einer neuen, großartigen Welt«896 zu öffnen, die sonst für arme Leute »hinter Schloß und Riegel verrammelt«897 bleibt. Deutsch wird zum Mittel, ein deutscher Schauspieler zu werden. Bezüglich des Helden, der in den verglichenen Texten die Handlung trägt, spielt auf den ersten Blick die Zugehörigkeit des Romans und der Autobiographie zu verschiedenen Gattungen eine unterscheidende Rolle. Während im fiktionalen Text die zentrale Figur Sender Glatteis, genannt »Pojaz« ist, so wird die Handlung in Granachs Autobiographie vom erzählenden Subjekt getragen; die faktuale Lebensgeschichte entsteht im Prozess seiner Narration. Die beiden Texte, der fiktionale und der faktuale lassen sich aber auf den gemeinsamen Nenner bringen. Entscheidend sind dabei, Lotmans Theorie folgend, die grenzüberschreitend handelnden Protagonisten, die durch die Durchquerung unterschiedlicher Räume (semantischer Sujetfelder bei Lotman898) die treibende Kraft der Entwicklung des Sujets der jeweiligen Erzählung erzeugen und ermöglichen, sie als sujethaltig zu betrachten.
892 893 894 895 896 897 898
Ebd., S. 183. Ebd., S. 184. Ebd. Ebd., S. 217. Ebd. Ebd. Lotman 2006, S. 542.
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Neben dieser Tatsache gibt es in beiden Texten eine »verbindende« Figur, nämlich die zum Archetypus gewordene Gestalt des Shylock aus der Shakespeares Komödie Der Kaufmann von Venedig, mit der sich Pojaz und der IchErzähler der Autobiographie identifizieren. Diese Figur bewegt die Handlung sowohl bei Franzos als auch bei Granach und »baut eine Brücke« zwischen den beiden Texten auf. Pojaz sieht die Figur von Shylock zum ersten Mal in Czernowitz, als er die Theaterkunst für sich entdeckt. Sie macht auf ihn einen tiefen Eindruck: »›Ja‹, sagt der Alte und fängt an zu reden über Juden und Christen, und daß wir so bitter von den Christen verfolgt werden – durch Mark und Bein ist es mir gegangen und durch das tiefste Herz.«899 Beim Lesen der Dramen von Lessing in der Klosterbibliothek kommt Sender zum Schluss, dass er lieber den »›Schajelock‹, obwohl doch in diesem die Juden nicht so gut wegkommen«900, spielen möchte. Den Schluss aber, wo »der Jud’ verachtet und ausgelacht wird«901, müsste er anders gestalten.902 Von da an setzte sich Pojaz mit dieser Figur auseinander; er war bestrebt, sie selbst einmal auf der Bühne zu spielen und lernte die Rolle »wie sein Morgengebet«903 auswendig. Als Sender die Rede von Shylock bei der Probe der Truppe des galizischen Wandertheaters rezitierte, »vergaß er, wer und wo er war, er fühlte sich als der Jude Shylock auf dem Rialto zu Venedig«.904 Kurz vor seinem Tode war es ihm noch vergönnt, Dawison, den berühmtesten deutschen Schauspieler seiner Zeit, der »desselben Stammes wie er«905 war, in Lemberg in der Rolle von Shylock zu sehen. In Dawisons Darstellung wurde diese Gestalt für Pojaz zum Sprecher für die Menschenrechte der Juden: […] die tiefste Bewegung überkam ihn während der Eingangsszene des dritten Aktes. »Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?« – Das war kein Schauspieler mehr, sondern ein armer, unseliger Mensch, der lange seine und der Brüder Jammer verschlossen in sich getragen, der klaglos geduldet und nun plötzlich Worte fand für sein furchtbares Weh.906
Auf diese Weise verdeutlicht die Figur von Shylock die Position von Franzos im semantischen Feld der von ihm erzählten Welt. Die Begegnung mit Shylock spielt für das autobiographische Ich bei Granach aber auch eine entscheidende Rolle bei der Wahl seines Lebensweges:
899 900 901 902 903 904 905 906
Franzos 2002, S. 63. Ebd., S. 104. Ebd., S. 66. Ebd., S. 104. Ebd, S. 323. Ebd. Ebd., S. 352. Ebd., S. 354.
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Mit siebzehn Jahren lag ich auf der Erde und lernte aus dem Roman von Karl Emil Franzos den Shylock kennen. Ich lag da und heulte über das Unrecht, das diesem Menschen widerfahren war. Damals beschloss ich, mein ganzes Leben daranzusetzen, um einmal der Welt dieses Unrecht ins Gesicht schleudern zu können.907
Die Erwähnung der Erde, in diesem Fall der Erde Galiziens, erlangt hier im Sinne der Phänomenologie des Raumes von Edmund Husserl die Bedeutung der »Urheimat« als einer transzendentalen »Boden-Form«.908 Die Erfahrung des »Bodens« wird laut ihm zur Basis des Handlungsraums des Menschen, zur »Urarche«, die vor der Orientierungslosigkeit schützt.909 Dementsprechend bestimmt Galizien als Heimstätte des Ich-Erzählers in Da geht ein Mensch seine Handlungen. Er projiziert die Geschichte des Pojaz von Franzos auf seine eigene Lebensgeschichte und setzt sich mit dessen Identität auseinander, die er mit den beiden Gestalten, der von Sender Glatteis und der von Shylock, vergleicht. Dank Granachs Zusammenstellung des Vornamens des Franzos’schen Protagonisten Sender (eine jüdische Form von Alexander) mit seinem Künstlervornamen, sowie des Pojazs Interpretation des Namens Shylock als »Schaje (Jesaias)«910, der Granachs eigentlichem Vornamen Jessaja entspricht, kommt es in seiner Lebensgeschichte zur Verkoppelung von drei Identitäten: »S-h-y-l-o-c-k, sagt das Buch, heißt S-c-h-a-y-e, Yesejah, mein Name also, ein naher, ein intimer Mensch. Shylock und der Pojaz und ich wurden eins. Nein, waren nur noch ich.«911 Die Rolle von Shylock wird Granach durch sein ganzes Künstlerleben begleiten: »Ich habe ihn in meinem Vertrag, ich habe ihn in meinem Herzen, ich habe ihn in meinen Fingerspitzen!«912 In seiner Verkörperung wird Shylock, ähnlich wie in Der Pojaz, zum Sprecher der Menschenrechte der Juden, Shylocks »Verteidigungen« werden zu »Anklagen«.913 Granach schließt seinen Text mit einer von ihm räumlich gestalteten Geschichte von Shylock, wo er seiner Phantasie freien Lauf lässt. Er setzt den Wunsch von Pojaz um, ändert den Schluss und lässt seinen Shylock nach Osten gehen, nach Ostgalizien: Und da beschließt er, weiterzuwandern, nach dem Osten! Er reist durch die Länder der Ungarn und der Rumänen, der Polen und der Russen. Er wandert lange in diesen Ländern umher, bis er dann im Osten Galiziens, in der Ukraine, einen weisen alten Wunderrabbi findet.914
907 908 909 910 911 912 913 914
Granach 1994, S. 410. Husserl 2006, S. 153. Günzel 2006, S. 110–111. Granach 1994, S. 61. Ebd., S. 221. Ebd., S. 408. Ebd., S. 412. Ebd., S. 415.
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Der Wunderrabbi sprach leise und warm zu ihm: »Es ist gut, mein Sohn, dass du zu uns gekommen bist.«915 Granach’s Shylock heiratet in der Ukraine, die Kinder wuchsen heran auf der »schwarzen und saftigen Erde und bebauten sie.«916 So findet in seiner Autobiographie die Verschmelzung der beiden Teilräume West und Ost zu einem kulturell hybriden Raum Galiziens: »In ihre hebräischen Melodien mischte sich das langgezogene, melancholische slawische Lied…«917 Der Gegensatz von Ost und West wird aufgehoben, für die die Handlung der beiden Texte tragende Gestalt Shylock erweist sich die Grenze zwischen den beiden Kulturräumen als permeabel. Anstelle der Opposition baut Granach eine topologische Achse zwischen ihnen auf. Bei einem der Nachkommen von Granachs Shylock erwacht aber wiederum die Sehnsucht nach dem Westen; er möchte Schauspieler werden, um Shakespeares Shylock neu zu entdecken und ihn zum Vertreter der Menschenrechte der Juden zu machen. Die lineare Richtung der Entwicklung der Handlung wird zyklisch. Die Sujettheorie von Lotman heranziehend soll betont werden, dass laut ihr das Sujet aus zwei Schichten besteht: einer zyklisch-räumlich bestimmten und einer sie narrativ-linear befragenden.918 Dabei stellt die zyklisch-räumliche Schicht eine Welt dar; für sie ist die Herstellung und Versicherung typisch. Die narrativ-lineare Schicht dagegen gestaltet ein Ereignis; sie erkundet die Beschaffenheit der Welt. Die raumsemantische Analyse der beiden Texte aus und über Galizien – des Romans von Karl Emil Franzos Der Pojaz und der Autobiographie von Alexander Granach Da geht ein Mensch – lässt sie kontrastiv vergleichen und einem Sujettyp zuordnen, indem in beiden das Moment der Begegnung mit dem Theater und das Bemühen um Überschreitung der Grenze, welche die ost- von der westeuropäischen Kultur trennt, als zentral hervorgehoben wird. Es fällt dabei auf, dass im fiktionalen Text Der Pojaz die narrativlineare Schicht dominant ist: Das Bestreben des Haupthelden, die Grenze zwischen zwei Kulturräumen zu überschreiten, obwohl Franzos, wenn er auch das Ostjudentum als rückständig einschätzt, seinen Protagonisten in der ostjüdischen Welt bleiben ließ, verursachen die Entwicklung der Handlung des Romans. In Granachs Lebensgeschichte, die auf Fakten aufgebaut ist, spielt die zyklischräumliche Schicht eine grundlegende Rolle: Die »Welt von Vorgestern« wird hier hergestellt und wertgeschätzt. Alle relevanten Episoden des Textes sind aber mit den gelungenen Grenzüberschreitungen, realen und ideellen, verbunden, infolgedessen dieser autobiographische Text sujethaltigen Charakter annimmt. Somit kann man Granachs Autobiographie als eine Projektion des Romans von Franzos 915 916 917 918
Ebd., S. 416. Ebd. Ebd., S. 417. Mahler 2010, S. 249.
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ins Leben, als seine Verwirklichung bestimmen. So wird die Gemeinsamkeit der gattungsspezifisch verschiedener Werke hergestellt: Einerseits erzeugen sie das gleiche Raummodell der binären Opposition zwischen Ost- und Westkultur, andererseits wird die Möglichkeit vorgeführt, diese kulturelle Teilräume zu vereinen. Bei Franzos wird sie nur angedeutet, bei Granach aber realisiert. Mit dieser Perspektive ermöglichen die Handlungen, Ereignisse und Figuren der beiden Texte die verschwundene kulturelle Welt Galiziens zu erkennen. Somit kann man sie als zwei prägnante Beispiele des »Galizischen Textes« bestimmen, die mit anderen semantisch verbunden sind und über mehrere für sein Zeichensystem typische Kodierungsmittel verfügen. Vor allem sind es solche wie z. B. überschlagene Temporarität, wenn ungeachtet der zeitlichen Distanz des Erscheinens der beiden Texte und der unterschiedlichen Chronotopoi sie das gleiche Modell der Opposition und/oder Kompatibilität zwischen den an östliche bzw. westliche Tradition gebundenen Kulturen im narrativen Raum entwerfen. Gemeinsam sind dabei folgende Themen und Leitmotive sowie Handlungen und Ereignisse, die auch in anderen Texten der mehrsprachigen galizischen Literatur vorkommen: Galizien als Bodenform und Urheimat, die Heterotopie des ostjüdischen Ghettos, das Bestreben, es zu verlassen sowie damit bedingter Aufbruch aus Galizien, um in die westliche Welt zu kommen. Im Vordergrund steht dabei der Chronotopos des Weges und der Begegnung. Die wichtigste Rolle als Kodierungsmittel des »Galizischen Textes« spielt dabei die Grenzüberschreitung im breitesten Sinne, als Verletzung der realen und ideellen Grenzen des narrativ produzierten Raums, sei es die geographische oder die semantische Grenze. Nicht zuletzt sollen hier noch solche »durchquerende« Figuren erwähnt werden, wie die Franzos’sche Gestalt des Pojaz, die in die Lebensgeschichte von Granach übergeht oder die Figur von Shakespeares Shylock. Vom semantischen Zusammenhalt mit anderen Beispielen des gemeinsamen Substrats des »Galizischen Textes« zeugt auch die gattungsspezifische Hybridisierung der beiden Werke, die die faktuale Lebensgeschichte mit dem fiktionalen Text des Romans in die Nähe bringt.
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Die narrative Konstitution der kulturellen Übersetzbarkeit: Heterogenität und Hybridität des Kulturraums Galizien in der Lebensbeschreibung von Alexander Granach
Seit dem Translational Turn, der in den 1980er Jahren einsetzte, spricht man immer mehr von der Neubewertung der Übersetzungswissenschaft sowie ihrer Neuorientierung als Kulturwissenschaft. Das Übersetzen wird dabei aus dem linguistisch-textlichen Paradigma herausgehoben und als wichtige Form des Kontakts zwischen unterschiedlichen Kulturen untersucht. In ihrem zusammenfassenden Band Cultural Turns. Die Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften919 stellt Doris Bachmann-Medick die Übersetzungswende zwischen zwei anderen – der postkolonialen und der räumlichen Wende. Laut der Forscherin verdanken sowohl der Translational als auch der Spatial Turn den »postkolonialen Impulsen«.920 Und in der Tat, viele postkoloniale Theoretiker verbinden die Begriffe der Übersetzung und des Raumes und weisen auf ihre Bedeutung als Analysekategorien hin. Eine zentrale Rolle spielen die beiden Begriffe bei Homi Bhabha, der ein Kapitel seines Buches Die Verortung der Kultur folglich benennt: »Wie das Neue in die Welt kommt: Postmoderner Raum, postkoloniale Zeiten und die Prozesse kultureller Übersetzung«.921 Den Raum, in dem das Übersetzen zwischen den Kulturen stattfindet, definiert er als »Dritten Raum« (»Third Space«).922 Das Dazwischentreten des »Dritten Raums« wird somit als eine Interpretationsmethode, die gegen binäre Kategorisierungen gerichtet ist, verwendet. In methodologischer Hinsicht bedeutet das »Ausloten« des »Dritten Raumes« für Bhabha den Prozess der Hybridisierung.923 Dabei impliziert dieser Prozess, dass die kulturellen Differenzen nicht mehr identifiziert und damit auch nicht mehr vereinnahmt werden können.924 Somit verbindet Bhabha den Begriff »Dritter Raum« mit dem Konzept der Hybridität, den er wie folgt deutet: »Die Bedeutung von Hybridität besteht nicht darin, dass sie zwei ur919 920 921 922 923 924
Bachmann-Medick 2006. Ebd., S. 41. Bhabha 2000, S. 317–352. Ebd., S. 203. Ebd. Do Mar Castro Varela, Dhawan 2015, S. 236.
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sprüngliche Momente feststellt, aus denen ein dritter entsteht, sondern Hybridität […] ist der ›Dritte Raum‹, der die Entstehung neuer Positionen ermöglicht.«925 Hybridität sei also weder die Folge »reiner« Positionen, die einander aufgedrängt werden, noch die Folge dialektischer Aufhebung. Dem Prinzip des »Entweder-oder« wird das Prinzip »Sowohl-als-auch« in der kulturellen Praxis gegenübergestellt. Die Vorstellung von der Hybridität ist zu den Leitvorstellungen der postkolonialen Theorie geworden; im Zeitalter der Globalisierung gewann sie immer mehr an Gewicht. Hybridität hat dabei verschiedene Bedeutungen, wie zum Beispiel ästhetisch-mediale, sprachlich-literarische, kulturelle Hybridität und wird differenziert wahrgenommen, vom Inbegriff des Verlustes der Identität bis zur Vorstellung des Fortschritts.926 Es ist aber bemerkenswert, dass das Konzept der Hybridität nicht erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aktiv eingesetzt wurde, sondern viel früher, und zwar in den theoretischen Schriften von Michail Bachtin, dessen Definitionen im neuen Kontext positiv resemantisiert wurden. In seinem in den 1930er Jahren verfassten, erst 1975 publizierten Beitrag Das Wort im Roman erläutert Bachtin, wie er den Prozess der Hybridisierung bezüglich der Sprache versteht: Sie ist die Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung, das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche oder die soziale Differenzierung (oder sowohl durch diese als auch durch jene) geschiedene sprachliche Bewusstseins in der Arena dieser Äußerung.927
Wenn es in diesem Fall bei Bachtin anfänglich um die »Vermischung« zweier sprachlicher Bewusstseins innerhalb einer Äußerung geht (die Hybridisierung wird von ihm mit dem Verfahren der Pfropfung in der Botanik verglichen, wenn die beiden Elemente ihre Grundeigenschaften bewahren928), so schreibt er in seinem 1929 verfassten, 1963 veröffentlichten Buch Probleme des Schaffens bei Dostojevskij wie folgt: »In jeder Stimme konnte er [Dostojevskij] zwei miteinander streitende Stimmen hören, in jeder Äußerung einen Bruch und die Bereitschaft, sofort zu einer anderen, entgegengesetzten Äußerung überzugehen, er begriff die tiefe Zweideutigkeit jeder Erscheinung.«929 Aufgrund dieser Äußerung 925 Ebd., S. 249. 926 So wird auf der einen Seite der Prozess der Hybridisierung in den Romanen von Ivo Andricˇ als negativ dargestellt und dementsprechend bewertet – als solcher, der mit dem heutigen Stand der Kultur- und Literaturtheorie inkompatibel ist; auf der anderen Seite sieht man in der Hybridität die Möglichkeit, aus der Gewalt herauszukommen. Gerade an diese Deutung appellieren die letztgenannten Theorien. (Symposium der »ARGE Kulturelle Dynamiken«, Wien 21.-22. 11. 2016) 927 Bachtin 1979, S. 132. 928 Sasse 2010, S. 134. 929 Ebd.
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von Bachtin schlussfolgert Sylvia Sasse, dass, wenn es bei Bachtin um die Hybridisierung geht, sollen die miteinander verbundene Elemente nicht im Sinne einer primär angenommenen Reinheit wahrgenommen werden: Bachtin sei hingegen überzeugt, dass im Bereich des Austausches von Wörtern und Texten ihre Bestandteile schon im Vorfeld bestimmten Vermischungsprozessen unterliegen.930 Die Hybridität, schreibt sie, habe bei ihm folglich »nichts mehr mit Mischung oder Verlust von ursprünglicher Reinheit zu tun, sondern bezeichnet vielmehr Differenz, Korrelation, Koexistenz – also Dialogizität im Bachtins Sinn«.931 Gerade solche Deutung der Hybridität profiliert Bhabha für die Postcolonial Studies: Sie ist für ihn eine Eigenschaft der Kulturen, wenn nicht die Frage nach der ursprünglicher Reinheit gestellt wird, sondern die Aufmerksamkeit auf das Entstehen von neuem Inhalt fokussiert wird. Statt der Vorstellung einer Interaktion zwischen »reinen« Kulturen werden die Grenzlinien zwischen den Kulturen unter die Lupe genommen. So gewinnt die Grenze bei Bhabha die Eigenschaften des Ortes, von dem aus Kultur ausgedacht werden kann; sie wird dementsprechend zum »Dritten Raum.« Die Vorstellung dieser Grenzräume unterminiert die Auffassung authentischer und unkontaminierter Kulturen: Bhabha betont, dass sie die Konsequenz historischer Prozesse seien und nicht nur an der Grenze verortet, sondern vielmehr in einem Prozess der konstanten (Wieder-)Herstellung eingebettet sind. Sie seien, laut ihm, keine natürlichen Gegebenheiten und befinden sich im kontinuierlichen Werden. Jede Form von Identität sei dementsprechend der permanente Prozess der Übersetzung und der Hybridisierung. Es geht bei ihm ebenfalls um die Fragen der Korrelation und der Koexistenz, vom dem, was bei Bachtin das Konzept der Dialogizität betrifft. Folglich äußert sich Bhabha in einem Interview: »Hybridisierung heißt für mich nicht einfach Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet sind.«932 In Die Verortung der Kultur betont er, dass im Kontext der Hybridität auch eine neue Auffassung der kulturellen Dynamik vertreten wird. Bezüglich der Zentrum-Peripherie-Achse werden eher Ränder und Grenzzonen sowie »Zwischenräume« für kulturell produktiv gehalten.933 Gerade hier kommt es zum permanenten Dialog zwischen den Kulturen. Bachmann-Medick bezieht sich bei der Darstellung von Cultural Turns mehrmals auf die Konzeptionen von Homi Bhabha, dabei erwähnt sie die Schriften von Jurij Lotman, der neben Michail Bachtin zu den wichtigen Vor930 931 932 933
Ebenda, S. 136. Ebd., S. 137. Bhabha 09. 11. 2077. Bhabha 2000, S. 198.
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läufern der Wende in den Kulturwissenschaften gehört, in ihrem Buch nicht (sein Name kommt episodisch nur in den späteren Auflagen vor). Dabei gibt es, wie die Herausgeber der ersten deutschen Übersetzung der späten Arbeiten von Lotman über die Semiotische Theorie der Kultur (so der Untertitel des Buches Die Innenwelt des Denkens, das in der deutschen Übersetzung erst 2010 erschien) betonen, eine auffallende Ähnlichkeit bei der Lotmans Definition der Grenze und Bhabhas Beschreibung des »Dritten Raumes«: Für beide bedeutet die Grenze einen »Übersetzungsmechanismus«.934 Für Lotman, der für den semiotisch verstandenen Raum der Kultur den Begriff »Semiosphäre« einführt, ist der Prozess der unaufhörlichen Dynamik der Zeichenbildung und Zeichenlöschung, insbesondere im Fall der Nationalkulturen relevant, infolgedessen jede Semiosphäre zur Sphäre der zeichenhaften Kommunikation wird. Hervorgehoben wird dabei die ambivalente Rolle der Grenze, die nicht nur trennen, sondern auch aneignen kann. Infolge solcher Grenz-Dynamik wird die Grenze zum Ort des permanenten Dialogs und Entstehung der »Mischformen« der Kulturen: Die Grenze ist immer zwei- und mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache ›unserer eigenen‹ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ›Äußere‹ zum ›Inneren‹ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die innere Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren.935
Diese Überlegungen bezüglich der Grenze erinnern nicht nur annähernd an die Bhabhas Konzeption des »Dritten Raumes«. Hier und dort geht es um die Prozesse der Hybridisierung. Wenn Bhabha unterstreicht, dass es bei den ablaufenden »Verhandlungen« zwischen den Kulturen ständig neue Bedeutungen entstehen, so betont Lotman die nicht adäquate Übermittlung von Informationen: Vielmehr sei es, laut ihm, »der produktive Mehrwert«.936 Die Beiden betonen außerdem die unentbehrliche Präsenz des Dialogs, bei dem die Überwindung der Grenze zwischen den Sprechern notwendig ist. Um die Anwendbarkeit dieser Theorien der kulturellen Übersetzbarkeit zu zeigen, eignet sich insbesondere der Kulturraum Galizien, eines Grenzlandes »par excellence«, wo es zu einem aktiven kulturellen Austausch kam: Galizien wurde zum Schnittpunkt zwischen Ost und West, zur Grenze zwischen den lateinischen, byzantinischen und mosaischen Kulturwelten, dementsprechend zwischen dem Ost- und Westslawentum einerseits und dem Ostjudentum andererseits. Es gab hier auch mehrere innere Grenzen zwischen den Sprachen, Traditionen und Konfessionen. Somit wurde diese historische Provinz zum
934 Frank/Ruhe/Schmitz 2010, S. 393f. 935 Ebd., S. 182. 936 Frank/ Ruhe/Schmitz 2010, S. 405.
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Schwellen- und Zwischenraum, wo aktive Prozesse der Transformation und der Übersetzung stattfanden sowie zum »Dritten Raum« im Sinne Bhabhas. Die Sprachenvielfalt, aber auch die Mehrsprachigkeit waren im historischen Galizien Bestand des Alltags: Die multikulturelle Bevölkerung wechselte mühelos zwischen Ukrainisch, Polnisch und Deutsch. Die meisten galizischen Juden, insbesondere die gebildeten Schichten, beherrschten sogar fünf Sprachen: Neben dem gesprochenen Jiddisch waren sie des Ukrainischen und des Polnischen mächtig; als Sprache der Religion lernten die Kinder schon im frühen Alter Hebräisch.937 Deutsch wurde im österreichischen Galizien als Amtssprache sowie als Sprache der Kultur und Bildung besonders hoch geschätzt. Außer dem polyglotten Alltag kann man auch einige Beispiele des Wechsels des Sprachgebrauchs und der Selbstübersetzung im Schaffen einiger galizischer Autoren verfolgen: So verfasste um die Jahrhundertwende der Bühnenautor aus Lemberg, Thaddäus Rittner, seine Dramen auf Polnisch und Deutsch – es war, wie Jurko Prochas’ko schreibt, »der Versuch der Synthese von zwei großen kulturellsprachlichen Paradigmen, die in Galizien vertreten waren, der deutschen und der polnischen, und der Glaube daran, dass sie weiterhin die Parität bewahren werden.«938 Ivan Franko, der bedeutendste ukrainische Dichter Galiziens um die Jahrhundertwende schrieb und publizierte in der ukrainischen, der polnischen und der deutschen Sprachen. Seinen Roman Dlja domasˇnjoho vohnysˇcˇa [Für den häuslichen Herd] verfasste er 1892 in Wien auf Polnisch und übersetzte den eigenen Text ins Deutsche, um ihn 1894 in einer Sonntagsbeilage des Berliner »Vorwärts« zu publizieren. Etwas später, 1897, übersetzte Franko den Roman ins Ukrainische. Neben dem Gebrauch verschiedener Sprachen und den Übersetzungen aus einer Sprache in die andere, wurde das historische Galizien zum besonders dichten semiotischen Raum, wo alltägliche Übersetzungen unterschiedlicher Zeichensysteme stattfanden. So erwies sich der mehrdimensionale Kulturraum Galizien als besonders polyvalent und semiotisch dicht; um seine Kulturphänomene zu beschreiben, lohnt es sich dementsprechend, interdisziplinäre Methoden zu verwenden. Es soll betont werden, dass, wenn man im Fall Galiziens auf die Ansätze der Postkolonialen Studien zurückgreift, die habsburgische binnenkoloniale Herrschaft in der entlegenen Provinz in Betracht gezogen wird.939 Dabei kann man den Kulturraum Galizien auch als solchen betrachten, der im Sinne Lotmans semiotischer Theorie der Kultur aus mehreren benachbarten »Semiosphären« bestand, deren Grenzen von der permanenten inneren Dynamik gekennzeichnet waren, die neben den Konflikten mehrere Dialoge bewirkte und außerdem ty937 Morgenstern 1999, S. 86f. 938 Prochas’ko 2010, S. 78. 939 Vgl. Müller-Funk/Plener/Ruthner 2002; Csáky/Prutsch/Feichtinger 2003.
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pische Mischformen hervorbrach. In Hinsicht darauf soll folglich versucht werden, das Funktionieren der kulturellen Übersetzbarkeit im mehrdimensionalen Kulturraum Galizien der Analyse zu unterziehen. Die Kultur soll hier als plurale und dynamische Lebensform interpretiert werden, für die die Prozesse der Abgrenzung, des Austauschs sowie des Transfers und der wechselseitigen Beeinflussung oder Durchdringung eigen sind. Einerseits widerspiegeln diese Prozesse das mosaikartige Nebeneinander verschiedener kulturellen Gruppen in Galizien – die Tatsache, die es gestattet, den Kulturraum Galizien als heterogen zu bezeichnen, als solchen, wo jede einzelne Kultur als von innen gleichartige, nach außen aber als getrennte und begrenzte Entität verstanden werden kann. Wenn Lotman als eines der Kennzeichen der Semiosphäre ihre Heterogenität nennt – dabei seien laut ihm die Sprachen innerhalb solch eines semiotischen Raums verschieden; ihr Verhältnis zueinander reicht »von vollständiger wechselseitiger Übersetzbarkeit bis zu ebenso vollständiger Unübersetzbarkeit«940 – resultiert das im Fall Galiziens in Form von Kontakten und/oder Konflikten zwischen den einzelnen Kulturen. Andererseits stellte der Kulturraum Galizien als Resultat der Gesamtentwicklung von Anfang an eine komplexe Kulturformation dar, wo die einzelnen Kulturen nicht mehr als voneinander klar getrennte homogene Einheiten betrachtet werden können. Aus dieser Perspektive kann man hier mehrere Prozesse der Hybridisierung verfolgen, wenn kulturelle Zugehörigkeit und Identität als Resultat aktiver Konstruktionsprozesse in pluralen Kategorien verstanden werden. Als solches Phänomen gestaltete sich die »zusammengestellte« kulturelle Identität der Einwohner der Region, die ihre Mehrfachzugehörigkeit bezeugte. Diese Vorstellung der kulturellen Pluralisierung inkludiert das Bewahren des Eigenen und das Offensein zum Anderen, das gegenseitige Aneignen des eigenen kulturellen Erbes in Form des Dialogs zwischen den Kulturen. Die Grenzen zwischen kulturell Eigenem und Fremdem werden in diesem Fall »porös«.941 Dabei wird kulturelle Übersetzbarkeit, wie Anil Bhatti bemerkt, stets prinzipiell vorausgesetzt: »Das Feld der Übersetzung spielt im Ähnlichkeitsdenken eine wichtige Rolle, denn der Gedanke der partiellen Übereinstimmung und partiellen Abweichung ist aus der Theorie und Praxis der Übersetzung bekannt.«942 Für die Analyse eignet sich hier insbesondere der narrativ konstituierte Kulturraum Galizien; dabei können die Beispiele aus dem »Galizischen Text«, in denen es geht, wie dieser Kulturraum zum Ausdruck gebracht wurde, als empirisches Material dienen.943 Eine besondere Rolle spielen in der vielsprachigen »gemeinsamen Erzählung« Galiziens diejenige, die auto940 941 942 943
Lotman 2010, S. 166. Bhatti 2015, S. 121. Bhatti/Kimmich 2015, S. 17–18. Nicht zufällig waren Jurij Lotman und Homi Bhabha vor allem Literaturwissenschaftler.
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biographische Bezüge aufweisen und die »andere« Zeit retrospektiv »aus eigener Erfahrung« narrativ konstituieren. Zu solchen Texten gehört auch die faszinierende Beschreibung des eigenen Lebenswegs eines auf der deutschsprachigen Bühne bekanntesten expressionistischen Schauspielers jüdischer Abstammung Alexander Granach Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens, der 1945 in der englischen Übersetzung in New York erschien; im Original wurde das Buch 1949 in Weimar publiziert. Das in diesem Text dargestellte Galizien wird einerseits zu einem heterogenen Grenzraum zwischen den Kulturen und Identitätsbestimmungen, andererseits aber auch zum »Dritten Raum« im Sinne von Bhabha, wo mehrere Prozesse der Hybridisierung stattfinden. Außerdem kann man diesen narrativ konstituierten Kulturraum als einen semiotischen Raum im Sinne von Lotman denken, in dem man vor allem drei »Semiosphären« umreißen kann. Erstens sind das die ostjüdische und die ukrainische, wenn es in den ersten neun Kapiteln der Autobiographie um Kindheits- und Jugendjahre in Galizien geht und das Geschehen auf die Darstellung des Zusammenlebens einer jüdischen und einer ukrainischen Familie (Gronichs und Fedorkiws) fokussiert ist. Zweitens ist das die polnische, die ausdrücklich, sogar räumlich, distanziert ist: Die Familie des polnischen Gutsbesitzers wohnt auf dem Hügel, ihr Habitus unterscheidet sich von dem der jüdischen und der ukrainischen Dorfbewohner. Zwischen den benachbarten jüdischen und ukrainischen Familien, die zwei für Galizien typische differente Kulturen und Konfessionen repräsentieren und doch viele gemeinsame Züge im Lebensstil aufweisen, entstehen mehrere Mechanismen des Dialogs. Die Grenzdynamik zwischen diesen Semiosphären beinhaltet die Abgrenzung, aber auch die Übersetzung und die gegenseitige Aneignung. Wenn es zur Konfrontation kommt, dann ist sie »von außen«, von den Institutionen der Macht (vom polnischen Gutsbesitzer) oder der Kirche (vom griechisch-katholischen Pfarrer) inspiriert. Man findet im Text markante Beispiele der kulturellen Koexistenz und Übertragungen, die sowohl von der Heterogenität als auch von der Hybridität des Kulturraums Galizien zeugen. Es sind »vier Freundschaften«, durch die die »beide[n] Familien verbunden«944 sind: Die Beziehungen zwischen den Müttern der jüdischen und der ukrainischen Familie; die Freundschaft zwischen zwei behinderten Kindern; die Liebe zwischen dem Sohn aus der ukrainischen und der Tochter aus der jüdischen Familie sowie die Freundschaft zwischen den Vätern. Sie demonstrieren verschiedene Arten des Umgangs mit kulturellen und konfessionellen Differenzen. Einen besonderen Fall stellt in der Autobiographie die narrative Konstituierung der hybriden Identitäten Galiziens. Da die beiden Nachbarfamilien fast die gleiche Lebensweise haben, teilen die Mütter ihre Sorgen und Pflichten im Alltag: Sie helfen einander im Haushalt, sie 944 Granach 1994, S. 44.
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gebären gleichzeitig ihre Kinder und tauschen sich beim Stillen aus. In ihrem Leben finden permanente Prozesse der Übersetzung zwischen semiotisch unterschiedlichen Codes statt, infolge derer die Mischformen entstehen. Fast derselbe Lebensstil der Mütter wird aber durch die Unterschiede begrenzt, die während der religiösen Feste in den Vordergrund treten. Wenn die Grenze zwischen den beiden Frauen, die zu differenten kulturellen Räumen gehören, im Alltag Porosität aufweist und ständig überwunden wird, ist sie hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Konfessionen unüberwindbar: Die ganze Woche war man befreundet, half sich gegenseitig; wir hatten dieselben Sorgen, dieselben Nöte, dieselben Masern, dieselben Pocken, dieselben Arzneien, planschten oder glitschten im selben Bächlein, aber jeden Sonnabend wurden wir daran erinnert, daß wir Juden waren. Und jeden Sonntag wurden sie daran erinnert, daß sie Christen waren.945
In Bezug auf die Religion herrscht unter den Müttern ein Mangel an Akzeptanz. Folgend spottet die jüdische Mutter vor ihren Kindern über die christliche Prozession, den Priester und die Menschen zu Weihnachten: Ja, sagte sie, Unser, Unser Großer Gott sitzt im Himmel auf einem feurigen Thron und schickte Moses, dass er für uns das brausende Meer spalte, und führte uns heraus, von dort, wo es noch schlechter, noch viel schlechter war, als es jetzt hier ist; führte uns in ein gelobtes Land […], und gab uns die Thora und alle Weisheit der Welt. Und die küssen Figuren und beten zu geschnitztem Holz.946
Die Unübersetzbarkeit zwischen den Begriffen, Signalen und Objekten der beiden Konfessionen – der christlichen und der mosaischen – endet in Konflikten zwischen den benachbarten und gewöhnlich befreundeten Müttern der beiden Familien, deren Leben im Schwellenraum zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen und Identitätsbestimmungen verläuft. Er zeugt vom Bhabhas: »Fast dasselbe, aber nicht ganz«947, wird aber nicht zum hybriden Dritten Raum und bleibt wegen der religiösen Abgrenzung heterogen. Eine besondere Form der Hybridisierung kann man aber im Fall der zweiten, »sehr wichtigen Freundschaft in beiden Familien«948 verfolgen, und zwar der innigen Beziehung zwischen zwei gleichaltrigen behinderten Kindern, dem missratenem Jungen der Fedorkiws, den man »Bohugekowate« (ukr. »Bojudjakuvaty« – »Gottzumdank«) nannte, und dem verkrüppelten Knaben der Gronichs, der den Spitznamen »Rachmonessl« ( jidd. – »Mitleidchen«) bekam. Unter den beiden Außenseitern entsteht eine besondere Form der nonverbalen Kommunikation: 945 946 947 948
Ebd., S. 33. Ebd., S. 34. Bhabha 2000, S. 198. Granach 1994, S. 42.
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Und ohne dass jemand was dazu getan hätte, bestand zwischen Gottzumdank und Rachmonessl eine zarte Freundschaft. Man konnte sie immer irgendwo zusammen sehen. Sie konnten stundenlang sitzen und schweigen wie zwei Pferdchen. Dann wieder betasteten sie sich und wälzten sich, lachten sogar zuweilen und saßen wieder ruhig. Sie teilten alles, was sie hatten […]. Manchmal schlugen sie sich auch, aber nur so in Abständen: Einer bekam einen Stoß, fasste sich an die Stelle, wartete, dann gab er einen Stoß zurück; oder sie bissen sich gegenseitig in die Hände, die Ohren, die Nasen, aber niemals bösartig, nur wohl aus Neugierde, denn sie sahen immer freundlich dabei aus; […].949
Markant ist es, dass gerade die Signale und Objekte der beiden Kinderwelten, der jüdischen und der slawischen insgesamt übersetzbar sind: »Die Kleinen spielten in beiden Gärten, tauschten das Futter aus und sprachen dieselbe Sprache.«950 Sie schaffen somit den hybriden »Dritten Raum« der Freundschaft, die sogar den Tod überdauert. Als der von betrunkenen jungen Männern aus der ukrainischen Familie gejagte Rachmonessl im Brunnen ertrinkt, folgt sein Milchbruder Gottzumdank ihm ins Jenseits: Aber Gottzumdank kniete jetzt am Grabe seines Freundes nieder, nahm das Brot und das Salz aus seinem Bündel und stellte es auf das Grab und wartete, daß sein Freund die Hand ausstreckte und die Gaben in sein neues Heim hineinnähme. Aber nichts dergleichen geschah. So vergrub Gottzumdank das Brot und das Salz im Grabe und wartete auf ein Zeichen seines Freundes…951
Gottzumdank erfriert auf dem Grabe des Freundes und niemand merkt es. Während des Begräbnisses spricht der alte Fedorkiw am Grab seines Sohnes über den Sinn des echten Glaubens wie folgt: »[…] er liebte seinen Freund mit einer Zartheit und Treue, wie sie dem Vater aller Wesen sicherlich genehm sein wird, und wie sie der Dorfpfarrer doch nie verstehen kann.«952 Die Grenze zwischen den beiden Semiosphären, zu der die verstorbenen Kinder gehörten, verschwindet, es bleibt der einzige hybride »Zwischenraum« der Gefühle, in dem sowohl die unterschiedlichen Kulturräume als auch der Glaube gleich werden. Dank der Freundschaft zwischen einem christlichen und einem jüdischen Knaben entsteht etwas Neues, wenn auch keine neuen Bedeutungen im kulturellen Sinne geformt wurden. Zum prägnanten Beispiel der Überwindung der Grenze zwischen zwei Kulturräumen in Galizien, infolge dessen neue kulturelle Bedeutungen und Werte entstehen, wird die Freundschaft und Liebe zwischen dem ukrainischen Studenten Iwan Fedorkiw und dem Mädchen aus der jüdischen Familie, Rachel 949 950 951 952
Ebd., S. 44. Ebd. Ebd., S. 53 Ebd., S. 56.
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Gronich. Wenn ihre Beziehung zueinander von den Geschwistern verspottet, aber doch geduldet wird, richtet sich nach dem tragischen Tod von Rachmonessl der ganze Hass des Dorfes gegen das junge Paar: Als »Sündenböcke des Unheils«953 werden sie vertrieben. Exemplarisch für eine hybride Identität der Liebenden werden die Worte einer Bäuerin: »Wir sind Christen und die Aarons sind Juden, und diese zwei sind beides nicht.«954 Durch die Beziehung zwischen Iwan und Rachel wird der »Dritte Raum« konstituiert, in dem man frei handeln kann. Eine wichtige Rolle bei der Überwindung der Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Semiosphären mit ihren kulturellen und religiösen Differenzen spielt neben den Gefühlen der jungen Menschen die Bildung: Der ukrainische Student versorgt das von ihm geliebte jüdische Mädchen mit Büchern. Die Freundschaft und Liebe zwischen Iwan und Rachel finden aber auch eine große Unterstützung in den Beziehungen der Väter der beiden Familien. Die dauernde Freundschaft unter ihnen, die nicht nur von der Toleranz, sondern von der Anerkennung und der Akzeptanz des Anderen gekennzeichnet ist, schafft neue kulturelle Bedeutungen und widersteht der Propaganda und den Gewaltausbrüchen: Sie beschirmt die Liebenden. Es ist ein besonderes Beispiel der Freundschaft, die neben dem eigenen Standpunkt die Übersetzung von einer in die andere Semiosphäre ermöglicht. Dabei wird ein produktiver Mehrwert produziert, der zu neuen gemeinsamen Werten führt. Diese Art der Freundschaft überwindet die Grenze zwischen den Kulturen und Konfessionen: Sie wird hier zur »filternden Membran« im Sinne von Lotman: Unser Vater sprach sehr oft mit uns belehrend darüber. Er erklärte uns, dass einen Freund zu haben oder jemandem ein Freund zu sein, ein großes Glück sei. Freundschaft ist etwas Heiliges und hat eigene Gesetze und reicht weiter denn Verwandtschaft und Familie, pflegte er zu sagen. Denn in eine Familie wird man hineingeboren, aber Freunde findet man. Familie ist wie die Erde. Man lebt da, und sie nährt einen, aber Freundschaften sind wie Diamanten und Goldadern und andere Schätze tief in der Erde verborgen und selten, […] Und es macht glücklicher, Freundschaft zu geben als zu empfangen. Aber das Höchste ist, wenn eine Freundschaft sich das Gleichgewicht, die Waage hält. Vater hielt den Christen, Jus Fedorkiw, für seinen Freund, der ihm näher war als seine Glaubensgenossen, die zum selben Gott beteten, sich derselben Sprache bedienten und dieselben Sitten und Gebräuche wahrten.955
Markant ist es, dass die beiden Väter »seit vielen Jahren« ein Gespräch führen, »ein Gespräch in Fortsetzungen«.956 Sie kommunizieren also im von ihnen geschaffenen »Dritten Raum«, für den die Dialogizität im Sinne Bachtins kenn-
953 954 955 956
Vgl. Girard 1988. Granach 1994, S. 54. Ebd. S. 189–190. Ebd., S. 39.
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zeichnend ist. Gerade so versteht Homi Bhabha den Dialog, den er in den von ihm definierten Third Space platziert: Bei Third Space geht es um Transformationen in gesellschaftliche Verhandlungen. D. h. Menschen kommen mit unterschiedlichen Einstellungen zusammen und streiten miteinander um Bedeutungen. Dabei entstehen neue Freiräume. […] Der Begriff war nicht als Alternative zur Welt gedacht, sondern als ein Raum in ihr. Darin werden Verhandlungen geführt, in all seinen Ungleichheiten und Asymmetrien, um ein gerechteres Szenario zu konstruieren.957
Die Präsenz des Dialogs zwischen den Sprechern hebt ihre kulturelle und konfessionelle Zugehörigkeit nicht auf, die Ungleichheiten bleiben, in semiotischer Hinsicht sind die Gesprächsteilnehmer unterschiedlich, wenn sie auch nur eine natürliche Sprache sprechen. Die Asymmetrien werden aber, laut Lotman, als Voraussetzung des Ablaufs des Dialogs notwendig: Denn ohne sie erübrigt sich der Dialog; es wird ansonsten keine Information übertragen und keine Übersetzung möglich, die zu einem gelungenen Transfer führt.958 Relevant ist dabei, dass der Dialog nicht nur »für das Gelingen der Kommunikation, sondern auch für die Eindämmung und Bändigung der bestehenden Asymmetrie, für die Überwindung der Grenze zwischen den Sprechern verantwortlich ist.«959 Nur mithilfe des Dialogs kann etwas Neues erreicht werden. Im Fall der Kommunikation der Väter bei Granach geht es um gemeinsame Werte, nach denen sie bereit sind zu handeln. Da kulturelle und religiöse Grundunterschiede unter ihnen bleiben, denken die beiden gemäß dem Prinzip »sowohl-als-auch«, welches zu den Hauptprinzipien der Hybridität gehört. Die beiden Väter sind irritiert, dass ihre erwachsenen Söhne »leichtgläubig«960 geworden sind und eigenen Traditionen nicht folgen. So konstatiert der alte Fedorkiw: »[…] da hast du wieder recht, meine bekreuzigen sich nicht und deine beten nicht, deshalb die Zeichen und die Warnungen«.961 Die Väter suchen in ihrem Dialog nach der Lösung, aber nicht im Sinne der Vermischung, sondern des Gleichgewichts. Seit Jahren führen die beiden immer ein und dasselbe Gespräch: Warum der liebe Gott, den doch alle Völker und alle Religionen als letzte Autorität anerkannten und der auch selbst als Vater aller alle Wesen, sogar die Regenwürmer, anerkannte, warum Er wohl nicht ein Volk, ein großes Volk und so auch eine Religion erschaffen hätte?… [Hervorhebungen im Original, L.C.]962
957 958 959 960 961 962
Bhabha 09. 11. 2077. Frank/Ruhe/Schmitz 2010, S. 405. Ebd. Granach 1994, S. 40. Ebd. Ebd., S. 39.
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Die im Original hervorgehobenen Begriffe »ein großes Volk«, »eine Religion« haben mit dem »Verlust von ursprünglicher Reinheit«963 nichts mehr zu tun: Es geht hier um die Koexistenz, um die tiefe Zweideutigkeit jeder Erscheinung – also um die Bachtin’sche Dialogizität. Außer den Beziehungen zwischen den Vätern der beiden Familien gibt es im Text der Lebensbeschreibung von Granach auch andere Merkmale der Hybridität im Kulturraum Galizien. Es sind zwei Gestalten, die hybride Identitäten aufweisen: der drittälteste Bruder des Ich-Erzählers, Jankel Gronich, und ein armer Verwandter der Familie, Jessajah Berkowitz. Jankel hilft dem älteren Bruder Abrum, Pferde zu verkaufen. Einst betrieb Abrum zusammen mit einem armen ukrainischen Bauern Schweinehandel, was im hybriden Kulturraum Galizien auch zustande kommen konnte, obwohl er dadurch Schande und Spott für die ganze jüdische Familie herbrachte.964 Jankel zieht sich »ganz ukrainisch« an, »denn es war wärmer im Winter, kühler im Sommer und billiger das ganze Jahr.«965 Er geht mit den Dorfburschen umher; da er »bildschön«966 war, liefen ihm die ukrainischen Bauernmädel nach. Noch ausgeprägter erweist sich die hybride Identität aber im Fall von Jessajah Berkowitz, der aus der Stadt kommt und eine hybride Lebensweise führt: Er war halb ukrainisch gekleidet, die Bauern mochten ihn und nannten »›Szajko Rozum‹, das heißt ›Jessaja, der Kluge‹«967, denn er wusste allen eine Antwort zu geben, »mit einem Gleichnis, einer heiteren Erläuterung.«968 Die kulturellen und religiösen Ansichten Jessajahs weisen ausgeprägt hybride Züge auf: »Er pflegte manchmal sogar auf ukrainisch zu beten und hebräische Psalmen auf ukrainisch zu singen, denn er behauptete, der liebe Gott verstehe alle Sprachen, wenn man es nur ehrlich meine.«969 Außerdem »sang er jiddische und ukrainische Melodien und wusste zu erzählen, Kombinationen von jiddischen und slawischen Volkssagen und Legenden, mit Gleichnissen und Beispielen und weisen Aussprüchen.«970 Nach der Geburt bekommt Granach den Vornamen von Jessajah, und sein Vater pflegte oft zu ihm zu sagen: »Mein Sohn, du trägst den Namen eines freundlichen Menschen.«971 Nicht zufällig verlief Granachs eigener Lebensweg in vielerlei Hinsicht im hybriden »Dritten Raum« und war von mehreren Grenzüberschreitungen, Identitätsbestimmungen und kulturellen Übersetzungen geprägt. 963 964 965 966 967 968 969 970 971
Sasse 2010, S. 137. Granach 1994, S. 27. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd., S. 11. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 15.
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So kann der in der Lebensbeschreibung von Alexander Granach narrativ konstituierte Kulturraum Galizien, wenn man ihn unter der Perspektive der Theorien der kulturellen Übersetzbarkeit betrachtet, wie sie in der semiotischen Kulturtheorie von Lotman und in den Kulturkonzeptionen von Homi Bhabha ausgeformt wurden, als ein Interaktionsraum im Kontakt der Kulturen gedeutet werden. In dieser Hinsicht gilt er als prototypisches Beispiel der Synchronie der Lebenswelten und repräsentiert, als »Dritter Raum« das Grenzphänomen der Übersetzung. Das von Granach dargestellte Galizien seiner Kindheit und Jugend wird zum Ort der Auseinandersetzung und/oder des Zusammenwirkens zwischen den Kulturen. Der Autor beschreibt unterschiedliche Phänomene, die von der Destabilisierung der Grenzziehungen zwischen Eigenem und Fremdem zeugen und wo es dank des Dialogs neue Werte entstehen – von kritischer Bestreitung und Abgrenzung bis zur Akzeptanz und Erweiterung der eigenen Identität. In diesem Sinne zeigt Granach nicht nur, welche Probleme ein heterogener Kulturraum in sich birgt, sondern auch welche Möglichkeiten ihrer Überwindung es auf dem Wege der Bewegung in Richtung zur kulturellen Hybridität gibt. Als autobiographische Lebensbeschreibung, die die Vergangenheit Galiziens retrospektiv darstellt, wird Granachs Werk zum komplementierenden Zeichensystem des gesamten »Galizischen Textes«. Semantische Verbindbarkeit mit anderen Texten dieses Systems schafft hier vor allem die Darstellung der für den Kulturraum Galizien typischen »inneren« Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen sowie der semantischen Grenze zwischen den Kulturen des europäischen Ostens und Westens. Wenn diese Grenzen von einer Seite als undurchdringlich erscheinen, was von der Heterogenität des Kulturraumes zeugt, demonstrieren sie von der anderen die Porosität, wenn infolge der Grenzüberschreitungen semiotische Dynamik, die einen hybriden »Dritten Raum« erzeugt, entsteht. Zu den prägnantesten Beispielen des in der Lebensgeschichte von Granach dargestellten »Schwellen-« und »Zwischenraums« werden die ihn konstituierenden Codes solcher Themen und Motive wie Freundschaft, Liebe und Dialog, infolgedessen hybride Identitäten entstehen. Auf diese Weise erweist sich die autobiographische Beschreibung des Lebenswegs von Alexander Granach Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens als paradigmatische Komponente des »Galizischen Textes« insgesamt.
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Literaturverzeichnis Primärliteratur Granach, Alexander: Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens, München/Zürich: Piper 1994. Morgenstern, Soma: In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien, Berlin: Aufbau Taschenbuch 1999.
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IV. Galizien im Umfeld des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit
Inszenierung des Raumes Galizien im Zeichen des Untergangs der k.u.k. Monarchie: Joseph Roth und Andrzej Kus´niewicz
»Götterdämmerung«972 definiert Stefan H. Kaszyn´ski die Periode der Geschichte Galiziens unmittelbar vor dem Untergang des Habsburgerreiches. Denn als eine politisch-administrative Einheit existierte das nordöstliche Kronland »GalizienLodomerien« im Rahmen der Habsburgermonarchie zwischen 1772–1918 und verschwand mit Ende des Ersten Weltkrieges von den politischen Landkarten Europas. Sein Territorium wurde zum Bestandteil anderer Staatsgebilde. Die in, aus und über Galizien geschriebene Literatur, die zu einer der wichtigsten seiner geistigen Hinterlassenschaften zählt, sagt – so Kaszyn´ski – etwas aus, »das man in keinem Geschichtsbuch und in keiner Dokumentensammlung wiederfindet«.973 In den literarischen Texten entsteht nämlich, schreibt der polnische Literaturforscher bezüglich des »literarischen Fresco« der den Ereignissen des Zerfalls der k.u.k. Monarchie gewidmeten Romane974, »eine teils nachgezeichnete, teils nachempfundene Schilderung der Atmosphäre des Untergangs einer Welt, deren geistige Qualität sich auf die Kunst des 20. Jahrhunderts [und des 21. Jh.s. – L. C.] noch bis heute auswirkt«.975 Eine komparatistische Zusammenstellung solcher Texte ermöglicht eine Einsicht in die galizische Welt von damals aus verschiedenen kulturellen und zeitlichen Perspektiven zu gewinnen. Die vergleichende Textanalyse soll bei den folgenden Überlegungen durch die Hermeneutik des Raumes ergänzt werden. Eine besondere Stellung unter den Texten, die den Zeitraum des Untergangs des Habsburgerreiches darstellen, nehmen zwei Romane ein: Radetzkymarsch976 von Joseph Roth (1932) und Lekcja martwego je˛zyka (1977) [Lektion in einer 972 Kaszyn´ski 1987, S. 55. 973 Ebd., S. 57–58. 974 Dem Thema des Untergangs der Habsburgermonarchie wandten sich mehrere Autoren zu, solche wie die polnischen Schriftsteller Jósef Wittlin und Andrzej Kus´niewicz, der jüdischpolnische Autor Julian Stryjkowski, und, natürlich, der österreichische Romancier Joseph Roth. 975 Kaszyn´ski: 1987, S. 58. 976 Roth 1990.
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toten Sprache (1987)] von Andrzej Kus´niewicz. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dem polnischen Autor der international bekannt gewordene Roman des österreichischen Romanciers vertraut war; bei den komparatistischen Fragestellungen soll vor allem aber ein thematologischer Vergleich durchgezogen werden, wenn Themen, Motive, Sujets, Mythen etc. in Beziehung gesetzt werden. Die beiden Texte gelten als Abgesang auf die Habsburgermonarchie, sie thematisieren ihren Niedergang. Der Handlungsraum wurde dabei bewusst gewählt – die Autoren haben sich für die nordöstliche Peripherie von Österreich-Ungarn entschieden. Solche Wahl kann, wie Barbara Piatti schreibt, »ein möglicher Schlüssel zur Deutung von literarischen Texten sein.«977 Wenn auch das Sujet des Roth’schen Romans eine breitere Zeitspanne umfasst und mit den Ereignissen an der Ostfront am Anfang des Ersten Weltkrieges endet, Kus´niewicz aber eine Episode am Ende des Krieges in Galizien schildert, dominieren in beiden Texten gleiche Motive, nämlich die Todessehnsucht und das hoffnungslose Verurteiltsein der letzten Generation der k.u.k. Militär-Elite, ihre Degradierung als Parallele zum Niedergang der Großmacht. Die Protagonisten der Romane sind die jungen österreichischen Offiziere: Der Leutnant Carl Joseph von Trotta in Radetzkymarsch, dessen kurzes ziel- und sinnloses Leben im Schatten des von slowenischen Bauern abstammenden und zum »Helden von Solferino« gewordenen Großvaters verläuft, und der an einer hochgradigen Tuberkulose leidende junge Ulanen-Oberleutnant Alfred Kiekeritz aus Graz in Lekcja martwego je˛zyka, dessen Mutter auch aus Slowenien stammt. Es ist nicht zufällig, dass sie in Galizien ihren Militärdienst ableisten sollten: Laut dem Historiker Jan Rydel zählten die galizischen Garnisonen unter den deutschösterreichischen Offizieren »wohl zu den unbeliebtesten Dienstorten in der ganzen Monarchie.«978 Diese Situation wurde durch die Kriegsverhältnisse noch verschärft. So schreibt Stefan H. Kaszyn´ski bezüglich dieser Romane: »Der große Tod kam nach Galizien von außen, er wurde durch das vom Krieg verwüstete Land vergegenwärtigt. Man starb in Galizien, man kam aber auch nach Galizien, um zu sterben. Das letzte traf symbolisch besonders für die Österreicher zu; […]«.979 Bei aller Verschiedenheit – der Oberleutnant Kiekeritz ist ein raffinierter Ästhet, der sich für Nietzsche begeistert und zu dessen Leidenschaften die Sammlung von Kunstgegenständen gehört980, was man aber nicht vom Leutnant von Trotta sagen kann, der »keinerlei
977 Piatti 2008, S. 20. 978 Rydel 2010 S. 222. Die Ursachen davon kommentiert Rydel wie folgt: »Sie [die deutschösterreichischen Offiziere, L. C.] bemängelten die primitiven Quartiere und überhaupt die niedrige Lebensqualität sowie die allgegenwärtige Langeweile, […]«, S. 222. 979 Kaszyn´ski 1988. S. 30. 980 Barbara Kaz´mierczyk interpretiert Kiekeritz als Sinnbild einer dekadenten Existenz. Vgl. Kaz´mierczyk 1978, S. 234–271.
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literarischen Geschmack besaß«981 und den Trost im Alkohol fand – sind sie einander durch ihre melancholischen, fatalistischen Stimmungen nah: Die Beiden sind von Todesgedanken ergriffen. Kaszyn´ski definiert sie als »Schlüsselfiguren eines sonderbaren Todesmysteriums, das sich beim Untergang der k.u.k. Monarchie gerade im von Gott verlassenen und von Menschen vergessenen Galizien abspielt.«982 Joseph Roth und Andrzej Kus´niewicz schrieben ihre Texte retrospektiv; dabei sind die Romane zeitlich voneinander fast ein Halbjahrhundert entfernt. Radetzkymarsch wurde aus der zeitlichen Distanz von etwas mehr als zehn Jahren zu den geschichtlichen Ereignissen verfasst. Lekcja martwego je˛zyka schrieb Kus´niewicz viel später nieder, schon nach dem Zweiten Weltkrieg, als nicht nur die Habsburgermonarchie, sondern auch die galizische Welt selbst nur noch als Gedächtnisraum existierte. Dessen ungeachtet kann man neben den genannten komparatistischen Fragestellungen auch einige Aspekte des typologischen Vergleichs der beiden Texte berücksichtigen, und zwar die analogen Ausgangssituationen gesellschaftlicher und kultureller Voraussetzungen. Im Fall der beiden Autoren spielte bei der Abfassung der Romane das aktive Funktionsgedächtnis eine wichtige Rolle, das durch gemeinsame Bezugspunkte in der Vergangenheit erschaffen wurde und im Hintergrund dessen eine Wir-Identität stand.983 Denn ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rutschte Galizien in der Endphase des Bestehens des Habsburgerreiches als Grenzlandschaft im Nord-Osten der Monarchie im zweiten und dritten Teil des Roth’schen Romans oder als Kriegslandschaft am Nordrand der Karpaten im Roman von Kus´niewicz. Die historischen Ereignisse führten zu einem Trauma, das zugleich individuell und kollektiv war. So wurden die beiden Romane zu Werken, deren Handlung an keinem anderen Schauplatz vorstellbar wäre.984 Sowohl Roth als auch Kus´niewicz, die in Galizien die ersten prägenden Jahre ihres Lebens verbrachten, verfassten ihre Romane weit entfernt von ihrem Herkunftsort und haben sich mit ihren Texten Galizien herbeigeschrieben. Der Raum als solcher steht in beiden Texten im Vordergrund: Sie erweisen eine besondere Perspektive der Verräumlichung; dabei ist für die beiden Autoren prägnant, dass ihr Denken selbst sich als raumbezogen erweist. Nicht zufällig eigneten sich die beiden Romane besonders für die Filmadaptionen.985 Auf den ersten Blick scheint es, dass die Autoren mit durchaus realistischen Mitteln der 981 982 983 984 985
Roth 1990, S. 391. Kaszyn´ski 1988, S. 30. Assmann (a) 2011, S. 204–205. Mehr zur Wahl des Schauplatzes vgl. Piatti 2008, S. 20–21. Es gab zwei Verfilmungen von Joseph Roth’s Roman Radetzkymarsch: 1965 von Michael Kehlmann sowie 1995 von Axel Corti und Gernot Roll; Lekcja martwego je˛zyka von Andrzej Kus´niewicz wurde in Polen 1979 vom Regisseur Janusz Majewski verfilmt.
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Romankunst arbeiten und Galizien, das für sie da ist, teilnahmslos narrativ erschließen. Mehrere Details des erzählten Raumes im Text der Romane beweisen aber, dass das nicht der Fall ist: Der Georaum Galizien wird fiktionalisiert. Wenn auch die Literaturgeographie davon ausgeht, dass »eine referenzielle Beziehung zwischen inner- und außerliterarischen Wirklichkeit besteht«986; so konstituiert die Dichtung »ihre eigenen Räume«.987 Wie es für Joseph Roth üblich ist, wird der Handlungsraum in Radetzkymarsch nicht durch Namen konkretisiert: Der Autor erwähnt den Namen der Provinz – »Galizien«, oder den Namen der Bezirksstadt Brody nie988, obwohl gerade diese Landschaft und dieser Kulturraum eine enorm große Rolle für sein ganzes Schaffen spielten. Nur in den letzen Kapiteln des Buches, wo der Anfang des Krieges beschrieben wird, erwähnte der Autor, wenn auch phonetisch etwas verstellt, einige galizische Grenzorte, wo die Frontlinie verlief: Burdlaki, das Heimatdorf des Burschen des Leutnants Onufrij, die Dörfer Oleksk, Sosnow, Bytók, Leschnitz und Dombrowa, den Grenzüberganz Woloczyska, sowie das ukrainische Dorf Krutyny, in dessen Nähe der junge Leutnant Trotta als Wasserträger für die durstigen Soldaten seinen symbolisch aufgeladenen Tod fand.989 Galizien, den nordöstlicher Rand der Monarchie, bezeichnete Roth als »eines der merkwürdigsten Gebiete«990 an der »Grenze des russischen Zaren«991, obwohl man in mehreren Repräsentationsformen des galizischen Raumes und der Stadtlandschaft, wo Trottas Garnison stationiert war, die dem Autor vertraute Gegend und seinen Geburtsort Brody vermutet.992 Hier kam er 1894 in einer kleinbürgerlichen, jüdischen Familie vaterlos zur Welt und verbrachte seine Kindheit und Jugend. Im Sinne von Aleida Assmann kann man dementsprechend das Roth’sche Galizien und Brody mit dem Begriff »Ort« bezeichnen, der
986 987 988 989
Piatti 2008, S. 25. Ebd. Im Text des Romans kommt nur die Abbreviatur »B.« vor. Der Leutnant Carl Joseph von Trotta stirbt in der Rolle eines »Dieners«, »mit zwei Wassereimern in der Hand« (Roth 1990, S.445). Hier kann man eine Parallele zur Todesszene des treuen Dieners des Bezirkshauptmanns von Trotta Jacques ziehen. 990 Roth 1990, S. 256. 991 Ebd., S. 255. 992 Barbara Piatti nennt bei der Aufteilung der Handlungsräume nach dem Referenzgrad zum Georaum die Prosa von Joseph Roth als typisches Beispiel für einen »zonalen Raum«, wie sie den Handlungsraum bezeichnet, der schwer zu lokalisieren ist. Sie schlägt vor, in diesem Fall mit dem Begriff des Simulakrums zu operieren: »Zonale Orte und Landschaften sind Räume, die eine konkrete Referenz nur noch simulieren«. Vgl. Piatti 2008, S. 143–144. Dabei bezieht sie sich auf die Publikation von Maria Kłan´ska. Vgl. Kłan´ska 1993, S. 41. Diese Definition scheint mir eher dem Handlungsraum im Roth’s Roman Hiob zu gelten, der Handlungsraum im Roman Radetzkymarsch kann dagegen mit der Kleinstadt Brody und ihrer Umgebung dank mehreren Markern im Text gleichgesetzt werden.
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»sich auf gelebte Erfahrung, auf die Sinne und die Erinnerung«993 bezieht. Denn der Ort an der zaristisch-habsburgischen Grenze wird im Roth’s Roman vor allem als ein Erlebensraum, der auf Wahrnehmung und Leiblichkeit basiert, literarisch verarbeitet und spiegelt hiermit die geistige Verfassung des Autors und der handelnden Personen wider. Das erlaubt unter mehreren Möglichkeiten der räumlichen Interpretation die Methoden der phänomenologischen Raumtheorie zu bevorzugen. Es gibt im zweiten und dritten Teil von Radetzkymarsch mehrere Beispiele der Aisthesis des Raumes, der von den handelnden Personen aus als Nullpunkt der Räumlichkeit, in die sie einbezogen sind, erfasst wird. Der vom Subjekt wahrgenommene Raum wird, so Merleau-Ponty, nicht »nach seiner äußeren Hülle« gesehen, sondern »von innen erlebt«994; er verwandelt sich in den Erlebensraum des Subjektes. So dominieren im Bild der Grenzgegend, wohin Leutnant Trotta aus dem Innern des Reiches unglücklicherweise transferiert wurde, Sümpfe, Staub und Schlamm mit allen sie begleitenden Erscheinungen, z. B. Bazillen, die ein Sumpffieber hervorrufen: Sumpfgeborene waren die Menschen dieser Gegend. Denn die Sümpfe lagen unheimlich ausgebreitet über der ganzen Fläche des Landes, zu beiden Seiten der Landstraße, mit Fröschen, Bazillen und tückischem Gras, das den ahnungslosen, des Landes unkundigen Wanderern eine furchtbare Lockung in einen furchtbaren Tod bedeutete.995
Die Sümpfe der Gegend sind unendlich trostlos, sie werden ihr Wahrzeichen; über das Grenzgebiet streicht »der große Atem des großen feindlichen Zarenreiches«996; die jungen Offiziere, die hier dienen müssen, gleiten allmählich »in die Verderbnis dieses Landes«.997 Der Schlamm der Straßen erscheint dem jungen Trotta unersättlich und unbesiegt: Zu Fuß ging Carl Joseph, und er bildete sich ein, daß ihm wohler war. Rings um ihn knirschten die genagelten Stiefel der Jäger bei den kantigen Schottersteinchen, die immer wieder, jede Woche im Frühling, auf das Verlangen der Militärbehörde dem Sumpf der Wege geopfert wurden. Alle Steine, Millionen von Steinen verschluckte der unersättliche Grund der Straße. Und immer wieder neue, siegreiche, silbergraue, schimmernde Schichten von Schlamm quollen aus den Tiefen empor, fraßen den Stein und den Mörtel und schlugen klatschend über den stampfenden Stiefel der Soldaten zusammen.998
993 994 995 996 997 998
Assmann (b) 2011, S. 174. Merleau-Ponty 2006, S. 190. Roth 1990, S. 258. Ebd., S. 261. Ebd. Ebd., S. 259.
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Solche Darstellung des galizischen Raumes hat aber keinen abbildhaften Charakter, die Topographie des Raumes spielt hier keine entscheidende Rolle. Wichtig sind die abstrakten Strukturen, die die Topologie des Raumes charakterisieren – die Erfahrungsräumlichkeit sowie die konkrete Erlebenssituation, in dem Fall des jungen Leutnants von Trotta. Der Raum des Ortes, der vom Protagonisten gelebt und erlebt wird, wird somit in sinnlichen Bildern evoziert und bekommt die Merkmale des »Landes«, auf dem man nicht nur lebt, sondern aus dem und mit dem man lebt.999 In diesem Sinne entwickelt das Land Galizien in der Roth’schen Darstellung bestimmte »protagonistische Qualitäten«.1000 Ähnlich wird Galizien als Land auch aus der Perspektive anderer Handlungspersonen des Romans gestaltet. Der Vater des Leutnants, der Bezirkshauptmann von Trotta, der an die östliche Grenze des Reiches reiste, um seinen Sohn zu besuchen, fand die Umgebung geheimnisvoll, »ja etwas« unheimlich.1001 Hier hört er die Prophezeiungen des polnischen Grafen Chojnicki, dass die Monarchie »beim lebendigen Leibe«1002 zerfällt. »Alle Vorgänge der Natur und alle Ereignisse des täglichen Lebens« erhielten für ihn dementsprechend »einen bedrohlichen und unverständlichen Sinn«.1003 Auf diese Weise trug der Schriftsteller in den von ihm fiktionalisierten Raum die Einschreibungen von bestimmten Bedeutungen ein, Galizien inszenierte er dementsprechend als einen morbiden Raum im Zeichen des Untergangs der Monarchie. In einem solchem Raum treten die Menschen und ihre Umwelt in Beziehung, so dass eine holistische Perspektive entsteht, die der Phänomenologe Kurt Lewin zu einer »ökologischen Psychologie« formulierte, in der die Gesamtheit der Mensch-Umwelt-Beziehungen im Vordergrund steht.1004 Die Beziehungen zwischen Menschen und ihrer vor allem natürlichen Umwelt werden dementsprechend von der Humanökologie behandelt. Zentral wird hier die Frage, wie Menschen (und menschliche Gesellschaften) mit ihrer Umwelt interagieren. Roth’s Roman bringt mehrere Beispiele solcher Interaktionen zwischen der »inneren Natur« seiner handelnden Personen und der »äußeren Natur« des von Morbidität gekennzeichneten Raumes Galizien. Es gehört zu Roth’s Begabung, die Umwelt des Menschen mit scharfem Blick zu sehen. Die Fähigkeit des Schriftstellers, schreibt Markus Neuwirth, »über bloße Sachverhalte und – meist übersehen – Auslassungen die Innenwelt seiner Protagonisten erfahrbar zu machen, ist signifikant. In der narrativen Aufeinanderfolge visuell markierter Ereignisse lässt sich auf Befindlichkeiten schlie999 1000 1001 1002 1003 1004
Assmann (b) 2011, S. 174–175. Piatti 2008, S. 233ff. Roth 1990, S. 288. Ebd., S. 290. Ebd., S. 291. Günzel 2006, S. 125.
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ßen.«1005 So fühlten die Menschen an der Grenze den Krieg »früher kommen als die anderen; nicht nur, weil sie gewohnt waren, kommende Dinge zu erahnen, sondern auch, weil sie jeden Tag die Vorzeichen des Untergangs mit eigenen Augen sehen konnten.«1006 Die melancholische Stimmung des Leutnants tritt in Beziehung zu seiner Umwelt, die er als seinen Erlebensraum akustisch und visuell wahrnimmt: Er war jung genug, um süße Wollust aus seiner Trauer zu schöpfen und aus der Sicherheit, der letzte zu sein, eine schmerzliche Würde. Von den nahen Sümpfen kam das breite und schmetternde Quaken der Frösche. Die untergehende Sonne rötete Möbel und Wände des Zimmers.1007
Der Tag, »an dem der Leutnant Trotta in seine Garnison zurückfahren musste«, nachdem er die erste glückliche Zeit mit Frau von Taußig in Wien verbracht hatte, erwies sich als »ein betrüblicher und zufällig auch ein trüber Tag«.1008 Der seelische Zustand des Leutnants wird räumlich wiedergegeben: Er fühlt sich »eingesperrt zwischen den vier Mauern des Kasernenhofes, innerhalb der wüsten Gässchen dieser Stadt.«1009 Die Umwelt verwandelt sich für ihn in einen bedrohlichen Raum: Er warf einen Blick auf die Schießfiguren rings an den Wänden des Kasernenhofes. Kleine, blaue Männchen, von Schüssen zerfetzt und wieder nachgemalt, erschienen sie dem Leutnant wie boshafte Kobolde, Hausgeister der Kaserne, sie selbst drohend mit Waffen, von denen sie getroffen wurden, keine Ziele mehr, sondern gefährliche Schützen.1010
Zum prägnanten Beispiel der Gesamtheit der Mensch-Umwelt-Beziehung wird im Radetzkymarsch die Kummerszene des Leutnants Trotta, als er allein mit seiner Einsamkeit in der Garnison bleiben musste: Alles in der Welt war heute im höchsten Maße traurig, und der Leutnant war der Mittelpunkt dieser erbärmlichen Welt. Für ihn lärmten heute so jämmerlich die Frösche, und auch die schmerzerfüllten Grillen wehklagten für ihn. Seinetwegen füllte sich die Frühlingsnacht mit einem so gelinden, süßen Weh, seinetwegen standen die Sterne so unerreichbar hoch am Himmel, und ihm allein blinkte ihr Licht so vergeblich sehnsüchtig zu. Der unendliche Schmerz der Welt passte vollkommen zu dem Elend Trottas. Er litt in vollendeter Eintracht mit dem leidenden All. Hinter der tiefblauen Schale des Himmels sah Gott selbst auf ihn mitleidig hernieder.1011
1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011
Neuwirth 2009, S. 239. Roth 1990, S. 259. Ebd., S. 285. Ebd., S. 328. Ebd., S. 376. Ebd. Ebd., S. 378.
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Der Raum Galizien wird von Roth aber nicht nur als ein morbider Raum im Zeichen des Untergangs der k.u.k. Monarchie inszeniert, sondern auch im Zeichen eines Mythos. Wie Stefan H. Kaszyn´ski hervorhebt, mache die Eigenart der galizischen Literatur, die nach der Auflösung Galiziens entstand, die intendierte Mythologisierung aus, die als sinnprägende und konstitutive Struktur funktioniert.1012 In Radetzkymarsch gibt es einige prägnante Beispiele der Gestaltung des galizischen Raumes als einer mythischen Landschaft. Als der Bezirkshauptmann von Trotta beschließt, seinen Sohn in der fernen Grenzgarnison zu besuchen, hat er nur »ungewöhnliche Vorstellungen von der östlichen Grenze der Monarchie«1013; sie ist vom Mythos der Wildnis beherrscht. »Jenes ferne Kronland« war ihm als Ort der Versetzung »wegen peinlicher Verfehlungen im Amt« bekannt; an den Rändern des Landes hörte man »wahrscheinlich schon den sibirischen Wind.1014 Einen zivilisierten Österreicher bedrohen dort »Bären und Wölfe und noch schlimmere Ungeheuer wie Läuse und Wanzen«.1015 Aber nicht nur das. »Die ruthenischen Bauern« opfern »heidnischen Göttern«, und grausam wüten »gegen fremdes Hab und Gut die Juden«.1016 Herr von Trotta nimmt auf die Reise seinen alten Trommelrevolver mit. Vor der Reise nach Galizien erlebt er »jenes berauschende Gefühl aus längst verschütteter Knabenzeit wieder«1017, das er in geheimnisvollen Waldgründen während der Jagd oder »in mitternächtlicher Stunde«1018 auf dem Friedhof hatte. Als der Vater mit dem Sohn die Stadt, wo die Garnison stationiert ist, erreichte, klingt sein Ausruf fast wie enttäuscht: »Na, gar so wild ist es hier nicht!«1019; »›Amüsiert man sich hier?‹ – ›Sehr viel!‹ sagte Carl Joseph«1020, worin man ein Augenzwinkern des sachkundigen Autors vermuten kann. Durchaus mythologisch erscheint die Landschaft Galiziens, als sie der bejahrte Kaiser Franz Joseph in der Nacht aus dem Fenster in seinem Schlafzimmer betrachtet. »Vor seinem Fenster wölbte sich die unendliche, tiefblaue, bestirnte Nacht. Flach und weit war das Land. Man hatte ihm gesagt, dass diese Fenster nach dem Nordosten gingen. Man sah also nach Russland hinüber.«1021 Der Raum, den der Greis wahrnimmt, zeigt sich ihm »unendlich wie die Nacht«, erfüllt vom Gesang der Grillen, und selbst die »unendliche, tiefblaue, bestirnte
1012 1013 1014 1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021
Kaszyn´ski 1987, S. 64. Roth 1990, S. 281. Ebd., S. 282. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 284. Ebd. Ebd., S. 345.
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Nacht«1022, die sich vor seinem Fenster wölbte, weckt in ihm die Ehrfurcht. Dem Kaiser scheint, dass er diese Gegend schon gesehen habe, dass sie ihm vertraut sei. Die nächtliche Landschaft Galiziens überwindet ihre Zeitlichkeit, sie verwandelt sich zu einem mythischen Bild, das mit dem Weltall eine Einheit bildet: Aber er wusste nicht, ob zehn, zwanzig oder mehr Jahre seit damals verflossen waren. Ihm war, als schwämme er auf dem Meer der Zeit – nicht einem Ziel entgegen, sondern regellos auf der Oberfläche herum, oft zurückgestoßen zu den Klippen, die er schon gekannt haben musste. Eines Tages würde er an irgendeiner Stelle untergehen. […] Vorsichtig schloss er wieder das Fenster und tappte mit seinen mageren, nackten Füßen zum Bett zurück. Das Bild vom blauen, gestirnten Rund des Himmels hatte er mitgenommen. Seine geschlossenen Augen bewahrten es noch. Und also schlief er ein, überwölbt von der Nacht, als läge er im Freien.1023
Das Verfahren der Inszenierung des galizischen Raumes im Zeichen des Mythos bei Joseph Roth lässt infolge seiner poetisch-sprachlichen Tätigkeit einen Spannungsbogen gegen die Inszenierung dieses Raumes im Zeichen des Untergangs entstehen. »Die Götterdämmerung in Galizien, – so Kaszyn´ski – war zweifelsohne eine historische, zeitlich fassbare Realität, die eine besonders intensive Mythologisierungskraft impliziert. Man hatte das Land nicht geliebt, man trauert ihm auch kaum in sachlichen Kategorien nach, und doch fühlt man sich immer wieder von diesem Phänomen intellektuell und moralisch herausgefordert.«1024 Eine der wichtigsten Rollen spielt bei Roth aber die Tatsache, dass der Raum Galizien, den er als eine literarisierte Landschaft in seinem Roman verbirgt, infolge seiner eigenen Erfahrung als ein Erlebensraum für ihn da ist: Galizien war doch seine Heimat, – »der engste Umkreis – so Karl Schlögel –, in den Menschen hineingeboren sind und der zur selbständigen Größe meist immer nur dann wird, wenn Heimat verlorengeht.«1025 Der Untergang der k.u.k. Monarchie wurde für Roth zu einem Trauma, das er dank des Ich-Gedächtnisses als Produkt einer bewussten und intentionalen Konstruktion1026 im Prozess des Schreibens in gezielte Erinnerung transformierte und somit aus seiner Innenperspektive imaginativ erlebbar machte. Dadurch konnte das Trauma nicht geheilt werden. Galizien aber hat ihn intellektuell und moralisch nicht nur als einen Menschen herausgefordert, sondern auch poetisch und sprachlich als einen Dichter. Es ging für ihn nicht verloren, sondern verwandelte sich in einen literarischen Mythos. Auch für den polnischen Schriftsteller Andrzej Kus´niewicz war Galizien der engste Umkreis, in den er hineingeboren wurde. Er kam hier 1904 in einer
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Ebd. Ebd., S. 346. Kaszyn´ski 1987, S. 64. Schlögel 2003, S. 246. Assmann (a) 2011, S. 204.
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Familie wohlhabender polnischer Grundbesitzer zur Welt, die familiäre Beziehungen zur europäischen Aristokratie hatte (so könnte er fast ein Prototyp der Gestalten der polnischen Adeligen bei Joseph Roth sein). Er begann erst ab 1956 zu publizieren, anfangs als Lyriker, dann als Romanschriftsteller. Die Handlung der meisten Romane spielt in seiner »verlorenen Heimat«, im multikulturellen Raum Galizien. Es wurde auch zu seinem frühesten Erlebensraum, den er nie aufgehört hat, literarisch darzustellen. Denn, zitiert Kus´niewicz in Meine Geschichte der Literatur einen anderen polnischen Dichter, Jarosław Iwaszkiewicz: »Während des ganzen Lebens schreibt ein Dichter ein und dasselbe Poem – das Poem der Begeisterung für die Welt, die ihn in der Zeit zwischen der Kindheit und der Jugend umgab.«1027 Wichtig sei für Kus´niewicz dabei die Aura, die diese zum ersten Mal bewusst wahrgenommene Welt umgibt. Zu den wichtigsten Beobachtungen, die der zukünftige Schriftsteller in seinem ersten Umkreis gemacht hat, gehörten die Prozesse des Aufeinanderwirkens verschiedener nationaler Elemente im galizischen Kulturraum. Dementsprechend war für sein Schaffen das Thema des Vielvölkerstaates der Habsburger besonders relevant. Wenn aber in anderen Romanen, wie z. B. Strefy [Zonen] (1972), oder W drodze do Koryntu [Unterwegs nach Korinth] (1977) er die verlorengegangene Multikulturalität der k.u.k. Monarchie kultivierte und die Vergangenheit nostalgisch als übernational, offen und vital beschwor, weist sein Roman Lekcja martwego je˛zyka durchaus eine andere Tonart auf: er ist im Zeichen des Untergangs des Habsburgerreiches geschrieben. Die Zeit der Handlung ist im Text genau genannt: Sie fängt im Spätsommer des letzten Jahres des Ersten Weltkrieges an und dauert bis zum Anfang des Winters 1918. Der Handlungsraum ist vom Autor folgendermaßen definiert: »[…] (hier?) das heißt wo? In diesen Bergen, in diesem Karpatenstädtchen, in diesem kleinen jüdischen Hotel neben der Bahnstation?«1028 Im Unterschied zu Roth erwähnt Kus´niewicz mit topographischer Präzision die Namen der Ortschaften der von ihm dargestellten Landschaft an der östlichen Front der Habsburgermonarchie. Die Topographie entspricht bei ihm der Kartographie des Georaumes; diese Ortschaften kann man mühelos auf den Karten von Österreich-Ungarn oder Polen der Zwischenkriegszeit finden: Turka, Skole, Smorze, Mochnate, Buczacz, Stary Sambor.1029 Die Landschaft der galizischen Karpaten, die Kus´niewicz darstellt, bezieht sich aber auch – wie bei Roth – auf die Sinne und die Erinnerung und kann dementsprechend mit dem Begriff »Ort« bezeichnet werden. Dass – wie 1027 Kus´niewicz 1980, S. 181. 1028 Kus´niewicz 1987, S. 7; Kus´niewicz 1986, S. 5: »[…] tutaj? to znaczy gdzie? w tych górach, w tej karpackiej mies´cinie, w tym z˙ydowskim hoteliku obok stacji?« 1029 Im Unterschied zu Roth’schem »zonalen Handlungsraum«, kann man im Fall von Kus´niewicz bezüglich der Referenzgrade zwischen Georaum und Handlungsräumen vom »remodellierten Handlungsraum« sprechen. Vgl. Piatti 2008, S. 141.
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bei Roth – die im Roman dargestellte Region dem Autor durchaus vertraut war, zeugen mehrere Beispiele seiner narrativen Erschließung im Sinne der Erfahrungsräumlichkeit als eines Erlebensraums des Protagonisten. Er basiert auf seiner Wahrnehmung und Leiblichkeit, hinter denen die Erfahrung des Autors nicht zu übersehen ist. Wenn Roth’s Stil seine Beobachtungsgabe zeigt, offenbart der Text von Kus´niewicz die besondere Raffiniertheit eines Ästheten. Eine enorm große Rolle spielen bei ihm in der Aisthesis des Raumes Gerüche und Töne: Von drüben her hört man, vor allem wenn der Wind behilflich ist, einzelne russische Wörter, Gelächter, manchmal, besonders gegen Sonnenuntergang, auch Gesang. In seinem Zimmer auf dem Bett liegend, lauscht Oberleutnant Kiekeritz diesen Tönen. Oft wirken sie sehr weit entfernt, oft ganz nahe, wie hinter der Wand. Sie sind neben dem talwärts gleitenden Fichtenduft ein ständiger Refrain, der das Nahen der Nacht ankündigt und damit Schlaflosigkeit in Fieberträumen, in dem schweren, fast greifbaren, teerschwarzen Dunkel, in dem die eingeschlafenen Möbel immer schwerer werden und den Wachliegenden immer stärker belasten.1030
Neben den Gerüchen sind die visuellen Bilder der Wahrnehmung der Berglandschaft besonders prägnant, die von imaginierten musikalischen Tönen unterfärbt werden. Entscheidend ist dabei die Perspektive der Wahrnehmung dieser Landschaft, die eine radikale Subjektivierung der Raumvorstellung bedingt. Die olfaktorisch-akustisch-visuelle Pracht der herbstlichen Karpaten offenbart sich nur vor dem Oberleutnant Alfred Kiekeritz, der Raum wird von ihm aus »als Nullpunkt der Räumlichkeit«1031 im Sinne von Merleau-Ponty erfasst und vom Autor synästhetisch dargestellt: Dazu der starke, betäubende Duft der Fichtennadeln und des Fichtenharzes, der alles begleitet, was hier geschieht und geschehen wird. Er bildet nicht nur einen geruchlichen, sondern auch gleichzeitig einen musikalischen und sogar farblichen Hintergrund. Die gesamte reiche Palette der Farben für jeden, der sie zu unterscheiden und zu verstehen vermag. Oberleutnant Alfred Kiekeritz behauptet zum Beispiel, gegen Abend, wenn die Berge blau werden und die gesamte Skala von Perlgrau bis zu einem dunkelblau gepuderten Schwarz durchlaufen, das glitzert und dann wieder erlischt, gegen Abend würden die Gerüche am stärksten, und wenn es sehr still sei, höre er ganz deutlich Fragmente einer Symphonie von Mahler. Wenn es aber vor Morgengrauen heller zu werden beginnt, wenn die Nebelschichten nacheinander vom Pass ins Tal absinken, 1030 Kus´niewicz 1987, S. 13; Kus´niewicz 1986, S. 9: »Od tamtej strony, zwłaszcza gdy wiatr pomocny, słychac´ az˙ tutaj poszczególne rosyjskie słowa, ´smiechy, czasami, szczególnie po zachodzie słon´ca, takz˙e s´piewy. Lez˙a˛c na łóz˙ku w swym pokoju porucznik Kiekeritz słucha tych odgłosów. Czasem wydaja˛ sie˛ bardzo dalekie, kiedy indziej tak bliskie, jakby tuz˙ za s´ciana˛. Sa˛, obok napływaja˛cego od gór zapachu s´wierczyny, stałym refrenem obwieszczaja˛cym zbliz˙anie sie˛ nocy, a wraz z nia˛ bezsennos´ci w gora˛czkowych majakach, w cie˛z˙kim, niemal dotykalnym smolistym mroku, w którym usypiaja˛ sprze˛ty coraz cie˛z˙sze, coraz bardziej cia˛z˙a˛ce czuwaja˛cemu.« 1031 Merleau-Ponty 2006, S. 190.
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durch Schluchten, Klüfte und über Hänge, dann herrsche Brahms. Und mitunter Chopin. Brahms nimmt hellblaue Farbtöne an, aber vielleicht rufen die sich oft wiederholenden Farben ihn ganz einfach herbei. Da, zum Beispiel jetzt, hören Sie genau hin. Aber der Herr Oberförster nimmt nichts wahr, was die Eindrücke des Oberleutnants bestätigen könnte. Vielleicht ist er blind oder vielleicht auch noch taub oder nur ein nüchtern denkender Mensch.1032
Der junge Oberleutnant erlebt diesen Raum »von innen«; er wird in ihn einbezogen. Aber nicht nur die Veranlagung zum Ästheten verschärft die raffiniert poetisierende Wahrnehmung der Karpaten bei Oberleutnant Kiekeritz. Seine Sinne sind besonders scharf, da sie im Zeichen des Todes die Umwelt empfinden. Wenn Roth’s Held, Leutnant von Trotta, von Todessehnsucht und Melancholie der Sinnlosigkeit des militärischen Daseins überfallen wird, kennt der Oberleutnant Kiekeritz seine Diagnose genau: Er hat Tuberkulose, sein Zustand ist hoffnungslos. Genauso hoffnungslos ist aber auch die Lage an der Front für die k.u.k. Monarchie am Ende des Krieges. Die beiden, der Offizier und das Reich, dem er dient, sind zum Tode verurteilt. Es entsteht eine Mensch-Umwelt-Beziehung, die, ähnlich wie im Roth’schen Roman, die Interaktionen zwischen der »inneren Natur« des Menschen und der »äußeren Natur« wiedergibt. Die vom Tode gekennzeichnete Welt, die die handelnden Personen in Lekcja martwego je˛zyka umgibt, wird vom Autor als ein morbider Raum inszeniert. Sogar in der Szene der Arbeit im Sägewerk sieht Kiekeritz den Akt der Tötung: Riesenhaftes Fichtenlangholz, überzogen mit eingetrocknetem, zu Zucker gewordenem Honigharz, besonders an den Stellen, wo Äste abgehauen sind. Die Stämme werden quer über die Holzschläge geschleppt, den Hang hinunter, kopfüber, kopfunter wie es gerade kommt, sie werden an Ketten gezerrt, die mit Hacken im Holz befestigt sind oder auf Radachsen gezogen, die von Bauernwagen abmontiert wurden. Die Langhölzer scharren über Schlaglöcher, rollen bergab, bleiben an Stämmen und Unterholz hängen, knicken es um, graben tiefe Schleifspuren, reißen das Moos aus dem Boden, springen an den 1032 Kus´niewicz 1987, S. 19; Kus´niewicz 1986, S. 13: »Sta˛d równiez˙ ten towarzysza˛cy wszystkiemu, co sie˛ tutaj dzieje i jeszcze dziac´ be˛dzie, co sie˛ tutaj wydarzy, mocny, upajaja˛cy zapach s´wierkowych szpilek i s´wierkowej z˙ywicy. Tworzy tło nie tylko we˛chowe, lecz jednoczes´nie i muzyczne, a takz˙e barwne. Cała bogata gama kolorów dla kaz˙dego, kto potrafi je rozróz˙niac´ i rozumiec´. Porucznik Alfred Kiekeritz twierdzi na przykład, iz˙ pod wieczór, gdy góry błe˛kitnieja˛, przechodza˛c cała˛ skale˛ od perłowosrebrnej po niemal czarna˛, przysypana˛ granatowym pyłem, który iskrzy sie˛, to znów przygasa, zapachy nasilaja˛ sie˛ najmocniej, a on, gdy trwa cisza wieczorna, słyszy najwyraz´niej fragmenty którejs´ symfonii Mahlera. A gdy zaczyna sie˛ rozwidniac´ przed ´switem, kiedy warstwy mgły staczaja˛ sie˛ jedna po drugiej z przełe˛czy w dół, jarami i wa˛wozami po stokach – wówczas panuje Brahms. A czasami Chopin. Brahms przybiera barwy jasnoniebieskie, a moz˙e kolory te po prostu przywołuja˛ go tutaj, powtarzaja˛c sie˛ wielokrotnie. O, na przykład teraz – niech pan posłucha uwaz˙nie. Ale pan nadles´niczy nie doznaje niczego, co by potwierdzało wraz˙enia porucznika. Moz˙e jest s´lepy, a moz˙e i głuchy na dodatek lub tylko trzez´wo mys´la˛cy.«
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Unebenheiten hoch. Die Pferde bremsen, stemmen die Hufe in den glatten, mit einem Nadelteppich bedeckten Boden. Der Fuhrmann hilft ihnen, er steckt einen Knüppel zwischen die Radspeichen, und diese ganze Talfahrt, dieses Hinunter in Richtung Bergbach läuft natürlich unter Geschrei ab, dessen Echo weithin trägt, sich wiederholt und lange Zeit durch die bewaldeten Klüfte und Hänge hallt.1033
Einem Refrain ähnlich geht durch den Text die Prophezeiung des baldigen Todes des Oberleutnants: Am Anfang des Romans klingt sie in der mythologischen Erzählung einer Zigeunerin an1034, dann wird sie in der geheimnisvollen, toten Sprache der Kabbala im Gebet der Zirkusassistentin wiederholt: »Dir wird die Gnade der Vergebung und der Erlösung zuteil, weil du früh sterben wirst. Bald, schon bald.«1035 Diese Beziehung bewirkt, dass die Bilder der vom Oberleutnant wahrgenommenen Schönheit der Karpatenlandschaft, die sich vor ihm erstreckt, im erzählten Raum des Romans durch die grausigen Anblicke ausgewechselt werden, wie in der Szene des Unfalls mit einem Gefangenen, der in einer »unter festgefrorenem Schnee gelegenen Miete mit roten Rüben oder Steckrüben versank«1036: »Er wurde wortwörtlich eingesogen von der stinkenden, rostfarbengrünlichen Schmiere, er ertrank darin und erstickte«1037; oder bei der Darstellung der Fluchtversuche der Gefangenen, die im Schnee der Gebirge verunglückten: Der eine oder andere ist dort stecken geblieben, in einer Erdspalte, einer Höhle, einem zwei Meter und tiefer mit Schnee angefüllten Wurzelloch und steckt dort immer noch, von weitem sichtbar, seit es getaut hat und der Schnee geschmolzen ist. Es kommt vor, daß sich der Kopf vom Rumpf, vom Hals getrennt hat, daß Füchse und Vögel die Muskeln von den Wirbeln abgefressen haben und diese unter Blättern und Kiefernnadeln hervorschauen wie ein weißer, knöcherner Korkenzieher. An wenig begangenen Stellen, fern von den Katen kann man auch die Hinterlassenschaft jenes Feldzugs vor drei Jahren finden. Auf der Suche nach Beeren oder Pilzen verlässt ein Bengel, altes 1033 Ebd., S. 18–19; ebd., S. 12–13: »Olbrzymie s´wierkowe dłuz˙yce, pokryte, zwłaszcza w miejscach gdzie odra˛bano konary, zaschłym scukrzonym miodem z˙ywicznym. Pnie wleczone na przełaj pore˛by, w dół po stoku, na łeb, na szyje˛, jak sie˛ da: na łan´cuchach zaczepionych hakami do drewna i na kołach odje˛tych od chłopskich wozów. Dłuz˙yce wloka˛ sie˛ po wertepach, staczaja˛, zaczepiaja˛ o pnie i podrosty, łamia˛c je, z˙łobia˛c długie koleiny, wyrywaja˛c mech wraz z ziemia˛, podskakuja˛ na nierównos´ciach. Konie hamuja˛ zapieraja˛c sie˛ nogami w s´liski, pokryty igliwiem grunt. Wie˛c woz´nica pomaga im wetkna˛wszy dra˛g mie˛dzy szprychy kół i teraz cała ta jazda, to staczanie sie˛ w strone˛ potoku, odbywa sie˛, rzecz jasna, ws´ród pokrzykiwan´, od których echo niesie sie˛ daleko, powtarza, trwa długo jeszcze w lesistych rozpadlinach i na stokach.« 1034 Ebd., S. 7; ebd., S. 5. 1035 Ebd., S. 162; ebd., S. 109: » […] i dlatego dosta˛pisz łaski wybaczenia i przygarnie˛cia, bo wczes´nie umrzesz. Juz˙ wnet, juz˙ wnet.« 1036 Ebd., S. 12; ebd., S. 8: »[…] spod zamarznie˛tego s´niegu sterty buraków czy brukwi jeniec, który […] zapadł sie˛ nagle w gła˛b, […]« 1037 Ebd.; ebd. »Dosłownie został wessany przez cuchna˛ca˛, zrudziała˛, zielonawa˛ maz´, utona˛ł w niej i zadusił sie˛.«
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Weib oder Greis, rückwärts gehend mit tiefen Verbeugungen und das dreifache unierte Kreuz schlagend ›Herr, erbarme dich! Ewiges Gedenken!‹ –, die Stelle, wo sich ihm ein Geschöpf unmenschlichen Aussehens gezeigt hat, das einmal Mensch war, doch so ausgetrocknet und bis auf die blanken Knochen von Ameisen und Totengräberkäfern gesäubert und präpariert, daß es aussieht wie die Wurzel eines vom Sturm umgerissenen Baumes.«1038
Der Hinweis auf den Feldzug und auf das Geschöpf unmenschlichen Aussehens, das einmal Mensch war, deutet an, dass es um eine Kriegslandschaft geht, den Raum also, der in bestimmten Momenten erlebt wird.1039 Diese Episode ist in der Textur des Romans zwischen zwei anderen eingebaut. Einerseits sind das die Überlegungen von Oberleutnant Kiekeritz über »den Mechanismus des Tötens als solchen, an und für sich«1040, wenn der Oberförster Alois Szwanda von der Jagd »als einem Ritus, Zeremoniell, Mysterium besonderer Art spricht«.1041 Im Bereich der realen Wahrscheinlichkeit des Krieges seien, vermutet Kiekeritz, auch beabsichtigte Tatsachen leicht zu realisieren: »…es geht vor allem um die Jägerei, doch während des Krieges bezieht es sich auch auf die Menschen an der Front. Es genügt ein Entschluss, die Äußerung des unerlässlichen ›Ja‹, die Genehmigung für einen selbst, die Gewährung des Dispenses von Verboten oder geschriebenen Gesetzen, das vor allem.«1042 Andererseits folgen der Darstellung der entstellten Soldatenleichen in den Karpatenwäldern die »anatomischen« Erläuterungen des Oberförsters über die Präparierung seiner Jagdtrophäen. Die Grenze zwischen dem Töten der Tiere und dem Ermorden der Menschen wird auf diese Weise aufgehoben. Der Oberleutnant trifft seinen »nietzscheanischen« Entschluss, als er den geflohenen jungen russischen Kriegsgefangenen Mychajło1043 an einem Bergbach 1038 Ebd., S. 29; Ebd., S. 20: »Niejeden tam utkwił w jakiejs´ rozpadlinie, jamie, wykrocie pełnym s´niegu na dwa metry i wie˛cej i sterczy do teraz, z dala widoczny, gdy juz˙ odtajało i s´nieg stopniał. Głowa, zdarza sie˛, odła˛czy sie˛ od tułowia, od szyi, której kre˛gi obnaz˙one z mie˛´sni wyjedzonych przez lisy i ptactwo stercza˛ spos´ród opadłych lis´ci i szpilek s´wierkowych niby biały kos´ciany korkocia˛g. W mało ucze˛szczanych miejscach, z dala od chałup, znalez´c´ moz˙na tez˙ pozostałos´ci tamtej kampanii sprzed trzech lat. Przy zbieraniu jagód lub grzybów jakis´ bachor, stara baba lub dziad, z˙egnaja˛c sie˛ poboz˙nie potrójnym unickim krzyz˙em: – Hospody. pomyłuj! Wicznaja pamiat’! – cofa sie˛ tyłem, bija˛c pokłony, z miejsca, gdzie objawił sie˛ nieludzki w swym wygla˛dzie stwór, który był kiedys´ człowiekiem, tak dalece wyschnie˛ty, a czasami tak do gołej kos´ci oczyszczony, wypreparowany do czysta przez mrówki i chrza˛szcze grabarze, iz˙ wygla˛da jak korzen´ drzewa wywróconego przez wichure˛.« 1039 Günzel 2006, S. 126. 1040 Kus´niewicz 1987, S. 27; Kus´niewicz 1986, S. 18: »mechanizm zadawania s´mierci jako taki, sam w sobie.« 1041 Ebd.; ebd., »o mys´listwie jako swoistym gatunku obrza˛dku, ceremoniału, misterium.« 1042 Ebd.; ebd.: »idzie przede wszystkim o mys´listwo, lecz w czasie wojny takz˙e w odniesieniu do ludzi na froncie. Wystarczy tylko decyzja, wyraz˙enie niezbe˛dnego »tak«, przyzwolenia sobie, dania dyspensy od zakazów czy praw pisanych, o to przede wszystkim.« 1043 Dieser Vorname ist von Kus´niewicz ukrainischer Phonetik entsprechend wiedergegeben.
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entdeckt und von der Ferne durch das Zeiss-Fernrohr bewundernd beobachtet, um ihn danach zu erschießen. Nach dem gleichen Prinzip der Abwechslung des ästhetisch Schönen durch den Tod, das den Roman von Kus´niewicz kennzeichnet, wird dieser Szene eine berauschend schöne Landschaftsbeschreibung vorangesetzt, der Erlebensraum des Oberleutnants vor dem Akt des Tötens: Ein echter goldener Herbsttag (vielleicht der letzte in diesem Jahr, aber auch in diesem Kriege). Die Buchen rot und golden. Zwischen ihnen Fichten, reglos, saftig grün, schlank und steil, gotisch – wie der Oberleutnant zu sagen pflegte. Von der Sonne erwärmt, dufteten die vertrocknenden Thymianbüsche, irgendwelche Kräuter, nun schon ohne Blätter, aber voller Früchte, Körner oder kleiner Zapfen. Und der reine, hellblaue Himmel ohne jedes Wölkchen. Manchmal raschelte etwas im trockenen Gras, vielleicht eine aufgescheuchte Eidechse, vielleicht eine Feld- oder eher eine Waldmaus. Der Oberleutnant stieg den schrägen Pfad hinauf, den er genau kannte.1044
Vor der Tötung des Menschen ereignet sich eine makabre Szene, die mit Sigmund Freuds Vorstellung von »Eros und Thanatos« korrespondiert: Kiekeritz liebkost mit den Augen dank der Vergrößerungsmöglichkeit eines Zielfernrohrs den schönen, entblößten Körper seines baldigen Opfers. Die räumliche Distanz »neutralisiert« die ethische Seite des Geschehens. Diese Liebkosung erinnert an eine andere, die der Leutnant schon früher in Gedanken durchgeführt hatte, nämlich in den Überlegungen zur Jägerei: Ich habe auf dem Korn einen jungen Rehbock oder Hirsch, ich sehe seinen Kopf im Kreis des Fernrohrs so nah und groß, als könnte ich ihn mit der Hand erreichen, das Fell des Tiers berühren, ja ihm das Genick oder die Schulter streicheln, die unter dieser Zärtlichkeit bebt, ich könnte ihn auf der Stirn zwischen den Stangen kraulen, die Tiere sollen das mögen, Hunde zum Beispiel sind ganz wild darauf, auf die Hand des Menschen und Herren, wahrscheinlich auch Böcke und Hirsche; ja, und sonst nichts. Absolut nichts. Der Finger am Abzug, schon, schon knallt der Schuss, der Kolben stößt in die Schulter; aber nein, nein, wozu denn? Es genügt das Bewusstsein, das für einen selbst, nur für das eigene Bewusstsein gefällte Urteil vollstrecken zu können. Vorläufig bleibt die Patrone im Lauf. Bis sich der Entschluss ändert, versteht sich. Vielleicht schon bei der nächsten Gelegenheit, die bestimmt eintritt.1045 1044 Kus´niewicz1987, S. 164–165; Kus´niewicz1986, S. 111: »Wie˛c był dzien´ (moz˙e ostatni tej jesieni, a takz˙e i tej wojny) prawdziwej złotej jesieni. Buki czerwone i złote. Smreki stały nieruchomo ws´ród nich, soczys´cie zielone, smukłe i strzeliste, gotyckie – jak zwykł mawiac´ porucznik. Pachniały nagrzane słon´cem schna˛ce juz˙ ga˛szcze macierzanki, jakies´ zioła pozbawione lis´ci, lecz pełne owoców, ziarenek czy malen´kich szyszek. I czyste, jasnobłe˛kitne niebo bez jednej chmurki. Czasami cos´ zaszeles´ciło w suchej trawie: moz˙e jaszczurka spłoszona, moz˙e polna, a raczej les´na mysz. Porucznik szedł pod góre˛ na ukos, po s´ciez˙ce, która˛ znał znakomicie.« 1045 Ebd., S. 27–28; ebd., S. 18–19: »[…] mam oto na muszce młodego kozła-rogacza lub jelonka, widze˛ jego łeb w kole lunety w takim przybliz˙eniu i powie˛kszeniu, z˙e, zdawałoby sie˛, moz˙na, wycia˛gna˛wszy re˛ke˛, dotkna˛c´ siers´ci zwierze˛cia, ba, nawet pogładzic´ je po karku lub po łopatce, która az˙ zadrz˙y pod ta˛ pieszczota˛, moz˙na tez˙ podrapac´ po czole mie˛dzy
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Bei der nächsten Gelegenheit tritt an die Stelle des Tieres ein Mensch. Mit dieser Parallele beginnen die Verweise auf den antiken Diana-Aktäon-Mythos, die diese Episode im Text des Romans begleiten. Dadurch erreicht die Szene der Erschießung des Flüchtlings eine besondere Dichte. Von Erotik und Symbolen aufgeladen, schafft sie eine unheimliche Suggestion. Es fällt aber auf, dass Kus´niewicz die Rollen vertauscht: Die Position des Beobachters hat Kiekeritz, der »mit Interesse und Bewunderung, aber auch mit einer aufkommenden Leidenschaft«1046 den jungen, schönen Gefangenen, der am Bergbach »beidhändig Wasser schöpfte« und es sich »über Schultern und Brust«1047 goss – dabei fiel auf ihn ein »ganzes Bündel« von Sonnenstrahlen, »ähnlich dem leuchtenden Pfeil, den mittelalterliche Maler in ihren Bildern auf den Schutzheiligen richteten«1048 – durch das Fernglas mit zunehmender Faszination anschaut und »par distance« liebkost. In dem Moment aber, als dieser sich umschaut und ihre Blicke sich treffen, übernimmt der Oberleutnant die Rolle der tötenden Göttin: Du hast dich unvorsichtigerweise umgesehen, mich hinter dem Buchenstamm bemerkt und unglücklicherweise wie Aktäon, der die im Bach badende Diana erblickte, das Urteil über dich gefällt. – Oberleutnant Kiekeritz spürte in sich eine bis zum Schmerz anwachsende Spannung, er presste die Zähne zusammen, und in diesem Moment begegnete sein Blick dem des anderen, der sich aufgerichtet hatte und mit dem Hemd in den herabhängenden Händen erstarrt war. Nur der Wind bewegte eine Strähne des hellblonden Haars über seiner Stirn. Da fiel der Schuss, und sofort empfand der Oberleutnant Erleichterung. Als hätte sich ein dunkles, schweres Lid geöffnet, und das Licht wäre eingefallen.1049
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roz˙kami, zwierze˛ta podobno to lubia˛, na przykład psy przepadaja˛ za czyms´ takim, re˛ka˛ człowieka i pana, wie˛c chyba i rogacze czy jelenie tez˙; no i nic poza tym. Absolutnie nic. Palec na cynglu, juz˙, juz˙ i rozlegnie sie˛ wystrzał, kolba odbije do tyłu, stuknie w ramie˛; ale nie, nie, no bo po co? Wystarczy s´wiadomos´c´ moz˙nos´ci wykonania wyroku wydanego przez siebie samego, dla własnej tylko s´wiadomos´ci. Nabój zostanie na razie w lufie. Do czasu, rzecz jasna, zmiany decyzji. Moz˙e juz˙ przy kolejnej okazji, jaka sie˛ na pewno przydarzy.« Ebd., S. 166; ebd., S. 112: »[…] z zainteresowaniem oraz podziwem, lecz i rodza˛ca˛sie˛ gdzies´ pasja˛ […].« Ebd.; ebd.: »[…] zaczerpna˛wszy w obie gars´cie wody, oblac´ nia˛ nagie ramiona i piersi.« Ebd., ebd.: »Cały ich snop padał na jen´ca, podobnie jak na dawnych obrazach malarze s´redniowieczni pokazywali skierowana˛ na s´wie˛tego patrona s´wietlista˛ strzałe˛.« Ebd., S. 167–16; ebd., S. 113: »Obejrzałes´ sie˛ nieopatrznie, dostrzegaja˛c mnie za pniem buka, i na swe nieszcze˛´scie, jak Akteon, gdy ujrzał ka˛pia˛ca˛sie˛ w strumieniu Diane˛, wydałes´ na siebie wyrok. – Porucznik Kiekeritz poczuł w sobie napie˛cie narastaja˛ce niemal do bólu, az˙ zacisna˛ł ze˛by i w tym momencie jego wzrok napotkał oczy tamtego, który wyprostowawszy sie˛, znieruchomiał trzymaja˛c koszule˛ w opuszczonych re˛kach. Wiatr tylko poruszał kosmyk jasnoblond włosów nad jego czołem. Wtedy padł strzał i porucznik Kiekeritz natychmiast doznał ulgi. Jakby sie˛ uchyliła ciemna i cie˛z˙ka powieka i nagle do wewna˛trz zajrzało s´wiatło.«
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Der Diana-Mythos spielt im Roman eine zentrale Rolle: Kiekeritz trägt »die in ein Stück Verbandstoff gewickelte kleine Kopie der Diana von Ephesus«1050 ständig bei sich. Er glaubt, dass sie seinen Blick und seine Waffe lenkt. Sie ist für ihn nicht die Göttin der Jagd und der Fruchtbarkeit, er sieht in ihr eine Todesgöttin und bemüht sich, das Geschehene im Zusammenhang der Kriegshandlungen zu reflektieren. Es fällt ihm dabei schwer, zwischen dem Akt des Tötens und dem des Mordens zu unterscheiden: Die beiden sind für Kiekeritz ein Meisterwerk des Todes, das einen herben Beigeschmack enthält und die Skala der Empfindungen stark erweitert: Der Vollzug der Erschießung versetzt ihn in Ekstase.1051 Das Meisterwerk des Tötens befindet sich für ihn jenseits von Gut und Böse. Hier fängt aber das eigene Sterben des Oberleutnants an: Kus´niewicz gibt diesen Prozess »räumlich« wieder, aus der Perspektive des letzten, immer schwächer werdenden Wahrnehmungsvermögens des Protagonisten: Gleichzeitig fühlte er sich plötzlich – trotz des Herbstreichtums rundum, der Skala von Farben, dieser wahren, Berge, Hänge, Schluchten, kahle Almen hoch und fern umspannenden Ausstellung koloristischer Kompositionen – sehr fremd in dieser an Schönheit reichen Herbstlandschaft, er fühlte sich auf absurde Weise ans leere Ufer geworfen. Er sieht sich, wie er den leeren Strand entlanggeht, am Ufer eines Meeres, wo es finster ist und gleichzeitig Millionen kleiner Lichtsplitter wie ein Schwarm winziger Sterne funkeln. Er entfernt sich, er sieht sich selbst in der schwindenden Perspektive des Abends, immer kleiner, immer einsamer werdend, am Ende verschwindend. Eine Welle nur nimmt mit sanftem Plätschern den Schaum weg und verwäscht seine Spuren im Sand.1052
Im Sterben sieht Kiekeritz den »Stern oder ein ganzes Sternbild«1053 der Todesgöttin Diana, deren Rolle er übernommen hat und selbst zu einem Todesgott wird, der über das Leben und den Tod eines anderen Menschen entscheidet. Als eine Gottheit, als ein »Kriegsgott, Mars«1054 erschien er schon immer der ukrainischen Bahnwärterin Lisa Kut. Ihre geheime Liebe zum jungen Oberleutnant und seine Verherrlichung verwandeln sie in seine »auf jeden Befehl wartende Sklavin«:1055 1050 Ebd., S. 164; ebd., S. 110: »owinie˛ta˛ w kawałek bandaz˙a niewielka˛ kopie˛ Diany z Efezu.« 1051 Ebd., S. 167–168; ebd., S. 113–114. 1052 Ebd., S. 168; ebd.: »Równoczes´nie poczuł sie˛ nagle, mimo tego wokół bogactwa jesieni, tej gamy barwistej wystawy kompozycji kolorystycznej porozwieszanej po górach, stokach, rozpadlinach, połaciach gołych połonin, wysoko i daleko, rozlegle, doka˛d okiem sie˛gna˛c´ – bardzo obco w tym krajobrazie pełnym jesiennego pie˛kna, absurdalnie wyrzuconym na pusty brzeg. Oto widzi siebie, jak zmierza po pustej plaz˙y, brzegu morza, które jednoczes´nie jest pose˛pne i skrza˛ce sie˛ milionami drobnych s´wietlnych odprysków, rojem malen´kich gwiazdeczek. Oddala sie˛, widzi samego siebie gina˛cego w perspektywie wieczoru: jest coraz mniejszy, coraz bardziej samotny, w kon´cu znika. Tylko fala łagodnym szelestem zgarnia piany i rozmywa jego s´lady na piasku.« 1053 Ebd., S. 169; Ebd., S. 114: […] wóz czy raczej moz˙e ptak Diany, bogini s´mierci?« 1054 Ebd., S. 170; ebd., S. 114: »[…] boga wojny, Marsa,[…]. 1055 Ebd.; ebd., S. 115: »[…] niewolnica˛ czekaja˛ca˛ z wyte˛sknieniem na kaz˙dy rozkaz.«
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Zugegeben, Kiekeritz war ein sehr schöner und sehr männlicher Mann, doch nicht dies fesselte Lisa. Sie wusste, sie war sich darüber völlig im klaren, daß jemand wie er nicht für sie bestimmt war und es nie sein würde. Sie konnte, schon das wäre eine große, unverdiente Gnade der Vorsehung – höchstens seine demütige Dienerin werden, […]1056
Lisa bleibt der einzige Mensch, der Kiekeritz in den Tod begleitet. Sie bemüht sich, die hölzerne Kiste mit dem Toten durch die winterlichen Berge und die ungarische Ebene womöglich bis nach Wien zu bringen. Den Abschluss des Romans bildet die Szene, in der die Frau, welche im fahrenden Zug auf dem Deckel der Kiste mit dem Leichnam des Toten liegt, die Konstellationen der Waldsterne über den fernen Bergketten mit den Augen begleitet. Mit eigenem Menstruationsblut zeichnet sie auf der Kiste ein Kreuz: Die Befruchtung fand nicht statt, es folgt ein Absterben. Der Krieg ist zu Ende. Die k.u.k. Monarchie gibt es nicht mehr, ewig beständig bleibt nur das Weltall: »Der Frost wird schärfer vor dem Morgengrauen«1057 lautet der letzte Satz des Romans. Andrzej Kus´niewicz gelingt es in Lekcja martwego je˛zyka die Kriegslandschaft Galizien zum Zeitpunkt des Untergangs der k.u.k. Monarchie als einen todesträchtigen Raum zu inszenieren. Er tut es aus der holistischen Perspektive, indem der konkrete Mensch in Beziehung zu seiner Umwelt gesetzt wird. Alle Sinne bei der Wahrnehmung dieses Raumes sind dabei besonders geschärft. Eine große Rolle spielt hier die Zeit der Niederschrift des Textes: Roth, der den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat, trauert der Habsburgermonarchie nach; im Fall von Kus´niewicz bewahrt das Bewusstsein des Autors den Untergang Galiziens im Zweiten Weltkrieg. Den Anfang der Katastrophe bringt er aber mit den Ereignissen des Zugrundegehens des Vielvölkerstaates in Verbindung. Wie Dorota Wojda hervorhebt, enthüllt sich hinter der raffinierter Philosophie, die die Motivationen des Oberleutnants Kiekeritz begleitet, die übliche Bestialität, die sich von der »faschistischen Ideologie«1058 nicht unterscheidet. Unter dieser Perspektive sieht sie im Roman von Andrzej Kus´niewicz »[…] den Avers und den Revers der raffinierten Kultur von Modernismus, die von einer Seite an die Kraft, das Schaffen, die Ekstase, von der anderen – an den Untergang, die Destruktion und den trivialen Tod strebt.«1059 Man könnte hinzufügen, dass der Einfluss des Gedankenguts von Friedrich Nietzsche, das sowohl für die Moderne, als auch für die Genese der national-sozialistischen Ideologie Bedeutung hatte, hier nicht unterschätzt sein sollte. Auf diese Weise schafft Kus´niewicz eine Retrospektive 1056 Ebd.; ebd.: »Kiekeritz był, nalez˙y przyznac´, me˛z˙czyzna˛istotnie bardzo urodziwym i bardzo me˛skim, ale nie to tak zafascynowało Lize˛. Wiedziała, zdawała sobie znakomicie z tego sprawe˛, z˙e ktos´ taki jak on nie jest i nigdy nie be˛dzie dla niej. Mogła zostac´ – a i to byłaby duz˙a, niezasłuz˙ona łaska Opatrznos´ci – najwyz˙ej jego pokorna˛ słuz˙ebnica˛, […].« 1057 Ebd., S. 179; ebd., S. 120: »Bierze mróz przed s´witem.« 1058 Wojda 2008, S. 40. 1059 Ebd.
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der entscheidenden historischen Ereignisse, die das 20. Jahrhundert prägten. Zu ihrem Schauplatz wird bei ihm die Kriegslandschaft der galizischen Karpaten. So kann man am Beispiel der vergleichenden Analyse der Romane Radetzkymarsch von Joseph Roth und Lekcja martwego je˛zyka von Andrzej Kus´niewicz, die aus verschiedenen zeitlichen und kulturellen Perspektiven den Ersten Weltkrieg in Galizien und den Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie schildern, schlussfolgern, dass das Verfahren der Erweiterung der Komparatistik durch die Hermeneutik des Raums zu neuen Erkenntnissen führt. Die beiden in Galizien geborenen Autoren wählen den Handlungsraum und die Zeit der Handlung ihrer Werke bewusst: Sowohl Roth als auch Kus´niewicz projizieren ihre Intentionen auf den Georaum Galizien im Ersten Weltkrieg: Er wird von ihnen fiktionalisiert und als ein morbider Erlebensraum inszeniert. Auf diese Weise wird von der Literatur den galizischen Orten und Landschaften, dem Land Galizien insgesamt eine neue Dimension verliehen. Die Romane von Roth und Kus´niewicz werden folglich zur komplementierenden Komponente des »Galizischen Textes«, die ihm neue, zusätzliche Bedeutungsschichten verleihen. Es gibt hier viele Elemente, die im dichten System dieses gemeinsamen Textes paradigmatisch wirken, denn Galizien impliziert als eine Kriegslandschaft seine eigenen Beschreibungen. Als Resultat davon, ungeachtet mehrerer Momente, die sich nicht überschneiden, halten die beiden Texte semantisch zusammen: Sie stimmen im Thema, im Handlungsraum und in den Motiven überein. Zum Hauptgedanken wird in den Romanen die Katastrophe des Zerfalls des Habsburgerreiches infolge des Ersten Weltkrieges; es werden von beiden Autoren die Ereignisse an der habsburgischen Ostfront dargestellt; zentral wird hier das Motiv der Degradierung der letzten Generation der k.u.k. Militär-Elite als Parallele zum Niedergang der Donaumonarchie. Die Schriftsteller gehen dabei von der Wahrnehmung und den sinngebenden Gefühlen aus: Im Vordergrund der beiden Autoren steht die holistische Perspektive der Mensch-Umwelt-Beziehung. Wo es bei Roth aber um den todesträchtigen Raum Galizien geht, der selbst protagonistische Qualitäten aufweist, entsteht bei Kus´niewicz ein bilaterales Wahrnehmungsbild der Landschaft, die im Hintergrund des Geschehens steht. Einerseits wirkt sie höchst ästhetisch, andererseits wird sie als Kriegslandschaft von mehreren Zeichen des Todes gekennzeichnet. Sowohl auf Joseph Roth als auch auf Andrzej Kus´niewicz wirkt der apokalyptische Untergang der k.u.k. Monarchie und somit Galiziens traumatisch. Einen der Auswege finden sie in der imaginativen Erlebbarkeit dieses Raumes mittels seiner narrativen Erschließung: Bei Roth findet eine Mythologisierung Galiziens statt, für Kus´niewicz dagegen bleibt Galizien als eine Herausforderung bei seinen Überlegungen über die Quellen und Gründe des weiteren Schicksals seines Heimatlandes.
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Inszenierung des Raumes Galizien
Literaturverzeichnis Primärliteratur Kus´niewicz, Andrzej: Lekcja martwego je˛zyka, Kraków: Wyd. Literackie 1986 [1977]. Kus´niewicz, Andrzej: Lektion in einer toten Sprache, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987. Roth, Joseph: Radetzkymarsch, in: Roth, Joseph: Werke in 6 Bd., Bd. 5: Romane und Erzählungen 1930–1936, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1990 [1932].
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Die gerichtete Landschaft: Galizische Ukrainer in der Gefechtswelt des Ersten Weltkrieges
Im Ersten Weltkrieg wurde Galizien zum Hauptkriegsschauplatz zwischen zwei Imperien – Österreich-Ungarn und dem russischen Zarenreich. Die nordöstliche Provinz der Habsburgermonarchie bekam eine »enorme Wichtigkeit« im geopolitischen Konflikt der beiden Mächte, »obwohl zwischen Galizien und dem Brennpunkt dieses Streits, also dem Balkan samt den türkischen Meerengen, 1.500 Kilometer lagen«.1060 Es wurde zum »großen Schlachtfeld des großen Krieges«1061, wie Joseph Roth es nach seiner Reise durch das Heimatland 1924 bezeichnete. Hier sind mehr als eine halbe Million Menschen ums Leben gekommen, die Verwundeten und Gefangenen hat niemand gezählt. Während aber Galizien als Kriegsschauplatz im Ersten Weltkrieg eine große Rolle spielte, herrschte später eine Art Amnesie bezüglich dieser Ereignisse. Wie der ukrainische Historiker Jaroslav Hrycak meint, ist eine der Ursachen davon der Umstand, dass die Ereignisse an der Ostfront, wenn sie auch große Verluste verursachten, nicht von solchen »humanitären Katastrophen«1062 gekennzeichnet waren, wie es bei den Kämpfen an der westlichen Front der Fall war. Die andere Ursache der Amnesie, insbesondere vor Ort in Ostgalizien, das zum Spielball beider Mächte geworden war, ist den folgenden Ereignissen in dieser Region geschuldet: »Das, was nach dem Krieg geschah, verdrängte die Erinnerung an den Krieg an sich.«1063 Das seien nicht zuletzt die Politik Polens gegenüber nationalen Minderheiten in der Zwischenkriegszeit oder die sowjetischen Repressionen 1939–1941 gewesen. Insbesondere stellte aber der Untergang Galiziens im Zweiten Weltkrieg1064 die Kämpfe auf diesem Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg in den Schatten. Es gibt heute im ehemaligen Ostgalizien, in der heutigen Westukraine, keine Gedenkstätten an den Ersten Weltkrieg; von den zahlreichen Soldatenfriedhöfen, 1060 1061 1062 1063 1064
Rydel 2015, S. 181. Roth 1990b, S. 281. Hrycak 2014, S. 23. Ebd., S. 28. Snyder 2010.
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die auf beiden Seiten der beweglichen Frontlinie im Zeitrahmen 1914–1918 entstanden, sind nur einige Überreste geblieben. Eine besondere Rolle spielt hinsichtlich des kulturellen Gedächtnisses in diesem Fall die Literatur. Unter den wichtigsten Werken, die in verschiedenen Sprachen retrospektiv geschrieben wurden und zeigten, was dieser Krieg für Galizien bedeutete, kann man solche Romane erwähnen wie Radetzkymarsch (1932) von Joseph Roth oder Lekcja martwego je˛zyka (1977) [Lektion in einer toten Sprache (dt. 1987)] von Andrzej Kus´niewicz sowie Austeria (1966) [Austeria (dt. 1968)] von Julian Stryjkowski. Viele ukrainische Autoren, die Zeitzeugen des Ersten Krieges waren und die sich in ihrem Schaffen der Darstellung des Schicksals der galizischen Ukrainer in diesem Krieg zuwandten, hat man später nicht veröffentlicht, wie es im Fall von Bohdan Lepkyj war; einige Texte, z. B. die Lyrik von Sicˇovi stril’ci [SitschSchützen], waren in der sowjetischen Ukraine verboten. Werke anderer Schriftsteller, die zum Kanon der ukrainischen Literatur gehören (Ivan Franko, Vasyl’ Stefanyk, Ol’ha Kobyljans’ka), wurden zensiert. Doch gerade die Literatur ist imstande, wenn auch auf dem Wege der Fiktion, das wahre Gesicht des Krieges zu enthüllen, die Erinnerung an die österreichische oder russische Grausamkeit am Anfang und während des Krieges gegenüber der einheimischen Bevölkerung Galiziens der Amnesie zu entreißen. Es soll folglich gezeigt werden, wie Galizien mit der Erklärung des Krieges 1914 zwischen Österreich-Ungarn und dem zaristischen Russland von einer Friedens- zur Kriegslandschaft wurde, in welche Situation die galizischen Ukrainer dabei gerieten und wie diese Geschehnisse von der verschiedensprachigen galizischen Literatur reflektiert wurden. Vorerst soll erwähnt werden, dass es unter den Ukrainern (Ruthenen), die meistens im Osten der Habsburgermonarchie, in Ostgalizien, lebten, es schon ab Ende des 19. Jahrhunderts Meinungsunterschiede hinsichtlich der Frage der eigenen nationalen Identität und Staatsangehörigkeit gab. Dominant war hier die »austrophile«, überwiegend griechisch-katholische, mit Rom unierte Mehrheit, die eine Autonomie im Rahmen von Österreich-Ungarn einrichten wollte. Eine andere Gruppe der galizischen Ukrainer, die man als »ukrainophil« bezeichnen kann, hatte als Ziel die Schaffung eines unabhängigen Staates. Es ging dabei um die Vereinigung mit den zentralen und östlichen Gebieten der Ukraine, die unter russischer Herrschaft waren. Zu dieser Gruppe zählten vor allem ukrainische Orthodoxe in Galizien, aber auch einige »griechische« Katholiken. Es gab außerdem eine »russophile« Minderheit – die so genannten »Moskvophilen«, die sich an das Zarenreich anschließen wollten (eine große Rolle spielte dabei nicht zuletzt das orthodoxe Patriarchat). Der Erste Weltkrieg, der Galizien in eine Kriegslandschaft verwandelte, wurde zum Katalysator politischer Widersprüche unter den »habsburgischen« Ukrainern. Aber nicht nur. Galizien als Kriegslandschaft wurde auch zum Ausgangspunkt des topologischen Zugangs zur Raumproblematik auf verhaltenswissenschaft-
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licher Grundlage. Dieser Zugang wurde von Kurt Lewin, dem späteren Hauptvertreter der »Berliner Schule« der Gestaltpsychologie, infolge seiner Erlebnisse und Beobachtungen in Galizien im Ersten Weltkrieg entwickelt. Seinen ersten Aufsatz unter dem Titel Kriegslandschaft veröffentlichte er 1917.1065 Es war der Text, in dem Lewin die Reflexionen seiner Fronterfahrungen nach der Verwundung an der galizischen Front im Kriegslazarett niederschrieb. Die Landschaft wird, laut ihm, zu einem konkreten Zeitpunkt bestimmt, in diesem Fall zum Zeitpunkt des Krieges. Lewin stellt folglich zwei Landschaften gegenüber: eine Friedenslandschaft und eine Kriegslandschaft. Beide hat er in Galizien, wo er im Ersten Weltkrieg den Wehrdienst leisten musste, erlebt. Die erste, die Friedenslandschaft, sei laut Lewin durch ein wesentliches Merkmal gekennzeichnet: Sie gehe, unabhängig vom Gelände, »nach allen Richtungen gleicherweise ins Unendliche«1066; man denke dabei nicht an den Übergang von der Ebene zum Gebirge, an den »sich weiter befindenden Wald oder freies Feld«.1067 In einer solchen Landschaft dominiert die holistische Perspektive, bei der die Gesamtheit der »Mensch-Umwelt-Beziehung«1068 im Vordergrund steht. Der Raum wird also im phänomenologischen Sinn »gelebt« und als »hodologischer Raum«,1069 als ein Wegeraum also, angesprochen. Aus dieser Perspektive sieht seine Heimat »in den ersten Augusttagen des Jahres Neunzehnhundertundvierzehn«1070 Hermann Blumenthal, ein »vergessener«1071 jüdischer Autor deutscher Sprache, wenn er seine Erzählung Die Schlacht bei Lemberg aus der 1915 erschienenen Sammlung Der Wall im Osten. Kriegserzählungen, die zu den ersten literarischen Einzelpublikationen über den Ersten Krieg gehört1072, mit der Beschreibung einer Fußwanderung im Nordosten Galiziens beginnt: Seit jeher liebe ich das galizische flache Land. Der Blick geht so weit – nur hie und da durch eine Baumgruppe oder durch ein paar Häuschen gehemmt. […] So kenne ich nichts Schöneres, als an stillen Sommertagen über die galizische Ebene dahinzuschleudern: Kaum eine Wegstunde von mir scheint die Erde mit dem Himmel zusammenzuwachsen, doch je weiter ich komme, umso ferner erscheint mir der Horizont… […] Nirgends wirkt die Natur mehr auf mich als in meinem Heimatlande und ich fühle es, dass ich mit diesem Boden verwachsen bin.1073
1065 1066 1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073
Lewin 2006. Lewin 2006, S. 130. Ebd. Günzel 2006, S. 125. Ebd., S. 126. Blumenthal 1915, S. 9. Woldan 2015, S. 297. Ernst 2013, S. 420. Blumenthal 1915, S. 9–10.
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Die Landschaft Galiziens ist kurz vor dem Kriegsausbruch eine Friedenslandschaft, wo eine innige Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt entsteht. Das »Bild des tiefsten Friedens«1074 wird durch die »farbenreichen Felder«, die »still in der Nachmittagssonne«1075 lagen, durch das reifende Getreide, »die sanften Hügel fern am Horizont«,1076 den »silberklaren Bach am Straßenrande«1077, durch die Bemerkung der Bauern, dass es »endlich ein gutes Erntejahr«1078 wird, markiert. Hier gibt es intertextuelle Korrespondenzen zur Darstellung Galiziens als Friedenslandschaft unmittelbar vor dem »Weltuntergang« im dritten Teil des Romans von Joseph Roth Radetzkymarsch. Während der Fortbewegung seines Bataillons in Richtung Nordosten gegen die russische Grenze macht Leutnant Trotta mit seinen Soldaten Rast im galizischen Dorf Krutyny, das vom Krieg noch nicht heimgesucht ist. In diesem Wegeraum, der von den Rastenden »gelebt« wird, dominieren die gleichen Bilder, die ihn als Friedenslandschaft kennzeichnen, obwohl Roth eine Szene beschreibt, die etwas später, Ende September, stattfindet, als der Krieg schon tobte: An diesem Tag hatte der Landregen aufgehört, und die Sonne eines späten Septembertages spann ein gütiges, silbernes Licht über die weiten Felder, auf denen das Getreide noch stand, das lebendige Brot, das nicht mehr gegessen werden sollte. Der Altweibersommer zog langsam durch die Luft. Sogar die Raben und Krähen verhielten sich still, getäuscht von dem flüchtigen Frieden dieses Tages und also ohne Hoffnung auf das erwartete Aas.1079
Am Anfang der Veränderung Galiziens in eine Kriegslandschaft, die laut Lewin durch Gefahrzonen, Grenzen und Stellungen bestimmt werde1080, steht die Kriegserklärung. Als Frontzone kommt die Kriegslandschaft »begrenzt« vor: Da »vorne« scheint die Gegend ein Ende zu haben, dem ein »Nichts« folgt.1081 So wird die Landschaft »gerichtet«. Wenn aber die unmittelbare Bedeutung des Wortes »Gerichtetsein«, wie es von Lewin gebraucht wird, auf die Frontlinie verweist1082, so bekommt der Ausdruck »gerichtete Landschaft« hier auch eine andere, metaphorische Konnotation. Die Merkmale des »Gerichtetseins« der galizischen Landschaft im Ersten Weltkrieg im Sinne einer »Hinrichtung« können mit folgenden Stichwörtern, die Lewins Text strukturieren, skizziert
1074 1075 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082
Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S.12. Ebd., S. 10. Roth 1990a, S. 442. Lewin 2006, S. 131f. Ebd., S. 131. Ebd.
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werden: »öfters beschossene Häuser und Wegkreuzungen«1083; »zerschossene«1084 und »abgebrannte«1085 Dörfer; »Gehöfte«, die »unter Feuer genommen werden«1086; ein »Stellungsgraben«, der »voller Toten und Kampf«1087 liegt; »tote Pferde«1088; »zerfahrene Acker«1089; »zerstörte Häuser und andere Kriegsspuren«.1090 Diese »Kriegsinseln«1091 bleiben, so Lewin, noch lange in der Landschaft stehen, auch wenn sie wiederum zu einer Friedenslandschaft wird. Eine plastische Darstellung des allmählichen Übergangs der galizischen Welt von einer Friedens- in eine Kriegslandschaft, wie sie mit dem Blick aus dem Fenster des fahrenden Militärzuges 1915 wahrgenommen wurde, ist bei Stefan Zweig zu finden: […] und morgens war es schon fremde Welt vor dem Blick. Leeres flaches Land, aber schön, wogig gefüllt mit reifendem Getreide, ein Sommerglanz, der nichts mehr wusste von Kampf und Not. Langsam fuhr der Zug weiter von Krakau in die galizische Ebene, langsam, viel zu langsam für meine Ungeduld. Aber – bald war es zu fühlen – jede Meile, jeder Kilometer, jeder Schritt ging hier durch die furchtbare Furche des Krieges, wie Spinngewebe waren die eisernen Brücken zerrissen und lagen geknickt im lehmigen Wasser […]. Wo immer eine Station war oder besser ein Skelett, der verbrannte, hohläugige Leichnam eines Bahnhofgebäudes, da mussten wir halten stunden- und stundenlang.1092
Prägnant in dieser Beschreibung von Zweig ist es, dass er sich bei der Darstellung Galiziens als einer Friedens- beziehungsweise einer Kriegslandschaft fast der gleichen Bilder bedient, die die beiden Zustände dieser Landschaft bei Blumenthal, Roth und Lewin prägen. Es sind Bilder, deren Art unvereinbar scheint: die flache Ebene zur Spätsommerzeit, eine reiche Ernte versus die Furchen des Krieges, zerrissene Brücken, verbrannte und zerstörte Gebäude. In Lewins Überlegungen werden auch zwei Arten von Dingen gegenüber gestellt: Es sind Dinge und Gebilde im Frieden und reine »Kriegsdinge«, »Gefechtsdinge« oder »Gefechtsgebilde«1093, wodurch das Verhalten ihnen gegenüber bestimmt werde.1094 Hier soll betont werden, dass zur Zeit, als Lewin an seinem Text zur Phänomenologie der Räumlichkeit arbeitete, in der Kulturphilosophie 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089 1090 1091 1092 1093 1094
Ebd. Ebd., S. 135. Ebd., S. 139. Ebd., S. 137. Ebd., S. 139. Ebd. Ebd. Ebd., S. 130. Ebd., S. 139. Zweig 2010b, 122–123. Lewin 2006, S. 134–135. Ebd., S. 135.
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über den Begriff »Ding« und das Handeln mit Gegenständen, das im Begriff »Umgang mit Dingen«1095 den Ausdruck fand, diskutiert wurde. So schrieb Hans Freyer über das Verhalten der Menschen gegenüber den Dingen, die Autonomie und Eigenlogik haben1096, wie folgt: »Freilich packen wir zuweilen hart und herrisch zu, rütteln rücksichtslos am Gleichgewicht der natürlichen Dinge, zwingen Sachen zusammen, die sich ohne uns nie aneinander messen würden«.1097 Der Gebrauch und die Verwendung von Dingen wurden in Anlehnung an Max Webers Definition vom Handeln als »sinnhaftem Verhalten«1098 als besondere Form des Handelns gekennzeichnet. Nach Weber, schreibt Hans Peter Hahn, impliziere der »Umgang mit Dingen« aber häufig das Fehlen einer auf den Gegenstand gerichteten Intention und ist besser mit dem »gewohnheitsmäßigen Verwenden«1099 zu beschreiben. Auf solchen Umgang mit Dingen, die jedoch in diesem Fall zu »Kriegsdingen« werden, lenkt die Aufmerksamkeit auch Lewin in seinem Aufsatz, wenn er über die »Spezifik« der Wahrnehmung der Soldaten schreibt: Was innerhalb der Gefechtszone liegt, gehört dem Soldaten als sein rechtmäßiger Besitz, nicht weil es erobert ist – denn auf dem hinter der Stellung liegenden Gebilde verhält es sich anders –, sondern weil es als Gefechtsgebilde ein militärisches Ding ist, das naturgemäß für den Soldaten da ist. Selbst etwas so Barbarisches wie das Verbrennen von Fußböden, Türen und Möbel ist völlig unvergleichbar mit einem derartigen Verbrauch von Möbeln in einem Hause nach Friedensbegriffen. Denn wenn auch diese Dinge ihre Friedensmerkmale nicht ganz verloren zu haben pflegen, so tritt doch sehr viel stärker der ihnen als Kriegsding zukommende Charakter in den Vordergrund, der sie häufig unter ganz andre Begriffskategorien zu ordnen veranlasst.1100
In einer Anmerkung dazu schreibt Lewin, dass es auffallend sei, »wie stark neu zur Front kommende Mannschaften und Offiziere noch den Friedenscharakter von Dingen und Handlungen empfinden und daher mit Gefühlsreaktionen antworten, die erfahrenen Soldaten völlig unangebracht erscheinen.«1101 Es wäre aber falsch, »hier von Gefühlsverrohung zu sprechen«1102, schließt der zukünftige Gestaltpsychologe seinen Denkvorgang ab. Überraschend wirkt in Lewins Erklärung der Entmenschlichung in der Situation des Krieges die Unterordnung unter solche »ganz andere Begriffskategorien«1103 bei den Menschen, die in der Kriegssituation auch eine Zugehörigkeit zur Gefechtswelt aufweisen.1104 Es geht 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104
Hahn 2014, S. 51. Ebd., S. 19. Freyer 1923, S. 84–85. Weber 1922, S. 451f. Hahn 2014, S. 51. Lewin 2006, S. 135. Ebd., S. 135–136. Ebd., S. 136. Ebd., S. 135. Ebd., S. 136.
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hier um nichts anderes als um »rücksichtsloses Rütteln« am »Gleichgewicht der natürlichen Dinge«, um mit oben zitierten Worten von Freyer solchen »Umgang mit Dingen«, in die hier Menschen »herrisch« verwandelt werden, zu kennzeichnen. Mit diesen Überlegungen korrespondieren auch die Gedanken von Stefan Zweig, wie er sie in Wien nach seiner Rückkehr aus Galizien im August 1916 im Brief an den Freund niederschrieb: Manchmal habe ich Momente wo ich die Unsinnigkeit des gegenwärtigen Zustandes geistig nicht mehr fasse: daß mich, einen lebendigen Menschen irgend ein viereckiger beschmierter Zettel, der oben in einem räucherigen Amt wandelt, am Kragen fassen, mich in eine fremde Provinz über Nacht werfen kann, mir das Papier meines Werkes unter den Fingern wegreißen, meine Wohnung, meine Welt mir absperren und in ein nasses Erdloch in Galizien stoßen. Wirklich, ich verstehe es nicht, ich verstand es nie […] und will es nie verstehen.1105
Derartiges Verhalten gegenüber den Menschen hat hier, so Zweig, keinen Sinn, es erhält ihn aber, der Definition von Lewin entsprechend, in der Kriegssituation, wenn die Menschen, die eine Zugehörigkeit zur Gefechtswelt aufweisen, sich in »Kriegsdinge« verwandeln und dementsprechend kriegsgemäß behandelt werden: Man »besitzt« sie und »nützt«. Diametral dazu klingt die Bemerkung von Freyer: »Zwei Liebende besitzen einander nicht: besitzen wollen kann man nur ein Ding, das nützt«.1106 Es gebe unter den Menschen im Krieg, laut Lewin, zwei »Erscheinungen«, nämlich Soldaten und Zivilisten: Der einzelne Soldat erlebe sich selbst als Gefechtsgebilde.1107 Nur dann, wenn er »aus dem Verband der fechtenden Truppe ausscheidet, z. B., wenn er verwundet oder aus dem Felde abkommandiert wird«1108, nimmt er sich als solches nicht mehr wahr. Erst jetzt merke er »plötzlich neu und besonders eindringlich, daß ›der Krieg doch recht gefährlich ist‹«.1109 Wenn es aber um Zivilisten geht, »die ausnahmsweise nicht aus der Gefechtszone geflohen sind«, so werden sie nach Lewin trotzdem »nicht zu Dingen der Gefechtswelt, es sei denn, daß man Spione in ihnen vermutet.1110 Dementsprechend werden sie auch behandelt. In Hermann Blumethals Erzählung Die Schlacht bei Lemberg gibt es eine markante Stelle, wo es um solche »naturgemäße Behandlung« der vermuteten Spione geht, die anscheinend »dem Feinde Dienste geleistet haben«1111:
1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111
Zweig 2010a, S. 127. Freyer 1923, S. 85. Lewin 2006, S. 136. Ebd. Ebd. Ebd. Blumenthal 1915, S. 45.
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Die Leute sammelten sich auf den Straßen, drohen den Verrätern mit den Fäusten und stoßen Flüche aus. Manche konnten ihren Grimm nicht bezwingen und suchen sich an die Gefangenen heranzudrängen, um ihnen eins zu versetzen. Andere wollen die Erregten beruhigen, »Lasst sie nur«, sagen sie. »Sie werden ihrer Strafe jetzt nicht entgehen«.1112
Davon, wie weit die Verhafteten in den Augen anderer zu »Kriegsdingen« geworden waren, zeugt folgendes Bekenntnis des Ich-Erzählers, das die allgemeine Gewaltbereitschaft gegenüber Verdächtigen zum Ausdruck bringt: Heute saß ich im Grand-Cafe, als auf der Straße ein solcher Gefangenentransport vorbeikam. Die Erbitterung der Menge äußert sich in lauten Rufen, und auch ich wurde von der Aufregung mitgerissen. Ich hätte mich auf die Spione stürzen mögen.1113
Die »Verräter«, von denen Blumenthal spricht, waren die galizischen Ukrainer, vor allem Bauern, aber auch einige Priester (überwiegend orthodoxe), in denen die k. und k. Kriegsbehörden Spione für das russische Militär vermutet haben. Man meinte dabei die Anhänger der »moskvophilen« Bewegung ertappt zu haben, obwohl die meisten Bauern wenig mit dieser Ideologie zu tun hatten. Öfters imponierte ihnen nur, dass die russischen orthodoxen Soldaten zum Beispiel besonders gläubig waren und oft beteten. Dabei gab es unter den »Russen« auch viele Soldaten, die ukrainisch sprachen: Es waren die Ukrainer, die aus den zentralen und östlichen Gebieten kamen und in die zaristische Armee einberufen worden waren. Das russische Imperium wurde im Ersten Weltkrieg zum strategisch wichtigsten Gegner der Habsburgermonarchie, die ihm den Krieg am 6. August 1914 erklärt hatte. »Was danach folgte«, schreibt Wassyl Lopuschanskyj, »war eine Abfolge von Offensiven, Rückzügen, Besetzungen und Räumungen der östlichen Gebiete der Monarchie«.1114 Das Kronland Galizien sei dabei »von den schweren Kämpfen« »am stärksten betroffen«.1115 Die Landstriche wurden infolge des Durchmarsches der Armeen verwüstet, besonders gelitten hatte dabei die zivile Bevölkerung Ostgaliziens. Da hier der überwiegende Teil der Landbevölkerung ukrainisch war – die »Ruthenen« bildeten hier die demographische Mehrheit1116, wurde gleich nach dem Beginn des Krieges ein Erlass des Statthalters und der Kriegsverwaltung Galiziens über »den präventiven Arrest der politisch Verdächtigen«1117 veröffentlicht; es begann »unter den österreichisch-ungarischen
1112 1113 1114 1115 1116 1117
Ebd. Ebd. Lopuschanskyj 2014, S. 130. Ebd. Le Rider 2008, S. 145. Popyk 1999, S. 6.
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Militärs eine erhöhte ›Spionagehysterie‹«.1118 Der Erlass wurde effizient ausgeführt, es gab dabei vermutlich keine Zeit für gerichtliche Untersuchungen. Dabei spielte der Umstand mit, dass die k.u.k. Kriegsverwaltung bestrebt war, sich nach den ersten Niederlagen an der östlichen Front zu rechtfertigen sowie die Unzufriedenheit und die Wut der dortigen Bevölkerung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Prägnante literarische Beispiele zu diesem Thema, die öfters übersehen werden, sind auch im Radetzkymarsch von Joseph Roth zu finden. Es geht um die abschließenden Episoden des Romans, die den »Bewegungskrieg« darstellen, der sich in Galizien entfaltete und es in eine »gleichmäßig dichter werdende Gefahrzone«1119 verwandelte. Roth beschreibt dabei den Vollzug der Befehle des Armeekommandos hinsichtlich der Behandlung der »russisch gesinnten Ukrainer, der Geistlichen und der Spione«1120: Voreilige Standesgerichte verkündeten in den Dörfern voreilige Urteile. Geheime Spitzel lieferten unkontrollierbare Berichte über Bauern, Popen, Lehrer, Photographen, Beamte. Man hatte keine Zeit. Man musste sich schleunigst zurückziehen, aber auch die Verräter schleunigst bestrafen. Und während sich Sanitätswagen, Trainkolonnen, Feldartillerie, Dragoner, Ulanen und Infanteristen im ständigen Regen, auf den aufgeweichten Straßen in rastlosen und plötzlich entstandenen Knäueln zusammenfanden, Kuriere hin und her galoppierten, die Einwohner der kleinen Städtchen in endlosen Scharen nach dem Westen flüchteten, umflattert vom weißen Schrecken, beladen mit weißen und roten Bettpolstern, grauen Säcken, brauen Möbelstücken und blauen Petroleumlampen, knallten von den Kirchplätzen der Weiler und Dörfer die Schüsse der hastigen Vollstrecker hastiger Urteile, und der düstere Trommelwirbel begleitete die eintönigen Urteilssprüche der Auditoren, und die Weiber der Ermordeten lagen kreischend um Gnade vor den kotbedeckten Stiefel der Offiziere, und loderndes rotes und silbernes Feuer schlug aus Hütten und Scheunen, Ställen und Schobern. Der Krieg der österreichischen Armee begann mit Militärgerichten.1121
So wurden die galizischen Ukrainer, in denen man Spione vermutete, in Roths Darstellung zu reinen Dingen der Gefechtswelt, mit denen »kriegsgemäß«1122 umgegangen wurde, wenn man die Terminologie von Kurt Lewin heranzieht. Der Verdacht wegen Spionage zugunsten des zaristischen Russlands wurde dem Verrat gleichgesetzt. Die Standrechtsurteile wurden dabei in den drei »Hauptsprachen« des Kronlandes gedruckt und ausgehängt – deutsch, polnisch, ukrainisch (Jiddisch zählte man nicht dazu): »Standrechtsurteil / Wyrok Sa˛du doraz˙nego / Vyrok sudu doraznoho«, – wie ein Plakat 63 auf 47,3 cm aus dem Jahr 1915 bekundet: »Standrechtsurteil: Onufry Olchovy wird wegen Majestäts1118 1119 1120 1121 1122
Lopuschanskyj 2014, S. 130. Lewin 2006, S. 132. Roth 1990a, S. 441. Ebd. Lewin 2006, S. 134–135.
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beleidigung, Störung der öffentlichen Ruhe und Meldung eines österreichischen Soldaten beim russischen Kommando zum Tod durch den Strang am 16. Juli verurteilt, 1915.«1123 Diese galizische Kriegsepisode im Radetzkymarsch wird in der erwähnten Erzählung von Blumenthal »erweitert«. Der Autor liefert eine detaillierte Beschreibung des aus »einigen Offizieren«1124 zusammengesetzten Standgerichts, des Verhörs der verdächtigen ukrainischen Bauern sowie der Exekution in der galizischen Provinzstadt Sokal. Die Szene, die dieses Kapitel eröffnet, steht im direkten Einklang mit der Roth’schen Darstellung: Die Bauern standen auf einem Platze vor der Stadt in einer langen Reihe und wurden scharf bewacht. Sie waren voneinander ein paar Schritte getrennt und durften miteinander nicht sprechen. Etwas weiter, in einem großen Schuppen waren die Frauen und Kinder untergebracht und von dort war immerwährend Weinen und Schreien zu vernehmen.1125
Es fällt auf, dass als Zeugen außer dem polnischen Schmied, dem jüdischen Arendar und mehreren Einwohnern der Stadt ein ukrainischer Intellektueller, der den Habsburgern loyal gesinnt war, vernommen wurde.1126 In der Beschuldigung der Dorfbewohner wegen Russophilie vonseiten des polnischen Schmieds und des jüdischen Arendars spielen ethnische Konfrontation sowie wirtschaftliche Relevanz in Galizien, die sich im Krieg verschärften, die entscheidende Rolle: Die ukrainischen Bauern sollten vermutlich »mit ihren ›russischen Brüdern‹« bedroht haben: »Wartet nur«, sagten sie, »wenn erst unsere Brüder aus dem Russenlande kommen werden, dann werden die Polen und Juden sowie die österreichischen Schreiber schon sehen, wie es mit unseren Rechten steht.«1127
Obwohl die Bauern nicht verstanden, »weshalb man sie beschuldigte«1128 und hartnäckig ihre Unterstützung der Kosaken leugneten – »keiner im Dorf kümmerte sich um Politik«, bekennt der Dorfälteste –, kommt es heraus, wie vonseiten des zaristischen Russlands Propaganda unter den ukrainischen Bauern Galiziens getrieben wurde: Es waren Fremde, die ins Dorf kamen und sagten, »daß der Kaiser in Wien nichts mehr« von ihnen wissen wolle und »daß der mächtige Zar seine Hand« über sie halte. »Der Russe sei«1129 ihr Bruder, hieß es. Es wurde auch von den orthodoxen Geistlichen agitiert: »Da kam eines Tages ein 1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129
Purchla 1915, S. 352, VI.02. Blumenthal 1915, S. 36. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 37. Ebd., S. 36. Ebd., S. 38.
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Pope zu mir und redete so viel, daß ich mich gar nicht auskannte. Geschenke aus der heiligen Stadt Kiew brachte er mit,« – so der Dorfälteste.1130 Es ist dabei relevant, dass die »Fremden« zu den galizischen Bauern in ihrer eigenen Sprache redeten.1131 So wurde im Krieg die Sprache der Ukrainer, die durch die Frontlinie geteilt wurden, zum Zweck der politischen Propaganda instrumentalisiert. Das Standgericht dauerte nicht lange, »das Urteil wurde noch am selben Tage gesprochen. Es lautete für achtundzwanzig Angeklagte, deren Schuld feststand, auf Tod durch den Strang.«1132 Die vermuteten Spione wurden folglich zu »Dingen der Gefechtswelt«, der Umgang mit ihnen sollte »kriegsgemäß« sein: »Endlich war das Urteil vollstreckt, und achtundzwanzig Leichen schwebten in der Luft.«1133 »Die Übrigen sollten, – so das Standgericht –, zur weiteren Untersuchung nach Lemberg überführt werden.«1134 Nicht alle Ukrainer, die man am Anfang des Krieges in Galizien als Spione verdächtigte, wurden also an Ort und Stelle hingerichtet. Tausende von ihnen waren in zentrale Gebiete der Monarchie gebracht worden. Ein beredtes Zeugnis davon war das k.u.k. Zivilinterniertenlager Thalerhof in der Nähe von Graz, in dem im Zeitraum zwischen September 1914 und Mai 1917 fast dreißig tausend galizische Ukrainer gefangen gehalten wurden.1135 Tausende von ihnen waren ums Leben gekommen. In der Kriegserzählung Blumenthals wurde auch einer dieser Transporte erwähnt. Die Gefangenen werden hier nicht anders als »Kriegsdinge« behandelt, das Verhalten der anderen ihnen gegenüber sollte also als »naturgemäß« wirken: In der Kazimierzowska staute sich die Menge, denn aus dem Gefängnishause wurden die russophilen Bauern geführt, um zum Bahnhofe gebracht zu werden. In Viererreihen marschierten sie, gefesselt, von Gendarmen überwacht, ein langer, langer Zug. Auch viele Geistliche waren unter ihnen. Mit finsteren Blicken schritten sie dahin – ihrem Schicksale entgegen. »Verräter, Verräter«, murmelte ein Bauer in meiner Nähe und drohte den Gefangenen mit der Faust. »Warum feuert man sie nicht gleich nieder? Wozu macht man sich erst Mühe, sie fortzuführen…?«1136
In eine andere Situation geriet mit der Kriegserklärung die »austrophile« Mehrheit der galizischen Ukrainer. Sie hat vor allem die Einberufung in die k.u.k. Armee betroffen, um die Interessen der Monarchie zu verteidigen. Die schweizerische Publizistin und Schriftstellerin ostjüdischer Herkunft, Salcia Land-
1130 1131 1132 1133 1134 1135 1136
Ebd., S. 39–40. Ebd., S. 38. Ebd., S. 40. Ebd., S. 43. Ebd., S. 40. Lopuschanskyj 2014, S. 134. Blumenthal 1915, S. 63–64.
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mann, schildert die Wirkung des Kriegsausbruchs in Galizien auf die »ahnungsvollen Ruthenen« in ihrem Erinnerungsbuch Mein Galizien: Nur die ruthenischen Bauer begriffen, was auf sie zukam. Etliche kamen zu meiner Mutter […], erzählten, sie hätten die Einberufung zur Truppe bekommen und sie würden nicht mehr lebend zurückkehren. Sie umarmten meine Mutter zum Abschied und gingen weinend davon.1137
Der prozentuale Anteil der Ruthenen an Soldaten in der österreichisch-ungarischen Armee entsprach eins zu eins gemäß ihrer Anzahl im nationalen Bestand des Imperiums.1138 Sie haben sich als besonders treu erwiesen – man denke dabei an die Gestalt Leutnant Trottas Burschen Onufrij in Radetzkymarsch –; sie waren aber meist infolge ihrer sozialen Herkunft ungebildet und der deutschen Sprache nicht mächtig. Das Problem des »Nicht-Verstanden-Werdens« hatte manchmal tragische Folgen, wie das die ukrainische Schriftstellerin aus der Bukowina, Ol’ha Kobyljans’ka, in der Erzählung Lyst zasudzˇenoho na smert’ vojaka do svojeji zˇinky [Der Brief eines zum Tode verurteilten Soldaten an seine Frau], mit dem Untertitel: Iz ukrajins’koho zˇyttja v Avstriji pidcˇas lycha roku 1916 [Aus dem ukrainischen Leben in Österreich während des Übels des Jahres 1916] schildert. Das Kriegstribunal verurteilt den Soldaten, weil er – als »Gefechtsgebilde« im Sinne von Lewin – vor Müdigkeit im Schützengraben auf den Knien eingeschlafen war und deshalb als Deserteur gilt. Seine Rechtfertigung hat ihm nicht genutzt, die Richter konnten die Sprache des Soldaten nicht verstehen.1139 So wird hier die Muttersprache des Soldaten – Ukrainisch, das auf der anderen Seite der Front, im zaristischen Russland als Mittel zum Zweck der Propaganda benutzt wurde, in der k.u.k. Armee als Sprache »des Verrates« gedeutet; der Soldat selbst wird als Deserteur und Verräter verurteilt und erschossen. Zur dritten, »ukrainophilen« Gruppe der galizischen Ukrainer gehörten vor allem die Vertreter der gebildeten, sozial aktiven gesellschaftlichen Schichten. Einer der Anhänger der Idee der Vereinigung der beiden Teile des Landes und der Bildung eines eigenständigen ukrainischen Staates war auch Ivan Franko. Er erlebte die russische Besetzung Lembergs und beschrieb die Pläne des russischen Zarismus, die eigentlich die »moskvophile« Bewegung unterstützte, in Gedichten und Prosastücken der Jahre 1914–1915. Die Pläne der Besatzungsmächte gründeten darauf, dass sich die russische Armee ihrer »historischen Mission« bewusst war, und zwar der »Befreiung der unterdrückten slawischen Brüder«.1140 Diese Sichtweise drückt die folgende Beschreibung Galiziens in einem Brief des russischen Artilleriefähnrichs F. A. Stepun vom 28. Oktober 1914 aus: 1137 1138 1139 1140
Landmann 1995, S. 30. Hrycak 2014, S. 27. Kobyljans’ka 1988, S. 598. Senjavskaja 2013, S. 332.
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Nach Galizien […] zogen wir als Sieger ein, auf der vorderen Plattform der Lokomotive stehend. Die Gegend ist vollkommen russisch, genauer gesagt polnisch-russisch. Die Bevölkerung begrüßte uns mit ehrlichem Wohlwollen und merklicher Neugier. Weiße Lehmhütten, pyramidenförmige Pappeln, Strohdächer, orthodoxe Kirchen – mit einem Wort typisches Kleinrussland, das in seinem ganzen äußeren und inneren Wesen Deutschland und dem deutschen Geist Österreichs zutiefst fremd ist. All das muss zweifelsohne Russland gehören, nicht aus dem Recht des Krieges, sondern aus der Natur und dem Wesen dieses Landes.1141
Franko, der selbst polyglott und ein hervorragender Übersetzer aus mehreren Sprachen war, beherrschte auch Russisch. In seinem ukrainisch geschriebenen Gedicht Cars’ki slova [Die Worte des Zaren] bedient er sich einiger Ausdrücke und Wendungen im russischen Original: »Um andere zu zwingen, uns zu lieben / Mühten wir uns, jeden slawischen Stamm / zu ›wahrhaften Russen‹ zu verbinden.« [russ. »istinno-russkimi«]; »Meine Armee trägt ihre Liebe jetzt in der Gestalt / Von zahllosen Bajonetten und tausenden Kanonen / Zu den ›versklavten Brüdern‹ [russ. »bratusˇek i rabov«], bezwungen mit Gewalt.«1142; hinter Gitter werde man erst die russische Macht erfahren, »die Macht der Polizei hinterfragen / Der Orthodoxie heilige Kraft verleihen / und was es heißt: ›einen ins Bockshorn jagen‹« [russ. »sognut’ v baranij rog«].1143 Das »ehrliche Wohlwollen« der Galizier gegenüber dem russischen »Befreier« dauerte aber nicht lange. Es wurde durch das »Requirieren, Stehlen und Marodieren«,1144 die sie auf dem eroberten Territorium trieben, ins Gegenteil verkehrt. Dieses Territorium wurde nämlich zur Kriegslandschaft, zu einem Teil der Gefechtswelt. Der gebildete russische Fähnrich betont in seinem Brief, dass er das »ganz und gar« nicht allzu streng sehen könne, denn es gehe darum, dass »… einer, der selbst höchster Gewalt ausgesetzt ist«, »nicht umhin« kann, »selbst zum Gewalttäter zu werden […].1145 Besonders aktiv unterstützen die »ukrainophile« Bewegung in Galizien die jungen Ukrainer, die im Rahmen der k.u.k. Armee die Legion der ukrainischen Sitsch-Schützen bildeten, deren Mitglieder meistens Absolventen von Gymnasien oder Studenten waren. Sie gingen an die Front als Freiwillige, um gegen 1141 Stepun 2000, S. 11. 1142 Franko 2008, S. 204: »Aby zastavyty nas poljubyt’, / My vse slavjans’ke plemja naostrylys’ / »Istinno-russkimi« chocˇ syloju zrobyt’.«; »I ponesut’ vijs’ka moji otu ljubov / Mil’jonamy ˇstykiv i sotnjamy harmat / Do ponevolenych ›bratusˇek i rabov‹«. Zit. nach Paslavs’ka 2014, S. 238. Aus dem Ukrainischen von Irena Katschanjuk-Spiech. 1143 Franko 2008, S. 205: »Piznajut’ rus’ku vlast’ iz-za tjuremnych krat / Piznajut’, ˇscˇo take ispravnyk, sˇcˇo – ostroh / Sˇcˇo – pravoslavie j joho svjataja syla / I sˇcˇo take znacˇyt’ ›sognut’ v baranij rog‹«. Zit. nach Paslavs’ka 2014, S. 240. Aus dem Ukrainischen von Irena Katschanjuk-Spiech. 1144 Stepun 2000, S. 20. 1145 Ebd., S. 20.
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das Zarenreich zu kämpfen und auf »dessen Trümmern einen unabhängigen ukrainischen Staat aufzubauen«.1146 Blumenthal berichtet von ihnen in seiner Kriegserzählung wie folgt: Am Nachmittag habe ich Dymitri ins ›Ruthenische Haus‹ begleitet. Auf dem großen Hofe wurden die ›ukrainischen Sitschower Schützen‹ einexerziert, prächtige Burschen von achtzehn bis zwanzig Jahren. Der Haß gegen die Unterdrücker ihres Volkes hat die jungen Leute zusammengeführt, und sie kennen nur ein Ziel: Dem Moskowiten so viele Verluste als nur möglich beizubringen.1147
Mit dem Inferno als Leitmotiv beschreibt Bohdan Lepkyj – Dichter, Schriftsteller und Publizist aus Galizien – den Abzug der jungen Freiwilligen Richtung Frontzone in der Erzählung Pid portretamy predkiv [Unter Bildern der Ahnen].1148 Das bewegliche Bild entfaltet sich als Wegeraum aus der Perspektive der Mutter, die, auf dem Hügel neben dem Grab des Mannes, eines griechisch-katholischen Priesters, stehend, den einzigen Sohn an der Spitze der Gruppe, die sich immer weiter »auf dem Weg zum Tode und Ruhm«1149 entfernt, mit dem Blick begleitet: »Ob er zurückkommt?«1150 Als der Kommandant der russischen Besatzungstruppen während des Verhörs die Witwe den Ort der Stationierung der Freischützen anzugeben zwang, zog sie den Tod dem Verrat vor. Sie wurde zum Opfer der Repressalien, die die russischen Besatzer in der von ihnen eroberten Kriegslandschaft Galizien gegen die national gesinnten Ukrainer ergriffen hatten. Die Tatsache, dass die Vergeltungsmaßnahmen gegen galizische Ukrainer im Ersten Weltkrieg von beiden imperialen Mächten – der habsburgischen und der zaristischen – unter demselben Motto als »Maßnahmen gegen den Verrat« ausgeübt wurden, ist zum Zeichen geworden, wie zerrissen dieses Volk zwischen beiden Großmächten war. Dass auch die Zivilisten dabei nicht geschont wurden, zeugt davon, dass die von Lewin beschriebene Grenze, die die Kriegslandschaft von der Friedenslandschaft trennte, öfters überschritten wurde. Die Anwesenheit der zivilen Bevölkerung in der Gefahrzone stört nicht, ihr den Charakter des Gefechtsgebietes zu nehmen. Ein Beispiel davon liefert die Erzählung von Ol’ha Kobyljans’ka Juda [Judas]. Der Ort der Handlung wird mit dem ersten Satz angegeben: »In den Karpaten.«1151 Die Zeit des Geschehens ist Anfang Dezember 1914. Es ist der innere Monolog eines alten ukrainischen (huzulischen?) Bergbauern, dessen Lebenssituation wie folgt aussieht: Der einzige Sohn ist in die 1146 Hrycak 2014, S. 26. 1147 Blumenthal 1915, S. 46. 1148 Zum ersten Mal erschien die Erzählung im Verlag des Gesamt-Ukrainischen Kulturrates in Wien 1915 in der Sammlung Z welykych dniv [Aus großen Tagen] unter dem Titel Ostannja [Die Letzte] (Woldan 2015, 412–413). 1149 Lepkyj 2011, S. 378: »[…] na dorozi do smerti j do slavy, […]«. 1150 Ebd.: »A jak ne verne?..« 1151 Kobyljans’ka 1988, S. 599: »V Karpatach«.
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k.u.k. Armee einberufen, zu Hause bleiben seine kranke Frau, die junge Schwiegertochter mit dem kleinen Enkelkind und das Vieh des Sohnes. In den Bergen hört man den Krieg toben; in der Nähe verläuft die Frontlinie. Mit Müh und Not bemüht sich der Alte, die Wirtschaft weiterzuführen: Er hat dem Sohn versprochen, für den Bauernhof und seine Familie zu sorgen. Er wird aber eines Tages auf dem Weg nach Hause von der russischen Kompanie erwischt und soll zeigen, wo die österreichischen Truppen stationiert sind. Die Russen schieben dem Alten ein paar Münzen in die Hand, die er, ohne nachzudenken, in die Hosentasche versteckt. Obwohl der Bauer versichert, dass er nichts weiß, wird er bis aufs Blut geschlagen und führt folglich die Russen, ohne eine bestimmte Richtung zu wählen, in den Wald. Dort stoßen sie auf eine österreichische Wache; alle vier Soldaten werden von den Russen erschossen. Da der Alte den Weg nicht gleich zeigte, wird er bestraft: Er muss die Leichen eigenhändig begraben. Dabei entdeckt er, dass unter den Gefallenen sein eigener Sohn ist, und stellt sich dem örtlichen österreichischen Gendarmen. Auf die Bitte des Bauern gestattet dieser ihm zum Grab des Sohnes noch einmal zu gehen, wo er sich erhängt. Höchst nuanciert beschreibt die ukrainische Schriftstellerin den geistigen Zustand des Protagonisten – seine Verwirrung bei der Verhaftung, die lähmende Angst vor den russischen Soldaten, die Verzweiflung bei den Gedanken an das hungrige Vieh und an den Acker, der auf seine Hände wartet, sowie die Tragödie, im toten Soldaten seinen eigenen Sohn zu erkennen: […] sein Blick fiel auf die Gesichtszüge seines eigenen Sohnes. Der tote Leib fiel zu Boden, zusammen mit ihm der lebendige… Das hat nicht der Mensch, nicht der Vater, da hat das wilde, tödlich verwundete Tier geschrien. Sein eigenes, einziges Kind… ist tot. […] »Mein Sohn!« rief er ihn außer sich an, wusch sein Gesicht ab, zerriss die Kleider und saugte an der Wunde. Er verstand fast nicht, was er tat. Vielleicht ist er noch nicht tot; vielleicht nur eingefroren. O nein! Er ist tot, tot. Durch seine eigene Schuld, durch sein Verbrechen.1152 [Hervorhebung im Original]
In der Schlüsselszene, als der Gendarm den toten Bauer über dem Grab seines Sohnes findet, herrscht im Walde die tiefe Stille des Winters; alles wird geräuschlos vom dichten Schnee bedeckt. So ist es Ol’ha Kobyljans′ka gelungen, die Tragödie des Volkes, das zwischen zwei Imperien geteilt war, höchst emphatisch zum Ausdruck zu bringen. Wenn man die hier vorgestellten Texte, die in verschiedenen Sprachen geschrieben sind, sich aber auf einen Raum zum gleichen Zeitpunkt, und zwar auf 1152 Kobyljans’ka 1988, S. 606: »[…] joho pohljad padaje na rysy joho vlasnoho syna. Mertve tilo vpalo do zemli, i razom z nym zˇyve… Ce krycˇala ne ljudyna, ne bat’ko, ce krycˇav dykyj, smertel’no ranenyj zvir. Joho vlasne, odynoke dyja… mertve. […] »Mij synu!« – skrycˇav zovsim jak sˇalenyj do njoho, obtyrav joho lyce, rvav joho odizˇ i ssav joho ranu. Ne znav majzˇe, sˇcˇo robyt’. Mozˇe, vin sˇcˇe ne vmer; mozˇe, til’ky zadubiv. Ach, ni! Umer, umer. Z joho vyny, cˇerez joho zlocˇynstvo.« [Hervorhebung im Original, L.C.].
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das Galizien im Ersten Weltkrieg beziehen, vergleicht, kann man schlussfolgernd sagen, dass sie bei allen Unterschieden viel Gemeinsames haben und damit eine besondere Schicht des »Galizischen Textes« bilden: Es geht in ihnen um die Topologie sowie die Tragödie des Krieges. Nicht zufällig weisen die zitierten Textpassagen ähnliche, wenn auch nicht gleiche Topoi auf, die die Verwandlung einer Friedenslandschaft in eine Kriegslandschaft kennzeichnen. Die von Lewin angeführten »Stichwörter« dieses Prozesses werden somit zu den Kodierungsmitteln, die die Themen und Leitmotive der Texte über den Ersten Weltkrieg in Galizien bestimmen und sie zu einer dichten semantischen Einheit zusammenfügen. Zu den Themen und Leitmotiven, die schlechthin in allen analysierten Texten vorkommen, gehören zum Beispiel: die Schönheit Galiziens als einer Friedenslandschaft im Spätsommer; die reiche Getreideernte vor dem Anfang des Krieges; die Drangsalierung der Zivilbevölkerung durch die beiden imperialen Mächte – die Beschuldigung im Verrat und der Spionage, die eilige Hinrichtung vor Ort oder die Deportation in die Internierungslager –, die Situation der galizischen Ukrainer im k.u.k. Militär sowie ihre politische Spaltung, die zum »Bruderkrieg« führte und, nicht zuletzt, »Inferno« als Bezeichnung der Gefahrund Gefechtszone Galizien. Als textimmanent erwies sich bei der Untersuchung dieser Texte der topologische Zugang zur Raumproblematik auf verhaltenswissenschaftlicher Grundlage von Kurt Lewin, dem den ersten Anstoß sein eigenes Kriegserleben an der habsburgischen Ostfront gab. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Überlegungen des Philosophen rückte die durch die Frontlinie »gerichtete« Landschaft, die als »Gefahrzone« im metaphorischen Sinne »hingerichtet« wurde. Das »Gerichtetsein« des Landes wird bei Lewin von der Verwandlung der »Friedensdinge« in »reine Kriegsdinge« begleitet; zu letzteren werden auch die Menschen gezählt, vor allem Soldaten, aber unter bestimmten Bedingungen ebenso die Zivilisten. Es soll auch betont werden, dass, wenn die analysierten fiktionalen Texte über Galizien im Ersten Weltkrieg nicht auf ihre historiographische »Verwertbarkeit« überprüft werden können und sollen, die in verschiedenen Sprachen und zu unterschiedlichen Zeiten verfassten Texte mehrere von der Zugehörigkeit zum »Galizischen Text« zeugende gemeinsame Topoi aufweisen, die von hohem Wirklichkeitsgehalt sind. Besonders relevant ist aber auch ihre suggestive Atmosphäre, die nur von der Literatur geschaffen werden kann. Auf diese Weise wirkt sie, den Krieg als Ursache von Leiden, Tod und geistigem Verfall zeigend, gegen die Amnesie. Es sind die Stimmen der Toten, die die Augen der Lebenden öffnen sollen.
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Die Zerstörung der jüdischen Welt Galiziens im Blutrausch des Ersten Weltkrieges
Die Geschichte der jüdischen Ansiedlung in Galizien reicht ins Mittelalter, als infolge der Verfolgungen in den deutschen und böhmischen Territorien und dank der entgegenkommenden Politik der polnischen Könige, vor allem Kazimir III., der 1333–1370 regierte, hierher überwiegend die Aschkenasim eingewandert waren. Die Juden durften damals den Boden nicht in Besitz nehmen; sie siedelten außer in der Hauptstadt Lemberg überwiegend in den Provinzstädten, wo sie mit Handel und Geldverleih ihr Brot verdienen konnten. Da die Mehrheit von ihnen in ärmlichen Verhältnissen lebte, waren Juden oft als Zwischenhändler und Schankwirte beschäftigt, seltener als Handwerker oder Verwalter bei polnischen Großgrundbesitzern. Im Laufe der Jahrhunderte bildeten die Ostjuden ihre festen sozialen Strukturen, die man hinsichtlich traditioneller Abgeschlossenheit sowie kulturellem und konfessionellem Unterschied gegenüber dem sie umgebenden Sozialraum als Heterotopie im Sinne von Michel Foucault bezeichnen kann.1153 Besonders klar trat sie in der Zeit der Annexion des ehemaligen polnischen Territoriums ans Habsburger Reich Ende des 18. Jahrhunderts zutage. Maria Theresia und Joseph II. haben in der neu erworbenen multiethnischen Provinz im Zuge ihrer Reformen mehrere Dekrete erlassen, die einen assimilatorischen Charakter hatten und gegen die jüdische soziale und kulturelle Exklusivität, die der binnenkolonialen Politik der Habsburgermonarchie im Wege stand, gerichtet waren. Wie die Schriften der ersten Reisenden durch Galizien, so überzeugter »Josephinisten« wie Franz Kratter oder Balthasar Hacquet bezeugen, hatten die »aufklärerischen« Ideen einen ausgeprägt judophoben Charakter.1154 Im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte sich die Situation der Juden in der k.u.k. Monarchie und bis Anfang des 20. Jahrhunderts machten sie etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung des Kronlandes aus.1155 Dabei erfreuten sie sich des staatlichen Schutzes und genossen mehrere bürgerliche Rechte. So 1153 Foucault 2006, S. 317–329. 1154 Vgl. Berg 2010. 1155 Shanes 2012, S. 3.
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konnten sie »ohne große Zensur publizieren, waren wahlberechtigt, durften politische Parteien gründen, sich zu Vereinigungen zusammenschließen, hatten freie Berufs- und Wohnsitzwahl und das Recht auf den Besitz von Privateigentum sowie das Recht sich in jeder Sprache zu unterhalten«.1156 De facto waren Juden in der Habsburgermonarchie mit den Christen gleichgestellt. Obwohl die Lebensweise der Juden in benachbarten ukrainischen Gebieten, die zum zaristischen Russland gehörten, mit dem Alltag der galizischen Juden viele Gemeinsamkeiten hatte, war dort ihre soziale Lage anders, eine Gleichstellung mit anderen Bürgern des Imperiums, insbesondere mit den ethnischen Russen, hat es nicht gegeben. Dadurch wird gewissermaßen die Zuneigung der galizischen Juden zu den Habsburgern, vor allem zu Kaiser Franz Joseph erklärt. Im Zuge der verspäteten Modernisierung dieses cisleithanischen Kronlandes verbreiteten sich aber auch hier die Ideen des gesamteuropäischen Antisemitismus, der neben politischen, ideologischen und konfessionellen vor allem wirtschaftliche Gründe hatte.1157 Die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse verschärften die Antagonismen zwischen den einzelnen Völkern der Monarchie, insbesondere infolge des Kampfes um nationale Emanzipation: Im Fall Galiziens war es die Konfrontation zwischen Polen und Ukrainern, wodurch die Juden in die Rolle des »Sündenbockes« für beide kämpfenden Parteien gerieten. Die Judenfeindschaft in Galizien um 1900 äußerte sich in Form der Agitation, der antijüdischen Politik und in einzelnen Fällen der Gewalt.1158 Das alles führte zur Emigration der jüdischen Bevölkerung aus der Provinz schon ab Ende des 19. Jahrhunderts ins Zentrum der Monarchie und weiter, in die USA und nach Palästina (nicht zufällig waren viele Juden in Galizien Anhänger des Zionismus). Besonders verschärften sich diese Erscheinungen mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Da das nordöstliche Kronland Galizien-Lodomerien eine lange gemeinsame Grenze mit dem Zarenreich hatte, das in diesem Krieg zu einem der größten Antagonisten der Habsburgermonarchie wurde, entstand hier eine besonders heftig bekämpfte Front.1159 Dieser wird in der Gedächtnistradition und in der Forschungsliteratur aber nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie den Ereignissen an der deutsch-französischen Westfront des Ersten Weltkrieges wie zum Beispiel der Schlacht um Verdun oder der an der Somme. Einen der Gründe für solche Art von »Amnesie« sieht der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrycak in der allgemeinen Lage an der habsburgischen »Ostfront«:
1156 1157 1158 1159
Stöckler 2019, S. 5. Vgl. Woldan/Terpitz 2016. Buchen 2012, S. 53–65. Wenn es für Habsburger um die Ost- bzw. Nordfront ging, war das fürs Zarenreich die Westfront.
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Die dramatischsten Ereignisse fanden zu Beginn des Krieges statt, als die russischen Truppen Galizien mit Lemberg besetzten. Die russische Besatzung dauerte aber nicht allzu lange. Im Herbst 1915 war die russische Armee nach der gemeinsamen Gegenoffensive der österreichisch-ungarischen und der deutschen Armee gezwungen, nicht nur die kürzlich eroberten Territorien zu verlassen, sondern auch das benachbarte, bis dahin russische Wolhynien abzugeben. Im Sommer 1916 versuchten die russischen Truppen während der sogenannten Brussilow-Offensive ihren Erfolg zu wiederholen. Aber diese Versuche waren nur teilweise erfolgreich: Sie konnten nur die Territorien an der Ostgrenze Galiziens erobern. Eine weitere Offensive im Sommer 1917 endete für Russland mit einem Fiasko.1160
Galizien wurde folglich, wie Hrycak schreibt, zu einem der »wichtigsten casus belli zwischen Wien und Sankt-Petersburg. Der Wichtigkeit nach war der galizische Faktor in diesem Zusammenhang nur der Balkanfrage unterlegen«.1161 Der Mangel an Ereignissen bedeutete aber nicht, dass die Kämpfe an dieser Front weniger blutig waren als an anderen Fronten des Krieges: »Die gewaltigen Schlachten an der Ostfront hatten mehr als eine halbe Million Tote gekostet, von Verwundeten ganz abgesehen; Dörfer und kleine Städte waren verwüstet, eine Unzahl von neuen Friedhöfen markierte den Frontverlauf […]«1162,– schreibt Alois Woldan. Insbesondere die einheimische Bevölkerung Ostgaliziens, wo die Kriegsmacht ständig wechselte, war ihrer Willkür ausgesetzt: Denn, wie Lutz C. Kleveman bemerkt, verbreitete Krieg »Gewalt auf allen Ebenen […], besonders in Landstrichen, die zwischen die Fronten geraten und zum Kriegsgebiet wurden – wie Galizien im Ersten Weltkrieg.«1163 Auf welche Weise solch ein Kriegsgebiet wahrgenommen wird, hat, wie erwähnt, der Philosoph Kurt Lewin in Kriegslandschaft verdeutlicht.1164 Die Art der Kämpfe in Ostgalizien charakterisiert er als »Bewegungskrieg«.1165 Da Galizien von den Armeen der beiden feindlichen Mächte einige Male der Reihe nach erobert und zurückerobert wurde, entstanden und verschwanden hier wiederkehrend die »Gefahrzonen«, die sich »je nach Gefechtslage«1166 änderten. Unter den Menschen, die eine Zugehörigkeit zu solcher Gefechtswelt haben, unterscheidet Lewin Zivilisten, die aus der Gefahrzone nicht geflohen sind, und solche, in denen Spione vermutet werden. Wenn die ersten, laut ihm, nicht zu Dingen der Gefechtswelt werden, so wird es gegen die zweiten – gegen »ihre Häuser oder Gehöfte besonders hart vorgegangen«.1167 1160 1161 1162 1163 1164 1165 1166 1167
Hrycak 2014, S. 22. Ebd., S. 20. Woldan 2014, S. 32. Klevemann 2017, S. 46. Lewin 2006, S. 129–140. »Kriegslandschaft« erschien später in Lewins »Feldtheorie«. Ebd., S. 133; 137. Ebd., S. 132. Ebd., S. 136.
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Die meisten Zivilisten, die im ostgalizischen Gefechtsgebiet geblieben sind, waren vorwiegend Ukrainer (Ruthenen) und Juden, vor allem die Landbevölkerung und die Bewohner der ostjüdischen Schtetls. In ihrer Behandlung durch die Besatzungsmächte, die nach dem jeweiligen militärischen Erfolg wechselten, kann man Vorgehensweisen beobachten, die analoge Gründe hatten, und zwar die Sprache und die soziale Stellung. Einerseits wurden viele der »Moskvophilie« verdächtigte Ruthenen vonseiten der k.u.k. Kriegsbehörden für Verräter oder Spione der russischen Armee gehalten und dementsprechend ohne gerichtliches Verfahren liquidiert.1168 Öfters wurde im Fall der ruthenischen Bauern zum Delikt des Verdachts der Spionage ihre Sprache – Ukrainisch, das dem Russischen verwandt ist, sowie der orthodoxe Glauben. Im Fall der ukrainischen Intellektuellen kam noch die Unzufriedenheit mit der habsburgischen Innenpolitik wegen der unterdrückten Stellung im immer mehr polonisierten Kronland dazu. Andererseits waren es die galizischen Juden, die einem ähnlichen Verdacht, aber vonseiten russischer Okkupationsbehörden, ausgesetzt waren. Der Klang der von ihnen meist gesprochenen Sprache – Jiddisch – war im Ohr der Russen dem Deutschen nah. Verdächtig waren auch die jüdischen Aktivitäten im Handel mit ihrem breiten Kommunikationsnetz; nicht von geringerer Bedeutung war die Diskrepanz in der sozialen Stellung zwischen den Juden im Russischen Imperium und in der Habsburgermonarchie. Dazu kam noch die schon erwähnte Zuneigung der galizischen Juden zum Haus Habsburg. Dies alles war den Russen genug, um in den galizischen Juden Spione der österreich-ungarischen Armee zu vermuten. Die Praktik der Pogrome1169, die im zaristischen Russland ab Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr zunahm, hat man unmittelbar auf die okkupierten Territorien übertragen. So wurde die Situation der jüdischen Bevölkerung während der Besetzung Galiziens durch die zaristische Armee besonders prekär: Der einheimische Antisemitismus wurde in der Kriegslandschaft Galizien durch den Antisemitismus im damaligen Russland verdoppelt; die jüdische Bevölkerung der bekämpften Provinz gewann den Kriegsstatus der »Gefechtsdinge«. Das Schicksal der jüdischen Zivilisten in Galizien im Ersten Weltkrieg ist aber im kollektiven Gedächtnis auch nur marginal präsent; es gibt wenige geisteswissenschaftliche Publikationen dazu. Das hat einen bestimmten Grund, und zwar die Schoah im Zweiten Weltkrieg, als das galizische Judentum planmäßig vernichtet wurde. Diese Tragödie überschattete die Geschehnisse des Ersten Weltkrieges. Eine große Rolle im Übersehen spielte auch die Etablierung des Sowjetregimes auf dem Territorium des historischen Galiziens in der Nach1168 Vgl. Roth 1990, S. 441. 1169 Bekanntlich stammt das Wort »Pogrom« ursprünglich aus dem Russischen und bedeutet übersetzt so viel wie »Zerstörung«, »Vernichtung«.
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kriegszeit. Mit dem »Eisernen Vorhang« war der Zutritt hierher fast unmöglich, die Archivdokumente wurden gesperrt. Sogar die Soldatenfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg wurden mit der Zeit ruiniert – es sind nur Steine geblieben. Einer der Wege, gegen diese »Amnesie« wirken zu können, wäre die Hinwendung zu den Texten über den Ersten Weltkrieg in Galizien. Denn, wie Susi K. Frank schreibt, »Narrative waren und sind ein unerlässliches Instrument, Kriege zu einem Historischen Ereignis zu machen, Kriegen Sinn zu verleihen, Kriege in Frage zu stellen oder Kriege in ihrer inneren Logik, in ihrer Funktions- und Wirkungsweise zu erforschen.«1170 Besonders relevant seien dabei literarische Texte, die ermöglichen, »die Bedeutung von Narration für Kriege erzählerisch darstellend zu erforschen […].«1171 Außerdem treten hier, laut Frank, die Strategien des Bezeugens als »Zusatz, als Konkurrenz zum Erzählen, oder als antinarratives Gegenmodell der Kriegsrepräsentation auf den Plan«.1172 In diesem Sinne sind in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte einige Studien erschienen, die sich auf die Situation der galizischen Juden im Ersten Weltkrieg beziehen, wie zum Beispiel die Publikation von Petra Ernst, die Galizien im Ersten Weltkrieg im Spiegel deutschsprachigjüdischer Literatur und Publizistik gewidmet ist.1173 Über die osteuropäischen Juden »zwischen Zar und Kaiser« während des Ersten Weltkrieges schreibt auch Frank M. Schuster.1174 Ins Blickfeld sind die Namen der deutsch-jüdischen Autoren gerückt, die aus Galizien stammen und dortige Geschehnisse in den Jahren 1914–1918 schildern, Namen wie Hermann Blumenthal, Nathan Samuely, Minna Lachs, Sigmund Bromberg-Witkowski, Salcia Landmann.1175 Der Untersuchung der weithin vergessenen Texte von jüdischen Autoren aus Galizien, die in der deutschen Sprache über ihre Heimat in der Zeit des Ersten Weltkrieges schrieben, und zwar von Hermann Blumenthal, Simon Spund, Hermann Sternbach sowie Sigmund Bromberg-Witkowski, sind die neuesten Forschungsarbeiten gewidmet.1176 Gemeinsam für diese Publikationen und Arbeiten ist die »westliche« Perspektive der Betrachtung der Lage der galizischen Juden in der Kriegs- und Besatzungssituation. Die andere, »östliche« Perspektive ist von der Forschung unterbelichtet. Die Untersuchung der Spezifik der Betrachtung der Lage jüdischer Bevölkerung im durch die zaristische Armee besetzten Galizien von aus Russland stammenden jüdischen Autoren stellt ein Desiderat dar. Es wird hier folglich anhand der Analyse der Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ersten 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176
Frank 2009, S. 7. Ebd., S. 13. Ebd. Ernst 2013, S. 413–436. Schuster 2013, S. 57–86. Vgl. Paslaws’ka 2014. Niederdorfer 2017; Stöckler 2019.
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Weltkrieg des russisch-jüdischen Ethnographen und Schriftstellers Shimon AnSki Yudisher khurbn fun poyln, galitsye un bukovine (fun tog-bukh 5674–5677 [1914–1917] [Der Khurbn in Polen, Galizien und der Bukowina: Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg]1177 die Situation der jüdischen Bevölkerung in der Kriegslandschaft Galizien dargestellt, um diese Wissenslücke gewissermaßen zu reduzieren. Relevant ist dabei die Tatsache, dass An-Ski aus jüdischer Perspektive sowie aus dem Zarenreich die Auswirkung des Krieges auf die jüdische Bevölkerung Galiziens betrachtet. Mehrere Erscheinungen, die er darstellt, und sogar Begriffe, die er verwendet, korrespondieren mit Lewins Beitrag zur Raumtheorie. Außerdem vereint der Text des Tagebuches die beiden von Frank erwähnten Eigenschaften der narrativen Präsentation des Krieges: Einerseits ist An-Skis Tagebuch ein historisches Dokument, andererseits zugleich ein literarischer Text. In diesem Spannungsfeld bestimmt der Autor, so Terpitz, seine »Programmatik und Intention«1178. Am Anfang des Tagebuches schreibt An-Ski: Als aus den Nachrichten aus Galizien deutlich wurde, welche Katastrophe dort im Gange war, beschloss ich, alles daran zu setzen, um irgendwie dorthin zu gelangen, in die zerstörten Städte zu fahren und den Umfang der Katastrophe aufzudecken und das Ausmaß der Not, und so mit Fakten ausgestattet zurückzukehren und nicht mehr nur Hilfe für die galizischen Juden zu erbitten, sondern einzufordern.1179
In den Jahren 1914–1917 bereiste An-Ski die vom Krieg betroffenen Gebiete, die schon nach den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts zum Zarenreich gehörten, um materielle Hilfe für die jüdische Bevölkerung zu organisieren. Mit diesem Ziel kehrte er oftmals nach Petrograd, Kiew und Warschau zurück. 1915 gelang es ihm in die von zaristischer Armee besetzten österreich-ungarischen Gebiete zu kommen und in Galizien umherzufahren. Dabei notierte er in seinem Tagebuch nicht nur seine logistischen Aktivitäten, sondern begann, vom Mar1177 An-Ski 2019. Wie der Herausgeber des Buches Olaf Terpitz in der Einleitung vermerkt, erschien Shimon An-Skis jiddisches Tagebuch über die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs in den Grenzregionen Österreich-Ungarns und Russlands posthum zwischen 1921 und 1923 in Warschau und New York. In deutscher Ü bersetzung liegt der Yudisher khurbn fun poyln, galitsye un bukovine (fun tog-bukh 5674–5677 [1914–1917] nun erstmals vollständig vor. Den Titel des Tagebuchs erklärt Terpitz wie folgt: An-Ski greift »auf den Begriff des «khurbn« zurück und stellt ihn zentral in seiner Deutung des Kriegs. Mit diesem Begriff, der im Jiddischen als »khurbn« oder »khurbm« auftritt und auf Hebräisch »churban« (Zerstörung, Vernichtung) zurückgeht, bettet An-Ski seinen Text in einen tradierten jüdischen Motivkomplex ein, der seinen Ausgang mit der Zerstörung des Ersten (587 v . C h r . ) und des Zweiten Tempels (70 n . C h r . ) in Jerusalem nahm, mithin Ereignissen, die die Zerstreuung und Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden in der Welt bezeichnen.« In: Terpitz 2019, S. 7–15. 1178 Terpitz 2019, S. 13. 1179 An-Ski 2019, S. 33.
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tyrium des jüdischen Volkes in der Gefechtswelt erschüttert, darüber zu schreiben. Wenn der Ethnograph An-Ski das in den durch die zaristische Armee besetzten Gebieten Gesehene anhand mehrerer Fakten der Behandlung der jüdischen Zivilisten als »Kriegsdinge« in den Blick nimmt, tritt dabei die »Strategie des Bezeugens« in den Vordergrund. Sie steht aber nicht, wie Frank bemerkt, in Konkurrenz zum Erzählen, sondern bildet mit ihm eine Einheit. Denn, wie Olaf Terpitz hervorhebt, »kleidet der Schriftsteller An-Ski diesen Bericht in eine literarische Form.«1180 Das äußert sich darin, dass der Stil der Berichte An-Skis »sich durch die Vielfalt der aufgebrachten Textsorten wie Augenzeugenbericht, Brief, Aushang, Befehl ebenso auszeichnet wie durch den damit verbundenen Perspektivwechsel, sei es etwa der Blick aus dem politischen Zentrum Russlands St. Petersburg auf Galizien oder sei es die transzendente Wertung des Kriegs durch den Rabbiner von Tschortkiw (Czortków) Hirsh Rapoport.«1181 Hier soll hinzugefügt werden, dass gerade diese Dichotomie von Fakten und Fiktion, die Mehrstimmigkeit des Textes ihm auch literarische Merkmale verleiht. Dabei sind die Tagebuchaufzeichnungen von An-Ski nicht nur polyphon, sondern auch polyglott. Wie Terpitz bemerkt, kommt zur Mehrsprachigkeit der multiethnischen Regionen, die zur Kriegslandschaft gehören, noch die Sprache der russländischen Besatzungsmacht dazu: Neben hebräischen (zuweilen aramäischen) Begriffen und Wendungen aus dem sakralen wie weltlichen Bereich sind dergestalt russische anzutreffen, die in der Regel militärische oder administrative Funktionen wie »polkownik« (Oberst) oder »isprawnik« (Kreispolizeichef) bezeichnen, ebenso aber auch polnische und ukrainische Wendungen in Dialogsituationen. An-Ski übersetzt diese nicht, sondern flicht sie in jiddischer Transkription in seinen Text ein.1182
Entscheidend bei der Bestimmung der Literarizität des Buches von An-Ski ist aber der Wechsel der Fokalisierung, wenn die Realität mit den Augen von anderer wahrgenommen wird1183: An-Ski schildert Ereignisse, die von Zeugen oder von Vermittlern berichtet werden; er gibt auch Legenden und Sagen wieder. Infolgedessen ist dem Text der Tagebuchaufzeichnungen ein hoher literarischer Grad immanent. Schon im ersten Teil des Tagebuches, wo An-Ski massenhafte Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung in polnischen Gebieten Russlands beschreibt, lässt er eine andere Stimme hören und greift zu den Äußerungen eines russischen Soldaten, der sein Mitleid mit den Juden ausdrückt. An-Ski zitiert aus seinem Brief, der ihm zufällig in die Hände geraten ist: 1180 1181 1182 1183
Terpitz 2019, S. 13. Ebd. Ebd., S. 16. Vgl. Strohmaier 2012, S. 230.
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Sicher hat jeder seine Ansicht, aber ich habe auch ein wenig Mitleid mit den Jüdlein. Man stelle sich das vor: Man prügelt sie, man versetzt ihnen fünfundsiebzig oder eine unbestimmte Zahl an Stockschlägen mit Ruten aus dem Draht, den man für die Verhaue benützt. Und natürlich erschießt man sie, vielleicht auch Unschuldige.1184
Hier ist der Unterschied zwischen den einfachen russischen Soldaten und den Kosaken zu vermerken, den An-Ski in seinen Tagebuchaufzeichnungen permanent betont. Überall, wo Kosaken in polnischen Gebieten durchziehen, kommt es zu »blutigen Pogromen«: Es wurden ganze jüdische Wohnviertel in Brand gesteckt und ver wüstet, alle jüdischen Häuser und Geschäfte ausgeraubt, ohne jegliches Motiv Dutzende Juden ermordet, an den Übrigen ließ man sich aus Rachsucht aus und unterzog sie der größtmöglichen Entwürdigung, man vergewaltigte Frauen, schändete Kinder.1185
Ähnliche »düstere Nachrichten über grausame Gewalttaten, die das russische Militär, vor allem die Kosaken und Tscherkessen an der dortigen schutzlosen jüdischen Bevölkerung beging«,1186 wurden auch über Galizien berichtet, das von den russischen Truppen eingenommen wurde. An-Ski beschreibt, wie Brody niedergebrannt oder das österreichische Husjatyn und Bels dem Erdboden gleichgemacht wurden. Er berichtet über den »Pogrom mit vielen Toten in Lemberg«.1187 Die besiegte habsburgische Provinz, die vom eigenen Land und von Russland »gleichermaßen abgeschnitten« war, stehe seiner Meinung nach davor, »Hungers zu sterben«.1188 Ebenso lässt hier An-Ski einen Soldaten sprechen, er zitiert aus einem anderen Brief von der Front, »der zufällig durch die Zensur geschlüpft war«, und zwar, eines verwundeten und evakuierten jüdischen Soldaten, der in der russischen Armee diente: Meine Arme werden schwach und die Augen füllen sich mit blutigen Tränen, […] wenn ich an die Schrecken denke, deren Zeuge ich in Galizien wurde, wenn ich an die schrecklichen Grausamkeiten denke, welche Kosaken und Soldaten an den Juden verübt haben: Man mordet, man raubt, man schändet Frauen in den Straßen, man schneidet alten Frauen die Brüste ab und lässt die Unglücklichen umkommen.1189
Die erwähnten Zeugnisse, die von einem russischen und von einem jüdischen Soldaten abgelegt wurden, stehen gewissermaßen mit Lewins Überlegungen im Widerspruch. Laut seiner phänomenologischen »Kriegslandschaft«-Theorie würden im Fall der »erfahrenen Soldaten« die »Gefühlsreaktionen« gegenüber den jüdischen Zivilisten, die vor allem von den Kosaken als »Gefechtsdinge« 1184 1185 1186 1187 1188 1189
An-Ski 2019, S. 29. Ebd. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd. Ebd.
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behandelt wurden, als »völlig unangebracht erscheinen«.1190 Das, was in den von An-Ski zitierten Soldatenbriefen erwähnt wurde, ist folglich eine Ausnahme. Einerseits bilden also die mündlichen Narrationen, die er verwendet, die performative Umsetzung der neuen K riegsordnung, » in der jedes Ding, jeder Beruf – wie auch Annette Werberger schreibt – einen nom de guerre erhält.«1191 Andererseits geht es bei An-Ski nicht nur um die Darstellung der Handlungen in der Gefechtswelt: Er sucht nach den Ursachen und Erklärungen für die Gräueltaten der russischen Militärs gegen Juden. Wenn er selbst bemerkt, dass die Briefe und Erzählungen, die »sporadisch eintreffen, […] mehr Ausdruck von Erschütterung als eine systematische W iedergabe von Fakten«1192 seien, gibt es darunter auch die Darstellung mehrerer Tatsachen, die vom Antisemitismus im Russischen Imperium zeugen. Wenn dieser vor dem Krieg überwiegend wirtschaftliche und konfessionelle Gründe hatte, kamen mit seinem Beginn ideologische und politische dazu. Der Antisemitismus wuchs an »wie eine Lawine« und »verbreitete sich in der Armee, ergoss sich über das ganze Land und weckte Ressentiments gegen die Juden sogar in Schichten, die früher weit von jedem Antisemitismus entfernt waren.«1193 Im Zustand des Krieges durchdrangen, laut An-Ski, die Verleumdung und der Hass gegen Juden die breitesten Schichten der russischen Gesellschaft, von Mitgliedern der Zarenfamilie bis zum einfachen Volk; sie wurden auch in die besetzten Territorien hineingetragen und führten dort zur massenhaften Gewalt. Von den gezielt antijüdischen Handlungen der russischen Soldaten zeugt eine Episode in Galizien, die ein anderer russischer Soldat erzählt: »Wo die Truppen durchziehen, stellen die Christen Ikonen in die Fenster oder bringen sie an den Türen an. Gibt es keine Ikonen, heißt das, es ist ein jüdisches Haus und man kann dort ungestraft plündern.«1194 Die Pogrome gegen Juden wurden also von den Besatzungsbehörden nicht nur geduldet, sondern auch genehmigt. Dafür sieht An-Ski einen bestimmten Grund: Die antisemitische Hysterie, die sich im zaristischen Russland mit der Kriegserklärung entfaltete, ermöglichte, laut ihm, das »tiefreaktionäre Regime, das in Russland herrschte«.1195 Besonders aktuell wurden in der Kriegssituation politische Motive: Den Juden in Russland wurde der Mangel am Patriotismus vorgeworfen; in den besetzten Territorien kamen dagegen die Begriffe »Verrat« und »Spionage« zugunsten der Österreicher und Deutschen vor allem vor – ähnlich, wie es im Fall der ruthenischen Moskvophilen hinsichtlich der russischen Armee war. Im Kriegszustand könnte man Juden 1190 1191 1192 1193 1194 1195
Lewin 2006, S. 135. Werberger 2009, S. 146. An-Ski 2019, S. 31. Ebd., S. 27. Ebd., S. 32. Ebd., S. 53.
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»ganz offen«1196 beschuldigen, was zur ihrer kollektiven Bedrohung führte. Diese Hetzerei spiegelte sich sogar in der reichen »Legendenbildung rund um die Spionagevorwürfe«.1197 Als Ethnograph, der über jüdische Schtetl forschte, analysiert An-Ski in seinen Tagebuchaufzeichnungen die Schemen, nach denen solche Geschichten und Gerüchte entstehen: Die Volksphantasie griff dabei auf dasselbe Muster wie bei den Ritualmordvorwürfen zurück. Die Ritualmordanklagen betrachtete das Volk nicht etwa als Ammenmärchen, sondern als Verbrechen, die tatsächlich von anderen begangen worden waren […]. Zugleich waren diese Legenden, wie alle Volkslegenden, von einem tiefen Optimismus durchdrungen, von dem Glauben, dass die Wahrheit am Ende ans Licht kommen würde.1198
Die Überzeugung, im Sinne der Wahrheit zu handeln, rechtfertigte folglich die Entfesselung der Gewalt, die an Juden in den besetzten Gebieten ausgeübt wurde. Eine aktuelle Komponente der antisemitischen Legendenbildung im Ersten Weltkrieg, die An-Ski erwähnt, ist die Erwähnung moderner technischen Kriegsführungsmethoden, solcher wie Aeroplane und Bomben,1199 wenn zum ersten Mal in der Geschichte der Kriege der Tod distanziert, quasi »vom Himmel« kam und mysteriös wirkte. Die gleiche Reaktion hatte auch die Möglichkeit, Telefonate zu führen. So sei zum Beispiel »die verleumderische Behauptung, dass Juden über geheime Telefonleitungen angeblich Nachrichten mit dem Feind austauschten« am weitesten verbreitet.1200 Solche Kriegslegenden werden von An-Ski, wie Werberger hervorhebt, kritisch analysiert, eingerahmt und in den Kontext gefügt.1201 Dabei ist sein Interesse insbesondere auf die narrative Seite der Erzählungen gerichtet: »Die Mündlichkeit der aufgezeichneten Information erhält […] einen paradigmatischen Platz in ›Khurbm Galitsie‹«, – stellt die Literaturforscherin fest.1202 Anhand von Kriegsfolklore betreibt An-Ski, so schreibt sie weiter, »oral history«, »indem er die fiktionalen und halb-fiktionalen Entwürfe und Lesarten von Menschen und Kollektiven über Kriegsereignisse kritisch aufzeichnet und analysiert.«1203 Dieses Vorgehen schafft im Text »die ästhetischen Spielräume fiktionalen Erzählens«1204 und verleiht ihm ebenso literarische Merkmale. Insbesondere bei der Beschreibung der konkreten Szenen während der Angriffe der zaristischen Armee in Galizien und des Vorgehens gegen die jüdische 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204
Ebd., S. 26. Ebd., S. 49. Ebd., S. 40. Ebd., S. 39. Ebd., S. 49. Werberger 2009, S. 141. Ebd. Ebd. S. 142. Ebd. S. 143.
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Bevölkerung im Gefechtsgebiet schafft An-Ski plastische, gestalterische Bilder, die sich beim Lesen seiner Berichte einprägen. Regelmäßig kehren hier solche Topoi der Zerstörung wie »Pogrom«, »Brand«, »Verwüstung« und »Feuerring« wieder. So werden bei der Darstellung der »ansehnlichen« galizischen Stadt Sokal, die »einst wohlhabend und schön war«, die »Totenstille« und »Durcheinander nach einem Pogrom« betont: »alles zerbrochen, zerrissen, ausgeschüttelt«.1205 Die Gegend ist von Dutzenden schwarzen Rauchsäulen »von brennenden Städten und Dörfern«1206 umgegeben. Vor dem Abzug aus der Stadt Welyki Mosty veranstalteten die Kosaken »einen fürchterlichen Pogrom«, nach dem Abzug »wurde sie von russischen Truppen beschossen und brannte«.1207 Danach blieb nur Verwüstung. Immer wieder kehrt An-Ski zum Bild der »Feuerringe« zurück, die verlassene Städte umgeben, so bei Sokal: »In der Nacht schien es, als wäre die Stadt von einem Feuerring umgeben. Überall sah man den Widerschein von Bränden in der Ferne und Nähe«,1208 oder bei Welyki Mosty: »In der Nacht wurde der Feuerring der brennenden Städte und Dörfer der Umgebung noch heller und rückte näher.«1209. Vom hohen ästhetischen Niveau der literarisch gestalteten Passagen der Tagebuchaufzeichnungen zeugt zum Beispiel die Beschreibung eines jüdischen Friedhofes, die An-Ski in den historischen Kontext einfügt und ihm auf diese Weise einen symbolischen Charakter verleiht: Es war eine klare Nacht, der Vollmond stand am Sternenhimmel. W ir wandten uns um und wollten zurückgehen, als sich unseren Augen ein fantastisches Bild bot: Da standen Hunderte von hohen Steinen, auf denen hebräische Buchstaben rot glühten. Im ersten Moment verstand ich nicht, was das zu bedeuten hatte. Dann begriff ich schnell, dass vor uns ein jüdischer Friedhof lag. Im W iderschein der F lammen sah es so aus, als würden die Grabsteine feurig erglühen. Es war ein ungewöhnlicher, fantastischer Anblick. Als ob Dutzende Generationen von mehreren Jahrhunderten in dieser mystischen Mondnacht aus der Vergangenheit herausgetreten wären, um mit feurigen Blicken das Schreckliche zu beobachten, das hier geschah und dem Schtetl immer näher rückte.1210
Es gibt in An-Skis Tagebuchaufzeichnungen noch einen prägnanten Topos Galiziens im Ersten Weltkrieg, und zwar den Topos der Trauer, die vom Autor mit Geschichte und kultureller Tradition des jüdischen Volkes konnotiert wird. Er konnte sie bei der Synagoge in Sokal nach dem Pogrom beobachten: Ich ging in die Seitengassen. […] Etwas weiter weg ragte riesenhaft eine alte Steinsynagoge aus dem 17. Jahrhundert empor, eine der schönsten, die es überhaupt gibt. 1205 1206 1207 1208 1209 1210
An-Ski 2019, S. 237. Ebd., S. 240. Ebd. Ebd., S. 239. Ebd., S. 241. Ebd., S. 241.
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Auf den Vorbauten der kleinen Häuser saßen ein paar alte L eute, Frauen, Kinder. Alle saßen mit gesenkten Köpfen, in Trauer, wie zu den Klageliedern von Tischa beAw.1211
Voll Empathie beschreibt An-Ski die »alte, tausendjährige, tiefe jüdische Trauer«,1212 die er in den Augen eines achtjährigen jüdischen Mädchens mit »zart geschnittenem Gesicht« sieht, das den »endlosen düsteren Berichten« über die Gräueltaten der zaristischen Militärs gegen die zivile jüdische Bevölkerung »aufmerksam und ernst«, »wie eine Erwachsene«1213 zuhört. So lenkt der russisch-jüdische Wissenschaftler und Autor Shimon An-Ski die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Situation der galizischen Juden im Ersten Weltkrieg, die er erzählerisch darstellend erforscht. Sein Ziel war, den Opfern zu helfen. Aber nicht nur: An-Ski versuchte der verbrecherischen Politik des Staates, dessen Bürger er war, entgegenzuwirken. Auch wenn dies ihm praktisch nicht gelungen ist, so schuf er dank dem Narrativ ein Dokument, das nicht nur zu seinen Zeiten aktuell war, sondern auch eine enorme historische Bedeutung gewann. Die Zerstörung der jüdischen Welt Galiziens wurde somit zu einem »Historischen Ereignis«: Aus diesen und anderen erschütternden Klagen formte sich der Eindruck, dass in Galizien etwas geschah, was das menschliche Verständnis überstieg. Eine große jüdische Provinz mit einer Bevölkerung von einer Million Juden, die noch gestern alle Menschen- und Bürgerrechte besaßen, ist in einem Feuerring aus Blut und Eisen eingeschlossen. Abgeschnitten von der Welt und in den Händen von Kosaken und Soldaten, die aufgehetzten, wilden Tieren glichen. So manifestierte sich der Eindruck, dass hier ein ganzer jüdischer Stamm untergeht!1214
Shimon An-Ski ist 1920 verstorben, sein jiddisches Tagebuch erschien posthum. Damals konnte er nicht vorausahnen, welche neuen Katastrophen das 20. Jahrhundert mit sich bringen wird. Seine Gedanken über das Schicksal seines Volkes, über die Zukunft der Menschheit waren von Hoffnung und Optimismus erfüllt. Folglich schreibt er in seinen Tagebuchaufzeichnungen: Lange standen wir beide wie verzaubert da. Als wir wieder zu uns kamen, begannen wir wie aus einem Traum heraus über die Zukunft der Menschheit zu sprechen, über die Zeit, wenn der Alptraum des Krieges verschwunden sein würde, mit seinen Strömen von Blut und seinen blutroten Feuern.1215
In historisch kürzester Zeit, in etwa zwei Jahrzehnten, gewann aber der Albtraum des Krieges ein neues, noch größeres Ausmaß: Galizien wurde zur Kriegslandschaft eines anderen Krieges, in dem zwei totalitäre Mächte gegeneinander ge1211 1212 1213 1214 1215
Ebd., S. 238. Ebd., S. 39. Ebd., S. 38. Ebd., S. 32. Ebd., S. 241.
Literaturverzeichnis
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stoßen waren. Im Zweiten Weltkrieg endete der Albtraum des Ersten mit der endgültigen Vernichtung der ostjüdischen Welt. Man sollte aber nicht vergessen, dass ihre Zerstörung früher begann, während der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, ohne die, wie Lutz Kleveman schreibt, »das Geschehen der folgenden Jahrzehnte nicht zu verstehen sei.«1216 Der auf Jiddisch geschriebene faktuale Text von Shimon An-Ski Yudisher khurbn fun poyln, galitsye un bukovine (fun tog-bukh 5674–5677 [1914–1917] ist somit ein wichtiges Dokument der Zerstörung der jüdischen Welt Galiziens als eines »Historischen Ereignisses«. Er berichtet vom Schicksal der ostjüdischen Bevölkerung im Gebiet des Bewegungskrieges an der habsburgischen Ostfront. Wenn dieser Text auch Eigenschaften des literarischen Werkes aufweist, kann von seiner »Verwertbarkeit« für die Rekonstruktion der damaligen Lage der Juden in Galizien gesprochen werden. Hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Schicht des »Galizischen Textes«, die den Ersten Weltkrieg thematisiert, weist An-Skis Tagebuch viele mit anderen die Kriegsereignisse in dieser Gefechtswelt darstellenden Texten gemeinsame Topoi auf, die die Rolle der Kodierungsmittel übernehmen. Vor allem sind es solche, die die Willkür der Kriegsmacht bei der Behandlung der einheimischen Bevölkerung Ostgaliziens darstellen, in dem Fall der Juden durch das russische Militär. Bei der historisch bedingten, im Vergleich mit dem Schicksal der galizischen Ukrainer entgegengesetzten Ausrichtung des Machtvektors (in dem Fall der zaristischen Besatzungsarmee versus habsburgische Verwaltung in Galizien) sind mehrere der Stichwörter, die zur semantischen Einheit mit anderen galizischen Kriegstexten führen, auffallend nah: »soziale Stellung«, »Sprache«, »Konfession«, »Verrat«, »Spionage«, »kollektive Bedrohung«, »Brände«, »Vertreibung«, »Erschießungen«, »Martyrium«, »Trauer«. Sie begleiten alle gemeinsamen Themen und Leitmotive dieser besonderen Gruppe des »Galizischen Textes«, die gegen die Amnesie an den Großen Krieg des frühen 20. Jahrhunderts und ihre Folgen wirkt.
Literaturverzeichnis Primärliteratur An-Ski, Shimon: Der Khurbn in Polen, Galizien und der Bukowina: Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2019. Roth, Joseph: Radetzkymarsch, in: Roth, Joseph: Werke in 6 Bd., Bd. 5: Romane und Erzählungen 1930–1936, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1990/c [1932], S. 137–455.
1216 Kleveman 2017, S. 46.
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Die Zerstörung der jüdischen Welt Galiziens im Blutrausch des Ersten Weltkrieges
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Das Galizien der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen von Joseph Roth und Alfred Döblin
Im Laufe seiner Geschichte als habsburgische administrative Einheit ab Ende des 18. Jahrhunderts und danach, bis zur Zeit nach der politischen Wende der 1990er Jahre, war Galizien schon immer ein beliebtes Reiseziel. Typisch ist dabei seine distanzierte Wahrnehmung geworden, der »Blick aus dem Fenster«, der auch eine bestimmte Evolution aufwies: Vom Blick aus dem Fenster der Reisekutsche bis Mitte des 19. Jahrhunderts, über den Blick aus dem Coupéfenster des Eisenbahnalters bis zum Blick aus dem Autofenster Ende des 20. Jahrhunderts. Aus solcher Perspektive wurden unterschiedliche räumliche Modelle Galiziens entworfen, die in verschiedenen Perioden in Reiseberichten, Briefen oder Essays beschrieben wurden. Als Beispiel wird hier nach den kognitiven Kartierungen Galiziens zwischen den beiden Weltkriegen recherchiert. Es geht um die Aufladungen des Raumes mit Einschreibungen, die auf den Landkarten nicht zu erkennen sind. Exemplarisch werden zwei Texte analysiert, und zwar Joseph Roths Reportage Reise durch Galizien (1924)1217 und entsprechende Galizien-Kapitel aus dem Alfred Döblins Buch Reise in Polen (1925).1218 Da die beiden analysierten Texte eine Reise, die Bewegung im Raum beschreiben, wird in ihnen der von Michail Bachtin eingeführte Begriff »Chronotopos des Weges« zentral.1219 Für diesen Chronotopos ist das Motiv der Begegnung (in halbmetaphorischer oder metaphorischer Bedeutung) typisch. Es geht also in beiden Fällen um eine »Begegnung mit Galizien«. Die Funktionen des »Weges«, der »Straße« und der »Begegnung« haben, laut Bachtin, eine außerordentliche Bedeutung, da sie dazu verhelfen, die sozial-historische Vielfalt des Landes, wo die Reise stattfindet, vorzuführen und zu erschließen.1220 Dabei werde die »Straße« auch außerhalb des Romans verwendet, in den faktualen Texten wie publizistische Beschreibungen (Ende des 18. Jahrhunderts oder den publizisti1217 1218 1219 1220
Roth 1990. Döblin 1968. Bachtin, 1989, S. 7; 21–22. Ebd., S. 182.
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schen Reiseskizzen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts).1221 Solche Zugänge erlauben, die Reisebeschreibungen von Joseph Roth und Alfred Döblin als eine besondere Textsorte zu betrachten und sie literaturwissenschaftlich zu analysieren. Der typologische und der thematologische Vergleich dieser Texte ermöglichen komparatistische Fragenstellungen. Die Fragen werden gezielt auf den Raum gerichtet, der neben seiner Bedeutung als »Topos«, als empirisch fassbarer physischer Raum, auch als relationaler erkenntnis-theoretischer Begriff gebraucht wird, dem der Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung des Raumes zugrunde liegt, gebraucht wird.1222 Die räumliche Wende eröffnet außerdem postkoloniale Raumperspektiven: Galizien wird als ein postkolonialer Raum gedeutet, bei dessen Interpretation Schlüsselbegriffe der postkolonialen Lektüre verwendet werden, wie Hybridität im Sinne des In-Fragestellens der kulturellen Reinheit1223 und des »Dritte(n) Raum(es)« (Third Space) als eines »Kontaktraumes«, als des Ortes der Auseinandersetzung in und zwischen Kulturen.1224 Vorerst soll aber einiges zur Kartierung Galiziens erläutert werden.
Geographische und kognitive Kartierung des Landes Das Verfahren der Kartierung erweitert die physische Karte zu kognitiven Karten (Mental Maps), zu symbolischen und vor allem subjektiven Aufladungen der kartographischen Bezugspunkte mit verschiedenen Bedeutungen. So wird bei Döblin die genaue Route seiner Reise in Polen, darunter auch in Galizien angegeben. Bei der Darstellung von Lemberg orientiert er sich nach dem Stadtplan; manche Passagen erinnern sogar an einen Reiseführer. Wichtiger ist aber der Chronotopos der Lemberger Straßen, der dazu verhilft, Lemberg einerseits als kulturell hybriden Raum zu schildern, andererseits die Spannungen zwischen den in der Stadt präsenten Kulturen wiederzugeben: Sie [die Stadt] wurde ein Völkerzentrum. Wer durch die Straßen geht, sieht es. Es gibt am großen Ringplatz eine russische Straße, eine Armenierstraße. An dem schönen Platz selbst, in dessen Mitte ein prächtiges Rathaus steht, stoße ich unter den alten feinen Häusern auf das eines venezianischen Gesandten. Die Stadt war zwischen Osten und Westen Stapelplatz und Umschlagsort. Spagnolische Juden, Sephardim, kamen herauf von Süden und ließen sich nieder. Dann deutsche Kolonisten und andere Völker, den
1221 Ebd. »Klassische Beispiele« für Bachtin seien Radischtschews Reise von Petersburg nach Moskau oder die Feuilletons von Heinrich Heine. 1222 Bachmann-Medick 2006, S. 292. 1223 Goetsch 1997, S. 135–145. 1224 Bachmann-Medick 2006, S. 205.
Geographische und kognitive Kartierung des Landes
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Waren und dem Gewinn folgend. Eine walachische Kirche schließt die Russenstraße ab. Drei Erzbischöfe hat noch heute die Stadt.1225
Bei Roth dagegen findet die Überlagerung der physisch-räumlichen Strukturen Galiziens und seiner Städte durch subjektive Erinnerungsakte statt. Als der Autor »eine kleine ostgalizische Stadt«1226 beschreibt, schöpft er aus seinem Gedächtnis – man erkennt dahinter seine Geburtsstadt Brody – und erweitert die ihm aus der Vergangenheit gut bekannte physische Karte dieser Stadt zu einer kognitiven. Er schafft ein symbolisches Bild der galizischen Provinzstadt und seiner kulturell hybriden Gesellschaft: Ich kam an einem Sonntagabend in eine kleine ostgalizische Stadt. Sie hatte eine Hauptstraße mit ganz gleichgültigen Häusern. Jüdische Händler wohnen in dieser Stadt, ruthenische Handwerker und polnische Beamte. Der Bürgersteig ist holprig, der Fahrdamm wie die Nachbildung einer Gebirgskette. Die Kanalisation ist mangelhaft. In den kleinen Seitengassen trocknet Wäsche, rot gestreift und blau kariert. Hier müsste es doch nach Zwiebeln duften, verstaubter Häuslichkeit und altem Moder? Nein! In der Hauptstraße dieser Stadt entwickelte sich der obligate Korso. Die Kleidung der Männer von einer selbstverständlichen, sachlichen Eleganz. Die jungen Mädchen schwärmten aus wie Schwalben, mit hurtiger, zielsicherer Anmut. Ein heiterer Bettler bat mit vornehmem Bedauern um ein Almosen – und es tat ihm leid, daß er gezwungen war, mich zu belästigen. Man hörte Russisch, Polnisch, Rumänisch, Deutsch und Jiddisch.1227
Die ostgalizische Provinzstadt, die Roth räumlich wie »eine kleine Filiale der großen Welt«1228 modelliert, wird der galizischen Metropole Lemberg gegenübergestellt. In beiden Fällen geht es um narrative Erschließungen des Raumes, seine Wahrnehmungsformen und Deutungsmuster. Die Autoren schrieben ihre Reisetexte im Stil der neuen Sachlichkeit; sie arbeiteten mit der Technik der Montage: Wenn für Döblin aber ein unerwartetes, spontanes Nebeneinandersetzen inhaltlicher Teile eigen ist, was dem Text bei der Rezeption eine Spannung verschafft, fügt Roth die einzelnen Textabschnitte konsekutiv zusammen, dabei verwendet er kettenartige Wiederholungen und baut auf diese Weise zwischen ihnen »Brücken« auf, wie zum Beispiel: »Obwohl aus den faulenden Gebeinen der zerschossenen Tiroler, der Niederösterreicher, der deutschen Soldaten aus dem Reiche der Kukuruz dieses Landes blüht. / ›Kukuruza‹ heißen die Maiskolben.«1229; »So leben die Kukuruzhändler von den Lumpenhändlern. Von wem aber leben die Lumpenhändler? / Es ist schwer zu leben.«1230; »Es spritzt der 1225 1226 1227 1228 1229 1230
Döblin 1968, S. 190–191. Roth 1990, S. 286. Ebd., S. 285–286. Ebd., S. 286 Ebd., S. 281. Ebd.
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Schlamm der Straße. In der Ferne leuchtet der Schlamm wie schmutziges Silber.«1231 Bevor man mit der Textanalyse anfängt, sind die Fragen zu stellen: Wer sind die Reisenden? Was sind deren Reiseziele und -interessen? Welche Verkehrsmittel werden von ihnen auf der Reise benutzt? Wichtig ist, dass die beiden Autoren – die bekanntesten deutschsprachigen Erzähler des 20. Jahrhunderts – fast im gleichen Zeitraum, mit einem Abstand von einigen Monaten, ihre Reise unternahmen, dass sie am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere standen und dass diese Reise ein wichtiger Wendepunkt in ihrem Schaffen bedeutete.
Joseph Roth: vom Journalisten zum Schriftsteller Für Joseph Roth waren die Jahre 1920–1925 eine erfolgreiche Zeit: Er wurde rasch als einer der besten Journalisten anerkannt und veröffentlichte seine erste Romane: Das Spinnennetz (1923), Hotel Savoy (1924, unmittelbar nach der GalizienReise) und Die Rebellion (1924). Es fand also die Geburt eines Schriftstellers statt. Nach Galizien fuhr er als Korrespondent der »Frankfurter Zeitung«, seine Reportagen schlugen sich in drei größeren Artikeln unter dem Namen Reise durch Galizien nieder: Leute und Gegend (20. 11. 1924); Lemberg, die Stadt (22. 11. 1924) und Die Krüppel. Ein polnisches Invalidenbegräbnis (23. 11. 1924). Das Medium der Zeitung, in der er publizierte, erlaubte die unmittelbare Nähe zum Leser zu schaffen. Als professioneller Journalist war Roth bemüht, Galizien mit dem entfremdeten Blick zu betrachten; er wollte auch hier dem Leser nicht verraten, dass es sich um den Landstrich handelte, wo er das Licht der Welt erblickt hatte. Ein Ostjude zu sein, der vom äußersten nordöstlichen »Krähwinkel« der Monarchie stammte, passte dem renommierten westlichen Journalisten nicht: Schon der Name der Reportage mit der räumlichen Präposition »durch« klingt bei Roth distanziert. Es kommt im Text nur einmal vor, dass Roth die Eisenbahn – das Verkehrsmittel, das die Moderne prägte – erwähnt, mit der er seine Reise unternimmt. Gerade an dieser Stelle verneint er »die bequeme Art jener Berichterstattung […], die durch das Coupéfenster blickt und die zurückliegenden Impressionen mit hurtiger Genugtuung notiert«.1232 Hier verrät er die Gefühle, die er zum vertrauten Land hat: Mein Blick schweift immer wieder von den aufschlussreichen Physiognomien der Mitreisenden in die melancholische, ebene Welt ohne Grenze, in diese sanfte Trauer der Erde, in welche die Schlachtfelder hineingewachsen sind, Ergänzungen a posteriori.1233 1231 Ebd., S. 283. 1232 Ebd., S. 282. 1233 Ebd., S. 282–283.
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»Schlachtfeld« wird bei Roth zum Kennwort der galizischen Landschaft: »Galizien, das große Schlachtfeld des großen Krieges«.1234 Zentral in allen drei Teilen der Reportage ist das Thema des Ersten Weltkrieges, der den Zerfall der Monarchie zur Folge hatte und von Roth mit dem traumatischen Verlust der Heimat assoziiert worden war. Den ganzen Text schreibt er retrospektiv und, dementsprechend, »gegen den Krieg«. Bei der Darstellung Galiziens als einer Kriegslandschaft wird die kühle Distanz des Journalisten ruiniert, Roths persönliches Engagement verwandelt diese Landschaft in einen emotionell gefärbten Erinnerungsraum: Viele Trainkolonnen sind über diese Straßen gezogen, schwere Geschütze haben tiefe Spuren hinterlassen, die Pferde sanken bis zum Sattel unter – ich weiß es noch, ich weiß es noch. Einmal zog ich diese und andere Straßen dahin, ein Lastmensch unter Lasttieren, und uns fraß der unsterbliche Schlamm, wie er die Schotterung der Straße frisst.1235
Aus Erinnerungen und unmittelbarer Beobachtung schafft Roth sein Modell Galiziens, das laut der Raumsemiotik von Jurij Lotman durch räumliche Oppositionen bestimmt ist, die sich vom »unmittelbaren Inhalt distanzieren« und »zur Sprache des Ausdruckes der außerräumlichen Kategorien«1236 werden. Mit Hilfe der topographischen Unterscheidungen der Gegensätze verweist der Autor auf die semantisch aufgeladene topologische Ordnung. Die Raumgestaltung Galiziens durch die räumliche Opposition »oben – unten«, die er mit Hilfe der Gegenüberstellung von »Himmel« und »Wege« ausdrückt, fügt die Zeiten zusammen: So war’s, als der Kaiser Franz Joseph regierte, und so ist es heute. Es sind andere Uniformen, andere Adler, andere Abzeichen. Aber die wesentlichen Dinge ändern sich nicht. Zu den wesentlichen Dingen gehören: die Luft, die menschliche Seele und Gott mit allen Heiligen, die seine Himmel bewohnen und deren Abbildungen an den Wegen stehen.1237
Die Abbildung von »Christus, dessen Kreuz von einem sarkastischen Geschoß zertrümmert wurde, so daß nur der steinerne Heiland blieb«, bekommt einen antimilitaristischen Sinn: »[…] ein Erlöser, der gekreuzigt wird, ohne am Kreuz zu hängen; das symbolische Ergebnis eines martialischen Zufalls.«1238 Auch im letzten Teil der Reportage, Die Krüppel, in dem es um das Begräbnis eines polnischen Invaliden geht, der demonstrativ den Selbstmord begangen hat, kommt es zur ähnlichen räumlichen Opposition: »Man begrub ihn an einem jener trüben 1234 1235 1236 1237 1238
Ebd., S. 281. Ebd., S. 283. Lotman 1992, S. 424–425. Roth 1990, S. 282. Ebd.
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Tage, an denen der verhängte Himmel sehr nahe über unseren Köpfen zu hängen scheint und der liebe Gott dennoch ferner ist als je.«1239 Durch die räumliche Opposition »Peripherie – Zentrum« wird in dieser Episode außerdem die Idee ausgedrückt, dass diejenigen, die für die Entfachung des Krieges Verantwortung tragen, nicht in Galizien, sondern »mitten in Europa« zu suchen seien: »Leider fand dieses Begräbnis in Lemberg statt, im entlegenen Ostgalizien! Man hätte den Invaliden mitten in Europa begraben müssen, in Genf zum Beispiel, und Diplomaten und Feldherren einladen sollen.«1240 Im Text der Reportage kommen auch andere räumliche Oppositionen vor, mit deren Hilfe Roth den galizischen Raum strukturiert, um seine nichträumliche Charakteristika aufzubauen. Soziale Verhältnisse in Galizien, die er beschreibt, werden durch die Opposition zwischen dem Land und der Stadt wiedergegeben: Es ist schwer zu leben. Galizien hat mehr als acht Millionen Einwohner zu ernähren. Die Erde ist reich, die Bewohner sind arm. Sie sind Bauern, Händler, kleine Handwerker, Beamte, Soldaten, Offiziere, Kaufleute, Bankmenschen, Gutsbesitzer. Zu viele Händler, zuviel Beamte, zuviel Soldaten, zuviel Offiziere gibt es. Alle leben eigentlich von der einzigen produktiven Klasse: den Bauern. Die sind fromm, abergläubisch, furchtsam. Sie leben in scheuer Ehrfurcht vor dem Priester und haben einen maßlosen Respekt vor der »Stadt«, aus der die seltsamen Fuhrwerke kommen, die ohne Pferde fahren, die Beamten, die Juden, die Herrschaften, Ärzte, Ingenieure, Geometer, Elektrizität, genannt: Elektryka; die Stadt, in die man die Töchter schickt, auf daß sie Dienstmädchen werden und Prostituierte; […]1241
Untrennbar vom sozialen und kulturellen Bild Galiziens sind auch die kleinen jüdischen Händler, die zur Bahn gehen, um »den ankommenden Zug zu sehen, die aussteigenden Leute, diesen Zug einmal im Tage, die einzige Verbindung mit der Welt, der ihren Lärm mitbringt und etwas von den großen Geschäften, die rund um den Globus abgeschlossen werden.«1242 Die Station erinnert an die Straßenecke vor der Börse. Auf dem Feldweg, der den Marktflecken mit der Bahn verbindet, gehen die Händler nach Hause. Mit Hilfe der räumlichen Opposition »links-rechts« gestaltet Roth die wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Situation der Juden in der galizischen Gesellschaft: […] links sind Felder, rechts sind Felder, rechts ist das Christusbild, links ein Heiliger und zwischen beiden die Juden mit gesenkten Köpfen, die flatternden Röcke hebend, sorgsam bedacht, das Kreuz nicht zu berühren, dem Heiligenbild auszuweichen, zwischen Szylla und Charybdis des fremden, gewollt unverstandenen Glaubens.1243
1239 1240 1241 1242 1243
Ebd., S. 289. Ebd., S. 290. Ebd., S. 281–282. Ebd., S. 283. Ebd.
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Eine wesentliche räumliche Opposition im Text der Roth’schen Reisebeschreibung bildet die Gegenüberstellung von Ost und West, die mehrere kultur-historische Relationen ausdrückt und Galizien vor westlichem Hochmut verteidigt. Mit dieser Opposition fängt der erste Teil der Reportage Leute und Gegend an: Das Land hat in Westeuropa einen üblen Ruf. Der wohlfeile und faule Witz des zivilisierten Hochmuts bringt es in eine abgeschmackte Verbindung mit Ungeziefer, Unrat, Unredlichkeit. Aber so treffend einmal die Beobachtung war, daß es im Osten Europas weniger Sauberkeit gebe als im Westen, so banal ist sie heute; und wer sie jetzt noch gebraucht, kennzeichnet weniger die Gegend, die er beschreiben will, als die Originalität, die er nicht besitzt.1244
Aus der Perspektive dieser Opposition betont der Autor die hohe Geistigkeit einer ostgalizischen Provinzstadt, ihre Rolle für die westeuropäische Kultur und Gesellschaft: Dennoch gibt es in dieser Stadt kein Museum, kein Theater, keine Zeitung. Aber dafür eine jener »Talmud-Thora-Schulen«, aus denen europäische Gelehrte, Schriftsteller, Religionsphilosophen hervorgehen; und Mystiker, Rabbiner, Warenhausbesitzer.1245
So entdeckt Roth während der Reise durch Galizien für sich das Ostjudentum aufs Neue und bemüht sich für das überhebliche westliche Lesepublikum Akzente anders zu stellen: Er findet im Osten Europas wahre menschliche und kulturelle Werte. Roths Biograph Wilhelm von Sternburg schreibt dazu: Die Reise in die Vergangenheit ist für Roth folgenreich. […] Die Besinnung auf die eigene Herkunft und die gesellschaftlichen und religiösen Wurzeln seiner Existenz sind ihm möglicherweise auf dieser Fahrt wieder bewusster geworden.1246
Die neuerliche Begegnung mit dem Ostjudentum in Galizien ist für den Schriftsteller nicht ohne Folgen geblieben. Im Jahre 1925, als er seine Russlandreise unternahm, hatte er für die ostjüdische Welt schon einen geschärften Blick, mit dem er ihr in seinem 1927 publizierten Essay Die Juden auf Wanderschaft huldigte. Der Samen für diese Huldigung werde, so Sternburg, schon auf der Galizien-Reise von 1924 gelegt.1247 Die Reportage, die darauf folgte, wurde einerseits zu einem der besten Beispiele der Roth’schen publizistischen Reiseliteratur, andererseits kommt es zum Wandel der Beziehung des Schriftstellers zum »postösterreichischen« Galizien. Seine Texte wiesen immer mehr Engagement bei der Rezeption dieses Kulturraumes auf; Galizien wurde in seinem literarischen Schaffen zu einem permanenten Thema. Besonders plastisch gestalten diese Änderung die besten Romane von Roth – Hiob (1930) und Ra1244 1245 1246 1247
Ebd., S. 281. Ebd., S. 286. Sternburg 2009, S. 288. Ebd.
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detzkymarsch (1932). Bemerkenswert ist dabei, dass Roth sich mit der Zuwendung zur galizischen Thematik in seinen fiktionalen Texten von der neuen Sachlichkeit als seinem wichtigsten vorherigen stilistischen Mittel verabschiedet hat.
Alfred Döblin: Schilderung der entseelten Realität des Landes Die Ausgangssituation des Entstehens des Textes von Alfred Döblin Reise in Polen ähnelt in vielem der von Joseph Roths Reise durch Galizien. Doch wird hier besonders der thematologische Vergleich aktuell, da viele Themen und Motive in den verglichenen Werken übereinstimmen, vor allem diejenigen, die sich auf den Raum Galizien beziehen. Es gibt aber auch entscheidende Unterschiede. 1924, als Döblin seine Reise unternahm, hatte er schon den Ruf eines Autors, der moderne Erzähltechniken einsetzte. Bekannt wurden vor allem seine expressionistischen Erzählungen Die Ermordung einer Butterblume (1913) und Die Lobensteiner reisen nach Böhmen (1917). 1918 erschien Döblins Roman Wodzeks Kampf mit der Dampfturbine, etwas später die Essays Maskenball (1921). Döblin war mehrere Jahre als Facharzt für Nervenkrankheiten in Berlin tätig; vom Reisen hielt er nicht viel: Gegenstand seiner Prosa war die entseelte Realität seiner Umgebung. Wenn Roth im Frühjahr durch Galizien reiste, war Döblin in den letzten Septembertagen bis Ende November 1924 in Polen unterwegs. Im Unterschied zu Roth publizierte er aber seine Reise-Eindrücke in Buch-Form – die Erstaufgabe erschien im November 1925 im Fischer-Verlag in Berlin – also mit einer bestimmten zeitlichen Distanz zum Rezipienten. Galizien widmet er drei Kapitel des Buches: Lemberg, Das Naphtarevier und Krakau. Wir konzentrieren uns auf die ersten zwei Kapitel, die Bezug auf den ostgalizischen Raum nehmen, den Roth auch bereiste. Den Schriftsteller bewegten zwei Gründe, die Reise in Polen zu unternehmen: der eine war politischer, der andere autobiographischer Natur. Seine Ziele waren es, das Phänomen »Staat überhaupt« am Beispiel des wiederaufgebauten Staates der lange unterdrückten polnischen Nation zu begreifen und das Ostjudentum für sich zu entdecken. Walter Muschg schreibt diesbezüglich: Döblin wollte wissen, was in Polen vorging, er wollte die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes kennen lernen, die Stellung der ethnischen Minoritäten untereinander und im Ganzen des Staates, wollte wissen, welche Kräfte offiziell und welche inoffiziell regierten. Dass seine polnische Reise eine politische Komponente hat, steht dem Buch an der Stirn geschrieben, […]1248
1248 Muschg 1968, S. 350.
Alfred Döblin: Schilderung der entseelten Realität des Landes
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Später, aus der Distanz vieler Jahre erwähnt Döblin noch einen politischen Beweggrund seiner Reise: In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre ereigneten sich in Berlin pogromartige Vorgänge, […] der Nazismus stieß seinen ersten Schrei aus. Ich sagte zwar nicht zu, nach Palästina zu gehen, aber ich fand, ich müsste mich einmal über die Juden orientieren. Ich fand, ich kannte eigentlich Juden nicht. Ich konnte meine Bekannten, die sich Juden nannten, nicht Juden nennen. […] Ich fragte also mich und fragte andere: Wo gibt es Juden? Man sagte mir: In Polen. Ich bin darauf nach Polen gefahren.1249
Es waren aber nicht nur politische Intentionen, die Döblin auf die Idee dieser Reise brachten, sie hatte auch ganz persönliche Gründe: Es ging um die Fragen nach der eigenen Identität. Döblin stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie, die aus Polen nach Deutschland umgesiedelt war. Das Gefühl der Wurzellosigkeit seines Vaters stellt er sogar »räumlich« dar: »Er war – ethnologisch – das Opfer der Umsiedlung. Alle seine Werte waren umgewertet und entwertet.«1250 Er selbst, der Sohn, habe die »große Umsiedlung überstanden.«1251 Seine jüdische Herkunft verband er nur mit der Mutter: Meine Mutter konnte hebräisch lesen, und es war ein rührendes Bild, diese Frau, die schwer arbeitete und sich um uns mühte und die kaum die Zeitung las, an den hohen Feiertagen still abseits irgendwo in einer Stube sitzen zu sehen. Da hielt sie eines ihrer Bücher in der Hand und las eine Weile darin, hebräisch mit halblauter Stimme.1252
Die Frage, die Döblin sich stellte, lautete: »Könnte ich, könnte jemand sonst zurück auf diese Stufe?«1253 Die Antwort hat er in Polen gesucht. Aufgrund der Analyse des Prozesses der Niederschrift des Textes betont Walter Muschg, wie wichtig diese Frage für Döblin damals war, und kommt zur Schlussfolgerung, dass der Prozess der Umsiedlung für Döblin irreversibel blieb: »Die Faszination durch die fremdartige Welt ist groß, aber das Gefühl der Fremdheit überwiegt.«1254 Im Unterschied zu Roth, der sich auf seine spontanen Eindrücke, die er auf der Reise durch Galizien gewann, stützte, bereitete sich Döblin auf die Reise gründlich vor. Am Ende des Textes gibt er sogar die Liste der Bücher über die polnische Geschichte und Literatur an, sowie über die neuste Geschichte des jüdischen Volkes und die religiösen Strömungen im Judentum, in denen er »blätterte«;1255 er erwähnt auch ein Beispiel der Reiseliteratur, das Buch, das er 1249 1250 1251 1252 1253 1254 1255
Döblin 1949, S. 164. Döblin 1928, S. 32. Ebd. Döblin 1949, S. 157. Döblin 1968, S. 258. Muschg 1968, S. 356. Döblin 1968, S. 345.
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»sehr aufmerksam las«1256 – Tage in Hellas von Bernhard Guttmann. Ähnlich wie Roth, unternimmt er seine Reise mit der Eisenbahn; diesem Verkehrsmittel schenkt er aber viel mehr Aufmerksamkeit als sein Kollege, der Schriftsteller, der in der Rolle eines Journalisten auftritt. So fängt bei Döblin das erste »ostgalizische« Kapitel mit der detaillierten Schilderung der Impressionen an, die der Reisende während der Fortbewegung des Zuges wahrnimmt: Aus dem provinziellen Lublin – mit einem ungeheuren Sternenhimmel empfing es mich, mit dem ungeheuren Gefunkel entlässt es mich – nach Süden, nach Ostgalizien. Weite Wiesen und Ackerflächen kommen. Ein Glück, im weichen Wagen allein zu sitzen, die Flächen um sich.1257
In diesem Textabschnitt kommen mehrere Erwähnungen des Zuges vor: »Das Stampfen des Zuges hört sich an, als galoppiere ein Pferd über Steine.«1258; »Wie schaukelt man im Zug. Schlank jagt er vorwärts, rutscht und schießt von rechts nach links.«1259; »Der Zug knurrt, knarrt. Grelle Bogenlampen, wüster wehender Lokomotivendampf. […] Reibend hält der Zug. Fünf Minuten. Der Zug zieht leise an, federt, erzittert, rollt.«1260; »Wie der Zug rast im Finstern.«1261 Schon aufgrund von angeführten Zitaten kann man sehen, welche Methode der narrativen Raumerschließung für Döblin relevant ist: Wenn Roth den empirisch fassbaren Raum Galiziens strukturiert und Raummodelle gestaltet, die semiotisch gedeutet werden können, dominiert bei Döblin die Leiblichkeit und die Wahrnehmung des Raumes aus der Ich-Perspektive. Das, was er beschreibt, ist sein Erlebensraum, der phänomenologische Zugänge bei der Interpretation benötigt. Bei der Beobachtung der Landschaft ist nicht nur visuelle und akustische Wahrnehmung wichtig, sondern auch, wie man den Raum draußen fühlt. Der Autor bewahrt zu dem, was er wahrnimmt, keinerlei Distanz; das Innen und Außen des Raumes bilden im Wahrnehmungserleben, das reversibel ist, die Einheit. Das Ich und die Welt werden hier, laut Merleau-Ponty,1262 in einem Verhältnis gedacht: Weit draußen liegt eine mütterlich trächtige Finsternis, eine Schwere, Lichtauslöschung besänftigter Art, aus der manchmal ein gelbrotes Lichtchen, der Umriss eines Häuschens blickt, wie ein Zeichen, ein Stimmchen. Es ist halb sechs. Da hause ich eingefriedet im Zug. Jaroslau, bald kommt Przemysl. Und ich werde sie nicht sehen, aber fühlen. Wie
1256 1257 1258 1259 1260 1261 1262
Ebd. Ebd., S. 181. Ebd. Ebd. Ebd., S. 182. Ebd., S. 183. Merleau-Ponty 2004, S. 172–203.
Alfred Döblin: Schilderung der entseelten Realität des Landes
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schön sich eine Stadt im Finstern ankündigt, mit feinen Lichtpünktchen, Sternen, die zittern.1263
Döblin interessiert sich – ähnlich wie Roth – für die sozialen Zustände Ostgaliziens und für die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung. Das Bild eines provinziellen galizischen Bahnhofs, und zwar eines in Drohobycˇ, das er im Kapitel Das Naphtarevier aufgrund des Gesehenen gestaltet, stimmt in vielen Details überein mit der Darstellung einer Eisenbahnstation in einer kleinen ostgalizischen Stadt in der Reportage von Roth. An diesem Transitort sind neben den ukrainischen Bauern und den polnischen Kutschern auch viele jüdische Händler zu sehen. »Über zwei Schnellzugstunden bin ich südlich von Lemberg; der Zug fährt in Drohobycˇ ein. Ein menschenreicher Bahnhof: Bauern schleppen zu zweit verdeckte Körbe und Säcke. Juden heben sich hinten die langen, schwarzen Röcke hoch beim Überschreiten der Schienen.«1264 In der Stadt selbst, auf dem Marktplatz, betrachtet der Schriftsteller das Getue der jüdischen Händler: Ein viereckiger weiter Marktplatz. Buden und Tische, Pferde, Gespann, Fiakerreihen. Und alles in Lehm und Unrat von Stroh, Schutt, Abfällen versinkend. Eine Linie Tische hat im Mist ausgelegt bunte Tuchballen. In Buden hängen Kopftücher, Wäschestücke. Dahinter schwatzen und rufen Händler und Händlerinnen, Juden, nur Juden, mit deutschen Namen. Händler in weichen Mützen, schmutzigen Kleidern diskutieren in Gruppen auf dem Platz, vor den einstöckigen Häusern.1265
Über die Armut der Bevölkerung der Region sowie grauenerregende Ruinenmassen, die er in Drohobycˇ, dem Zentrum der galizischen Erdölindustrie, wahrnimmt, ist Döblin schockiert. Das Elend, die er sieht, verwandelt das Wohnviertel in eine »Kriegslandschaft«: Unterwärts des Marktes aber, jenseits des Unrats und des schauerlichen Turms gibt es Gassen. Es wird entsetzlich. Wer diese Gassen und »Häuser« nicht gesehen hat, weiß nicht, was Elend heißt. Sind nicht Häuser, sondern Häuserreste, Buden, Scheunen, Hütten. Bretterbelegte Fenster, glaslose Fenster. Häuser ohne geschlossenes Dach – verfallene Baracken, dicht gedrängt eine neben der anderen; manche mit Kellern, die ausgemauert sind, aber wie Höhlen erscheinen. Jedes Loch übervölkert. […] Die Häuser sollten längst demoliert werden; es war beraten, beschlossen. Der Krieg kam. Und da verwesen nun in den Löchern wirkliche Kriegsopfer: da donnern unhörbar weiter auf sie Kriegskanonen. Da haust in Unterständen vor unsichtbaren Fliegern eine jämmerliche Bevölkerung, massenhaft, verwahrlost, von Tag zu Tag sich durchschlagend.1266
1263 1264 1265 1266
Döblin 1968, S. 183. Ebd., S. 229. Ebd., S. 229–230. Ebd., S. 231.
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Das Galizien der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen
Wenn für Roth die Gegenüberstellung des Landes und der Stadt in Galizien im Allgemeinen bedeutsam ist und er über die »Bauern« insgesamt als von einer ausgebeuteten Klasse berichtet, dominiert bei Döblin die »postkoloniale Perspektive«. Sein scharfer Blick erkennt im »Dritten Raum« Galizien, wo es zum Konflikt zwischen der ukrainischen und der polnischen Kultur gekommen ist, die Spuren der Kolonisation: Die Provinz draußen, das östliche Galizien, soll nur wenig von Polen durchschossen sein; Beamte und Militär sind polnisch, das Volk ukrainisch, Dörfer und Städte auch jüdisch. Die Polen setzen polnische Kolonisatoren in das Land aus, Soldaten, Invalide. Die sollen polonisieren. Aber sie sind nicht viel und fühlen sich unglücklich in der Fremde.1267
Der Autor schlussfolgert hinsichtlich der Hybridität Ostgaliziens und die darin wurzelnden Auseinandersetzungen zwischen den Völkern: »Denn hier lassen sich Land und Volk räumlich nicht voneinander abgrenzen; sie sind ineinander verschoben.«1268 Unter der Ich-Perspektive betrachtet Döblin auch die Stadtlandschaft von Lemberg. Dabei spielt für ihn die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg nicht so eine große Rolle, wie für Roth; sein Blick ist auf die vor kurzem stattgefundenen Ereignisse und auf die aktuelle politische Situation gerichtet. Es fällt in der Roth’schen Reporttage bei der Darstellung Lembergs auf, dass er die ukrainischpolnischen Kämpfe um die Stadt 1918–1919 nur einmal kurz erwähnt: Hier hauste der Krieg, hier hausten seine Begleiterscheinungen, die schlimmer, weil sie dauerhafter waren. Um diese Stadt kämpften nach dem Zusammenbruch Polen und Ruthenen, und hier ereignete sich der Novemberpogrom. Und heute noch sieht Lemberg wie eine Etappe aus.1269
Im Buch von Döblin dagegen nehmen diese Kämpfe und der ihn begleitende Novemberpogrom eine der zentralen Stellen im Kapitel Lemberg ein. Mit scharfem Blick eines westlichen Intellektuellen verfolgt er die Geschichte der Beziehung der beiden Völker zueinander und analysiert die Ursachen, die zu diesen Kämpfen führten: Die Ukrainer kämpften schon zur Österreicherzeit gegen Polen. […] Sie haben am Kriegsende neun Monate vergeblich gegen Polen gekämpft, dann erhielt Polen das Recht von der Friedenskonferenz, das autonome Land vorläufig zu verwalten. Später sollte die Bevölkerung sich selbst entscheiden. Diese Entscheidung ist nicht angerufen worden. Die Botschafterkonferenz hat einfach 1923 Ostgalizien Polen zuerkannt.1270
1267 1268 1269 1270
Ebd., S. 192. Ebd. Roth 1990, S. 287. Döblin 1968, S. 193.
Alfred Döblin: Schilderung der entseelten Realität des Landes
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Die Juden, so Döblin, standen während dieser Kämpfe den beiden Parteien im Wege: Das Lemberger Pogrom ging einher mit der Ermordung von etwa siebzig Juden, Plünderung, Einäscherung zahlreicher Judenhäuser. Die Juden waren keine Kriegspartei, mischten sich in die ukrainisch-polnische Debatte nicht ein. Vermutlich geht es ihnen, argumentieren sie, bei jeder Entscheidung schlecht.1271
Die Reflexionen über die historischen Tatsachen werden von der Beschreibung der »steinernen Zeugen vom Kampf der Polen und Ukrainer«1272 begleitet. Der Autor geht durch die Straßen des jüdischen Viertels, schaut die Ruinen an, gestaltet das Wahrgenommene als einen Erlebensraum: Stadtbevölkerung beteiligte sich. Die Schar der Toten liegt auf dem jüdischen Friedhof. Man kann ihre Gräber sehen. Aber ein anderes Denkmal ist in der Stadt sichtbar, eins, wie es schrecklicher und erregender nirgends errichtet wurde: die eingeäscherten Häuser. Sie stehen noch wie damals, als sie Feuer und Plünderung losließ.1273
Die Schilderung des visuell wahrgenommenen Ruinenraumes der Lemberger Judenstadt besteht bei Döblin aus mehreren prägnanten Details, die das Phänomen der Verwesung begleiten: Neben einem einstöckigen Backsteinbau ist ein Haus verwüstet zusammengebrochen. Durch Feuer oder andere Gewalt ist es demoliert bis auf die roten Grundmauern; Mörtel und Schutt zwischen ihnen. Das Nachbarhaus zertrümmert im Oberteil; im Parterre sind noch die Läden bewohnt. Zwei erhaltene Häuser und wieder ein klägliches mit zerrissenem Obergeschoß. Mächtige Querbalken sind in Flammen einiger Häuser eingepflanzt, um sie vor Einsturz zu schützen. Ein schmales zweistöckiges Haus treffe ich, ist innen völlig ausgebrannt, vor sechs Jahren. Es hat Risse in der Front, zeigt wie gebrochene Augen seine zersprungenen Scheiben. All dies lässt man verwesen an der offenen Luft.1274
Schlüsselwörter und Wendungen wie »Brandruinen«, »Riesenschutthaufen«, »Zimmerhöhlen«, »gewesene Ecken«, »offenes Häusergrab«, »wüste grauenerregende Ruinenmassen«, »ein Einbruch, als hätte Bombardement gewütet«, »Trümmerhaufen, Trümmerhaufen«1275 – dies alles zeugt vom stattgefundenen Pogrom. Döblins Erklärung: »Es war Krieg, bestialer Naturzustand«1276. So kommt es im Text von Döblin auch zur Darstellung einer Kriegslandschaft, obwohl sie sich, im Unterschied zu Roth, auf andere historische Ereignisse bezieht. Für beide Autoren wird aber ein gemeinsamer Topos wichtig, und zwar der 1271 1272 1273 1274 1275 1276
Ebd., S. 199–200. Ebd., S. 201. Ebd., S. 202. Ebd., S. 204. Ebd., S. 205. Ebd., S. 203.
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Das Galizien der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen
des Friedhofes (gemeint ist ein konkreter Ort, der bekannte Lytschakiv-Friedhof im Lemberg), der hier symbolträchtig wird. Der »Leichenzug«, den Roth im letzten Teil seiner Reportage über die Galizien-Reise, Die Krüppel, beschreibt, ist eine groteske Darstellung in Pieter Bruegels Manier: Hinter den Lahmen gingen die Blinden, gingen, tappten sich vorwärts in einer Welt aus schwarzem Samt, ein Blinder war dem anderen Führer, alle vier in einer Reihe hielten sich an den Händen fest, sie konnten nicht fehlgehen, sie hatten keinen Zusammenstoß zu fürchten, denn der Tote und der Tod ebneten ihnen den Weg.1277
Diese Episode kann als eine zugespitzte Schilderung der Folgen des Ersten Weltkrieges, aber auch als eine Warnung für die Zukunft gelesen werden. Dabei betont Roth die Gleichgültigkeit der »zuschauenden Menschen«.1278 Sie »blieben stehen, und sahen zu und rührten sich nicht«.1279 Entsprechend seinem semiotischen Raummodell mit der binären Opposition »oben-unten« gestaltet Roth im letzten Absatz der Reportage folgende Szene: Während die Prozession Richtung Friedhof weiterzieht, und die Passanten sie stehend beobachten, fängt es an zu regnen: Es begann zu regnen, und niemand spannte den Regenschirm auf, obwohl viele mit Schirmen ausgerüstet waren. Es tropfte stärker, ein Wind erhob sich, und über dem Leichenzug, knapp vor dem Knaben im weißen Hemd, der das mattschimmernde Metallkreuz trug, segelte eine dunkelblaue Wolke, zackig, wuchtig und schwer, und streckte vorne einen Zipfel aus wie einen zerfetzten Zeigefinger, um den Krüppeln den Weg nach dem Friedhof zu weisen.1280
Der Regen, der »Himmel mit der Erde« verbindet, schafft hier einen bedrohlichen Raum, in dem die Wolke, die an die Verkrüppelungen erinnert, die jeden Krieg begleiten, den Knaben, als Symbol der nächsten Generation, umhüllt. Der Knabe »im weißen Hemd« trägt das Kreuz – wohl eine Andeutung an Christus? Die Darstellung des Lemberger Friedhofes spielt auch bei Döblin eine große Rolle. Er beschreibt ihn am Tage der Allerheiligen-Allerseelen, und zwar so, wie er den Raum des Friedhofes wahrnimmt. Am Eingang zum Friedhof sind auch Bettler, Blinde und Verkrüppelte zu sehen. Der Erlebensraum, den der Autor im Text gestaltet, wirkt aber unerwartet: Es ist der Ort des Friedens: Dieser Raum wird gesehen, gehört und gefühlt. Auch hier brennt das Feuer, aber nicht des gewalttätigen Brandes, sondern des Andenkens. Es ist »ein sanfter Opferbrandt«1281:
1277 1278 1279 1280 1281
Roth 1990, S. 290. Ebd., 291. Ebd. Ebd., S. 292. Döblin 1968, S. 212.
Polyglotte Farbigkeit Lembergs
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Der Friedhof: ein dichter herrlicher Laubwald. Wunderbar dichte Baumkronen, noch viele voller bunter Blätter. Und schon am Eingang erheben sich die Grabkapellen, zu denen Stufen hinaufführen. Da gehen welche hinauf, zu den Kerzen, die darin brennen; ganz hell ist es, friedlich, warm, feierlich. Und überall, auf den Grabhügeln, in den Kapellen, zwischen den Stämmen, funkeln die kleinen, zarten Kerzen, die roten Flämmchen, gegen die die trübe Dämmerung andrängt, ohne sie zu erreichen. Laub, gelb, braun, rot, ist dicht geschüttet über die Gräber gefallen.1282
Auch hier regnet es. Der Regen auf dem Friedhof in der Döblin’schen Darstellung wirkt aber anders als bei Roth: Er tropft auf die Menschen »unter dem langen Zelt der schwarzen Regenschirme«,1283 auf die Gräber. Durch den Regen blinzeln die Kerzen. Dieser Erlebensraum des Friedhofs wird bei Döblin mit dem Raum der Stadt der Lebenden konfrontiert, der mit Kämpfen und Pogromen erfüllt ist, die Ruinen hinterlassen. Erst im Raum des Friedhofes findet der Schriftsteller die wahre Menschlichkeit: Wellig ist der Friedhof; schön die Fläche voller Grün und Bäume. Hügelig geht es auf und ab; von oben und unten blinzeln durch den Regen die Kerzen. Der Regen löscht viele aus; vor den großen Gräbern aber stehen Knaben, die sie wieder anzünden. Und wie ich kreuz und quer gehe, durch Laub, Regen, tönt Singen. Und man steht mit abgezogenem Hut um ein Grab; ein Männerchor singt ein lateinisches Lied: »Requiescat«, höre ich. So beruhigend schallt es unter den Baumkronen im Regen. So beruhigend alles. Sie schmücken ihre Gräber, zünden Lichter an, als wenn sie ihr Haus schmücken, blicken in die Flämmchen, murmeln ein Gebet, sprechen miteinander, richten die Blumen. Und gehen langsam ihres Wegs, wieder in die Menschenmassen, an Schutzleuten, wassertriefenden Bettlern vorbei, in die erleuchteten Straßen hinein.1284
Polyglotte Farbigkeit Lembergs Beim Vergleich der beiden Texte gibt es noch einen gemeinsamen Ort in der Topographie der Stadt, der für beide Autoren wichtig ist und ihre Stellungsname bezüglich mehrerer Fragen zum Ausdruck bringt: Er bezieht sich auf die zentrale Straße von Lemberg. Im zweiten Teil der Roth’schen Reportage, Lemberg, die Stadt, wird durch diesen historisch aufgeladenen Chronotopos, ähnlich wie im Fall des räumlichen Modells Galizien am Anfang des ersten Teiles der Reportage, die Vergangenheit und die Gegenwart der galizischen Metropole gegenübergestellt. Der Autor zählt die für Galizien typischen drei Sprachen auf, die man auf dieser Straße hörte und hört; die Reihenfolge der Aufzählung verhilft dabei zu erschließen, dass in der Stadt andere, neue Machtverhältnisse herrschen: 1282 Ebd., S. 211. 1283 Ebd. 1284 Ebd., S. 212.
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Das Galizien der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen
Die Hauptstraße hieß einmal »Karl-Ludwig-Straße«, aus Loyalität gegenüber dem Herrscherhause. Heute heißt sie die »Straße der Legionen«. Es sind die polnischen Legionen gemeint. Hier war einmal der Korso der österreichischen Offiziere. Heute spazieren die polnischen Offiziere. Hier hörte man immer Deutsch, Polnisch, Ruthenisch. Man spricht heute Polnisch, Deutsch und Ruthenisch. In der Nähe des Theaters, das am unteren Ende die Straße abgrenzt, sprechen die Menschen Jiddisch. Immer sprachen sie so in dieser Gegend. Sie werden wahrscheinlich niemals anders reden.1285
Indem Roth die Vielsprachigkeit von Lemberg hervorhebt, seine »polyglotte Farbigkeit«1286 und kulturelle Vermischung, betont er die Hybridität des Kulturraumes der galizischen Metropole. Die nationale und sprachliche Vielfältigkeit werden für ihn zur politischen Stärke und kulturellen Produktivität: »In diesem Sinn ist Lemberg eine Bereicherung des polnischen Staates. Es ist ein bunter Fleck im Osten Europas, dort, wo es noch lange nicht anfängt, bunt zu werden.«1287 In dieser Vermischung sieht Roth eine besondere Fruchtbarkeit und Vielfältigkeit, die er räumlich, als die »Tendenz ins Weite« gestaltet: Die Stadt demokratisiert, vereinfacht, vermenschlicht, und es scheint, dass diese Eigenschaften mit ihren kosmopolitischen Neigungen zusammenhängen. Die Tendenz ins Weite ist immer gleichzeitig ein Wille zur selbstverständlichen Sachlichkeit. Man kann nicht feierlich sein, wenn man vielfältig ist.1288
Die Lemberger Hauptstraße, wie sie Roth darstellt, verhilft ihm, mit dieser Stadt seine Utopie des Vielvölkerstaates zu verbinden. Diese Utopie bezieht sich aber bei ihm auf die österreichische Vergangenheit; da beginnt er, die galizische Metropole, wie auch später Galizien selbst, zu mythologisieren: »Es ist die Stadt der verwischten Grenzen. Der östlichste A u s l ä u f e r der alten kaiserlich und königlichen Welt. Hinter Lemberg beginnt Russland, eine andere We l t . «1289 Roths Begeisterung für den von ihm hervorgebrachten Mythos drückt sein euphorischer Ausruf aus: »Wenn der liebe Gott nach Lemberg käme, er ginge zu Fuß durch die ›Straße der Legionen‹«.1290 Die zurückgewandte Utopie, die seine Nostalgie und sein Streben nach der Möglichkeit des Zusammenlebens verschiedener Völker und dem gegenseitigen kulturellen Kontakt zwischen ihnen widerspiegelt, wird er später den Raumdeutungen der nationalsozialistischen Ideologen gegenüberstellen. Der Chronotopos der Straße der Legionow nimmt auch im Lemberger-Text von Döblin einen geräumigen Platz ein. Auch hier ist für ihn die Wahrnehmung
1285 1286 1287 1288 1289 1290
Roth 1990, S. 287. Ebd. Ebd., S. 287. Ebd., S. 288. Ebd., S. 289. Ebd., S. 288.
Polyglotte Farbigkeit Lembergs
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aus der Ich-Perspektive wichtig: »Ich war Auge und Ohr und schweigender Hintergrund«.1291 Der Autor, der abends durch die Straße flaniert, bewundert die »enorme Lichtfülle, Taghelle«; »die strahlenden und mondänen Schaufenster«.1292 Er betrachtet den Schwarm von Menschen und notiert in der Robert Walser’schen Manier: »Große schlanke Polen sind es, junge dunkle Gesichter, in modern geschnittenen Mänteln, spitzen Schuhen. […] Damen gehen vorbei, weich und nett, fraulich; österreichischer Art«.1293 Der Autor gestattet sich auch pikante Bemerkungen: »Das ist ein merkwürdiges Ding, das mir vor Augen tritt: die Russen haben einen aktiven Frauentyp geschaffen, die Österreicher dies gezähmte unansehnliche Haustierchen, Susannchen im Pelz«.1294 Wie auch bei Roth fasziniert den Autor der Anblick der Lemberger Hauptpromenade; sie verwandelt sich für ihn in ein homogenes räumliches Phänomen: »Eine Schaufreude, Genuss durch die Augen: die Erregung fließt mit Blicken zu und strömt zur anderen Seite. In einem wirklichen Spannungsstrom schwimmen diese Menschen; jeder Zukommende verliert sein Persönliches, unterhält das Strömen«.1295 In diesem Raum ragen die Gestalten der Juden heraus, »in Gruppen und Haufen«,1296 die meisten von ihnen sind europäisiert. Dem scharfen Blick des Schriftstellers entgeht die gegenwärtige wirtschaftliche Situation der Juden in der galizischen Gesellschaft nicht; er begründet sie historisch und sieht die Gefahr, von der sie trächtig ist: Erschütternd wirkt die Judenschaft der Legionow auf mich. Da finde ich die lebendigen gespannten Mienen, die suchenden Blicke, das Herumhorchen – die Art der Schacherer, Schieber, Spekulanten. In ganzen Scharen, in hellen Haufen, als ganzes Regiment stehen sie da. Ein Grauen ist diese Straße. Sie fordert heraus wie eine einzige schwarze Börse. Wer sie durchgeht, weiß, was Lufthandel, unproduktive Arbeit ist und was die feindseligen Worte von Parasiten, Schmarotzer bedeuten. Niemand, der es mit diesem Volk gut meint, wird versuchen, hier etwas zu beschönigen. Daß dies entstehen konnte, zeigt, wie schief, unglücklich und gefährlich für sich und seine Umgebung das Judenvolk wirtschaftlich liegt. Das ist der Effekt einer jahrhundertelangen Politik. Eine Sackgasse.1297
Wie Walter Muschg schreibt, habe der Schriftsteller in Polen die wirtschaftlich und politisch gefährliche Situation der Juden nicht übersehen.1298 Als Bestätigung von Döblins Gedanken erscheint das andere Bild der Lemberger Promenade, das der Schriftsteller gestaltet, nachdem er die Ruinen der jüdischen Häuser nach 1291 1292 1293 1294 1295 1296 1297 1298
Döblin 1968, S. 186. Ebd., S.185. Ebd. Ebd. Ebd., S. 186. Ebd. Ebd., S. 189. Muschg 1968, S. 364.
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Das Galizien der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen
dem Novemberpogrom gesehen hatte. Das visuell und akustisch wahrgenommene Raumphänomen der Straße fängt an, anders zu wirken; entscheidend werden hier Erlebensmomente des Raumes in einer neuen Situation, die von der Erfahrung des kurz zuvor Gesehenen bestimmt wird. Die herbstliche Stimmung, die hier herrscht, wird durch die »ungeheure Krähenzüge«, die »aus der Luft kommen«,1299 gestört. Wenn im Roth’schen Text die Raben zum Wahrzeichen der galizischen Landschaft werden und auf die groteske Weise an den vergangenen Krieg erinnern: »Raben kreisen über den Wäldern. Sie waren hier immer zu Hause. Seit dem Krieg sind sie üppig geworden.«,1300 so entstellt bei Döblin der Krähenschwarm den »residenzlichen«1301 Raum der Promenade visuell und akustisch, erfüllt ihn mit dem Gefühl der Bedrohung: Ganz schwarz wird es oben, sie erheben ein heftiges Geschrei. Ich habe, wie sie in den kolossalen Haufen anschwärmen, das Gefühl, es ist Ungeziefer. So dicht, beängstigend nahen sie. Und wenn ein Einzeltier sich ablöst und noch näher kommt, sehe ich nicht die Krähe. Dies Wesen mit ausgebreiteten Flügeln, schwarz, das sich gleich in den Zug mischt, aus dem dämmrigen Himmel herabsaust, ist etwas Unheimliches von Tier, ist Tier, Lebendigbewegliches, sich mir Näherndes, mich Anfallendes, Gefahrvolles. Wer schickt das gegen mich her? Jetzt schwimmen sie zu Hunderten nebeneinander, die schwarzen Körper, wie in einer durchsichtigen Gallerte. In Massen steigen sie auf und ab. Wenige Menschen auf der Promenade blicken hoch.1302
Und wenn Roth nur fast nebenbei erwähnt, dass in der Nähe des Theaters, das am unteren Ende die Straße abgrenzt, ein Judenviertel anfängt,1303 schenkt Döblin der Beschreibung des gleichen Ortes viel mehr Aufmerksamkeit. Hinter dem Stadttheater fängt die Ruinenlandschaft der Judenstadt an: Hinter dem Stadttheater, der gutgepflasterten, gutgepflegten Legionow mit ihren eleganten Geschäften, den Denkmälern, den Autos, elektrischen Bogenlampen, Hotels, fängt ein Morast an. Meine Stiefel überziehen sich mit Lehm. Dies ist, mit einer kribbelnden Masse von Händlern, Kleinhändlern, Kleinsthändlern, Herumlungerern, Schnorrern, die Judenstadt. Der Krakowskiplatz erweitert sich; er steht voller Holzbuden. Rechts nimmt seine Seite ein repräsentatives weißes Haus ein mit großen gebogenen Fenstern. Treppen führen hinauf. Und gegenüber die ersten Ruinen.1304
Unmittelbar nach der Darstellung der zentralen Straße und des daran angrenzenden Panoramas der Zerstörung charakterisiert Döblin den aktuellen Zustand der Beziehungen der drei Völker, die Lemberg bewohnen. Eine präzise Analyse des Wahrgenommenen gestattet dem Autor, den Lemberger Kulturraum und 1299 1300 1301 1302 1303 1304
Döblin 1968, S. 203. Roth 1990, S. 284. Döblin 1968, S. 203. Ebd. Roth 1990, S. 287. Döblin 1968, S. 204.
Polyglotte Farbigkeit Lembergs
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seine Aneignung als einen Interaktions- und Konfliktraum im Kontakt der Kulturen – als »Dritten Raum« also – zu gestalten. Am Ort, wo Roth seine zurückgewandte Utopie platziert, erkennt Döblin die wahrhafte Konstellation des Zusammenlebens der drei Völker Galiziens der Zwischenkriegszeit: So leben die drei Völker in Lemberg zusammen, nebeneinander; Polen, die Stadt beherrschend, aufmerksam, lebendig, die Besitzer, – Juden, vielspältig, versunken und abweisend, oder misstrauisch, sich wehrend, rege, zum Leben erwacht, – Ukrainer, unsichtbar, lautlos hier und dort, zurückhaltend, jähzornig, gefährlich, trauernd, die Spannung von Verschwörern und Aufrührern um sich.1305
Anstelle von Roths Wunschbild der »Stadt der verwischten Grenzen«1306 und der Welt der kulturellen Vielfältigkeit resümiert Döblin wie folgt: »der Gedanke ›Vereinigte Staaten von Europa‹ klingt utopisch […]«1307 Bemerkenswert ist dabei, dass er diese Reflexion einem »alten feinen Grafen, Statthalter im österreichischen Polen«1308 in den Mund legt. Diese Tatsache wirkt prägnant, weil gerade die Gestalten der polnischen Grafen der Habsburger Zeit bei Roth oft zum Sprachrohr seiner Verklärung der monarchistischen Vergangenheit wurden. Man bedenke nur den Grafen Chojnicki vom Radetzkymarsch oder den Grafen Morstin aus der Büste des Kaisers. Wie für Roth wurde für Döblin zum Ergebnis der Reise nach Polen und Galizien die Besinnung auf die Herkunft und das Bekenntnis zu ihr. Nach dieser Reise beginnt in seinem Schaffen eine neue Stufe. Schlüsselwörter der Szene, die Beschreibung der Reise abschließt, sind »die Natur«, »die Seele«, »der Geist« und »der Wille des Menschen«.1309 Relevant ist dabei, dass sie am Meer stattfindet, wo der Autor eine wandernde einsame Frau in langem Trauerschleier betrachtet – ein räumliches Bild der Klärung, ein Erlebensraum des Schriftstellers: Sie wandert, ohne vom Sand aufzuschauen, an mir vorbei, nach der Brücke. Die Sonne leuchtet ganz hell. Das Wasser beginnt zu schillern, spielt mit Farben. Wunderbar mischen sich die Farben, gelbliche Streifen, ein milchiges Violett, zitternde rötliche Töne, und hinten verblaut alles. Bedenke jetzt, liebes Herz, was das Stärkste auf dieser Welt ist. Du bist am Meer; die Reise durch das fremde Land ist zu Ende.1310
1305 1306 1307 1308 1309 1310
Ebd., S. 205. Roth 1990, S. 289. Döblin 1968, S. 217. Ebd., S. 216. Ebd., S. 344. Ebd., S. 344.
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Das Galizien der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen
Schlussfolgerung So kann man schlussfolgern, dass die vergleichende Analyse der Darstellung Galiziens der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen von Joseph Roth und Alfred Döblin mit Hilfe der raumbezogenen Begriffe folglich die politischen, sozialen und kulturellen Einschreibungen zu erkennen ermöglicht, mit denen dieser Raum aufgeladen war. Die kognitive Kartierung, die beide Texte kennzeichnet, verweist auf Schnittstellen zwischen Raum und Zeit. Die Hinwendung zum Chronotopos des Weges, der Straße und der Begegnung, der für Reisebeschreibungen typisch ist, erwies sich bei der Gestaltung des räumlichen Modells Galiziens, wie es im Fall von Joseph Roth war, oder des aus der IchPerspektive wahrgenommenen Erlebensraumes im narrativen Verfahren von Alfred Döblin, als besonders produktiv. Die durchgeführte Analyse der Roth’schen Reportage Reise durch Galizien vom Standpunkt der Raumsemiotik lässt die Schlussfolgerung zu, dass Galizien in seiner Darstellung ein kulturell heterogener und zugleich hybrider Raum ist, wo das Gedächtnis an den Ersten Weltkrieg und den damit verbundenen Untergang des Habsburger Vielvölkerstaates eine besondere Rolle spielt. Roths kognitive Karte Galiziens verwandelt sich in die zurückgewandte Utopie, die ihn dazu veranlasst, die Geschichte zu mythologisieren. Nach dieser Reise nimmt Galizien in seinem literarischen Schaffen einen der wichtigsten Plätze ein. Die Methoden der Phänomenologie des Raumes machten es dagegen möglich, die entsprechenden Textstellen aus dem Buch von Alfred Döblin Reise in Polen zu analysieren und die besondere Manier dieses Autors, den Raum wahrzunehmen und narrativ zu erschließen, zu verfolgen. Wenn Galizien bei ihm auch als heterogener und hybrider Kulturraum gestaltet wird, steht doch im Zentrum der Aufmerksamkeit des Autors seine Wahrnehmung als einen Interaktions- und Konfliktraum. Diese Tatsache ermöglicht ihm, seine eigene kognitive Karte Galiziens zu zeichnen, in der sich galizische Geschichte und galizische Gegenwart widerspiegeln. Zum wichtigen Ergebnis der Reise wird für Döblin das Bekenntnis zu seiner Herkunft – die Besinnung, die eine neue Etappe in seinem Schaffen markiert. Hinsichtlich der genannten Themen und Leitmotive der verglichenen Beschreibungen sowie der in ihnen vorkommenden, sich widerhallartig widerholenden Stichwörter und Wendungen, die als semantische Codes fungieren, kann man folglich von ihrer Zugehörigkeit zu den zwei Schichten des »Galizischen Textes« sprechen, nämlich zu den Reiseberichten über Galizien als einer besonderen Gattung, für die die distanzierte Wahrnehmung – traditioneller »Blick aus dem Fenster« – typisch ist sowie zu solchen, die sich auf Galizien als eine Kriegslandschaft beziehen. Diese Themen und Leitmotive ziehen sich quer durch die analysierten Texte und widerspiegeln einen semantischen Raum, der chronologisch bestimmt ist, und zwar – Galizien nach dem Zerfall der Donaumo-
Literaturverzeichnis
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narchie und zur Zeit des Etablierens der polnischen Verwaltung. Einerseits geht es in ihnen um einen empirischen Raum, in dem der Erste Weltkrieg und die folgenden Machkämpfe ihre Spuren hinterlassen haben, kodiert durch solche Stichwörter und Wendungen wie »Schlachtfeld Galizien«, »Brandruinen«, »Riesenschutthaufen«, »wüste grauenerregende Ruinenmassen«, »ein Einbruch, als hätte Bombardement gewütet«, »Trümmerhaufen«, »Friedhof«, »Raben« als Erinnerung an den Krieg und die »Krähenschwärme«, die die Bedrohung suggerieren. Döblins Definition: »Es war Krieg, bestialer Naturzustand« korrespondiert dabei mit den Kurt Lewins Überlegungen über die »Behandlung der Gefechtsdinge« inklusive Menschen. Andererseits wird in den beiden Texten ein überempirischer Raum geschaffen, der zum Bereich der Inhalte und Ideen gehört. Unter den Stichwörtern und Wendungen, die zu einem Zeichensystem gehören und in beiden Texten realisiert wurden, sind solche, die den Sozial- und Kulturraum Galizien kognitiv kartieren. Es sind, zum Beispiel, solche typische »galizische« Elemente, wie Ost-West Gegenüberstellung; die ukrainisch-polnisch-jüdische »Triade« Galiziens; »polyglotte Farbigkeit« als Ausdruck der Hybridität seines Kulturraumes, »verwischte Grenzen« versus Utopie der »Vereinigten Staaten von Europa«. Auf diese Weise komplementieren die Reisebeschreibungen von Joseph Roth und Alfred Döblin »durch« bzw. »in« Galizien den mehrschichtigen »Galizischen Text« als ein gemeinsames narratives Konstrukt.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Döblin, Alfred: Im Buch – Zu Haus – Auf der Straße, Berlin: Fischer 1928. Döblin, Alfred: Reise in Polen, Olten und Freiburg im Breisgau: Walter 1968. Döblin, Alfred: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, Frankfurt a.M.: Knecht 1949. Roth, Joseph: Reise durch Galizien, in: Roth, Joseph: Werke. Das journalistische Werk: 1924–1928. Bd. 2, Köln: Kiepenheuer und Witsch 1990/d [1924], S. 281–292.
Sekundärliteratur Bachmann-Medick: Doris, Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman – Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a. M.: Fischer 1989. Goetsch, Paul: Funktion von »Hybridität« in der postkolonialen Theorie, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 1997, 30/2, S. 135–145.
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Das Galizien der Zwischenkriegszeit in den literarischen Reisebeschreibungen
Lotman, Jurij: Das Problem des künstlerischen Raums in Gogols Prosa, in: Eimermacher, Karl (Hg.): Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronenberg Taunus: Scriptor 1974, S. 200–271. Lotman, Jurij: Problema chudozˇestvennogo prostranstva v prose Gogolja, in: Lotman, Jurij, Izbrannyje stat’ji, Tallin: Aleksandra 1992, S. 413–447. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare gefolgt von Arbeitsnotizen, München: Fink 2004. Muschg, Walter: Nachwort des Herausgebers, in: Döblin, Alfred: Reise in Polen, Olten/ Freiburg im Breisgau: Walter 1968. Sternburg, Wilhelm: Joseph Roth. Eine Biographie, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2009.
V. Natur-, Sozial- und Kulturraum Galizien als Gedächtnisraum
Landschaft der Er-Innerung: »Das ganz persönliche Galizien« der Phantasie
Erinnerungen an Galizien kennzeichnen Erfahrungen, die sich in der kindlichen Psyche unbewusst einprägt haben. Viele davon waren später vom Trauma der gesellschaftlichen Änderungen, der Emigration oder des Exils gedämpft oder sogar verschoben. Im Fall der Autoren aber, für die Galizien zum Herkunftsland wurde, verwandelte sich dieser Landstrich in eine Art »geistige Heimat«, die ihr ganzes Schaffen begleitete. Dieser heterogene sowie hybride Kulturraum brachte eine außerordentlich kreative Produktivität hervor, die dazu beitrug, dass die Erinnerung an Galizien für das Schaffen mehrerer Künstler, die hier die Welt erblickt haben und ihre Jugendjahre verbrachten, unentbehrlich wurde. Sie wurden mit der Zeit aus der Perspektive der Sehnsucht zu einer unerschöpflichen Schaffensquelle. Als Phänomene des inneren Lebens haben diese Erinnerungen in Form von Bildern, Motiven und Symbolen, deren poetische Funktionen eine besondere Aussagekraft und Relevanz haben, in den Texten ihren Niederschlag gefunden. Diese Phänomene sind zu Erinnerungsorten geworden, zu mehreren Topoi der galizischen Literatur. »Galizien als eine verlorengegangene Heimat«: Dieser Topos begleitet neben den anderen den »Galizischen Text«, der mehr als zwei Jahrhunderte in den Sprachen der größeren Volksgruppen Galiziens seinen Niederschlag fand. Dazu gibt es bestimmte sozial-historische, aber auch geistesgeschichtliche Gründe. Die am weitesten entlegene nordöstliche Provinz des Habsburger Reiches gehörte zu den ärmsten neu erworbenen Kronländern der Monarchie. Wirtschaftlich rückständig, stellte diese Grenzregion einen typischen Landstrich dar, aus dem die Einheimischen auszureisen bestrebt waren. Galizien war von mehreren Emigrationswellen heimgesucht, das Bestreben, es zu verlassen, um auf der Suche nach dem besseren Leben in die »weite, schöne Welt« zu kommen, begleitet mehrere Biographien derjenigen, derer Schicksal es war, hier geboren zu werden. Die Frage der Auswanderung wurde besonders akut während der beiden Weltkriege, als Galizien sich in den Schauplatz der großen Schlachten verwandelte. Als aber nach 1918 die Habsburger Provinz als politische und administrative Einheit zu bestehen aufhörte, blieb Galizien eine »Welt für sich« noch
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während der ganzen Zwischenkriegszeit bestehen, obwohl von neuartigen sozialen und politischen Prozessen stark erschüttert. Die endgültige Auflösung brachte der Zweite Weltkrieg mit sich: Infolge des Zusammenstoßes der beiden totalitären Mächte – der sowjetischen und der nationalsozialistischen – wurde die altgalizische Welt endgültig vernichtet. Flucht und Emigration aus Galizien, verursacht durch Besatzung, Vernichtung, Säuberungen und Deportationen, waren besonders traumatisch: Grund dafür waren die Bedrohung und die Angst. Eine andere Form der Bedrohung erlebten jene, die in Galizien zurück geblieben waren. Für alle diejenigen aber, die aus Galizien stammten, die hier ihre Kindheit und Jugend verbrachten, blieb es als eine Erinnerungslandschaft weiter bestehen. Unter den Erinnerungen, die uns immer begleiten, nehmen jene an die Kindheit eine besondere Stelle ein. Die Zeit der Kindheit wird in der dynamischen Konstruktion des Erinnerns verdichtet, ihr Flug wird aufgehoben, sie wird, wie Gaston Bachelard betont, vom Raum aufbewahrt: »In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da.«1311 »Der Kalender des inneren Lebens«, fügt er hinzu, ließe sich nur in seiner Bilderwelt aufstellen, im systematischen »psychologischen Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens.«1312 Zu ihnen gehören auch solche, die während der imaginären Heimkehr in die Herkunftslandschaft wiedergefunden werden. Die Heimkehr in die heimatliche Landschaft vollzieht sich auf den Erinnerungsspuren, dank deren die entsprechenden Raumeinschreibungen entstehen, die ihr einen besonderen Charakter verleihen, da sie mit dem inneren Leben in eine reversible Beziehung treten. Denn, wie der gegenwärtige Autor aus dem ukrainischen Teil des heutigen Galiziens, Taras Prochas’ko, schreibt, wird: »Der Gedanke […] aus der Landschaft konstruiert, die für ihn ursprünglich ist. Und umgekehrt.«1313 Karl Schlögel bezeichnet solche Landschaften in seinem Buch mit dem »bachelardschen« Titel Im Raume lesen wir die Zeit als »Landschaften im Kopf«. Es seien laut ihm solche Landschaften, die man nicht vermessen kann, »jedenfalls nicht mit den Methoden der Astronomie oder Trigonometrie.«1314 Sie seien aber, betont Schlögel, nicht weniger genau und nicht weniger wirklich. Dabei sind es Landschaften des inneren Lebens des Menschen; deswegen sollte man sie nicht nur mit kognitiven Prozessen in Beziehung bringen, sondern auch mit Gefühlen. Und wenn beim Abrufen von solchen Landschaften eine der wichtigsten Rollen der Prozess des Er-Innerns – des Platzierens in der inneren Welt des Menschen – spielt, so geht es gerade um den »Bereich des Herzens«, um die Emotion. Besonders subtil wird der Sinn des Begriffes »Er-Innerung« mit dem alten italie1311 Bachelard 2006, S. 167. 1312 Ebd. 1313 Prochas’ko 2006, S. 40: »Dumka konstrujujet’sja z toho landsˇaftu, jakyj je pervynnym. I navpaky.« 1314 Schlögel 2003, S. 243.
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nischen Wort »ricordanza« wiedergegeben, das Erinnerung und Gedächtnis direkt mit »dem Herzen« verbindet.1315 In den Überlegungen von Karl Schlögel kommt diese Nuance auch vor, wenn er weiter schreibt: Sie [die inneren Landschaften – L.C.] bestehen aus einem anderen Material, aus Bildern, Erinnerungen, Gerüchen, aber sind deswegen nicht weniger eindrücklich. Sie haben sich so sehr eingeprägt, dass ihnen nicht einmal die Zeit, der sonst alles zum Opfer fällt, etwas anhaben kann.1316
Laut Schlögel sind es vor allem imaginäre, virtuelle Landschaften – »Erinnerungs- oder Gedächtnisräume, Landschaften des Begehrens und moralische Landschaften.«1317 Ein anderer Zusammenhang, betont er, der sich in diesen Landschaften niederschlägt, sei die Heimat – »vielleicht die intimste und zugleich am meisten dem Öffentlichen zugängliche Erfahrung« –, die im Fall des Verlorenseins »zur selbständiger Größe«1318 wird. Im Unterschied zum Gedächtnis, das einen kollektiven und kulturell kodierten Charakter hat, sind Erinnerungen äußerst individuell geprägt.1319 Deswegen könnten sie als Bestandteil des Wesens jeder einzelnen menschlichen Existenz vom Standpunkt der phänomenologischen Form des Philosophierens, der die eigene Erfahrung des Menschen zugrunde liegt, gedeutet werden. Zu den Konstituenten des menschlichen Da-Seins gehört dabei neben der Wahrnehmung und der Leiblichkeit insbesondere die Räumlichkeit. Es geht hier nicht um einen Raum im Sinne der Newton’schen Physik, sondern um den Erlebensraum der Phänomenologie von Edmund Husserl. In seinem philosophischen System betont er den »Ort« der Geschichtlichkeit der Ideen, den er »unsere Erde«1320 nennt. Wie Stefan Günzel kommentiert,1321 meint Husserl »dies nicht im Sinne einer nationalistischen Idee von Heimat, sondern, […] als transzendentale ›Boden-Form‹«.1322 Für den Philosophen sei die Erfahrung des »Bodens« eine Basis für den Handlungsraum des Menschen, die Bedingung der leiblichen Wahrnehmung des Raumes oder des räumlichen Erlebens, überall, wo ein Mensch ist und sich bewegt.1323 Die Erde sollte nach Husserl als »Urarche« angesehen werden. Wie Noahs Arche sind Räume in diesem Sinn zu Schutzzonen geworden. »Ebenso bietet die leibhaft verinnerlichte Form des Bodens nach Husserl Schutz: Sie schütz durch einen 1315 Diese Überlegungen verdanke ich den Gesprächen mit Peter Stöger (Universität Innsbruck). 1316 Schlögel 2003, S. 243. 1317 Ebd., S. 245. 1318 Ebd., S. 246. 1319 Assmann 2011, S. 182–183. 1320 Husserl 1999, S. 110. 1321 Günzel 2006, S. 110. 1322 Ebd.; Vgl. Husserl 1999, S. 153. 1323 Günzel 2006, S. 110.
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festen Bezugspunkt vor der Orientierungslosigkeit« – hebt Günzel hervor.1324 Der Erdboden als das konstitutive »Unten« der phänomenalen Erlebensstruktur von Raum sei ein Zentrum, welches jeder Leib mit sich trägt. Zum Ausgangspunkt könnte hier die »Heimstätte« werden, dabei hat jede »ihre Historizität, vom jeweiligen Ich aus, das in ihr beheimatet ist«.1325 Husserl erklärt das anhand eines Beispiels: »Bin ich als Schifferkind geboren, so habe ich ein Stück Entwicklung auf dem Schiff, und das wäre aber nicht als Schiff für mich charakterisiert in Bezug zur Erde […] – es wäre selbst meine ›Erde‹, meine Urheimat«.1326 Die Heimstätte könne gewechselt werden, allgemein gesprochen bleibt aber, so Husserl, dass »jedes Ich eine Urheimat hat«.1327 In diesem Sinne wird Galizien für diejenige, die in ihm die Welt erblickt haben und für die es zur leibhaft verinnerlichten Form des Bodens wurde, ihre Urheimat, ihre Heimstätte, ihre »rettende Arche«. Ein fester Bezug zu Galizien sollte nach seinem freiwilligen oder gezwungenen Verlassen vor der späteren Orientierungslosigkeit in der Welt schützen. Galizien wurde für »seine Kinder« zur Heimat im Sinne der transzendentalen Boden-Form, zu einem ganz persönlichen Land ihrer Phantasie, zum Land, das ihre eigentümliche Kreativität entwickelte. Wenn man die Art der Darstellung Galiziens als Text infolge besonderer Verknüpfung der Gedächtnisinhalte und Gemütsbewegungen zu neuen Vorstellungen näher betrachtet, so kann man zwei Zugänge feststellen: Texte, in denen die bewusste Erinnerungsarbeit geleistet wird, wie es zum Beispiel bei Stanisław Lem und Soma Morgenstern der Fall war, und solche Texte, wo Galizien in der auratischen Dimension im Sinne Walter Benjamins erscheint, wo es als »sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit« in der Textur der Werke aufgelöst ist und zur »einmaligen Erscheinung einer Ferne«1328 wird. Galizien bekommt hier seine besondere Aura. Nach Walter Benjamin besteht die Erfahrung einer Aura gerade nicht in naheliegender Unmittelbarkeit, sondern, ganz im Gegenteil, in der Ferne und Unnahbarkeit. Das in der Aura enthaltene »Heilige« gründet für den Philosophen nicht in einem Nähe-, sondern in einem Ferne- und Fremdheitsgefühl. Ein auratischer Ort in diesem Sinne macht kein UnmittelbarkeitsVersprechen; eher ist es ein Ort, an dem die unnahbare Ferne und Entzogenheit der Vergangenheit sinnlich wahrgenommen werden kann. Prägnante Beispiele für die Darstellung Galiziens als einen auratischen Er-Innerungsort findet man in den Texten von Bruno Schulz und Joseph Roth. In beiden Fällen sind die Erinnerungen an die Kindheit wichtig. Da die kindliche Ahnung »mehr weiß« als das Wissen, wird die heimatliche Landschaft, zu der der Weg nicht mehr zu 1324 1325 1326 1327 1328
Ebd., S. 111. Husserl 2006, S. 158. Ebd., S. 158–159. Ebd., S. 159. Benjamin 1963, S. 18. Zitiert nach: Ritter/Gründer 1971, S. 25.
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finden wäre, als »selbständige Größe« der Kindheitserinnerungen von prägnanten Bildern begleitet. Die Erfahrungen eines Kindes gehören zum Vorbewussten, sie werden sprachlich noch nicht verarbeitet und sind deswegen noch wirklich echt. Der bekannte polnische Romanist, Visionär und Philosoph Stanisław Lem, ein gebürtiger Lemberger, bemerkt diesbezüglich in seinen Erinnerungen an die Heimatstadt: Wenn man nämlich nur Genauigkeit und sehr große Bewusstheit verlangt, wenn man es mit der Exaktheit übertreibt, erweist sich, dass man eigentlich die objektiven Fakten nicht mehr von ihrer Auslegung trennen kann, die ja die sprachlichen Elemente, die einzelnen Wörter ebenso wie die Regeln der Grammatik oder der Syntax, auf dem Grunde der Sprache Interpretationen und keine getreuen Abbilder der Gegenstände oder der psychischen Erscheinungen sind.1329
»Ein Übermaß an Wissen« erweise sich laut ihm zuweilen »als eine Bürde, als Ballast, der das Handeln behindert«.1330 Mit den Jahren, betont der Schriftsteller, erfolge mit dem Kind »ein Prozess einer eigentümlichen Banalisierung, in Gestalt einer Normalisierung«.1331 Die Erfahrung seiner verlorenen Heimat, der galizischen Hauptstadt Lemberg, gibt Lem als »Schachbrett der Erinnerung«1332 aus der Perspektive des Kindes wieder. Es sei »eine Ausnahmesituation in der Welt der Erwachsenen«,1333 »eine Gesellschaft, die eine Magie praktiziert.«1334 Die Rekonstruktion des heimatlichen städtischen Landschaftsbildes stützt sich hier auf die Fähigkeit, Gedächtnisinhalte zu neuen Vorstellungen zu verknüpfen, mit Hilfe der Phantasie wird der Raum aus der Perspektive des Kindes verwandelt, verinnerlicht, mythisiert und sakralisiert. So bedeutete »für jeden von uns«, schreibt Lem, die Bezeichnung »das Hohe Schloss«1335 »das, was für den Christen der Himmel«1336 sei. Es sei eigentlich: »[…] ja auch kein Ort, sondern eher ein vollkommener Zustand, in seiner Intensität wohl nur mit dem ersten Ferientag vergleichbar – der noch nicht angerührt, noch nicht 1329 Lem 1980, S. 62–63; Lem 1966, S. 80–81: »Okazuje sie˛ bowiem, z˙e jes´li tylko z˙a˛dac´ dokładnos´ci i pewnos´ci bardzo wielkiej, jes´li s´cisłos´c´ posuwac´ nadmiernie daleko, nie moz˙na juz˙ włas´ciwie faktów obiektywnych oddzielac´ od ich interpretacji, skoro na samym dnie je˛zyka jego elementy pierwsze, poszczególne słowa, na równi z regułami gramatyki czy składni, sa˛ interpretacjami a nie doskonale wiernymi fotografiami przedmiotów czy zjawisk psychicznych.« 1330 Ebd. S. 63; Lem 1966, S. 81: »Nadmiar wiedzy okazuje sie˛ nieraz brzemieniem, balastem, zakłócaja˛cym działanie, […].« 1331 Ebd.; Lem 1966, S. 81: »[…] proces swoistego banalnienia, pod postacia˛normalizacji, […].« 1332 Ebd. S. 8; Lem 1966, S. 9: »szachownica˛ pamie˛ci.« 1333 Ebd., S. 59; Lem 1966, S. 75: »[…] wyja˛tkowej w s´wiecie dorosłych sytuacji, […].« 1334 Ebd.; Lem 1966, S. 76: »[…] społecznos´c´ praktykuja˛ca˛ magie˛, […].« 1335 Die Erzählung trägt eben den Namen des Hügels, der im Zentrum der Stadt emporragt. 1336 Lem 1980, S. 69; Lem 1966, S. 89: »Tym, czym jest dla chrzes´cijanina niebo, był dla kaz˙dego z nas Wysoki Zamek.«
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angeschnitten ist, von dem das Herz in süßem Rausch erstarb, weil alles erst geschehen sollte, […].«1337
Schritt für Schritt rekonstruiert renommierter science fiction Autor die Welt des Kindes, »das ich gewesen bin«,1338 dieses für ihn »unbekannt gewordenen Wesens.«1339 Ein anderes Beispiel bezieht sich auf den Fall, wo die Phantasie als die Fähigkeit, sich Bilder in Gedanken auszumalen, eine enorm große Rolle spielt. Es geht hier um einen anderen galizischen Autor, den polnisch-jüdischen Schriftsteller und Maler Bruno Schulz. Er schrieb keine Kindheitserinnerungen im Sinne von Stanisław Lem, seine Er-Innerungen an die Kindheit im galizischen Milieu bestimmen aber seine ganze Erzähltechnik. Die Kindheit, ihre »Fülle und Maßlosigkeit«1340 waren für Schulz am wichtigsten. Sein Ideal sei »zur Kindheit ›heranzureifen‹. Das wäre erst die eigentliche Reife«1341 – schrieb er 1936 im Brief an den Kritiker Andrzej Ples´niewicz. Obwohl Bruno Schulz seine Heimatstadt, das provinzielle galizische Drohobycˇ nicht verlassen konnte – eine magische Kraft zog ihn immer hierher zurück – geht es in seinem Fall auch um die verlorene Welt seiner Kindheit, die in der Gestalt der von ihm erfundenen »Republik der Träume« ihn als Erinnerung heimsucht: Hier, auf dem Warschauer Pflaster, in diesen lärmenden, flammenden und betäubenden Tagen, übersiedle ich geistig in die ferne Stadt meiner Träume, schwinge mich mit dem Blick empor über jenes niedrige, ausgedehnte und wellige Land, wie der Mantel Gottes hingeworfen als buntes Tuch an der Schwelle des Himmels.1342
Bruno Schulz sakralisiert den heimatlichen Landstrich auf andere Weise als Stanisław Lem sein »Hohes Schloß«. Die poetisch-narrative Realisierung seines Erinnerungskonzeptes findet infolge der eigentümlichen Kartierung statt, die einer inneren Perspektive entspricht. Drohobycˇ wird für ihn zur »einmaligen Stadt der Welt«, zum »erwählten Land«, zur »merkwürdigen Provinz«. Es wäre vergeblich, »darüber mit profanen Menschen zu sprechen!«1343, – fügt er hinzu. 1337 Ebd., S. 70; Lem 1966, S. 90: »[…] nie było to włas´ciwie miejsce, ale stan doskonały, daja˛cy sie˛ w swej intensywnos´ci zestawic´ chyba tylko z pierwszym dniem wakacji – jeszcze nie tknie˛tym, nie napocze˛tym, przed którym serce zamierało w słodkim oszołomieniu, poniewaz˙ wszystko miało sie˛ dopiero stac´, […]«. 1338 Ebd., S. 62; Lem 1966, S. 66: »Dziecko, którym byłem, […]«. 1339 Ebd., S. 63; Lem 1966, S. 81: »[…] jako istoty nieznanej;«. 1340 Schulz 1994, Bd. 2, S. 107; Sˇulc 1936: »punoc´u i beskraj«. 1341 Ebd.; Ebd.: »Moj ideal je ›sazreti‹ za detinjstvo. Tek to bi bila prava zrelost.« 1342 Schulz 1994, Bd. 1, S. 334; Schulz 1989: »Tu na warszawskim bruku, w te dni zgiełkliwe, płomienne i oszałamiaja˛ce, przenosze˛ sie˛ mys´la˛ do dalekiego miasta mych marzen´, wzbijam sie˛ wzrokiem ponad ten kraj niski, rozległy i fałdzisty, jak płaszcz Boga zrzucony kolorowa˛ płachta˛ u progów nieba.« 1343 Ebd.; Ebd.: »ta wybrana kraina«, »ta prowincja osobliwa«, »to miasto jedyne na s´wiecie«. »Daremnie mówic´ o tym profanom!«
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Der Autor gibt vor allem die galizische Aura wieder: Für ihn sind »Bilder, Erinnerungen und Gerüche« wichtig. Sein Blick zieht ihn empor, er betrachtet »die Karte des Landes« aus der Perspektive der räumlichen und der zeitlichen Ferne. Im Hintergrund seiner synästhetischen Darstellung des Landes und der Stadt, die bei Schulz einen selbst genügenden Mikrokosmos bilden, stehen die Bilder, die der übersensible Künstler aus seiner fernen Kindheit holt. Seine »Republik der Träume, das souveräne Gebiet der Poesie«, wo er »die uneingeschränkte Herrschaft der Phantasie« verkündete, liegt auf »soundso vielen Morgen Land, auf einem Laken Landschaft zwischen Wälder hineingeworfen«.1344 Es wurde mehrmals betont, welche Rolle für Bruno Schulz’ Schaffen Erinnerungen aus seiner Kindheit im galizischen Drohobycˇ, die zur Vergangenheit wurden, spielten.1345 Das Bewusstsein der Unumkehrbarkeit dieser Vergangenheit schmerzte ihn; es war die Ursache dafür, dass die heimatliche Landschaft sich für ihn in ein Phantasiegebilde verwandelte, das mit der traumatischen Erfahrung des Verlustes verbunden war und als auratische Er-Innerungslandschaft wirkte. Ähnlich wie Bruno Schulz hat auch Joseph Roth nie eine gezielte Erinnerungsarbeit durchgeführt. Das Erlebte, das Autobiographische hat er nie niedergeschrieben, wie es im Fall anderer aus Galizien stammenden Autoren war, die sich an ihre Heimat retrospektiv-verklärend wandten. Das Verlassen der Heimatstadt war für Roth nicht erzwungen und dementsprechend am Anfang noch nicht mit dem Trauma des Exils verbunden. Im Unterschied zu Bruno Schulz aber hat er die alten galizischen Verhältnisse nie als sein innigstes Milieu empfunden. Es hat für ihn diese Bedeutung erst später gewonnen, nach den Jahrzehnten des mehrfachen Exils, insbesondere nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie und der Etablierung des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland. Schon in seinen Lehrjahren sah Roth seine Zukunft irgendwo anders, genauer gesagt, in den kultivierten europäischen Metropolen. Er verließ die kleine Provinzstadt Brody gleich nach der Matura am dortigen Gymnasium, um in Lemberg und in Wien Germanistik zu studieren. Nach Galizien kam Roth erst während des Militärdienstes 1917, nach Brody reiste er 1918, um es 1919 für immer zu verlassen und wiederum nach Wien zu gehen. Soma Morgenstern, der langjährige vertraute Freund, erwähnt in seinem Buch Joseph Roths Flucht und Ende, dass Roth nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie nie daran gedacht habe, nach Galizien, das inzwischen Klein-Polen hieß, zurückzukehren – er hätte »keinen Moment daran gedacht.«1346 Als gelernter Wiener, wie Morgenstern 1344 Ebd., S. 340; Ebd.: »Proklamował republike˛ marzen´, suwerenne ter ytorium poezji. Na tylu a tylu morgach ziemi, na płachcie krajobrazu rzuconej mie˛dzy lasy, ogłosił panowanie niepodzielne fantazji.« 1345 Vgl. Dutsch 1992; Ficowski 2008. 1346 Morgenstern 1994, S. 42.
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selbst, hielt er sich zwar für einen Galizier, aber nicht gerade für einen »echten«. Roth bezeichnete, so Morgenstern, seine deutschsprachige Assimilation mit der für ihn typischen leichten Ironie als »eine Krankheit«.1347 Den Landstrich, wo Roth die Welt erblickte, sieht er später, 1924 mit dem distanzierten und dementsprechend entfremdeten Blick eines professionellen Journalisten, des Mitarbeiters der »Frankfurter Zeitung«. In der Reportage Reise durch Galizien – so, als ob er mit der räumlichen Präposition »durch« anstatt »nach«, nicht eine bestimmte Bewegung kennzeichnen wollte, sondern solche, die auf der einen Seite in etwas hinein- und auf der anderen Seite wieder heraus führt – verrät der Verfasser dem Leser nicht, dass es sich um seine höchst vertraute Umgebung, um seine Heimat handelt. Meistens hat er diese Tatsache vor dem westeuropäischen Lesepublikum verschwiegen – es gehörte nicht zu den Prestigesachen, ein galizischer Jude gewesen zu sein. Galizien, seine »Leute und Gegend«, sowie »Lemberg, die Stadt« beschreibt Roth im Bericht für die Zeitung im sachlichen Stil, in seiner bekannt gewordenen lakonischen und exakten Erzählweise, die den Meister der Beobachtung erkennen lässt. Joseph Roth »war bekanntlich ein besonders scharfer Beobachter. Das hervorzuheben ist geradezu pleonastisch«1348 – bemerkt Morgenstern. Auch hier ist für Roth die genaue Darstellung wichtig: Er bemerkt alle Details, akzentuiert scharfe Kontraste: »Das Land hat in Westeuropa einen üblen Ruf«, und »Dennoch ist Galizien, das große Schlachtfeld des großen Krieges, noch lange nicht rehabilitiert«;1349 oder »Die Erde ist reich, die Bewohner sind arm«;1350 »Hat hier Europa aufgehört? – Nein, es hat nicht aufgehört. Die Beziehung zwischen Europa und diesem gleichsam verbannten Land ist beständig und lebhaft.«1351 Der Umstand, dass es in dieser Reportage um die Landschaft geht, die für Roth mit mehreren Erinnerungen verbunden ist, liegt in tieferen Schichten des Textes, auf den ersten Blick wirkt er unauffällig. Er wird aber durch mehrere Bilder und den narrativen Ton verraten, die frühere Eindrücke und Erlebnisse wieder lebendig machen. Die Bilder und Orte, die im Text vorkommen, bezeugen, dass es in dem Fall um Roths Er-Innerungsraum geht. Sie gehören zu seinem vergangenen Leben und werden zu mnemotechnischen Topoi, die seine Erinnerungen lokalisieren und befestigen. Spezifische Gedächtnis- und Bindungskraft von Orten wurde schon von Cicero betont: »[…] groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt.«1352 Dabei hebt er hervor, dass die Bilder für die affektive Einprägung bestimmter 1347 1348 1349 1350 1351 1352
Ebd., S. 31. Ebd., S. 46. Roth 1990 (b), S. 281. Ebd. Ebd., S. 284. Assmann 2006, S. 298.
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Wissensgehalte und die Orte für deren Ordnung und Wiederauffindbarkeit genutzt wurden: Gerade Bilder und Orte (imagines et loci) seien laut Cicero Bausteine der Gedächtniskunst. Er betont auch die Notwendigkeit der Mitwirkung der Affekte für das nachhaltige Haften von Vorstellungsbildern in der Erinnerung. Die Eindrücke, die am Schauplatz selbst empfangen werden, seien »um einiges lebhafter und aufmerksamer«1353 als die, welche vom Hörensagen und Lesen herrühren. Als prägnantes Beispiel dafür kann ein kurzer Text von Roth unter dem Titel Wiege dienen, den er im Dezember 1931 für »Die Literarische Welt« schrieb. Es geht um eine frühe Erinnerung, im Alter von etwa drei Jahren, rings um die »eine geraume Spanne des Vergessens« liegt, so dass »jenes erste Erlebnis einem belichteten Bilde gleicht…«1354 Es ist ein trauriges Erlebnis, dem »eine Art von Wehmut, Wehmut ohne Grund, also eine echte Wehmut«1355 entströmte. Dieses Erlebnis hatte für Roth eine besondere Bedeutung und wurde »beinahe zu einem symbolischen Ereignis«.1356 Es wird vom Autor eine fast märchenhafte Geschichte erzählt – »Es war ein klarer Wintertag…«1357 –, im typisch sachlichen Roth’schen Stil, jedem Detail viel Aufmerksamkeit schenkend. Die Szene sieht man aus der Perspektive des Kindes, was dem Ganzen eine besondere Innigkeit verleiht. Die Handlung wird in der Präsensform geschildert, als ob alles auf dem Bildschirm (des Gedächtnisses?) erscheinen würde: Ich sehe noch in dem kleinen Zimmer, in dem ich damals lebte, den unbestimmten blauen Abglanz des klaren Himmels, eine kristallene, dicke Schicht von Schnee am Fensterbrett und ein Paar merkwürdige Eisblumenformen an einer (der rechten) Seite des doppelflügeligen Fensters. Eine alte Frau in einem braungrauen, filzigen, ziemlich langen Tuch, das ihr Kopf und Rücken bedeckt, tritt ins Zimmer. Meine Mutter holt, Stück für Stück, das Bettzeug aus meiner Wiege und legt es auf einen rostbraunen, gepolsterten, breiten Lehnstuhl. Dann tritt die halbvermummte, ziemlich kleine Frau an meine Wiege, spricht etwas, hebt mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit die Wiege hoch, hält sie, als wäre sie ein ganz geringfügiger Gegenstand ohne bemerkenswerte Dimensionen, an der Brust, spricht sehr lange, lächelt, zeigt dabei große gelbe Zähne, geht zur Tür und verlässt das Haus. Ich bin traurig, unsagbar traurig und ohnmächtig. Ich »weiß«, dass ich etwas Unwiederbringliches verloren habe. Ich bin gewissermaßen »beraubt« worden. Ich beginne zu weinen; man bring mich in ein großes weißes Bett, das meiner Mutter gehört. Ich schlafe ein.1358
1353 1354 1355 1356 1357 1358
Ebd., S. 313. Roth 1991, S. 407. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 407–408.
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Was weiter kommt, liegt »im dichten Schatten des Vergessens«.1359 Es war aber die erste Trauer gewesen. »Ich habe heute die Empfindung«, – schrieb Roth abschließend, – »dass ich an jenem Tage, in jener Stunde, ein erwachsener Mensch gewesen bin – für eine kurze Weile, lang genug, um traurig sein zu können, traurig wie ein Großer…«1360 Hier, im galizischen Body war der Ursprung der Melancholie, die dem Schaffen von Roth innewohnt: Diese und ähnliche Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend werden in seinen Texten lebendig, sie finden ihren Niederschlag in den besten literarischen Werken, die er in der zweiten Schaffensperiode schrieb und die ihm Erfolg brachten, insbesondere in den Romanen Hiob. Roman eines einfachen Mannes und Radetzkymarsch, aber auch in Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters und in mehreren Erzählungen, wie April, Stationschef Fallmerayer, der Leviathan, Triumph der Schönheit, um nur einige zu erwähnen. Das Verfahren des entfernten Blickes, das für Bruno Schulz so wichtig war, wird auch von Joseph Roth verwendet. Er schildert seine Heimatstadt Brody, die im Radetzkymarsch als Vorbild für die kleine Garnisonstadt an der östlichen Grenze der Monarchie fungiert, nach den Regeln der eigenen Erinnerungskartographie: Es wird als Panoramabild, das vom oberen Stock des höchsten Hauses in der Bezirksstadt, des Hotels »Brodnitzer« zu sehen ist, dargestellt: Das ganze Städtchen übersah Carl Joseph von zweiten Stock des Hotels Brodnitzer. Er sah den Giebel des Bezirksgerichts, das weiße Türmchen der Bezirkshauptmannschaft, die schwarzgelbe Fahne über der Kaserne, das doppelte Kreuz der griechischen Kirche, den Wetterhahn über dem Magistrat und all dunkelgrauen Schindeldächer der kleinen Parterrehäuser. Das Hotel Brodnitzer war das höchste Haus im Ort. Es gab eine Richtung an wie die Kirche, der Magistrat und die öffentlichen Gebäude überhaupt. Die Gassen hatten keine Namen und die Häuschen keine Nummern, und wer hierorts nach einem bestimmten Ziel fragte, richtete sich nach dem Ungefähr, das man ihm bezeichnet hatte. Der wohnte hinter der Kirche, jener gegenüber dem städtischen Gefängnis, der dritte rechter Hand vom Bezirksgericht. Man lebte wie im Dorf. Und die Geheimnisse der Menschen in den niederen Häusern, unter den dunkelgrauen Schindeldächern, hinter den kleinen, quadratischen Fensterscheiben und den hölzernen Türen quollen durch Ritzen und Sparren in die kotigen Gassen und selbst in den ewig geschlossenen, großen Hof der Kaserne.1361
Auf solche Weise wird in dieser und ähnlichen Beschreibungen die unnahbare Ferne und Entzogenheit der Vergangenheit für den Autor und für den Leser sinnlich wahrgenommen. Es wird von mehreren Forschern hervorgehoben, welche Rolle Galizien im ganzen Oeuvre von Roth spielte.1362 Obwohl es für ihn als 1359 1360 1361 1362
Ebd., S. 408. Ebd. Roth 1990 (a), S. 260–261. Bronsen 1993, S. 64.
Literaturverzeichnis
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Heimat im engeren und breiteren Sinne verloren gegangen war, wurde Galizien für den Schriftsteller Roth mit der Zeit auch »zur selbständigen Größe.«1363 In seiner Er-Innerungslandschaft war beides komprimiert: Zusammenhänge der Habsburgermonarchie und die engste Welt, in die er hineingeboren war – ihr östlichster Rand. Sein ganzes Oeuvre wurde zu einer scharfen Projektion dieser mentalen, inneren Landschaft, die Präsenz mit Absenz, sinnliche Gegenwart mit historischer Vergangenheit verschränkte, wo er einen unmittelbaren Kontakt mit dem Geschehenen suchte. »Galizien als eine verlorengegangene Heimat«. Ist es wirklich verloren gegangen? Ist es nicht als eine »ganz persönliche« Landschaft, die mithilfe der Phantasie infolge des Platzierens in der Seele, infolge der Er-Innerung mehrerer Künstler, die ihre Gedanken über Galizien und ihre Gefühle zu ihm in unterschiedlichen Sprachen, aber doch im ähnlichen Tonfall ausdrückten, festgehalten geblieben? Es wurde zu »ihrer Erde«, zu ihrer besonderer »Boden-Form«, und war, als ihre »Urheimat«, im Wort ihrer Texte dem Zeitstrom entrissen. Denn, wie Aleida Assmann schreibt, sei die Schrift »nicht nur Verewigungsmedium, sondern auch Gedächtnisstütze«:1364 Der Vorgang »des Ausschreibens und Einschreibens« sei laut ihr die älteste »Metapher des Gedächtnisses«.1365 In diesem Sinn gewinnt »Galizischer Text« als eine Form der Gegenwirkung gegen das Vergessen eine ausschließliche Bedeutung.
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Landschaft der Er-Innerung: »Das ganz persönliche Galizien« der Phantasie
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Das Schaffen von Joseph Roth und Soma Morgenstern als Interferenzmuster der geschichtlichen, geographischen und sprachlichen Komponente Galiziens
Innerhalb der altösterreichischen Provinz »Galizien und Lodomerien« gab es im östlichen Teil keinen einzigen national einheitlichen Bezirk. Der Grund dafür war unter anderem auch die Tatsache, dass diese Provinz nicht durch geschichtliche Evolution entstand, sondern »durch eine politische Improvisation«1366 an Österreich gekommen war. Dank der im Laufe der Jahrhunderte geprägten Multikulturalität bildete sich hier eine besondere Atmosphäre der Sprachenvielfalt heraus. Martin Buber, der in der galizischen Metropole Lemberg seine Gymnasialjahre verbrachte, beschrieb sie in seinen Erinnerungen wie folgt: Im großväterlichen wie im väterlichen Hause herrschte die deutsche Rede. Aber Straße und Schule waren polnisch. Nur das Judenviertel rauschte von derbem und zärtlichen Jiddisch, und in der Synagoge erklang, lebendig wie je, die große Stimme hebräischer Vorzeit. In dieser Sprachluft bin ich aufgewachsen.1367
Wie in jeder anderen Grenzregion der Donaumonarchie gehörten in Galizien mehrere Sprachen zum Alltag. Die kulturelle Mannigfaltigkeit Galiziens wurde von den politischen Wirrnissen und Verbrechen der totalitären Mächte des 20. Jahrhunderts ausgelöscht. Es blieb aber eine Spur, in der wir, im Sinne Walter Benjamins, der galizischen Welt »habhaft werden«, sowie ihre Aura, in der sie sich »unser bemächtigt«.1368 Galizien als eine geistige, imaginäre Landschaft ist erhalten geblieben. Sein Phänomen wird öfters in die Vergangenheit projiziert und bildet den Grund für Moderne und Post-Moderne der Kulturen der Völker, die diesen mitteleuropäischen Raum bewohnen. Leider sind es heute, wie Jurij Andruchovycˇ schreibt, nur mehr Spuren und Abdrücke, wobei »die Geschichte von der Mythologie kompensiert«1369 wird. Den Mythos Galizien bilden typische Bilder, Seelenzu-
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Orłowicz/Kordys 1914, S. 14. Buber 1981. Benjamin 1984, S. 88. Andruchowytsch 2003, S. 69;, S. 121: »[…] mifolohija kompensuje istoriju, […]«.
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stände und »eine besondere Einstellung zur Welt«,1370 die ihren Niederschlag in der Kunst findet. Dieser Zug, Galizien als eine Kulturlandschaft zu betrachten, ist aber nicht neu: Man findet ihn im Schaffen mehrerer galizischen Künstler schon seit ihrem Bestehen. Denn Mythisieren der Wirklichkeit geschah hier, laut Bruno Schulz, dessen Werk aufs engste mit diesem Landstrich verbunden war, mit Hilfe des Wortes: Der unermüdliche menschliche Geist besteht im Glossieren des Lebens unter Zuhilfenahme der Mythen und der »Versinnlichung« der Wirklichkeit. […] Auch das Bild ist von einem ursprünglichen Wort abgeleitet, einem Wort, das noch nicht Zeichen war, sondern Mythos, Geschichte und Sinn. Wir betrachten das Wort gewöhnlich als Schatten der Wirklichkeit und als deren Abglanz. Richtiger wäre die gegenteilige Behauptung: die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes.1371
Das Mythisieren der galizischen Wirklichkeit fand als Verdichtung in literarischen Kunstwerken statt. Unter denen, die sie kurz vor dem Untergang und der Auslöschung mit Hilfe des Wortes »versinnlicht« und auf diese Weise unverlierbar festgehalten haben, sind Joseph Roth und Soma Morgenstern – Zeitgenossen und Freunde. Die beiden deutschsprachigen jüdischen Autoren waren ihrer Herkunft nach »Altösterreicher«, die beiden haben ihre galizische Heimat, dem Streben nach Bildung und aktiver Tätigkeit folgend, bald nach der Matura verlassen und wurden zu »gelernten Wienern«.1372 Zu einer ihrer wichtigsten Lebensstation wurde Paris, wohin sie auf der Flucht vor der »braunen Pest« gelangten. Für Roth wurde es zur Endstation des Lebens – er starb hier 1939 vor dem Einmarsch der Wehrmacht: »Als ein Weiser starb er vor der Zeit, um noch die Bekanntschaft mit einem Konzentrationslager zu machen«,1373 – wird später Morgenstern bemerken. Für ihn selber wurde die Hauptstadt Frankreichs zur rettenden Brücke auf dem Weg ins amerikanische Exil. In Paris begann er auch 1950 seine Erinnerungen an den Freund zu schreiben. Sie zeugen davon, wie viel die beiden Autoren verband und sie beweisen zudem, dass die gemeinsame Heimat, der sie emphatisch gedachten, zum wichtigsten Topos im Schaffen beider deutschjüdischen Dichter wurde, wo sich mehrere Komponenten ihrer Heimat Galiziens überlagern und überschneiden. Wenn auch die Herkunft der beiden und deren familiäre und soziale Umgebung in den Kindheits- und Jugendjahren große Unterschiede aufweisen, waren 1370 Ebd.; Andruchovycˇ 1999, S. 121: »[…] osoblyvyj sposib stavlennja do svitu, […]«. 1371 Schulz 1994, Bd. 2, S. 242; Schulz 1998, S. 367: »Duch ludzki niestrudzony jest w glosowaniu z˙ycia przy pomocy mitów, w ›usensowianiu‹ rzeczywistos´ci. […] Takz˙e obraz jest pochodna˛ słowa pierwotnego, słowa, które jeszcze nie było znakiem, ale mitem, historia˛, sensem. Uwaz˙amy słowo potocznie za cien´ rzeczywistos´ci, za jej odbicie. Słuszniejsze byłoby twierdzenie odwrotne: rzeczywistos´c´ jest cieniem słowa.« 1372 Morgenstern 1994, S. 68. 1373 Ebd., S. 292.
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Joseph Roth und Soma Morgenstern typische Repräsentanten des osteuropäischen Judentums, das nicht nur mit der äußeren, spezifisch galizischen Multikulturalität in Berührung kam, sondern auch mehrere innere Ausrichtungen aufwies. So wurde Roth in Brody, einer provinziellen Grenzstadt, geboren, wo die Bevölkerung nicht weniger als 85 % jüdisch war und wo sie schon zu Beginn der österreichischen Verwaltung die Gleichberechtigung und alle Privilegien einer Freihandelsstadt genoss. Typische Bilder dieser Gegend, die nicht nur eine politische Grenze zwischen zwei Imperien darstellte, sondern auch zwei landschaftliche Gebiete trennte – Galizien und Wolhynien – wurden von Roth immer wieder in seinen Werken mit großer Anschaulichkeit dargestellt: Die Stadt, in der ich geboren wurde, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, die spärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos. Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klaren Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt.1374
Zwar ist Joseph Roth vaterlos aufgewachsen – ein Umstand, der ein existentielles Trauma hinterließ, und das Gefühl der typisch jüdischen Heimatlosigkeit vertiefte. Er lebte aber schon in seinen frühen Jahren in einem Umfeld geistiger, politischer und jüdisch-religiöser Strömungen, die sich in Osteuropa überschnitten. Es handelte sich dabei um die jüdische Orthodoxie, den Chassidismus, die Aufklärung (Haskala) sowie um die ersten Tendenzen der zionistischen Bewegung. Der Zerfall der Donaumonarchie, der von Roth auf der innigsten persönlichen Ebene erlebt und reflektiert wurde, verursachte bei ihm eine Identitätskrise, die sich unter anderem im Bekenntniswechsel zum römischen Katholizismus äußerte. Von Roths Einschätzung der eigenen Identitätsprobleme zeugt das von Morgenstern besonders geschätzte ironische Verhältnis zu seiner Zeit und zur eigenen existentiellen Situation, welches den beiden eigen war und einen typischen ostjüdischen Charakterzug offenbarte – ein Signal dafür, dass man nicht ganz ein Sklave der unvermeidlichen Wirklichkeit war. Roth litt laut Morgenstern hin und wieder »an einer Krankheit, für die er selber den Namen gefunden hat: Assimilitis«.1375 So bezeichnete Roth seinen Zustand, als er über die Assimilation als einer »richtigen« Lösung »der sogenannten Judenfrage«1376 nachdachte. Dabei zitiert Morgenstern Roths Äußerung, dass »der Jude, der deutsch schreibt«, kein »echter Jude« sei.1377 Soma Morgenstern wurde dagegen in einer frommen chassidischen Familie im ostgalizischen Podolien geboren und wuchs aufgrund der beruflichen Tätigkeit seines Vaters auf dem Lande auf, wo die Liebe sich »unsichtbar wie die
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Roth 1989, S. 1008. Morgenstern 1994, S. 31. Ebd. Ebd., S. 81–82.
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Luft«1378 im Hause verbreitete. In Morgensterns Erinnerungen und fiktionalen Texten wird diese Landschaft, im Unterschied zu Karl Emil Franzos, der die »entsetzliche Leere«1379 und die Traurigkeit Podoliens betonte, mit einem reichhaltigen Inhalt gefüllt: Diese Weite sei unendlich, und sie befreie den Geist. Ziemlich früh fand Morgenstern aktiven Zugang zum Zionismus, den er, wie viele Jugendliche dieser Zeit, mit dem Begriff der authentischen jüdischen Identität verknüpfte. Seine innige Frömmigkeit, die in der chassidischen Tradition in der Familie wurzelte und ihn das ganze Leben lang begleitete, spielte eine entscheidende, »rettende« Rolle in der Situation der tiefsten Depression und Verzweiflung nach der Schoah. Die innenpolitische und kulturelle Situation in Österreich-Ungarn ermöglichte den beiden zukünftigen Autoren, schon ziemlich früh das deutsche Kulturgut in diesem weit entlegenen Landesteil der Monarchie sich einzuverleiben und Deutsch als Sprache des eigenen künstlerischen Ausdrucks zu wählen. Und zwar ungeachtet großer Unterschiede bezüglich des Hangs zu jüdisch-religiösen und kulturellen Werten und der Intensität der inneren und äußeren Assimilation. Laut Morgenstern dominierte bei Roth auch im Alltag Deutsch, das er, obschon vaterlos in der jiddisch sprechenden Familie seines orthodox gläubigen Großvaters in Brody aufgewachsen, als seine »Hauptsprache« betrachtete. Ukrainisch und Polnisch – die Sprachen seiner slawischen Umgebung in der Kindheit – habe er, so Morgenstern, nur mangelhaft gesprochen, obwohl er beides verstehen konnte.1380 Fred Grubel hingegen, ein weiter Verwandter von Joseph Roth, betont, dass Roth auch Polnisch fließend sprechen und schreiben konnte.1381 Deutsch als Bildungssprache beherrschte Roth glänzend, hatte er doch seine Matura am deutschsprachigen Gymnasium in Brody mit Auszeichnung bestanden. Der Umstand, dass hier auf Deutsch unterrichtet wurde, war im seit den 1870-er Jahren polonisierten Ostgalizien eine Seltenheit. Fred Grubel schrieb diesbezüglich: Liebe, Beachtung und Beherrschung der deutschen Sprache hatte er im Brodyer Gymnasium gelernt. Den ganzen »Faust« kannte er auswendig – wie er mir, dem staunenden Gymnasiasten, beteuerte (eine typisch Roth’sche Neigung zum Mythologisieren! – L. C.). […] In Wien wollte er Germanistik studieren und war entsetzt zu finden, dass er… mit Grammatik gefuttert wurde.1382
1378 1379 1380 1381 1382
Morgenstern 1995, S. 60. Franzos 1877, S. 179. Morgenstern 1994, S. 14–15. Grubel 1994. S. 9. Ebd.
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Denn viel wichtiger war für den zukünftigen Autor Deutsch als Sprache der Literatur. Von allen Hochschullehrern, die Roth an der Universität in Wien kennen lernte, war er von Walther Brecht, dem bekannten Germanisten und Literaturprofessor, am meisten fasziniert. Bald wurde die deutsche Sprache unter Roths Feder zu einem »zarten und starken Instrument«,1383 mit dessen Hilfe er das deutsche Kulturgut in der Zeit bereicherte, als diese klassische Kultur- und Bildungssprache »zum reichsdeutschen Lautsprecher«1384 degradiert wurde. Wenn Deutsch bei Roth als einem philologisch begabten, deutsch assimilierten jüdischen Autor besonders geschliffen, ausdrucksvoll und beweglich leicht war, sind in der Natürlichkeit seiner stilistischen Nuancierung, Melodie und Rhythmus, melancholischem Ton und Klarheit feine Einflüsse der slawischen und ostjüdischen Umwelt, die ihm seit der Kindheit vertraut war, nicht zu vermeiden. Davon zeugt auch Roths Liebe zu den jiddischen und ukrainischen Volksliedern1385, die Wärme und Innigkeit in den Beschreibungen des Lebens im Schtetl in Juden auf Wanderschaft (1927), sowie ein Gefühl großer Zuneigung bei der Darstellung mehrerer handelnder Personen, die diesen Völkern der Monarchie angehörten. Zu erwähnen sind vor allem Ostjuden, Polen und Ukrainer in seinen Hauptromanen Hiob (1930) und Radetzkymarsch (1932). Im Laufe des Lebens aber, das unter den politischen und persönlichen Bedingungen von Roth immer mehr mystifiziert wurde, bildete sich ein ambivalenter Bezug zur Heimat heraus. In seinem Schaffen entstand eine neue galizische Wirklichkeit. Das reale Galizien, das er als seinen Geburtsort verheimlichte und zu dem er sogar eine Art der Idiosynkrasie fühlte, wurde in seinen Texten teilweise in eine tückische Landschaft des Verfalls und des Todes verwandelt, deren typische Attribute Regen, Schlamm, Sümpfe, Kälte und Armut sind – insbesondere in den Romanen Radetzkymarsch und Das falsche Gewicht (1937). So schreibt er in Radetzkymarsch: Sumpfgeborene waren die Menschen dieser Gegend. Denn die Sümpfe lagen unheimlich ausgebreitet über der ganzen Fläche des Landes, zu beiden Seiten der Landstraße, mit Fröschen, Fieberbazillen und tückischem Gras, das den ahnungslosen, des Landes unkundigen Wanderern eine furchtbare Lockung in einen furchtbaren Tod bedeutete. Viele kamen um, und ihre letzten Hilferufe hatte keiner gehört. Alle aber, die dort geboren waren, kannten die Tücke des Sumpfes und besaßen etwas von seiner Tücke.1386
Einerseits war Roth bemüht, den Ort, wo er zur Welt gekommen war, zu vergessen: Die Heimatstadt war für ihn gestorben, »im großen Kriege gefallen, als
1383 1384 1385 1386
Roth 1991, S. 684. Ebd. Morgenstern 1994, S. 286. Roth 1990, S. 258.
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wäre sie ein Infanterist, ein Mensch.«1387 Andererseits aber wurde Roths Galizien zu einem »fruchtbaren Schoß«1388, zur Quelle seines Schaffens, das aus mehreren Reminiszenzen und Allusionen bestand, dessen Zentrum der östlichste Rand der ehemaligen Monarchie war. Diese Landschaft verwandelte sich bei ihm in ein ästhetisches Gebilde, das von einer einmaligen Aura umgeben wurde, die eine besondere Sinnlichkeit, aber auch eine fast vollkommene Abgeklärtheit ausstrahlte. Nur hier waren für ihn die Unmittelbarkeit des Gefühls und eine unbefangene Herzlichkeit möglich. In den Erdbeeren-Fragmenten, die von einem von ihm geplanten, aber nie zustande gebrachten, großen autobiographischen Roman über seine galizische Heimat geblieben sind, wurde sogar galizischer Regen und Schlamm ästhetisiert und ausgewogen beschrieben: Es regnete oft. Die Regen waren weich, aus einer Art samtenen Wassers. Sie dauerten gleichmäßig einen ganzen Tag, zwei Tage, eine Woche. Es wehte ein Wind, die Wolken rührten sich nicht von Fleck, sie standen, wie Gestirne stehen, unverrückbar am Himmel. Es regnete gründlich und mit Bedacht. Die Wege wurden weich. Der Sumpf drang in die Wälder vor, die Frösche schwammen im Gehölz. Die Räder der Bauernwagen knirschten nicht mehr. Alle Wagen fuhren wie auf Gummi. Die Hufe der Pferde wurden lautlos. Alle Menschen zogen die Stiefel aus, hängten sie über den Rücken und wateten barfuß. Über Nacht wurde es klar. Eines Morgens hörte der Regen auf. Die Sonne kam, wie heimgekehrt aus einem Urlaub.1389
Galizien wurde bei Roth zum Sinnbild des Untergangs seiner einzigen wahren Heimat, der österreichisch-ungarischen Monarchie, der in seinem Schaffen die Dimensionen des Untergangs der europäischen Zivilisation annahm. Und er trauerte ihm nostalgisch nach. Obwohl der ganze literarische Nachlass von Soma Morgenstern vor allem auf Deutsch vorliegt, war es in seinem Leben nicht die erste Sprache, die er erlernt hatte. Wie er in seinen Erinnerungen an die »andere Zeit« in der galizischen Heimat schrieb, war seine erste Sprache nicht die Sprache seiner Mutter (Jiddisch), sondern die Sprache der Amme, »nämlich Ukrainisch«.1390 Und »mit dem Erfolg«, führt er in gutmütigem Ton weiter, dass er sämtliche von ihm später erlernten Sprachen »mit einem ukrainischen Akzent sprach«.1391 Deutsch beherrschte er – wie er gestand – erst später. Das war einer der Gründe für seine enge Freundschaft mit Roth. Des Deutschen bediente er sich während des Jurastudiums in Wien, es war für ihn eine genuine Sprache der geistigen Kommunikation im Sinne der kulturellen Tradition der österreichisch-ungarischen 1387 1388 1389 1390 1391
Roth 1989, S. 1037. Ebd. Ebd. S. 1011. Morgenstern 1995, S. 37. Ebd.
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Monarchie. In dieser Sprache schrieb er seinen ersten Roman Der Sohn des verlorenen Sohnes, der mit zwei nächsten Romanen die Trilogie Der Funke im Abgrund bilden sollte. Er erschien 1935 in Berlin, noch bevor der Verlag aus bekannten Gründen geschlossen wurde. Morgensterns Sprache aus dieser Periode weist mehrere stilistische Merkmale der Schreibweise eines deutsch schreibenden ostjüdischen Schriftstellers auf: Sie ist klassisch korrekt, manchmal veraltet, dem Stil der poetischen Realisten des 19. Jahrhunderts nahe stehend. Mit Leichtigkeit fügt der Autor mehrere Begriffe, Namen, Redewendungen in den für galizische Juden vertrauten Sprachen bei – Jiddisch, Hebräisch, Ukrainisch, Polnisch. Bezüglich seiner verlorenen Heimat führt Morgenstern eine sorgfältige Erinnerungsarbeit auf mehreren Ebenen durch – assoziativ, im Sinne von Marcel Proust, aber auch bewusst, den jüdischen Mnemotechniken entsprechend. Er bemüht sich in seinem Werk die Spur Galiziens wiederzufinden. Seine ursprüngliche Heimat erscheint in diesem Roman in einem rührend-sentimentalen Licht, als Ort des naturnahen Lebens, wo man noch »die Nacht und die Sterne«1392 erleben kann, wo eine vollkommene Stille herrscht, die als fünftes Element zu den vier Elementen – Erde, Wasser, Feuer, Luft hinzutritt und groß, und gewaltig »schier sichtbar als eine Haut der Landschaft«1393 ausgebreitet da liegt. In dieser Landschaft herrschen noch Harmonie und echte Frömmigkeit. Es hätte laut Morgenstern für das Judentum zum Ort der Erneuerung werden können. Seine Landschaftsimaginationen sind traumartig und fast unglaublich schön. Prägnant ist Roths Reaktion zum Roman in seinem Glückwunschtelegramm an den Autor. Darin warnt er ihn vor der Beschreibung des Feldes mit dem weißen Klee.1394 Dieses Bild wurde aber zu einem der treffendsten Beispiele der imaginierten Landschaftsbeschreibungen im Morgenstern’schen Werk, das an synästhetische Sprachbilder von Bruno Schulz erinnert: Als wären Flocken frischen Schnees auf ein grünes Feld bei herrlichstem Sonnenschein gefallen, so leuchtete das Weißkleefeld ihnen entgegen. In der Nähe roch es so süß und stark nach Honig, nach summendem Sommer. Und sie kamen an das Kleefeld ganz nahe heran. Wie nahe! Das war eigentlich die Überraschung. Andrej hielt nicht etwa am Feldrain und fing zu mähen an. Nein. Er fuhr einfach in den Klee hinein! […] Sie fuhren über den Klee. Alle Bienen aller Sommer schienen sich da versammelt zu haben. Als wäre ihnen Alarm zugegangen: »Hinter den Teichen gibt es weißen Klee!« Sie fuhren im Klee. Der Leiterwagen schien über einen grünen See zu schwimmen, auf dem weiße Blumen blühten. Die Knaben legten rasch ihre Schuhe ab und ließen wie Teklunja ihre Beine durch die Sprossen hindurch baumeln. Die nackten Füße streiften über die tauigen Kleeköpfchen wie über ein silbernes Wasser. 1392 Ebd., S. 54–55. 1393 Morgenstern 1996, I., S. 268. 1394 Morgenstern 2001, S. 680–681.
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Sie fuhren sehr langsam. Die Pferde waren von einer unbändigen Gier ergriffen. Ihre langen Zähne rissen und bissen und mahlten wie im Rausch. Wenn sie stehenblieben, um sich einen ausgiebigeren Bissen zu sichern, nützte auch Andrejs Peitsche nichts. Auch die Kinder waren berauscht. Sie steckten ihre Köpfe durch die Leitersprossen, sahen herunter, und die ganze Welt war grün und silbern. Auch die Bienen waren berauscht. Zu zweien, zu dreien fielen sie, über ein Kleeköpfchen her, das unter ihren gierigen Küssen erschauernd sich neigte und wie im Schmerz sich wand. Wie rasch war jener Vormittag des weißen Klees vergangen! Und wie reich war sein Inhalt! Tausend Schul-Vormittage versanken gewichtlos, kein Erinnern wird je eine Spur von ihnen wiederbringen. Dieser eine Vormittag blieb mit all seinem Grün, all seinem Duft, all seinem Glück fürs ganze Leben frisch wie Tau […] Und erst der Heimweg! Andrej hatte seine Fuhre vollgeladen, was die Leitern halten konnten. Dann lagen sie oben, ganz mit Klee zugedeckt – jetzt konnte man sie suchen, solang es beliebte. Nie, nie würde man sie da oben auch nur vermuten. Sie lagen alle drei oben auf der Fuhre, in Klee eingewühlt, Teklunja ließ sich freiwillig verstecken, obschon sie ihrerseits nichts zu befürchten hatte. Sie lagen im grünen, kühlen Schein – nie lagen sie so weich gebettet – wie zwischen zwei grünen Himmeln schwebten sie. Von unten kamen von weiter Ferne her, abgedämpft, die knackenden Laute des Wagens, oben, von ferner Höhe herab, die Triller der Lerchen. Und alles schien in Grüne und Duft aufgelöst. […] Reb Welwel knöpfte den Staubmantel und seinen Kaftan auf. Die Sonne stand bereits tief im Westen, aber die Erinnerung hatte ihn erhitzt. Immer noch war das weiße Kleefeld links. Es leuchtete bis zum Bahndamm hin. […] Welwel überlegte: Wieviel Glück und wieviel Trauer zugleich wehte ihm von diesem Kleefeld entgegen! Sein Herz schmolz vor dem blühenden, duftenden, summenden Weißkleefeld wie Wachs. Trug es nicht die ganze Süße und Schwere zweier Kleefelder allein? Trug es nicht zwei Tages des weißen Kleefelds, zwei Tage: seiner und seines Bruders Kindheit vielleicht glücklichsten Tag, allein?1395
Morgensterns Natursymbole sind in seinem ersten Roman auch ausschließlich positiv belegt, sogar der Regen und Schlamm Galiziens werden von ihm verklärt: Weich und dennoch leicht rollte der schwere Wagen über den Schlamm. Die Pferde schnaubten, dumpf stampften ihre Hufe und die Erde seufzte. Links rauschte ein Vorderrad durch eine Wasserlache, rechts gurgelten die Speichen der Hinterräder in einer Pfütze. ›Es regnet hier nicht immer so, Alfred‹, hatte ihn schon einmal der Onkel getröstet. ›Er wird schon noch sehen, wie schön es hier sein kann, wenn das Wetter schön ist‹, hatte einmal der alte Jankel gemurmelt. Beide schliefen. Sie hatten im Zug kein Auge zugetan. Die Landstraße war längst zu Ende. Sie fuhren über schmale Feldwege, und als kneteten sie fetten Teig, knackten die Hufe der Pferde im weichen Erdreich.1396
Die ersten tragischen Motive bezüglich des friedlichen Lebens in Galizien kommen aber im zweiten Teil der Trilogie Idyll im Exil, an dem Morgenstern in den 1395 Morgenstern 1996, I., S. 45–46. 1396 Ebd. S. 260–261.
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Jahren 1938 und 1939 arbeitete – in der Zeit, als der Nationalsozialismus im Dritten Reich schon gewütet hatte. Eine der zentralen Szenen in diesem Text ist die Darstellung des Ausbruchs des Antisemitismus im ostgalizischen Dorf und die Szene der Ermordung von Lipusch. Aber in dem Moment, als Morgenstern nach den ersten Nachrichten über die Gräuel des Holocausts bewusst wurde, dass Deutsch auch »die Sprache der Mörder« war, verweigerte er sich eine deutsche Publikation. So traf er Vorbereitungen, eine englische Fassung unter diesem bitter-ironischen Titel 1946 zu veröffentlichen. Der deutsche Text wurde erst 1996 von Ingolf Schulte herausgegeben. Das dritte Buch Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes erschien ebenfalls auf Englisch (1950), auf Deutsch wurde dieser Roman auch erst 1996 publiziert. Hinsichtlich der deutschen Sprache, die Morgenstern doch »seine Sprache« nannte,1397 folgte die schmerzhafte Sprachlosigkeit, die er erst nach einigen Jahren überwinden konnte, nachdem er als Schriftsteller begriffen hatte, dass es nicht nur die Sprache der Täter, sondern auch die Sprache der Opfer war. Für seinen nächsten Roman Die Blutsäule – in deutscher Sprache zwischen 1946 und 1953 geschrieben, in hebräischer Übersetzung in Israel 1976 zum ersten Mal erschienen und erst 1997 in Deutschland in deutscher Originalversion veröffentlicht – sucht Morgenstern Zugänge zu einer besonderen Sprache. Sein Deutsch findet laut Ingolf Schulte1398 durch die Verwendung mehrerer Zeichen und Symbole, die den direkten Bezug zur Bibel aufweisen, den Weg zum parabolischen, allegorischen, emblematischen Geist, der das Funktionieren der Sprache in der Situation »nach Auschwitz« ermöglichte. Der Ort des Geschehens liegt aber auch in der Heimat des Dichters – am ostgalizischen Fluss Sereth, in einer kleinen Grenzstadt der ehemaligen Habsburgermonarchie. Es ist für den Autor wichtig, diesen Ort im kultur- und traditionsreichen Europa zu platzieren – die Tatsache, die die nazistische Barbarei auf groteske Weise betont: Es geschah in dem Teil der Welt, wo keine wahre Religion, dieses Namens wert, je gewachsen ist; wo alle Religionen, dieses Namens wert, verdarben, starben. Es geschah in jenem Teil der Welt, der seinen Namen von einem Weib ableitet, das der Sage nach auch in der Gestalt einer Kuh einer höchsten Gottheit dieses Weltteils wohl gefiel: in Europa […] Da geschah es in einer halb eingeäscherten kleinen Grenzstadt an dem Flusse Sereth, die eben an dem Tage freigemacht worden war von der deutschen Bedrängnis […]1399
Morgensterns Weg zur Heimat führt aber diesmal über die neue, schmerzhafte Form der Erinnerung, die in der Tradition des jüdischen Imperativs – »Erinnere Dich!« – von ihm als Pflicht verstanden wurde. Nur mit Hilfe des Wortes konnte 1397 Morgenstern 1949. 1398 Schulte 2000, S. 183. 1399 Morgenstern 2000, S. 19.
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Das Schaffen von Joseph Roth und Soma Morgenstern als Interferenzmuster
Morgenstern im Gedächtnis Galizien, das für ihn von Anfang an Hort wahrer Menschlichkeit bedeutete – wo diese Menschlichkeit allerdings auf brutalste Weise vernichtet wurde – vor völliger Auflösung retten. Das hat er auch im Namen der Opfer gebraucht. So gewinnt die Wirklichkeit Galiziens, die »im Schatten des Wortes« der beiden von diesem Landstrich herkommenden jüdischen Autoren der deutschen Sprache – Joseph Roth und Soma Morgenstern – entstand, mehrere Züge eines von ihnen selbst geschaffenen literarischen Mythos, dem aber geschichtliche, geographische und sprachliche Bestandteile des realen Galiziens zugrunde liegen. Auf diese Weise konnte dieser individuelle Mythos die im Laufe des 20. Jahrhunderts dehumanisierte Geschichte auf dem ästhetischen Wege kompensieren. Als Zeugen des Endes und Träger des Gedächtnisses an die verlorene Welt ihrer Heimat, die zur Quelle ihres Schaffens wurde, sind die beiden Schriftsteller zu den führenden Figuren der Renaissance des Themas »Galizien« in der deutschsprachigen Literatur und, dementsprechend, zu zentralen Gestalten dieser Komponente des mehrsprachigen »Galizischen Textes« geworden. Prägnant für ihr Schaffen sind dabei mehrere für ihn unentbehrliche Themen, Bilder, Motive und Seelenzustände, die sich mit dem Schaffen galizischen Autoren anderer Sprachen überlagern und überschneiden.
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Galizien als Natur-, Sozial- und Kulturraum der erzählten Welt von Soma Morgenstern
Das Schaffen von Soma Morgenstern (1890–1976), einer der zentralen Figuren des »Galizischen Textes«, ist von seiner galizischen Heimat nicht zu trennen. Sie wird zum wichtigsten Erinnerungsraum seiner faktualen autobiographischen Schriften sowie zur Kulisse und zum Handlungsort seiner fiktionalen Texte.1400 Die Darstellung Galiziens führt bei Morgenstern in eine verklärte Naturlandschaft, wo Harmonie und Frömmigkeit herrschen, aber auch in einen heterogenen Sozial- und Kulturraum, der von der galizischen Gesellschaft zur Jugendzeit des Schriftstellers hervorgebracht und vom Miteinander verschiedener Völker und Sozialgruppen, von ihrer Inklusion sowie Exklusion geprägt wurde. Aufgrund der raumbezogenen Textanalyse von Soma Morgensterns autobiographischer Erinnerungen In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien und von seiner Romantrilogie Funken im Abgrund wird hier versucht nachzuvollziehen, wie Galizien – ungeachtet der Konfrontation verschiedener Völker, die infolge der politischen Brüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in diesem geopolitischen Raum zunahm und in Morgenstern’s Texten auch Nachklang fand, – in der Gestaltung des Autors die Züge eines hybriden Raumes gewinnt, in dem soziale, religiöse und kulturelle Differenzen untereinander korrelieren und in einen Dialog treten. Im Mittelpunkt steht der Zusammenhang zwischen Geschichte, Wahrnehmung, Erinnerung und der narrativen Darstellung des Raumes Ostgaliziens, das den Autor in seinen Jugendjahren geprägt hatte oder das 1400 Zum Thema der Präsenz Ostgaliziens im Schaffen von Soma Morgenstern wird permanent geforscht. Meistens haben diese Untersuchungen einen komparatistischen Charakter. Hier möchte ich nur auf einige Beiträge hinweisen: Eva Reichmann (2002) schrieb über das Bild Galiziens in der Literatur, besonders über jenes bei Soma Morgenstern und seinen Zeitgenossen; es liegen Analysen von Klaus Werner vor, die Soma Morgenstern im Kontext eines spezifischen Kapitels deutsch-jüdischer Literaturgeschichte darstellen (2003), sowie die ostjüdische Lebenswelt mit Blick auf Soma Morgenstern untersuchen (2005). Über Soma Morgensterns Trilogie Funken im Abgrund publizierten Wynfried Kriegleder (2002) und Maria Kłan´ska (2006). Zu den neusten Veröffentlichungen gehören die Untersuchung von Anna Da˛browska über die Interkulturalität im Schaffen von Soma Morgenstern (2011) sowie ihr Beitrag über die Sprache und Interkulturalität in seinem Werk (2012).
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ihm auch später als Gedächtnisbild erschienen war. Bevorzugt werden hier die Raumkonzepte, die sich im Rahmen von Spatial Turn herauskristallisiert haben. Um neue Einsichten in das Verhältnis von realen und literarischen Raumordnungen zu gewinnen, sollen wie erwähnt bestehende literaturwissenschaftliche Analysekategorien mit raumkulturwissenschaftlichen Ansätzen verbunden werden.1401 Zu solchen gehören diejenigen, die den Raum auch als räumlichsoziales Konstrukt im Sinne von Henri Lefebvre deuten. Im Ergebnis der sozialen Produktion verweist der Raum auf vielschichtige gesellschaftliche Prozesse, bei denen auch kulturelle Praktiken spezifisch verortet sein können. Als eine kulturell produzierte und gleichzeitig als kulturell produktive Kategorie, wie es Edward Soja hervorhebt, haben auch die in der Literatur inszenierten Raummodelle sowohl eine repräsentierende, als auch eine performative Dimension. Der narrative Raum inkludiert folglich nicht nur die Beschreibung des Raumes als einer physischen Gegebenheit, und er soll nicht nur als eine literarische Abbildung verstanden werden. Er spiegelt ebenso soziale Prozesse und kulturell vorherrschende Raumordnungen der dargestellten Welt wider.1402 Als solcher erscheint auch der narrative Raum der Texte von Soma Morgenstern, die galizische Wirklichkeit darstellen: Der konkrete Raum der von ihm erzählten Welt bezieht sich unmittelbar auf den Naturraum Ostgaliziens sowie auf seinen Sozial- und Kulturraum, der von der galizischen Gesellschaft in der entsprechenden Zeit hervorgebracht wurde. Ungeachtet, dass viele von Galizien selbst implizierten Themen und Motive bei Morgenstern ihn in die Nähe des Schaffens anderer Vertreter des »Galizischen Textes« bringen, kann man hier von keinerlei Schablonen sprechen. Er gestaltet eigene narrative Modelle von diesen drei Räumen, seine Texte werden infolgedessen zum Beispiel der kulturellen Raumproduktion seiner Zeit. Neben der Frage der Deskription dieses narrativen Raumes wird folgend die Frage seiner Konstitution gestellt, die laut Katrin Dennerlein grundlegend für sein Modellieren sei. Folgend soll mit Hilfe der Deskription von Raummodellen, die Morgensterns Texte gestalten, untersucht werden, wie in seinem Schaffen Ostgalizien als Natur-, Sozial- und Kulturraum narrativ konstituiert wird. Es sollen, genauer gesagt, die Informationen über das landschaftlich eigentümliche, multikulturelle und sozial heterogene Ostgalizien eingeholt und analysiert werden, die in Morgensterns autobiographischen Erinnerungen an die Jugendjahre in Ostgalizien und in seiner Romantrilogie verborgen sind. Infolge solcher »Analyse von narrativen Symbolisierungen und kulturellen Phänomenen« kann man, wie Hallet und Neumann schreiben, »von einer raumorientierten Literaturwissenschaft […] Aufschluss sowohl über das Verhältnis von empirischen Raumwirklichkeiten und ihren textuellen Figura1401 Hallet /Neumann 2009, S. 28. 1402 Hallet/Neumann 2009, S. 16.
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tionen als auch über das Wie der symbolischen und ästhetischen Konstitution von Räumen gewinnen.«1403 Die Zeit, auf die sich die Texte beziehen, soll dabei nicht außer Acht gelassen werden. Denn die »galizischen Chronotopoi« der faktualen und fiktionalen Texte von Morgenstern verschmelzen, um mit Michail Bachtin zu sagen, »räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen.«1404 Obwohl der Autor an seinen autobiographischen Erinnerungen an die Jugend sowie an den einzelnen Bänden der Trilogie zu verschiedenen Zeiten und unter unterschiedlichen Bedingungen arbeitete,1405 umrahmen sie den Zeitraum Ostgaliziens von der Periode des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der 1920-er Jahre. Es handelt sich also um den Zeitraum, als die Zugehörigkeit Galiziens zur k.u.k. Monarchie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg 1918 zu Ende ging und die ehemalige habsburgische Provinz zum Bestandteil des polnischen Staates wurde. Bekanntlich verließ Morgenstern die Heimat 1914, nach Beginn des Ersten Weltkrieges; er sah sie bei seinem Besuch 1921 zum letzten Mal wieder. Die Heimat ging für ihn verloren und wurde somit zur »selbständigen Größe« im Sinne von Karl Schlögel.1406 Deswegen weisen die Chronotopoi von Morgensterns Texten viele übereinstimmende Motive, Sichtweisen, Stimmungen und Darstellungen auf, die grundsätzlich aufgrund der Erinnerungen des Autors an »sein Galizien« entstanden. Ähnlich vielen anderen galizischen Autoren verschiedener Sprachen, die vom gleichen Schicksal getroffen waren1407, hat Morgenstern seine Texte weit entfernt von seinem Herkunftsort verfasst und hat sich damit diesen Ort
1403 Hallet/Neumann 2009, S. 22. 1404 Bachtin 2008, S. 7. 1405 Erster Teil der Trilogie Der Sohn des verlorenen Sohnes wurde 1935 veröffentlicht; zweiter Teil Idyll im Exil, wurde 1938, dritter Teil Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes 1943 abgeschlossen. In: Schulte 1996S. 382–386. Seine Autobiographie hat Soma Morgenstern schon nach dem Zweiten Weltkrieg diktiert, die Niederschrift dauerte bis zu seinem Tod 1976. Diese Erinnerungen sind unvollendet geblieben, abgeschlossen scheinen nur zwei Bücher zu sein: »Die Kinderjahre« und »Die Gymnasialjahre«. Die Erstauflage In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien erschien als Erstveröffentlichung 1994. Ihr liegt ein undatiertes Konvolut von Typoskripten zugrunde. Der Autor bereitete das Konvolut nicht abschließend für den Druck, der Text wurde von ihm nicht gegliedert. Sogar der Name des Buches mit dem Untertitel wurde dieser Autobiographie nicht vom Autor selbst gegeben. 1406 Schlögel 2003, S. 246. 1407 Zu den Autoren, die ihre galizische Heimat freiwillig oder unfreiwillig verlassen hatten und sie später in ihren Werken rekonstruierten, gehörten unter anderen Leopold von SacherMasoch, Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Alexander Granach, Józef Wittlin, Julian Stryjkowski, Andrzej Kus´niewicz, Stanislaw Lem und viele andere.
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»herbeigeschrieben«.1408 Dank dem Erzählverfahren wurde die Verbindung zur Region, in der er aufgewachsen war, wieder hergestellt. Bei der narrativen Modellierung verschiedener Räume Ostgaliziens in den Texten von Morgenstern gibt es folglich eine gemeinsame Grundlage: Die retrospektive Darstellung der Heimat hat bei diesem Schriftsteller ihren Ursprung in seinem Gedenken an Ostgalizien. Den narrativen Raum des faktualen Textes der Autobiographie und der fiktionalen Texte seiner Romane schöpfte der Autor aus seinem Gedächtnis. Ungeachtet der Verschiedenheit der Genres kann man sie also unter dem gleichen Blickwinkel betrachten, denn autobiographische Erinnerungen seien, laut Aleida Assmann, ähnlich den literarischen Texten, »kein exakter Spiegel« eines vormaligen Geschehens.1409 Die Autobiographie als eine faktuale Erzählung im Sinne von Gérard Genette1410, gehört also zu den Gattungen, die nicht streng von den Fiktionen getrennt sein sollten. In ihr geht es um die »Ich-Erinnerung«, wenn der Narrator als aktives Subjekt auftritt und sein »Ich-Gedächtnis«, so Assmann, ein Produkt der bewussten und intentionalen (Re-)Konstruktion der Vergangenheit sei.1411 In der fiktionalen Literatur, wie es Morgensterns Romane sind, steht im Hintergrund der heterodiegetischen Narration ebenso die Erinnerungsarbeit des Autors: Der »allwissende« auktoriale Erzähler schöpft sein »Wissen« aus dem Gedächtnis des Verfassers; dabei kann die in der fiktionalen Welt gestaltete Vergangenheit sowohl mithilfe des intentionalen Erinnerns bewusst rekonstruiert, als auch in Form eines Erinnerungsstroms im Sinne von »mémoire involontaire«1412 dargestellt werden. In beiden 1408 Assmann 2011, S. 175. Assmann bezieht sich hier auf die Schreibweise der indianischamerikanischen Autorin Leslie Marmon Silko, die auf ähnliche Weise ihren Roman Ceremony (1986) schrieb. Es sei »the way of re-making that place for myself«. 1409 Ebd., S. 183. 1410 Arnold 2002, S. 659. 1411 Assmann 2011, S. 183–184. 1412 Als Beispiel davon kann die Episode der Erinnerung von Welwel Mohylewski an die Kindheit dienen, als er beschloss, die Gebetsmelodie des Großvaters zu retten: »Auf dem abbröckelten Vorsprung eines Dachgiebels saß ein Spatz, ein dickes Spatzenweibchen, das mit gesträubtem Gefieder das Brüstchen im Sand und Staub des Giebels badete. Das Bild erfüllte Welwel Mohylewski mit der Trauer einer unendlich fernen Erinnerung. Ein anderes Bild überblendete das Graue mit unermesslichem blendendem Weiß. Er saß, ein Kind noch, in Großvaters Zimmer. […] Auf dem Fensterbrett, einer Eiskruste unter einem Schneebarren, sitzt ein Spatz, […] ein mageres ausgedörrtes Spatzenmännlein, und versucht mit der letzten Kraft seiner Flügel aus dem weichen Schnee ein bisschen Wärme für sein erfrierendes Leben zu schlagen. Die Flügelchen gehorchen dem Spatzen nicht mehr, sie sind so schwach, dass der weiße Schnee zu eisigem Stein gefriert, an dem die kleinen Spatzenflügel sich wund zu schlagen scheinen. Von Schlag zu Schlag werden sie schwächer. / Großvater betet. Der Gesang ist traurig. Seufzer an Seufzer reiht sich zum Hauch einer Melodie, und die barmherzigen Töne hüllen die unverständlichen Worte so wohl in Demut ein wie die weichen Flocken des ersten Winterschnees die silbernen Zweige der Tannen.« In: Morgenstern I., 1996, I, S. 170.
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Fällen führt es bei Morgenstern zur narrativen Gestaltung Ostgaliziens als eines Erinnerungsraumes, – der Ansatz, der dem von Walter Benjamin eingeführten Konzept der »raumgewordenen Vergangenheit« entspricht.1413 Die Schilderung der Vergangenheit bei Morgenstern unterscheidet sich aber in den autobiographischen Erinnerungen von ihrem Bild in den fiktionalen Texten der Romane, vor allem bei der narrativen Konstituierung des Sozialraumes. Nach meiner Ansicht hängt diese Divergenz vor allem von der Sichtweise des Autors ab, die sein Gedächtnis »steuert« und das Modellieren der Räume beeinflusst. Oft wird Morgensterns Zugang zu seinem Herkunftsland mit Stichwörtern wie »Verklärung« (des Verlorenen) oder »Rechtfertigung« (für die Flucht aus der Heimat, die an die östliche Frontlinie geriet) gedeutet1414, oder auch als Idealisierung Galiziens beschrieben.1415 Der Schriftsteller macht sich aber auch Gedanken über die soziale und politische Situation in seiner ehemaligen Heimat, insbesondere, wenn es um Galizien nach der Auflösung der habsburgischen Welt geht. Morgensterns Darstellungsmethode, die dahinter steht, kann meines Erachtens auf zwei Arten gedeutet werden: Der Schriftsteller sieht »sein Galizien« vor allem aus der Perspektive der Kindheit und Jugendzeit, wenn alles noch »mit kindlichem Maß gemessen«1416 wird und der Mensch nie aufhört, die Welt neu zu entdecken und zu bewundern. Insbesondere bezieht sich diese Sichtweise des Autors auf den Naturraum Ostgaliziens, auf seine Landschaften und ihren Charakter, aber auch gewissermaßen auf den ethnisch bunten Kulturraum des Ostens der habsburgischen Provinz. Dabei liegen der Darstellung des in seinen Texten narrativ produzierten Sozialraums andere Intentionen zugrunde: Hier erwies sich die zeitliche, aber besonders die räumliche Distanz als notwendig. Denn, wie Sighard Neckel schreibt, sorge manchmal »eine größere Entfernung für das starke Bedürfnis, weit ab von den zu erinnernden Orten Gedächtnisräume zu schaffen, während große Nähe geradezu ein sozialräumliches Hindernis für die Kommunikation von Erinnerung sein […] kann.«1417 Die beiden Sichtweisen – die unmittelbare der Kindheit und Jugendzeit sowie die distanzierte Beobachtungsweise des Erwachsenen, der Blick aus der Nähe oder aus der Ferne – sollen hier mithilfe einiger Beispiele aus Morgensterns autobiographischen Erinnerungen und seiner Romantrilogie anschaulich gemacht, und folglich die drei von den narrativen Texten produzierten Raummodelle, die Ostgalizien im Werk des Autors als Natur-, Sozial- und Kulturraum konstituieren, beschrieben werden. In Anlehnung an die Theorie, die Dennerlein vor-
1413 1414 1415 1416 1417
Benjamin 1991, Bd. 5, S. 1041. Reichmann 2002, S. 132. Da˛browska 2013, S. 24. Morgenstern 1995, S. 66. Neckel 2009, S. 55.
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schlägt, werden sie entsprechend als ein anthropologisches, ein institutionelles und ein spezifisches Raummodell interpretiert.1418
Naturraum Ostgalizien als ein anthropologisches Raummodell: seine Ursprünglichkeit Wie wird also der ostgalizische Naturraum in Morgensterns Texten modelliert? Bleibt er bloß ein physischer Dekor der Handlung? Ostgalizien weist im Werk des Schriftstellers vor allem alle Merkmale eines »importierten Handlungsraumes«1419 auf, eines solchen also, der den entsprechenden Georaum toponymisch und topographisch meistens korrekt wiedergibt. Der Erzähler (bekanntlich hat Morgenstern seine Erinnerungen an die Jugend diktiert), oder der Autor (im Fall der Romane) verwendet mehrere raumreferentielle Ausdrücke zur Bezeichnung des Primärraumes der von ihm erzählten Welt. Es sind solche konkrete Bezeichnungen wie Ostgalizien und Podolien; mehrere Toponymika wie die Namen der Flüsse (Sereth und Strypa); der Städte und Städtchen (Tarnopol, Lemberg, Kozlowa) und der Dörfer der Kindheit. Die meisten von diesen historischen Namen sind nach der polnischen Transliteration wiedergegeben. Besondere Aufmerksamkeit verdient der »sprechende« Name des Hauptschauplatzes in der Trilogie Funken im Abgrund, des Dorfes »Dobropolje«. In slawischen Sprachen (im Ukrainischen und im Polnischen) bedeutet diese Bezeichnung soviel wie »gute Brachfelder«, »das gute Ackerland«. Ingo Schulte vermutet, dass dieser Name »allerdings« erfunden und das Dorf des Romans ein Erinnerungsbild sei.1420 Wenn man aber im Lebenslauf Morgensterns nachschaut, so findet man heraus, dass die Familie Morgensterns 1898 tatsächlich nach Dobropolje umzog, wo sie einige Jahre lang lebte. Diesbezüglich gibt es im ersten Buch der autobiographischen Erinnerungen des Schriftstellers eine merkwürdige Passage über den Besuch des Dorfes als Zwanzigjähriger, wo er im Alter von sieben bis vierzehn Jahren lebte, wo seine »Beziehung zur Landschaft« erwachte und wo er besonders glücklich war.1421 Von Relevanz wäre hier, dass der wahrgenommene Raum, ähnlich wie bei Walter Benjamin, »seine erste und vielleicht nachdrücklichste Markierungen in der Zeit der Kindheit«1422 erfährt. 1418 1419 1420 1421 1422
Dennerlein 2009, S. 178–189. Piatti 2008, S. 361. Schulte 1996, S. 376. Morgenstern 1995, S. 92. Ebeling 2010, S. 124. Dieser Standpunkt Benjamins wird von vielen ihm nachfolgenden Autoren weitergeführt. Bei de Certeau, zum Beispiel, wird er folgend ausgedrückt: »[…] mit dem Raum umzugehen, bedeutet also die fröhliche und stille Erfahrung der Kindheit zu wiederholen.« In: Certeau, de 1988, S. 208.
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Bezüglich der Sichtweise, hier aus der Perspektive des Kindes, schreibt Morgenstern in seinen Erinnerungen über die Eindrücke nach dem Besuch von Dobropolje als ein Erwachsener wie folgt: Es war »eine schmerzliche Enttäuschung«1423, da alles kleiner war, als in den Jahren der Kindheit: »Auch das Schulgebäude war kleiner, und die Wiese, auf der wir uns tummelten, als Gemeindewiese, noch immer groß, aber nicht so weit bis zum Horizont, wie ich sie in Erinnerung hatte.«1424 Morgenstern teilt weiter mit, dass er dieses Dorf in seinem ersten Roman beschrieben hatte, und erst dann, als das Buch im Druck erschienen war, merkte, dass er es »beim Beschreiben« mit den Augen seiner Kindheit wiedergesehen hat.1425 »Und so sehe ich es noch heute, ein alter Mann«, – fügt er zum Schluss hinzu. So wird für die Darstellung des Erstraums1426 Ostgaliziens bei Morgenstern die unwillkürliche Beschränkung auf die kindliche Erlebnis- und Wahrnehmungsperspektive des Narrators eigen. Hier, in Dobropolje, erleben der Ich-Erzähler der autobiographischen Erinnerungen sowie die handelnden Personen seiner Romantrilogie (Welwel Mohylewski erinnert sich oft und gerne an die Zeit seiner Kindheit) die wichtigsten »basalen« räumlichen Gegebenheiten; gerade im Naturraum dieses Dorfes wird die Sprache des Raumes nach der Definition von Dennerlein »anthropologisch«. Relevant für die Beschreibung dieses Raummodells sind phänomenologische Zugänge zur Deutung des Raumerlebens mit dem Betonen der räumlichen Orientiertheit: Der Raum wird entsprechend der individuellen Erlebnisfähigkeit und »Wahrnehmungssinnlichkeit«1427 erfahren und gelebt. Es gibt in den autobiographischen Erinnerungen Morgensterns sowie in seiner Trilogie mehrere Darstellungen von Fahrten, Wanderungen oder auch der Betrachtungen der Landschaft aus dem Fenster, wie zum Beilspiel in der Episode, als Welwel vor »einem der vier offenen Fenster der Grünen Wand«1428 stehen blieb, um die Landschaft, die er am frühen Morgen zu Sicht bekommt, zu bewundern. Der Körper fungiert in diesen Fällen »für die Situierung des Individuums im Raum sowie für das Erleben von Räumen als Orientierungszentrum, über das eine sinnhafte, sinnliche Beziehung zum Raum hergestellt wird«.1429 Die Betrachtung der podolischen Morgenlandschaft stimmt Welwel zum Gebet ein. Es fällt auf, dass sie ausschließlich positiv wirkt (die warme Nacht, der schwere Tau, »silberne Zartheit der Birke, die sich feucht und rein vom Himmel aufhob«).1430 Wichtig sei 1423 1424 1425 1426 1427 1428 1429 1430
Morgenstern 1995, S. 92. Ebd. Ebd. Piatti 2008, S. 361. Würzbach 2006, S. 5. Morgenstern 1996 I., S. 16. Hallet/Neumann 2009, S. 27. Morgenstern 1996 I., S. 16.
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dabei, wie Edmund Husserl diesbezüglich schreibt, der »natürliche Weltboden«1431, der zur Bedingung der Möglichkeit leiblicher Wahrnehmung von Raum oder des räumlichen Erlebens wird. Dazu gehören die »Heimstätten« vom jeweiligen »Ich«, die Husserl als »Urheimat« bezeichnet, von der aus man räumliche Erfahrungen macht. Zu einer solchen »Urheimat« wurde für Morgenstern seine »Heimstätte« Ostgalizien, von der aus er die erste Erfahrungen der körperlichen und sinnlichen Wahrnehmung der ihn umgebenen Welt machte, um den ihn umgebenen Naturraum später in seiner »anthropologischen« Verfasstheit, wie es Maurice Merleau-Ponty in seinem Projekt Das Sichtbare und das Unsichtbare formulierte, zu modellieren: »Es geht nicht mehr darum, vom Raum oder vom Licht zu sprechen, sondern den Raum und das Licht, die da sind, sprechen zu lassen…« – schreibt der Phänomenologe in Das Auge und der Geist.1432 Das Sehen in solchen Augenblicken werde, so Merleau-Ponty, zur Geste, wenn es um den Maler geht.1433 In Analogie lässt sich dazu anmerken, dass im Fall des Schriftstellers das Sehen zur Schrift wird. In solchen »komplexen und oftmals widersprüchlichen Transformationen sinnlich-körperlicher Wahrnehmungen in das Sagbare«, »in Akten der literarischen Sprachgebung« liege, so Hallet und Neumann, auch »unsere Faszination für die Literatur«1434 begründet. Allerdings sind meines Erachtens diese Transformationen auch kulturell bedingt, wenn man das Werk von solchen sprachlich und kulturell unterschiedlichen, aus Galizien gebürtigen Autoren wie Soma Morgenstern, Joseph Roth, Bruno Schulz oder Andrzej Kus´niewicz vergleicht, bei denen die körperlich-sinnliche Wahrnehmung des Naturraumes der Heimat in den Kinderjahren das ganze spätere Schaffen prägte, worin auch eine der Vorbedingungen der Gestaltung des gemeinsamen »Galizischen Textes« bestand. Zum passenden Beispiel der Sichtweise des Autors aus der Perspektive des Kindes und, als Folge, der Verklärung seiner verlorenen Heimat wird die zweite »Promenade« im ersten Buch der Erinnerungen unter dem Titel »Die Kinderjahre«. Morgenstern erinnert sich an die Wanderung auf einem Fußpfad durch ein Roggenfeld mit dem Vater und dem Bruder Schmelkele. Der Roggen scheint dem Kind so hoch zu stehen, »daß an manchen Stellen die Ähren« selbst den Vater überragten.1435 Diese Episode blieb in Morgensterns Erinnerung als ein kunstvolles Filmbild, das in der Bewegung wahrgenommen und im Sinne der phänomenologischen Raumtheorie »gelebt« wird: »Das gelblichmatte Licht machte die kühle Luft so fühlbar milde, als ob man mit der Luft auch das 1431 1432 1433 1434 1435
Husserl 1976, S. 153. Merleau-Ponty 2006, S. 190. Ebd., S. 191. Merleau-Ponty äußert sich hier bezüglich des Schaffens von Cézanne. Hallet/Neumann 2009, S. 27. Morgenstern 1995, S. 58.
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Licht einatmete.«1436 Es wird zum Gehalt der ihn umgebenden Welt und zum Beweis der Geistigkeit, die sie erfüllt. Die Beobachtung und Wahrnehmung der Natur in dieser Episode bezieht Morgenstern auf die jüdische Kulturtradition: Als wir daran waren, aus dem Licht des Roggenfelds in die Luft des Tages zu treten, blieb Schmelkele noch auf dem kühlen Pfad stehn und wartete, bis der Vater an ihn herankam. Dann faßte er ihn mit beiden Händen an und sagte, in Verzückung zu ihm aufblickend: »In dem Licht hast du so ausgesehn wie am Freitagabend, wenn du im Licht der Sabbatkerzen den Wochenabschnitt für den Sabbat übst und so fromm singst, einmal hebräisch, dann aramäisch, dann wieder hebräisch.1437
Der gegebene Naturraum wird hier sinnlich und körperlich (auf der Höhe der Kinderaugen) im Prozess der Bewegung im Raum wahrgenommen und in das »Sagbare«, in die Sprache übersetzt.1438 Da die Sinnlichkeit und Körperlichkeit von Raumwahrnehmungen in diesem Fall literarisch repräsentiert werden, modellieren sie den das erzählende Ich umgebene Naturraum als einen anthropologischen. Er ergibt sich aus dem Erleben von »basalen« räumlichen Gegebenheiten, solchen wie Feld, Pfad, Licht und Luft.1439 Michel de Certeau zufolge wird in diesem Fall die Sprache des Raums selbst »anthropologisch«.1440 Den Naturraum der von Soma Morgenstern erzählten Welt kann man folglich als ein anthropologisches Raummodell beschreiben, zu dem die geophysischen Landschaften gehören, die nicht nur zum Handlungsort der erzählten Geschichte werden, sondern auch infolge der in den gegebenen Naturraum vom Narrator projizierten Bedeutungen seinen Charakter akkumulieren. Dieser Charakter entstand dank dem performativen Vermögen der Sprache; er sei, Siegrid Weigel zufolge, durch Einschreibungen von Gedächtnis- und Erinnerungsspuren aufgeladen.1441 Sowohl in den faktualen als auch in den fiktionalen Texten Morgensterns gibt es viele Beispiele von solchen Einschreibungen. Sie bestimmen mehrere Kindheitserinnerungen des Autors und werden dabei auch als Erinnerungen an die Zeit der Kindheit der handelnden Personen geschildert wie im Fall der Reminiszenzen von Wolf Mohylewski, wenn er an einem Weißkleefeld vorbeikommt und sich an die zeitlich entfernten zwei »vielleicht glücklichsten Tage« seines Lebens erinnert, als er mit seinem Bruder in solchem »grün und silbernen Ozean«1442 zusammen war. Die Bilder der Kindheit spielten dabei für Morgen-
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Ebd. Ebd. Hallet/Neumann 2009, S. 27. Nach Dennerlein gehören zu den »basalen« räumlichen Gegebenheiten u. a. Haus, Wald, Berg, Baum, Teich, Weg, etc. 1440 Certeau, de 2006, S. 348. 1441 Weigel 1999, S. 352ff. 1442 Morgenstern 1996, I., S. 45–46.
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stern die gleiche Rolle wie zum Beispiel für Bruno Schulz, für den die Kindheitsbilder ein Programm seines Schaffens darstellten.1443 Zu solchen »programmatischen Bildern aus der frühen Kindheit« gehört eine Episode aus dem ersten Buch der Erinnerungen In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien, in der Morgenstern die nächtliche Fahrt auf dem Lande im Sommer beschreibt, während der er, als Kleinkind, von seinem Vater geweckt wurde, um Nacht, Sterne und die Lebewesen, die »ihr Licht in sich tragen«, zu erleben und sie »in die schönsten Träume«1444 des Lebens mitnehmen zu können. Die Bemerkung vom Morgensterns Vater, einem feinsinnigen Anhänger des Chassidismus, betont quasi die Bedeutsamkeit der kindlichen Wahrnehmung des Naturraumes für spätere Erinnerungsspuren, die ihm seinen Charakter verliehen: »Du wirst sie noch öfter im Leben sehn, und du wirst immer wieder entzückt sein und wirst dich an diese Nacht erinnern, da du sie zum ersten Mal gesehen hast. Darum bist du aufgewacht.«1445 Mit dem nächtlichen Himmel Ostgaliziens werden Morgenstern wie auch andere aus Galizien stammenden Autoren, zum Beispiel Leopold von Sacher-Masoch und Joseph Roth, die verlassene und verlorene Heimat verbinden. Als Kindheitslandschaft wirkt sie in seinen Erinnerungen, aber auch in der Romantrilogie fast »unwirklich schön«.1446 Klaus Werner deutet hier auf die Rolle des Chassidismus hin, der die Weltanschauung Morgensterns in den frühen Lebensjahren dank dem Einfluss des Vaters prägte: »Vermutlich verdanken sich auch Morgensterns Landschaftsschilderungen nicht einer Schönheit Galiziens schlechthin, sondern zumindest partiell dem Fortwirken der im Chassidismus aufgehobenen jüdischen Mystik, der zufolge die Schöpfungsenergien in der Natur verstreut und dort vorläufig geborgen sind«.1447 Es gibt aber auch andere Sichtweisen, besonders, wenn es um die Poetik Morgensterns geht. So wird aufgrund der »immensen Bedeutung« der Darstellung »von Natur, Landschaft, Emotionen […] und Frömmigkeit« in Morgensterns Texten, vor allem aber in seiner Trilogie, das Schaffen des Schriftstellers mit der Tradition der sentimentalistischen Dichtung der englischsprachigen Literatur in Bezug gesetzt.1448 Ich würde aber den von Morgenstern in faktualen und fiktionalen Texten modellierten Naturraum Ostgalizien nicht als »sentimental« bezeichnen, und zwar aus zwei unterschiedlichen Gründen. Als erster gilt der Umstand, dass man bei Morgenstern viele Beispiele der Naturbeschreibung finden kann, die das Werk der osteuropäischen Schriftsteller prägen wie zum Beispiel Ivan Turgenjev 1443 1444 1445 1446 1447 1448
Ficowski 2008, S. 67. Morgenstern 1995, S. 54–55. Ebd., S. 54. Reichmann 2002, S. 132. Werner 2003, S. 187. Saur 2002, S. 69–75.
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oder Nikolaj Gogol. Bestimmte Parallelen kann man in den Galizischen Erzählungen von Leopold von Sacher-Masoch finden, der unter dem Einfluss von Turgenjev schrieb. Zum gemeinsamen Ausgangspunkt wird hier maßgebend der physische Naturraum, speziell die Spezifik des Georaumes nicht nur Ostgaliziens, sondern des ganzen Flachlandes, das sich von den Karpaten bis zum Uralgebirge erstreckt und seine Beschreibungen in der Literatur impliziert. Es geht in diesem Fall um Raumpoetiken, die semantisch aufgeladen und an bestimmte Orte, Landschaften und Territorien gekoppelt werden.1449 Die große Ebene, zu derer westlichem Teil Ostgalizien gehört, beeinflusst auch die sinnliche Wahrnehmung dieses Naturraumes. Den landschaftlichen Bildhintergrund bildet sowohl in den autobiographischen Erinnerungen Morgensterns als auch in seiner Trilogie die historische Landschaft Podolien – ein schon von Karl Emil Franzos wehmütig-liebevoll beschriebenes »trauriges Land«, eine »öde, braune Haide, welche […] vor Gott in ihrer entsetzlichen Leere ausgestreckt liegt – wie eine Bettlerhand«.1450 Mit seinen unermesslichen Weiten faszinierte Podolien auch Franzos’ Zeitgenossen, Leopold von Sacher-Masoch. Markant erscheint hier die Beobachtung von Rainer Maria Rilke während seiner Russlandreise, die durch die zentrale und südöstliche Ukraine bis zur Wolga führte. In einer Petersburger Aufzeichnung vom 31. Juli 1900 beschreibt der junge Dichter den »SchöpfungsCharakter des Seins«, den er bei der Wahrnehmung der von ihm gesehenen Landschaften spürte: Man lernt alle Dimensionen um. Man erfährt: Land ist groß, Wasser ist etwas Großes, und groß vor allem ist der Himmel. Was ich bisher sah, war nur ein Bild von Land und Fluß und Welt. Hier aber ist alles selbst. – Mir ist, als hätte ich der Schöpfung zugesehen; […]1451
Im Einklang mit diesem Erlebnis stehen auch viele Natur- und Landschaftsbeschreibungen in Morgensterns Texten. Wie Ernst Krˇenek in der Besprechung des Romans Der Sohn des verlorenen Sohnes aus dem Jahre 1936 bemerkt, sei »leuchtende Weite der östlichen Landschaft« bei Morgenstern »aus echtem Natursinn gestaltet«.1452 Besonders kennzeichnend ist er für die Romantrilogie Funken im Abgrund, wo der Naturraum Ostgalizien als dem Erleben von solchen »basalen« räumlichen Gegebenheiten wie Himmel, Felder, Horizont und Stille modelliert wird. »Hier ist ein anderer Himmel« lautet der erste Satz des zweiten Bandes der Trilogie Idyll im Exil, die Einleitung zu Alfreds Aufenthalt in Dobropolje.1453 Der Naturraum wird im Prozess der Bewegung (im Roman sind es 1449 1450 1451 1452 1453
Marszałek/Sasse 2010, S. 7f. Franzos 1877, S. 179. Holthusen 1988, S. 42. Krˇenek 1996, S. 366. Morgenstern 1996, II., S. 11.
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meistens die Wanderungen) sinnlich-körperlich wahrgenommen und dementsprechend narrativ konstituiert. Dabei werden die visuell-akustischen Wahrnehmungen eins: »Die große Stille« »hörte« der Protagonist nicht mehr, er »sah sie nur noch staunend mit den Augen«.1454 Die akustische Aura Galiziens bekommt hier folglich einen besonderen Sinn. Die scheinbare Unendlichkeit des Georaumes Ostgalizien wird vom Autor in das Sagbare transformiert: Je höher sie kamen, um so gewaltiger weitete sich der Horizont. Die Tiefebene tat sich ungeheuer auf. Über Wiesen und Äcker kroch der Fluß, eine grünsilberne Schlange, dahin. Das sanfte Auf und Ab der Flächen erstreckte sich zu einer Landschaft, die so weit erschien wie das Meer. Auf der Erde lag die flache Linie des Horizonts als eine zarte und durchsichtige Grenze, hinter deren himmlischem Schein die Unendlichkeit sich aufmachte und, in alle vernichtenden Fernen entkommend, der Kreatur einen einzigen Laut ihrer ungeheuren Sprache hinterließ, einen unerhörten Laut: die Stille.1455
Die Beschreibung schließen die Worte ab: »[…] unter diesem Himmel könnte noch die Eintracht aller Dinge gedeihen«.1456 Dieser Gedanke eröffnet die Perspektive zum zweiten von mir vermuteten Grund der ausgeprägt sinnlichen, von Emotionen und Frömmigkeit untermalten Gestaltung des narrativ modellierten Naturraums Ostgalizien bei Morgenstern: Er ist bei ihm positiv belegt, die unendliche Weite scheint nicht bedrohlich zu sein, sondern befreit den menschlichen Geist: »Hier, im freien Feld, enthüllte sich der Charakter der Landschaft noch deutlicher als an jenem ersten Abendspaziergang mit Jankel. Weite und Stille, Stille und Weite.«1457 Diese traurige und sanfte Landschaft der ostjüdischslawischen Welt erweist sich dem aus Wien gekommenen jungen Mann als »inhaltslos« und »grenzenlos«.1458 Er fühlt sich vor die Aufgabe gestellt, sich in diese »völlig fremde Landschaft« einzuleben und sie mit Inhalt zu füllen. Der Naturraum Ostgalizien, vom Autor aus der Sicht seiner Kindheit als ein anthropologisches Raummodell konstituiert, eröffnet die Perspektive und kann zum Ursprung eines neuen sozialen Prozesses werden. Damals sah Morgenstern die Ursprünglichkeit Ostgaliziens in der Möglichkeit, hier zum Judentum zurückzukehren, zum Judentum in der vom osteuropäischen Chassidismus geprägten Variante, in das er hineingeboren wurde. Relevant war für ihn aber auch das slawische Milieu seiner Heimat.
1454 1455 1456 1457 1458
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 21. Morgenstern 1996 II., S. 21.
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Sozialraum Ostgalizien als ein institutionelles Raummodell: vom Locus amoenus durch Exklusion zum erhofften Neuland In Bezug auf den Sozialraum Ostgalizien, wie er von Morgenstern in seinen Texten narrativ produziert wurde, spielte, wie schon erwähnt, die notwendige räumliche und zeitliche Distanz die entscheidende Rolle. Der Umstand, dass dieses Raummodell infolge der analytischen Betrachtung des Autors und seiner aktiven, prüfenden Erinnerungsarbeit zustande kam, unterscheidet es von den zwei anderen Raummodellen. Nach der Definition von Dennerlein wird hier das Modell des Sozialraumes ein institutionelles genannt, da bei ihm räumliche Gegebenheiten eine typische räumliche Struktur und ein typisches Ereignismuster aufweisen, die durch soziales Handeln entstehen und sich auf die soziale Wirklichkeit beziehen. Diese Wirklichkeit gehörte nicht zur Sphäre der Kindheit des Schriftstellers: Er hat den heterogenen Sozialraum, der von der galizischen Gesellschaft in seiner Jugendzeit produziert und vom Miteinander verschiedener Sozialgruppen geprägt wurde, erst später eingeschätzt. Denn in diesem Raum materialisierten sich soziale Prozesse und Strukturen, die Morgenstern erst nach der eigenen Ausbildung und Sozialisation im Westen unterscheiden konnte. Aus diesem Grund bekam der Sozialraum Ostgalizien in seiner Darstellung programmatische Züge. Es fällt auf, dass die soziale Wirklichkeit vor allem in den fiktionalen Texten des Autors, in der Romantrilogie also, narrativ gestaltet wurde. Im Sinne des französischen Raumsoziologen Pierre Bourdieu1459 hat die Deutung der Sozialwelt kategorial als Raum folgende Vorzüge: Der physikalische und soziale Raum werden in dem Fall gemeinsam betrachtet; die Raumkategorie sei für die Analyse der sozialen Beziehungen und der sozialen Ordnung als Verteilung der Körper im Raum relevant; und schließlich ermöglicht die Räumlichkeit die relationale Analyse der sozialen Prozesse.1460 Als Beispiel dafür, wie der physische und soziale Raum Ostgaliziens bei Morgenstern gemeinsam im Text der Romantrilogie modelliert wird, kann man seine Darstellung des Lebens auf dem Lande und das Funktionieren des jüdischen Landwirtschaftsunternehmens des frommen Grundbesitzers Welwel Mohylewski erwähnen, das von seinem Verwalter Jankel Christjampoler geführt wurde. In Dobropolje sind Natur und Landwirtschaft in Harmonie verbunden, die von Morgenstern metaphorisch in Beziehung gebracht werden. Folgend sieht das am Anfang des ersten Romans der Trilogie Der Sohn des verlorenen Sohnes beschriebene abgeerntete Kornfeld aus: Wie dicke rundliche Bäuerinnen mit ihren Kopftüchern über den Stirnen, standen die Weizen- und Kornmandeln auf den goldenen und silbernen Stoppelfeldern; Männer, klein von Wuchs, strotzten die festen Gerstenhalme, in ihren gradgesträubten Schnur1459 Bourdieu 2006, S. 354ff. 1460 Neckel 2009, S. 53.
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bärten glitzerten noch Regenperlen. Über weite Flächen zitterten die feingewirkten Spitzen des Hafers lindenblütengrün.1461
In der Szene der Haferernte in Idyll im Exil gewinnt das gemeinsame Natur- und Sozialraummodell Ostgalizien sogar die Züge eines Locus amoenus: Der Verwalter verteilt unter den Bauern die Arbeit mit Freude, »wie wenn man Brot bricht und verteilt«,1462 der junge Erbe des Gutsbesitzers folgt ihm, die Sensenmänner mähen den Hafer. Ergänzt wird die ganze Episode dadurch, dass Alfred während dieser Haferernte Donja besser kennen lernt. Es gibt aber im Ganzen eine fast prophetische Andeutung auf die weiteren Schicksale des jüdischen Volkes, das dieses Land Jahrhunderte lang bewohnte – eine Vorahnung des Todes: Die Mäher, jeder ein Vorarbeiter auf seinem Abschnitt, hatten bereits frische Stoppelrechtecke in das Haferfeld hineingeschnitten. Fest auf den Beinen und im Schritte so breit, daß die gespreizten Beine den mächtig ausschwingenden Sensen in kleinen Tritten folgen konnten, bedrängten die Sensenmänner den Hafer. Unten an den Sensengriffen waren leichte Holzgestelle angebracht, die jeden Schnitt auffingen und mit einer kleinen kippenden Bewegung schnurgerade in die Mahd legten. Wenn ihn die Schärfe der Sense unten an der Wurzel traf, erschauerte der Hafer oben in den zitterigen Köpfchen und wollte sich vor Schmerz ausschütteln, aber dazu blieb keine Zeit; schon lag er, totes Getreide, aufgebettet in der Mahdspur. Alfred, der wohl bei einer Heuernte, aber kaum je bei einer Haferernte zugesehen haben mochte, erfüllte der Anblick des unter der Schärfe der vielen Sensen fallenden Hafers mit einem seltsamen Schauer. Wie wenn Lebendiges umgelegt würde.1463
Das institutionelle Raummodell Ostgaliziens, wie es Morgenstern in seiner Trilogie narrativ gestaltet, spiegelt die Räumlichkeit des Sozialen, die durch die sozialen Beziehungen in der damaligen ostgalizischen Gesellschaft geprägt wurde. Wenn der Schriftsteller das historische Galizien als soziales Raummodell in seinen fiktionalen Texten gestaltet, unterscheidet er zwischen verschiedenen Typen von galizischen Bauern, vor allem zwischen ukrainischen griechisch-katholischen und polnischen römisch-katholischen sowie zwischen den Juden, bei denen neben der religiösen Orientierung ( je nach Orthodoxie, Chassidismus oder Konversion zum Katholizismus) und Ausrichtung der Assimilation (nach der deutschen oder polnischer Kultur) die Art der Beschäftigung entscheidend war.1464 Die soziale Ordnung als Verteilung der Körper im Raum ist in Morgensterns fiktionaler Darstellung von mehreren Grenzen und Oppositionen ge1461 Morgenstern 1996, I., S. 25. 1462 Morgenstern 1996, II., S. 42. 1463 Ebd., S. 48. Die Gestalten der »Sensemänner« in dieser Episode spielen bei Morgenstern auf das Bild des »Sensenmanns« als einer aus dem Mittelalter stammenden personifizierten, anthropomorphen Allegorie des Todes an. 1464 Detailliert darüber in: Reichmann 2002, S. 125–126.
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kennzeichnet. Als Beispiel dient hier die Gegenüberstellung der Klein- und Großstadtjuden sowie der Juden, die in den ostgalizischen Dörfern lebten. Als Sohn eines Ökonomen und Kaufmanns, der oft den Wohnort wechselte, kam Morgenstern auf dem podolischen Lande zur Welt, wo er auch die ersten Jahre seines Lebens verbrachte. Erst später lernte er Unterschiede zwischen den Juden kennen, die zwischen dem Randgebiet und dem Zentrum des Habsburger Reiches zerstreut lebten. In seiner Romantrilogie schildert er dementsprechend Juden aus den ostgalizischen Dörfern, die Kleinstadtjuden, die »polnischen« und die »russischen Juden« sowie die Juden in der Hauptstadt der Monarchie. Besonders unbeliebt sind dabei im dritten Roman der Trilogie Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes die Kleinstadtjuden beschrieben, deren »finstrer Fanatismus« eine der Ursachen war, dass Alfreds Vater, Jossel (Josef) Mohylewski zum Christentum konvertierte.1465 Erwähnenswert in dieser Hinsicht scheint Morgensterns Beschreibung des Städtchens H. zu sein, das vom Grenzbalken in zwei Teile gespaltet war. Die Bemerkung, dass ein Teil schon russisch sei und einen russischen Namen habe, der andere Teil aber österreichisch sei und einen ukrainischen Namen habe1466, lässt mühelos erkennen, dass es sich hier um die Ortschaft Gusjatyn/Husiatyn handelt, eine Stadt, die zur Jugendzeit des Autors (bis 1914) an der Grenze zweier Imperien lag.1467 In Morgensterns fiktionaler Darstellung der geteilten Kleinstadt H. sind mehrere Grenzen und Gegensätze erkennbar, die nicht nur zwischen zwei Staaten bestanden, sondern sich auch zwischen verschiedenen sozialen Ordnungen, im Habitus der Stadtteile und der Menschen, die sie bewohnen, insbesondere der Juden, offenbarten: Den Russen drüben wird ihr Teil dieses Städtchens vermutlich schon ganz österreichisch vorkommen, mich mutete das Städtchen H. diesseits schon ganz russisch an. Auch die Juden erschienen mir schon mehr als russische denn als polnische Juden. […] Sie redeten eine breitere und härtere Mundart als die polnischen Juden, und auch in ihrer Gestalt schienen sie mir fast urtümlicher zu sein als die meiner engeren Heimat, auch bigotter und noch fanatischer als die mir bekannten kleinstädtischen Ostjuden.1468
Ein »Blick aus dem Fenster« – drei Wände des Hotelzimmers hatten je ein Fenster, aus jedem »das Städtchen ein völlig verschiedenes Gesicht zeigte«1469 –, gestattet dem Protagonisten, Josef Mohylewski, der in Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes als Ich-Erzähler fungiert, den Markplatz von H. in seinem wahren Elend zu betrachten: 1465 Morgenstern 1996, III., S. 306–307. 1466 Ebd., S. 159–160. 1467 Adelsgruber/Cohen/Kuzmany 2011, S. 65–78. Nach dem Ersten Weltkrieg, während dem die Hälfte der Bevölkerung die Stadt verlassen hatte und sie »einem Friedhof glich«, kam die Stadt unter polnische Herrschaft. 1468 Morgenstern 1996, III., S. 160. 1469 Ebd., S. 161.
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Aus dem Frontfenster sah man auf den Marktplatz hinunter, auf einen jüdischen Marktplatz eines kleinen Städtchens. Wer einen solchen Marktplatz nie gesehen hat, der hat die Grimassen des wahren Elends im Leben nicht kennengelernt. Ich kannte einige solcher Marktplätze. In den Jahren der Kindheit schon und später im Jahre des Militärdienstes hatte ich mehrere solcher Marktplätze gesehen.1470
Das Bild »eines ganzen Jahrmarkts in einem solchen Städtchen« sei dem Protagonisten und dementsprechend dem Autor, schlimm vertraut.1471 Morgenstern knüpft hier an die Tradition der Schilderung des galizischen Elends an1472, wenn das Bild der Armut der ostjüdischen Bevölkerung zum permanenten Topos des »Galizischen Textes« wird.1473 Die im sachlichen Stil der Roth’schen Reportagen geschriebene Aufzählung der Vertreter verschiedener Berufe und unterschiedlicher Beschäftigungen, die im engen Raum des Jahrmarktsplatzes zusammenkommen, erlaubt es Morgenstern, in Miniaturen den Ausschnitt aus dem Sozialraum des ostgalizischen Städtchens zu modellieren.1474 Der Ausblick vom zweiten Fenster »in der Schmalwand« bot ein anderes Bild, und zwar des ukrainischen Viertels der Kleinstadt. Markant ist hier, dass Morgenstern die Präsenz der österreichischen Verwaltung in der Grenzstadt als einen positiven Faktor hervorhebt: Das zweite Fenster in der Schmalwand bot einen freundlichen Anblick. Man übersah hier von der Ferne das christliche Viertel von H. Kleine, meistens einstöckige Häuschen, nicht zu enge Gässchen, eine Kirche mit einem Zwiebelturm, eine Schule und ganz unten, beinahe schon am Ufer des Flüsschens, eine Kavalleriekaserne, habsburgisch angestrichen, in dieser Umgebung eine Wohltat dem Auge: man war hier noch in Österreich.1475
Ergänzt werden diese lebendigen Bilder durch den Anblick, der sich aus dem dritten Fenster des Hotelzimmers bot, nämlich der Anblick des Stadtgartens von H., der ein privater Park des polnischen Grafen P. (Potocki1476) war. Die für Morgenstern typische sinnlich-malerische Beschreibung des Parks mit den herbstlichen Alleen zeugt vom anderen Leben und anderen sozialen Schichten der Bevölkerung des »geteilten Ortes«. Es gibt noch eine gesellschaftliche Erscheinung der sozialen Wirklichkeit im historischen Ostgalizien, die zum Modellieren des Sozialraums in Morgensterns 1470 1471 1472 1473
Ebd. Ebd. Vgl.: Kłan´ska 2012; Pappenheim 1992. Vgl. die Beschreibung der jüdischen Gassen und Ghettos bei Karl Emil Franzos, Manès Sperber, Ivan Franko u. a. 1474 Morgenstern 1996, III., S. 161–162. 1475 Ebd., S. 163. 1476 Die Mitglieder der Magnatenfamilie Potockis gehörten zu den prominentesten Bewohner der Stadt. In: Adelsgruber/Cohen/Kuzmany 2011, S. 69.
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Erinnerungen an seine Jugend sowie in der galizischen Romantrilogie gehört: Die Darstellung der Judenfeindlichkeit. Die relationale Analyse dieser sozialen Prozesse, und zwar der religiösen und sozialen Absonderung der Juden in der galizischen Gesellschaft und der daraus resultierenden Konfrontation mit ihnen vonseiten anderer Völker, spielt beim narrativen Modellieren des ostgalizischen Sozialraums in den faktualen und fiktionalen Texten des Schriftstellers aber eine unterschiedliche Rolle. Es scheint auf den ersten Blick, dass Morgenstern, der seine Erinnerungen an die Jugend, wie erwähnt, schon nach dem traumatischen Holocaust-Erleben in der amerikanischen Emigration diktiert hat, sich weigerte, den Antisemitismus in Galizien zu schildern1477 und deswegen dessen zahlreiche Erscheinungsformen aus seiner Ich-Erinnerungsarbeit exkludierte. Die auf den Schriftsteller im Sinne von Assmann »therapeutisch« wirkende narrative Darstellung der Holocaust-Tragödie in Ostgalizien hat Morgenstern erst in seinem letzten Roman Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth verwirklicht. Wie früher betont, war für die autobiographischen Erinnerungen Morgensterns die Wahrnehmungsperspektive der Kindheit entscheidend, die auf die Schilderung des Sozialraums seiner Heimat nicht hinzielte. Es gibt in seinem »Buch der Kindheit« nur wenige Stellen, wo der Autor über den alltäglichen »katholischen Antisemitismus, der in ganz Österreich üblich war«1478 in den Mittelschulen Galiziens spricht. Dabei habe er aber eine »polnische Färbung«1479, – so der Autor. Aus »der Sicht des Kindes« ist auch die Anekdote über einen Bauernscherz an einem Juden erzählt1480 oder die persönliche Beleidigung des jungen Morgensterns durch polnische Mitschüler, die Brüder Mokrzyckis, beschrieben.1481 Es gibt hier keine Stellungnahme des Autors zum Kontext der sozialen Absonderung und als Folge zur Verspottung der Juden. Auch im ersten Roman Der Sohn des verlorenen Sohnes, den Morgenstern 1930 zu schreiben begann und 1934 in Paris beendete, kommt es zu keiner Schilderung der offenen Konfrontation verschiedener Völker im institutionellen Sozialraum Ostgalizien. Es gibt dafür im dritten Roman der Trilogie Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes, der mit mehreren Unterbrechungen geschrieben und erst 1943 abgeschlossen wurde, eine Textpassage, in der Morgenstern sich bemüht, am Beispiel des polnischen Nationalisten Lubasch die Gründe für den damaligen Antisemitismus in Galizien zu erklären.1482 Er lässt ihn »wie aus dem Buch«1483 reden 1477 1478 1479 1480 1481 1482
Reichmann 2002, S. 137. Morgenstern 1995, S. 276. Ebd. Ebd., S. 98–99. Ebd., S. 116. Ausdrücke, die die ukrainischen Bauern im Gespräch über die Juden am Anfang des Ersten Buches in Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes gebrauchen, nämlich »Cholera« und »Pest« geben noch keinen Grund, diese Redewendungen als »antisemitisch« einzuschätzen,
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und alle Geschäfte der Juden im Lande aufzählen. Die Schlussfolgerung von Lubasch lautet: »Die Juden kontrollieren den ganzen Handel unseres Landes.«1484 In dieser Deutung kann man die Kenntnis des Schriftstellers der Arbeiten eines Theoretikers des Antisemitismus, des Publizisten Wilhelm Marr, vermuten, der 1879 ursprünglich im Rahmen der Ideologie der Zurückdrängung des jüdischen Einflusses im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben den Begriff selbst prägte und gebrauchte. Gerade Lubasch, »der Mensch mit Matura«, wurde im zweiten Roman Idyll im Exil zum Provokateur, der die Bauern zur Gewalt gegen den begabten jüdischen Knaben Lipa Aptowitzer, mit dem Kosenamen Lipusch genannt, aufhetzt. In diesem nach 1933 geschriebenen Roman wurde Morgensterns Blick auf die Situation der Juden in Europa geschärft, Ostgalizien zählte er auch dazu. So ließ er Welwel Mohylewski folgende skeptische Meinung äußern: »Ich habe kein Vertrauen zu der Lage der Juden hier.«1485 Zur Kulmination des Romans wurde die voll Schmerz und Trauer dargestellte Szene der Steinigung von Lipusch. Diese Episode gehört zu den beeindruckendsten in Idyll im Exil. Ähnlich wie bei Alexander Granach in Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens1486 wird ein Kind zum Opfer nationaler Konfrontation, die im Sozialraum Ostgalizien infolge der Hetzerei »von außen« entstand. Wenn Granach die tragische Episode aus seinem Leben erzählt – sein kleiner Bruder Rachmonessl wurde von den betrunkenen ukrainischen Burschen aus der Nachbarfamilie so lange gejagt, bis er in einem Brunnen ertrank – knüpft Morgenstern die Geschichte des Kindopfers an die chassidisch-mystische Tradition. Besonders deutlich wird dieser Bezug in der Szene des Begräbnisses von Lipusch: Mechzio, der Leichenträger »trug den Sarg auf vorgestreckten Armen so leicht wie eine kleine Schachtel. Auf seinem Gesicht leuchtete ein Feuer, als trüge er die Tora zum Tanz am Tage der Torafreude.«1487 Nach dem Segnen des Sarges durch alten Raw wurde von den jungen Sängern »El mole rachmim« gesungen, eine »fanatisch aufflackernde Melodie des Schluchzens«, die Tote segnete, »die zur Heiligung des Namens gemordet worden waren«.1488 In beiden Fällen wurde die Konfrontation »institutionell« angestiftet: Bei Granach waren es der polnische Gutsbesitzer und der griechisch-katholische Priester; bei Morgenstern der Gemeindeschreiber, ein polnischer Nationalist. Zu
1483 1484 1485 1486 1487 1488
wie es bei Reichmann zu lesen ist (Reichmann 2002, S. 137). Wie Morgenstern selbst erklärt, sei es bloß »die Art zu reden«, die mit der Persönlichkeit nicht das Geringste zu tun habe (Morgenstern 1996, III., S. 12). Die galizischen Polen und Ukrainer gebrauchten diese Ausdrücke auch gegeneinander, um die Emotionen im Gespräch zu bekräftigen. Morgenstern 1996, III., S. 50. Ebd., S. 50–51. Morgenstern 1996, II., S. 327. Granach 1994, S. 46–51. Morgenstern 1996, II., S. 343. Ebd., S. 344.
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den Mördern von Lipusch wurden die polnischen Bauern, die Brüder Mokrzyckis, die den Namen der Verleumder aus den Schuljahren des Autors in seinen autobiographischen Erinnerungen tragen. Hinter der nationalen Konfrontation aber, sowohl bei Granach als auch bei Morgenstern, steht die Geschichte der politischen und sozialen Rivalität zwischen Ukrainern und Polen in Ostgalizien, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts klar zutage trat. Die Ursache dafür lag darin, wie Jacques Le Rider schreibt, dass »Galizien um die Jahrhundertwende schon völlig polonisiert war, wobei die Ruthenen [die Ukrainer, L. C.] sich allerdings minorisiert fühlten, obwohl sie im Osten Galiziens die demographische Mehrheit bildeten […].«1489 Die Spannung zwischen den beiden Völkern verschärfte sich mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie, als es zum Kampf um die politische Macht kam; die galizischen Juden gerieten in die »Zwischenposition«. Folgend schrieb Granach darüber in seinen Erinnerungen an die Heimat: Die galizischen Juden, die bis jetzt friedlich gelebt hatten, spürten plötzlich, dass mit Österreich auch sie den Krieg verloren hatten. Denn beide Armeen [die polnische und die ukrainische, L.C.] hatten dieselbe Losung: bej Zyda! Haut den Juden!1490
Die gleiche Meinung äußerte auch Alfred Döblin in seiner Reise in Polen von 1924, als er unter anderem Ostgaliziens Hauptstadt Lemberg besuchte: Während der Machtkämpfe zwischen Ukrainern und Polen standen die Juden, laut ihm, den beiden Parteien im Wege.1491 Im Zentrum der Aufmerksamkeit von Morgenstern sind aber die sozialen und politischen Prozesse in seiner Heimat in der Zwischenkriegszeit, als Ostgalizien dem polnischen Staat angehörte. Der von ihm narrativ modellierte ländliche Sozialraum Ostgalizien wird durch eine Grenze geteilt, die infolge der polnischen Kolonisation dieser Region in den 1920-er Jahren entstand und eine relationale Analyse des vom Autor gestalteten Modells des Sozialraums gestattet. Im Hintergrund des Geschehens in Idyll im Exil stehen die Beziehungen zwischen zwei ostgalizischen Dörfern, nämlich zwischen dem »Alten« und dem »Neuen«. Obwohl Morgenstern in seiner Trilogie nicht präzisiert, wie es zum Entstehen des »Neuen Dorfes« kam, kann man den Grund dafür aus der Reisebeschreibung von Döblin in Erfahrung bringen. Sein scharfer Blick erkannte im Sozialraum Galiziens die Spuren der Kolonisation, wodurch es zum Konflikt zwischen Ukrainern und Polen gekommen war: »Die Polen setzen polnische Kolonisatoren in das Land aus, Soldaten, Invalide. Die sollen polonisieren.«1492 Dabei fällt es bei Morgenstern auf, dass in seiner Schilderung die ostgalizischen Juden von den Ukrainern weniger bedroht werden: Als Lipusch neben der Versammlung der Bauern aus dem »Alten Dorf« vorbeiging, hatte er 1489 1490 1491 1492
Le Rider 2008, S. 145. Granach 1994, S. 404. Döblin 1968, S. 199–200. Ebd., S. 192.
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keine Angst.1493 Zum einzigen Menschen, der den wütenden polnischen Bauern Widerstand leistete, um das Kind zu retten, wurde der ukrainische Bauer Panjko, der infolge der Schlägerei schwer verletzt wurde.1494 Ungeachtet der Darstellung der sozialen Absonderung der Juden in Ostgalizien im zweiten Roman der Trilogie, die der Schriftsteller infolge der Beobachtung der Zunahme der antisemitischen Tendenzen in ganz Europa und des Erlebens der offenen Judenverfolgung durch das Naziregime kritisch einschätzen konnte, verknüpfte Morgenstern seine Vorstellungen von der Erneuerung des Judentums immer noch mit seiner Heimat. Der Sozialraum Ostgalizien wurde für ihn infolgedessen ein »Neuland«, ein Ort der Rückkehr zum Judentum. Der Vektor dieser Rückkehr zeigte von Westen nach Osten und führte zu einer Sonderdarstellung Galiziens im Schaffen dieses Autors, wenn man die traditionelle Rolle dieser Region als Transitland der Emigration von Osten nach Westen bedenkt. Deswegen lässt er seinen Protagonisten Alfred Mohylewski, der in Wien geboren und ausgebildet wurde, diese traurige, arme, »dennoch nicht gottverlassene ostjüdische Welt«1495 kennen lernen und in diesem Land bleiben, um hier seine Rückkehr zum Glauben und zur Kultur seiner Vorväter vollziehen zu können. Diesen Weg konnte sich Morgenstern damals auf dem Lande Ostgaliziens, die seine Heimat geblieben war, vorstellen. Hinsichtlich der immer größeren Bedrohung der ostjüdischen Welt aber, die als Vorahnung des Unheils in Idyll im Exil präsent ist, entschließt sich sein Protagonist doch, den Weg des praktischen Zionismus zu gehen: Alfred gründet auf dem Gut eine Landwirtschaftsschule für junge Auswanderer nach Palästina.
Kulturraum Ostgalizien als ein spezifisches Raummodell: Nebeneinander und Dialog Das narrative Modellieren des Kulturraumes Ostgalizien erfolgt bei Morgenstern auch im Zuge der Erinnerungsarbeit des Autors an die Zeit seiner Kindheit und Jugend; entscheidend erweist sich die Beobachtung und Wahrnehmung aus der Kindheitsperspektive. Das narrative Modell des Kulturraums in seinen Texten wird hier als ein nach der Definition von Dennerlein »spezifisches Raummodell« beschrieben. Dieses Modell sei gemäß der Forscherin nicht den typischen 1493 Morgenstern 1996, II., S. 332. 1494 Ebd., S. 339–341. Bei Morgenstern kann man hier die gleiche Position der politischen Sympathien beim ukrainisch-polnischen Widerstand in Ostgalizien sehen, wie schon früher bei Karl Emil Franzos und Leopold von Sacher-Masoch: Die beiden galizischen Autoren waren auf der Seite der durch die Polonisierung des Landes unterdrückten Ruthenen (Ukrainer) gewesen. 1495 Morgenstern 1996, I., S. 77.
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räumlichen Gegebenheiten und Ereignisabfolgen zugeordnet, sondern mit einer bestimmten Handlung und mit bestimmten räumlichen Gegebenheiten verbunden, die sich vor allem auf den Bereich der Kultur beziehen.1496 Was wird hier unter diesem Begriff verstanden, der laut Wolfgang Müller-Funk »einer der schwierigsten und schwerwiegendsten Großbegriffe – politisch wie wissenschaftlich«1497 sei? Kultur umfasse, schreibt er, Bereiche wie Tradition, Habitus, Lebenskultur, das Gedächtnis sozialer Entitäten.1498 Hinsichtlich dieser Mehrdeutigkeit des Begriffs wird hier vor allem der soziale Gesichtspunkt in Betracht gezogen, der die Kultur, so Müller-Funk, als »das Insgesamt von Lebensweisen (›whole way of life‹) begreift.«1499 Außerdem habe Kultur auch ihre Narrative, denn Kulturen seien immer auch »als Erzählgemeinschaften anzusehen […].«1500 Wenn es in unserem Fall um den gemeinsamen, aus dem Miteinander wichtigster kulturellen Traditionen des Kronlandes entstandenen »Galizischen Text« geht, so gehört zu dem auch die narrativ gestaltete Welt Morgensterns an. Das Miteinander verschiedener Völker in derselben Landschaft konnte der 1890 geborene Morgenstern schon ab den ersten Lebensjahren wahrnehmen und miterleben (bis zur endgültigen Katastrophe, wenn wir darunter den Anfang des Ersten Weltkriege verstehen, dauerte es noch 24 Jahre). Nicht zufällig betonte Krˇenek bei der schon erwähnten Besprechung des ersten Romans der Trilogie 1936 »die im allgemeinsten und schönsten Sinn österreichische Haltung des Romans« – ihm liege »die Idealvorstellung eines auf gegenseitiger Achtung beruhenden harmonischen Zusammenlebens ihrer Eigenart und Individualität bewussten gesellschaftlichen Einheiten zugrunde, ein wahrhaft europäisches Ideal also, das in der verklärten Erinnerung an die alte, universale Einheit des Reichs lebendig ist.«1501 Diese Haltung dominiert auch in den autobiographischen Erinnerungen an die Kindheit und Jugend des Autors. Differenzen zwischen den einzelnen ethnisch und konfessionell unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die Morgenstern während seines Lebens in Ostgalizien wahrnehmen konnte und die ihm später, während des Niederschreibens der Romane oder des Erzählens der Erinnerungen an die Jugendzeit bewusst wurden, sind von ihm nicht außer Acht gelassen. Besonders oft kommt in den Romanen die Betonung der Gegensätze zwischen den Juden und den Christen vor, von denen auch deren Habitus geprägt ist. Wie Eva Reichmann bemerkte, seien die Juden in Morgensterns Darstellung meistens krumm und dunkel, sie kleiden sich chassidisch-altfränkisch; die ukrainischen Bauern seien zwar grob, aber athletisch und 1496 1497 1498 1499 1500 1501
Dennerlein 2009, S. 181. Müller-Funk 2008 a, S. 4. Ebd. Müller-Funk 2008 b, S. 4. Müller-Funk 2008 a, S. 14. Krˇenek 1996, S. 366.
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bunt.1502 Es gibt in der Darstellung Morgensterns aber auch Gegensätze zwischen den Anhänger verschiedener Traditionen des Judentums. So wurde der Urgroßonkel der Brüder Mohylewskis, der uralte orthodoxe Rabbi Abba aus Rembowlja als »ein unerbittlicher Gegner des Chassidismus«, als »ein Feind aller Wunderrabbis« geschildert.1503 Nach Erhalt der Nachricht, dass Juda Mohylewski seinen Sohn Jossele (Josef) auf dem Gymnasium studieren ließ, brach er »alle Beziehungen zur Familie«1504 ab. Prägnant für die Abbildung mehrerer Trennlinien im Kulturraum Ostgalizien erweist sich die Schilderung der Fahrt von Wolf Mohylewski und Jankel Christjampoler aus Dobropolje nach Wien am Anfang des ersten Romans der Trilogie.1505 Obwohl die Reise innerhalb desselben Staates verlief, passierten die Beiden auf ihrem Weg aus der ethnisch heterogenen Provinz in das von der Assimilation gekennzeichnete Machtzentrum der Monarchie mehrere Grenzen, die die einzelnen kulturellen Traditionen des Landes trennten. Stilistisch hat hier Morgenstern die optimale Lösung gefunden: Die Fahrt als bestimmende Handlung im Georaum Ostgalizien, die Art der Bewegung in ihm – die beiden fahren in einer Kutsche durch die podolische Landschaft – ermöglicht einen präzisen Blick auf die sich abwechselnden Szenen und dementsprechend auf bestimmte räumliche Gegebenheiten zu werfen. Auf diese Weise wird schon am Anfang der Trilogie ein spezifisches Raummodell der heterogenen Kultur Ostgaliziens konstruiert. Die Reisenden bekommen ukrainische Dörfer mit den sie bewohnenden Bauern zu Gesicht, sie fahren an den griechisch- und römisch-katholischen Kirchen sowie an deutschen Siedlungen vorbei, sie treffen einen polnischen Verwalter, einen ukrainischen Hirtenjungen, jüdische Barbiere und sprechen mit den christlichen Bauern und einem jüdischen Krämer.1506 Als schärfste Trennlinie im heterogenen galizischen Kulturraum erwies sich aber die Abgrenzung zwischen den Konfessionen – der jüdischen und der christlichen – ein für den ganzen »Galizischen Text« prägnantes Thema. Es kommt schon in der Art der Begrüßung vor: Auf »Gelobt sei Jesus Christus« erwidert der ukrainische Kutscher »In Ewigkeit amen«, Wolf Mohylewski dagegen antwortet »mit dem ausweichenden »Guten Morgen«.1507 Diese Trennlinie konnte nur im Fall der Grenzüberschreitung – der Konversion – aufgehoben werden; sonst waren alle Annäherungen im gemeinsamen Kulturraum mit Zurückhaltung oder sogar Schrecken verbunden. Es gibt in Morgensterns autobiographischen Erinnerungen an die Schuljahre eine Episode, in der die Vor1502 1503 1504 1505 1506 1507
Reichmann 2002, S. 132. Morgenstern 1996, I., S. 188. Ebd. Ebd., S. 19–53. Ebd., S. 23–41. Ebd., S. 24.
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bereitung zum Empfang des Bischofs im Dorf dargestellt wird. In der Erzählung darüber, dass er als Schüler im Chor neben den christlichen Jungen in der ersten Reihe als Solist stehen und vor dem Bischof ein Psalm singen musste, erwähnt Morgenstern, dass er »Bedenken« hatte, dass sein Vater diese ihm zugewiesene Aufgabe »nicht billigen könnte«.1508 Als der junge Sänger als Auszeichnung vom Bischof ein Bild der Madonna geschenkt bekam, war er selber bestürzt, sein Vater aber, ein gelehrter Anhänger des Chassidismus, erbleichte und schaute mit erschrockenen Augen dem Vorgehen zu.1509 Neben diesen mehr oder weniger scharf ausgeprägten Trennlinien im heterogenen Kulturraum Ostgalizien gewinnt dieser beim narrativen Modellieren in den Texten Morgensterns aber auch die Züge eines hybriden Kulturraumes, wo die Grenzen zwischen einzelnen Kulturen »durchlässig« sind und in dem die oben genannten Differenzen untereinander korrelieren, um in einen Dialog einzutreten. Der Begriff »Hybridität« wird oft als ein Spezifikum der zentraleuropäischen Region genannt, der den Begriff »Multikulturalität« ersetzt.1510 In dieser Untersuchung wird er im Sinne des Konzeptes »Dialogizität« von Michail Bachtin1511, der von Homi K. Bhabha für die Postcolonial Studies weiter entwickelt wurde, gebraucht. Relevant ist, dass bei Bachtin die Rede auch von der »Polyphonie«, vom »Tiegel der Vermischung« ist – Begriffe, die hinsichtlich der multikulturellen Welt der Habsburgermonarchie oft gebraucht werden. Galizien kann diesbezüglich als ein Modellfall dienen, wovon auch die Texte Morgensterns zeugen. In Hinsicht auf theoretische Konzepte von Homi Bhabha ist hier seine Position zu betonen, dass schon die Einzelkultur, aus der ein Mensch stammt, durch die Kreuzung und Opposition der verschiedensten Tendenzen gekennzeichnet sei.1512 Dass es im Kulturraum Ostgalizien zum Dialog zwischen verschiedenen Kulturen im Sinne der Lebensweisen sowie zwischen verschiedenen Konfessionen kommen konnte, ist aus der oben angeführten Episode über den Besuch des
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Morgenstern 1995, S. 83. Ebd., S. 84. Niedermüller 2003, S. 69–81. Ebd. Sylvia Sasse erklärt dazu: »Bachtin ›kombiniert‹ hier ganz bewusst das Dialogische mit dem Hybriden. Mit der Verwendung von Hybridität in der Botanik, wo aus zwei differierenden Entitäten etwas Drittes gebildet wird, das Eigenschaften von beiden aufweist und dessen neue Merkmale vererbbar sind, hat Bachtins Dialogizität mit der Idee der Hybridität nicht viel gemein. Selbst wenn er in diesem Zusammenhang die Begriffe ›Kreuzung‹ (skresˇcˇenie) oder ›Überschneidung‹ (peresecˇenie) verwendet, dann nie, um eine Konnotation von ›Vermischung‹ aufzurufen, sondern um – ganz im Gegenteil – anzuzeigen, dass in der genannten Kreuzung zwar ein ›inneratomarer unregelmäßiger Wechsel der Stimmen‹ stattfindet, diese aber als sich unterscheidende noch zu identifizieren sind«. (Sasse 2010, S. 134). 1512 Hofmann 2006, S. 28.
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Bischofs im Dorf aus In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien ersichtlich.1513 Die Prozession ist vom Morgenstern wie folgt beschrieben: Als der hohe Tag angekommen war, formierte sich die ganze Parade schon am frühen Morgen zur Probe. Voran ritt die Kavallerie, geübte Reiter auf flinken Pferden mit farbenbunten Bändern in den Mähnen. Die Reiter hatten Blumenkränze um die Schultern, und ein ausgedienter Wachmeister ritt an der Spitze der Kompanie. Ihnen folgte die Bauernkapelle mit Pauken und Trompeten und sonst üblichem Blech. Hinter der Musik, der Dorfälteste voran, schritten die würdigsten Bauern mit ihren Frauen und Kindern, im schönsten Sonntagsgewand, alle blumengeschmückt. Das alles in der schmalen Dorfgasse, die von der Landstraße ab zur Dorfkirche führte. Zu meinem großen Erstaunen rückten auch die Juden aus, wie zum mittelalterlichen Empfang eines regierenden Fürsten, mit Brot und Salz. Und mit Tora!1514
In diesem Miniaturbild, das der Schüler Morgenstern im engen Raum der Dorfgasse mit Bewunderung beobachtete, sind Vertreter der größten damals in Ostgalizien zusammen lebenden Völkergruppen präsent: der polnische, römisch-katholische Bischof, die österreichischen Militärs, die ukrainischen Bauern und die Vertreter der jüdischen Gemeinde im Dorf. Sie alle treten in eine dialogisierende Beziehung untereinander, die aus der Situation der gemeinsamen Begrüßung des Bischofs resultiert. Das narrativ produzierte spezifische Modell des Kulturraumes der Ortschaft ist hier von der kulturellen Hybridität gekennzeichnet. Die Merkmale der Hybridität, die der aus der Sicht des Kindes wahrgenommenen friedlichen Koexistenz und Inklusion der Vertreter verschiedener Völker in Ostgalizien eigen sind, kommen in der Geschichte des ukrainischen Kutschers Oleksa Smoljak zum Ausdruck, die Morgenstern in seinen autobiographischen Erinnerungen erzählt. Oleksa, der engste Vertraute der jüdischen Familie, wurde von den Kindern »Hofgoj« genannt; in der Vorstellung der Kinder wurde er sogar mythisiert: Diese Gestalt überlappte sich mit der Figur eines anderen Oleksas, mit dem Lieblingskutscher des Begründers des Chassidismus, des heiligen BaalSchem. Als hybrid wirkte auch der Habitus einzelner Galizier, wie ihn sich der IchErzähler der autobiographischen Erinnerungen an seine Jugend in Ostgalizien merkte. So wird ein Gymnasiallehrer wie folgt beschrieben: »Er hatte einen deutschen Namen und einen roten, jüdischen Bart, war aber ein echter Pole […].«1515 Besonders hybrid erweist sich der Kulturraum Ostgalizien in Morgensterns narrativ produziertem Modell hinsichtlich der Sprachen, die nicht nur nebeneinander existierten, sondern auch untereinander korrelierten und Dialogizität im Sinne Bachtins aufweisen. Hier soll vor allem auf ein besonderes Phänomen 1513 Morgenstern 1995, S. 83–84. 1514 Ebd. 1515 Ebd., S. 220.
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der Mehrsprachigkeit bei diesem Autor hingewiesen werden1516, das zu einem der Substrate des »Galizischen Textes« wird. Auf dem podolischen Lande geboren, ist Morgenstern im Sprach- und Kulturgemisch der ostgalizischen Dörfer aufgewachsen. Es war für seine Kindheit und Jugend der normale Stand der Dinge. Über die besondere Rolle der einzelnen Sprachen berichtet Morgenstern im Kapitel aus dem ersten Buch über die Kinderjahre, betitelt »Eine Amme im Haus«.1517 Die erste Sprache, die er als Kleinkind gelernt hatte, sollte die Sprache der Amme sein, nämlich Ukrainisch. Ihr folgte Jiddisch, die er teils von der Mutter, teils von der älteren Schwester lernte. Im schulfähigen Alter begann Morgenstern Hebräisch bei einem Dardik-Lehrer, wie man auf Jiddisch einen Knaben-Lehrer nannte, zu erlernen. In der Volksschule waren nicht nur alle in Ostgalizien gebräuchliche Sprachen im Lehrplan, sondern auch die Schulklassen kulturell gemischt. Von der Affinität zum Ukrainischen und vom besonderen Sprachgefühl Morgensterns zeugt auch die von ihm im Erinnerungsbuch Joseph Roths Flucht und Ende beschriebene Szene des letzten Treffens mit seinem Freund Roth kurz vor dessen Tod, als dieser ihn bat, seine zwei Lieblingslieder vorzusingen: das jüdische Lied »Es war einmal eine Geschichte« und das ukrainische »Hyla, hyla«1518, – die Lieder in zwei Sprachen, mit denen die beiden ihre Heimat assoziierten. Denn der Wechsel von einer zur anderen Sprache gehörte im kulturell hybriden Raum Ostgalizien unter allen Bevölkerungsschichten, insbesondere aber unter den Gebildeten, zum Alltag. Zum locus communis der Hybridität des ostgalizischen Kulturraumes wird in Morgensterns Erinnerungen an seine Gymnasiastenjahre in Tarnopol die Schilderung der abwechselnd auftretenden jiddischen, polnischen und ukrainischen Theatertruppen, die in der ostgalizischen Provinzstadt gastierten. Sie wurden von allen drei Bevölkerungsgruppen der Reihe nach regelmäßig besucht: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung war dabei jüdisch; den Rest teilten sich Polen und Ukrainer1519 – berichtet der Erzähler im Kapitel mit dem »sprechenden« Namen »Drei Völker, drei Welten, drei Theater«. Dabei war die Mehrsprachigkeit, die in diesem Kulturraum praktiziert wurde, von der Habsburger Verwaltung gesichert, obgleich die Amtssprache und lingua franca der Monarchie bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Deutsch blieb. Deutsch begann Morgenstern auch schon im Kindesalter zu erlernen, und zwar, mit großer Unterstützung des Vaters, der zu sagen pflegte: »Du kannst lernen was immer – wenn du Deutsch nicht kannst, bist Du kein gebildeter Mensch.«1520 Für den jüdischen Krämer Lejb 1516 Zur Morgensterns Beherrschung mehrerer Sprachen und ihrer Rolle in seinem Werke in: Cybenko 2008 und Da˛browska 2013. 1517 Morgenstern 1995, S. 36–43. 1518 Morgenstern 1994, S. 286. 1519 Morgenstern 1995, S. 326. 1520 Ebd., S. 86.
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Kahane aus Der Sohn des verlorenen Sohnes »war Deutsch und Technik, Deutsch und Fortschritt, Deutsch und Großstadt die gleiche Sache.«1521 Diese Sprache war damals in Galizien in allen Volks- und Mittelschulen obligatorisch, eine Tatsache, die Morgenstern folgendermaßen erklärt: »Schließlich war Galizien ein österreichisches Land […]«.1522 Deutsch wurde für den Schriftsteller auch die Sprache seines literarischen Schaffens, die er bis zu seinem Tod behielt, ungeachtet des Holocausttraumas, als Morgenstern für einige Jahre »verstummte« und in Englisch oder Hebräisch publizierte.1523 Es war ein Versuch, das individuelle und kollektive Trauma abzuspalten, obwohl nur die Transformation des Traumas in die bewusste Erinnerung imstande war, es zu überwinden. Denn – wie Assmann betont – haben gerade die Darstellungsformen der Literatur eine therapeutische Wirkung in der Hinsicht, dass sie die Traumata »aus einer Innenperspektive imaginativ erlebbar machen«.1524 Dadurch könne das Trauma, laut Assmann, »zwar nicht geheilt, aber in seiner destruktiver Kraft entschärft werden«.1525 Die bewusste Erinnerung an den heterogenen und hybriden Kulturraum seiner Heimat, die im Hintergrund des autobiographischen Werks des Schriftstellers steht und ein entsprechendes Modell dieses Raumes in seinen Erinnerungstexten gestaltet, übt auch einen Einfluss auf sein literarisches Schaffen aus, indem er sich seiner Heimat zuwandte. Als Bestandteil des »Galizischen Textes« zeigt Morgensterns Werk ein für die gemeinsame Erzählung Galiziens typisches Phänomen auf: Obwohl der Schriftsteller seine Romane auf Deutsch schrieb, gibt er aber in seinen Texten die Mehrsprachigkeit Galiziens wieder, und zwar, in der Form ihrer Vertextung.1526 Es gibt in der Romantrilogie mehrere Beispiele, wo die Figuren mühelos zwischen Jiddisch, Ukrainisch oder Polnisch wechseln, mehrere Begriffe auf Jiddisch und Hebräisch, markante Phrasen, Wendungen, Sprüche und Passagen in Ukrainisch gebrauchen.1527 Das letztere entspricht der Tatsache, wie Anna Da˛browska diesbezüglich bemerkt, dass Morgenstern sich der ukrai1521 Morgenstern 1996, I., S. 37. 1522 Morgenstern 1995, S. 326. 1523 Bekanntlich erschien der zweite Roman der Trilogie Funken im Abgrund in englischer Fassung unter dem Titel Idyll im Exil 1946, der dritte Roman »Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes« ebenso Englisch 1950, der letzte Roman Die Blutsäule wurde 1976 in hebräischer Sprache veröffentlicht, obwohl alle drei Bücher vom Autor deutsch verfasst wurden. 1524 Assmann 2011, S. 191. 1525 Ebd., S. 190. 1526 Makarska 2009, S. 293–305. Wie Makarska bemerkte, lasse sich trotz der »Mehrsprachigkeit Ostgaliziens und vielleicht sogar der ukrainischen, polnischen, österreichischen und jüdischen Kultur in diesem Raum«, dasselbe nicht über die dort entstehende Literatur aussagen. (Makarska 2009, S. 294). Es gibt aber, soll man hinzufügen, einige Ausnahmen, wie, z. B. in Fall von Ivan Franko, der seine Texte ukrainisch, polnisch und deutsch verfasste, oder von Tadeusz Rittner, der polnisch und deutsch schrieb. 1527 Mehr dazu in: Da˛browska 2012.
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nischen Kultur verbunden fühlte.1528 Gerne gibt er den Klang dieser Sätze in der deutschen Transliteration wider und übersetzt sie in seinem Text ins Deutsche, wie z. B. im Fall der Aussage des ukrainischen Mädchens Donja, der zukünftigen großen Liebe von Alfred: »W zymi ja schtsche krasywscha – »Was heißt das?« fragte Alfred. […] »Wörtlich, … also wörtlich heißt es: ›Im Winter bin ich noch schöner‹…«1529 Die Vertextung der Mehrsprachigkeit Ostgaliziens gestattet es also, von der sprachlichen Polyphonie des galizischen Kulturraumes zu sprechen, die auch sein narratives Modell in Morgensterns Texten als ein hybrides erkennbar macht. Außerdem greift der Autor zu Erläuterungen für diejenigen Leser, die mit der jüdischen und den slawischen Kulturen Ostgaliziens nicht vertraut sind; oft dient dazu der Vorwand, dass sein Protagonist Alfred, der aus Wien in die Heimat seiner Vorfahren kommt, in diesem Kulturraum als Neuling erscheint. Stilistisch zeichnen sich diese Passagen dadurch aus, dass das Erzählen des Autors, wie Makarska und Werberger erforscht haben, »ethnographische« Züge annimmt. Wenn es auch »eine Besonderheit des mitteleuropäischen Erzählens« sei, besitzt diese Erzählweise bei Morgenstern eine besondere religiöse Note.1530 Ein prägnantes Beispiel wäre hier die Beschreibung des Morgengebets von Welwel am Anfang des ersten Romans der Trilogie Der Sohn des verlorenen Sohnes.1531 Es gibt in den faktualen und den fiktionalen Texten von Morgenstern noch eine Erinnerung an eine bestimmte Eigenart der ostgalizischen Lebensweise, die zum Alltag aller hier vertretenen Völker gehört und darauf hinweist, dass es sich um einen hybriden Kulturraum handelt. Es sind die Essensbräuche und Gerichte – was gestattet, von »galizischer Küche« als einem der Topoi des »Galizischen Textes« zu sprechen. In den autobiographischen Erinnerungen sowie in der Romantrilogie findet man Namen mehrerer Speisen, die sowohl in den ukrainischen, als auch in polnischen und jüdischen Familien gekocht und serviert wurden, wie beispielsweise Kascha, Kaschastrudel, Kalbs-Zrazy, Piroggen, Rosensirup und anderes mehr. Sie wurden zum Zeugnis einer Alltagskultur, die ohne nationale Eingrenzungen in Ostgalizien vorhanden war und seinen Kulturraum nicht nur als einen heterogenen, sondern auch als einen hybriden prägte, in dem die menschlichen Beziehungen unter den Völkern prävalierten. So wirkt auch die Erinnerung Morgensterns in seinem »Buch der Kindheit«, wie ihm die Mutter »ganze Tüten mit Purimgebäck« für seine Banknachbarn in die Schule mitgab, und ein polnisches Mädchen es »nicht in der Schule verzehrte«, »um den
1528 Ebd., S. 26. 1529 Morgenstern 1996, II., S. 248. Dieses Beispiel ist dem Beitrag von Da˛browska entnommen. (Da˛browska 2012, S. 26). 1530 Makarska/Werberger 2010, S. 93–94. 1531 Morgenstern 1996, I., S. 12.
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Eltern zu zeigen, was die Juden alles zu backen verstanden«.1532 Im Hinblick auf die oben angeführten Beispiele wurde Hybridität zum markanten Merkmal Galiziens als Bestandteil Zentraleuropas in Sinne von Moritz Csáky.1533 Und, wenn Renata Makarska und Annette Werberger über Morgensterns galizische Trilogie schreiben, dass er »aus dieser Raumordnung heraus [als eines transnationalen Raums] eine jüdische Geschichte erzählt, ohne andere Narrative dabei zum Verstummen zu bringen«,1534 so kann man das auch über die narrative Konstituierung des Kulturraumes in seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen sagen. Der »objektive« Grund dazu kann, im Einverständnis mit Renata Makarska, in der Tatsache gesehen werden, dass – während »die politischen Grenzen in der Realität« [der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg, L. C.] immer dichter wurden – die Literatur darauf »mit einem Negativ-Verfahren« reagierte und diese Grenzen – »die Grenzen zwischen den Sprachen und Kulturen«1535 verwischte. Im Fall Morgensterns spielte meines Erachtens außerdem noch der »subjektive« Faktor mit: Das in seinen Texten narrativ konstituierte spezifische Modell des Kulturraums Ostgalizien gehört zum nostalgisch geprägten Erinnerungsraum seiner Kindheit und Jugend, die im Zeitraum der »alten, universellen Einheit«1536 des Habsburger Reiches verwurzelt war und später vom Schriftsteller verklärt wurde.
Schlussfolgerung Der 1890 im ländlichen Ostgalizien geborene Autor Soma Morgenstern verließ seine Heimat vor Beginn des Ersten Wertkrieges und sah sie im Alter von 31 Jahren nur kurz wieder. Er besuchte erst die galizischen Dorfschulen, die von der Multikulturalität der nordöstlichen Provinz geprägt waren, danach das Gymnasium und eine hebräische Schule in Tarnopol. Ab 1912 studierte er Jura an der Universität in Wien, zwischendurch auch ein Jahr lang an der Universität Lemberg. Die universitäre Ausbildung und die Sozialisation des Schriftstellers verliefen nach den ersten Erfahrungen der Kindheit und Jugend in Ostgalizien, demnach hauptsächlich in zentral- und westeuropäischen Kulturräumen. Im literarischen Schaffen kehrte Morgenstern aber in seine von ihm verlassene und verlorene Heimat zurück. Ostgalizien wurde zum retrospektiv dargestellten Haupthandlungsraum seines ersten, 1935 veröffentlichen Romans Der Sohn des verlorenen Sohnes, dem später noch zwei weitere Teile folgten: Idyll im Exil (1938 1532 1533 1534 1535 1536
Morgenstern 1995, S. 122–123. Csáky 2009, S. 21–28. Makarska/Werberger 2010, S. 108. Makarska 2009, S. 305. Krˇenek 1996, S. 366.
Schlussfolgerung
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fertig geschrieben) und Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes (1943 abgeschlossen). Aus diesen drei Romanen entstand Morgensterns galizische Trilogie Funken im Abgrund, bei dessen Verfassen der Autor aus der Erinnerung an seine Heimat schöpfte. Ostgalizien wurde aber auch zum Erinnerungsraum seiner in den letzten Lebensjahren diktierten Erinnerungen an die Jugendjahre, postum In einer anderen Zeit genannt. Dem Chronotopos der Texte der beiden Werke – des fiktiven der Romantrilogie sowie des faktualen der Erinnerungen – liegt Morgensterns Gedenken an Galizien zugrunde, das sich in verschiedenen Formen manifestierte: als das bewusst intentionale Erinnern an die Vergangenheit und als ein Erinnerungsstrom in den Romanen oder als Ich-Erinnerung der Autobiographie. Infolgedessen konstituierte der Schriftsteller in seinen Texten drei Räume: den Natur-, den Sozial- und den Kulturraum Ostgalizien, die hier mithilfe der Verbindung der literatur- und kulturwissenschaftlichen Zugänge der Wende zum Raum entsprechend als ein anthropologisches, ein institutionelles und ein spezifisches Raummodell interpretiert wurden. Die Analyse dieser narrativen Raummodelle beweist, dass es in Morgensterns Gestaltung neben den Gemeinsamkeiten auch Unterschiede gibt, und zwar folgende: Das anthropologische Modell des ostgalizischen Naturraumes wird vom Schriftsteller in den fiktionalen und faktualen Texten so konstituiert, dass es dem verklärten und durchaus positiven Bild seiner Heimat entspricht. Der Kulturraum Ostgalizien, wie Morgenstern ihn in den beiden Arten seiner Texte modelliert, gestattet es, neben dessen Heterogenität von der Hybridität als Polyphonie der in ihm vertretenen Kulturen zu sprechen, die an die universelle Einheit mit verwischten Kulturgrenzen der Habsburgermonarchie erinnert und vom Autor ebenso als Gegensatz der realen politischen Situation im Europa der Zwischenkriegszeit verklärt wurde. Als Deutung der Vision des Schriftstellers bezüglich der Natur und Kultur Ostgaliziens ist die Besonderheit seiner Sichtweise im Zuge der Erinnerungsarbeit an seine Heimat genannt worden: Morgenstern sah die von ihm geschilderte galizischen Landschaften und das Zusammenleben verschiedener Völker Ostgaliziens überwiegend mit den »Augen des Kindes« – eine Perspektive, die seine unmittelbare Wahrnehmung und spätere Gestaltung der zwei genannten Raummodelle steuerte. Bei der Modellierung des Sozialraumes Ostgaliziens, vor allem in der Romantrilogie, wurde der kritische Blick des Schriftstellers entscheidend, den er infolge seiner Ausbildung, Sozialisation und Lebenserfahrung im Westen hatte. Unter dieser Sehperspektive gestaltet er nicht nur die Sozialwelt Ostgaliziens am Ende seiner Zugehörigkeit an ÖsterreichUngarn und der ersten »polnischen« Dekade der Zwischenkriegszeit, sondern gibt die sozialen Ordnungen und Prozesse in dieser Region wieder, die neben der früheren Inklusion von der zunehmenden Exklusion der Völker untereinander geprägt wurden. Der Bezug auf die Geschichte hat es ermöglicht, die politischen Hintergründe der Konfrontation und der Zunahme am Antisemitismus in Ost-
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galizien zu erklären, wie sie von Morgenstern bei der Gestaltung des Sozialraumes seiner Heimat – vor allem im zweiten Roman der Trilogie – zutage traten. Ungeachtet dieser Unterschiede beim narrativen Modellieren des Natur-, Sozialund Kulturraumes Ostgaliziens in den Romanen und in den autobiographischen Erinnerungen ist allen drei Raummodellen gemeinsam, dass sie für Morgenstern in dieser Gestaltung die Möglichkeit eröffneten, seine ehemalige Heimat als Ort der Rückkehr zum Judentum und zu dessen Erneuerung zu sehen. Das Holocaustthema, das im letzen Roman Morgensterns Die Blutsäule im Zentrum stand, war in den hier analysierten Texten noch nicht präsent. Der Grund dafür mag darin liegen, dass der Autor das gesamte traumatische Wissen über die Gräueltaten des Naziregimes, darunter auch jene in Ostgalizien, erst später, im amerikanischen Exil gewann, und nicht während der Zeit der Entstehung der frühen Romane. Für das Fortsetzen der autobiographischen Erinnerungen reichte für ihn die Lebenszeit aber nicht aus: Das Gedenken Ostgaliziens bei Morgenstern wurde durch seinen Tod abgebrochen, und zwar in jener Periode, als die »andere Welt« und »die andere Zeit« für ihn noch heil waren. So wurde er zum Autor, der nicht nur ein Zeuge des Endes Galiziens war, sondern zum Gedächtnisträger, dessen humanistische Sichtweise zur seiner Renaissance in Form des »Galizischen Textes« verhalf.
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Galizien als Natur-, Sozial- und Kulturraum der erzählten Welt
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VI. Rückkehr Galiziens
Geopoetische Bezüge zum Habsburger Erbe im Schaffen von Jurij Andruchovycˇ als Überwindung der politischen Beschränkungen und Teilungen
Die westlichen Gebiete der Ukraine gehören zu den Nachfolgeregionen der Donaumonarchie: Es sind drei ehemalige cisleithanische Regionen Ostgaliziens (L’vivs’ka, Ivano-Frankivs’ka und Ternopils’ka oblast’), die ebenso cisleithanische Nordbukowina (Czernivec’ka oblast’) und Transkarpatien (Zakarpats’ka oblast’), das ehemalige transleithanische Territorium. Im 20. Jahrhundert verlief die Geschichte dieses Landes traumatisch – dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches folgten mehrere politische und kulturelle Kataklysmen. Der Zweite Weltkrieg wurde zur tiefsten Zäsur: Der gemeinsame Überfall Nazi-Deutschlands und der Sowjets auf Polen löste den Zweiten Weltkrieg aus und wurde zur Katastrophe für die einheimische Bevölkerung der ehemaligen nordöstlichen Gebieten der Donaumonarchie. Nach den massenhaften Menschenvernichtungen, Deportationen und Zwangsumsiedlungen entstand hier ein »Doppelraum«: Während die materiellen Zeugen der Vergangenheit als Gedächtnisorte, wenn auch beschädigt, doch überwiegend erhalten geblieben sind, wurde der Sozial- und Kulturraum der Westukraine neu konstituiert: Unter der Sowjetmacht, die auf diesem Gebiet zuerst vorübergehend 1939–41, dann ab 1944 für mehrere Jahrzehnte etabliert wurde, wurden die ehemaligen Territorien der österreich-ungarischen Provinz, die in der Zwischenkriegszeit zu Polen und Rumänien gehörten, mit wenigen Ausnahmen von Menschen aus anderen Regionen besiedelt, die keinen Bezug zur »Habsburger Vergangenheit« hatten. Auf der anderen Seite instrumentalisierte die Sowjetverwaltung die Geschichte der Region und blendete die einstige österreichische Herrschaft notorisch aus, um sowjetische Sozial- und Kulturmodelle aufzusetzen, die dem Regime und den Dogmen des zu stalinistischen Zeiten entstandenen »sozialistischen Realismus« entsprachen. Aus diesem Grund kam es zu einer zeitlichen Diskontinuität in der politischliberalen und multikulturellen Tradition, die der sowjetischen Ideologie nicht entsprach und infolgedessen angepasst, reduziert oder gelöscht werden musste. Doch aufgrund der räumlichen Kontinuität konnte das kulturelle Erbe der Donaumonarchie auf den ehemaligen habsburgischen Gebieten in der Ukraine nicht vollständig vernichtet werden. Eine Hinwendung zu jenem wurde aber erst
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während der politischen Wende der 1980er – Anfang der 1990er Jahre möglich, als die sowjetische totalitäre Herrschaft aufgelöst wurde und die neue Generation der Kulturschaffenden in der Westukraine sich der Habsburger-Vergangenheit ihrer Heimat in einer Art des Gegendiskurses zur Geopolitik des Realsozialismus zugewandt hatte. Besonders aktiv fand dieser Prozess in der Region statt, wo die Spuren der Kultur von Alt-Österreich erhalten geblieben waren – vor allem in den Straßen und Gebäuden der Städte, aber auch in den Traditionen der älteren Generation. Zu einem der Zentren der neuen alternativen Kultur wurde schon in den letzten Jahren des Sowjetregimes Ivano-Frankivs’k, das ehemalige Stanislau, die zweitgrößte Stadt Ostgaliziens nach der Hauptstadt L’viv (Lemberg). Die Kulturszene von Ivano-Frankivs’k (»Stanislauer Phänomen«) erhielt um 1990 eine große Resonanz in den intellektuellen Kreisen der gesamten Ukraine: Das künstlerische Schaffen solcher Autoren wie Jurij Andruchovycˇ, Taras Prochas’ko, Jurij Isdryk und Volodymyr Jesˇkilev zeigte eine Wiederkehr des Themas »Galizien« sowie zahlreiche Bezüge zur Kultur der Donaumonarchie. Der Geopolitik der Sowjetzeit, dessen Ziel es war, die Erinnerung an die Periode der historischen Zugehörigkeit der westukrainischen Territorien zur Habsburgermonarchie sowie an die Präsenz der Kultur des Vielvölkerstaates in der Region zu tilgen (sogar der Gebrauch des Namens »Galizien« war unerwünscht und wurde profaniert), wurde eine neue Sichtweise gegenübergestellt: Man begann, um es mit Taras Prochas’kos Worten zu sagen, den Raum Galizien als einen Teil »des universellen Raumes der europäischen Landschaft außerhalb der Zeit«1537 zu interpretieren. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie in der gegenwärtigen ukrainischen Literatur die politischen Beschränkungen und Teilungen des Totalitarismus im ehemaligen Galizien überwunden werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Rolle des kulturellen Erbes der Donaumonarchie geschenkt, das für die Ausformung der neuen, »mitteleuropäischen« Geokulturologie der Schaffenden von großer Relevanz war und die neue, posttotalitäre Geopolitik beeinflusste. Eine außerordentliche Stelle im Prozess der Rückbesinnung auf das »Habsburger Erbe« nimmt das Schaffen von Jurij Andruchovycˇ ein, der heute zu den Hauptprotagonisten der ukrainischen Kulturszene sowohl innerhalb als auch dank zahlreicher Übersetzungen außerhalb der Ukraine gehört. Den ersten großen Erfolg brachte ihm die Mitgliedschaft in der Literaten-Gruppe »BuBaBu«1538, deren Mitglieder kurz vor der politischen Wende begannen, ihre Texte in einer karnevalesken Art zu verfassen und performativ zu präsentieren, was zu den markantesten Merkmalen des Schaffens von Andruchovycˇ wurde. Seinen 1537 Prochas’ko 1996, S. 13: »[…] cˇastyna universal’noho prostoru jevropejs’koho landsˇaftu poza cˇasom«. Vgl. Dvoretska 2017. 1538 Ukrainisch – »Burlesk-Balahan-Buffonada« (Burlesk-Schaubude-Buffonerie).
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energievollen, ironie- und hyperbelgeladenen, grotesken und tolldreisten Stil bezeichnete man später als einen »Funkenflug der Erzählkunst«, ihn selbst als den »ukrainischen Autoren-Derwisch«.1539 So verspottet er in seinen literarischen Essays auch die Zuschreibung seines Schaffens zum »Stanislauer Phänomen«:1540 Vor einiger Zeit, (mir scheint, seit jenem verheißungsvollen Beginn in den neunziger Jahren, der weitreichende Folgen haben sollte) ist die Rede von der magischen Stadt Stanislau aufgekommen. […] So wurde das ›Stanislauer Phänomen‹ geboren, ein Begriff, über den bis heute so viel und vor allem so viel Blödsinn geredet wurde, daß man unwillkürlich aufhört, an ihn zu glauben. Das ist wirklich so, aber es ist etwas sehr Persönliches, dieses Gefühl, zu einer Stadt zu gehören, die auf der Weltkarte absolut einzigartig ist. Wie soll man das mit Worten und logischen Beweisführungen begründen?1541
Von besonderer Relevanz ist hier aber die Hinwendung von Andruchovycˇ zum Raum Galizien: Der Handlungsort der meisten seiner essayistischen und einiger literarischen Texte ist seine Heimatstadt Ivano-Frankivs’k (Stanislau), L’viv (Lemberg)1542 und die ukrainischen Karpaten. Der Fokus auf dem geographischen Raum der ehemaligen habsburgischen Territorien in der Ukraine ist bei Andruchovycˇ nicht zufällig: Während seines Studiums am Maxim-Gorki-Literatur-Institut in Moskau wurde er zum Mitglied des im Jahre 1995 vom russischen Dichter Igor Sid gegründeten »Krim-Klub«, in dem die Idee des von Kenneth White entworfenen Begriffs »Geopoetik« als eines Projekts an der Grenze zwischen Poesie und Wissenschaft, zwischen konkreter Geographie und »geistigem Raum« erfolgreich angewendet wurde.1543 Dieser Begriff hat im Rahmen des Spatial bzw. Topographical Turns1544, wie Magdalena Marszalek und Sylvia Sasse betonen, »eine interessante Konjunktur erlebt, vor allem im Bereich der mittel- und osteuropäischen Literaturen«, wo er die »Neuordnung der politischen Geographie Europas seit 1989«1545 begründen sollte. Dabei eignet sich der Begriff »Geopoetik« »zur Analyse und Beschreibung unterschiedlicher Korrelationen und Interferenzen zwischen Literatur und Geographie«, da er die »Frage nach der Rolle geographischer Einstellungen, Wahrnehmungen oder Materialitäten« in der literarischen Praxis und Produktion provoziert, »unabhängig davon, ob diese kulturell konstruiert oder natürlich gegeben sind.«1546 Eine der Bedeutungsnuancen von »Geopoetik« war die Verschiebung der Beto1539 1540 1541 1542 1543 1544 1545 1546
Focus, zit. nach: Andruchowytsch 2007, Cover. Vgl. Dvoretska 2015. Andruchowytsch 2003, S. 55–56. Vgl. Dvoretska 2018. White 1987; vgl. Marszalek/Sasse 2010, S. 7–8. Bachmann-Medick 2006, S. 284–328; Weigel 2002. Marszalek/Sasse 2010, S. 7. Ebd., S. 9.
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nung von der »poiesis« hin zum »geo«. Außerdem wurde im Programm von »Krim-Klub« die Verbindung zwischen der Kreativität des Künstlers und dem geographischen Raum betont. Es ging um die auratische Qualität des Ortes. Zu solch einem Ort wurde für Andruchovycˇ aber nicht die Halbinsel Krim, sondern sein Alltagsraum – Galizien. Dementsprechend finden sich im Schaffen des Schriftstellers mehrere Beispiele, die dieser theoretischen Ausrichtung entsprechen. Als empirisches Material dienen dabei folgende Texte des Autors: Die Essaysammlung Dezorijentacija na miscevosti [Desorientierung vor Ort],1547 der Essay Stanislavs’kyj fenomen [Das Stanislauer Phänomen],1548 sowie zwei Romane: Dvanadcjat’ obrucˇiv [Zwölf Ringe]1549 und Kochanci justyciji [Die Lieblinge der Justiz].1550 In den literarischen Essays aus der genannten Sammlung verbindet Andruchovycˇ mehrere Fakten aus der Geschichte Galiziens mit Fiktion. Der Bezug zur Geographie kommt sowohl im Titel der Sammlung – Dezorijentacija na miscevosti [Desorientierung vor Ort], als auch in den Benennungen der einzelnen Texte vor: Vstup do heografiji [Die Einführung in die Geographie]1551, Cˇas i misce abo moja ostannja terytorija [Zeit und Ort oder Mein letztes Territorium]1552, Carpathologia Cosmophilica.1553 Der Autor bezeichnet sein Verfahren zur Darstellung des Georaumes der Region als »Versuch einer fiktiven Landeskunde«.1554 In Dvanadcjat’ obrucˇiv schafft er einen Bogen zwischen Österreich und Galizien, zwischen Wien und dem eigentlichen Handlungsort der von ihm erzählten Geschichte – den östlichen Karpaten in der Nähe von Ivano-Frankivs’k. Der neue Roman von Andruchovycˇ Kochanci justyciji aus dem Jahr 2017 wechselt mit dem symptomatischen Nebentitel Paraistorycˇnyj roman u vos’my z polovynoju serijach [Parahistorischer Roman in achteinhalb Kapiteln] in der Zeit vom siebzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert, was ihm einen »filmischen« Charakter verleiht. Der Ort der Handlung bleibt aber immer derselbe: Galizien mit den Städten Stanislau und Lemberg sowie ihre Umgebung. Die in seinen Werken literarisch verarbeiteten geographischen Gegebenheiten gestatten Andruchovycˇ 1547 Andruchovycˇ 1999. Eine Auswahl der Texte aus dem Essayband Dezorijentacija na miszevosti (1999) erschien deutsch unter dem Titel Das letzte Territorium (2003), aus dem Ukrainischen von Alois Woldan. 1548 In: Andruchowytsch 2003, S. 51–59. Erstmals in der polnischen Übersetzung in der Zeitung »Gazeta Wyborcza« erschienen. 1549 Andruchovycˇ 2003. Der Roman Davanadcjat’ obrucˇiv wurde in der deutschen Übersetzung von Sabine Stöhr unter dem Titel Zwölf Ringe 2005 veröffentlicht. 1550 Andruchovycˇ 2017. Der Roman Kochanci Justyciji (2017) erschien 2020 in der deutschen Übersetzung von Sabine Stöhr unter dem Titel Die Lieblinge der Justiz. 1551 Andruchovycˇ 1999, S. 32–50. 1552 Andruchovycˇ 1999, S. 115–122. 1553 Andruchovycˇ 1999, S. 15–24. 1554 Andruchowytsch 2003, S. 12. Andruchovycˇ 1999, S. 15: »Sproba fiktyvnoho krajeznavstva«.
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eine Re-Lektüre der nun in der Ukraine liegenden ehemaligen k.u.k-Territorien vorzunehmen. Für die Untersuchung der geopoetischen Spezifika dieser ReLektüre bei Andruchovycˇ sowie die Ausformung seines eigenen geokulturologischen Bildes müssen vorerst zwei Begriffe ausdefiniert und voneinander abgegrenzt werden: »Geopoetik« und »Geokulturologie«. Ausgehend von Susi K. Franks Verständnis von »Geopoetik« als primär technisch-instrumentellem Zugang »im Sinne der Bedeutung von ›poietiké‹: nämlich als die Verfahren der symbolischen Konstruktion eines Geo-Raumes und ihre je spezifische Kombination«1555 folgend, kann man bei Andruchovycˇ solche »textuell figurative Verfahren, Motive, die sich zu Topoi verfestigen können, mythopoetische Strategien, die sich am mythopoetischen Bildreservoir bedienen, narrative Muster, spezifische Chronotopoi, Verfahren der semantischen Raumkonstruktion, der Konstruktion von Grenze, der Dynamik oder Statik des Raums usw.«1556 finden, die direkten Bezug zur Geschichte der Region zu Zeiten der Habsburgermonarchie, aber auch danach, in der Zweiten Polnischen Republik während der Zwischenkriegszeit und insbesondere in der Periode des Sowjetregimes aufweisen. So schildert Andruchovycˇ im Essay Erz-Herz-Perz anhand von »Familienüberlieferungen« die von einer Habsburger-Nostalgie gezeichnete Szene der Fahrt des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand mit seiner Gemahlin und Kindern durch Stanislau Richtung Bahnhof, von wo er »nach Czernowitz weiterreisen sollte.«1557 Die Erwähnung der Hauptstadt des Herzogtums Bukowina ist nicht zufällig – sie wurde unter der habsburgischen Verwaltung zu einem der wichtigsten Kulturzentren im Nordosten der Monarchie. Der Autor bedient sich bei der Darstellung der Prozession neben den Erinnerungen seiner Großmutter der literarischen Fiktion (»Den Rest male ich mir selbst aus«1558), dabei erwähnt er die Vertreter mehrerer Schichten der Bevölkerung von Stanislau, denen allen »diese Attraktion«1559 zugänglich war. Er bemerkt außerdem, dass »sie alle« zu dieser »Idylle unter den unsichtbaren Schwingen des Imperiums« angehören, wenn »die Ordnung der Welt unantastbar, beständig und durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen«1560 schien. Die Heterogenität dieses Sozial- und Kulturraums (unter denjenigen, die die Prozession begrüßen, sind die Dragoner, 1555 Frank 2010, S. 27. 1556 Ebd. 1557 Andruchowytsch 2003, S. 38; Andruchovycˇ 1999, S. 5: »[…] povynen buv rusˇyty na ˇ ernivci«. C 1558 Ebd., S. 39; Andruchovycˇ 1999, S. 6: »[…] resˇtu domaljovuju sam«. 1559 Ebd.; Andruchovycˇ 1999, S. 6: »Do rozvahy dopusˇcˇeno vsich«. 1560 Ebd., S. 40; Andruchovycˇ 1999, S. 6: »[…] usi vony prysutni v cij nadvecˇirnij idyliji, pid nevydymymy krylamy imperiji. […] – svitoporjadok zdajet’sja jedyno mozˇlyvym, pevnym i neporusˇnym, imperija vicˇnoju«.
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Gendarmen, ukrainische Patrioten, Christen und Juden sowie ein Gymnasialprofessor, der »neunzehn Sprachen konnte«1561) knüpft an den Mythos der »guten alten Zeit« an, der im Kontrast zur folgenden polnischen und sowjetischen Periode in Post-Galizien sehr verbreitetet war. Die Bemerkung, dass diese Idylle »vorabendlich«1562 war, und dass die Reise des Thronfolgers in Sarajewo endete, werden zu den narrativen Mustern, die gegen diesen Mythos wirken. Seiner Dekonstruktion dient auch das Fazit des Autors zu dieser atmosphärenreichen Szene in seiner Heimatstadt: »Was bleibt, ist die Stimmung, ein flüchtiger Eindruck, eine Impression, ein Nachgeschmack – und das sind so subjektive Dinge, daß man daraus schwer eine allgemeine Erkenntnis ableiten kann.«1563 Zum geopoetischen Verfahren in diesem Essay gehört auch die Aufzählung der Topoi der Präsenz der österreich-ungarischen Kultur im historischen Teil von Stanislau. Es sind die Angaben »aus einem kurzen Reiseführer der Eisenbahn von Anfang des vorigen Jahrhunderts«, die »ein umfassendes Bild«1564 vermitteln: Altstadt und angrenzende Gassen mit zumeist zweistöckigen Gebäuden, Promenade, Kasino und Kolonialwarenläden, Cafés mit kolumbianischem Kaffee, Konditoreien mit Backwerk und Biskotten. Kirchen: die griechisch-katholische Kathedrale, die römischkatholische Gemeindekirche, die armenische Kirche, die lutheranische Kirche, die Synagoge mit ihren vier Kuppeln im mauritanischen Stil. Standbilder der Jungfrau Maria und Johannes des Täufers, zu Ehren des Rückzugs der Russen im Jahr 1742 errichtet. […] Ein Bronzedenkmal für Kaiser Franz I. Die Stadtbibliothek mit mehr als 8000 Bänden nur historischer Werke. Die Hotels »Union«, »Central«, »Europa«, »Habsburg« und »Imperial«. Einstöckige Villen mit Blumenbeeten. Die beliebteste Straße ist die Lindengasse, die Lipowa, die zum Kaiserin-Elisabeth-Park führt.1565
Die Kombination von textuell figurativen Bildern der früheren kulturellen und konfessionellen Vielfältigkeit der Stadt ermöglicht es dem Autor, symbolisch die Topographie von Stanislau zur k.u.k. Zeit zu konstruieren. Darauf folgt der Hinweis, dass es diese Stadt heute fast nicht mehr gibt. Den Beginn der Auslö1561 Ebd. S. 39–40; Andruchovycˇ 1999, S. 6: »[…] sˇcˇo znav dev’jatnadcjat’ mov«. 1562 Ebd., S. 40; Andruchovycˇ 1999, S. 6: »[…] v cij nadvecˇirnij idyliji […]«. 1563 Ebd.; Andruchovycˇ 1999, S. 7: »Zalysˇajet’sja tilky nastrij, mymobizˇne vrazˇennja, impression, prysmak – a ci recˇi nastil’ky subjektyvni, sˇcˇo hodi vyv’jazaty z nych jakes’ vartisne svitohljadne uzahal’nennja«. 1564 Ebd., S. 44; Andruchovycˇ 1999, S. 10: »[…] vony stvorjujut’ povnotu obrazu […]«. 1565 Ebd.; Andruchovycˇ 1999, S. 10: »Seredmistja i prylehli vulyсi dvopoverchovoji zabudovy (perevazˇno), promenady, kazyno i kramnyci z ekzotycˇnym tovarom, kav’jarni z kolumbji’skoju kavoju, cukerni z cukatamy i biskvitamy. Cerkvy: hreko-katolyc’ka (katedra), rymo-katolyc’ka (fara), virmens’ka, ljuterans’ka, synahoha z cˇotyrma banjamy v mavrytans’komu styli. Fihury sviatych Mariji Materi Bozˇoji ta Joana Chrestytelja, sporudzˇeni na cˇest’ vidstupu rosijan u 1742 r. […] Bronzovyj pam’jatnyk cisarevi Francu I. Mis’ka biblioteka z bilsˇ jak 8 tys. tomiv lysˇe istorycˇnych prac’. Hoteli: ›Union‹, ›Central‹, ›Jevropa‹, ›Habsburg‹, ›Imperial‹. Odnopoverchovi villy v otocˇenni kvitnykiv. Najpopuljarnisˇa vulycia – Lindengasse, abo zˇ Lypova – promenuje do mis’koho parku imeni cisarevoji Jelyzavety«.
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schung ihrer habsburgischen Vergangenheit verknüpft Andruchovycˇ mit der Machtübernahme in Galizien durch die Sowjets und dem damit verbundenen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges; dabei verwendet er mythopoetische Strategien: Unsere lokale Apokalypse hat vor nicht allzu langer Zeit begonnen – im September 1939, als in die einem ungewissen Schicksal überlassenen »herrschaftlichen« Wohnungen andere Leute einzogen, Zuwanderer aus den fernen Steppen, wo achtfingrige Riesen leben, wo man Wodka trinkt wie Wasser (und sogar statt Wasser), wo man rohes Fleisch isst und in den Kirchen tanzende Bären auftreten…»1566
Die Eindringlinge, die zugezogen waren, begannen, so der Autor, »die ganze Kultur an sich zu reißen«1567 und »nach Osten«1568 auszulagern. In diesem georäumlichen Kontext platziert Andruchovycˇ den Grund der Auslöschung der alten habsburgischen Kultur – die Ideologie des Sowjetregimes. Denn die Kultur, die »die Neuankömmlinge mit einer leichten, proletarischen Geringschätzigkeit behandelten,«1569 war bürgerlich. Im Sinne der Geopoetik als Verfahren der symbolischen Konstruktion eines Geo-Raumes stellt Andruchovycˇ ebenfalls im Roman Dvanadcjat’ obrucˇiv einen episodischen Handlungsort dar, der den Bezug zur habsburgischen Vergangenheit aufweist, wenn sich auch die ganze von ihm erzählte Geschichte im ehemaligen Galizien (in Lviv und in den Karpaten) unmittelbar zurzeit direkt nach der Erklärung der Unabhängigkeit der Ukraine, abspielt. Es ist eine kleine Bahnstation in den Bergen im »Habsburg-Design«1570, eine von denen, »die trotz ihrer mehrmals und völlig sinnlos veränderten Fassaden auf die Zeit des Wiener Jugendstils anspielen.«1571 Die Bahnstation zeugt von der auratischen Qualität des Ortes. Besonders produktiv wird aber die Hinwendung zur »Geopoetik« in der Schluss-Szene des Romans, wenn der Autor den imaginierten Flug des Protagonisten, des österreichischen Photographen mit dem an die habsburgische Tradition anspielenden Namen Karl-Joseph Zumbrunnen1572, aus den östlichen 1566 Ebd., S. 45; Andruchovycˇ 1999, S. 10: »Nasˇa misceva apokalipsa pocˇalasja ne tak vzˇe j davno – u veresni trydcjat’ dev’jatoho, koly v polysˇeni na potalu vsim vitram ›panski‹ pomesˇkannja vselylysja insˇi ljudy, prybul’ci z dalekych rivnyn, de zˇyvut’ odnooki veletni z vis’moma palcjamy, de horilku p’jut’, nacˇe vodu, i navit’ zamist’ vody, de jidjat’ syre m’jaso, a tancjujucˇych vedmediv pokazujut’ u cerkvach…« 1567 Ebd.; Andruchovycˇ 1999, S. 11: »Najlehsˇe bulo zaсhopyty […] usju ciu kul’turu […].« 1568 Ebd., 46; Andruchovycˇ 1999, S. 11: »na schid«. 1569 Ebd., S. 45; Andruchovycˇ 1999, S. 11: »[…] do jakoho prybulci zvykly stavytysja z lehkym proletars’kym prezyrstvom, […].« 1570 Andruchowytsch 2007, S. 29; Andruchovycˇ 2013, S. 28: »habsburz’koho dyzajnu«. 1571 Ebd.; Andruchovycˇ 2013, S. 27: »[…] z tych, jaki svojimy neodnorazovo i bezhluzdo zminjuvanymy fasadamy vse zˇ natjakajut’ na cˇasy videns’koho modernu.« 1572 Anspielung an die lateinische Wendung »ad fontes« [zurück zu den Quellen].
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Karpaten durch »seinen Mondkorridor«1573 zurück nach Wien darstellt. Er wurde, ähnlich wie der Protagonist des Romans von Joseph Roth Das falsche Gewicht, Anselm Eibenschütz, in dem ihm fremd gebliebenen Galizien getötet. Es geht bei Andruchovycˇ eigentlich um denjenigen Karl-Joseph, der sich von seiner »Anthropomorphizität«1574 abgelöst hat (sein toter Leib ist in Galizien geblieben – ein markantes Symbol von Andruchovycˇ!), um den Karl-Joseph, der in Wirklichkeit »ein Wölkchen, eine Träne im Ozean, nur eine Träne, ein Pünktchen, ein Elementarteilchen des Mondlichts«, aber auch »alles«1575 war. Die Bewegungsart des Fluges gestattet dem Autor, aus der Vogelperspektive das Panorama des Georaumes zwischen Galizien und Wien mental zu kartieren, um einen Bogen zwischen ihnen zu schlagen und auf diese Weise an ihre ehemalige Zugehörigkeit zu einem geopolitischen Raum zu erinnern. Auch im Essay Erz-Herz-Perz wird dies explizit beschrieben: »Kaum zu glauben, daß es Zeiten gab, da meine Stadt Teil eines staatlichen Organismus war, zu dem nicht Tambow und Taschkent, sondern Venedig und Wien gehörten! Die Toskana und die Lombardei befanden sich innerhalb derselben Grenzen wie Galizien und Transsylvanien.«1576 Der gemeinsame geopolitische Raum, den Andruchovycˇ im Essay und im Roman schildert, bedeutet für ihn »Mitteleuropa«. Die mentale Karte aus der Schlussszene des Romans wird im Sinne der »Geopoetik« gelesen, sie sei für den Autor »eine phantastische Mixtur, eine Hybride aus Literatur und Malerei, Namen und Visionen«.1577 Die Habsburg-Nostalgie zeigt sich auch in der Paraphrase der bekannten Formel des Zeremoniells der »Zulassung« des verstorbenen Kaisers Franz-Joseph in die Kapuzinergruft.1578 In Dvanadcjat’ obrucˇiv ist es Karl-Joseph Zumbrunnen, der dreimal vor der »Leuchtenden Wand« befragt wird: »Wer begehrt Einlaß?«1579 Seine erste »unwillkürliche« Antwort lautet: »Ich, seine Apostolische Majestät,
1573 Ebd., S. 289; Andruchovycˇ 2013, S. 281: »Ne pokydajucˇy svoho misjacˇnoho korydoru, […]«. 1574 Ebd.; Andruchovycˇ 2013, S. 281: »antropomorfnist’«. 1575 Ebd.; Andruchovycˇ 2013, S. 281: »Naspravdi vin buv chmarynkoju, Krapleju v Okeani, prosto krapleju, krapkoju, cˇastkoju misjacˇnoho svitla. Naspravdi vin buv usim.« Der in der deutschen Übersetzung verwendete Ausdruck »eine Träne im Ozean« anstatt »ein Tropfen im Ozean« im ukrainischen Original spielt an die Romantrilogie des aus Galizien stammenden Autors Manès Sperber »Wie eine Träne im Ozean«. 1576 Andruchowytsch 2003, S. 42; Andruchovycˇ 1999, S. 8: »Podumaty tilky – buly j taki cˇasy, koly moje misto nalezˇalo do jedynoho derzˇavnoho utvorennja ne z Tambovom i Tasˇkentom, a z Venecijeju ta Vijennoiu! Toskana j Lombardija perebuvaly v mezˇach, jedynych iz Halycˇynoju ta Transyl’vanijeju.« 1577 Andruchowytsch 2005, S. 13, [in Pollack 2005]. 1578 Die Überlieferung dieser Legende wird Joseph Roth zugeschrieben. 1579 Andruchowytsch 2007, S. 290; Andruchovycˇ 2013, S. 283: »Chto domahajet’sja buty vpusˇcˇenym?«
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Kaiser von Österreich, König von Ungarn.«1580 Als eine Sinngebung wirkt die zukunftweisende Schlussszene dieser Episode: – Du kannst eintreten, – sprach es endlich aus der WAND. / Und die WAND hörte auf, eine Wand zu sein, und verwandelte sich in LEUCHTENDE STUFEN, die – was für eine Überraschung! – nach oben führten. / (Stellen wir uns mal vor, daß sich alles genauso abgespielt hat. Denn was bliebe uns sonst? Ein Körper auf zusammengeschobenen Schreibtischen?)1581
Die karnevaleske Zuwendung des ukrainischen Autors zum Bild des verstorbenen Kaisers in der Kapuzinergruft-Episode verweist auf die Relevanz der habsburgischen Vergangenheit für sein Schaffen. Die »Geopoetik« als ein technisch-instrumenteller Zugang verwendet Andruchovycˇ auch in seinem neuesten Roman Kochanci justyciji [Die Lieblinge der Justiz]. Eines der Themen dieser sarkastisch-makabren Geschichten ist die Darstellung der Zustände der Zerstörung und Auslöschung Galiziens als der Region der kulturellen Vielfalt durch zwei totalitäre Mächte im Zeitraum des Zweiten Weltkrieges. Die beiden Regime handeln gleich, wovon die Topographie der Vernichtung zeugt: Zu den Neigungen, die Sowjets und Nazis bei ihren Massenexekutionen gemeinsam haben, gehöre, so Andruchovycˇ, die Wahl praktisch ein und derselben »topographischen Merkmale«.1582 Infolge dessen verwandelt sich Galizien in ein Palimpsest der Getöteten, wo »die Hinrichtungsorte, und die schichtenweise aufeinandergeworfene Opfer der einen wie der anderen« »sich so eng aneinander« drängten, »dass aus ihnen gemeinsam Gras wächst.«1583 Die Gewalt verleiht dem Ort die Aura des Todes: »Die Stadt S. lebte inmitten der Erschießung, sie fand Tag für Tag und Nacht für Nacht statt, sie könnte jeden vernichten, sie als Einzige war Herrin der Lage, Herrscherin der Stadt.«1584 Die Kosten für die totalitäre Geopolitik waren Tausende von Menschenleben sowie die neue Teilung der Region in der Nachkriegszeit: Anstatt der 1580 Ebd., S. 290–291; Andruchovycˇ 2013, S. 283: »Karl-Jozef i nezcˇuvsja, jak vidpoviv: – Ja – Joho Jasnist’, cisar Avstriji, korol’ Uhorsˇcˇyny.« 1581 Andruchowytsch 2007, S. 291; Andruchovycˇ 2013, S. 284: »– To mozˇesˇ uvijty, – movylo vresˇti vid Stiny. I todi Stina perestala buty stinoju, a stala Svitlymy Sсhodamy, i vony provadyly – jak ce ne dyvno – vhoru. (Ujavimo sobi, ˇscˇo vse stalosja same tak. Bo ˇscˇo zalysˇajet’sja nam? Tilo na dokupy zsunutych pys’movych stolach?)« [Hervorhebung des Autors]. 1582 Andruchowytsch 2020, S. 197; Andruchovycˇ 2018, S. 201: »[…] i persˇi, i druhi vybyraly dlja svojich masovych ekzekucij faktyzˇno odni j ti sami topohraficˇni prykmety.« 1583 Ebd.; Andruchovycˇ 2018, S. 201: »Tomu miscja straty vzajemno nakladajucja, a skynuti na dno zˇertvy odnych i druhych pereplelysja mizˇ soboju tak tisno, sˇcˇo z nych prorostaje spilna trava«. 1584 Ebd., S. 203; Andruchovycˇ 2018, S. 206: »Misto S. zˇylo vseredyni rozstrilu, vin vidbuvavsja sˇcˇodnja i sˇcˇonocˇi, vin mih znysˇcˇyty kozˇnoho, vin buv jedynym panom sytuaciji, hospodarem mista.«
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»Leuchtenden Stufen, die nach oben führten«, ging infolge des Infernos des Zweiten Weltkrieges der »Eiserne Vorhang« nieder. So kommt der ukrainische Schriftsteller mithilfe des geopoetischen Verfahrens zur Kritik an der sowjetischen und national-sozialistischen Geopolitik des 20. Jahrhunderts. Wie Susi K. Frank bemerkt, setzt der ukrainische Autor in seinen Texten und Kommentaren »Geopoetik gegen Geopolitik«1585, worin seine eigene Geokulturologie ausgeformt wird. Gleichzeitig betont sie, dass die Begriffe Geopoetik und Geokulturologie im Fall Andruchovycˇ nicht klar voneinander getrennt werden können: Es gehe »hier nicht so sehr um ›Geopoetik‹, wie um Geokulturologie […], um die kulturologische Bestimmung, Konstruktion und performative Setzung ›Ostmitteleuropas‹ und um die Situierung der Ukraine in ihm und in strenger Abgrenzung von Russland.«1586 Mit »Russland« wird das Sowjetregime gemeint, eine im Westen ziemlich übliche Deutung. Geokulturologie wird hier, laut Frank, zu einer diskursiven Strategie.1587 Der Definition der Forscherin entsprechend soll mit der Geokulturologie also »ein Wissensdiskurs bezeichnet werden, der Georäume bzw. Regionen als geokulturelle Einheiten voraussetzt, postuliert, sie als gegebene Objekte analysiert und sie gleichzeitig semantisch und semiotisch konstruiert und damit nicht zuletzt auch ideologische und politische Ziele verfolgt.«1588 Sein geopolitisches Ziel – die Positionierung der Ukraine in Ostmitteleuropa – begründet Andruchovycˇ unter anderem mit der historischen Zugehörigkeit der westlichen Region des Landes an die Donaumonarchie. Denn, wie Frank weiter betont, bestehe die diskursive Strategie von Geokulturologie darin, »das Postulat eines regional spezifischen Kulturraums mithilfe der Rekonstruktion seiner historischen Entstehung in Beziehung zu und Wechselwirkung mit den geographischen Bedingungen zu erhärten und geokulturelle Einheiten mit gemeinsamer kultureller Identität, gemeinsamem kulturellen Gedächtnis, gemeinsamer Kulturproduktion (aktuelle Variante), gemeinsamer Beziehung zum Raum bzw. räumlicher Lebenspraxis zu konstruieren.«1589 Es soll aber nicht außer Acht gelassen werden, dass im Unterschied zur »Geopoetik«, so Frank, »der Aspekt des Performativen im Selbstverständnis von Geokulturologie nicht […] gegeben« ist, »da Geokulturologie sich zumeist als deskriptiv-konstativ versteht, da sie voraussetzt, was sie de facto vielleicht erst konstruiert.«1590 Von diesem theoretischen Hintergrund ausgehend kann man in den hier analysierten Texten des ukrainischen Schriftstellers prägnante Beispiele finden, die von seiner Geokulturologie zeugen, die zur Um-Definition Galiziens führt. 1585 1586 1587 1588 1589 1590
Frank 2010, S. 23. Ebd., S. 37–38. Ebd., S. 31. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd., S. 32.
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Wenn Galizien, wie der Autor im Essay Carpathologia Cosmophilica schreibt, üblicherweise als »eine Grenze, ein Randgebiet, Peripherie verschiedener Imperien […], eine Peripherie der Kulturen und Zivilisationen«1591 genannt wird, so kommt er abschließend, so Frank, zu einer »geokulturologischen Umpolung« dieser »peripheren Grenz- bzw. Abgrenzungszone in einen Raum der Verbindung, des Dialogs«.1592 Unter den Thesen, die Andruchovycˇ als Apologie »des seligen Österreichs«1593 aufzählt, sei die »unendliche« sprachliche und ethnische Vielfalt dieser Welt, die dazu verholfen hätte, dass »das ukrainische Element überdauern konnte«.1594 Dank »unserer österreichisch-ungarischen Geschichte« hat sich uns, so der Autor, die »neue geographische Perspektive erschlossen«, sie »hat uns gelehrt, nach Westen zu blicken und uns an der zarten Dämmerung des Okzidents zu delektieren.«1595 Andruchovycˇ ist es vollkommen klar, dass es in Post-Galizien um einen »Kult um den Österreich-Donau-Mythos« geht (die Zwischenkriegszeit wird dazugezählt, – so der Autor).1596 Geokulturologisch ermöglicht ihm dieser Mythos aber »immer wieder laut und vernehmlich von einem hier vergewaltigten Europa zu sprechen«.1597 Die Ursachen und Zustände davon sieht er daran, dass »hier, auf diesem Territorium«1598 das Verlangen nach der Modernisierung und Innovation, obwohl es, wenn auch mit Verspätung, doch zur Zeit der Zugehörigkeit Galiziens zur Donaumonarchie entstand, »brutal von außen«1599 vernichtet wurde. Andruchovycˇ schildert die Form dieser Vernichtung wie folgt: […] mit Blut, Asche und Weltkriegen, aber auch Diktaturen, Konzentrationslagern und riesigen ethnischen Säuberungen abgewürgt – so wurde die Moderne in diesem Teil der Welt zum Stillstand gebracht, ausgemerzt, mit Stumpf und Stiel ausgerottet, sei es die Wiener (paradigmatische), die Prager, die Krakauer, die Lemberger, die Drohobytscher Moderne; […]1600
1591 Andruchowytsch 2003, S. 17; Andruchovycˇ 1999, S. 17: »zavsˇe bula mezˇeju, krajem, okolyceju imperiji, okolyceju kul’tur i cyvilizaciji.« 1592 Frank 2010, S. 39. 1593 Andruchowytsch 2003, S. 41; Andruchovycˇ 1999, S. 7: »Apolohija nebizˇky Avstriji […]«. 1594 Ebd.; Andruchovycˇ 1999, S. 7: »[…] zberezˇeno ukrajins’kyj skladnyk.« Vgl. Woldan 2015, S. 47f. 1595 Ebd., S. 42; Andruchovycˇ 1999, S. 8: »[…] vona vidkryla dlja nas novi heohraficˇni mozˇlyvosti, navcˇyvsˇy dyvytysja na Zachid z ljubov’ju do joho nizˇnoho smerkannja.« 1596 Ebd., S. 58. 1597 Ebd. [Hervorhebung des Autors]. 1598 Ebd., S. 67; Andruchovycˇ 1999, S. 120: »[…] same tut, na сij terytoriji, […]«. 1599 Ebd., S. 68; Andruchovycˇ 1999, S. 120: »[…] perervanym brutal’no zzovni […]«. 1600 Ebd.; Andruchovycˇ 1999, S. 120: »[…] z krov’ju, popelom i svitovymy vijnamy, a takozˇ dyktaturamy, koncentrakamy j veletens’kymy etnicˇnymy cˇystkamy – tak u cij cˇastyni svitu bulo zupyneno, vybyto, vyrizano do nohy modernizm, bud’-jakyj – videns’kyj (etalonnyj), praz’kyj, krakivs’kyj, lvivs’kyj, drohobyc’kyi, […]«.
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Die Folgen der Ausrottung gestaltet der Autor räumlich: An die Stelle der Moderne tritt »eine nachmoderne Leere, eine große Ausgelaugtheit mit unendlichen Möglichkeiten, eine große, vielversprechende Leere.«1601 Das Motiv der Leere übernimmt er auch im Roman Dvanadcjat’ obrucˇiv , wo der österreichische Protagonist den Gedächtnisraum Galizien wie folgt charakterisiert: »Es scheint, als habe es hier im 20. Jahrhundert einen furchtbaren Kataklysmus gegeben, so etwas wie einen tektonischen Bruch, infolgedessen alles, was früher, sagen wir, vor 1939, sich ereignete und existierte, im Nichts verschwunden ist«.1602 Denn gerade damals, wie Andruchovycˇ im Roman Kochanci justyciji schreibt, war eine Folge »des geheimen Zusatzprotokolls zum Pakt der Herren Ribbentrop und Molotov und ihrer Staaten […], dass im September des genannten Jahres die Sowjets in unsere Stadt einmarschierten.«1603 Der »ungeschützte« Georaum Galizien wurde für neues In-Besitznehmen prädestiniert, infolgedessen hier das undemokratische Regime für mehrere Jahrzehnte etabliert werden konnte, dessen Charakter der Autor als »kriminell-assassinisch«1604 bezeichnet. »Es waren Zeiten angebrochen, – schreibt er, »in denen Schweigen nicht nur Gold, sondern das Überleben schlechthin bedeutete.«1605 Die Kosten dafür waren das Auslöschen der früheren Geschichte der Region des damaligen Galizien und ihr Umschreiben im Sinne der neuen Ideologie. Zur Alternative zu totalitären Regimes wird für Andruchovycˇ »Mitteleuropa«, das für ihn, ähnlich wie für den von ihm erwähnten polnischen Dichter und Essayisten Krzysztof Czyz˙ewski, einen »besonderen Seelenzustand, eine besondere Einstellung zur Welt«1606 bedeutet. Dabei gebraucht Andruchovycˇ diesen Begriff als eine »territoriale Ephemeride«, eine Art der »geographischen Vision, einer parallelen Wirklichkeit«.1607 Die Möglichkeit des Gegenwirkens gegen die Auslöschung des historischen Gedächtnisses sieht Andruchovycˇ in der »Post1601 Ebd.; Andruchovycˇ 1999, S. 120: »[…] natomist’ pryjsˇla pisljamodernistycˇna pustka, velyka vycˇerpanist’ z bezkonecˇno vidkrytoju potencijnistju, velyka bahatoobicjajucˇa pustka.« 1602 Andruchowytsch 2007, S. 14; Andruchovycˇ 2013, S. 12: »Skladajet’sja vrazˇennja, niby u dvadcjatomu stolitti tut spravdi vidbuvsja zˇachlyvyj kataklizm, sˇcˇos’ nacˇe tektonicˇnyj zlam, unaslidok jakoho vse, sˇcˇo stalosja j isnuvalo ranisˇe, skazˇimo, pered trydcjat’ dev’jatym rokom, provalylosja v nebuttja.« 1603 Andruchowytsch 2020, S. 75; Andruchovycˇ 2017, S. 77: »Odnym iz naslidkiv tajemnoho protokolu do uhody mizˇ dobrodijamy Ribbentroppom i Molotovym ta jichnimy derzˇavamy stalo te, sˇcˇo u veresni zhadanoho roku do nasˇoho mista vmarsˇuvaly sovity.« 1604 Ebd., S. 30; Andruchovycˇ 2017, S. 27: »kryminal’no-asasyns’kyj charakter«. In der deutschen Übersetzung ist die bedeutungstragende Bezeichnung »assasinisch« ausgelassen. 1605 Ebd., S. 82; Andruchovycˇ 2017, S. 83: »Nastavaly cˇasy, koly movcˇannja vyjavljalosja navit’ ne zolotom, a samym vyzˇyvannjam.« 1606 Andruchowytsch 2003, S. 69; Andruchovycˇ 1999, S. 121: »’Сentral’na Jevropa – ce osoblyvyj ˇ yzˇevs’kyi.« stan dusˇi, osoblyvyj sposib stavlennja do svitu, kazˇe mij pryjatel’ Ksˇysˇtof C 1607 Ebd., S. 67; Andruchovycˇ 1999, S. 120: »I tut meni potribna sˇcˇe odna terytorial’na efemeryda, taka sobi heohraficˇna prymara, paralelna real’nist’.«
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Moderne«, die er selbst »als einen noch nicht ausgeformten, aber schon zu spürenden Post-Totalitarismus«1608 versteht und geokulturologisch mit den neusten Entwicklungen in Mitteleuropa nach der Wende verknüpft. Galizien wird für ihn zu einer »Fuge zwischen den Jahrhunderten«1609, zu einem Territorium der Postmoderne. Auf diese Weise nimmt er die Verbindung zum europäischen Kulturraum auf, die er in direkter Beziehung zum Habsburger Erbe in seiner heimatlichen Region sieht. Die kulturhistorische Diagnose des Autors lautet: Hier, im posttotalitären Galizien soll der Dialog begonnenen werden, der einerseits die beiden Teile der Ukraine – den postzaristischen und den posthabsburgischen – zusammenfügen soll. Andererseits soll die geokulturelle Orientierung der Ukraine Richtung Westen wieder aufgenommen werden. Die kulturhistorischen Phänomene »Galizien« und »Mitteleuropa« werden für Andruchovycˇ zu einem Symbol, das er als »sein letztes Territorium« definiert, wie der Titel eines des zentralen Essays des Autors lautet. Er befinde sich hier »mittendrin«, seine Verteidigungslinie – das sei er selbst, er habe keinen anderen Ausweg, als diesen Streifen zu verteidigen. So verbindet der ukrainische Schriftsteller die beiden Phänomene mit dem eigenen Schaffen: Ich erlaube mir hinzuzufügen: es ist eine Provinz, wo jeder weiß, daß er sich in Wirklichkeit im Zentrum befindet, denn das Zentrum ist überall und nirgends, so daß man aus den Höhen und Tiefen des eigenen Arbeitszimmers ruhig auf alles einschließlich New York und Moskau herabblicken kann.1610
Nicht ohne Einfluss der Texte des vom Sowjetregime nivellierten und von den Nazis ermordeten polnischsprachigen jüdischen Autors aus dem galizischen Drohobycˇ, Bruno Schulz, dessen sämtliche Erzählungen Andruchovycˇ meisterhaft ins Ukrainische übersetzt hat, gestaltet der ukrainische Schriftsteller seine eigene »Wirklichkeit im Schatten des Wortes«.1611 Wie bei Schulz seine Heimatstadt und ihre Umgebung zum »erwählten Land«, zur »merkwürdigen Provinz«, zur »einmaligen Stadt der Welt« werden, die er »Die Republik der Träume«1612 nennt, findet der ukrainische Schriftsteller sein unabhängiges Territorium des Schaffens, das er im »mitteleuropäisch-galizischen« Raum verortet. 1608 Ebd., S. 68; Andruchovycˇ 1999, S. 120: »Ja rozumiju ce ›post-moderne‹ i jak nedosformovanu, ale vzˇe vidcˇutu pislja-totalitarnist’.« 1609 Ebd., S. 70; Andruchovycˇ 1999, S. 122: »[…] сe sama Halycˇyna, usˇcˇelyna mizˇ tysjacˇolittjamy, […]« 1610 Ebd., S. 69; Andruchovycˇ 1999, S. 121–122: »A ja navazˇusja dodaty: ce taka provincija, de kozˇen znaje, ˇscˇo vin naspravdi perebuvaje v samomu centri, bo centr je nide i vsjudy vodnocˇas, a tomu z versˇyn i nyzyn vlasnoi robitni mozˇe cilkom spokijno dyvytysja na vse insˇe vkljucˇno z Nju-Jorkom cˇy jakojus’ Moskvoju.« Ukrainisches unbestimmtes Pronomen »jakojus’« [irgendwelcher, -e, es] vor »Moskau« ist in der Übersetzung ausgelassen. 1611 Schulz 1994, Bd. 2. 1612 Schulz 1994, Bd. 1, S. 336.
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So kann man schlussfolgern, dass die Zuwendung zur Konzeption »Geopoetik« als einer Kultur- und Literaturstrategie im Sinne des Gegendiskurses zur Geopolitik des Realsozialismus sich im Schaffen von Jurij Andruchovycˇ als produktiv erwies und besonders reich an Beispielen ist. Die geographischen Gegebenheiten, die er in seinen literarischen Essays und Romanen darstellt, gestatten ihm eine Re-Lektüre von ehemaligen Habsburger-Territorien in der Ukraine vorzunehmen und die Ursachen, die Zustände und Formen der Auslöschung der kulturellen Tradition der Donaumonarchie in seiner heimatlichen Region zu schildern. Infolgedessen stellt sich der Schriftsteller ein neues geopolitisches Ziel: Die Region des ehemaligen Galiziens (wie die Gesamtukraine) im östlichen Zentraleuropa bzw. kulturell in »Mitteleuropa« zu platzieren. Mittels des geopoetischen Verfahrens kommt Andruchovycˇ zu einer eigenen Geokulturologie, die zur Kritik an der sowjetischen und national-sozialistischen Geopolitik im 20. Jahrhundert wird. Er setzt die »Geopoetik« gegen die Geopolitik, denn, wie er selbst kommentiert, gehe es ihm vor allem darum, »die politischen Beschränkungen und Teilungen mit poetischen Mitteln zu überwinden«.1613 Die kulturhistorische Diagnose des Autors lautet: Hier, im posttotalitären Galizien soll der Dialog begonnen werden. So schafft Jurij Andruchovycˇ sein »eigenes Territorium« – sein eigenes »Galizien« und sein »Mitteleuropa«, die für ihn in der geistigen Wirklichkeit bestehen. Auf diese Weise bewahrt er das Gedächtnis an das historische Galizien, bringt seine Nachwirkung zutage und schreibt die kulturelle Geschichte Post-Galiziens weiter, wodurch die Dauerhaftigkeit und Unbeschränktheit des »Galizischen Textes« beweist. Trotz der Originalität der Themen, des Stils, der Zugänge zur Darstellung der objektiven Gegebenheiten weisen seine Essays und Romane mehrere für diesen Text typische Leitmotive auf, solche wie ausgesprochene Raumfokussierung, die Zuwendung zur ehemaligen kulturellen Vielfalt Galiziens, die Rolle der Zugehörigkeit zur Donaumonarchie, die Analyse der historischen Kataklysmen, die dieses Land erschütterten, sowie ihrer verheerenden Folgen, geokulturologische Umpolung Galiziens, seine Platzierung in Mitteleuropa und anderes mehr. Alle diese Topoi sind als Kodierungsverfahren mit den Texten anderer gegenwärtigen Vertreter des »Galizischen Textes« semantisch verbunden, sei es Taras Prochas’ko oder Andrzej Stasiuk, und weisen auf das historische Galizien und sein kulturelles Erbe fokussierte Schreibmethode auf.
1613 Marszałek/Sasse 2006, »Antonycˇs Geist«. Interview mit Jurij Andruchovycˇ.
Literaturverzeichnis
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Transformationen eines mitteleuropäischen Kulturraumes im 20. Jahrhundert: Ihre narrative Konstitution in der gegenwärtigen Galizienliteratur
Im Sinne der Raumtheorien von Henri Lefebvre1614 und Edward Soja1615 spiegeln literarische Texte nicht nur den Georaum als einen physischen Hintergrund, sondern auch soziale Prozesse, Machtverhältnisse oder kulturelle Phänomene, die in ihm Platz haben und kulturell produziert werden können, wider. Man unterscheidet bei ihrer Untersuchung zwischen Topographien, die sich mit konkreten geographischen Räumen beschäftigen, diese beschreiben1616 oder Bedeutungen in den Raum projizieren1617, und Topologien, bei denen der Raum nicht als Substanz, sondern als Feld zwischen Körpern betrachtet wird. Es geht demnach um abstrakte Raumrelationen, insbesondere dann, wenn der Raum als sozialkulturelle Konstruktion aufgefasst wird. Anhand der raumbezogenen Interpretation der in der Literatur narrativ gestalteten geschichtlichen und kulturellen Phänomene lassen sich Prozesse der Umwandlung des Kulturraumes einer bestimmten Region erforschen, in dem Fall der modelhaften historischen Region Galizien. Infolge mehrerer historischen Kataklysmen erlitt Galizien unterschiedliche politische Brüche und zeitliche Wendepunkte. Die Geschichte der Region ist durch mehrere historische Traumata gezeichnet, denn Galizien gehörte zu dem Teil Europas, der von Timothy Snyder als »Bloodlands« genannt wurde: Im Ersten Weltkrieg verlief hier die habsburgisch-zaristische Front und im Zweiten Weltkrieg geriet es »zwischen Hitler und Stalin«.1618 Folglich wurde der kontroverse Diskursraum Galizien zum Laboratorium für das Erproben von Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Radikale, die Geschichte Galiziens prägende Wendepunkte bewirkten die Transformation seines Kulturraumes von einem heterogen-hybriden zu einem homogenen – Prozesse, die auch im narrativen Diskurs reflektiert werden, der in verschiedenen Sprachen des »Galizischen 1614 1615 1616 1617 1618
Lefebvre 2006, S. 330. Soja 1989. Bachmann-Medick 2006. Weigel 2002. Snyder 2011, S. 1.
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Textes« geführt wird.1619 Die Hinwendung zum Raum ermöglicht es, einen transkulturellen Zugang zu Autoren zu finden, deren Texte sich auf die pluralistische Wirklichkeit des historischen Galiziens und der folgenden Perioden beziehen. Einer der bekanntesten zeitgenössischen Vertreter des gegenwärtigen »Galizischen Textes«, der sich einer Schleppe gleich durch den chronologische Rahmen des historischen Galiziens zieht, ist der ukrainische Schriftsteller Taras Prochas’ko (*1968), der neben Jurij Andruchovycˇ zu den bedeutendsten Repräsentanten des so genannten »Stanislauer Phänomens« gehört. Die beiden Autoren sind gebürtige »Galizianer«; mit ihrem Schaffen bestätigen sie das dauerhafte Bestehen des »Galizischen Textes«, und zwar nicht nur wegen der Darstellung der empirischen Gegebenheiten Galiziens (unter anderem der genauen Toponymik), sondern auch dank der Präsenz in ihren Werken der Hauptidee dieses Textes – der Prävalenz von Heterogenität und Hybridität im Kulturraum Galizien. Zu den bekanntesten Werken von Taras Prochas’ko gehört der 2002 verfasste Roman Neprosti [Die Nichteinfachen].1620 Die im Titel vorkommende Bezeichnung entstammt dem Dialekt des Bergstammes der Huzulen, dessen eigentümliche Lebensweise und Kultur zu einem der Topoi der galizischen Literatur wurde.1621 Mit diesem Begriff bezeichnet man in den ukrainischen Karpatenmythen die Menschen – so im Text des Romans gedeutet – »die sich durch ihr Wissen und Können von ihren Mitmenschen unterscheiden, Gutes oder Böses antun können«.1622 Man nennt sie »Erdgötter«1623 oder die Weisen. Im Roman wird nur angedeutet, wer die »Nichteinfachen« sind; wichtig ist lediglich, dass sie die Welt regieren, sie »beherrschen«.1624 Diese Macht verdanken sie dem Erzählen, denn ohne Erzählen gebe es kein Leben, das Erzählen sei das Leben.1625 Die Methode der »Nichteinfachen« besteht in der Gestaltung der Sujets; wichtig seien dabei Zeit und Ort, weil es so ist, wie darüber erzählt wird, denn das Erzählen 1619 Über Galizien wird immer wieder vor allem ukrainisch, polnisch, deutsch, hebräisch, jiddisch, in der letzten Zeit auch englisch und französisch geschrieben. 1620 Der Roman Neprosti wird derzeit ins Deutsche übersetzt. 2009 erschien im Verlag Suhrkamp die deutsche Übersetzung von Maria Weissenböck einer Sammlung von Erzählungen von Taras Prochas’ko unter dem Titel Z cjoho mozˇna zrobyty kil’ka opovidan’ [Daraus lassen sich ein paar Geschichten machen]. 1621 Woldan 1998; Makarska 2010. 1622 Prochas’ko 2010, S. 146: »[…] ljudy, jaki za dopomohuju vrodzˇenych abo nybutych znan’ mozˇut’ prynosyty koryst’ abo sˇkodyty komus’, […]. 1623 Ebd., S. 140: »zemljani bohy«. In der Mythologie der Huzulen werden solche Menschen »Molfary« – die »Zauberer« bezeichnet. Eine wichtige Rolle spielt die Gestalt eines Molfars in der Erzählung von Mychajlo Kuzjubyns’kyj Tini zabutych predkiv [Die Schatten vergessener Ahnen]. 1624 Ebd., S. 147: »Neprosti panujut’ svitom«. 1625 Ebd.: »[…] zˇyttja nema bez opovidi, bo opovid’ je zˇyttjam […],«.
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könne man auch in die »andere Welt« mitnehmen, wo es nur Stimmen, die Ewigkeit und das Entzücken gebe.1626 Dadurch betont der Schriftsteller den Primat des Narrativen; seine Geschichte erzählt er im aphoristischen Stil. Die Zeit der Handlung wirkt im Roman nicht linear: »[…] alles wiederholt sich«.1627 Mehrere Nennungen der für das Sujet markanten Jahre durchsetzen den Text, sie werden aber nicht in ihrer Reihenfolge angegeben; die Chronologie sei uninteressant und spiele, wie der Autor hervorhebt, für die Darstellung der von ihm erzählten Welt keine Rolle.1628 Nicht zufällig vergleichen die Kritiker Prochas’kos Roman mit Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez; die vom ukrainischen Schriftsteller erfundene Welt wird als ein »Karpaten-Macondo« bezeichnet.1629 Die Handlung in Neprosti umfasst die Zeitspanne vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Wie im Bewusstsein der Zeit sind hier vergangene Jahre zu einem Amalgam geworden, aus dem die entscheidenden Daten hervorragen. Taras Prochas’ko interessiert sich für Phänomenologie; er ist ein großer Verehrer des Augustinus und richtet sich nach dessen Bekenntnissen, die vergangene Zeit als Eindruck nur in unserem Geiste messen zu können. Auf diese Weise werden verschiedene erlebte Zeiträume miteinander verglichen. Ähnlich wie Márquez in seinem Roman verwendet Prochas’ko solche Stilmittel wie Ana- und Prolepsen, wodurch bei der ersten Lektüre der Anschein erweckt wird, dass es sich um eine chaotische Ansammlung von Episoden aus dem Leben der Protagonisten handelt. Verstärkt wird dieses Empfinden durch zahlreiche Homonymien der Charaktere: Es scheint, dass die erzählte Welt an der magischen Verbindung der Namen der Hauptpersonen haftet (Franz, Sebastian, Anna, die zweite Anna-Stefania, noch eine Anna, der alte Beda); der Sinn der inzestuösen Beziehungen unter einigen von ihnen wird diffus und verschwindet ziemlich leicht aus der Geschichte. Die Jahre und die mit ihnen verbundenen historischen Ereignisse stehen für zeitliche Brüche in Ostgalizien, wie z. B. 1951, als sich in der Westukraine ein stalinistisches Regime etablierte und »der Osten sich langsam Richtung Westen zu verlagern begann«;1630 September 1914, als 1626 Ebd., S. 148.: »[…] to, sˇcˇo mozˇna zabraty na druhyj svit, to, sˇcˇo na druhomu sviti potribne, bo tam sami holosy, vicˇnist’ i zachvat.« 1627 Ebd., S. 69: »[…] vse povtorjujet’sja […]«. 1628 Ebd., S. 154: »Chronolohija jich ne cikavyla, a dlja Sebastjana jiji vzahali nikoly ne isnuvalo.« 1629 Im Roman von Márquez Hundert Jahre Einsamkeit geht es um sechs Generationen der Familie Buendía und hundert Jahre des wirklichen Lebens in der fiktiven Welt von Macondo. Dabei ist der chronologische Ablauf zunächst nur wenig erkennbar [https://de.wi kipedia.org/wiki/Hundert_Jahre_Einsamkeit]. Die Welt von Macondo ist auch im Schaffen von Jurij Andruchovycˇ präsent, es gibt Parallelen zu ihr in seinem Roman Zwölf Ringe (Andruchovycˇ 2003). 1630 Prochas’ko 2010, S. 69: »[…] rusˇyty na zachid – todi navit’ schid pocˇav povil’no peremisˇcˇatysja v tomu kerunku.«
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Anna an die Front des Ersten Weltkrieges in Ostgalizien geriet;1631 November 1918, als während des ukrainisch-polnischen Krieges in Lemberg die Scharfschützen von den Balkons schossen, auf denen sie vor dem Krieg vielleicht gelebt hatten;1632 1938, als die Republik »Karpaten-Ukraine« proklamiert wurde,1633 und 1939, als sie eine Niederlage erlitt – das sollte der erste Akt des Zweiten Weltkrieges sein, der von niemandem erkannt wurde, merkt Prochas’ko dazu an1634; 1944, als die Besetzung durch die »Russen« begann;1635 1949, als in den Bergen eine Hungersnot ausbrach.1636 So wird die Zeit im Roman zyklisch und gewinnt mythische Züge. Eine stärkere Akzentuierung kommt jedoch dem Raum zu. Er wird im Text als »importierter Handlungsraum«1637 gestaltet, als ein solcher also, der den Georaum, in dem sich die Geschichte abspielt, topographisch und toponymisch korrekt wiedergibt. Als konkreter Raum der erzählten Welt wird dieser Handlungsraum mit Hilfe mehrerer Orts- und Bergnamen bezeichnet. Besondere Bedeutung kommt aber dem Ort zu: Wenn es einen Ort gibt, gibt es eine Geschichte. […] Einen Ort zu finden bedeutet eine Geschichte zu beginnen. Einen Ort zu erfinden, bedeutet ein Sujet zu finden. Und Sujets sind schlechthin auch wichtiger als Schicksale. Es gibt Orte, an denen es nichts mehr zu erzählen gibt, aber manchmal muss man nur die Namen in die richtige Reihenfolge bringen, und schon beherrscht man für immer die interessanteste Geschichte, die stärker hält, als eine Biographie.1638
Der Ort sei das Wichtigste, worum es geht, »man keimt in ihm an, gleich der Plazenta und dem Embryo«.1639 Ein solcher Ort ist im Roman Jalivec’, ein Mo1631 Ebd., S. 79: »[…] potrapyla na front u Schidnij Halycˇyni.« 1632 Ebd., S. 138: »[…] pro balkony, na jakych ti snajpery, mabut’, pered vijnoju zˇyly.« Dieser Topos kommt auch in den Erinnerungen an die Kindheit in Lemberg von Stanisław Lem Das Hohe Schloss, wenn er bezüglich der Kämpfe des Jahres 1918 schreibet, dass er als Kind folgendes nicht begreifen konnte (Lem 1980, S. 148): »Wie denn – konnte es also wirklich so sein, war wirklich jemand imstande, in die Fenster zu schießen? In die Wohnungen? Und drei Jahre danach wurde ich geboren?«; Lem 1968, S. 65: »Jak to – a wiec naprawde˛ mogło tak byc´ – naprawde˛ ktos´ gotów był strzelac´ do okien? Do mieszkan´? A ja urodziłem sie˛ w trzy lata potem?« 1633 Ebd., S. 155: »[…] koly povstala Karpats’ka Ukrajina, […]«. 1634 Ebd., 179: »Ce buv nezauvazˇenyj persˇyj akt Druhoji svitovoji vijny.« 1635 Ebd., 155. »[…] koly zamist’ madjariv pryjsˇly ruski.« 1636 Ebd., S. 162: »1949 – u horach velykyj holod […]«. 1637 Piatti 2008, S. 361. 1638 Prochas’ko 2010, S. 70: »Je misce – je istorija […]. Znajty misce – zapocˇatkuvaty istoriju. Prydumaty misce – znajty sjuzˇet. A sjuzˇety, zresˇtoju, tezˇ vazˇlyvisˇi, nizˇ doli. Je miscja, v jakych nemozˇlyvo vzˇe nicˇoho rozkazaty, a inodi varto zahovoryty samymy nazvamy v pravyl’nij poslidovnosti, sˇcˇob nazavzˇdy ovolodity najcikavisˇoju istorijeju, jaka trymatyme syl’nisˇe, nizˇ biohrafija.« 1639 Prochas’ko 2010, S. 88: »Jomu najbil’sˇe jsˇlosja pro misce, v jake – jak u vypadku placenty i zarodka – […] bulo by jaknajkomfortnisˇe prorostaty.«
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dekurort in den galizischen Karpaten. Bei der Gestaltung seines Textraumes verwendet Prochas’ko neben mehreren raumreferentiellen Ausdrücken das Verfahren der Kartierung: Auf der ersten Seite des Romans ist die geographische Karte der beschriebenen Karpatenregion rings um Jalivec’ abgebildet. Im Text wird diese physische Karte zu einer kognitiven Karte (mental map) erweitert, zu einem metaphorisierten Ordnungsmuster, das, laut Bachmann-Medick, infolge der symbolischen und subjektiven Aufladungen der kartographischen Bezugspunkte mit verschiedenen Bedeutungen entsteht.1640 Aufgrund der »Überlagerung der physisch-räumlichen Strukturen durch (subjektive) Erinnerungsakte«1641 verweist eine solche kognitive Karte auf die Schnittstellen zwischen Raum und Zeit und demzufolge auf die Komplexität der Raumperspektive. Wie im Fall des Begriffes »die Zeit« spielen bei Prochas’ko die phänomenologischen Theorien der Wahrnehmung des Raumes von Husserl1642 und Merleau-Ponty1643 eine große Rolle. Im Feuilleton Logik der Landschaft äußert er sich wie folgt: Denn die Landschaft ist unmittelbar mit dem Leib verbunden. Der Leib nimmt die Merkmale der Landschaft in dem Maße auf, dass er anfängt, durch sie zu denken. Der Leib wird als selbstverständlich angesehen. Als Quelle von Empfindungen ist der eigene Leib wirklich schwer zu begreifen. Er existiert de facto nicht. Bis er beginnt vom Schmerz gekennzeichnet zu werden. Deshalb schmerzen uns so oft die Landschaften.1644
So entsteht im Prochas’kos Roman Neprosti eine mythenträchtige Karpatenlandschaft, eine Art »der alternativen Mythologie der Karpaten«, wie der Schriftsteller in einem Interview seinen Roman bezeichnete. Es gehe hier, so der Autor: […] um die Geschichte der Karpaten im 20. Jahrhundert, genauer – seiner ersten Hälfte, aber in dem Sinne, dass die Karpaten gleichzeitig ein besonders geschlossenes Territorium waren, wo sich etwas ganz Archaisches und Autochthones erhalten hat, und gleichzeitig besteht die Alternative darin, dass die Karpaten im Laufe von mehreren Jahrhunderten (und daran denken wir selten) ein außerordentlich offenes Territorium waren; es war ein Magnet, wo Kontakte mit anderen Zivilisationen, mit anderen Kulturen zustande kamen. Und das ist der Mythos der Karpaten, die für die Welt offen sind.1645 1640 1641 1642 1643 1644
Bachmann-Medick 2006: 299–300. Ebd., S. 300. Husserl 2006. Merleau-Ponty 2006. Prochas’ko 2006 a, S. 41: »Bo landsˇaft bezposerednjo pov’jazanyj z tilom. Tilo nabyraje oznak landsˇaftu nastil’ky, ˇscˇo pocˇynaje nym myslyty. Tilo zˇ spryjmajet’sja jak danist’. Buducˇy dzˇerelom vidcˇuttiv, vlasne tilo naspravdi vazˇko osmyslyty. Joho po-spravzˇnjomu ne isnuje. Do toho cˇasu, poky joho ne pocˇynaje oznacˇuvaty bil’. Tomu tak cˇasto boljat’ landsˇafty.« 1645 Prochas’ko 2006: »Idet’sja pro istoriju Karpat 20-ho stolittja, cˇy joho persˇoji polovyny, ale v tomu sensi, sˇcˇo Karpaty odnocˇasno buly i duzˇe zakrytoju terytorijeju, de zberihalosja sˇcˇos’
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Es ist außerdem der »eigene Mythos« Mitteleuropas, den der Autor »in Form der Insel Jalivec’« schafft.1646 Taras Prochas’ko erzählt seinen »offenen Karpatenraum« – im Roman wird gelegentlich auf die Vögel verwiesen, die sich frei im Raum bewegen –, indem er die »Kodierungen«1647 in ihm literarisch darstellt. Sein »topographischer Blick« auf geographisch identifizierte Orte und Räume »entspringt« hier, im Sinne von Bachmann-Medick, einer thematischen Fokussierung und ist in die Kulturgeschichte des Raums eingebunden.1648 Der geopolitische Blick auf die ukrainischen Karpaten und auf Galizien wird hier, wie Olena Dvoretska hervorhebt, »durch einen kulturell-historischen« ersetzt.1649 Unter topologischem Aspekt erweist sich der Erzählraum des Romans als eine kulturell produktive Kategorie, wenn es um die Kulturgeschichte der Region geht, wo infolge mehrerer Wenden die Kulturen den Umwandlungen ausgesetzt waren. Denn, wie Dünne dieses Verfahren beschreibt, können topologische Ansätze ebenso dafür verwendet werden, um Geschichten im Raum zu beschreiben.1650 Der im Roman Neprosti dargestellte Kulturraum weist mehrere heterogene Züge auf. Hier, an den Grenzen zwischen den unterschiedlichen Staaten, die sich aufgrund politischer Brüche als veränderlich erwiesen, leben Vertreter verschiedener Ethnien zusammen: Als Einheimische werden im Roman die Ukrainer genannt, zu denen auch der Bergstamm der Huzulen gehört, erwähnt werden aber auch Österreicher, Deutsche, Polen, Ungarn, Rumänen, Slowaken und Tschechen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommen die Russen hinzu. Der Kulturraum dieser Grenzregion ist in der Darstellung Prochas’kos aber auch ausgesprochen hybrid, wovon vor allem der Gebrauch der Sprachen zeugt. Die »Rastamanen«, die »gedungenen Mörder«, die aus Budapest nach Jalivec’ kamen – diesen Namen entlehnt Prochas’ko aus dem Spanischen, wo die Bezeichnung »rastracueros« Abenteurer und Gauner bedeutet (eine ausdrückliche Anspielung an Márquez, bekräftigt durch die Bemerkung »sie haben teilweise das Städtchen latinoamerikanisiert«)1651, spielen in der Bar ein merkwürdiges Wortspiel mit der kleinen Anna: Das Mädchen benennt ein und denselben Gegenstand ukrainisch, huzulisch, polnisch, deutsch, slowakisch, tschechisch, rumänisch, ungarisch und sie erraten, was das bedeutet. Sebastian, eine andere Romanfigur, träumt von einem kleinen Land in den Karpaten rings um Jalivec’,
1646 1647 1648 1649 1650 1651
duzˇe archajicˇne i avtentycˇne, i razóm z tym alternatyva poljahaje v tomu, sˇcˇo Karpaty protjahom bahatjoch stolit’ (pro sˇcˇo my ridko dumajemo) buly nadzvycˇajno vidkrytoju terytorijeju, ce buv mahnit, de vidbuvalysja kontakty z insˇymy cyvilizacijamy, insˇymy kulturamy. I ce je mif Karpat, vidkrytych dlja svitu.« Dvoretska 2018, S. 104. Bachmann-Medick 2006, S. 308. Ebd. Dvoretska 2018, S. 104. Dünne 2009, S. 6. Prochas’ko 2010, S. 167: »[…] cˇastkovo latynoamerykanizujucˇy karpats’ke mistecˇko […].«
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das er, »das allgemeine Chaos ausnutzend«1652, alleine verteidigen könnte. In diesem erfundenen herrlichen Land sollten alle die Sprachen voneinander verstehen. Denn die Bemühung, sich in verschiedenen Sprachen zu verständigen, sei »der Höhepunkt des Seins«.1653 Diese Viel-Stimmigkeit verleiht dem von Prochas’ko narrativ konstituierten Kulturraum typische Merkmale der Hybridität. Die heterogene und zugleich hybride Identität, die heute oft als ein Spezifikum der mitteleuropäischen Region genannt wird, wurde bei Prochas’ko zum Hauptmerkmal des Kulturraumes der Karpatenregion in Ostgalizien. Sie ermöglicht dem Schriftsteller den Ort, der zum Schauplatz der von ihm erfundenen Geschichte wird, als Bestandteil von Mitteleuropa1654 zu betrachten: Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Jalivec’ des Romans zu »einem der bizarrsten«1655 Modekurort Mitteleuropas. Hierher kamen Besucher aus ganz Mitteleuropa; als Sebastian zum ersten Mal in Jalivec’ übernachtete, verstand er, »dass sein Europa existiert«1656; Sebastian schlägt den Journalisten einiger großen Zeitungen vor, kurze Zeit in Jalivec’ zu wohnen, »[…] um gemeinsam Gin zu trinken und so zu sprechen, wie es in Mitteleuropa üblich ist, um gemeinsame Orte und gemeinsame Personen ausfindig zu machen, einige parallele Spinnennetze zu entdecken, in denen alle sich selbst finden. Denn, wird vom Autor betont, sei »das Problem von Mitteleuropa« nur ein »stilistisches«.1657 Der in Neprosti dargestellte Kulturraum wird auch im Kontext der mitteleuropäischen Geschichte betrachtet: »[…] übrigens wird mein Ort immer im Zentrum der europäischen Geschichte stehen, denn in diesem Land kommt die Geschichte in verschiedenen Ausformungen selbst an unsere Höfe«1658, betont Franz, ein anderer Protagonist des Romans. Zu einer dieser Ausformungen der Geschichte wurde der Krieg, ja sogar mehrere Kriege, die die Karpatenlandschaft in eine
1652 Ebd, S. 180: »[…] skorystavsˇys’ vselens’kym chaosom, […]«. 1653 Ebd., S. 191: »[…] namahannja porozuminnja riznymy movamy spravdi je pikom buttja.« 1654 Wegen des Baues der Eisenbahnlinie Rachiw-Sighetu Marmatiei (ungarisch: Máramarossziget) wurden Vermessungsarbeiten durchgeführt und so der geografische Mittelpunkt Europas vermessen. Zu dieser Zeit gehörte die Region noch zur k.u.k. Monarchie. Wiener Wissenschaftler bestätigten diese These nach gründlicher Überprüfung. Während der Arbeiten wurde 1887 ein 2 m hohes geodätisches Denkmal aus Beton errichtet, das bis heute im Original erhalten ist. Die Gedenktafel mit lateinischer Inschrift hat folgenden Wortlaut: »Locus Perennis Dilicentissime cum libella librationis quae est in Austria et Hungaria confectacum mensura gradum meridionalium et paralleloumierum Europeum. MD CCC LXXXVII.« 1655 Prochas’ko 2010, S. 72: »[…] Jalivec’ buv najchymernisˇym i dosyt’ modnym kurortom Central’noji Jevropy«. 1656 Ebd., S. 123: »[…] sˇcˇo joho Jevropa isnuje«. 1657 Ebd., S. 127: »[…] bo problema Central’noji Jevropy – stylistycˇna, […].« 1658 Ebd., S. 89: »[…] zresˇtoju, moje misce zavzˇdy opynjytamet’cja v centri jevropejs’koji istoriji, bo v cych krajach istorija v riznych formach prychodyt’ na nasˇi podvir’ja.«
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Kriegslandschaft verwandelten und etliche zeitliche, politische und, als Folge, kulturelle Brüche verursachten. »Warum gibt es unaufhörlich einen Krieg?«1659 – fragt die kleine Anna, Sebastians Tochter, als sie schon komplizierte Geschichten zu verstehen begann. Sebastian packt das Grauen und er fragt sich, ob er der Kleinen tatsächlich nur vom Krieg erzählt habe, obwohl man bereits das Jahr 1921 schrieb. Jalivec’ wurde im Ersten Weltkrieg zu einem »besonders wichtigen strategischen Punkt auf der halbkilometerlangen topographischen Karte«,1660 obwohl die Einwohner des Städtchens beschlossen hatten, dass »der Krieg nicht für sie bestimmt sei«.1661 Sie zählten sich zu Mitteleuropa und hatten keine anderen Interessen. »Aber wenn Süden mit Norden und Osten mit Westen kämpft«, schreibt Prochas’ko, »so tun sie das meistens in Mitteleuropa, wo die Karpaten und ihre Flüsse sind«.1662 Das Schwierigste sei in diesen Zeiten, so der Autor, »die Rolle der friedlichen Bevölkerung zu spielen«.1663 Der Erste Weltkrieg wurde von mehreren politischen Umbrüchen begleitet, die die Karpatenregion erschütterten. Sie setzten verschiedene Prozesse in Gang, die sich hier abspielten und ihr den Charakter eines Transitraumes verliehen. Zu den markantesten Topoi wurden Flucht, Auswanderung, Hunger, Verfolgung und Mord: Im Mai [1915, L.C.] begannen an Jalivec’ die Landstreicher vorbeizuziehen: Die MazepaAnhänger kehrten nach Galizien zurück, die Galizier wurden von Thalerhof und Gmind freigelassen, die Moskwophilen holten die Russen, die Aussiedler flohen aus Russland, die russischen Spione schlugen sich nach Ungarn durch, die Ungarn suchten nach den Spionen und hängten die Huzulen auf, die Huzulen zogen zu den Rumänen, um etwas dünnen Maisbrei zu holen, die rumänischen Waldräuber jagten die huzulischen Mädchen, die Deserteure und Marodeure mieden einander.1664
Keine Vögel fliegen mehr durch diesen Raum: Sie verließen die »gerichtete Kriegslandschaft« der Front- und der Gefahrzonen.1665 Die vom Ersten Weltkrieg verursachten Umbrüche ließen sich als Wenden im Kulturraum der Region um Jalivec’ auffassen. Es kam in Galizien und der dazu gehörenden Karpatenregion zu neuen Grenzziehungen: Jalivec’ befand sich jetzt ˇ omu zavzˇdy vijna?« Ebd., S. 141: »C Ebd., S. 142: »[…] stratehicˇno vazˇlyvoho punktu na pivkilometrovij topohraficˇnij mapi.« Ebd.: »[…] sˇcˇo cja vijna ne dlja nych.« Ebd.: »Ale koly vojuje Pivden’ z Pivnicˇcˇju, a Schid iz Zachodom, to robljat’ ce perevazˇno u Central’nij Jevropi, de Karpaty i jich riky.« 1663 Ebd.: »[…] vykonuvaty rol’ myrnoho naselennja […].« 1664 Ebd., S. 139: »U travni popry Jalivec’ pocˇaly chodyty zabrody: mazepynci vertalysja na Halycˇynu, halycˇan vidpuskaly z Talerhofa i Gminda, moskvofily dohanjaly rosijan, vyselenci vtikaly z Rosiji, rosijs’ki sˇpyhuny probyralysja na Madjary, madjary vysˇukuvaly sˇpyhuniv i visˇaly huzuliv, huzuly brely do rumuniv po kulesˇu, rumuns’ki oprysˇky peresliduvaly huzul’s’kych divcˇat, dezertyry i marodery unykaly odni odnych.« 1665 Lewin 2006: 129–130. 1659 1660 1661 1662
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in der Tschechoslowakischen Republik, Stanislau, Lemberg und Ardzheludzha kamen hinter die »verbotene Linie«1666 bei der Tschornohora; sie wurden also Polen angegliedert. Man begann die Perioden als »vor dem Krieg« und »nach dem Krieg« zu bezeichnen. Besonders deutlich haben sich die Transformationsprozesse des Kulturraums in der ethnischen Zugehörigkeit der Besucher des Kurortes und im Gebrauch der Sprachen niedergeschlagen: Nach Jalivec’ kamen jetzt vor allem Leute aus Prag, Brünn, Bratislava, Kosˇice, Karlsbad und Uzhhorod. Außerdem – aus Podjebrady und Nuslja, aus den deutschen Orten Jablonec’, Liberec’ und Josefiv. Es war leichter, sich mit den Fremden auf Ukrainisch als auf Deutsch zu verständigen, denn Jalivec’, so Prochas’ko, befand sich früher in den ukrainischen Karpaten. Die historischen Wendepunkte veränderten den Kulturraum: Vom Deutschen, der lingua franca der Habsburgermonarchie, deren Bestandteil Galizien bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war, wechselte man in der Zwischenkriegszeit zum Gebrauch der miteinander verwandten slawischen Sprachen. Das dauerte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges an, als sich in Jalivec’ und in den ukrainischen Karpaten insgesamt das Sowjetregime etablierte, was von Kälte und Hunger, Verhören und Deportationen in Lager begleitet war. Damit brach eine neue Periode an, eine neue Art des Seins, in der es die weisen »Nichteinfachen« nicht mehr gab, denn sie waren 1947 von einer Sonderabteilung der sowjetischen Geheimpolizei in ein Irrenhaus gesperrt worden, welches später, im Frühjahr 1952 von ihr ins Brand gesetzt wurde. Ende der fünfziger Jahre demontierten die »Sowjets« die altösterreichischen Militärstraßen in den Karpaten, es begann die Zeit der großen Wandlungen, die von Menschenverschiebungen begleitet wurden; infolgedessen ist zur Grundlage des Sprechens und Denkens »die vergleichende Geographie«1667 geworden. Diese Zeit war von einer kulturellen Nivellierung im sowjetischen Sinne gekennzeichnet; der ehemals heterogen-hybride mitteleuropäische Kulturraum rings um Jalivec’ fing an, allmählich homogenisiert zu werden. Die Russifizierung begann. Jede Periode, schreibt Prochas’ko über die neue, sowjetische Zeit in den galizischen Karpaten, habe ihre eigene Sprache, ihren eigenen Slang wie ein neues Sein; »die Sprachen vergehen langsamer als die Zeitperioden«,1668 fügt er zum Schluss hinzu. Ein Zeugnis dafür ist sein eigenes Schaffen, seine Narration, in der der Widerklang vergangener Zeiten in der Geschichte seiner Heimat wahrzunehmen ist. Voraussetzungen dazu brachte die Wende der 1990er Jahre in der Ukraine, die es ermöglichte, über die Geschichte der heutigen Westukraine offen zu schreiben, denn dieser geopolitische, soziale und kulturelle Raum des historischen Galiziens war mehreren Umbrüchen und Transformationsprozessen 1666 Prochas’ko 2010, S. 148: »[…] za zaboronenoju linijeju […]«. 1667 Ebd., S. 165: »[…] porivnjal’na heohrafija.« 1668 Ebd., S. 163: »[…] movy mynajut’ povil’nisˇe, nizˇ periody.«
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ausgesetzt, derer Erwähnung unter ideologischen Bedingungen des Sowjetregimes ausgelöscht sein sollte. Prochas’kos Roman stellt somit eine Bestätigung der Beobachtung dar, wie sie Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse für den ostmitteleuropäischen Raum machten: »Je prekärer sich die historisch-politische Existenz von Räumen darstellt, umso intensiver existieren diese Räume als literarischer Text«.1669 Mehrere Leitmotive von Neprosti fokussieren diese Existenz in der Kulturgeschichte des Raums, infolge dessen der Widerhall mit anderen Werken des »Galizischen Textes« entsteht. Die Topographie der imaginären Stadt Jalivec’ schafft im Roman Prochas’kos laut Dvoretska »einen besonderen Raum, der eindeutig die Charakterzüge der historischen Region Galizien widerspiegelt«.1670 Das Kodierungsverfahren auf dem Niveau solcher raumbezogenen Topoi wie Machtwechsel, Krieg, Auswanderung, Zwangsmigration, Flucht, Deportation und damit verbundenen Umwandlungen, insbesondere des Sprachgebrauchs, lässt dementsprechend den gemeinsamen Sinn mit den anderen Texten in, aus und über Galizien entstehen, und zwar die Reflexion in seinem narrativen Diskurs der Transformationen des Kulturraumes, dessen prägendes Merkmal die Dialektik vom Homogenen, Heterogenen und Hybriden ist.
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1669 Marszałek/Sasse 2010, S. 13. 1670 Dvoretska 2018, S. 104.
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Schriften zur Volkskunde. Veröffentlichungen des Ethnographischen Museums Schloss Kittsee, Heft 10), Kittsee 1998.
VII. Literarischer Freiraum Galizien: Neubewertung
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Das dichterische Werk von Ivan Franko (1856–1916) gehört zum Kanon der ukrainischen klassischen Literatur, obwohl er im Brockhaus nur als »Journalist, Literaturwissenschaftler und Volkskundler« genannt wird.1671 Es wird auch erwähnt, dass Franko als revolutionärer Demokrat mehrmals von den habsburgischen Behörden in Arrest genommen wurde. Er hat aber in seinem Leben viel mehr geschaffen: Außer dem literarischen Wirken als Dichter, Dramaturg und Prosaiker war er auch als Publizist, Wissenschaftler und Übersetzer tätig. Franko war Staatsbürger von Österreich-Ungarn und beherrschte tadellos Deutsch, aber auch die für die kulturell heterogene nordöstliche Habsburger Provinz »Galizien-Lodomerien« typischen Sprachen Ukrainisch und Polnisch; er konnte auch Jiddisch. Neben den antiken Autoren übersetzte Franko aus etwa einem Dutzend moderner und alter Sprachen ins Ukrainische sowie aus dem Ukrainischen ins Deutsche. Bei seiner außerordentlichen literarischen Begabung, enormen Arbeitsfähigkeit als Journalist und seinem gesellschaftlich-politischen Engagement verlief sein Leben im ständigen Kampf um die tägliche Existenz, Verständnis und Anerkennung. Als Dichter wurde Ivan Franko schon bald nach dem Tode zum Klassiker der ukrainischen Literatur ernannt. Er wird gleich hinter dem Begründer der ukrainischen Literatursprache und Dichtung, Taras Sˇevcˇenko (1814–1861), dessen Verse Franko ins Deutsche übertrug, hinsichtlich seines Beitrags zur ukrainischen Literatur genannt. War aber das Leben und Schaffen von Sˇevcˇenko mit dem zentralen, dem russländischen Zarenreich zugehörigen Teil der Ukraine sowie mit der Hauptstadt des Imperiums, St. Petersburg, aufs Engste verbunden, so wurde Franko zum bedeutendsten Autor des österreichischen Galiziens: Sein Leben verlief hauptsächlich in der Hauptstadt der Provinz, Lemberg. In der Metropole der Monarchie, Wien, hat Franko nur relativ kurze Zeit verbracht – der längste Aufenthalt fiel in die Jahre 1892–1893, eine Zeit, die aber auf sein Schaffen einen entscheidenden Einfluss ausgeübt hat. Ungeachtet der Kanonisierung in der ukrainischen Literaturgeschichte, die auch 1671 Der Brockhaus 2007, S. 258.
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in der sowjetischen Zeit durchgeführt wurde (Frankos Dichtung wurde dabei durch das ideologische Sieb geschüttelt, ein großer Teil seiner Publizistik und seiner wissenschaftlichen Arbeiten wurden zensiert oder verschwiegen), blieb der Dichter eine kontroverse Figur. Es war hinsichtlich seines Schaffens noch viel zu entdecken und vor allem einen seinem Talent angemessenen Zugang zu finden. Dieser Prozess hat erst vor einigen Jahrzehnten begonnen. Aus heutiger Perspektive werden Frankos Leben und Werk immer mehr im »Paradigma der Gespaltenheit«1672 betrachtet: Man spricht bezüglich mehrerer Aspekte seiner Persönlichkeit, der Weltanschauung und des Schaffens von »quasi zwei Gesichter(n), zwei Seelen«1673 des Dichters und Kulturschaffenden, die aus seinen Lebensumständen resultierten. Man greift dabei zu Differenzkonstruktionen, es werden eindeutige Oppositionspaare auf der Basis binärer Ordnungslogik nach dem Prinzip »entweder/oder« aufgebaut, wie zum Beispiel, Franko sei ein ukrainischer Nationaldichter oder ein mehrsprachiger Autor, dessen Werk man im Rahmen der zentraleuropäischen Literaturgeschichte betrachten sollte1674; er sei ein ukrainischer Patriot oder ein »Migrant par excellence«1675, ein Anhänger der radikalen politischen Bewegung in Galizien oder ein Sozialdemokrat, ein Philo- oder ein Antisemit; sein Oeuvre zählt zum Paradigma des Realismus oder sei ein Beispiel des Auftretens der Moderne in der ukrainischen Literatur. Frankos Vielfältigkeit kann aber in keinen dieser Rahmen eindeutig verortet werden – sein Leben wie auch sein Werk weisen Züge der Multiplexität auf, die von mehreren Momenten des Widerspruchs, der Ungewissheit und der Unentschlossenheit gekennzeichnet sind. Um den genannten Problemen näher zu kommen und darauf zu fokussieren, was uns durch das Denken mittels binärer Ordnungslogik entgeht, wird hier ein Versuch unternommen, die Phänomene des Lebens und des Schaffens von Ivan Franko mithilfe des modernen analytischen Konzepts der Transdifferenz, der als Sammelbegriff für Phänomene wie Hybridität, Transkulturalität oder Transidentität fungiert1676, zu untersuchen. Der Begriff Transdifferenz verweist »auf die Mehrdimensionalität des vermeintlich eigenen Horizontes, die in herkömmlichen kulturhermeneutischen 1672 Mnich 2016, S. 10. 1673 Tycholoz 2012, S. 532, zitiert nach: Mnich 2016, S. 11. 1674 Karl-Markus Gauß bezeichnet Ivan Franko als einen der »großen Gelehrten und Schriftsteller der k.u.k. Monarchie«, »der seine Publikationen wechselweise auf deutsch, polnisch und ukrainisch abzufassen wusste«. In: Gauß 1998, S. 101. 1675 Hawryliw 2018, S. 175–189. 1676 Die erste Darlegung des Begriffs findet sich 2002 bei Klaus Lösch. In: Lösch 2005, S. 26–49. Näheres zum Begriff und Phänomen der Transdifferenz ist in folgenden Publikationen zu finden: Lackner 2005; Millner/Teller 2018. Als einer der Ersten verwendet den transdifferenten Zugang zur Analyse des Werks von Ivan Franko Tymofij Hawryliw. In: Hawryliw 2018.
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Ansätzen nicht ausreichend berücksichtigt worden ist.«1677 Dabei werden plurale Kategorien der kulturellen Zugehörigkeit und der Identität als Resultat aktiver Konstruktionsprozesse ins Visier genommen, denn mit Hilfe dieses Konzeptes kann man, so Klaus Lösch, das erforschen, was sich »gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt, weil es gleichsam quer durch die gezogene Grenzlinie hindurch geht und die ursprünglich eingeschriebene Differenz ins Oszillieren bringt, ohne sie jedoch aufzulösen.«1678 Es sollen dabei »Transdifferenzphänomene erfahren und – insbesondere im Bereich des künstlerischen Ausdrucks – symbolisch bearbeitet werden können.«1679 Im Fall des Lebens und Schaffens von Ivan Franko sollen vor diesem theoretischen Hintergrund seine kulturelle Mehrfachzugehörigkeit, seine Individuation im Kontext seines konkreten Zeitraums erforscht sowie das Auswirken dieser Positionierung auf sein literarisches Schaffen unter die Lupe genommen werden. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Bedeutung Wiens um die Jahrhundertwende als Wegweiser der Moderne geschenkt: Es soll verfolgt werden, welche kulturellen Tendenzen Franko im Zentrum der Monarchie geprägt haben, um die Rolle des Dichters und Kulturschaffenden in der Entwicklung seiner Heimatregion – Galizien – einschätzen zu können. Zu den Transdifferenzphänomenen, die mehrere Paradoxien verursachten, gehört vor allem Frankos Herkunft. Unter dem Einfluss der Selbststilisierung des Dichters – er nannte sich in seinen Versen und Schriften einen »Bauernsohn«, einen »Sohn des Volkes«1680 (diese Bezeichnung wurde immer wieder, insbesondere in der Sowjetzeit repetiert und hervorgehoben), wurde seine kulturelle Zugehörigkeit zur ukrainischen eindeutig festgelegt. Seine Herkunft hatte aber, wie der ukrainische Historiker Jaroslav Hrytsak aufgrund der Erforschung der historischen Dokumente gezeigt hat1681, einen hybriden Charakter: Franko ist Mitte des 19. Jahrhunderts im kulturellen Zwischenraum des nordöstlichen Kronlandes der Monarchie »Galizien-Lodomerien« als Kind einer für diesen Kulturraum typischen gemischten Ehe zur Welt gekommen: Die Mutter stammte aus einer verarmten polnischen adeligen Familie, der Vater, ein Schmied, war ein Nachkomme ukrainisch assimilierter deutscher Kolonisten, wovon auch der Familienname zeugt. Wegen der roten Haare verbreiteten ihm übelwollend gestimmte Kreise das Gerücht, er sei ein Jude; man hielt ihn aber auch für einen Volksdeutschen oder für einen Polen. Bezüglich der eigenen Identität in der Dichtung als einer ukrainischen handelte Franko bewusst: »Aber aus dem ganzen 1677 1678 1679 1680 1681
Lösch 2005, S. 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22. Gemeint waren die ruthenischen (ukrainischen) Bauer n. In: Winter/ Kirchner 1963, S. 35. Hrytsak 2006, insbesondere das 2. Kapitel des ersten Teiles Zahadky Frankovoho narodzˇennja [Geheimnisse der Herkunft Frankos], S. 43–60; Hrytsak 2016, S. 21–31.
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Spektrum dieser unterschiedlichen Identitäten wählte er«, schreibt Hrytsak, »die am wenigsten angesehene: die ukrainische«1682 und schuf für sich seine eigene Heimat – »die moderne ukrainische Nation«.1683 Als Mensch des Fortschritts1684 entschied sich Franko für diejenigen, die damals am meisten unterdrückt waren, für das staatenlose »Bauernvolk«, wie damals die Ukrainer in beiden Imperien – in der Habsburgermonarchie und im russländischen Zarenreich – bezeichnet wurden. Transdifferente Züge hatten auch Frankos Sozialisation und Ausbildung sowie die Umstände, in denen sich sein dichterisches Talent entfaltete. Schon in der Grundschule lernte er deutsch, polnisch und ukrainisch lesen. 1875 maturierte der zukünftige Dichter mit »vorzüglichen Attestaten«1685 an einem angesehenen Gymnasium in Drohobycˇ, wo er begann, ins Ukrainische zu übersetzen und zu dichten. Danach inskribierte er an der Philosophischen Fakultät der damals bereits polonisierten Universität in Lemberg und begann Altphilologie, Pädagogik, Psychologie, Nationalökonomie sowie ukrainische Sprache und Literatur zu studieren. In diesen Jahren nahm Franko am studentischen Leben aktiv teil und publizierte in der akademischen Zeitschrift Druh [Freund] eine der ersten seiner im romantischen Stil geschriebenen Erzählungen, Petriji j Dobosˇcˇuky [Petrijs und Dobosˇcˇuks]. Zusammen mit anderen Intellektuellen, die sich um diese Zeitschrift gruppiert hatten, geriet Franko unter den Einfluss von Mychajlo Drahomanov (1841–1895)1686, eines Ideologen der Autonomie der Ukraine und Professors für Geschichte an der Universität Kyjiv, der in den Jahren 1875–1876 im regen Briefwechsel mit der Redaktion der Zeitschrift stand. Er bezog sich mit »für Galizien außergewöhnlichen Wissen und Tapferkeit«1687 auf die Fragen der gesamtukrainischen Literatursprache, des künstlerischen Geschmacks, der Prinzipienlosigkeit der galizisch-ukrainischen politischen Anführer, ihrer provinziellen Begrenztheit hinsichtlich der »ukrainischen Sache«.1688 Drahomanov übermittelte den Vertretern der jungen Generation Gali1682 Hrytsak 2016, S. 23. 1683 Ebd., S. 25. 1684 Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Zabuzˇko bezeichnet Ivan Franko in ihrer Promotionsarbeit als einen Menschen des Faust-Typus. Mehr dazu in: Zabuzˇko 2006. 1685 Franko 2016, S. 287. Das Manuskript von Frankos Autobiographie wird im Archiv der Universität Wien unter der Aktennummer PN. 778 samt anderen Unterlagen (Leistungsausweis usw.) aufbewahrt. 1686 Mychajlo Drahomanov stammte aus einem bekannten ukrainischen elitären Geschlecht; er war Anhänger der Dezentralisation und des Föderalismus nach dem Vorbild der Schweiz und USA und trat für die Autonomie der Ukraine, wenn auch im Rahmen des russischen Staates, ein. Für seine Überzeugungen musste Drahomanov schon nach der ersten russischen Revolution 1905 ins Exil gehen, das weitere Leben verlief in Genf und in Sofia, wo er als Professor für Geschichte an der Universität wirkte. 1687 Zerov 1925, S. 175. 1688 Ebd.
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ziens die Ideen, die nach dem Beispiel von »Jung Deutschland« geformt wurden und dem »europäischen Radikalismus und Sozialismus«1689 entsprachen. Franko war unter den Ersten, die Drahomanov folgten; ab Ende der 1870er Jahre beginnen regelmäßige Kontakte und Briefwechsel zwischen den beiden. Der Kyjiver Professor wurde für den jungen Franko zum »Lehrer« im weitesten Sinne des Wortes. Im Unterschied zu seinen Kollegen, die zu Drahomanovs widerspruchslosen Jüngern im »friedlichen Lehrverhältnis«1690, so Mykola Zerov, wurden, kann man in den Briefen zwischen Franko und Drahomanov »einen verschlossenen und gespannten Kampf zweier gleich starker Persönlichkeiten«1691 erkennen. Bei aller Anerkennung der Rolle von Drahomanov für die junge Generation der Ukrainer in Galizien warf Franko ihm öffentlich das »grausame Spiel«1692 vor, das er mit ihm damals spielte. Doch gerade unter dem Einfluss des Lehrers wurde die künstlerische Anschauung des jungen Dichters geformt. Als einer der führenden Theoretiker der Kunst- und Literatur unterstützte Drahomanov das positivistische Paradigma des 19. Jahrhunderts, das in der Ukraine, insbesondere in ihrem zum Zarenreich gehörigen zentralen Teil bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Form von »Volkstümlichkeit« dominierte. Diese Konzeption setzte sich aus den Ideen der Aufklärung, der Romantik und des Rationalismus zusammen, die die damalige ukrainische Literatur prägten und dem Durchdringen der modernistischen Ästhetik im Wege standen. Die volkstümliche Literatur hatte einen utilitaristischen Charakter und sollte sich in den Dienst des Volkes stellen – also dem Ziel dienen, die Ukrainer als eine europäische Nation zu formen und zur Bildung ihres eigenständischen Staates beizutragen. Der Erzählstil war der des Realismus. Als wichtigste Kriterien dieser Literatur proklamierte Drahomanov ihre Treue zur Lebenswahrheit, Objektivität und Aktualität, aber vor allem ihre gesellschaftliche Bedeutung. Solche Zugänge zum literarischen Schaffen hatten eine große Wirkung auf mehrere ukrainische Autoren der Zeit, darunter auch auf Ivan Franko. In seiner frühen Schaffensperiode entstanden mehrere gesellschaftlich und sozial engagierte Erzählungen und Gedichte im Sinne der Volkstümler, die einer Konzeption entsprachen, die Ethik, Ästhetik und Ideologie zu einem Komplex vereinte. Zu den bekanntesten Werken, die Franko im positivistisch-aufklärerischen Stil geschrieben hat, gehörte vor allem sein 1878 verfasstes Gedicht Kamenjari [Die Steinbrecher] aus dem Zyklus Excelsior!1693 Der Dichter verwendet die Form 1689 1690 1691 1692 1693
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Das Gedicht Kamenjari erschien 1878 in Lemberg im Sammelband Dzvin [Die Glocke], danach 1887 und 1893 in zwei Ausgaben des Sammelbandes Z versˇyn in nyzyn [Aus den
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eines visionären Traumes1694, in dem er die schwere Arbeit der Steinklopfer, die einen Weg durch den Felsen bauen, darstellt. Es sollte, im übertragenen Sinne, der Weg zu »neuen Lebens Glück«1695 sein. Die Überzeugung, dass viele Steinbrecher von der schweren, unmenschlichen Arbeit zu Boden gedrückt werden, hält sie nicht auf, ihr Werk fortzusetzen: Sie folgen ihrer Berufung, die von einer Stimme gelenkt wird, die ihnen »von oben« zuruft: »Zerstöret diesen Fels! Trotz Hitze, Glut, trotz Kälte, / Trotz Hungersqual und Durst, denn Ihr seid hier Erwählte, / Und Euch befahl dies Werk des Himmels Allmacht hehr!«1696 Diese mit Pathos und jugendlicher Rhetorik geschriebene Poesie eines zweiundzwanzigjährigen Dichters hatte einen symbolischen Charakter. Es gab die Stimmung des Autors wider und wurde zu seiner Selbstbezeichnung. Franko begann man einen »Steinbrecher« zu nennen, insbesondere später, in der Sowjetzeit, als er eindeutig zu einem revolutionären Demokraten stilisiert wurde. Der transdifferente Zugang zur Poetik dieses Gedichtes gestattet aber, bestimmte Widersprüche in dem bildlichen Ausdruck wahrzunehmen, die diese Einordnung in Frage stellen. Bei der textgetreuen Lektüre fällt es auf, dass die Stimmung der Poesie neben den pathetischen auch andere Töne – düstere, unsichere und morbide – aufweist. Dieser Stimmung entsprechen auch die imaginativen Bilder der Verse. Die Landschaft, die sich vor dem Felsen »von schauerlicher Höhe« ausweitet, ist wüst, die Steinklopfer sind mit Eisenketten »hart gebunden«, »sorgenvoll gebeugt«, »aus jedem Auge« spricht »eines Kummers Last«.1697 Franko definiert die Steinbrecher als »Sklaven aus freiem Willen«1698; sie sind dem Gebot gehorsam, verflucht, zum Tode verurteilt und »hier im Leben« vergessen.1699 Ungeachtet dieser Mehrdeutigkeit des Gedichtes wurde es zu Frankos
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Höhen und Niederungen] und 1903 in der Sammlung Akordy [Die Akkorden]. In: Borakovskyy 2016, S. 297. Man kann hier eine intertextuelle Hinwendung zum bekannten Gedicht von Taras Sˇevcˇenko Son [Der Traum] sehen. Franko: Die Steinbrecher, in: Paslavs’ka/Vogel/Woldan 2016, S. 190 Franko 1976/a, S. 66– 67: »Tverdyj zmurujemo hostynec’ i za namy / Pryjde nove zˇyttja, […]«. Von den drei Übersetzungen dieses Gedichtes ins Deutsche wird die aus dem Ukrainischen von Ostap Hrycaj zitiert, die nach Meinung der Verfasserin dem Original bildlich und rhythmisch adäquat ist. Ebd., S. 189; Franko 1976/a, S. 66: »Lupajte sju skalu! Nechaj ni zˇar, ni cholod / Ne spynyt’ vas! Znosit’ i trud, i sprahu, j holod, / Bo vam pryznacˇeno skalu sesju rozbyt’«. Ebd.; Franko 1976/a, S. 66: »Bezmirna, ta pusta, i dyka plosˇcˇyna / I ja, prykovanyj lancem zaliznym, stoju / Pid vysocˇennoju hranitnoju skaloju, / A dali tysjacˇi takych samych, jak ja. / U kozˇnoho cˇolo zˇyttja i zˇal’ poryly, / I v oci kozˇnoho horyt’ ljubovi zˇar, / I ruky v kozˇnoho lanci, mov had’, obvyly, / I plecˇi kozˇnoho dodolu sja schylyly, / Bo davyt’ vsich odyn strasˇnyj jakyjs’ tjahar.« Ebd., S. 190; Franko 1976/a, S. 67: »Ni, my nevol’nyky, chocˇ dobrovil’no vzjaly / Na sebe puta. My rabamy voli staly: / Na ˇsljachu postupu my lysˇ kamenjari.« Ebd., S. 191; Franko 1976/a, S. 67: »Nechaj prokljati my i svitom pozabuti! / My lomymo skalu, rivnjajem pravdi puti, / I sˇcˇastja vsich pryjde po nasˇych azˇ kistkach.«
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programmatischem Werk. Relevant ist dabei die Tatsache, dass es zu seiner ersten Schaffensperiode gehört: Laut einer Beobachtung von Zerov verlaufen von Kamenjari »radial, wie von einem Zentrum, alle anderen Motive Frankos früher Lyrik«.1700 Diese klare Positionierung wurde längere Zeit zum Hindernis einer adäquaten Einschätzung des gesamten Werkes des Dichters. Erst viel später konnte eine neue Perspektive der Deutung dieser rhetorischen Poesie gefunden werden, die quer durch die gezogenen Grenzlinien führt und dementsprechend von der transdifferenten Ausrichtung zeugt: 2006 betitelte die ukrainische Literaturforscherin Tamara Hundorova ihre Monographie über Ivan Franko wie folgt: Franko ne Kamenjar. Franko i Kamenjar. [Franko ist kein Steinbrecher. Franko und der Steinbrecher].1701 Relevant ist die Tatsache, dass gerade diese Literaturwissenschaftlerin als eine der ersten in der Ukraine sich den theoretischen Fragen des frühen ukrainischen Modernismus vom Ende des 19. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zuwandte. In der ersten Schaffensperiode entstand auch Frankos Prosa-Zyklus Boryslav. Kartyny z zˇyttja pidhirs’koho narodu [Boryslav. Bilder aus dem Leben eines Volks im Vorgebirge] (1877) über das »galizische Pennsylvanien«1702, wie die Erdölvorkommen bei Drohobycˇ genannt wurden. Den größten Erfolg hatte die längere Erzählung Boa Constriktor, in der im Stil des »wissenschaftlichen Realismus«1703 das frühkapitalistische Handeln durch den Erdölgewinn abgebildet wurde. In der Gestalt der Würgeschlange, die niemanden schont, wurde die Ausbeutung selbst verkörpert. Diese Erzählung wurde bald nach ihrem Erscheinen in mehrere Sprachen übersetzt. Seinen Boryslav-Texten sowie den publizistischen Werken über die verspätete Industrialisierung Galiziens verdankte Franko den Namen »ukrainischer Zola«: Er wurde zu einem der ersten Autoren, die die sozialen Zustände der Provinz beschrieben, besonders die Lage der ruthenischen Bauern sowie des in den Erdölgebieten von Boryslav grausam ausgebeuteten Proletariats, das sich aus den verarmten ukrainischen und jüdischen Schichten gebildet hatte. Der Autor schildert mehrere erfolgreiche Unternehmer, die im Sinne des frühen, wilden Kapitalismus handelten und in kurzer Zeit zu großem Reichtum kamen. Vor allem waren es galizisch-jüdische Geschäftsleute oder diejenigen, die aus dem Zentrum der Monarchie nach Galizien migriert waren. Es ging dem Autor nicht darum, die ethnischen oder konfessionellen Unterschiede und Spannungen zu zeigen; Frankos Aufmerksamkeit war vor allem auf die Klassenunterschiede gerichtet. Die Not der mittellosen jüdischen Bevölkerung Galiziens trifft ihn gleichermaßen wie die armselige Lage der proletarisierten 1700 1701 1702 1703
Zerov 1925, S. 180. Hundorova 2006. Pollack 1984, S. 29f. Vom Positivismus inspirierte Konzeption Ivan Frankos.
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ukrainischen Bauern. Franko war der erste Autor aus Galizien, der schon in Boa Constriktor »die Juden in die Kategorie ›Menschlichkeit‹ integrierte«.1704 Er schuf keine Karikaturen – die Methode, die damals insbesondere hinsichtlich der Darstellung der Juden typisch war. Er schilderte lebendige Menschen mit ihren Gefühlen und Gedanken. Seine Darstellung der handelnden Personen und ihrer Äußerungen lieferte jedoch – für den Fall, dass sie aus dem Kontext des BoryslavZyklus herausgerissen und im Sinne der »entweder/oder« Attribution gedeutet wurden – bis in die jüngste Zeit das Material dafür, den Autor des Antisemitismus zu beschuldigen. Wenn aber sein ganzes Schaffen in Betracht gezogen und zwischen der Belletristik und der Publizistik in unterschiedlichen Schaffensperioden unterschieden sowie die Änderung seiner Ansichten im Laufe seines Lebens berücksichtigt wird, kommen auch viele Beweise seines Philosemitismus zutage. Die damalige gesamteuropäische gesellschaftlich-politische Situation der Zeit, als sich die Nationalismen und speziell der Antisemitismus herausbildeten, soll dabei nicht außer Acht gelassen werden.1705 Zur Zeit der Entstehung der Poesie und Prosa Frankos in der VolkstümlerKonzeption beginnt ab 1877 auch seine politische Verfolgung vonseiten der habsburgischen Verwaltung: Franko wurde dreimal in »politische Prozesse verwickelt«.1706 Über die erste Verhaftung schrieb er später in seinem Curriculum Vitae wie folgt: Nach achtmonatiger Untersuchungshaft wurde ich trotz gänzlichem Mangel an Beweismaterial, hauptsächlich auf Grund eines an mich gerichteten Briefes M. Dragomanows, welcher mir vorschlug, eine Studienreise nach Nordungarn zu unternehmen, der Geheimbündelei schuldig befunden und zu sechswöchentlichem Arrest verurteilt.1707
Zu beachten ist, dass in dieser Formulierung des Dichters konkret der Name von Drahomanov genannt wird, der zu dieser Zeit im zaristischen Russland als politisch unzuverlässig galt und im Ausland lebte. Infolge der Inhaftierungen Frankos (1877, 1880 und 1887) entstanden als Anklage gegen die Wiener Justiz seine bekannten Gefängnissonette (1889), in denen er den »Vielvölkerstaat« als »Vielvölkerkerker« bezeichnet. Der Dichter wählt die anspruchsvolle klassische Gedichtform der italienischen Renaissance, die bekanntlich zur lyrischen und intellektuellen Verarbeitung des subjektiven Erlebens diente. Während im Sonett meistens die Themen des Eros, Gottes und des Todes gedanklich objektiviert werden, konzentrierte sich Franko bei der Äußerung eigener Gedanken auf das persönliche Schicksal, aber auch auf das politische und soziale Geschehen. Dabei 1704 1705 1706 1707
Hundorova 2016, S. 26. Mehr darüber ebd. Franko 2016, S. 278. Ebd., S. 287–288.
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beschuldigt er die habsburgischen Autoritäten dessen, was man Binnenkolonialismus im Sinne der modernen postkolonialen Forschung nennen würde: »Ihr habt uns beschrieben wie Vieh: / Name, Alter, Wuchs, Aussehen / Haare, Augen Zähne, alle Merkmale – / Nun treibt uns doch nach Wien auf den Markt!«1708 Gleichzeitig strebte Franko danach, nach Wien zu kommen, das ihn nicht als Machtzentrum, sondern als wichtiger Kommunikationsraum anzog. Wegen der Verurteilungen musste er sein Studium in Lemberg aufgeben. Erst im Jahre 1890 wurde es für ihn möglich, das Universitätsstudium zu vollenden, die Bitte aber, das fehlende Semester in Lemberg nachholen zu dürfen, wurde ohne Nennung eines Grundes abgelehnt. Entgegenkommender war die Verwaltung der Czernowitzer Universität: hier konnte der Dichter, wie er berichtet, »das Absolutorium erlangen«1709, um sich im Herbst 1892 seinen »lange gehegten sehnlichen Wunsch zu erfüllen«, sich »nach Wien zu begeben«1710, wo er am Slawistischen Seminar zu promovieren vorhatte. Es war kein Zufall – der fernen Provinz zu entkommen war damals der Wunsch vieler begabter junger Menschen aus Galizien, vor allem aus den deutsch assimilierten jüdischen Schichten. Franko wurde auch von diesem Strom mitgerissen – dem Kulturdrang nach Westen konnte er nicht widerstehen. Karl-Markus Gauß kommentiert diesen Moment im Leben des Dichters: »Nach Wien ist er ein paar Jahre später tatsächlich gekommen, und mit Wien hat er sich als Lyriker, Erzähler, politischer Publizist und Wissenschaftler immer wieder auseinandergesetzt: zornig, abwägend, klug, leidenschaftlich, verzweifelnd.«1711 In Frankos Stellungnahme zum Macht- und Kulturzentrum des Habsburgerreiches äußert sich ebenfalls seine Position des »sowohl/als auch«, die von einem transdifferenten Bezug zum damaligen Wien zeugt. Bemerkenswert ist dabei seine Einschätzung des eigenen Werkes: Von meinen literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten, welche einen Zeitraum von bereits nahezu 20 Jahren füllen, will ich hier nur diejenigen nennen, welche meine Beschäftigung mit allgemeiner und slawischer Literatur und Volkswissenschaft bekunden, ich darf es ohne Selbstüberhebung aussprechen, dass eben dieses wissenschaftliche, rein ideelle Interesse mich in den harten Prüfungen, die ich zu bestehen hatte, aufrecht erhielt, so dass ich trotz schwerer Schicksalsschläge dem hohen Ziele, meinem Vaterlande und besonders meinem südrussischen Volke nützlich zu werden nie untreu wurde.1712
1708 Franko 1976/a, S. 152: »Hej, opysaly nas, nemov сhudobu: / I nazvu, j vik, i rist, i vsju podobu, / Volossya, ochi, zuby, vsi prymity – / Teper chocˇ v Viden’ nas na torh honite!«. Deutsch zitiert nach: Gauß 1998, S. 101. 1709 Franko 2016, S. 289. 1710 Ebd. 1711 Gauß 1998, S. 101. 1712 Franko 2016, S. 289. Unter der Bezeichnung »südrussisches Volk« wird ukrainisches Volk verstanden.
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Hier klingt immer noch Frankos eindeutige Überzeugung, dass die von ihm praktizierte volkstümliche Schaffensmethode, die vom Gefühl der Pflicht dem Volk gegenüber gekennzeichnet ist, die einzig richtige sei. Das, was Franko vor seiner Ankunft in Wien geschaffen hatte, bildete die Grundlage für seine wissenschaftliche Arbeit, die er mit einer glänzenden Promotion an der Wiener Universität abschloss: Sein »Doktorvater«, der berühmte Slawist Vatroslav Jagicˇ, nannte ihn »den klügsten unter den damaligen Ukrainern«. 1713 Die Ausrichtung der Forschungsinteressen verdankte Franko schon seinem ersten ukrainischen Lehrer – Drahomanov. Dazu im erwähnten Curriculum vitae: Unter dem Einflusse Prof. M. Drahomanovs, welchem ich für die Förderung meiner wissenschaftlichen Bestrebungen sehr viel zu Danke verpflichtet bin, wandte ich mich dem Studium der neueren vergleichenden Literatur- und Sag-Wissenschaft zu, las eifrig die bahnbrechenden Werke Benfey’s, Liebrechts und besonders Veselovskijs, Drahomanovs und anderer.1714
Die erste Zeit in Wien war für Franko von vielen Schwierigkeiten gekennzeichnet: In den Briefen an seine Ehefrau Olha Choruzˇyns’ka berichtete er nach Lemberg von seiner Geldnot.1715 Davon, dass er sich enorm einsam fühlte, zeugt auch seine Lyrik: Das Gedicht Pryvyd [Gespenst], (Wien 1892) widerspiegelt seinen seelischen Zustand: »Und ich, in der Menge, traurig und einsam«.1716 Das lyrische »Ich« sucht »nach dem freundlichen Gesicht«. Es ist Franko aber ziemlich bald gelungen, einen größeren Freundeskreis zu finden und mehrere wichtige Beziehungen anzuknüpfen: »Die Liste von seinen Bekannten«, schreibt Jaroslav Hrytsak, beeindruckt: Dort finden sich unter anderem der Anführer der österreichischen Sozialdemokraten Viktor Adler, der Ideologe des Wiener Modernismus Hermann Bahr, der Schöpfer des modernen politischen Zionismus Theodor Herzl, der spätere Präsident des tschechischen Staates Tomásˇ Masaryk und ein Dutzend anderer, heute weniger bekannten, aber damals sehr wichtigen Vertreter des kreativen Milieus des Fin de Siècle in Wien.1717
In der »linqua franca« der Monarchie beginnt Franko für deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften wie Die Zeit, Österreichische Rundschau, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, Waage, Die Presse und andere zu schreiben. Besonders viele Beträge lieferte er für Die Zeit – meistens schrieb Franko über Umstände in seiner Heimat Galizien. Ein persönliches Treffen mit Herzl in Wien 1893 wird von einigen Forschern verneint1718; durch seine Korrespondenz in der 1713 1714 1715 1716 1717 1718
Hrekov 1948, S. 328. Zit. nach Hrytsak 2016, S. 26. Franko 2016, S. 293–294. Simonek 1997, S. 25. Franko 1976/b, S. 135: »I ja v jurbi, sumnyj i odynokyj«. Hrytsak 2016, S. 26. Mnich 2012, S. 37.
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deutschen Sprache sind aber seine etwas späteren Kontakte mit Martin Buber bewiesen, der 1901 ein Redaktionsmitglied der Wiener zionistischen Zeitschrift Die Welt war, aufgrund des Konfliktes mit Herzl aber eine eigene jüdische Zeitschrift Der Jude zu gründen vorhatte. Gerade in dem Kontext kam es zum Briefwechsel zwischen Franko und Buber.1719 Die beiden haben »die Sprachluft von Lemberg«1720 geatmet, wie sich Buber, der in der galizischen Metropole aufgewachsen war, später äußerte. In dieser Hinsicht ist Frankos Text Meine jüdischen Bekannten relevant, der auf Vorschlag des Herausgebers von Der Jude (1916–1924) verfasst wurde. Der damals schon bekannte Autor aus Galizien schrieb: Darum habe ich auf die freundliche Bitte des Herausgebers dieser Zeitschrift, einen Artikel über die galizischen Juden zu schreiben, geantwortet, dass ich mich gar nicht berufen fühle, dieses Thema in seiner Ganzheit zu behandeln, dafür aber gern bereit sei, meine persönlichen Erlebnisse und Gedanken als einen bescheidenen Beitrag zur Kenntnis der galizischen Judenschaft zu schildern. Und auch dies tue ich nur darum, weil ich in meinen Erzählungen und Gedichten sehr oft jüdische Typen vorgeführt und jüdische Melodien angestimmt hatte und dafür seitens einiger Juden Vorwürfe des Antisemitismus und seitens meiner Landsleute Vorwürfe des Philosemitismus eingeheimst habe. Allen diesen Vorwürfen konnte ich nur eins entgegenhalten, dass ich nur das und so geschildert habe, was ich gesehen und erlebt und wie ich es verstanden hatte und dass ich immer bestrebt war, in den Juden ebenso wie in den von mir geschilderten Ruthenen, Polen, Zigeuner Menschen und nur Menschen zu sehen und zu schildern.1721
Obwohl es nicht zur angekündigten Zusammenarbeit Frankos mit Bubers Zeitschrift Der Jude kam1722, hat diese Beziehung zur weiteren Entwicklung der Optik bei der Darstellung der Juden in seinen Werken beigetragen, die sich schon in seiner frühen Schaffensperiode im Galizien der 1880er Jahre abgezeichnet hat und von der damals »üblichen« abwich: »Er beginnt die Juden nicht mehr als ›fremd‹, sondern als ›anders‹ zu zeigen.«1723 Frankos Deutung des Treffens mit dem Juden als mit dem »Anderen«, die sein weiteres Schaffen kennzeichnet, stimmt mit den Gedanken solcher Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Martin Buber und Emmanuel Levinas überein. Eine klare Ausrichtung gewinnt diese Deutung gerade nach dem Wien-Aufenthalt des Autors. Der Kommunikationsraum der k.u.k. Hauptstadt übte einen großen Einfluss auf Franko nicht nur als Publizisten, sondern auch als Literaten aus. Hier hatte er 1719 Ebd., S. 39. Während die Briefe von Buber erhalten geblieben sind, kann man Frankos Antworten nur rekonstruieren. 1720 Buber 1981. 1721 Franko 1963, S. 50–51. 1722 Die erste Nummer von Der Jude ist im April 1916, einen Monat vor dem Tod des Dichters erschienen. Mehr dazu in: Mnich 2012, S. 41. 1723 Hundorova 2016/b, S. 27.
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Ansprüche, Anerkennung als Autor zu finden, und versuchte, den erprobten Weg über die Bühne zu gehen: Dank der Hilfe von Bekannten sollte sein Drama Ukradene Sˇcˇastja [Das gestohlene Glück], das vor der Abreise nach Wien erfolgreich vom Publikum in Galizien rezipiert wurde, im Wiener Volkstheater aufgeführt werden. Obwohl dieses Bühnenstück die Tendenz zur tiefenpsychologischen Analyse der Hauptfiguren kennzeichnet – für Franko eine neue Schaffensmethode, die er nach der Lektüre der Schriften von Sigmund Freud einsetzte – gelang es ihm nicht, den einstigen Erfolg dieses Dramas in seiner Heimat zu wiederholen. Sein damals erfolgreichstes prosaisches Werk Boa Constriktor wurde in Die Zeit wegen der Länge des Textes nicht abgedruckt. Den nächsten Versuch machte Franko auf dem Gebiet der Prosa: Während der Arbeit an der Dissertation in Wien schrieb er den Roman Dlja domasˇn’oho ohnysˇcˇa [Für den häuslichen Herd]. Wegen der besseren Publikationsmöglichkeiten wurde der Text zuerst polnisch geschrieben; etwas später verfasste der Autor eine ukrainische Version. Vom kriminellen Sujet – es ging im Roman um den Mädchenhandel in Galizien – erhoffte er sich vermutlich ein breiteres Lesepublikum. In diesem Werk ist es auffallend, dass Frankos Darstellungsweise sich ebenfalls der Eindeutigkeit entzieht. Einerseits stützte er sich beim Verfassen des Textes auf die aktuelle Dokumentation – er holte sich Informationen aus den aktuellen Zeitungen, in denen das Thema der kriminellen Werbung, gerichtet an ukrainische, polnische und jüdische Mädchen aus Galizien, denen »gut bezahlte« Arbeit oder eine »gute Heiratspartie« versprochen wurde: Viele von ihnen landeten in Freudenhäusern in Indien, im Nahen Osten oder in Lateinamerika.1724 In dieser Hinsicht ist Frankos Darstellungsmethode realistisch und entspricht der gesellschaftskritischen Ausrichtung der ukrainischen »volkstümlichen« Literatur: Man erkennt im Autor den »ukrainischen Zola«. Nicht ohne Grund wurde sein Roman, wie Alois Woldan hervorhebt, in seiner ersten, polnischsprachigen Variante von vielen Interpreten »in den Kontext der polnischen Prosa des so genannten ›Positivismus‹« gestellt.1725 Andererseits kann man in diesem Text die für die »volkstümliche« Literatur und für Franko selbst neue, urbane Thematik erkennen: Der Handlungsraum Lemberg verwandelt sich in einen der Protagonisten des Romans1726 – eine Darstellungsmethode, die für die Literatur der europäischen Moderne kennzeichnend wurde. Modernistische Züge kann man auch bei den handelnden Personen erkennen, vor allem bei der weiblichen Hauptfigur des Romans, Aniela Anharovycˇ. Betrachtete man diese Gestalt im Rahmen des realistischen Paradigmas, müsste man ihr Handeln – das unethische, kriminelle Geschäft der Bereicherung – eindeutig ablehnen und 1724 Pollack: 2010, S. 43–58. 1725 Woldan 2018, S. 21–34. 1726 Ebd., S. 21–22.
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kritisieren. Es bleibt aber nach der Lektüre des Romans der Eindruck zurück, dass die Protagonistin vom Autor nicht getadelt wird; Zuneigung finden vor allem ihr Charakter und ihre seelischen Eigenschaften. Obwohl an dem, was geschieht, so Franko, die damalige Gesellschaft und ihre geheuchelten ethischen Normen schuld sind, lässt der Autor gerade Aniela ihr Fehlverhalten mit dem Leben büßen: Sie begeht Selbstmord, um die Ehre der Familie zu retten. In Frankos Darstellung gehört Aniela Anharovycˇ zum Typ einer neuen Frau – sie ist emanzipiert, unabhängig, willig, gleichzeitig schön und weiblich, sie ist ihrem Ehemann überlegen und zerstört ihn innerlich. So kann man in dieser Gestalt, wie auch Tamara Hundorova betont, eine Vorahnung der späteren »Femme Fatale«, dieser »Quintessenz der Wiener Secession« 1727 erkennen. Solche Deutungen der weiblichen, aber zugleich dämonischen Figur der Frau werden, so die Literaturwissenschaftlerin, in Frankos Werken, »die im Anschluss an seine Zeit in Wien entstanden«,1728 zunehmen. Im Sinne des Modernismus sind auch die Emotionsausbrüche bei Anielas Ehemann Antin Anharovycˇ, das Schwingen seiner inneren Welt, das die gewöhnlichen zeit-räumlichen Koordinaten verzerrt, wiedergegeben. Diese und andere auffallende Merkmale der beiden künstlerischen Paradigmen im Frankos Roman sperren sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen, seine Positionierung verlangt dementsprechend transdifferente Zugänge. Die Besonderheit des neuen Romans stand aber den üblichen Erwartungen des polnischen Lesepublikums und der Literaturkritik im Wege. Der erwartete Erfolg kam nicht, es wurde Franko immer klarer, dass seine literarische Karriere in Wien misslungen war. Dieser Umstand, aber auch andere existenzielle Faktoren spielten bei dem Entschluss mit, nach Galizien zurückzukehren, das er danach nie wieder für längere Zeit verlassen hat. Der wahre Grund für Frankos Rückkehr liegt aber wo anders. Er konnte die Idee seiner Jugend, mit dem eigenen Schaffen dem Volke zu dienen, worin er seine Berufung sah, nicht abschütteln und war von der gesellschaftlichen Funktion der Dichtung klar überzeugt. In vielen literarischen Werken des Schriftstellers aus der Zeit vor seinem Aufenthalt in Wien und danach kommt es zur Thematisierung der Ankunft in der Donaumetropole und der Abreise in die Heimat, nach Galizien. Stefan Simonek kommt aufgrund der Untersuchung der früheren und späteren fiktionalen Texte sowie der Briefe von Franko zur Schlussfolgerung, dass sich vier wesentliche Aspekte seiner literarischen Auseinandersetzung mit Wien zusammenfassen lassen: 1. die gleichmäßige Verteilung der Beschäftigung mit Wien auf das ganze Werk des Dichters (mit Ausnahme der letzten Lebensjahre); 2. die Thematisierung Wiens als Sitz des Kaisers und der Stadt, wo Karriere gemacht wird; 3. die Wechselwirkung von Biographie 1727 Hundorova 2016/a, S. 95. 1728 Ebd., S. 102.
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und Fiktion bei der Darstellung von Wien sowie 4. dass sein Studienaufenthalt in Wien die Darstellung der Stadt nicht wesentlich verändert hatte.1729 Die meisten Gestalten in Frankos Werk betrachten Wien lediglich als Ort des Studiums, aus dem sie in die Heimat zurückkehren, um dem eigenem Volk nützlich zu werden. Markant ist dabei, dass in diesen Texten permanent die räumliche Opposition »Heimat«/»Wien« vorkommt, die mithilfe der deiktischen Fürwörter »hier«/ »dort« wiedergegeben wird. Den Grundton der Darstellung des Lebens in Wien bildet das Gefühl der Sehnsucht nach Galizien, die verschiedene Ausformungen annimmt und einen Bogen zwischen Natur und Kultur spannt.1730 So erscheinen dem Medizinstudenten Borys Hrab, dem Protagonisten der 1905 verfassten Erzählung Drijada [Waldnymphe] die zehn Jahre, die er in Wien verbrachte, als imaginär: Aber nachdem er eine Nacht im Schober im duftenden Heu geschlafen hatte, fühlte er sich wie neugeboren, wie zehn Jahre jünger, und Arbeit und Widrigkeiten seines zehnjährigen Aufenthaltes in der an der Donau gelegenen Hauptstadt, der mit intensiven Studien und der Arztpraxis an der Klinik verbunden war – all das schwer Erworbene, das nun das Kapital für sein weiteres Leben sein sollte, war kaum mehr zu spüren und hing wie ein grauer Nebel über der Seele, ohne jedoch auf ihr zu lasten.1731
Echtes, sinnvolles Leben kann es nur in der Heimat, in Galizien geben – diese Idee steht im Hintergrund der meisten von Franko geschaffenen Werken. Ungeachtet des in Wien erworbenen Doktortitels gelang es dem Schriftsteller nicht, an der Lemberger Universität als Dozent angestellt zu werden: Zum Hindernis wurden die politischen Verurteilungen in der Vergangenheit, die immer weiter wirkten – Franko stand bis zu seinem Tode unter Polizeiaufsicht und war gezwungen, sein Brot als freischaffender Journalist, Literat, Kritiker, Herausgeber und Übersetzer zu verdienen. Diese Lebensumstände provozierten aber auch seine enorme Produktivität.1732 Es kam im Leben des Schriftstellers dabei zu neuen Paradoxien, die diesen genialen Menschen spalteten. Die Rückkehr nach Lemberg, der Hauptstadt der größten, aber zugleich ärmsten und rückständigsten Provinz des Habsburger Reiches, bestimmte Frankos Schicksal: Da, wie der Historiker Jaroslav Hrytsak bemerkt, die »historische Zeit« Galiziens mit der des
1729 Simonek 1997, S. 30–31. 1730 Detaillierter darüber in: Simonek 1997, S. 28f. 1731 Franko 1979, S. 94: »Ale, perespavsˇy odnu nicˇ na oborozi v pachucˇim hirs’kim sini, vin cˇuv sebe nemov vidrodzˇenym, nemov o desjat’ lit molodsˇym, a praci j nevyhody desjatylitn’oho pobutu v naddunajs’kij stolyci, sered intensyvnych studij ta likars’koji praktyky pry klinici – use te vazˇke nadbannja, sˇcˇo malo teper buty kapitalom joho zˇyttja, zrobylosja jakes’ necˇutne, vysilo nad dusˇeju, mov ot·sej siryj tuman, ale ne davylo jiji.« (Übersetzung aus dem Ukrainischen von Stefan Simonek). Zit. nach Simonek 1997, S. 29. 1732 Die Gesamtbibliographie von Frankos Werken zählt 43000 Einträge.
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Zentrums der Monarchie nicht synchron verlief 1733, kam es bei Franko als einem Intellektuellen zur Diskrepanz zwischen seiner engagierten politischen Stellung, vor allem hinsichtlich der Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft und Kultur im Sinne des 19. Jahrhunderts, die, seiner Meinung nach, dem gesamteuropäischen Niveau entsprechen sollte, und dem eigenen dichterischen Schaffen, das sich immer mehr von den positivistischen Prinzipien der ukrainischvolkstümlichen Literatur entfernte und sich dem Paradigma des Modernismus der Jahrhundertwende näherte. Die Position zwischen diesen zwei differenten Paradigmen des literarischen Schaffens war konfliktreich und provozierte Widersprüche sowie innere Diskrepanz. Nicht zufällig wendet sich der Dichter erneut dem Thema des Doppelgängers zu, das ihn schon in der früheren Zeit interessiert hatte, wie im Gedicht Pojedynok [Zweikampf] von 1883. 1899 wurde es im Poem Pochoron [Begräbnis] zur Vollkommenheit gebracht. Während Frankos längerem Aufenthalt in der Metropole an der Donau zählte diese zu den wichtigsten Zentren des europäischen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Hier entstanden neue politische Strömungen, die von der Krise der liberalen politischen Einstellungen zeugten.1734 Im Mittelpunkt des künstlerischen Lebens des Fin-de-Siècle in Wien standen Persönlichkeiten wie Hofmannstahl, Schnitzler, Freud, Klimt, um nur die bedeutendsten zu nennen, mit deren Gedankengut Franko wenn nicht unmittelbar, so dank des aktiv zirkulierenden Ideenaustauschs immer wieder in Berührung kam, da er in den Kreisen der Wiener Intellektuellen verkehrte. Obwohl die naturalistische Strömung gegen Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Europa noch durchaus starke gesellschaftskritische Töne angeschlagen hatte, kam es in Wien, wie Jacques Le Rider formuliert hat, zum »Rückzug des Homo psychologicus (um ihn mit einem Freud’schen Begriff zu bezeichnen) ins Private, in der Absage an das politische Credo der Vätergeneration […]«.1735 Als talentierter Dichter und Ästhet konnte Franko während jener Zeit nicht vermeiden, von diesen Tendenzen beeinflusst zu werden, doch die apolitische Haltung der Literatur, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der europäischen Kultur immer stärker wurde, war ihm fremd. Er konnte sich vom gesellschaftlichen Engagement der Kunst nicht ganz befreien und blieb der Position der älteren, nach den Ideen von Drahomanov erzogenen Generation treu. Markant in dieser Hinsicht ist Frankos Auseinandersetzung mit Hermann Bahr, die kurz nach seiner Rückkehr nach Lemberg stattfand. Zum Gegenstand des Konfliktes wurde die Publikation des von Franko deutsch geschriebenen
1733 Hrytsak 2016, S. 27. 1734 Mehr dazu in: Schorske 2017. 1735 Le Rider 2017, S. 8.
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Artikels Ein Dichter des Verrats in Die Zeit1736, in dem er das Schaffen des polnischen romantischen Dichters Adam Mickiewicz vom Standpunkt des positivistischen Zugangs und des politischen Engagements der Literatur analysierte. Frankos Schlussfolgerungen waren eindeutig und resolut: So haben wir fast die ganze Mickiewicz’sche Poesie durchmustert und hoffen, genügend erwiesen zu haben, dass der Verrat in seinen verschiedenen Formen das Hauptthema fast aller seiner Gedichte bildete, dass er hier aber – und das ist das Charakteristische – nicht als ein niedriges Laster, als eine Verneinung des ethischen Gefühles, sondern sehr oft als etwas Heldenhaftes, manchmal sogar, als etwas Ideales, weil vom höchsten Patriotismus Eingegebenes dargestellt wird. Traurig muss die Zeit gewesen sein, wo ein genialer Dichter auf solche Irrwege gedrängt wurde, und traurig muss es mit einer Nation beschaffen sein, welche einen solchen Dichter ohne Vorbehalt als ihren höchsten Nationalheroen und Propheten betrachtet und immer neue Generationen mit seinen giftigen Geisterprodukten nährt.1737
Diese Wiener Publikation, in der Franko sich öffentlich als ein positivistischer Kritiker bewies, der alle anderen Tendenzen in der Kunst und Literatur ablehnt, demonstrierte nicht nur die Meinungsdivergenz zwischen ihm und Bahr, sondern brachte dem Verfasser auch große Probleme vonseiten der polnischen Gemeinde in Galizien und in ganz Polen. Ungeachtet der inneren Überzeugung, dass die Berufung des Dichters von seiner gesellschaftlichen Aktivität nicht zu trennen sei, in der bei Franko die Polarität der Zugänge zur Dichtung wurzelte, verlief seine Schaffensperiode nach der Rückkehr aus Wien unter dem Zeichen des Modernismus, wenn er sich das auch selbst nicht eingestehen konnte und sich auf bestimmte Weise wehrte. Das in der späteren Periode von ihm Geschriebene war aber das Beste, was er auf dem Gebiet der Literatur schuf. Vor allem geht es hier um seinen Zyklus Ziv’jale lystja [Verwelkte Blätter], der in Buchfassung 1896 in Lemberg erschien. Die Gedichte, die Franko unmittelbar nach der Rückkehr aus Wien schrieb, fügten sich zu einem lyrischen Drama zusammen: Es war seine intime Lyrik, die unter dem Einfluss der französischen und österreichischen Moderne entstand. Die Gestalt der »Femme Fatale«, die bei Franko schon in seinem Roman Dlja domasˇn’oho ohnysˇcˇa aufscheint, wird in diesen Gedichten perfektioniert. Das Objekt der ungeteilten Liebe des lyrischen Ichs – eine Schönheit, die vorübergeht und ihr Haupt stolz erhoben trägt, deren Wort scharf wie eine Klinge ist und die zugleich zu einer Bestie wird, wodurch sie dem Verliebten nur »Trauer, Qual und Leid«1738 1736 Die Zeit, 1896, Nr. 117. Voll abgedruckt in: Paslavs’ka/Vogel/Woldan 2016, S. 251–262. 1737 Franko 2016, S. 262. 1738 Franko 2016, S. 212: Aus dem Zyklus Verwelkte Blätter; Franko 1976/b, S. 124: »Za sˇcˇo, krasavyce, ja tak tebe ljublju / Sˇcˇo serce tripajes’ v hrudjach nesamovyto / Koly prochodysˇ ty povz mene hordovyto? Za sˇcˇo ja tuzˇu tak, i mucˇus’, i terplju?« Aus dem Ukrainischen von Charlotte Wutzky.
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bereitet – wirkt zerstörerisch. Das Motiv der unglücklichen Liebe im Sinne von Goethes Werther, der im Hintergrund dieser Verse steht, provoziert suizidale Gedanken: »Wie dieses Feuer, das zugleich erwärmt und senget, / Wie freier Tod, der alle Qual verdränget, / So lieb’ ich dich mit Lieb’, die ewig währt.«1739 Die Emotion, die Intensität und die Aufrichtigkeit des lyrischen Ausdrucks, die besonders stark im Original auf den Leser wirken, wie es zum Beispiel im Gedicht ˇ omu javlajesˇsja meni u sni [Warum kommst du zu mir im Traum] der Fall ist – C »ty znajesˇ, znajesˇ, dorbre znajesˇ, jak ja ljublju tebe bez tjamy«1740 [du weißt, du weißt, du weißt es gut, mit welcher Leidenschaft ich liebe dich] – haben diese Verse längst zu den Meisterwerken der ukrainischen Lyrik gemacht. Gerade sie meinte Zerov, als er über Frankos dichterisches Talent schrieb: »Nein, dort, wo Frankos Gedicht […] die ›Höhen‹ der Emotion fixierte, konnte er vollkommen sein«.1741 Neben dem Motiv der unglücklichen, ungeteilten Liebe haben die meisten Gedichte des Bandes auch eine breite kulturphilosophische Bedeutung. Nicht die pessimistische Enttäuschung, die Einsamkeit und der Suizid, sondern »der gnostische Weg zu sich selbst« wird, wie Tamara Hundorova betont, zum zentralen Thema dieser Verse.1742 Sie widerspiegeln die für die Fin-de- Siècle-Literatur so typischen Leitmotive wie Leiden einer »kranken Seele«, ihre Wanderungen »unter dem Zeichen der Ich-Auflösung und der Identitätskrisen«1743, die im Schaffen des Kreises um Jung-Wien, zu dem vor allem Hofmannsthal und Schnitzler gehörten, zentral waren. Die Suche des Dichters nach dem eigenen »Ich« ist in Frankos emotional geladenen Gedichten mit der größten Intensität ausgedrückt. Dabei werden in Ziv’jale lystja, um mit dem Dichter selbst zu sprechen, die Gedichte geschaffen, die »in der Art der Darstellung der komplizierten menschlichen Gefühle am subjektivsten sind«.1744 Mit diesem Zyklus wurden in der damaligen ukrainischen Literatur zum ersten Mal mithilfe der klassischen Poetik und taktfreier Verse Gefühle und Leidenschaften dargestellt sowie Emotionen wiedergegeben. Somit wurde Frankos Sammlung zur Matrix für die Entwicklung der neuen, modernistischen ukrainischen Dichtung, zu einer Art »Wasserscheide« in der Geschichte der ukrainischen Literatur. 1745 Dabei hat er, laut Hundorova, in die damalige Literatur die Dekadenz als einen bestimmten 1739 Ebd., S. 213, Franko 1976/b, S. 126: »Jak toj ohon’, sˇcˇo vraz i hrije j pozˇyraje, / Jak smert’, sˇcˇo zabyva j vid muk oslobonjaje, / – Otak, krasavyce, i ja tebe ljublju.« Aus dem Ukrainischen von Charlotte Wutzky. 1740 Franko 1976/b, S. 147. 1741 Zerov 1925, S. 172–173. 1742 Hundorova 2009, S. 359. 1743 Le Rider 2017, S. 10. 1744 Franko1976/b, S. 120. 1745 Hundorova 2009, S. 342.
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ästhetisch-psychologischen Komplex »geimpft«.1746 Relevant ist aber die Tatsache, dass, obwohl Frankos Zyklus hohe Wertschätzung bei den Zeitgenossen fand – der Literaturwissenschaftler Serhij Jefremov hat Frankos Ziv’jale lystja auf das Niveau von Buch der Lieder von Heinrich Heine gestellt1747 – der Dichter von den meisten intellektuellen Zeitgenossen seiner Heimat, für die immer noch das soziale Engagement in der Kunst vorherrschte, als »dekadent« geschmäht wurde. Diese Bezeichnung gebrauchten sie überwiegend pejorativ: Ein Dekadenter sei ein Verräter. Es gab aber auch objektive Ursachen dafür. Die volkstümliche ukrainische Kultur, die auf den Ideen der Bildung des eigenen Staates und der einheitlichen Nation im Sinne des 19. Jahrhunderts gründete, war anders orientiert, um die neue Ausrichtung des Schaffens annehmen zu wollen. Die Modernisierung kam mit Verspätung in die beiden Teile der Ukraine, man konnte einige Jahrzehnte um die Jahrhundertwende den Parallelismus der »neuen«, modernistischen und der »alten«, volkstümlichen Literatur, die sich einer Krise näherte, verfolgen.1748 Es hatte sich die Vermutung verbreitet, dass der Modernismus als elitäre Kultur dem Demokratischen, Nationalen, Humanistischen gegenüber feindlich gesinnt sei.1749 Unter diesem Blickwinkel hat auch Franko seine Bezeichnung als ein »Dekadenter« wahrgenommen. Unverzüglich kam die empörte Antwort des Dichters. 1896 publizierte er das Gedicht Dekadent [Der Dekadente], in dem er auf seine quasi Beschimpfung antwortete: »Ich – Dekadent? Was ich noch niemals hörte! / Du nahmst aus meinem Leben ein Moment / Und fandest für die Russen das gelehrte / Und dunkle Wort: ›Das ist ein Dekadent!‹«1750 Nochmals manifestierte er hier sein literarisches und gesellschaftliches Credo: »Bin Sohn des Volks, / das mutig die Wahrheit sucht, um die man es betrog; / für dessen Arbeit, Glück und Freiheit blut ’ ich, / bin Bauernsohn, Prolog – nicht Epilog.«1751 Frankos innerer Widerspruch zwischen dem eigenen, intuitiven Schaffen und dem von ihm aus der Zeit vor dem Wien-Aufenthalt ererbten Dogma der literarischen Gesellschaftskritik drückte sich in seiner Reaktion auf das Auftreten jener Lemberger Dichter und Künstler in der ukrainischen Literatur aus, die nach dem Beispiel »Jung Wien« und »Młoda Polska« die Kaffeehaus-Literatur-Gruppe »Moloda Muza« [Junge Muse], bildeten. Obwohl diese Gruppe keine feste Struktur hatte, gehörten zu ihren führenden Vertretern Dichter wie Bohdan Lepkyj, Ostap Luc’kyj, Petro Karmas’kyj, Vasyl’ Pacˇovs’kyj und Mychajlo Jackiv, 1746 Ebd., S. 342. 1747 Jefremov 1993. Zit. nach: Zerov 1925, S. 169, auch in: http://sites.utoronto.ca/elul/lit-crit/Ief remov/Iefremov-Literaturno-krytychni- statti.pdf. 1748 Pavlycˇko 2002, S. 39 f. 1749 Hundorova 2009, S. 39. 1750 Franko 1978, S. 185–186. 1751 Ebd.
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die infolge ihrer Auslandsreisen, darunter auch nach Wien, unter westeuropäischen Einflüssen standen. Sie kannten mehrere Fremdsprachen und waren auch als Übersetzer bekannt. 1752 Obwohl diese Dichter von Georg Hrabovycˇ als untalentiert und kraftlos bezeichnet wurden, da sie das Niveau von Frankos Ziv’jale lystja nie erreichen konnten1753, manifestierte ihr Schaffen in der ukrainischen Literatur Galiziens das Auftreten der Moderne. Themen ihrer Dichtung wurden Einsamkeit, Liebe und Leiden, Schicksalsschläge, Erotik.1754 Zu den Hauptmerkmalen gehörten die Abkehr von den Prinzipien des Positivismus in der Literatur und die Freiheit des Schaffens in Form und Inhalt. Obwohl das Auftreten der Dichter der jungen Generation Franko »verdächtig« schien und er abseits der Gruppierung stand, hat er ihre Zusammenkünfte im Lemberger Kaffeehaus auf dem Bernhardiner Platz nicht ohne Neugier beobachtet. Es kam aber ziemlich bald zu einem literarischen Konflikt, der mit der Publikation des Manifestes von »Moloda Muza« (1907), als dessen Autor Ostap Luc’kyj genannt wurde, verbunden war.1755 Frankos Reaktion auf dieses Manifest ließ »nicht lange auf sich warten […]« und hat »an polemischen Esprit nichts zu wünschen«1756 übrig lassen: Weniger als einen Monat später erschien in der gleichen Zeitung sein Beitrag unter dem Titel Manifest »Molodoji Muzy« [Das Manifest von »Junge Muse«].1757 Zentral wurde in diesem Konflikt, wie Stefan Simonek in seiner Monographie Ivan Franko und die »Moloda Muza« gezeigt hatte, die Opposition zwischen zwei Schaffensparadigmen – dem politischen Engagement und der apolitischen Haltung der Literatur. Frankos Stellungname zur Moderne, die sich, so Simonek, während der Zeitspanne 1891–1911 nicht verändert hatte1758, wurde von ihm als Opposition zwischen dem »gesunden« realistisch-positivistischen Modell und der »kranken« neuen künstlerischen Richtung dargestellt.1759 Es kam aber in der Antwort des Dichters auf das Manifest von Luc’kyj auch zum »Wechselspiel zwischen Anerkennung des künstlerischen Innovationspotentials der neuen Richtung und Ablehnung ihrer programmatischen Positionen«, das, so Simonek, »für Frankos Auseinandersetzung mit der Moderne insgesamt kennzeichnend«1760 war. Ungeachtet seiner eigenen feinfühligen dichterischen Intentionen und der modernistischen Ausrichtung der von ihm in der Zeit nach Wien geschaffenen Lyrik 1752 1753 1754 1755 1756 1757 1758 1759 1760
Lange 2016, S. 91. Mehr darüber in Simonek 1997, S. 280f. Lange 2016, S. 90. Die Veröffentlichung des Manifestes von »Moloda Muza« fand am 18. November 1907 in der Nummer 249 der Lemberger Zeitung Dilo [Die Sache] statt. Simonek 1997, S. 274. Franko 1982, S. 410ff. Simonek 1997, S. 282. Ebd., S. 282–283. Ebd., S. 274.
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konnte er sich vom trockenen Rationalismus im Sinne von Drahomanov nicht befreien – ein Umstand, der Frankos dichterisches Talent unterdrückte. Man kann sowohl in der Zeit nach der Promotion in Wien, als er sich um die Dozentur an der Lemberger Universität bewarb, als auch in der letzten Periode seines Schaffens den inneren Kampf zwischen Franko, dem Dichter, und Franko, dem Volkstribunen, verfolgen, der sich sogar im folgenden Ausdruck äußerte: »Ich bin überhaupt kein Politiker, da die Politik ein Zigeunergeschäft, ein Betrug ist, ich überlasse sie den Anführern der Parteien«. 1761 In die letzte Lebens- und Schaffensphase von Franko fällt auch das Verfassen seines opus magnum – des monumentalen philosophisch–psychologisches Poems Moses, das als Gipfel seines Oeuvres, als Synthese seiner künstlerischer Suche betrachtet wird. Im Vorwort zum Poem bemerkte der Autor: »Als Grundthema des Poems wählte ich den Tod Moses als des von seinem Volk nicht anerkannten Propheten. Dieses Thema ist in diesem Hinblick nicht ein biblisches, sondern mein eigenes […]«.1762 Unter extremen Bedingungen kurz vor der Krankheit, ohne Hoffnung auf die Zukunft betrachtet Franko im zeitlichen Hiatus seinen eigenen vierzigjährigen Weg im Dienste des Volkes mit dem Blick »von außen«. Es geht hier um die Suche nach der geistigen Harmonie, um die Beziehung zwischen der Nation und der einzelnen Persönlichkeit. Neben den guten Kenntnissen der Bibel spielten für Franko bei der Hinwendung zur Gestalt von Moses als Begründer einer nationalen Religion und der nationalen Geschichte seine Wiener Erfahrungen eine große Rolle: Neben der Herkunft aus dem multikulturellen Milieu Galiziens war sein Interesse für die jüdische Assimilation durch die Tätigkeit von Theodor Herzl und Martin Buber geweckt worden. In Frankos Interpretation war dieses Thema für die beiden Völker höchst aktuell – für das ukrainische und für das jüdische, die vor die existentielle Wahl zwischen dem »Überleben« und dem Erhalten der eigenen Identität gestellt wurden. Darin gründete die Frage nach dem Dualismus der Seele, die der ukrainische Dichter in seinem Werk stellte und die später von Buber philosophisch ausgearbeitet wurde. Immer noch sah Franko die Funktion der Intellektuellen in der gesellschaftlichen Tätigkeit: Ihre Aufgabe bestand für ihn darin, die Volksmassen zur Tat zu bewegen, deswegen konnte er sich nicht gestatten, »ein Dekadenter« zu sein. Dazu bräuchte man, seiner Überzeugungen nach, einen leidenschaftlichen Charakter, den Geist eines »Steinbrechers«, eines »Ewigen Revolutionärs«.1763 Ungeachtet der nichtheroischen Zeit wurde der Glaube an das eigene Volk zum Grundton des Poems. So schreibt Franko im 1761 Zit. nach Zerov 1925, S. 184. 1762 Franko 1976/c, S. 201–264. 1763 Die Anfangsworte des Gedichtes von Ivan Franko De profundis. Himn [De profundis. Hymne], in: Franko 1976/a., S. 22–24.
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Prolog zu seinem Werk: »O nein! Nicht nur das Weinen und Verzagen / Sind dein! Ich glaube an die Geisteskräfte / Und sehe deine Auferstehung tagen.«1764 Sich selbst treu zu bleiben – darin bestand für Franko der Hauptschlüssel zu seinem Moses. Während das Pathos des Poems sich auf die frühen ideologischen Überzeugungen des Dichters gründet, äußert er sich am Ende seines Lebens über die Probleme der Assimilation zur Zeit der Modernisierung der ukrainischen und der jüdischen Gesellschaft, und zwar im Bewusstsein der Erfahrungen, die er in Wien und danach gemacht hatte. Das letzte Poem von Franko zeugt abermals von seinem ungewöhnlichen Talent, das quer durch die gezogene Grenzlinie zwischen den damals dominierenden Paradigmen des literarischen Schaffens hindurch geht.1765 Seine »freiwillige« Unterwerfung unter das politische Programm von Drahomanov konnte Franko in seinem Gesamtwerk nicht konsequent realisieren, da er sich als echter Künstler dem Einfluss der europäischen Moderne, mit der er unmittelbar in Wien in Berührung kam, nicht verschließen konnte. Diese Widersprüche, dieser innere Kampf führten zur Spaltung, Verzweiflung und Krankheit.1766 Während viele Intellektuelle, die um die Jahrhundertwende aus der Peripherie nach Wien kamen, ihr Schaffen in der Metropole entfalteten, wollte Franko seine heimatliche Umgebung nicht mehr verlassen. Wenn er aber im Zentrum der Monarchie, in Wien geblieben wäre – wäre er zu dem Dichter geworden, den wir kennen? Ob er seinen Moses gedichtet hätte? Eher nicht. Aber ohne den Aufenthalt in Wien wäre er auch nicht zum ersten Dichter der ukrainischen Moderne geworden. So lassen sich am Beispiel des Wirkens des Dichters und Intellektuellen aus Galizien die Prozesse der kulturellen Zirkulation zwischen der Provinz und Metropole deutlich verfolgen. Wenn wir Franko als Dichter einschätzen möchten, schrieb Zerov 1925, sollen wir damit aufhören, sein Schaffen in »hohe Qualität« und »Technik der Dichtung« zu zergliedern. Und weiter: »Ist es nicht die höchste Zeit, sich zu bemühen, Franko als eine kreative Persönlichkeit (von innen), als einen ganzheitlichen Dichter zu erfassen?«1767 Dabei bezieht sich Zerov auf den Literaturkritiker Mykola Jevsˇan, der 1913 in seinem Beitrag über Ivan Franko betonte, dass wir uns 1764 Franko: Mojsej. Prolog, in: Paslavs’ka/Vogel/Woldan 2016, S. 199; Franko 1976/c, S. 214: »O ni! Ne sami sl’ozy i zitchannya / Tobi sudylys’! Virju v sylu ducha / I v den’ voskresnyj tvojoho povstannja«. Übersetzung aus dem Ukrainischen von Ostap Hrycaj. 1765 Die Kandidatur von Ivan Franko zum Nobelpreis wurde 1915 unter Nummer 4 vorgeschlagen, der Tod des Dichters 1916 hat aber die Begutachtung seiner Kandidatur verhindert. 1766 In der Geschichte meiner Krankheit. Briefe aus dem Jahr 1908 , die Franko seinem Sohn diktierte, sind die Visionen des Dichters beschrieben, als ob Drahomanov seine Hände mit dem Draht so band, dass er nicht schreiben konnte, in: http://nbuv.gov.ua/UJRN/paradig _1998_1_20. 1767 Zerov 1925, S. 173.
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oft »der Sache dogmatisch nähern«1768 und deswegen den Dichter nur für »einen uns einnehmenden Zug seines Schaffens, für seine gesellschaftlichen Ideale, für seine Rhetorik, oder für ein paar lyrische Verse im Stil der Moderne lieben. Dabei bleibt der ganzheitliche Mensch, der ganzheitliche Schöpfer, sein Labor des Geistes uns verschlossen.«1769 Es fällt auf, dass hier die Haltung, nur einen einseitigen Standpunkt bezüglich Frankos Leben und Werk einzunehmen, schon ziemlich früh, Anfang des 20. Jahrhunderts kritisiert wurde. Im Laufe mehrerer Jahrzehnte hat man aber Frankos Schaffen differenziert interpretiert, wodurch sich Widersprüche ergaben. Heute wäre es aktuell, bezüglich seiner Persönlichkeit und seines Werkes neue Forschungsperspektiven zu eröffnen; einer der Zugänge dabei wäre das analytische Konzept der Transdifferenz. Damit könnte ermöglicht werden, Phänomene zu untersuchen, die mit Modellen binärer Differenzen nicht erfasst werden können sowie das Schaffen von Ivan Franko als Resultat seiner Einwurzelung im multikulturellen und vielsprachigen Milieu der Habsburgermonarchie und seines Heimatlandes Galizien zu beschreiben. Eben diese Tatsache ermöglicht es, das eigentümliche Werk des ukrainischen Autors als eine von vielen Facetten des »Galizischen Textes« zu betrachten.
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Jüdische Avantgarde als ein »repräsentativer Kulturbestandteil« Galiziens: Die dichterische Kunst der Debora Vogel
Jeder, der sich für das Schaffen des jüdisch-polnischen Schriftstellers und Malers aus dem galizischen Drohobycˇ, Bruno Schulz, interessiert, kann den Namen von Debora Vogel nicht übersehen. In der polnischen Literaturgeschichte der Zwischenkriegszeit gilt sie als eine der bedeutendsten Musen dieses enigmatischen Autors. Die etwa zehn Jahre jüngere Frau aus Lemberg, in der er eine Geistesverwandte fand – sie führten mehrere Gespräche während der Treffen und standen in regem Briefwechsel – betrieb eine Art der Kunst der Mäeutik: Sie wurde zu einer der »Hebammen« des Künstlers, indem sie ihn zum Schreiben beflügelte und, begeistert von seinen Texten, die er ihr zuschickte, zur Publikation der ersten Erzählsammlung verhalf: »Die ursprünglich nur für Debora Vogel geschriebenen Postskripte fügten sich zu einem Buch, den Zimtläden«.1770 Dieses Buch hatte großen Erfolg. Mit wenigen Ausnahmen sind die Briefe der beiden, die sich auf aktuelle philosophische und kunsttheoretische Fragen beziehen – wenngleich sie einen unterschiedlichen philosophischen Sinn mit einigen gemeinsamen Motiven verbinden –, in den Kellern von Lemberg und Drohobycˇ, die mehrere Machtwechsel und Massaker im Zweiten Weltkrieg erlitten hatten, vernichtet worden.1771 Hochgeschätzt wurde Debora Vogel auch von anderen Zeitgenossen. »Eine sehr intelligente Frau, eine hochgebildete Kritikerin«, berichtet über sie der polnische Futurist Alexander Wat in seinen Gesprächen mit Czesław Miłosz.1772 Chone Shmeruk, der bekannte polnisch-israelische Jiddist, der 1939 als 18-jähriger Student Vogels Vorlesungen über jiddische Literatur in Lemberg besuchte, schrieb später über den »gewaltigen Eindruck« und »eine außerordentliche Erfahrung«, die ihre Vorträge bei ihm hinterlassen hatten.1773 Wer war die Frau, die eine solche herausragende Rolle im kulturellen Leben der Zwischenkriegszeit in Polen, im Raum Galizien, der ehemaligen multikul1770 Ficowski 2008, S. 51. 1771 Mehr über die Beziehungen und den Briefwechsel zwischen Bruno Schulz und Debora Vogel siehe in: Ebd., S. 50f., S. 53–59, S. 99f., S. 105, S. 148, S. 153ff. 1772 Werberger 1977, S. 262. 1773 Ebd., S. 262–263.
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turellen Provinz von Österreich-Ungarn spielte? Ungeachtet der erwähnten Charakteristiken und der Tatsache, dass die Lembergerin Debora Vogel selbst eine höchst talentierte und außergewöhnliche jüdische Dichterin, Essayistin, Kunstkritikerin und Philosophin mit einer originellen Weltanschauung war (so Bruno Schulz)1774, ist ihr höchst interessantes Oeuvre in der jiddischen, der polnischen und der deutschen Sprachen ad marginem der polnischen und zentraleuropäischen Literaturgeschichte insgesamt geblieben. Einige wenige erste Lektüren der ungewöhnlichen Autorin aus Lemberg sowie erste Interpretationen ihrer Dichtung wurden vor einigen Jahren betrieben, vor allem in Polen.1775 Debora Vogels Texte werden als solche, die »ingenieurartig« und »metaphysisch« zugleich konstruiert sind, bezeichnet.1776 Außerdem ist Debora Vogel eine größere Publikation von Annette Werberger gewidmet, die die eigenständige Stellung der jiddischen Dichterin und Theoretikerin im Literaturbetrieb ihrer Zeit mithilfe von genderspezifischen Zugängen begründet.1777 Zum großen Durchbruch bei der Rezeption ihres eigentümlichen Schaffens verhalf die Publikation von Gedichten, Montagen, Essays und Briefen Debora Vogels in der bilingualen Ausgabe unter dem Titel Die Geometrie des Verzichts.1778 Die Herausgeberin und Verfasserin des detaillierten Nachworts ist Anna Maja Misiak, die Vogels Texte aus dem Jiddischen und Polnischen ins Deutsche übersetzt und kommentiert hat. Wer war also diese außerordentliche Frau, die den literarischen Freiraum Galizien der Zwischenkriegszeit mitkreiert hatte? Warum ist ihr einmaliges und mehrdimensionales Schaffen, das aufs engste mit dem multikulturellen Lemberg, dem damaligen provinziell gewordenen Lwów verbunden war, wo das geistige, intellektuelle und künstlerische Leben im Laufe des Wechsels mehrerer Generationen geformt wurde, im Schatten der Kulturgeschichte geblieben? Am Anfang der »Spurensuche nach einer Verschwundenen«1779 – so Werberger, – sollen einige Skizzen zur Lebensgeschichte der Schriftstellerin gemacht werden. Wir haben keine genaue Angabe des Jahres, wann Debora Vogel zur Welt kam: Es werden 1900 (Misiak), 1902 oder 1905 (Werberger) erwähnt. Als Geburtsort wird aber einstimmig Bursztyn (Bursˇtyn) genannt, eine typische ukrainischpolnisch-jüdische Provinzstadt in der Nähe von Lemberg, dessen Name im Polnischen und Ukrainischen »Bernstein« bedeutet – nicht zufällig kommt »Bernstein« als Vergleich öfters in Vogels Dichtung vor, wie zum Beispiel: »Es reicht, in
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Ebd., S. 279. Gromada 2011, S. 93–100; Jaron´ 2011, S. 101–110. Graczyk/Graban-Pomirska 2011, S. 10. Werberger 1977, S. 257–286. Vogel 2016. Werberger 1977, S. 261.
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die Straßen hinauszugehen, in die Bernsteindämmerung des Oktobers«.1780 Debora (Dvora, Dozia, Dosie) kam in einer geistreichen Familie zur Welt, wo Bücher zum Alltagsleben gehörten: Der Urgroßvater und der Großvater der Dichterin waren bekannte Lemberger Verleger. Ihre Mutter, die Schwester des Stockholmer Rabbiners und angesehenen Schriftstellers Marcus Ehrenpreis und der Vater, ein Hebraist, später ein Beamter in der jüdischen Gemeinde Lembergs sowie Leiter eines Waisenhauses, gehörten zu den aufgeklärten galizischen Juden. Die Ausbildung und Sozialisation erfolgten in Lemberg und in Wien, wo sie an einem polnischen, dann an einem deutschen Gymnasium lernte; Philosophie und Psychologie studierte Vogel an der Universität in Lemberg. Promoviert hat sie über Hegels Philosophie an der Krakauer Jagiellonen Universität. Danach folgten Aufenthalte in Stockholm, Paris und Berlin, die für die Bekanntschaft der jungen Dichterin mit der europäischen Moderne eine entscheidende Rolle spielten und in ihrem dichterischen Werk Spuren hinterließen. Nach der Rückkehr unterrichtet Vogel Psychologie am Lemberger Hebräischen Lehrerseminar und wirkt aktiv am kulturellen Leben mit: Sie schreibt für Zeitungen und Zeitschriften, wirkt mit den Künstlern der Gruppe »Artes«1781 zusammen, arbeitet als Mitherausgeberin der jiddischen Kulturzeitschrift Tsushteyer (Cusztajer) [Beitrag]. In der TsushteyerGruppe, die Kontakte zu anderen avantgardistischen Literaturzirkeln in Polen und im Ausland pflegte, wurde Debora Vogel zu einer der »schillerndsten Figuren«.1782 1932 heiratet sie in Lemberg den Architekten und Ingenieur Szulim Barenblüth; der Sohn Anzelm-Antshel kommt zur Welt. Diese Zeit gehört zur produktivsten Periode des Wirkens der jungen Intellektuellen. Neben mehreren Artikeln und Aufsätzen zur zeitgenössischen Kunst, darunter zu theoretischen Fragen der Abstraktion, Montage, Kubismus, Surrealismus und Konstruktivismus, die sie auf Jiddisch oder Polnisch in Tsushteyer und in anderen Zeitschriften veröffentlichte (darunter in Judisk Tidskrift, Opinia, Pomost, Chwila, Sygnaly), oder Vorträgen, wie zum Beispiel über Chagalls Malerei, beginnt sie selbst zu dichten. Als Sprache des literarischen Schaffens wählt die Dichterin Jiddisch. Wenn auch Debora Vogel mit Polnisch und Deutsch aufwuchs, das Hebräische als Sprache des Zugangs zur jüdischen Tradition ihr seit der Kindheit vertraut war und sie Französisch und Latein an den Gymnasien 1780 Vogel 2016, S. 343; Vogel 2006, S. 40: »Wystarczy wyjs´c´ na ulice˛, w bursztynowy zmierzch paz´dziernika«. In diesem galizischen Städtchen verbrachte Mozarts Sohn Franz Xaver einige Jahre seines Lebens als Musiklehrer der Familie des bekannten polnischen Grafen Skarbek. 1781 Die Avantgardegruppe »Artes«, zu der etwa ein Dutzend modernistischer Maler gehörte, darunter Otto Hahn, Ludwig Lille, Alexander Riemer und Henryk Streng, wurde von der jüdischen Malerin Margit Reich und ihrem Ehemann, dem ukrainischen Maler Roman Sels’kyj, mit dem sie zusammen in Paris studierte, 1929 gegründet. »Artes« organisierte Ausstellungen in ganz Polen. 1782 Kleveman 2017, S. 89.
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erlernte, so begann sie sich mit Jiddisch erst in der Studienzeit aktiv zu beschäftigen. Die Wahl dieser Sprache als Sprache der eigenen Dichtung war für sie ein ideologisches Bekenntnis,1783 aber auch, dank der Offenheit und Flexibilität des Jiddischen, die Ermöglichung neuer Ausdrucksformen des alltäglichen Lebens. Wenn in Warschau, Wilna, Berlin, Paris oder New York Jiddisch damals zur Sprache der Intellektuellen oder der Propaganda geworden war sowie zur Sprache neuer dichterischer Experimente wurde, so war dies aber nicht im damaligen Lemberg der Fall. Im polnischen Galizien befreite sich Jiddisch gerade erst von seinem Ruf als Schtetl-Jargon. Infolgedessen wurde Debora Vogel im linguistischen Milieu des damaligen Lemberg zu einer Außenseiterin. In diesem Teil Polens der Zwischenkriegszeit, ähnlich wie in solchen Zentren des intellektuellen und kulturellen Lebens wie Krakau oder im elitären Kurort Zakopane, wo sich die bekanntesten Künstler Polens trafen, herrschten damals noch traditionelle Vorstellungen von literarischem Schaffen. Jiddisch, das sein literarisches Potenzial erst Anfang des 20. Jahrhunderts entfaltete, konnte hier keine Resonanz haben. Und wenn Vogel ihre Gedichte sowie kurze Prosa in Lemberg auf Jiddisch schrieb und veröffentlichte – es war ihr wichtig, mit Hilfe dieser Sprache dem osteuropäischen Judentum den Zugang zur modernen Kunst, wie sie ihr dank der Bildung und der Reisen vertraut geworden war, zu ermöglichen –, so blieb sie in ihrer unmittelbaren Umgebung in der Isolation. Darüber beklagt sie sich auch in der Korrespondenz mit Bruno Schulz: Es ist so schmerzlich, dass ich immer enttäuscht werde, wenn ich auf die Menschen zugehe. Dieser Abend hat erneut die Unruhe und den Schmerz geweckt, der in letzter Zeit ein wenig abgeklungen war: Für wen schreibt man in Jiddisch? Jene, die gekommen waren, haben alles verstanden, aber die Tatsache, dass sie die Sprache nicht kannten, störte. Keiner der jiddischen Dichter und der sogenannten »Jiddischisten« ist gekommen.1784
Der Grund dafür war aber nicht nur die Wahl der Sprache des lyrischen Ausdrucks bei Vogel. Solche Merkmale der künstlerischen Avantgarde, wie die Strukturierung der Wirklichkeit, die Statik des Rasters, die Erstarrung der Zeit zum Raum, die Prävalenz des Rhythmus und der Geometrie, die Konzentration auf die Farbe, die stimulierenden Leerstellen, der Vorrang der Form vor dem Inhalt1785 – die Mittel, die der neuen, experimentellen Dichtung am Anfang des 20. Jahrhunderts eigen waren, befremdeten die Lemberger Kritiker und die Leserschaft. Die Gleichgesinnten fand Debora Vogel weit von ihrer Umgebung, und zwar unter den New Yorker Introspektivisten, mit deren Ansichten sie sich in vielen Punkten identifizierte. Zentral bei der Darstellung der Welt waren für diese 1783 Misiak 2016, S. 641. 1784 Zit. n. Werberger 1977, S. 265. 1785 Mehr darüber im Nachwort von Misiak, 2016, S. 646f.
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Ausformung der literarischen Avantgarde die Empfindungen: »Das Leben soll so wiedergegeben werden«, – proklamierten die amerikanischen Dichter in ihrem Manifest, dem Vorwort zum Lyrikband in zikh [In sich], – wie es sich in der zersplitterten Gedanken- und Gefühlslandschaft eines großstädtischen Intellektuellen widerspiegelt. Wichtig ist nicht das, was man sieht, sondern die Art, wie man sieht: disharmonisch, simultan, in neuen, klaren, frischen, assoziativ aneinander gereihten Bildern. Solche Deutung des Ausdrucks des Lebens sollte ungekünstelt frei sein.1786 Diese Bestimmung der dichterischen Darstellung der Wirklichkeit war für die Kunstauffassung der neuen, experimentellen Richtung in der Literatur insgesamt von Anfang an typisch. So schrieb 1910 einer der ersten Vertreter der literarischen Avantgarde in Polen, der Lyriker Bolesław Les´mian, als er den Begriff der Wirklichkeit analysierte, wie folgt: »Ein echter Realist sollte gerade seine eigene Realität, seine eigene Wirklichkeit erschaffen.«1787 Ähnliche Zugänge zur Literatur kann man auch bei Debora Vogel verfolgen. Die hermetisch-avantgardistischen Bilder der Introspektivisten entsprachen ihrer assoziativen und suggestiven Art der Dichtung. Bemerkenswert ist dabei, dass die Lembergerin unter »um die hundert Autorinnen und Autoren, die in der von den New-Yorker Introspektivisten 1919 gegründeten, mit dem Lyrikband gleichnamigen Zeitschrift in zikh [In sich] publizierten, besonders präsent«1788 war. Doch in der Stadt, wo sie lebte und wirkte, musste Debora Vogel ihre dichterische Methode und ihr künstlerisches Programm ausführlich deuten. So deklarierte sie im Vorwort zu ihrem ersten Gedichtband tog-figurn [Tagfiguren] ihre dichterische Position, wenn sie an die Theorien der abstrakten Malerei von Wassilij Kandinsky, Georg Braque, Pablo Picasso und vor allem von Paul Cézanne anknüpfte. Es ging ihr um die Sichtbarmachung des neuen Raumes, über die Suche nach neuen Aspekten des Sehens: Meine Gedichte verstehe ich als Versuch eines neuen Stils in der Dichtung, und ich sehe darin eine Entsprechung zur modernen Malerei. Das Vereinfachen der scheinbaren Vielfalt von Ereignissen, deren Reduktion auf einige einfache, kantige, sich wiederholende Gesten: Monotonie und kühle Statik knüpfen bewusst an den analytischen Kubismus an.1789
Diesen Begriff verbindet Vogel mit Cézannes Ästhetik des Geometrischen und des Sachlichen, die ihr von seinen Werken her bekannt war. Die Methode des Malers, die Welt zu erkunden, wird später vom Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty folgendermaßen charakterisiert: »Diese Philosophie […] beseelt den Maler – nicht, wenn er Ansichten über die Welt äußert, sondern in dem 1786 1787 1788 1789
Ebd., S. 642. Les´mian 1910/1911. Zit. n.: Lam 1990, S. 25. Misiak 2016, S. 643. Vogel 2016, S. 19.
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Augenblick, in dem sein Sehen zur Geste wird, wenn er, wie Cézanne sagt, ›im Malen denkt‹«.1790 Debora Vogel bezieht sich direkt auf Cézannes Bilder, die sie während ihrer Pariser Zeit betrachtete, interpretiert sie aber auf eigene Weise. So schrieb sie im Gedicht berg un frukhtn [Berge und Früchte] aus dem ersten Gedichtband wie folgt: Berge sind bauchige Früchte ausgelegt auf dem flachen Teller des grauen Nebels. Manchmal sind es längliche Pflaumen in durchsichtigem billigem Blau: Früchte mit wässrigem sehnsuchtsvollem Fleisch: Menschen, die noch warten können. Und auf einmal sind es schwere graue Glasäpfel: einsame Äpfel von Cézanne, einsame Menschen in der ersten, zweiten, dritten Straße, die gar nichts mehr wollen.1791
Die Dichterin aus Lemberg, die in dem Fall »im Schreiben denkt«, übermittelt in den von ihr geschaffenen lyrischen Bildern ihre eigenen Gefühle und geistigen Zustände. Sie folgt dem französischen Maler und setzt sein Verstehen der Form der Gegenstände und der Phänomene der Natur fort; entscheidend werden dabei das »Fühlen und Empfinden« und das »Temperament des Künstlers« sein, die, wie Kasimir Malewitsch bei der Deutung der neuen Kunst und des Begriffes »Kubismus« ebenfalls am Beispiel der Bilder von Paul Cézanne betont, das »Als ob«1792 in den Vordergrund stellen. Dieses »Als ob« des Fühlens und Empfindens kennzeichnet die Vogel’sche Poetik insgesamt: An die Stelle der Metapher treten Vergleiche. Die Lemberger Dichterin verstand ihren ersten Gedichtband als ein Beispiel für die »Lyrik des Statischen im Leben«,1793 die ihrem Milieu und dem Geiste der Zeit insgesamt entsprach: »Man würde mich jedoch falsch verstehen, wenn man diese Gedichte für ein künstliches Experiment hielte,« – bemerkte sie zum Schluss und fügte hinzu: »Dieser Formversuch ist eine Notwendigkeit, erreicht und bezahlt, mit Lebensversuchen«.1794 Dem Erscheinen des ersten Bandes der Dichterin folgten mehrere Besprechungen, vor allem von jüdischen Kritikern aus Lemberg, die eine konservative, 1790 Merleau-Ponty 2006, S. 191. 1791 Vogel 2016, S. 107; Vogel 2016, S. 106: »berg zenen baykhike frukhtn / oysgeleygt in dem flakhn teler / fun groe nepl. // taymol zenen es flomen lenglekhe / fun durkhzikhtiker biliker blokayt: / frukhtn mit a vaserik benkendikn fleysh: / mentshn, vos konen nokh vartn. // un amol zenen es shvere groe gloz-epl: eynzame epl fun tsezan, / eynzame mentshn in ershter, tsveyter, driter gas, / vos viln shoyn mer gornisht.« 1792 Malevycˇ 2016, S. 44. 1793 Vogel 2016, S. 20. 1794 Ebd.
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traditionelle Dichtung gewohnt waren. Obwohl das neue Buch als »völlig unbeachtet«1795 bezeichnet wurde, zeugten diese Diskussionen von der Resonanz, die es »hinter den Kulissen«1796 erweckte. Neben der Gruppe der Anhänger entstand »eine Schar verbissener Abweiser«,1797 die der Lyrik Vogels vor allem Monotonie und Langweile vorwarfen. In den unzähligen Vergleichen sah man nur die Hilflosigkeit der Dichterin, ihre Gedichte bezeichnete man als »eine Art logische Absurditäten«.1798 Besonders scharf wurde Vogels dichterischer Kubismus angegriffen: »[…] wenn Sie uns zum tausendsten Mal überzeugen möchte: ›Eine quadratische Fläche süßer Monotonie / ist das Leben, ist die Welt‹, dann wird es uns eng, langweilig, ermüdend im Rahmen dieses Bandes«.1799 Es wurde aber übersehen, dass die kubistisch-konstruktivistischen Textexperimente der Dichterin höchst aktuell waren, dass sie an »die Kraft des sachlichen Sehens«1800 mehrerer avantgardistischer Künstler der Zwischenkriegszeit anknüpften. Debora Vogel war sich dessen bewusst, dass der neue Zugang, wenn das Alltägliche und Gewöhnliche – Menschen, Tiere, Jahreszeiten, die Sonnenauf- und Untergänge – im Prozess der Abstraktion geometrisiert und reduziert werden, entfremdet. Die Ersetzung der traditionellen Dichtung durch den literarischen Kubismus entsprach in Vielem dem von Kasimir Malewitsch begründeten Suprematismus – dieser, laut dem Maler, »einzig wahren, von der Maske des Lebens nicht verdeckten Kunst«.1801 Es ging um den von Gegenstandsbezügen befreiten konstruktiven Zugang, der die Reduktion auf einfachste geometrische Formen in den Dienst der Veranschaulichung höchster menschlicher Erkenntnisprinzipien stellte. Der Rationalismus wird hier mit der Intuition und mit dem Unbewussten vereint, wovon die von Malewitsch 1915 geschaffenen Gemälde Schwarzes Quadrat und Rotes Quadrat zeugen – den beiden Hauptwerken dieser Kunstrichtung. Vogels eigene Gedanken über den geometrischen Stil, die sie im Essay Über die abstrakte Kunst1802 formulierte, stehen mit dem Denkmodell des bekannten Malers unübersehbar im Einklang: Wenn Malewitsch unter Suprematismus die Vorrangstellung der reinen Empfindung vor der gegenständlichen Natur verstand, äußerte sich Vogel wie folgt: Und wenn wir jetzt die Welt der abstrakten Kunst betreten, kommen wir in eine unverhüllte und unzweideutige Welt, in die authentische Welt der wichtigsten Rührungen im Leben. Diese offenbart sich direkt, und vielleicht irritiert sie deswegen auf den ersten 1795 1796 1797 1798 1799 1800 1801 1802
Schnaper 2016, S. 571. Ebd. Ebd. Rapoport 2016, S. 578. Ebd., S. 581. Misiak 2016, S. 645. Vogel 2016, S. 623 (Anm. zur S. 454); vgl. Malewitsch 1980. Vogel 2016, S. 354–359.
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Blick so stark und ist, in der Tat, so schwierig! Wir bewegen uns hier in einer Welt sonderbarer Dinge, in einer Welt, wo solche Kategorien und Größen wie Bewegung bzw. Unbeweglichkeit, Bewegungsarten und -richtungen, Gewichte, Rhythmen und Spannungen und sogar die Zahlen selbst und ihr Rhythmus verdinglicht wurden.1803
Im Einklang mit Malewitsch gestaltet sie ebenfalls die Bilder der Quadrate, die sie mit dem Begriff Monotonie und Ausweglosigkeit in Verbindung bringt, wie zum Beispiel in figurn-lider [Figurengedichte]1804 aus ihrer zweiten Gedichtsammlung: Wenn die Tage nicht mehr anders sein können als derartig grau ist das Rechteck die Figur unseres Lebens. Das Rechteck ist die Seele süßer Monotonie:1805 […]
und weiter, im zweiten Gedicht: Das Quadrat wandert aber nicht in die schwermütige Ferne einer Straße. Das Quadrat passt das ganze Leben ein in die bleiernen Klumpen der Tage verloren schon von Anfang an, schon seit je.1806
In diesen Gedichten tritt einer der markantesten Merkmale der Vogel’schen Poetik besonders klar zutage: Es ist die Beschränkung »auf grundsätzliche, dauerhafte Bestandteile, auf einige kantige unbehauene Blöcke von Situationen«.1807 Folglich ist es »schwierig«, – schreibt diesbezüglich die Dichterin – »Vielfalt und Farbigkeit zu erreichen«.1808 Relevant wird für sie deswegen die Dichotomie der Farben, die an die koloristischen Oppositionen bei Malewitsch erinnert. Während aber bei diesem Maler öfters die Gegenüberstellung der Farbtöne Schwarz und Rot vorkommt, dominieren bei Debora Vogel Grau, Schwarz und ein kaltes Rouge. Doch die wahre Wortmalerei gelingt ihr unter dem Einfluss der Gemälde von einem anderen Maler, und zwar von Marc Chagall, dessen Bilder sie bewunderte. Ähnlich wie das Gedicht Berge und Früchte eine offenkundige dichterische In1803 Ebd., S. 454. 1804 Ebd., S. 175–177. 1805 Ebd., S. 175; Vogel 2016, S. 174: »ven teg konen shoyn nisht andersh zayn / vi groe azelkhe / iz der rekhtek di figur fun unzer lebn. // der rekhtek iz fun ziser monotonie di neshome:« 1806 Ebd., S. 177; Vogel 2016, S. 176: »ober der kvadrat vandert nisht / in der umetiker vaytkayt / fun eyn gas. // der kvadrat past arayn dos gantse lebn / in klumpn blayerne fun teg / farloyrene shoyn fun onhoyb, shoyn fun tomed.« 1807 Ebd., S. 20. 1808 Ebd.
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terpretation des Bildes von Cézanne ist, wird Vogels Darstellung der Pariser Landschaft in di balade fun dem sene taykh [Ballade über die Seine] zur narrativen Beschreibung des bekannten poetischen Gemäldes von Chagall: Der Nebel war wie weicher Samt der blaue Pariser Nebel – und er war wie ein Boulevard: das blaue Pflaster der großer Stadt Paris. Und die Seine-Landschaft war eine Ansichtskarte mit einem roten sentimentalen Schiff und einem Fluß in Ultramarin. […] Über der Seine die Brücken: pathetische Brücken und sentimentale Brücken Brücken mit der tragischen Geste eines Bogens und Brücken mit spitzer Trauer aus Eisen … […] Und man muss zart vorbeigehen dann leben die zwanzig Seine-Brücken: als wären sie das Leben … Zu gleichmäßig ist das Leben … Und man muß zu ihm zurückkehren: zum Zinnober-Schiff mit den Sardinen zu Ultramarin-Flüssen und zu Menschen … … schade nur um die verlorene Zeit …1809
Es kommt hier zur kongenialen »Erschaffung der Weltsysteme aus Wortmaterial und aus Linien und Farben«,1810 wie Vogel über die Arbeit der Künstler schreibt. Im Kontrast zur Stimmung der Freude, die das Bild von Chagall ausstrahlt, wird ihre dichterische Darstellung der gleichen Brückenlandschaft über dem Fluss von der für ihre Dichtung typischen Atmosphäre begleitet: Es sind Sentimentalität, Tragik, süßer Kitsch, Banalität des Verlassenseins, Trauer. Diese »Stichwörter« kennzeichnen die Thematik der Gedichte von Debora Vogel insgesamt. Man kann ihren Inhalt den Titeln der Zyklen, aus denen die beiden von ihr in 1809 Ebd., 265/267; Vogel 2016 S. 262/266: »der nepl iz geven vi veykher samet / der bloer parizer nepl – / un geven vi a bulvar: / fun der groyser shtot pariz a bloer flaster. // un der senpaysazsh geven an ansikhts-kartl / mit a royter shif sentimentaler / un a taykh fun ultramarin. // […] iber der sene di brikn: / brikn patetishe / un briken sentimentale / brikn mit a tragishn zshest fun eyn boygn / un brikn fun shpitsene troyerikaytn / in ayzn… // un men darf farbaygeyn mit tsartkayt / lebn di tsvantsik sene-brikn: / vi zey voltn zayn dos leben… / tsufil iz keseyder dos leben… / un men muz zikh tsu im umkern: / tsu der tsinober-shif mit sardinen / tsu ultramarin-taykher un tsu mentshn… / …bloyz a shod di farloyrene tsayt…« 1810 Ebd., S. 480.
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Lemberg 1930 und 1934 veröffentlichten Bände bestanden, entnehmen. So offenbaren die Titel des ersten Gedichtbands Tagfiguren die typischen Themen der neuen Lyrik: Rechtecke 1914, Häuser und Straßen 1926, Müde Kleider 1925–1929 und Blech 1929. Diese Thematik wird auch in den Titeln aus dem zweiten Gedichtband Schneiderpuppen mit den Zyklen Schneiderpuppen 1930–31, Trinklieder 1930–1932 und Schundballaden 1931–1933 fortgesetzt. Erhalten sind auch einige Gedichte aus den Zeitschriften und Manuskripten, die in der Zeit zwischen 1936 und 1939 publiziert wurden. Zum Nährboden für die avantgardistischen theoretischen und ästhetischen Voraussetzungen der Avantgarde bei Vogel werden das Leben, der Alltag in der »Provinz der Menschen«, die Stadt, in der sie lebte. Die meisten Motive ihrer Dichtung sind also urban, worin einer der markantesten Merkmale der avantgardistischen Poesie insgesamt besteht. Im Fall von Vogel war das vor allem »ihre Stadt« Lemberg; es gibt aber auch Bezüge zu den Großstädten Berlin und Paris, die sie auf ihren Reisen kennen gelernt hatte, dabei werden Lemberg und diese europäischen Metropolen öfters nebeneinander gestellt: Wenn Vogel die Hauptstadt Deutschlands als eine shtot-groteske berlin [Stadtgroteske Berlin] bezeichnet, wo eine bunte Werbung zur Reminiszenz an die Heimatstadt der Dichterin wird: »In violett orangenrot zitronengelb / sind verzwickte Schicksale geschrieben: / Ufa-Film / Hotel Stadt Lemberg«,1811 verleiht sie Paris die gleiche Atmosphäre der »süßen Melancholie«, die ihr von Zuhause vertraut war, wie es im Gedicht kalter ruzsh [Kaltes Rouge] der Fall ist: »In Paris Saint-Michel / ist grad so flach der Himmel / sind einsam die Pflasterquadrate / wie in Lemberg, an der Lytschakowskastraße, am matten Abend«.1812 Auch im Gedicht froyen talies in harbst [Frauentaillen im Herbst] wird eine Brücke zwischen Lemberg und der französischen Hauptstadt geschlagen: Es geht hier um eine der Lemberger Straßen, wo: »traurige langen Frauentaillen / präsentieren den Stoff / aus dem stillen Paris im November: / Knäuel Rost in grauer Traurigkeit«.1813 Doch es fallen bei der Zuwendung zum Thema »Stadt« bei Vogel gravierende Unterschiede im Vergleich zu den für die polnische Avantgarde üblichen Konnotationen dieses Begriffs auf. Sie schreibt über die ziellos durch die Straßen gehenden Menschen, über die ablenkenden und das wahre Leben ersetzenden Schaufenster und Schilder, über den Konsum und, schließlich, über die Einsamkeit in der Menschenmenge. Einen besonderen Gehalt gewinnt in diesem Kontext das Motiv der »Schneiderpuppen«, des Begriffs, mit dem Vogel sogar 1811 Ebd., S. 209; Vogel 2016, S. 208: »in fiolet marantsroyt tsitrongel / geshribn shteyn farplonterte mazoles: // ufa-film / hotel shtat lemberg«. 1812 Ebd., S. 311; Vogel 2016, S. 310: »in pariz san michel / iz grod azoy flakh der himl / zenen eynzam di flaster kvadratn / vi in lemberg, litshakovskij gas, ovnt mater.« 1813 Ebd., S. 303; Vogel 2016, S. 302: »troyerike lange froyen-talies / prezentirn dem shtof / fun shtile pariz in november: knoyln zshaver in groer troyerikeyt.«
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ihren zweiten Gedichtband betitelt. Im Gedicht manekinen [Schneiderpuppen] geometrisiert sie die Figuren und reduziert die Menschen zu »lächerlich-traurigen Marionetten«:1814 Drei runde Puppen aus rosa Porzellan lächeln verloren hinter Glasscheiben, als ob trauriges Blech, als ob Papier lächelte. Sie heben einen rosa Arm Sie heben einen zweiten rosa Arm Sie heben den ersten Arm… Sie zeigen blaue Rüschenkleider: Dieses Jahr ist Blau in Mode… Die Welt ist ein Karussell aus Porzellan mit blauen Leinwandhimmeln und mit Himmeln aus elastischem Goldblech. Daran festgeklebte schwarze steife Herren und elastische blaue Damen haben nichts anderes zu tun als zu lächeln mit blauen Lackaugen und abgezirkelten Karminlippen.1815
Das Ende dieses Gedichts vermittelt die Traurigkeit: »Und man kann nichts mehr tun / als alles närrisch belächeln …«.1816 Ein anderes Gedicht aus demselben Band, als lalkes [Puppen] betitelt, schließt auf ähnliche Weise ab: »und eine Traurigkeit wie nach verspieltem Glück«.1817 Die Menschen werden in Puppen verwandelt, die Puppen wiederum in Menschen. Diese Metamorphose wird bei Vogel zum Ausdruck einer dekorativ-konsumistischen Weltanschauung, die sie im Nachwort zu Schneiderpuppen deutet: »›konsumistisch‹, weil wir auf fertige, von uns unabhängige Ereignisse warten, uns davon ernähren«.1818 Dabei gibt sie der dekorativ-konsumistischen Struktur folgende Erklärung: »Diese steckt möglicherweise in der Tatsache, dass sich jede konstruktive Lebensstruktur zu einer dekorativen entwickelt, oder auch in den Momenten, die die Kehrseite jedes 1814 Misiak 2016, S. 650. 1815 Vogel 2016, S. 197; Vogel 2016, S. 196: »dray lalkes kaylekhdike fun roze portselay / shmeykhlen unter gloz-shoybn farloyrn / vi troyerik blekh volt geshmeykhlt, vi papir. // hoybn oyf eyn rozn orem / hoybn oyf dem tsveytn rozn orem / hoybn oyf dem ershtn orem… prezentirn bloe royshndike kleyder: / hay yor iz der ble-kolir in mode… // di velt iz a karusel fun portselay / mit layvntene himlen bloe / un mit himlen fun elastishn gold-blekh / vu tsugeklebte shvartse hern shtayfe / un elastishe damen bloe / hobn mer gornisht vos tsu tun / nor shmeykhlen mit bloe lakir-oygn / un getsirklte karmin-lipn.« 1816 Ebd.; Vogel 2016, S. 196 »un gornisht mer kon men tun / vi shmeykhlen narish tsu altsding…« 1817 Ebd., S. 191; Vogel 2016, S. 190: »un a troyerikayt vi nokh a glik farshpiltn.« 1818 Ebd., S. 294.
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Lebensgeschehens aufdecken: die unendliche Trauer. So wird das dekorative Prinzip des Traurigseins rehabilitiert als etwas, das dem Leben stets eigen ist«.1819 Für Tadeusz Peiper, dem bedeutendsten Vertreter und Theoretiker der Krakauer Avantgarde, wird die »Stadt« dagegen zum »Bild und Vorbild«1820 des modernen Lebens. Im Text Stadt. Masse. Maschine, der zum Symbol der Gegenwart und zum Manifest der avantgardistischen Kunst in Polen wurde, schrieb er 1922 wie folgt: Die Stadt war dem Menschen fremd. Die Ursachen – allgemein-kulturelle: es gab einen ständigen Zwist zwischen der Neuheit der Erzeugnisse der Stadt und dem Alter der Ideen der Menschen; gesellschaftliche: der Städter verleumdete die Stadt; physiologische: die Hälfte der Schönheit einer jeder bewunderten Landschaft geht auf die eingeatmete Luft zurück. In unserer Epoche schwinden diese Ursachen. Es verändert sich das emotionale Verhältnis des Menschen zur Stadt. Auf der Grundlage dieser neuen Einstellung kann der Begriff einer neuen Schönheit erwachsen.1821
Die dichterische Darstellung einer am Morgen erwachenden Stadt vermittelt bei Peiper »eine neue ›emotionale‹ Beurteilung«,1822 – für die das Gefühl der Freude und des in die Zukunft gerichteten aktiven Lebens kennzeichnend sind: Die Straße schläft, erdrückt vom Schattenwürfel. Gleich – wird der Dämmer fallen, das Silber des Tages durch die Stadt fließen, der Mensch aufstehen und die Welt anschaun wie seinen Sohn, und dann beginnt die Stadt zu singen wie eine träumende Maschin’.1823
Wenn bei Peiper die Dynamik des Morgens in der Stadt wiedergegeben wird – sogar »graue Bleche«, die »das Morgengrauen auf seine ersten Stunden«1824 heften, sich im Glanz der Dächer verwandeln –, wird bei Vogel mit dem Begriff »Blech« die Stimmung konnotiert, die in der Banalität der Statik und in der in die geometrischen Figuren gefassten Monotonie mündet. So gibt sie diese Stimmung im Gedicht tog-figur [Tagfigur] aus ihrem ersten Lyrikband wieder: Ein großes Rechteck. Ein zweites. Ein drittes. Siebenmal öffnet sich das Blechrechteck. […] Graue Vögel aus Blech schweben. Blöcke aus weichem Teig mit zwei Händen und zwei Füßen
1819 1820 1821 1822 1823 1824
Ebd., S. 295. Eberharter 1997, S. 85f. Peiper 1922, Nr. 2., zit. nach Lam 1990, S. 252. Eberharter 1997, S. 87. Peiper 1922, 1., zit. nach Lam 1990, S. 246. Ebd.
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rollen im grauen Lehm des Lichts. Viermal am Tag. Gelbe Sonne auf der einen Rechteckseite, auf der anderen.1825
Wie Misiak betont, wurde gerade die Stimmung für Vogel zu einem der wichtigsten Faktoren »für die Wirkung eines Werkes, viel wichtiger, als die darin enthaltenen Ansichten«.1826 Denn, schreibt sie weiter, auch »wenn Begriffe schneller als Gemütseinstellungen wirken, ist es letztendlich die Stimmung, die uns für eine Weltanschauung empfänglich macht.«1827 In der Poetik von Debora Vogel verweist gerade die Stimmung der Statik »auf das eigentlich Unsagbare: die letzte Stille des Lebens, den Verzicht auf illusorische Möglichkeiten.«1828 Hierzu kommt als einer der unverkennbarsten Motive der Vogel’schen Dichtung der Begriff des Banalen, den sie, so Misiak, zum »Rohstoff der grotesken (Text-) Wirklichkeit« erklärte, »der durch schöpferische und mäßige Anwendung zu kostbarer Materie wird und die wahre Tragik unserer Existenz zu entlarven vermag: die Banalität der Sehnsucht und des Verzichts.«1829 Eine besondere Rolle spielt in den Versen von Vogel die Darstellung der Banalität der Liebe, die mithilfe des Motivs der »gebrochenen Herzen« wiedergegeben wird, wie zum Beispiel im Gedicht forshtot-hayser [Vorstadthäuser] aus der ersten Sammlung: »Zwei unbeholfene Herzen durchbohrt von zwei Pfeilen, / mit einem Bleistift gezeichnet / für immer gebrochene Herzen«.1830 Man erkennt in der Darstellung der Vorstadt eine Abbildung der damaligen Lemberger Realität, obwohl dem Gedicht die Bemerkung »nach Utrillo« vorangestellt ist, – die Nuance, die auf eine Vorstadt in Paris anspielt und vom Universalismus der Vogel’schen Poesie zeugt. Es wurde Debora Vogel oft vorgeworfen, dass sie auf das traditionelle lyrische Liebesmotiv verzichtet, dass ihre Poesie, ihr Stil kühl wirkt, worauf die Dichterin antwortete: »Vergleicht man eine solche kühle geometrische Ornamentik mit dem metaphorischen Stil, der sich einer asymmetrischen Ornamentik der Verzierungen bedient, kann sie kalt und allzu bemessen wirken.«1831 – »Aber ›man muss sehr heiß sein, um so kalt sein zu können‹«,1832 – zitiert Vogel den polnischen Schriftsteller, Literaturkritiker und Filmtheoretiker 1825 Vogel 2016, S. 23; Vogel 2016, S. 22: »a groer rekhtek. / a tsveyter, a driter. / zibn mol efnt zikh der blekh-rekhtek. […] // groe feygl fun blekh shvimen. / kletser fun veykhn teyg mit tsvey hent un tsvey fis / kayklen zich in groen leym fun likht. / fir mol in tog. / gele zun fun eyn zayt rekhtek, fun der tsveyter.« 1826 Misiak 2016, S. 647. 1827 Ebd. 1828 Ebd., S. 648–649. 1829 Ebd., S. 648. 1830 Vogel 2016, S. 55; Vogel 2016, S. 54: »tsvey hertser umbaholfene tseshnitene mit tsvey fayln, / mit a bleyshtift getseykhnt / oyf eybik tsebrokhene hertser.« 1831 Ebd., S. 20. 1832 Ebd.
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Karol Irzykowski aus seiner Antwort auf die Kritik seines Romans, »als man ihm einen ›Mangel an Gefühlswärme‹ vorwarf«.1833 In den Schundballaden 1931–1933 aus dem zweiten Gedichtband von Vogel sind zwei Gedichte balade fun a tserbrokhn harts I und balade fun a tserbrokhn harts II [Ballade von einem gebrochenen Herzen I. und II.] betitelt.1834 Hier wird der Ausruf »Oh das Glück«1835 und die Feststellung »Weder konnten sie miteinander leben noch ohne einander …«1836 refrainartig wiederholt. Und doch: »Ach so schwer ist der Gang zum Anderen / vielleicht weg … einmal noch … noch ein Versuch …«.1837 Die Banalität der »gebrochenen Herzen« wird hier vom permanenten Zustand der geheimen Erwartung des Glücks und der Sehnsucht nach der Vollkommenheit fast unmerklich ins Wanken gebracht. Ähnliche Themen, aber auch Stimmungen übermittelt die Montageprosa von Debora Vogel. Die Sammlung ihrer kurzen Texte aus den Jahren 1931–1933 wurde unter dem Titel Akacje kwitna˛ [Akazien blühen] veröffentlicht, die aus den Zyklen Kwiaciarnie azaliowe 1933 [Blumengeschäfte mit Azaleen 1933], Akacje kwitna˛1932 [Akazien blühen 1932] und Budowa stacji kolejowej 1931 [Der Bau der Bahnstation 1931] bestand. Dazu kommen noch einige Fragmente aus den Zeitschriften und Manuskripten, die zwischen 1936 und 1938 geschrieben wurden. Die Montage als literarische Gattung erklärt die Autorin im gleichnamigen Essay, in dem sie diesen Begriff, seinen Inhalt und die Methode erläutert. Es geht hier, so die Dichterin, um Folgendes: »Hier werden einzelne Situationen direkt verbunden, ohne jenen abrundenden Tapetenwechsel der Fortsetzung, den wir vom traditionellen Roman kennen. Daraus folgt ein gewisser Maschinenrhythmus der Montage«.1838 Mit Hilfe des Rhythmus gestaltet Vogel die einzelnen Prosatexte so, »als ob« es »das Leben an sich«1839 wäre, woran eine Anspielung an das kantianische »Ding an sich« erkennbar ist. In Góry i rzeki jak w roku 1926 [Berge und Flüsse wie im Jahr 1926] schreibt sie: Dieses herrliche Abenteuer mit den kontemplativen kobaltblauen Bergen und mit den Flüssen aus dem kühlen Metall des Wassers kann jemandem erst dann noch einmal zustoßen, wenn man wieder, noch einige Jahre wieder, »ein für allemal gebrochen ist«. […] Und möglich wurde etwas, das bisher immer einen Beigeschmack von klebriger Hoffnungslosigkeit hatte, das den Menschen eigen ist, die uns das Leben rauben, die mit ihrer eigenen Zeit nichts anzufangen wissen, ständig mit sich selbst beschäftigt
1833 1834 1835 1836 1837
Ebd. Ebd., S. 253 und S. 255. Ebd., S. 253; Vogel 2016, S. 252: »o dos glik«. Ebd., S. 255; Vogel 2016, S. 254: »nisht gekont mit zikh lebn, nisht on zikh…« Ebd., S. 253; Vogel 2016, S. 252: »azoy shver iz der gang tsu a tsveytn. / efsher fort… nokh eynmol… nokh eyn pruv…« 1838 Ebd., S. 426. 1839 Ebd., S. 343; Vogel 2006, S. 39: »jak zdarzenie z˙ycia samo.«
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und immer unzufrieden sind. Am wichtigsten wurden jetzt: die glücklichen Menschen. Nur sie »leben«.1840
Dieser Prosa ist einer der wichtigen Merkmale der »neuen« Literatur eigen, und zwar der Rhythmus, der auch in der Form des freien Verses öfters vorkommt. Der avantgardistische polnische Dichter Bolesław Les´mian betonte diesbezüglich den direkten Zusammenhang von Dichtung und Wirklichkeit, der durch die Gemeinsamkeit des Rhythmus gegeben sei, wie folgt: »Der Gedanke, von Rhythmus gewiegt, nimmt jene elementaren Schwingungen und Wandelbarkeit an, die ihn mit dem Leben selbst verbinden.«1841 Dem Stil und der Poetik nach sind die Vogel’schen Montagen ihren Gedichten nahe, vor allem dank der typischen Vergleiche und der Auswahl der Farbtöne. Ähnlich sind außerdem ihre Themen und Stimmungen. Es sind, um nur einige zu erwähnen, die Montagen Ulice i niebo [Die Straßen und der Himmel], Pył uliczny [Der Straßenstaub], Domy z rytmem [Häuser mit Rhythmus], Szare morza i muszle serc [Graue Meere und Herzmuscheln], Dni deszczowe [Regentage], Traktat o z˙yciu [Der Traktat vom Leben], Płaski prospekt z˙ycia [Der flache Lebensprospekt], in denen die für den Zustand der Statik typische Vogel’sche Stimmung der Monotonie und Langeweile prävaliert. Im Buch gibt es auch neue Motive, wie zum Beispiel in den Montagen Koło zamyka sie˛ [Der Kreis schließt sich] und Akacje kwitna˛… [Akazien blühen…], in denen die Welt der endlosen Übergänge vom Chaos zur Ordnung und umgekehrt dargestellt wird, in der Opposition der Begriffe, die im Hegelschen Sinne einander dialektisch ergänzen. Das Leben wird also als eine Kugel gestaltet: Und dort, wo die arme, flache Erde nicht allzu viel Phantastik hervorbringen konnte – dort warteten: leimiger Lehm, schäbiger Sand und farbloser Schotter. Selbst wenn sie ausdruckslos und ohne große Möglichkeiten waren, so waren diese Stoffe wie ein Geschehen. Heimlich warteten unbekannte Angelegenheiten und versprachen wieder alles, wie beim ersten Mal. Und man kehrte zum »Leben« zurück.1842
1840 Ebd., S. 341; Vogel 2006, S. 37: »Ta wspaniała przygoda z kontemplatywnymi górami kobaltowymi i rzekami z chłodnego metalu wody moz˙e z powrotem przytrafic´ sie˛ wtedy dopiero, kiedy jest sie˛ znowu – po kilku latach znowu – ›złamanym juz˙ na zawsze‹. […] I prawdopodobna˛ stała sie˛ ta rzecz, maja˛ca zawsze przedtem posmak lepkiej beznadziejnos´ci; ta sprawa, ła˛cza˛ca sie˛ z obrazem ludzi, zabieraja˛cych nam z˙ycie: nie maja˛cych co pocza˛c´ z czasem, soba˛ ustawicznie zaje˛tych, niezadowolonych wiecznie ludzi. Najwaz˙niejsza˛ sprawa˛ stali sie˛ teraz: ludzie szcze˛´sliwi. Tylko oni ›z˙yja˛‹«. 1841 Les´mian 1910, zit. n. Lam 1990, S. 26. 1842 Vogel 2016, S. 371; Vogel 2006, S. 94–95: »A tam, gdzie uboga i płaska ziemia nie mogła wydobyc´ z siebie duz˙o fantastycznos´ci – tam czekały: lepka glina, piasek pos´ny i bezkolorowy szuter. A chociaz˙ niewyraz´ne i bez wszelkich moz˙liwos´ci – były i te materiały jak zdarzenie. W ukryciu czekały sprawy nieznane i znowu przyrzekały wszystko, jak po raz pierwszy. I wrócono do ›z˙ycia‹.«
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Die hier dominierende Ordnung wirkt, wie Krzysztof Jaron´ bemerkt, provisorisch, es entsteht das Streben nach der Änderung, der Bewegung, nach dem bestimmten Ferment und der Unordnung, dem Zustand, der eigentlich dem Leben eigen ist.1843 Das Motiv der gegenseitigen Ergänzung kommt auch im Zyklus Budowa stacji kolejowej 1931 [Der Bau der Bahnstation] vor. Der Ort des Geschehens ist in den Montagen Vogels das Lwów der Zwischenkriegszeit. Ähnlich wie in den Gedichten erkennt man hier die genau wiedergegebene Topographie »ihrer« Stadt. Es sind die Namen der Straßen, die Nummern von Häusern, mehrere Details, die die Präsenz der Stadt sichtbar machen, wie zum Beispiel in Złoto wioza˛ okre˛ty [Gold fahren die Schiffe]: »Am abgeschabten Tor im Biedermeierstil, Skarbkowskastraße 28, warten die Arbeitslosen«1844 oder in Zdanie trzecie traktatu o z˙yciu [Dritter Satz des Traktats vom Leben]: Die Karmelickastraße entlang geht in dieser schon vergrauenden Oktobernachmittagsstunde der Stilmöbeltischler Sch. aus der Gródeckastraße; er geht zur Teatyn´skastraße, wo er eine Bestellung für ein Damenzimmer in Kobaltschleiflack erhalten wird.1845
Die Lemberger Atmosphäre der 1930er Jahre wird bei Vogel auch akustisch wiedergegeben. In ihren Prosatexten werden öfters die Zeilen der damals in den Bars und Restaurants der Stadt gespielten Tangos zitiert: »An jenen regengrauen Tagen spielte man in der Bar ›Femina‹ einen ganzen Monat lang, Abend für Abend, einen Tango mit dem Text ›… daß entweder alles oder nichts …‹«1846 und »Aus der Bar ›Femina‹, in der Karmelickastraße Nummer siebenunddreißig, hörte man den Refrain eines Tangos: ›… wer tritt für unsere Liebe ein, wenn nicht du und ich; wem bringt unsere Liebe Pein, sie verletzt doch nur dich und mich …‹«.1847 Es ist nicht zufällig, schreibt Misiak, dass »das ganze Straßenvolk in Vogels Prosa restlos in die reizvoll verzögerten Rhythmen und sentimentalen Melodien des Tangos verwickelt«1848 ist. Der Tango, dieser exotische Tanz mit »offener Struktur« und »erheblichem Skandalpotenzial« war damals in der Stadt 1843 Jaron´ 2011, S. 105. 1844 Vogel 2016, S. 337; Vogel 2006, S. 29: »Pod odrapana˛ brama˛ w stylu bicdcrmeicrowskim, przy ulicy Skarbkowskiej, numer 28, czekaja˛ bezrobotni.« 1845 Ebd., S. 346: Vogel 2006, S. 46: »Ulica˛Karmelicka˛przechodzi o tej popołudniowej szarej juz˙ godzinie paz´dziernikowej stolarz mebli stylowych Sz. z ulicy Gródeckiej; jest w drodze na ulice˛ Teatyn´ska˛, gdzie ma dostac´ zamówienie na pokój pani z kobaltowego szlajflaku.« 1846 Ebd., S. 332; Vogel 2006, S. 22: »W tych dniach, szarych od deszczów, grano w barze ›Femina‹, przez cały miesia˛c z rze˛du, kaz˙dego wieczora, tango z tekstem ›… z˙e albo wszystko, z˙e albo nic‹«… 1847 Ebd., S. 342; Vogel 2006, S. 38: »Z baru ›Femina‹, ulica Karmelicka, numer trzydzies´ci siedem, dochodził refren tanga: ›kogo nasza miłos´c´ obchodzi, jes´li nie ciebie i mnie; komu nasza miłos´c´ zaszkodzi, kiedy nam obojgu jest z´le…‹« 1848 Misiak 2016, S. 656.
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besonders beliebt, er wurde zum »Stimmungsbarometer der Zeit«.1849 Folgendermaßen charakterisiert diesen akustischen Hintergrund im Lemberg der 1930er Jahre die zeitgenössische ukrainische Dichterin Halyna Petrosanjak: Tango – das ist das Gehen auf der Messerschneide, ein gefährliches Spiel, ein Vabanque. Viele Leute waren in Lemberg der 30er Jahre von diesem Spiel fasziniert, und wenn man den Geist dieser Zeit durch eine Melodie nachempfinden möchte, dann natürlich durch Tango.1850
Es war die Atmosphäre am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Sie prägt die ganze späte Periode des Schaffens der Dichterin, als sie sich den damals aktuellen politischen Problemen zuwendet und sie im pazifistischen Sinne in die Texte projiziert. Es sind dies die faschistische Diktatur in Italien, Mussolinis Angriff auf Abessinien oder der Bürgerkrieg in Spanien. In jedem von Vogel beschriebenen oder angedeuteten Fall gelingt es ihr, so Misiak, »aus der Grausamkeit des aktuellen Geschehens die überzeitliche Tragik der menschlichen Existenz herauszuarbeiten.«1851 In der Montage Z˙ołnierze maszeruja˛ [Die Soldaten marschieren] schildert die Autorin mithilfe der eigenen Poetik das Mechanistische, Marionettenhafte und Sinnlose der »Soldatenmenschen«.1852 Hier tritt die Ähnlichkeit mit den Schneiderpuppen klar zutage: Auf den Straßen marschieren Soldaten. Sie marschieren in großen Rechtecken, bekleidet mit Uniformen in hellblauem Grau, in Grau eines warmen Tages ohne Sonne. Und auf hellblauen Soldatenuniformen gibt es vier Knöpfe, genau kugelrund. / Die Soldatenmenschen stehen senkrecht stramm. Jetzt geht das linke Bein nach oben, jetzt das rechte Bein. Jetzt kehrt jedes Bein wieder getrennt unter einem steifen Winkel auf den Asphalt zurück. Und plötzlich scheint es, als dächten sie mit den im Marsch versunkenen Beinen über etwas Kantiges und Flaches nach; vielleicht über das Ereignis dieses Gehens in großen hellblauen Rechtecken aus Soldatenuniformen und mit blankgeputzten Knöpfen?1853
Ähnlich stellt die Dichterin auch die Militärparade dar. Klar wird hier aber auch die Verteilung der Männer- und Frauenrollen geäußert: Die Frauen, die »sich 1849 Ebd. 1850 Petrosanjak 2015, S. 89: »Tango – ce сhodinnja po lezu, nebezpecˇna hra, va-bank. Cijeju hroju u L′vovi 30-ch rokiv zachopylosja bahato ljudej, i jaksˇcˇo vidtvorjuvaty duch toho cˇasu cˇerez melodiju, to, bezperecˇno, cˇerez tango.« 1851 Misiak 2016, S. 656. 1852 Vogel 2016, S. 336; Vogel 2006, S. 28 »Ludzie-z˙ołnierze«. 1853 Ebd.; Vogel 2006, S. 28–27: »A na błe˛kitnych mundurach z˙ołnierskich – cztery guziki, na glanc wypucowane, dokładnie kuliste guziki cztery. / Ludzie-z˙ołnierze stoja˛ na pionowa˛ bacznos´c´. Teraz: lewa noga idzie w góre˛; teraz: prawa noga; teraz znów osobno wraca kaz˙da noga do asfaltu pod sztywnym, prostym ka˛tem do ulicy. I nagle wydaje sie˛, z˙e oni mys´la˛ tymi nogami; z˙e kontempluja˛ nogami w marszu pogra˛z˙onymi jaka˛s´ sprawe˛ kanciasta˛ i płaska˛, moz˙e zdarzenie tego chodu we wielkich, błe˛kitnych prostoka˛tach z z˙ołnierskich mundurów i z guzikami w połysku?«
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schon in hellen und porzellanleichten Kleidern« ausprobieren, wenn »die erste und noch elastische Traurigkeit den Körper« durchzieht, »obwohl die Bäume noch dürr und schwarz sind«1854, werden bei Vogel als unfreiwillige Produzentinnen des neuen Lebens gestaltet, die Soldaten-Männer dagegen, kommen als diejenige, die das Leben zerstören, vor: Das Leder der Helme und Mäntel ist wie Eisen, so glatt und glänzend poliert, so befreit von jeglicher Faltenlaune. So sind sicher auch die Menschen in Ledermänteln und Helmen: ohne Falten von Launen. / Und man fühlt, wie unter dem grauen Asphalt und den staubigen Pflasterquadraten zarte stille Gräser und schlüpfrige rosa Würmer zerdrückt und mit schmutzigem Staub vermischt werden.1855
Debora Vogel war belesen und scharfsinnig. Nicht zufällig wurde stets ihre Neigung zum Intellektualismus betont, der ihr als einer »schreibenden Frau«1856 damals wahrscheinlich nicht gestattet war. Im Brief an Aaron Glanz-Leyeles schreibt die Dichterin 1937 bezüglich seines Aufsatzes über den Modernismus in der jiddischen Literatur wie folgt: »Mir gefiel die Klassifizierung sehr: ›Intellektualität‹ als das charakteristische Merkmal des Modernismus«.1857 Dasselbe gilt für sie auch im Fall der Avantgarde. Vermutlich deswegen hat der polnische Schriftsteller und Maler Stanisław Ignacy Witkiewicz sie in seinem Roman bei der Darstellung der Figur, dessen Prototyp die Lemberger Dichterin war, als »Debora perfidna, Dr. phil. i poetka« [Perfide Debora, Doktor der Philosophie und Dichterin] genannt. Fasziniert von der Dichterin, hat er 1930 aber ein Porträt von Debora Vogel gemalt, von dem nur ein Abdruck geblieben ist.1858 Es zeigt eine »hinreißend schöne Frau, die den Betrachter klug und selbstbewusst ansieht«.1859 1939 geriet Lemberg nach der Teilung Polens laut dem Hitler-Stalin-Pakt unter das Sowjetregime. Hier beginnt die neue Atmosphäre zu herrschen; es ist die Atmosphäre, in der Bruno Schulz ein riesiges Stalin-Porträt zu malen gezwungen wurde. Der postalische Weg der letzten Briefkarte von Vogel an den Onkel in Stockholm vom 3.VIII.1940 führt jetzt, wie die Poststempel bezeugen, »via Moskva«.1860 Im Sommer 1941 beginnt die Besetzung von Lemberg durch die 1854 Ebd., S. 406; Vogel 2006, S. 143: »Kobiety pokazuja˛sie˛ juz˙ w ubraniach jasnych i lekkich jak porcelana: pierwsze i jeszcze elastyczne smutki cia˛gna˛ sie˛ po ciele, choc´ drzewa sa˛ jeszcze suche i czarne; […]«. 1855 Ebd.; Vogel 2006, S. 143–144: »Skóra hełmów i płaszczy jest niby z˙elazo, tak gładka i błyszcza˛ca, tak wolna od wszystkich kaprys´nych fałd. Tacy sa˛na pewno tez˙ ludzie ubrani w skórzane płaszcze i hełmy: bez najmniejszej fałdy kaprysu. / A przez szare asfalty i zakurzone kwadraty-plastry czuje sie˛, jak delikatne powolne trawy i błyszcza˛ce róz˙owe robaczki zostaja˛ rozgniecione i zmieszane z brudnym kurzem.« 1856 Werberger 1977, S. 257–286. 1857 Vogel 2016, S. S. 533. 1858 Almanach i Leksykon Zˇydowstwa polskiego 1938, Abb. auf S. 737. 1859 Kleveman 2017, S. 89. 1860 Vogel 2016, S. 566.
Literaturverzeichnis
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Wehrmacht; schon in den ersten Wochen werden alle jüdischen Familien der Stadt in ein Ghetto zusammengepfercht. Debora Vogel wird apathisch, sie hört auf zu schreiben. Denn, wie sie sich einmal äußerte, man bräuchte zum Leben Glück, man bräuchte »[…] jenen Glückstropfen, der zum Leben immer nötig ist«.1861 Im August 1942 beginnt die Judenliquidation im Lemberger Ghetto. Debora Vogel, ihr Ehemann, ihre Mutter und der sechsjährige Sohn werden, als sie Zuflucht in einem Geschäft suchen, erschossen. Die Ermordung der Familie bestätigte Debora Vogels langjähriger Freund, der Lemberger Maler Henryk Streng, der ihre Bücher illustrierte. Die nächsten Bücher blieben ungeschrieben. Debora Vogels gewaltsamer Tod wurde hiermit zu einem »offenen Ende«, wie eines der Merkmale ihrer Wortkunst, das sie bei Bertold Brecht lernte. Schlussfolgerung: Das Schaffen von Debora Vogel, in dem sie das gesamteuropäische Niveau erreicht, kann man somit als eines der besten Beispiele der jiddisch- und polnischsprachigen avantgardistischen Dichtung im Lemberg der Zwischenkriegszeit bezeichnen. »Nur in einem hohen Entwicklungsstadium wird die Avantgarde als ein repräsentativer Kulturbestandteil zugelassen und dazu ernannt«1862, – schrieb sie in einem ihrer Briefe. Es war ihr gelungen, im Laufe ihres kurzen Lebens dieses Stadium zu erreichen. Relevant ist dabei, dass sie dank der Hinwendung zur jiddischen Sprache das Jüdische und das Europäische zueinander gebracht hat. So hat die Lemberger Dichterin die Literatur aus der Provinz, aus der »Provinz der Menschen«, die ihre Zeitgenossen waren, zur Weltliteratur erhöht. Sie wurde folglich zu einer von denen, die den literarischen Freiraum Galizien vor dem Vergessen bewahrt haben.
Literaturverzeichnis Primärliteratur Peiper, Tadeusz: Miasto. Masa. Maszyna [Stadt. Masse. Maschine], in: »Zwrotnica« [Die Weiche] 1922 Nr. 2., Juli, zit. nach: Lam, Andrzej: Die literarische Avantgarde in Polen. Dichtungen – Manifeste – Theoretische Schriften, Tübingen: Narr 1990, S. 252–270. Peiper, Tadeusz: Rano [Morgens], in: »Zwrotnica« [Die Weiche] 1922 Nr. 1., Mai, zit. nach: Lam, Andrzej: Die literarische Avantgarde in Polen. Dichtungen – Manifeste – Theoretische Schriften, Tübingen: Narr 1990, S. 246. Vogel, Debora: Akacje kwitna˛. Montaz˙e, Kraków: Austeria 2006. Vogel, Debora: Die Geometrie des Verzichts. Gedichte, Montagen, Essays, Briefe, Wuppertal: Arco 2016.
1861 Ebd., S. 340; Vogel 2006, S. 35: »[…] te˛ krople˛ szcze˛´scia, zawsze potrzebnego do z˙ycia.« 1862 Ebd., S. 533.
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Sekundärliteratur Almanach i Leksykon Zˇydowstwa polskiego, Bd. 2, Lwów 1938, Abb. S. 737. Eberharter, Markus: Zur Avantgarde in Mitteleuropa, Innsbruck: Univ., Dipl.-Arb., 1997. Ficowski, Jerzy: Bruno Schulz. 1892–1942. Ein Künstlerleben in Galizien, München: Carl Hanser 2008. Graczyk, Ewa/Graban-Pomirska, Monika (Hg.): Dwudziestolecie mniej znane: o kobietach pisza˛cych w latach 1918–1939, Kraków: Libron 2011. Gromada, Marta: »Debora perfidna, Dr. phil. i poetka«. Debory Vogel z˙ywot zalez˙ny?, in: Graczyk, Ewa/Graban-Pomirska, Monika (Hg.): Dwudziestolecie mniej znane: o kobietach pisza˛cych w latach 1918–1939, Kraków: Libron 2011, S. 93–100. Jaron´, Krzysztof: Chaos i ład w prozie Debory Vogel, in: Graczyk, Ewa/Graban-Pomirska, Monika (Hg.): Dwudziestolecie mniej znane: o kobietach pisza˛cych w latach 1918–1939, Kraków: Libron 2011, S. 101–110. Kleveman, Lutz: Lemberg: Die vergessene Mitte Europas, Berlin: Aufbau 2017. Lam, Andrzej: Die literarische Avantgarde in Polen. Dichtungen – Manifeste – Theoretische Schriften, Tübingen: Narr 1990. Les´mian, Bolesław: Przemiany rzeczywistos´ci, in: Przegla˛nd Krataki Artystycznej i Literackiej 1910, Nr. 36 und 1911, Nr. 37. Malevycˇ, Kazymyr: Nove mystectvo j mystectvo obrazotvorcˇe, in: Malevycˇ, Kazymyr: Kyjivs’kyj period 1928–1930, Kyjiv: Rodovid 2016, S. 44–57. Malewitsch, Kasimir/Wingler, Hans (Hg.): Die gegenstandslose Welt, Neue Bauhausbücher. Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1927, Berlin: Mainz 1980. Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. Suhrkamp 2006 [1961], S. 180–192. Misiak, Anna Maja: Nachwort, in: Vogel, Debora: Die Geometrie des Verzichts. Gedichte, Montagen, Essays, Briefe, Wuppertal: Arco 2016, S. 637–658. Petrosanjak, Halyna: Tanho pered hrozoju, in: Halyna Petrosanjak: Polit na povitrjanij kuli, Ivano-Frankivs’k: Lileja NV 2015, S. 83–92. Rapoport, Joschue: Apotheose der Monotonie. In: Vogel, Debora: Die Geometrie des Verzichts. Gedichte, Montagen, Essays, Briefe, Wuppertal: Arco 2016, S. 576–582. Schnaper, Ber: In offene Karten. Über Dichtung. Konjunktur und Schablone. (Randbemerkungen zu einem neuen Gedichtband), in: Vogel, Debora: Die Geometrie des Verzichts. Gedichte, Montagen, Essays, Briefe, Wuppertal: Arco 2016, S. 571–572. Werberger, Annette: Nur eine Muse? Die jiddische Schriftstellerin Debora Vogel und Bruno Schulz, in: Hotz-Davies, Ingrid/Schahadat, Schamma (Hg.): Ins Wort gesetzt, ins Bild gesetzt. Gender in Wissenschaft, Kunst und Literatur, Bielefeld: Transcript 1977.
Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität in der vielsprachigen gemeinsamen Erzählung einer historischen Region
Dieses Buch hat versucht, die Frage zu beantworten, ob die Gesamtheit der Texte verschiedener Genres, die in unterschiedlichen zeitlichen Perioden, zudem in verschiedenen Sprachen in einem multikulturellen Raum erschienen, als ein narrativ produzierter Metatext, der mehrere semantische Gemeinsamkeiten sowie übereinstimmende Topoi aufweist, betrachtet werden kann. Aus solcher Perspektive wurde vorgeschlagen, die Bezeichnung »Galizischer Text« als einzigartige Verkörperung mehrerer Paradigmen des historischen Galizien-Raums und der darauf folgenden Perioden zu verwenden. Um die eingangs formulierte Hypothese zu beweisen, wurden mithilfe der interdisziplinär platzierten methodologischen Zugänge diverse prägnante Beispiele aus dem reichen Fundus der Galizienliteratur auf wesentliche Komponenten des »Galizischen Textes« anhand folgender Themenkreise befragt, verglichen und analysiert: Naturraum Galizien, Sozialraum Galizien, Kulturraum Galizien, Galizien im Umfeld des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit, Natur-, Sozial- und Kulturraum Galizien als Gedächtnisraum, Rückkehr Galiziens sowie Literarischer Freiraum Galizien: Neubewertung. Mit dem Ziel der Überprüfung der Forschungsergebnisse wird zunächst zusammenfassend die Definition »Galizischer Text« angesehen.
»Galizischer Text« als Verkörperung mehrerer Paradigmen Galiziens Die vorgeschlagene Definition »Galizischer Text« wurde wie folgt umschrieben: Es handelt sich um einen Metatext, der die Wechselbeziehung zwischen dem polyphonen Kulturraum der ehemaligen Habsburger Provinz und den ihn in verschiedenen Sprachen und zu unterschiedlicher Zeit reflektierenden sowie produzierenden Texten zur Anschauung bringt. Der Anfang des »Galizischen Textes« liegt am Ende des 18. Jahrhunderts; zu den »grundlegenden« Perioden zählt hier die fast anderthalb Jahrhunderte dauernde Zugehörigkeit Galiziens zur Habsburgermonarchie. Der zweite chronologische Rahmen bleibt offen: Der
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
»Galizische Text« wird im Laufe von etwas mehr als zwei Jahrhunderten narrativ und kulturell fortwährend erweitert. Es werden dem »Galizischen Text« die Werke von unterschiedlich ästhetischem Niveau sowie dem Grad der Literarizität zugeordnet; auch die Frage nach der Zuordnung zu verschiedenen Gattungen wird aufgehoben, dabei entsteht eine spezifische »galizische« Gattungsart. Die Rahmen der Nationalliteraturen werden gesprengt: Man kann vom »Galizischen Text« der deutschsprachigen, der polnischen und der ukrainischen Literatur reden. Dabei ist eines der wichtigsten Merkmale des »Galizischen Textes« seine vielsprachige Polyphonie. Zu den »Erzählgemeinschaften« Galiziens, die an der Produktion des »Galizischen Textes« beteiligt waren, zählen Vertreter deutschösterreichischer, polnischer, ukrainischer und jüdischer Kulturtraditionen; dieser gemeinsame Text ist aus dem Milieu von Neben-, Mit-, aber auch Gegeneinander im gemeinsamen Georaum entstanden. Dementsprechend weist der »Galizische Text« als Duplizierung der Konstellation der Kulturen dieser Region heterogene, aber auch hybride Züge auf. Folglich entsteht eine gegenseitige Wechselwirkung zwischen dem Kulturraum Galizien und seinem Metatext: Der Kulturraum verweist auf den Metatext, dieser wiederum auf den Kulturraum. Ihnen liegt ein bestimmtes Zeichensystem zugrunde, das man rekonstruieren konnte. Die einzelnen Texte sind miteinander verbunden; das erwähnte gattungsspezifische, temporäre, personale Überqueren hindert nicht, im »Galizischen Text« eine semantische Einheit in vorgeschlagener Deutung zu erkennen. Zu den Kriterien der Beschreibung des »Galizischen Textes« gehörte das Verfahren des sprachlichen Kodierens seiner Hauptkomponenten, die in einzelnen Texten implizit vorhanden sind. Diese sprachlichen Elemente haben eine diagnostische Funktion hinsichtlich der Zugehörigkeit zum Metatext: Im System von Wörtern, Symbolen, Bildern, Fragmenten, positiven oder negativen Bezeichnungen und Charakteristika, Metabeschreibungen, die den Charakter von Leitmotiven und sich wiederholenden Themen oder, anders gesagt, von gemeinsamen Topoi haben, konnte man im »Galizischen Text« typische Codes feststellen, die die semantische Nähe der einzelnen Texte zueinander erklären. Grundlegend für die Erforschung des »Galizischen Textes« war es, dass seinen Kern, den man im Schaffen unterschiedlicher Autoren bestimmen kann, zwei konträre Hauptthemen bilden, die man mit den Ausdrücken »Galicia miserabilis« und »Galicia felix« bezeichnen kann. Zu den genannten konträren Hauptthemen des »Galizischen Textes« konnten mehrere Beispiele angeführt werden, die von der dichotomischen Perspektivierung der Ausrichtung der Intentionen der Autoren zeugen, die sie auf diesen geographischen und historischen Raum gerichtet haben und richten. Bei allen Unterschieden weisen sie dennoch viel Gemeinsames auf – eine Tatsache, die es gestattet, diesen mehrdimensionalen Resonanzraum als eine semantische Einheit zu betrachten. Die vorgeschlagene Bezeichnung »Galizischer Text« hat somit geholfen, sich diesem
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Literaturphänomen anzunähern. Eine heterogen-hybride Lebenswelt, die mehrmals infolge der Machtwechsel neu inszeniert worden war, wird somit als einzigartiger literarischer und kultureller Raum wiederhergestellt. Relevant war dabei noch ein kennzeichnendes Merkmal des »Galizischen Textes«, und zwar die Beziehung der Autoren zum Ort, den sie beschrieben. Diejenigen, die zum »Galizischen Text« beigetragen haben, wurden in drei Gruppen geteilt: Es sind die Autoren, die in Galizien geboren wurden und dort gelebt haben oder zurzeit leben; die Autoren, die in Galizien geboren wurden, es aber aus unterschiedlichen Gründen verlassen haben oder solche Autoren, die in Galizien nur bestimmte Zeit verbrachten. Eine wichtige Rolle bei der Erforschung spielt die Sprache, in der die »galizischen Literaturen« entstanden. Die Mehrsprachigkeit Galiziens hatte doppelte Wirkung: Einerseits entwickelten sich hier im Laufe der Zeit einzelne Literaturen in den Sprachen Deutsch, Polnisch, Ukrainisch, später auch in Jiddisch, die zu den entsprechenden »Nationalliteraturen« gehören; andererseits waren diese einzelne Literaturen voneinander nie isoliert: Infolge des gleichen historischen und sozialen Hintergrunds entstanden viele gemeinsame Topoi des »Galizischen Textes«. Die Erforschung der galizischen Literatur erfordert deswegen mehrdimensionale und nicht-kanonische Zugänge. Es war also notwendig, die transnationale Diskussion über die Galizienliteratur zu führen, und zwar als Auseinandersetzung mit den literarischen Texten im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Diskurses unter der gewählten Perspektive der neuen Methodologien. Die Forschungsmethoden dieser Untersuchung sind dementsprechend interdisziplinär: Sie beziehen sich auf die komparatistische Textinterpretation und erfassen Ansätze aus dem Bereich der Germanistik und Slawistik, der Kulturwissenschaften, der Geschichte, der Philosophie und der Geographie. Im Vordergrund stehen die kulturwissenschaftlichen Ansätze, die im Kontext der Kulturwenden (Cultural Turns) entwickelt wurden, insbesondere die Methoden der Raumwenden (Spatial Turn und Topographical Turn). Die neuen Analysemethoden verhelfen die komparatistischen Fragestellungen zum »Galizischen Text« durch die Hermeneutik des Raums zu ergänzen. Von diesem theoretischen Hintergrund ausgehend werden des Weiteren die grundlegenden Resultate der durchgeführten Recherchen nochmals angesehen, um sie in den weiteren Kontext der Erforschung der Literatur(en) aus den multikulturellen und vielsprachigen Regionen zu stellen.
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
Erster Themenkreis: Naturraum Galizien In diesem Kapitel wurde Galizien als Naturraum anhand der deutschsprachigen Reiseliteratur vom Ende des 18. – Anfang des 19. Jahrhunderts beschrieben, die viele typische Merkmale der ausklingenden Epoche des Josephinismus aufweist. Als Randgebiet der Monarchie wurde es in den ersten Reiseberichten über die neue Provinz, die Habsburger gewonnen hatten, als ein Raum der Appropriations- und Zivilisierungsprojekte betrachtet. Dabei lieferten mehrere narrativen Einschreibungen in den Georaum der Region viele Motive, die für die spätere Erzählkunst der galizischen Autoren typenprägend wurden und als Grund für gemeinsame Topoi des »Galizischen Textes« fungierten. Es sind auffallend dicht auftretende »diagnostische« sprachliche Elemente, die mehrere Möglichkeiten eröffnen und von der Zugehörigkeit zum »Galizischen Text« zeugen. Folglich gestatteten die ersten deutschsprachigen Reiseberichte einen neuen Blick auf Galizien als Naturraum zu richten. Als konkretes Ergebnis konnten einige meist vorkommende Elemente angeführt werden, die positive sowie negative Charakteristiken des Geo- und Naturraums Galizien dargeboten haben. Positive Merkmale geben solche sprachliche Codes wieder wie Reichtum der Natur Galiziens, ihre Potentialität; die Fruchtbarkeit der galizischen Erde: schwarzer, reiner und fetter Boden; große und schöne Teiche; Vorhandensein von mehreren Bodenschätzen und wertvollen Mineralien, vor allem von Salz und Bergöl; heilsamer Einfluss des Klimas. Eine große Rolle bei der Wiedergabe der Landschaftsästhetik Galiziens spielt die öfters betonte Gegenüberstellung von Flachland, das nicht selten als locus amoenus beschrieben wurde, sowie von der Gebirgsgegend. Sie werden zu zwei dominierenden Merkmalen des Georaums des Gebiets. Zu negativen Charakteristiken Galiziens als Geo- und Naturraum zählen die marginale geographische Lage und die schwierige Erreichbarkeit der Provinz; die Unwegsamkeit der Straßen, die aus dem Zentrum der Monarchie nach Galizien führten; große, aber undurchdringliche Wälder; enorme Kälte; roher Zustand der Natur; galizisches Elend, das aus der Nachlässigkeit des Landvolkes resultierte. All diese kritisierenden Faktoren, die von den josephinischen Reisenden hervorgehoben wurden, erwiesen sich als Zweck, die Notwendigkeit der Herrschaft Habsburgs und der Kolonisierung der Provinz zu begründen. Zu den markanten Komponenten des »Galizischen Textes« gehören auch die Beschreibungen der Karpaten als ostgalizische Berglandschaft. Sie widerspiegeln einen Teil des Substrats der Natur Galiziens und liefern mehrere sprachliche Codes, die bei den Autoren vorkommen, die in verschiedenen Sprachen und zu unterschiedlicher Zeit schrieben. Einerseits sind es solche Bezeichnungen aus der materiellen Sphäre wie »grüne Insel« oder unberührte Natur der Gebirge, andererseits beziehen sich solche mit dieser Berglandschaft verbundenen Symbole
Zweiter Themenkreis
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wie die Aura des Natürlichen, die Harmonie mit der Natur, das Ekstatische, das Sensuelle und das Euphorische, die Unbezähmbarkeit, die Kühnheit und die Freiheit zur geistig-kulturellen Sphäre. Dazu gehören auch die sprachlichen Codes, die das Geheimnisvolle, das Mystische und das Mythische, das Echte und das Authentische ausdrücken. So schufen sie im kulturhistorischen sowie im ästhetisch-philosophischen Sinne ein konzentriertes Bild der Berglandschaft der Ostkarpaten, das auf den Metatext der Galizischen Literatur hinweist und mehrere Möglichkeiten seiner literarischen Gestaltung geboten hat.
Zweiter Themenkreis: Sozialraum Galizien Besondere Aufmerksamkeit wurde in diesem Kapitel des Buches dem Sozialraum Galizien gewidmet, der mehrere Themen für die Zugänge der postkolonialen Studien liefert. Dabei wurde die Habsburgermonarchie als binnenkolonialer Staat betrachtet. Dementsprechend konnte man die Texte unter die Lupe nehmen, in denen die wirtschaftlichen Beziehungen des Zentrums zur Peripherie dargestellt werden. Zu Stichwörtern solcher »Kolonialliteratur« gehören hier vor allem Ausdrücke wie »Bodenschätze« und »Ausbeutung«, die mehrere Mängel des damaligen gesellschaftlichen Systems der entlegenen habsburgischen Provinz offenbaren. Zur zentralen Gruppe der Texte gehören die Werke, in denen das Thema Galizien als Förderstätte für Erdöl und Erdwachs vorkommt, was große Bedeutung fürs damalige Europa hatte. So wurde die Gegend von Drohobycˇ und Boryslav, die das Zentrum der Ausbeutung in jeder Hinsicht bildeten, zum Symbol der wirtschaftlichen Ausnutzung des Kronlandes, zu dessen Folgen Not und Bedürftigkeit von breiten Schichten der Bevölkerung gehörten. Die Tatsache, dass die Verwendung der Erdölgewinne weitab von Galizien lag, bewirkte, dass die realen Zustände in Galizien den Unternehmern, die von weither kamen und nur der nüchternen Pragmatik entsprechend handelten, gleichgültig blieben. Da viele von ihnen jüdischer Abstammung waren, nahmen antisemitische Ausfälle in Galizien zur gleichen Zeit zu. Es gibt aber auch viel frühere narrative Beispiele zur jüdischen Thematik im mehrsprachigen »Galizischen Text«. Man kann sie schon in der josephinischen Reiseliteratur ab Ende des 18. Jahrhunderts finden, wie zum Beispiel in den kritischen »Briefen« von Franz Kratter über Galizien. Mehrere sprachliche Codes, die zwischen der Ab- und Zuneigung hinsichtlich der galizischen Juden schwanken, wurden als Stereotype für den gesamten galizischen Metatext diagnostisch. Einerseits sind es solche wie die Darstellung des jüdischen Volkes als »fremd« und »exotisch«; die Betonung seiner distanzierten Haltung zu anderen Ethnien Galiziens; die Selbstisolation der jüdischen Wohnviertel und Ghettos; die Zwischenstellung der Juden innerhalb des Sozialraums Galizien, ihre »pa-
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
rasitäre« Anpassung in der galizischen Gesellschaft; gravierende Unterschiede zwischen der reichen Oberschicht und den armen Familien innerhalb der jüdischen Gemeinde: die Bereicherung dank dem Handeln einerseits und das Elend der Mehrheit der galizischen Juden, das ihr soziales Verhalten beeinflusste und die Feindschaft der christlichen Umgebung provozierte, andererseits; die Fragwürdigkeit der existenziellen Situation der galizischen Juden insgesamt und das Plädieren für ihre Assimilation. Es wurde von Kratter aber auch die Rolle der Juden in der Entwicklung der neuen habsburgischen Gesellschaft und die Anerkennung ihrer Menschenrechte im aufgeklärten Staat betont. Darauf hat er als erster unter allen Anhängern des Josephinismus aufmerksam gemacht. All diese Motive wurden zu permanent auftauchenden Topoi des »Galizischen Textes«, ungeachtet der nationalen Zugehörigkeit der Autoren und der Zeit der Erscheinung ihrer Werke. Der Schwerpunkt der sozialen Ungerechtigkeit in Galizien lag aber, wie es vor allem bei Ivan Franko sowie anderen ukrainischen Autoren aus Galizien geschildert wurde, im Spannungsfeld der Beziehungen der beiden wichtigsten sozialen Schichten Galiziens – der ukrainischen Bauern und der polnischen Magnaten. Dabei kam es in mehreren Fällen zur Stereotypisierung. Zum ständigen Topos gehört hier die für Galizien typische soziale Konstellation: die Unbeschränktheit der Ansprüche auf den Bodenbesitz des polnischen Adels, der darin auch von der habsburgischen Verwaltung unterstützt wurde, versus die Rechtlosigkeit der ukrainischen Bauern. Als Kritiker der habsburgischen Innenpolitik in der Provinz prägte Ivan Franko sogar den alternativen Topos zur gängigen Bezeichnung der Habsburgermonarchie als »Vielvölkerstaat«, nämlich als »Völkerkerker«. Im Vordergrund standen hier Werke, die die Situation der »österreichischen Ukrainer« – der Ruthenen – dargestellt haben und eine besondere Schicht des »Galizischen Textes« insgesamt bilden. Viele aus diesem Kontext heraus produzierte Werke bezeugen die Dekonstruktion gängiger Stereotype wie über die faulen, trunksüchtigen ukrainischen Bauern oder wie es zum Bespiel im Fall des für Galizien typischen Mythos vom »guten Kaiser« war. Die meist vorkommenden sprachlichen Elemente sind solche wie »die öde, braune Heide« einer »Bettlerhand« gleich; »ständige Not und Bedürftigkeit des Volkes«; »die einzig produktive Klasse: die Bauern«; die Widerspiegelung der widerrechtlichen Lage der ukrainischen Bauern wie zum Beispiel in der Äußerung »die Menschen werden mehr gequält als die armen Tiere«; die Darstellung der sozialen Ungerechtigkeit gegenüber der ukrainischen Bevölkerung Galiziens; mangelnde Bildungsmöglichkeiten; das Rekrutieren als »die schrecklichste Plage«; der Gram der Mütter bei der Einberufung und beim Kriegseinsatz des einzigen Sohnes, wenn er »in fremden Ländern fallen« kann; die Freiheitsliebe der Bergbewohner der ukrainischen Karpaten, wenn in den Soldatendienst zu gehen einem Gräuel gleich sei; die Missachtung der ukrainischen Sprache bzw. die
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Bezeichnung des Ukrainischen als »Sprache des Verrats« im Ersten Weltkrieg sowie »ukrainische Irredenta«. Diese sprachlichen Codes bieten übereinstimmend kritische Charakteristiken der politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation der ukrainischen Bevölkerung im nordöstlichen Kronland dar. Als »diagnostische« Wörter und Wendungen bekommen sie eine typenprägende Funktion und bilden den Spannungsbogen zwischen Affirmation und Negation der habsburgischen Politik gegenüber den galizischen Ukrainern. Die erwähnten sozialen Kontraste in Galizien verschärften sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als die Provinz, obwohl mit Verspätung, die Modernisierung erreicht hatte. Die Prozesse, die sie begleiteten, kann man bei der Analyse der Darstellung einer galizischen Kleinstadt mit Hilfe der räumlichen Zugänge im Schaffen hinsichtlich der Zeit, des kulturellen Milieus, der Sprache und der Paradigmen des künstlerischen Schaffens so unterschiedlichen Autoren beschreiben, wie Ivan Franko und Bruno Schulz. Es wurden dabei typische sprachliche Codes, die sich als gemeinsame Topoi des Chronotopos »eine galizische Provinzstadt« erweisen, entdeckt, die sich im Werk auch anderer, zu verschiedenen nationalen Literaturen zugehörigen Autoren wiederholen und im gesamten »Galizischen Text« vorkommen. Es sind diagnostische Wörter und Wendungen, die zwei disjunktive Bedeutungssphären widerspiegeln: Einerseits eine staubige, verschlafene Provinzstadt; Einbruch und Wendepunkt der Moderne mit sprunghafter Industrialisierung der Provinz sowie gesellschaftlichen Antagonismen wie Verschärfung der sozialen, ethnischen und konfessionellen Spannungen; Technisierung und Differenzierung der Gesellschaft; Dichotomie zwischen Reichtum und Armut; Proletarisierung der Bauern; galizische Provinz als Raum der allgemeinen Not; Elend der armen Bevölkerung (unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit); jüdisches Viertel als eine »armselige Ruine«; Antisemitismus als Bekundung der Ideologie der Moderne; Verbreitung der Ideen des Klassenkampfes; Dekonstruktion der Identität im Zuge der Modernisierung sowie galizische Provinzstadt als ein »nicht durchaus idyllischer Ort«. Andererseits sind es solche positiv geladene Topoi wie galizische Kleinstadt als Erinnerungs- und Gedächtnisraum der Kindheit; Aisthesis des ländlichen und kleinstädtischen Raums Galiziens; Bedeutung sinnlicher Impulse für Mich-Gedächtnis; mythenbildende Sphäre der Kindheit, ihre Bilder als Programm für das Schaffen galizischer Künstler; vormodernes Galizien als eine »heil empfundene Welt« sowie als »eines der interessantesten Gebiete Europas«. Prozesse, die mit der raschen Modernisierung und nicht selten räuberischen Industrialisierung der entlegenen habsburgischen Provinz verbunden waren, brachten sie in Bewegung, wovon mehrere gemeinsamen Topoi des sozialen Raumes Galizien, die in den Texten in unterschiedlichen Sprachen vorkommen, zeugen. Es sind solche wie räumliche Mobilität, Heterotopien und Nicht-Orte, die Galizien als einen Transitraum charakterisieren, der von permanenter Be-
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
wegung, von Grenzgängen und Grenzüberschreitungen, von der Migration in beide Richtungen, in der ost-westlichen, aber auch in der west-östlichen gekennzeichnet war. Diese Topoi sind auf unterschiedliche Weise sprachlich kodiert und wurden zur permanenten Konstante des »Galizischen Textes«. Zu den am häufigsten vorkommenden Elementen gehören die für diesen gemeinsamen Metatext traditionell gewordene Wörter und Wendungen wie »galizische Misere«, die Grenze, die Grenzlage, der Grenzschmuggel, anonyme Orte, weite Entfernungen, das permanente Wandern, Evakuierung des Landes, die Emigration in die USA und nach Brasilien, Versprechungen des wohlhabenden Lebens in der Fremde, leidvolle Reise der Emigranten ins Ungewisse, Menschenhandel mit seinen Akteuren und Opfern, Galizien als »ein Tor nach Westen« sowie die Sehnsucht nach der für immer verlorenen Heimat. All diese diagnostisch wichtigen Codes gestalten ein einheitliches, konzentriertes Bild vom sozialen Raum Galizien zur Zeit der verspäteten Modernisierung als von einem transitären Raum der Migration. Als eine prägnante Ausformung dieses Raumes wurde der sich im Schaffen mehrerer galizischer Autoren, unabhängig von der Zeit sowie von der Tradition ihres Wirkens zirkulierender Topos der Schenke analysiert, am dessen Beispiel die Produktivität der angewandten Zugänge sich zeigen ließ. Obwohl die Darstellungen der galizischen Schenke heterogen sind, weisen sie mehrere gemeinsame Züge auf, die von folgenden sprachlichen Codes wiedergegeben werden: die Lokalisierung der Schenke an der Landstraße, »am Weg«; die Schenke als Ort des Treffens und des Durchgangs; die typischen Gestalten der alten Juden als ihre Besitzer; die Schenke als Ort des Gewinns einerseits sowie verdichtetes Bild der Armut der proletarisierten Bevölkerung Galiziens andererseits; Grenzschenke als Ort des Untergangs, wo Taugenichtse und Verbrecher, aber auch Flüchtlinge und Deserteure verkehrten; die Schenke als Rettungsort auf der Flucht, ihre Schutz gebende Funktion; der Ort, wo Zeitwenden und -brüche verdichtet werden sowie als unheimlicher und märchenhafter Ort, der mythologische Züge annahm. Es wurde festgestellt, dass die angeführten Beispiele des Topos der Schenke im »Galizischen Text« mehrere markante Charakteristika von Foucaults Heterotopien oder von Nicht-Orten im Transit von Marc Augé, aber auch solcher raumbezogenen Konzepte wie Chronotopos von Michail Bachtin und Grenze bei Jurij Lotman veranschaulichen. Es sind die entlegene Lage, das transitäre Betreten und Verlassen, die Verbindung mit der Heterochronie, die beunruhigende Atmosphäre, die Krisen- und Abweichungssituation sowie der Hang zur Illusion und zum Mythos. Es wurde außerdem gezeigt, dass die Übereinstimmungen unter ihnen als gemeinsame Chronotopoi erklärt werden können, und zwar als Chronotopos des Weges, der Begegnung, des Wendepunkts sowie der Grenze in direkter und kultursemiotischer Bedeutung. So wies der im Schaffen unterschiedlicher galizischer Autoren narrativ modellierte Topos der Schenke mehrere
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Gemeinsamkeiten auf, die die Hybridität des heterogenen Sozial- und Kulturraums Galizien kennzeichnen.
Dritter Themenkreis: Kulturraum Galizien Der heterogene Kulturraum Galizien wurde in diesem Kapitel vor allem als solcher betrachtet, der gravierende Fälle der Grenzübergänge und Grenzverwischungen aufweist. Es ist wichtig zu betonen, dass diese seine Besonderheit sich schon ziemlich früh enthüllte, und zwar im Fall der Grenzverwischung zwischen den Systemen der ästhetischen Prinzipien und der stilistischen Merkmale unterschiedlicher Kunstrichtungen, zum Beispiel in der Romantik und im Realismus. So kann man beim Etablieren stilistischer Konstanten der realistischen Poetik im Schaffen einiger galizischen Autoren eine bestimmte Verzögerung verfolgen, die durch die historische Konstellation der kulturellen Erscheinungen verursacht wurde. Dabei kamen die Tendenzen, die man bei der Gesamtentwicklung der europäischen Literatur verfolgen konnte, auch hier deutlich zum Vorschein. Dieses Phänomen hat sich in entsprechenden galizischen Topoi widerspiegelt und wurde für das mehrsprachige Phänomen des »Galizischen Textes« insgesamt typisch. In der deutschsprachigen Literatur kann man diese Grenzverwischungen bei Leopold von Sacher-Masoch, Joseph Roth, in der polnischen bei Bruno Schulz, in der ukrainischen bei Hnat Chotkevytsch oder auch Mychajlo Kozjubyns’kyj verfolgen. Das multikulturelle und mehrsprachige Galizien erweist sich dabei als Treff- und Schnittpunkt nicht nur einzelner regionaler und im Zuge der kolonisierenden Prozesse seitens der Habsburgermonarchie hinzugewonnener Kulturen, sondern auch verschiedener Kunstrichtungen und Strömungen. Diese Situation offenbart sich als besonders günstig für die Synthese. Außerdem wird ersichtlich, dass die lange Kohabitation mehrerer Ethnien in einem heterogenen Sozial- und Kulturraum eine komplexe, hybride Identität entstehen ließ, die eine mehrfache Auswirkung auf ein gemeinsames Literaturphänomen hatte, darunter auf das produktive Zusammenwirken der Elemente verschiedener Sprachen. All dies bedingt die besondere Kreativität des mehrsprachigen und mehrdimensionalen literarischen Konglomerats, das als gemeinsamer »Galizischer Text« bezeichnet wird. Zu den zentralen Begriffen des »Galizischen Textes« kann man hinsichtlich des narrativ produzierten Kulturraums Galizien auch den Begriff Dialog mit einbeziehen. Es geht um die Korrespondenz der einzelnen Werke und Sprachen, die bei der Gestaltung der Landschaft, des Milieus, der Aura des Landes zu verfolgen war. Zu den unverkennbaren sprachlichen Codes gehört hier die Beschreibung der milden, melancholischen, von der Zivilisation unberührten Natur, die den Hintergrund der Handlung nicht nur bei Karl Emil Franzos, sondern
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
auch bei Leopold von Sacher-Masoch und Joseph Roth bildet. Sie gestalten ein einmaliges Bild eines gemeinsamen Raumes, der sich in der Zeit ausdehnt und Merkmale verschiedener Kulturen und Mentalitäten zu einer Legierung verschmilzt. Hier kann man von der inneren, imaginären Landschaft sprechen, von ihrer besonderen Kreativität, die sich im »Galizischen Text« realisiert. Zu so einem Topos der galizischen Literatur wurde die Darstellung Galiziens als Ortes der Kindheit und der Jugend, der aus der Perspektive der Zeit zu einer »literarischen Heimat« geworden war. Dieser Heimat verdanken viele galizische Autoren ihren literarischen Werdegang, der die einmalige Symbiose der Kulturen der galizischen Lebenswelt, ihre Heterogenität und Hybridität erkennen lässt. Gerade diese Vielstimmigkeit prägt die besondere, »eigene Sprache« des »Galizischen Textes«, seine Spezifik und wichtigste kennzeichnende Merkmale, die sich in semantisch verbundenen Leitmotiven und Bildern realisieren. Die literarischen Texte, die die kulturelle Welt Galiziens darstellen, erzeugen auch mehrere Raummodelle. Zu einem der häufigsten gehört dabei das Modell der west-östlichen Gegenüberstellung und/oder Kompatibilität. Mit Hilfe der raumsemiotischen Zugänge zur Struktur des literarischen Textes von Jurij Lotman kann man diese binäre Opposition von zwei disjunkten Teilräumen in den zum »Galizischen Text« zugehörenden Werken erforschen. Als empirisches Material dienen hier solche Texte wie der Roman von Karl Emil Franzos Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten und die Autobiographie von Alexander Granach Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens. Ungeachtet der zeitlichen Distanz des Erscheinens der beiden Texte und der Zugehörigkeit zur unterschiedlichen Gattungen entwerfen sie das gleiche Modell der Opposition zwischen den an östliche bzw. westliche Tradition gebundenen Kulturen. Gemeinsam sind dabei folgende Themen und Leitmotive sowie Handlungen und Ereignisse, die auch in anderen Texten der mehrsprachigen galizischen Literatur vorkommen: Galizien als Bodenform und Urheimat, die Heterotopie des ostjüdischen Ghettos, das Bestreben, es zu verlassen sowie der damit bedingte Aufbruch aus Galizien, um in die westliche Welt zu kommen. Im Vordergrund der beiden Werke steht der Chronotopos des Weges und der Begegnung. Eine große Rolle spielt in beiden das Thema der Grenzüberschreitung als Verletzung der realen, geographischen und der ideellen, semantischen Grenze, das zu den wichtigsten Kodierungsmitteln des »Galizischen Textes« gehört. Vom semantischen Zusammenhalt mit anderen Beispielen des gemeinsamen Substrats des »Galizischen Textes« zeugt auch die gattungsspezifische Hybridisierung der beiden Werke, die die faktuale Lebensgeschichte mit dem fiktionalen Text des Romans zusammenbringt. Als autobiographische Lebensbeschreibung wird Granachs Werk außerdem zum komplementierenden Zeichensystem des gesamten »Galizischen Textes«. Semantische Verbundenheit mit anderen Texten dieses Systems schafft hier vor allem die Darstellung der für den Kulturraum
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Galizien typischen »inneren« Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen sowie der Grenze zwischen den Kulturen des europäischen Ostens und Westens. Wenn diese Grenzen von einer Seite als undurchdringlich erscheinen, was von der Heterogenität des Kulturraumes zeugt, demonstrieren sie von der anderen die Porosität, wenn infolge der Grenzüberschreitungen semiotische Dynamik, die einen hybriden »Dritten Raum« erzeugt, entsteht. Zu den prägnantesten Beispielen des in der Lebensgeschichte von Granach dargestellten »Schwellen-« und »Zwischenraums« werden die ihn konstituierenden Codes solcher Themen und Motive wie Freundschaft, Liebe und Dialog, woraus hybride Identitäten entstehen. Auf diese Weise erwies sich die autobiographische Beschreibung des Lebenswegs von Alexander Granach als paradigmatische Komponente des vielschichtigen »Galizischen Textes«.
Vierter Themenkreis: Galizien im Umfeld des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit Eine neue Dimension wird den galizischen Orten und Landschaften von den literarischen Texten verliehen, die sich auf den Georaum Galizien im Ersten Weltkrieg beziehen: Er wird von ihnen fiktionalisiert und als ein morbider Erlebensraum inszeniert. In diesem Kapitel werden die Romane von Joseph Roth Radetzkymarsch und von Andrzej Kus´niewicz Lekcja martwego je˛zyka [Lektion in einer toten Sprache], die den Anfang bzw. das Ende des Krieges an der habsburgischen Ostfront darstellen, als komplementierende Komponente des »Galizischen Textes« gedeutet, die ihm neue, zusätzliche Bedeutungen verleihen. Es werden in diesen Werken viele Elemente festgestellt, die im dichten System dieses gemeinsamen Textes paradigmatisch wirken, denn Galizien als eine Kriegslandschaft impliziert seine eigene Beschreibung. Als Resultat davon, ungeachtet mehrerer sich überschneidenden Momente, halten die beiden Texte semantisch zusammen: Sie stimmen im Thema, im Handlungsraum und in den Motiven überein. Zum Hauptthema in den Romanen wird der Zerfalls des Habsburgerreiches als eine Katastrophe infolge des Krieges; zentral ist hier das Motiv der Degradierung der letzten Generation der k.u.k. Militär-Elite als Parallele zum Niedergang der Donaumonarchie: Sowohl auf Roth als auch auf Kus´niewicz wirkte der apokalyptische Untergang der k.u.k. Monarchie und somit Galiziens traumatisch. Die beiden Schriftsteller gingen dabei von der Wahrnehmung und den sinnstiftenden Gefühlen aus. Wie die vergleichende Analyse der Texte gezeigt hat, haben diese Werke viel Gemeinsames. Das gestattet, sie in eine besondere Schicht des »Galizischen Textes« einzuordnen: Die zitierten Textpassagen weisen viele ähnliche, wenn auch nicht gleiche Topoi auf,
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
die die Verwandlung der Friedenslandschaft Galizien in eine Kriegslandschaft kennzeichnen. Mit Hilfe der phänomenologischen Deutung dieser Verwandlung von Kurt Lewin werden die Themen und Leitmotive beschrieben, die in beiden Romanen vorkommen, aber auch für andere Texte über den Ersten Weltkrieg in Galizien typisch sind wie zum Beispiel für die Kriegserzählungen von Hermann Blumenthal. Dieses Verfahren hat geholfen, sie zu einer dichten semantischen Einheit zusammenzufügen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Überlegungen von Lewin rückt die durch die Frontlinie »gerichtete« Landschaft, die als Gefahrenzone auch im metaphorischen Sinne »hingerichtet« wurde. Das »Gerichtetsein« des Landes wird bei Lewin von der Verwandlung der »Friedensdinge« in »reine Kriegsdinge« begleitet; zu letzteren werden auch die Menschen gezählt, vor allem Soldaten, aber unter bestimmten Bedingungen ebenso die Zivilisten. Zu den Themen und Leitmotiven, die die Verwandlung einer Friedenslandschaft in die Kriegslandschaft charakterisieren und mit Lewins Ausdrücken korrespondieren, gehören folgende Beispiele aus den analysierten Texten: Die Schönheit Galiziens als einer Friedenslandschaft im Spätsommer; die reiche Getreideernte am Anfang des Krieges; die Drangsalierung der Zivilbevölkerung durch die beiden imperialen Mächte, die Beschuldigung des Verrats und der Spionage, die eilige Hinrichtung vor Ort oder die Deportation in die Internierungslager, die Situation der galizischen Ukrainer im k.u.k. Militär sowie ihre politische Spaltung, die zum »Bruderkrieg« führte und nicht zuletzt »Inferno« als Bezeichnung der Gefahr- und Gefechtszone Galizien. Sie kommen schlechthin in allen Werken vor, die den Ersten Weltkrieg und den Zerfall der Donaumonarchie dargestellt haben, und werden somit zu den Kodierungsmitteln dieser besonderen Schicht des »Galizischen Textes«. Neben den erwähnten fiktionalen Werken konnte man zu dieser Schicht des »Galizischen Textes« auch einige faktuale Texte zuordnen, und zwar Tagebuchaufzeichnungen und Reisebeschreibungen. Als ein wichtiges Dokument der Zerstörung der jüdischen Welt Galiziens wurde diesbezüglich der auf Jiddisch geschriebene Bericht von Shimon An-Ski Yudisher khurbn fun poyln, galitsye un bukovine (fun tog-bukh 5674–5677 [1914–1917] analysiert, in dem vom Schicksal der ostjüdischen Bevölkerung im Gebiet des Bewegungskrieges an der habsburgischen Ostfront berichtet wird. Wenn auch dieser Text Eigenschaften des literarischen Werkes aufweist, so kann man doch von seiner »Verwertbarkeit« für die Rekonstruktion der damaligen Lage der Juden in Galizien sprechen. Als Bestandteil der entsprechenden Schicht des »Galizischen Textes« führt AnSkis Tagebuch viele, mit anderen Kriegsereignissen in dieser Gefechtswelt beschreibenden Texten gemeinsame Topoi auf, die die Rolle der Kodierungsmittel übernehmen. Vor allem sind es solche, die die Willkür der Kriegsmacht bei der Behandlung der einheimischen Bevölkerung Ostgaliziens darstellen, hier der Juden durch das russische Militär. Bei der historisch bedingten, im Vergleich mit
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dem Schicksal der galizischen Ukrainer entgegengesetzten Ausrichtung des Machtvektors (hier der zaristischen Besatzungsarmee versus habsburgische Verwaltung in Galizien) werden mehrere signifikante Stichwörter aufgefunden, die zur semantischen Einheit mit anderen galizischen Kriegstexten geführt haben: »soziale Stellung«, »Sprache«, »Konfession«, »Verrat«, »Spionage«, »kollektive Bedrohung«, »Brände«, »Vertreibung«, »Erschießungen«, »Martyrium« sowie »Trauer«. Auffallend nahe zu diesen Schlüsselwörtern und Wendungen gibt es auch in den Reminiszenzen an das Wüten des Ersten Weltkrieges und an die Machtkämpfe in Galizien in den Reisebeschreibungen von Joseph Roth und Alfred Döblin »durch« bzw. »in« Galizien 1924. Obwohl sie einen anderen semantischen Raum widerspiegeln, und zwar die Periode nach dem Zerfall der Donaumonarchie und in der Zeit des Etablierens der polnischen Verwaltung, haben sie einen Bezug zu Galizien als einer Kriegslandschaft. Es gibt in den hier verglichenen Reiseberichten Themen und Leitmotive, die die Darstellungen des empirischen Raumes, in dem der Erste Weltkrieg und die ihm folgenden Machkämpfe ihre Spuren hinterlassen haben, durchdringen und sich quer durch die analysierten Texte ziehen. Als semantische Codes fungieren hier solche Stichwörter und Wendungen wie »Schlachtfeld Galizien«, »Brandruinen«, »Riesenschutthaufen«, »wüste grauenerregende Ruinenmassen«, »ein Einbruch, als hätte Bombardement gewütet«, »Trümmerhaufen«, »Friedhof«, »Raben« als Erinnerung an den Krieg und »Krähenschwärme«, die die Bedrohung suggerieren. Döblins Definition: »Es war Krieg, bestialer Naturzustand« korrespondiert dabei mit Kurt Lewins Überlegungen über die »Behandlung der Gefechtsdinge«, inklusive Menschen. Außerdem wird in beiden Texten ein überempirischer Raum geschaffen, der zum Bereich der Inhalte und Ideen gehört. Unter den Stichwörtern und Wendungen, die von einem Zeichensystem stammen und in beiden Texten realisiert werden, sind solche, die den Sozial- und Kulturraum Galizien kognitiv kartieren. Es sind z. B. mehrere typisch »galizische« Elemente, wie Ost-West Gegenüberstellung; die ukrainisch-polnisch-jüdisch gefärbte ethnische und kulturelle Triade Galiziens; »polyglotte Farbigkeit« als Ausdruck der Hybridität seines Kulturraumes sowie verwischte Grenzen. Auf diese Weise komplementieren die Reisebeschreibungen von Roth und Döblin »durch« bzw. »in« Galizien den mehrschichtigen »Galizischen Text« als ein gemeinsames narratives Konstrukt.
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
Fünfter Themenkreis: Natur-, Sozial- und Kulturraum Galizien als Gedächtnisraum Im Zentrum dieses Kapitels stehen Phänomene des inneren Lebens, und zwar die Erinnerungen an Galizien in Form von Bildern, Motiven und Symbolen, die in den Texten vieler aus diesem Landstrich stammender Autoren ihren Niederschlag gefunden haben. Diese Phänomene sind zu Erinnerungsorten geworden, zu mehreren Topoi der galizischen Literatur, die sich auf Natur-, Sozial- und Kulturraum Galizien beziehen. »Galizien als eine verloren gegangene Heimat«: Dieser Topos, für den es sozial-historische, aber auch geistesgeschichtliche Gründe gibt, begleitet neben anderen den »Galizischen Text« im Laufe seines Bestehens. Das Bild der weiten habsburgischen Provinz der Kindheit und Jugend wird in den Texten aus und über Galizien im Wort dem Zeitstrom entrissen. Mit Hilfe der Gedächtnistheorie von Aleida Assmann, in welcher der Vorgang »des Ausschreibens und Einschreibens« die älteste »Metapher des Gedächtnisses« sei, wird gezeigt, dass der »Galizische Text« als eine der Formen der Gegenwirkung gegen das Vergessen eine ausschließliche Bedeutung gewonnen hat. Die Erinnerungen an die verlorene Heimat spielen eine enorm große Rolle im Schaffen der beiden jüdischen Autoren deutscher Sprache – Joseph Roth und Soma Morgenstern. Galizische Wirklichkeit gewann bei ihnen mehrere Züge eines von ihnen selbst geschaffenen literarischen Mythos, dem aber geschichtliche, geographische, soziale und kulturelle Komponenten des realen Raumes Galizien zugrunde liegen. Dabei konnte dieser individuelle Mythos die im Laufe des 20. Jahrhunderts dehumanisierte Geschichte auf dem ästhetischen Wege kompensieren. Als Zeugen des Endes der Donaumonarchie und Träger des Gedächtnisses an die verlorene Welt ihrer Heimat, die zur Quelle ihres Schaffens wurde, sind die beiden Schriftsteller zu den führenden Figuren der Renaissance des Themas »Galizien« in der deutschsprachigen Literatur und entsprechend zu zentralen Gestalten dieser Komponente des mehrsprachigen »Galizischen Textes« geworden. Prägnant für ihr Schaffen sind auch mehrere unentbehrliche Themen, Bilder, Motive und Seelenzustände, die die Werke anderer galizischen Autoren überlagern und sich mit ihnen überschneiden. Besondere Aufmerksamkeit wurde in diesem Kontext den narrativ gestalteten Erinnerungen Soma Morgensterns geschenkt, die einen besonderen Platz im aus dem Miteinander unterschiedlicher kulturellen Traditionen des Kronlandes entstandenen »Galizischen Text« einnehmen. Als Bestandteil dieses Metatextes führt Morgensterns Werk ein für die gemeinsame Erzählung Galiziens typisches Phänomen vor: Obwohl der Schriftsteller seine Romane auf Deutsch schrieb, gab er in seinen Texten die Mehrsprachigkeit Galiziens wieder, und zwar in Form ihrer Vertextung. Sie gestattet von der sprachlichen Polyphonie des galizischen
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Kulturraumes zu sprechen, die auch sein narratives Modell in Morgensterns Texten als ein hybrides erkennbar macht. Wie dieses narrativ produziertes Modell zeigt, existierten die im Kulturraum Galizien gebräuchlichsten Sprachen nicht nur nebeneinander, sondern korrelierten untereinander und konnten dementsprechend Dialogizität im Sinne Bachtins aufweisen. Außerdem griff der Autor zu Erläuterungen für diejenige Leser, die mit der jüdischen und den slawischen Kulturen Galiziens nicht vertraut waren. Das Phänomen der Mehrsprachigkeit, das Morgenstern in seinem Schaffen abgebildet hat, wurde also zu einem der Substrate des »Galizischen Textes«, der nicht nur die Heterogenität des galizischen Kulturraums offenbart, sondern auch seine Hybridität beweist. Zur schärfsten Trennlinie ist hier aber, wie auch bei Morgenstern gezeigt wurde, die Abgrenzung zwischen den Konfessionen, der jüdischen und der christlichen geworden – ein den ganzen »Galizischen Text« prägendes Thema. So wurde Morgenstern zum Autor, der nicht nur ein Zeuge des Endes Galiziens war, sondern auch zum Gedächtnisträger, dessen humanistische Sichtweise zur Wiederbelebung seiner verlorenen Heimat in Form des »Galizischen Textes« verhalf.
Sechster Themenkreis: Rückkehr Galiziens In diesem Kapitel geht es um die Re-Lektüre von ehemaligen Habsburger-Territorien im Schaffen der zeitgenössischen ukrainischen Autoren, und zwar der bekanntesten Vertreter des »Stanislauer Phänomens«, Jurij Andruchovycˇ und Taras Prochas’ko. Für den ersteren von ihnen ist die besonders produktive Zuwendung zur Konzeption »Geopoetik« als einer Kultur- und Literaturstrategie im Sinne des Gegendiskurses zur Geopolitik des Realsozialismus charakteristisch. Die geographischen Gegebenheiten, die Andruchovycˇ in seinen literarischen Essays und Romanen darstellt, gestatten ihm die Zustände und Formen der Auslöschung der kulturellen Tradition der Donaumonarchie in seiner heimatlichen Region zu schildern. Infolgedessen stellte sich der Schriftsteller ein neues geopolitisches Ziel: Die Region des ehemaligen Galiziens (wie die Gesamtukraine) im östlichen Zentraleuropa bzw. kulturell in »Mitteleuropa« zu platzieren. Mittels des geopoetischen Verfahrens kommt Andruchovycˇ zu einer eigenen Geokulturologie, die zur Kritik an der sowjetischen und national-sozialistischen Geopolitik im 20. Jahrhundert wurde. Er setzt die »Geopoetik« gegen die Geopolitik, denn, wie er selbst kommentierte, geht es ihm vor allem darum, die politischen Beschränkungen und Teilungen mit poetischen Mitteln zu überwinden. Die kulturhistorische Diagnose des Autors lautet: Hier, im posttotalitären Galizien soll der Dialog begonnen werden. So schuf Jurij Andruchovycˇ sein »eigenes Territorium« – sein eigenes »Galizien« und sein »Mittel-
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
europa«, die für ihn in der geistigen Wirklichkeit bestehen. Auf diese Weise bewahrt er das Gedächtnis an das historische Galizien, bringt seine Nachwirkung zutage und schreibt die kulturelle Geschichte Post-Galiziens weiter, wodurch die Dauerhaftigkeit und Unbeschränktheit des »Galizischen Textes« bewiesen wurde. Trotz der Originalität der Themen, des Stils, der Zugänge zur Darstellung der objektiven Gegebenheiten weisen seine Essays und Romane mehrere für diesen Metatext typische Leitmotive auf, solche wie ausgesprochene Raumfokussierung, die Zuwendung zur ehemaligen kulturellen Vielfalt Galiziens, die Rolle der Zugehörigkeit zur Donaumonarchie, die Analyse der historischen Kataklysmen, die dieses Land erschütterten, sowie ihrer verheerenden Folgen, geokulturologische Umpolung Galiziens, seine Platzierung in Mitteleuropa und anderes mehr. Relevant für diese Untersuchung ist, dass alle diese Topoi als Kodierungsverfahren mit den Texten anderer gegenwärtigen Vertreter des »Galizischen Textes« semantisch verbunden sind, sei es Taras Prochas’ko oder Andrzej Stasiuk. Sie ließen auf das historische Galizien und sein kulturelles Erbe fokussierte Schreibmethode zur Geltung kommen. Taras Prochas’ko, der zweite ukrainische Autor, dessen Schaffen hier analysiert wurde, ist wie Jurij Andruchovycˇ, ein gebürtiger »Galizianer«. Mit seinem Schaffen bestätigt er ebenso das dauerhafte Bestehen des »Galizischen Textes«, und zwar nicht nur wegen der Darstellung in seiner Prosa der empirischen Gegebenheiten Galiziens (unter anderem mithilfe der genauen Wiedergabe der Toponymik), sondern auch dank der Präsenz einer der Hauptideen dieses Metatextes in ihr – der Prävalenz von Heterogenität und Hybridität im Kulturraum Galizien. Der in dieser Untersuchung analysierte Roman Prochas’kos Neprosti weist mehrere Leitmotive auf, welche die intensive Existenz der historisch-politischen Ereignisse in der Kulturgeschichte des Raums Galizien widergeben. Das Kodierungsverfahren auf dem Niveau solcher raumbezogenen Topoi wie Machtwechsel, Krieg, Auswanderung, Zwangsmigration, Flucht, Deportation und damit verbundenen Umwandlungen, insbesondere des Sprachgebrauchs, lassen dementsprechend den gemeinsamen Sinn mit anderen Werken des »Galizischen Textes« entstehen, und zwar bei der Reflexion in seinem narrativen Diskurs der Transformationen des Kulturraumes, dessen prägendes Merkmal die Dialektik des Homogenen, Heterogenen und Hybriden war.
Resümee und Forschungsperspektiven
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Siebter Themenkreis: Literarischer Freiraum Galizien: Neubewertung In diesem abschießenden Kapitel geht es um das Schaffen von zwei unterschiedlichen Autoren, dessen Leben mit Galizien verbundenen war, und zwar um Ivan Franko und Debora Vogel, derer Dichtkunst eine hohe literarische Stufe erreicht hat. Während aber Franko längst zum Kanon der ukrainischen Literatur gehört, fand die »Wiederentdeckung« der jüdischen Dichterin erst in den letzten Jahrzehnten statt. Im Fall von Ivan Franko war es wichtig zu zeigen, dass die Haltung, nur einen einseitigen Standpunkt bezüglich seines Lebens und Schaffens einzunehmen sowie differenziert sein Werk zu interpretieren, zu gravierenden Widersprüchen führte. Aktuell ist es neue Forschungsperspektiven zu eröffnen; zu einem der Zugänge wird dabei das analytische Konzept der Transdifferenz. Damit kann man Phänomene untersuchen, die mit Modellen binärer Differenzen nicht erfasst werden können, sowie das Werk von Ivan Franko als Resultat seiner Einwurzelung im multikulturellen und vielsprachigen Milieu der Habsburgermonarchie und seines Heimatlandes Galizien beschreiben. Eben diese Tatsache ermöglicht es, das eigentümliche Werk des ukrainischen Autors als eine von vielen Facetten des »Galizischen Textes« zu betrachten. Das Schaffen von Debora Vogel, mit dem sie das gesamteuropäische Niveau erreicht hat, kann man somit als eines der besten Beispiele der jiddisch- und polnischsprachigen avantgardistischen Dichtung in und aus Galizien bezeichnen. Relevant ist es dabei, dass sie dank der Hinwendung zur jiddischen Sprache das Jüdische und das Europäische zueinander gebracht hat. So hat diese Dichterin die Literatur aus dem Lwów der Zwischenkriegszeit, aus der »Provinz der Menschen«, die ihre Zeitgenossen waren, zur Weltliteratur erhöht. Sie wurde folglich zu einer von denen, die den literarischen Freiraum Galizien vor dem Vergessen bewahrt haben.
Resümee und Forschungsperspektiven Abschließend kann man sagen, dass infolge der durchgeführten Forschungsarbeit mehrere Merkmale des »Galizischen Textes« als Ausdruck der Verflechtung und Wechselwirkung der Mehrdimensionalität im vielsprachigen fiktionalen und faktualen Erzählen einer historischen Region anhand des umfassenden Bildes mittels der Verknüpfung von traditionellen literaturwissenschaftlichen Zugängen mit neuen theoretischen Ansätzen der Kulturwenden beschrieben und gedeutet werden konnten. Dabei eröffnet das Thema dieses Buches auch neue Forschungsperspektiven, vor allem in der Hinsicht, dass Texte von der in der
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Schlussfolgerungen: »Galizischer Text« als Ausdruck der Mehrdimensionalität
Geschichte der Galizienliteratur weniger bekannten Autoren in die Diskussion vom Standpunkt der traditionellen literarischen Komparatistik und jener der räumlichen Hermeneutik noch weiter eingebracht werden können, und zwar nicht nur aus dem germanistischen und dem slawistischen Bereich, sondern auch aus dem Bereich der Judaistik. Neue Aussichten kann auch der Vergleich mit einer (oder mehreren) heterogenen und hybriden europäischen Kulturräumen und literarischen Landschaften eröffnen. Von Relevanz wäre auch die Weiterentwicklung der methodologischen Ansätze der Erforschung der Literatur aus und über polyglotte historische Regionen infolge ihres Anschlusses an aktuelle Forschungsdebatten im Rahmen der vergleichenden Literaturwissenschaft und der Kulturwissenschaften. Hinsichtlich der Implikationen für andere Wissenschaftsgebiete kann das Thema dieser Untersuchung weitere Auswirkungen haben, denn der Gegenstand der Erforschung – »Galizischer Text« – wird hier als paradigmatischer Prototyp für interkulturelle Studien gewertet.
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Abbildungen
Umschlagbild sowie Titelbilder zu einzelnen Kapiteln des Buches sind dem Projekt von Yurko Dyachyshyn TERRA GALICIA entnommen: Фото © Юрко Дячишин Photo © Yurko Dyachyshyn
Ortsverzeichnis
Abessinien 485 Ägypten 173 Alexandria 180 Amerika 178–184 Ardzheludzha (ukr. Ardzˇeludzˇa – Naturgebiet in Karpaten) 439 Argentinien 178, 181 Asien 36, 69, 100, 104, 131, 175f., 224f., 248 Auschwitz (poln. Os´wie˛cim) 20, 375
Bukowina (ukr. Bukovyna) 56, 70, 77, 100, 102–105, 129–135, 142, 151, 175, 180, 224, 230f., 247f., 308, 320, 419 Bursztyn (ukr. Bursˇtyn) 470 Bytók 278
Babylon 173 Banat 56, 70 Belgien 175 Bels 322 Berlin 229, 231, 233, 241, 244–246, 263, 299, 338f., 373, 471f., 478 Bessarabien 76, 177, 197 Bochnia 81 Bojkenland 76 Bombay 180 Boryslav 27, 135–137, 151, 157, 159–161, 193–195, 451f., 493 Bosnien 179 Brasilien 178f., 181, 185, 496 Bratislava 439 Brody 39, 73, 115, 182, 223, 231, 278, 322f., 361, 364, 369f. Brünn 439 Brzez´any (ukr. Berezˇany) 91 Buczacz (ukr. Bucˇacˇ) 284 Budapest 436 Bug Donajak, siehe Zachidnyj Buh
131, 147, 179, 230f., 232, 239, 241, 244, 247f., 250, 252, 419, 453 Czornohora (ukr. Cˇornohora, dt. Tschornohora) – Gebirgsmassiv in Karpaten 107, 439 Czortków 223, 245, 321
ˇ eremosˇ (dt. Tscheremosch) – Fluss 100 C ˇ ernivets’ka oblast’ – Gebiet C ˇ ernivci 415 C ˇ ortkiv, siehe Czortków C ˇ ernivci) 70, 92, 102, Czernowitz (ukr. C
Das russische Zarenreich, siehe Russland Deutschland 175, 224f., 229, 231, 238f., 309, 339, 361, 375, 415, 449, 478 Dniester, siehe Dnister Dnister – Fluss 64, 100, 227 Dnjestr, siehe Dnister Dobropolje (ukr. Dobropillja) 384f., 389, 391, 400 Dombrowa (poln. Da˛browa) 278 Donau – Fluss 225, 425, 458f. Donaumonarchie, siehe Habsburgermonarchie Don – Fluss 225 Drohobicz, siehe Drohobycˇ Drohobycˇ 14, 28, 88, 155–165, 223, 341, 360f., 427, 448, 451, 469, 493 Drohobycz (ukr. Drohobycˇ) 159
536 Dubowe
Ortsverzeichnis
91
Europa 14, 19–21, 35, 75, 89, 100, 104, 107, 115, 134, 136, 145, 151, 157, 168, 175f., 179, 209, 228, 247f., 275, 336f., 346, 349, 351, 362, 369, 375, 396, 398, 407, 417, 420, 425, 431, 437, 459, 493, 495 Frankreich
70, 175, 214, 368
Galizien 11–17, 19–39, 44–47, 50, 54–57, 61, 63–65, 68–95, 99f., 103–105, 107f., 111, 113–124, 127–145, 147, 151, 155– 157, 160–162, 167f., 171–185, 189–193, 195, 199–201, 203f., 207, 209–213, 215f., 218–220, 223–225, 227f., 230–232, 234, 237, 239, 241, 244, 247–251, 253–255, 259, 262–265, 267, 270f., 273, 275–278, 280, 282–284, 292f., 297–301, 303–310, 312, 315–327, 331–340, 342, 344–346, 349–351, 353, 355f., 358, 361f., 364f., 367–369, 371–374, 376, 379–381, 383, 386, 388, 390, 392, 395, 397f., 401, 404, 406–408, 413, 416–418, 420–428, 431f., 436, 438–440, 443, 445–449, 451–458, 460, 463–466, 469f., 472, 487, 489–505 Galizien und Lodomerien (Habsburgerprovinz) 19f., 24, 63f., 68, 80, 113, 367 Gallizien, siehe Galizien Genf 177, 336, 448 Graz 129, 276, 307 Gusjatyn (ukr. Husjatyn) 393 Habsburgermonarchie 15f., 20, 24, 45, 63, 78, 80, 100, 128, 130, 132, 146, 151, 155, 182, 195–197, 203, 216, 225, 237, 275– 277, 284, 292, 297f., 304, 315f., 318, 361, 365, 375, 397, 401, 407, 416, 419, 439, 448, 466, 489, 493f., 497, 505 Halitcs 85f. Halitcs, siehe Halycˇ Halizien, siehe Galizien Halycˇ 19, 63f., 86, 128 Halycˇ und Volodymyr, siehe Halycˇ-Volyn’ Halycˇ-Volyn’, siehe Galizien und Lodomerien
Halycˇyna, siehe Galizien Horodenka 246, 250 Hoverla (der höchste Berg in ukrainischen Karpaten) 100 Hungarn, siehe Ungarn Husiatyn, siehe Gusjatyn Huzulien (ukr. Huculs´cˇyna) 76 Indien 456 Italien 175, 179, 485 Ivano-Frankivs’ka oblast’ – Gebiet IvanoFrankivs’k 415 Ivano-Frankivs’k (bis 1962 Stanislaviv) 416–418 Jablonec’ 439 Jalivec’ 434–440 Janow (poln. Janów, ukr. Janiv, ab 1946 – Ivano-Frankove) 88 Jaroslau (poln. Jarosław) 340 Jerusalem 173, 320 Josefiv (tschech. Josefov) 439 Kalwaria 88 Kanaan 164, 173 Kanada 178 Karlsbad 439 Karpaten (Dacische, Sarmatische, Nördliche Karpaten; Nordkarpaten, Ostkarpaten, Ukrainische Karpaten) 13, 22, 31, 69, 75f., 84, 87, 99–104, 107f., 120, 135, 137, 151, 157, 193, 198, 201, 212, 214, 232f., 277, 284–286, 293, 310, 389, 417f., 421f., 433–436, 438f., 492, 494 Kiew (ukr. Kyjiv) 307, 320 Kolomea 103, 145, 191, 210f., 213f. Königreich Polen, siehe Polen Konstantinopel 180 Körosmezöpaß – Gebirgspass in Karpaten bei Jasynja 107 Kosˇice 439 Kossiw 106 Krakau (poln. Kraków) 20, 73, 88, 105, 181, 301, 338, 372 Kraków 348 Krim 108, 417f.
537
Ortsverzeichnis
Krutyny 278, 300 Kyjiv 127, 146, 448f. Laibach (slow. Ljubljana) 77 Lateinamerika 179, 456 Lemberg (ukr. Lviv) 16, 22, 35, 69f., 73f., 77f., 82f., 88, 91f., 102f., 115, 117, 120, 131, 134, 137f., 141, 143f., 155f., 178f., 189, 191, 227, 230, 233, 250, 252, 263, 299, 303, 307f., 315, 317, 322, 332f., 336, 338f., 341–349, 359, 361f., 367, 384, 397, 406, 416f., 425, 434, 439, 445, 448f., 453f., 456, 458f., 460, 462f., 469f., 471f., 473f., 478, 481, 484f., 486f. Leopolis, siehe Lviv Leschnitz (poln. Les´nica) 278 Liberec’ 439 Łódz´ 181 Lombardei 422 London 181 Löwenburg, siehe Lviv Lviv 22, 32, 135, 202, 230, 233, 421, 425 L’vivs’ka oblast’ – Gebiet Lviv 415 Lvov, siehe Lviv Lwiw, siehe Lviv Lwów, siehe Lviv Mähren 77 Meducha 86 Mitteleuropa 100, 122, 142, 202, 422, 426– 428, 436–438, 503f. Mizun 84 Mochnate 284 Moldau 76, 78, 83 Moskau, siehe Moskva Moskva 486 Nahujowicz (ukr. Nahujevycˇi) 87 New York 36, 183, 265, 320, 427, 472 Niemerow (ukr. Nemyriv) 85 Nordrumänien 76 Nürnberg 75, 215 Nuslja 439 Odessa 181 Opir – Fluss 107f.
Ostalpen 75 Österreich 63–65, 100, 102, 106, 128–131, 133, 135, 141, 143, 145f., 149, 155f., 158, 172, 175, 177f., 196, 202, 211, 218, 232, 276, 282, 284, 297f., 308f., 320, 323, 347, 367, 370, 394f., 397, 407, 416, 418, 423, 425, 436, 445, 470 Osteuropa 19, 175, 177, 181, 189, 231, 248, 369 Ostgalizien 20, 31, 33, 76, 81, 91, 113, 134, 157, 178, 201, 213, 217, 219, 233, 253, 297f., 304, 317, 327, 336, 340–342, 370, 379–386, 388–392, 394–408, 415f., 433f., 437, 500 Ostkarpaten 99–102, 104f., 108, 493 Ostukraine 128 Paris 20, 80, 368, 395, 471f., 474, 477f., 481 Pennsylvanien 193, 451 Piemont 134, 151 Podjebrady (tschech. Podeˇbrady, dt. Podiebrad) 439 Podolien 83, 105, 233, 369f., 384, 389 Podwołoczyska (ukr. Pidvolocˇys’k) 174 Polen 15, 19f., 30f., 63f., 84f., 100f., 156, 277, 284, 297, 320, 331f., 338f., 349f., 361, 397, 415, 439, 460, 469–473, 480, 486 Prag 231, 425 Preußen 63 Pruth – Fluss 82, 107, 247 Prut, siehe Pruth Przemysl (ukr. Peremys´l) 87, 340 Raba – Fluss 81 Rachiv 100 Rembowlja 400 Rio de Janeiro 180 Rothreussen, siehe Ostgalizien Rumänien 99f., 104, 175, 181, 224, 415 Russland 63, 100, 120, 127f., 133f., 146, 175, 177, 181, 198, 224, 282, 298, 305f., 308f., 316–323, 346, 424, 438, 452 Rzeczpospolita, siehe Polen Rzeszow (poln. Rzeszów) 87 San – Fluss
81f., 478
538 Schlesien 63, 77, 80, 84 Schweiz 175, 448 Seine – Fluss 477 Sereth – Fluss 375, 384, 395 Siebenbürgen 70, 76, 84 Sklo (ukr. Sˇklo) 88 Skole 84, 198, 284 Slaniontek 80 Slowakei 99 Slowenien 276 Smolna 84 Smorze 284 Smyrna 180 Sokal 306, 325 Sola 80 Solferino 276 Somme – Fluss 316 Sosnica (poln. Sos´nica, ukr. Sosnycja) 73 Sosnow (poln. Sosnów) 278 Spanien 175, 485 Stanislau (ukr. Stanislaviv, seit 1962 ukr. Ivano-Frankivs’k, poln. Stanislawów) 33, 92, 102, 144, 416f., 418, 419f., 439 Stary Sambor (ukr. Staryj Sambir) 284 Stockholm 471, 486 St. Petersburg (zw. 1914–1924 russ. Petrograd) 24, 229, 321, 445 Stryj 100, 107f., 165 Südosteuropa 36, 76f., 224 Südpolen 76 Südrussland 224 Tambov, siehe Tambow Tambow 422 Tarnopol (ukr. Ternopil’) 20, 384, 403, 406 Taschkent 422 Tatra 76 Ternopils’ka oblast’ – Gebiet Ternopil’ 415 Thalerhof 129, 307, 438 Toskana 422 Transkarpatien (ukr. Zakarpats’ka oblast’ – Gebiet Zakarpattja) 100f., 415 Tschechoslowakei 101 Tschechoslowakische Republik 439
Ortsverzeichnis
Tuchla 107f. Turka 284 Tysa – Fluss 100 Ukraine 20, 31, 33, 37, 99f., 105, 127f., 130, 133–135, 146, 151, 197, 253f., 298, 415– 417, 419, 421, 424, 427f., 434, 439, 445, 448f., 451, 462, 503 Ungarn 19, 63f., 85, 89, 99–101, 107, 113, 128–130, 133, 141, 143, 145–147, 155f., 172, 175, 181, 196, 211, 213, 232, 253, 276, 284, 297f., 320, 370, 407, 423, 436, 438, 445, 470 Uralgebirge 389 USA 178, 183, 185, 316, 448, 496 Uzhhorod (ukr. Uzˇhorod) 439 Venedig 229, 252, 422 Verdun 316 Volocˇisk (poln. Wołoczyska, ukr. Volocˇis’k) 174 Vorkarpaten 31, 64, 104 Walachei 76 Warschau (poln. Warszawa) 181, 201, 320, 360, 472 Weichsel – Fluss (poln. Wisła) 64, 82, 88 Welyki Mosty 325 Wenglowka (poln. We˛glówka) 87 Westgalizien 20, 77, 90, 93, 113 Westlicher Bug, siehe Zachidnyj Buh Wieliczka 83 Wien 9, 16, 33, 38, 72, 74, 76–78, 88, 92, 104, 115, 119, 128f., 140, 145, 156, 158, 172, 174, 179, 189, 201f., 226, 231, 248, 260, 263, 281, 292, 303, 306, 310, 317, 361, 370–372, 390, 398, 400, 405f., 418, 421f., 425, 437, 445, 447f., 453–465, 471 Wilna 472 Wisloka (poln. Wisłoka) – Fluss 82 Zachidnyj Buh – Fluss Zips 63
64
Personenverzeichnis
Adelsgruber, Paulus 66, 174, 393f. Adler, Viktor 454 Adorno, Theodor 123f. Amster, Moritz 232 An-Ski, Shimon (Pseudonym von Salomon Rapoport, auch Rappaport) 29, 320– 327, 500 Andreas II. 63 Andricˇ, Ivo 260 Andruchovycˇ, Jurij 16, 25, 31, 33, 135, 200– 203, 367f., 415–428, 432f., 503f. Andruchowytsch, Juri, siehe Andruchovycˇ, Jurij Anna O., siehe Pappenheim, Berta Ansull, Oskar 36, 243 Antonycˇ, Bohdan Ihor 202f. Anzengruber, Ludwig 211 Arendt, Hanna 121–124 Assmann, Aleida 43, 162, 164, 241, 278, 365, 382, 395, 404, 502 Augé, Marc 14, 43, 57, 171–174, 176, 180, 183f., 190, 197, 203 Augustinus 433 Augustynowicz, Christoph 9, 68, 117, 193 Babel, Isaak 29 Bachelard, Gaston 49, 51f., 356 Bachmann, Ingeborg 104 Bachmann-Medick, Doris 46–48, 261, 435f. Bachoven, Johann Jakob 217 Bachtin, Michail M. 12, 45, 49, 54, 57, 67f., 156, 161, 163, 190, 192, 197, 203, 239, 260f., 268, 270, 331f., 381, 401f., 496, 503
Bacˇyns’kyj, Julian 127 Badeni, Graf 141 Bahr, Hermann 454, 459f. Balzac, Honoré de 216f. Baran-Szołtys, Magdalena 38f., 187 Barenblüth, Anzelm-Antshel 471 Barenblüth, Szulim 471 Benfey, Theodor 454 Benjamin, Walter 43, 99, 108, 358, 367, 383f. Berg, Anna de 68 Beutin, Wolfgang 144 Bhabha, Homi 15, 45f., 57, 118, 259, 261– 266, 269, 271, 401 Bhatti, Anil 26, 264 Blumenthal, Hermann 27, 29, 299, 301, 303f., 306f., 310, 319, 500 Bondarenko, Kost’ 135 Borakovskyy, Lyubomyr 450 Bourdieu, Pierre 391 Braque, Georg 473 Brecht, Walther 371 Brigido – Graf 75 Brix, Emil 103, 106f. Bromberg-Witkowski, Sigmund 319 Bronsen, David 182 Buber, Martin 245, 367, 455, 464 Buchen, Tim 316 Büchner, Georg 233 Burghardt, Anja 238 Caneppele, Paolo 165 Caro, Leopold 178f.
540
Personenverzeichnis
Certeau, Michel de 13, 43, 55, 66f., 84, 161, 163, 239, 384, 387 Cézanne, Paul 386, 473f., 477 Chagall, Marc 471, 476f. Choruzˇyns’ka, Olha 454 Chotkevycˇ, Hnat 105f., 141f., 147 Chtotkewytsch, Hnat, siehe Chotkevycˇ, Hnat Cicero 362f. Csáky, Moritz 406 Curtius, Robert 40 Czyz˙ewski, Krzystof 426 Da˛browska, Anna 379, 404 Danylo Halyc’kyj – Fürst 19, 64 Danylo von Galizien, siehe Danylo Halyc’kyj Dasˇkevycˇ, Jaroslav 127 Daume, Doreen 37 Deleuze, Gilles 13, 42, 69f., 81, 214f. Dennerlein, Katrin 49f., 55, 71, 237f., 380, 383–385, 387, 391, 398f. Detering, Heinrich 240 Dhawan, Nikita 259 Dickens, Charles 216 Döblin, Alfred 15, 29, 331–333, 338–351, 397, 501 Dostojevskij, Fjodor 260 Dovbusˇ, Oleksa 106, 135, 233 Drahomanov, Mychajlo 134, 212, 448f., 452, 454, 459, 464f. Dünne, Jörg 23, 48f., 52, 436 Dutsch, Mikolaj 167, 361 Dvorets’ka, Olena 38, 436, 440 Dvoretska, Olena, siehe Dvorets’ka, Olena Ebner-Eschenbach, Marie Ehrenpreis, Marcus 471 Ehrlich, Eugen 232 Ernst, Petra 319
211
Falkenstein, siehe Joseph II. Farin, Michael 36, 209 Fed’kovycˇ, Osyp 212 Fed’kowycz, Osyp, siehe Fed’kovycˇ, Osyp Feichtner-Tiefenbacher, Evelyn 202
Feldmann, Anna 179f. Ficowski, Jerzy 37, 165 Flaubert, Gustave 215 Foucault, Michel 14, 42f., 57, 66, 144, 171, 173f., 176, 184, 190, 195f., 200, 203, 243, 315, 496 Frank, Michael C. 54 Frank, Susi K. 319–321, 424f. Franko, Ivan 13f., 16, 25, 27, 29, 33, 37, 107f., 135–141, 145f., 155–163, 166f., 178–181, 189, 193–195, 203, 210, 212f., 230, 232, 263, 298, 308f., 404, 445–466, 494f., 505 Franz Ferdinand – Erzherzog 419 Franz Joseph – Kaiser 133–135, 282, 316, 335 Franzos, Karl Emil 14, 25, 27, 29, 32f., 36, 39, 103f., 131, 175–177, 202, 209–211, 219, 223–234, 237f., 240–245, 247–255, 370, 381, 389, 398, 497f. Fras, Zbigniew 132 Freud, Sigmund 177, 289, 456, 459 Freund, Winfried 214 Freyer, Hans 302f. Friedrich der Große 87 Gauß, Karl-Markus 34, 106, 446, 453 Genette, Gérard 240, 382 Geßner, Salomon 91 Girard, René 268 Glanz-Leyeles, Aaron 486 Goethe, Johann Wolfgang von 70, 75, 172, 231, 240, 461 Gogol, Nikolaj 52, 215, 218, 233, 389 Golec, Janusz 165 Graczyk, Ewa 470 Granach, Alexander 14f., 27, 29, 227f., 237–242, 244–255, 259, 265f., 268–271, 381, 396f., 498f. Gromada, Marta 470 Grubel, Fred 370 Guattari, Félix 13, 42, 69f., 81 Gude, Nino 38 Günzel, Stephan 41, 48, 51, 66, 199, 237, 253, 280, 288, 299, 357f. Guttmann, Bernhard 340
541
Personenverzeichnis
Habsburg 13, 15, 16, 19f., 24, 30f., 35f., 38, 45, 63–65, 69, 78, 80, 87, 89, 94f., 100, 113, 115, 123, 127f., 131f., 134f., 147, 150, 155, 172, 178, 182, 195f., 203, 216, 225, 237, 275f., 284f., 292f., 297f., 304, 306, 315f., 318, 349f., 355, 361, 365, 375, 393, 397, 401, 403, 406, 415f., 419–422, 427f., 439, 445, 448, 453, 458, 466, 489, 492, 494, 497, 499, 503, 505 Hacquet, Balthasar 13, 29, 75–78, 84–92, 95, 101, 120f., 315 Hacquet, Belsazar de la Motte, siehe Hacquet, Balthasar Hahn, Hans-Peter 302, 471 Haid, Elisabeth 38 Halip, Тeodor 131 Hallet, Wolfgang 56, 380f., 385–387 Hamburger, Käte 240 Härtling, Peter 240 Harvey, David 42 Hasper, Eberhard 209 Häusler, Wolfgang 75, 122 Hawryliw, Tymofij 446 Heidegger, Martin 51 Heine, Heinrich 68, 172, 214, 332, 462 Hellpach, Willy 99 Herder, Johann Gottfried 122, 124 Hermand, Jost 239 Herzl, Theodor 454f., 464 Hofmann, Michael 401 Hofmannsthal, Hugo von 461 Holovac’kyj, Ivan 132, 212 Holthusen, Hans Egon 389 Holub, Fedir 230 Honigsmann, Jakiv 189 Horbatsch, Anna-Halja 213, 215, 219 Horkheimer, Max 123f. Hrabovycˇ, Georg 463 Hrekov, Boris 454 Hrusˇevs’kyj, Mychajlo 134 Hrycaj, Ostap 450, 465 Hrycak, Jaroslav 161, 297f., 308, 310, 316f. Hrynjuk, Les’ 142 Hrytsak, Jaroslaw, siehe Hrycak, Jaroslav Hundorova, Tamara 37, 451f., 455, 457, 461f.
Husserl, Edmund 435
15, 51, 253, 357f., 386,
Illich, Ivan 25 Isdryk, Jurij 416 Iwaszkiewicz, Jarosław
284
Jackiv, Mychajlo 462 Jagiellonen 64 Jagicˇ, Vatroslav 128, 454 Jagic´, Watroslaw von, siehe Jagicˇ, Vatroslav Janik-Freis, Elisabeth 38 Jaron´, Krzysztof 470, 484 Jefremov, Serhij 462 Jenks, Chris 118 Jesˇkilev, Volodymyr 416 Jevsˇan, Mykola 465f. Joseph II. – Kaiser 63, 70–72, 75f., 90, 92, 119, 315 Kaindl, Raimund Friedrich 147 Kandinsky, Wassilij 473 Kann, Robert 130 Kappeler, Andreas 38 Karmans’kyj, Petro 462 Kasimir III. der Große – König 64 Kaszyn´ski, Stefan 9, 34f., 37, 209, 275–277, 282f. Katz, Henry William 36 Kazandzakis, Nikos 141 Kazimierz III Wielki, siehe Kasimir III. der Große Kaz´mierczyk, Barbara 276 Kermayer, Hildegard 176f. Kimmich, Dorothee 46, 264 Kłan´ska, Maria 25, 36, 74, 115, 174, 177, 209–211, 241, 243, 278, 379, 394 Kleist, Heinrich von 70, 233 Kleveman, Lutz C. 317, 327, 471, 486 Klimt, Gustav 459 Kobyljans’ka, Olha 104f., 135, 147–149, 298, 308, 310f. Kocjubyns’kyj, Mychajlo 105 Kohl, Irene 103, 106f. Kopernicki, Isidor 89 Kordys, Roman 367
542 Koschorke, Albrecht 209 Kosyk, Ihor 227 Kratter, Franz 13, 29, 73f., 78, 81–83, 87, 92, 95, 113–124, 232, 315, 493f. Krˇenek, Ernst 389, 399, 406 Kriegleder, Wynfrid 379 Kryms’kyj, Ahatanhel 146 Kürnberger, Ferdinand 104, 210f. Kusdat, Helmut 102 Kus´niewicz, Andrzej 15, 25, 27, 29, 275– 277, 283–286, 288–293, 298, 381, 386, 499 Kuzmany, Börries 39, 115, 174, 182, 393f. Lachs, Minna 319 Lackner, Michael 446 Lam, Andrzej 473, 480, 483 Landau, Max 39, 231 Landmann, Salcia 308, 319 Lange, Anja 463 Latzke, Rudolf 211 Lawrence, David Herbert 106 Le Rider, Jacques 304, 397, 459, 461 Lefebvre, Henri 42, 54, 65, 79, 113, 171, 380, 431 Lejeune, Philippe 240 Lem, Stanisław 16, 29, 358–360, 381, 434 Lepkyj, Bohdan 298, 310, 462 Les´mian, Bołesław 473, 483 Lessing, Gotthold Ephraim 122, 226, 229, 252 Levinas, Emmanuel 455 Levyc’kyj, Volodymyr 132 Lewin, Kurt 15, 29, 52, 280, 299–303, 305, 308, 310, 312, 317, 320, 322f., 351, 438, 500f. Liebracht, Felix 454 Lipiner, Siegfried 33 Lipin´ski, Krzysztof 35 Lombroso, Cesare 144 Lopuschanskyj, Wassyl 304f., 307 Lösch, Klaus 46, 446f. Löschnigg, Martin 240 Lotman, Jurij 12, 14f., 24, 46, 49, 52f., 57, 160, 190f., 197, 203, 238, 240, 242, 251, 254, 261–265, 268f., 271, 335, 496, 498 Lozyns’kyj, Roman 155
Personenverzeichnis
Luc’kyj, Ostap 462f. Ludwig II. von Ungarn – König Lughofer, Johann Georg 36 Lukjanovycˇ, Denys 143
64
Magris, Claudio 36 Mahler, Andreas 156, 254 Mahlke, Kirsten 42, 54 Majer, Josef 89 Makarska, Renata 404–406, 432 Malevycˇ, Kazymyr, siehe Malewitsch, Kasimir Malewitsch, Kasimir 474–476 Maner, Hans-Christian 64, 83 Margelik – Hofrat 73 Maria Theresia – Kaiserin 19, 63f., 119, 315 Márquez, Gabriel García 433, 436 Marr, Wilhelm 396 Marszalek, Magdalena 25, 417 Marx, Karl 160 Masaryk, Tomásˇ 454 McInnes, Edward 211 Mendelssohn, Moses 122 Merleau-Ponty, Maurice 15, 279, 285, 340, 386, 435, 473f. Messenhauser, Cäsar Wenzel 227 Michel, Bernard 219 Michnovs’kyj, Mykola 127 Mickiewicz, Adam 460 Millner, Alexandra 446 Milojevic, Svetlana 209 Miłosz, Czesław 469 Misiak, Anna Maja 470, 472f., 475, 479, 481, 484f. Mnich, Roman 446, 454f. Morgenstern, Soma 16, 25, 27, 29, 36, 263, 358, 361f., 367–376, 379–408, 502f. Mosser, Alois 130, 132 Müller-Funk, Wolfgang 9, 23, 36, 43, 45, 118, 250, 263, 399 Muschg, Walter 338f., 347 Nachlik, Jevhen 212f., 219 Nahowski, Joseph 231 Nalyvajko, Dmytro 51, 216f.
Personenverzeichnis
Neckel, Sighard 383, 391 Negrusz, Juliusz 230 Nestor 75 Neubauer, Ernst Rudolf 231f. Neumann, Birgit 56, 380f., 385–387 Neuwirth, Markus 280f. Niederdorfer, Manfred 319 Niedermüller, Peter 401 Nietzsche, Friedrich 276, 292 Nora, Pierre 43 Novalis 214 Novikova, Maryna 202 Nowicki, Maximilian 89 Nürnberger, Helmuth 215 Obrist, Johann 232 Ohlbaum, Isolde 214 Opel, Adolf 209 Orłowicz, Mieczysław 367 Pacˇovs’kyj, Vasyl’ 462 Pappenheim, Berta 177, 181, 394 Paradzˇanov, Sergej 105 Paslavs’ka, Alla 309, 450, 460, 465 Pasternak, Boris 29 Pavlycˇko, Solomia 462 Pazi, Margarita 163, 165 Peiper, Tadeusz 480 Petrosanjak, Halyna 485 Piatti, Barbara 48f., 156, 276–278, 280, 284, 384f., 434 Picasso, Pablo 473 Ples´niewicz, Andrzej 360 Plumpe, Gerhard 211 Poe, Edgar Allan 214 Polek, Johann 70f. Poliakov, Léon 116 Pollack, Martin 106, 108, 178–182, 184, 193f., 209, 422, 451, 456 Polubojarinova, Larissa 37, 209 Popyk, Serhij 128–132, 304 Poschmann, Henri 233 Potocki, Graf 115, 215, 394 Prochas’ko, Jurko 33f., 263 Prochas’ko, Taras 16, 25, 32f., 356, 416, 428, 432f., 436, 503f.
543 Prochasko, Taras, siehe Prochas’ko, Taras Proust, Marcel 163, 373 Prutsch, Ursula 45, 263 Przybecki, Marek 240 Purchla, Jacek 306 Rabinowitsch, Sara 181 Radischtschew, Aleksandr 332 Rapoport, Hirsch 321 Rapoport, Joschue 475 Ratschky, Joseph Franz 13, 29, 72–75, 80– 83, 87, 95 Ratzel, Friedrich 42, 172f., 237 Reckwitz, Andreas 51 Rehbinder, Manfred 232 Reich-Ranicki, Marcel 215 Reichmann, Eva 379, 383, 388, 392, 395f., 399f. Reinhardt, Max 246 Rhode, Gotthold 64 Rilke, Rainer Maria 389 Rinner, Fridrun 35 Rittner, Tadeusz 33, 263, 404 Rittner, Thaddäus, siehe Rittner, Tadeusz Robertson, Ritschie 76, 78, 123 Rohrer, Joseph 13, 77f., 90–93, 95 Rosegger, Peter 211 Rosenstrauch-Königsberg, Edith 72f., 80, 114 Röskau-Rydel, Isabel 128–130 Roth, Joseph 15f., 25, 27–29, 32, 36, 39, 131, 157, 182–184, 195–198, 201–203, 210, 215f., 219, 223–225, 227, 231, 275– 286, 292f., 297f., 300f., 305f., 318, 331– 351, 358, 361–365, 367–373, 376, 381, 386, 388, 394, 403, 422, 497–499, 501f. Rudolf von Habsburg, Kronprinz 178 Ruhe, Cornelia 53, 262, 269 Ruthner, Clemens 45, 79f., 93, 263 Rychlo, Petro 232 Rydel, Jan 276, 297 Saar, Ferdinand von 211 Sacher-Masoch, Leopold von 14, 25, 27, 29, 32, 36f., 103f., 173–175, 191–193,
544 202f., 209–220, 223, 227, 232, 381, 388f., 398, 497f. Samuely, Nathan 33, 39, 319 Sander, Martin 161f., 167 Sasse, Sylvia 25, 45, 260f., 270, 389, 401, 417, 428, 440 Saur, Pamela S. 388 Scharr, Kurt 75, 84, 86 Scheichl, Sigurt Paul 195 Scherzel, Alois 230 Schewtschenko, Taras, siehe Sˇevcˇenko, Taras Schivelbusch, Manfred 172 Schleiermacher, Friedrich 122 Schlögel, Karl 16, 29, 43f., 47, 113, 223, 283, 356f., 365, 381 Schmitz, Alexander 53, 262, 269 Schnaper, Ber 475 Schneider, Ute 47 Schnitzler, Arthur 459, 461 Schopenhauer, Arthur 217, 230 Schorske, Carl E. 459 Schulte, Ingolf 232, 375, 381, 384 Schultz, Hans-Dietrich 64 Schulz, Bruno 13f., 16, 25, 27–29, 37, 155f., 162–167, 210, 215f., 223, 358, 360f., 364, 368, 373, 386, 388, 427, 469f., 472, 486, 495, 497 Schuster, Frank M. 319 Schweikle, Günther 211 Schweikle, Irmgard 211 Schwob, Anton 36 Senjavskaja, Elena 308 Sˇevcˇenko, Taras 134, 218, 233, 445, 450 Shakespeare, William 229, 249, 252, 254f. Shanes, Joshua 315 Shmeruk, Chone 469 Sid, Igor 417 Simiginowicz-Staufe, Ludwig Adolf 232 Simmel, Georg 42, 66, 171 Simonek, Stefan 35, 135f., 139f., 147, 149, 193, 454, 457f., 463 Snyder, Timothy 297, 431 Soja, Edward W. 42f., 45f., 57, 380, 431 Solomon, Francisca 39 Sperber, Manés 29, 36, 394, 422
Personenverzeichnis
Spund, Simon 319 Stark, Pesach, siehe Stryjkowski, Julian Stasiuk, Andrzej 22f., 25, 29f., 428, 504 Stefanyk, Vasyl 128, 135, 149, 298 Stefanyk, Wassyl, siehe Stefanyk, Vasyl Stendhal, Marie-Henri Beyle 216 Stephanie von Belgien 178 Stepun, Fjodor 308f. Sternbach, Hermann 319 Sternburg, Wilhelm von 36, 337 Stöckler, Klara 316, 319 Stöger, Peter 357 Stourzh, Gerald 132 Strack, Thomas 68 Streng, Henryk 471, 487 Strohmaier, Alexandra 239f., 321 Strohschneider-Kohrs, Ingrid 214 Stryjkowski, Julian 25, 198–200, 203, 275, 298, 381 Szczepanowski, Stanislaw 177 Teller, Katalin 446 Terpitz, Olaf 316, 320f. Tolstoj, Aleksej 29 Toporov, Vladimir 23–26, 28 Trakl, Georg 29, 149 Traunpaur, Heinrich 29 Turgenjev, Ivan 211, 388f. Tycholoz, Natalja 446 Umlauff, Victor
232
Valjo, Marija 75, 77 Vasylovycˇ-Sapohivs’kyj, Lev 137f. Velykyj, Ivan 113 Veselovskij, Alexander 454 Vogel, Debora 16, 25, 29, 469–477, 481f., 486f., 505 Vogel, Tobias 450, 460, 465 Voltaire 68 Voznjak, Taras 145f., 198f. Vynnycˇuk, Jurij 22 Walser, Robert 163, 347 Wat, Alexander 469 Weber, Max 302
Personenverzeichnis
Weigel, Robert G. 36, 417, 431 Weigel, Siegrid 44, 48, 387, 417, 431 Weismann, Stephanie 38f. Werberger, Annette 323f., 405f., 469f., 472, 486 Werner, Klaus 379, 388 White, Kenneth 417 Wierzejska, Jagoda 39 Winfried, Adam 239 Winkler, Wolfgang 132 Winter, Eduard 447 Witkiewicz, Stanisław Ignacy 28, 486 Wittlin, Jósef 29, 275, 381 Wladislaus II. von Oppeln – Fürst 64 Władysław Opolczyk, siehe Wladislaus II. von Oppeln Wojda, Dorota 292 Woldan, Alois 9, 24, 35, 39, 102, 135f., 139f., 147, 149, 179f., 216, 299, 310, 316f., 418, 425, 432, 450, 456, 460, 465
545 Wolff, Larry 237, 248 Wöller, Burkhard 38 Würtz, Herwig 224, 231 Wurzbach, Constant von 29, 220 Würzbach, Natascha 385 Wuthenow, Ralf-Reiner 72 Wynnytschuk, Jurij, siehe Vynnycˇuk, Jurij Zabuzˇko, Oksana 37, 134, 448 Zaleski, Bohdan 215 Zamjatin, Dmitrij 48, 161 Zannoni, Giovanni Antonio Bartolomeo Rizzi 84 Zawadzki, Alexander 89 Zeman, Herbert 211, 216 Zerov, Mykola 448f., 451, 461f., 464f. Zima, Peter V. 40 Zola, Émile 136, 157, 193, 451, 456 Zˇulyns’kyj, Mykola 232 Zweig, Stefan 29, 301, 303